Psychoanalytische Rechtswissenschaft [1 ed.] 9783428428960, 9783428028962


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German Pages 468 Year 1973

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Psychoanalytische Rechtswissenschaft [1 ed.]
 9783428428960, 9783428028962

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 29

Psychoanalytische Rechtswissenschaft Von

Albert A. Ehrenzweig

Duncker & Humblot · Berlin

ALBERT A. EHRENZWEIG

Psychoanalytische Rechtswissenschaft

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung HerauBgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder

Band 29

Psychoanalytische Rech tswissenschaft

Von

Albert A. Ehrenzweig

o. ö. Uoiv.·Prof., Univereity of Califomia, Berkeley Honorarprofessor, Universität Wien

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Bei der vorliegenden Ausgabe bandelt es sieh nm die revidierte überletzung der englischen OrilliinalausjI(abe "Peychoanalyticlorisprodeoce'''die 1971 im VerlagA.W. Sijthoff, Leiden erschienen iat. Alle Rechte an der deutlchen Ausgabe bei Duncker & Bomblot, Berlin.

Gedruckt 1173 bel Buchdruckerei Alb. Sayffaerth. BerUn 81 Prlnted In Germany ISBN 8128 028116 1

Vorwort des Herausgebers Die englische Sprache hat in vielen wissenschaftlichen Disziplinen heutzutage die Funktion übernommen, die in früheren Jahrhunderten dem Lateinischen als dem international üblichen Verständigungsmittel der gelehrten Welt zukam. Charakteristisch ist, daß ein vor kurzem gegründeter "arbeitskreis für rechtssoziologie an der universität zu köln" (die Schreibweise entspricht dem Original) seine Verlautbarungen unter dem Titel "european communications on the sociology of law" in englischer Sprache herausgibt. Die deutsche Übersetzung eines in englischer Sprache erschienenen wissenschaftlichen Werkes könnte somit für überflüssig gehalten werden. Dem ist aber nicht so. Die unbezweifelbaren Vorteile des Englischen als internationaler Verständigungssprache werden mit einer Gefahr erkauft, die in allen mit rechtlichen Problemen zusammenhängenden wissenschaftlichen Äußerungen besonders schwerwiegende Folgen haben kann und hat: mit der Gefahr einer - meist unbeabsichtigten - Fehlübersetzung des Übersetzers, des Lesers oder beider. Jede als solche nicht entdeckte Fehlübersetzung führt um so sicherer zu fehlerhaften und irrtümlichen Auslegungen und Deutungen, als gerade die Rechtsprache - nicht weniger als das Recht selbst - infolge der historischen Entwicklung national, ja oft sogar regional verankert ist. Nur als Beispiel sei das Wort "jurisprudence" angeführt, das für einen Juristen englischer, französischer oder deutscher Sprache jeweils einen ganz anderen Sinngehalt besitzt. Bei dieser zu Mißverständnissen, Scheinproblemen und überflüssigen Streitereien führenden Sachlage sind die Gefahren der Fehlübersetzung eines rechtswissenschaftlichen Werkes dann gebannt, sobald der Autor nicht nur beide Sprachen beherrscht, sondern auch ein Jurist ist, der in der nationalen Heimat des Originals ebenso zu Hause ist wie in derjenigen der Übersetzung. Dieser nicht allzu häufige Glücksfall liegt hier vor:

Albert A. Ehrenzweig, 1906 in Wien geboren, entstammt einer berühmten österreichischen Juristenfamilie. In Österreich leistete er in den Jahren 1928-1933 den richterlichen Vorbereitungsdienst und war von 1933 bis 1938 österreichischer Richter. 1937 habilitierte er sich für Zivilrecht an der Universität Wien.

6

Vorwort des Herausgebers

Als Opfer des Nationalsozialismus emigrierte er mit einem kurzen Zwischenaufenthalt in England in die Vereinigten Staaten, wo er zunächst an den Universitäten von Chicago und Columbia die akademischen Grade eines J. D. und eines LL. M. sowie schließlich eines J. S. D. erwarb. Von 1942 bis 1948 war er als juristischer Praktiker in New York tätig. Seit 1948 hat er einen juristischen Lehrstuhl in Berkeley an der University of California inne. Durch seine wissenschaftlichen Publikationen über internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung, Schadensersatz- und Versicherungsrecht, Rechtsphilosophie und Psychologie ist er weltweit bekannt und anerkannt. Sein 1971 unter dem Titel "Psychoanalytic Jurisprudence" erschienenes Werk wird hiermit in einer mit größter Gewissenhaftigkeit von den Herren Dr. Heino Garrn, Dr. Uwe Krüger, Dr. Franz Mänhardt und Dr. Bernd Rebe besorgten deutschen Übersetzung vorgelegt, die dank der ständigen Mitarbeit des Autors zutreffender als deutsche Ausgabe des Werkes bezeichnet werden kann. Die Aufnahme in diese Schriftenreihe findet ihre Rechtfertigung darin, daß der Autor es an der Zeit findet, "die grundlegenden Entdeckungen (der Psychoanalyse) gestützt und bereichert durch die großen Werke von Maz WebeT und KonTad LOTenz der Rechtstatsachenforschung dienstbar zu machen". Das Buch ist mit anderen Worten ein Vorstoß der Psychoanalyse in die Rechtswissenschaft. Der erste Teil des Werkes ist dem Versuche gewidmet zu zeigen, daß die Diskussion von zweieinhalbtausend Jahren über Rechtsphilosophie, insbesondere der Kampf um Naturrecht und Positivismus, nunmehr als analytisch inhaltlos und nur als semantisch und emotionell erklärbar zu erkennen sei. Die semantische Bedeutung sei weitgehend akzeptiert. Emotionen hätten ihren zeitgenössischen Ausdruck in der sog. "Wiederkehr des Naturrechts" nach dem Krieg, in der Phänomenologie und im Existentialismus gefunden. Es sei nunmehr Sache der Psychologie, diese Emotionen aufzulösen und fruchtbar zu machen. Daß eine solche große Aufgabe aus einem Stillstand von 2500 Jahren seit dem einzigen Jahrhundert philosophischer Höchstblüte (550-450 v. Chr.) hätte erwachsen können, sei etwa der Konzentration der technologischen Entwicklung der Menschheit vergleichbar. Diese neue Fragestellung wird im Ersten Teil in solche konkreten Fragen verfolgt wie die des Zivilungehorsams, der Lückenlehre und der Vergleichung der beiden großen Rechtskreise des kontinentalen Zivilrechts und des anglo-amerikanisechn common law. Im Zweiten Teil versucht der Autor, den Kampf um die Begriffe absoluter und relativer Gerechtigkeit darauf zurückzuführen, daß die herrschende Terminologie nicht zwischen dem allen Menschen ange-

Vorwort des Herausgebers

7

borenen und "absoluten" Gerechtigkeitssinn und einzelnen "Gerechtheiten" unterscheidet, die den Menschen von frühester Kindheit, notwendig miteinander in Widerspruch stehend, begleiten (wie "Gleichheit", "gerechter" Lohn, Freiheit ete.). Diese Analyse will der Autor durch Vergleiche mit den Entwicklungen des Schönheitssinnes und einzelner "Schönheiten" erhärten, deren Vermengung in der Ästhetik unnötige Verwirrung gestiftet habe. Dabei lehnt sich der Autor an jüngste Entdeckungen der (Tier-)Verhaltenslehre und verschiedene soziologische Schulen an. Er ist sich dabei bewußt, daß die Grundfrage, wie weit Erkenntnisse individueller Psychoanalyse als Sozialpsychologie anwendbar sind, noch ungelöst geblieben ist, und daß daher alle Schlüsse auf diesem Gebiet als auf Hypothesen gegründet angesehen werden müssen. Auf dieser Grundlage untersucht der Verfasser mögliche Anwendungen seiner Analyse auf das Straf-, Schadensersatz- und Verfahrensrecht. In bezug auf das erstere nimmt er Stellung sowohl gegen die "Abolitionisten", die alle Strafe durch "Behandlung" ersetzen wollen, als auch gegen die Vertreter des Status quo. Er will Strafe beibehalten oder abschaffen je nach dem Vorherrschen bestimmter Strafzwecke. Einen gesellschaftlichen Vergeltungstrieb sieht er überwiegen bezüglich jener Verbrechensgruppen, die er als "ödipal" der Überwindung erster und darum stärkster Verdrängungen zuschreibt. Für diese im Gegensatz zu den der Abschreckung zugänglichen "post-ödipalen" Verbrechen mag die Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen bereit sein, mangels eines rationellen Strafmotivs auf die Strafe zu verzichten. Es folgt eine Behandlung laufender schadensersatzrechtlicher Probleme, die den Autor schon seit seiner 35 Jahre zurückliegenden Wiener Dozentenzeit beschäftigen. Auch hier fordert er die Anerkennung irrationaler, retaliatorischer Triebe, da jeder der jetzt gängigen durchaus rationalen Reformvorschläge zum Scheitern verurteilt sei, wenn diesen Trieben nicht Genüge getan werde. Schließlich gibt das Buch einen Ausblick auf mögliche Reformen des Zivilverfahrens, dessen "adversäre" Gestaltung in den Ländern des eommon law zwar aus der psychologisch höchst interessanten "übermenschlichen" Erfassung des Richterberufs erklärbar sei, aber insbesondere für den "kleinen Mann" völlig zu versagen im Begriffe stehe. Der deutsche Leser könnte dieser Analyse gern die Überlegenheit seines eigenen "inquisitorischen" Rechtssystems entnehmen. Aber er sollte auch beachten, daß der Autor für beide Rechtssysteme psychologisch die allgemeine Fiktion in Frage stellt, der Richter könne und müsse die "Wahrheit" suchen, ohne je ein non-liquet sprechen zu dürfen. Der

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Vorwort des Herausgebers

richterliche Schiedsspruch oder Teilzuspruch im Sinne eines Kompromisses müsse, meint er, zunehmend an Bedeutung gewinnen, wobei der Europäer von östlicher Weisheit und afrikanischer "Primitivität" manches lernen könne. Durch eine umfassende Bibliographie und ein sehr ins einzelne gehendes Register wird der volle Reichtum dieses im Verhältnis zu den bisherigen Bänden der Schriftenreihe nach Form und Inhalt außergewöhnlichen Buches dem Leser erschlossen und bewußt gemacht. Man wird auf die Reaktionen gespannt sein dürfen, welche der erste Teil dieses vielschichtigen Werkes bei den Vertretern der herausgeforderten Disziplinen im deutschsprachigen Raum finden wird. Jedenfalls darf man die Hoffnung hegen, daß die im zweiten Teil des Buches anschaulich gemachte Anwendung der psychoanalytischen Methode auf die Lehren von der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verantwortlichkeit und von den Sanktionen und Verfahrensarten im Straf- und Schadensersatzrecht auch für manche vielleicht allzu "progressiven" Vertreter der deutschen Rechtstheorie, Rechtspolitik und Rechtssoziologie von Interesse sein wird. Wie dem auch immer sein mag: Dem Autor, den Übersetzern und dem Verlag A. W. Sijthoff, Leiden, sei öffentlich Dank gesagt dafür, daß dieses bedeutende Werk in deutscher Sprache im Rahmen dieser Schriftenreihe erscheinen kann. Ernst E. Hirsch

Inhaltsverzeichnis Vorwort des Verfassers........ ................. ...........•.......•...

17

Synopsis ............••....•...........................•...............

23

ERSTER TEIL

Der Streit von gestern: Philosophie Erstes Kapitel: Recht und Gerechtigkeit



1)

(§ 2)

(§ 3)



4)

(§ 5) (§

6)

(§ 7) (§ 8)

(§ 9)

(§ 10) (§ 11) (§ 12) (§ 13) (§ 14) (I 15)

(§ 16)

(§ 17) (§ 18) (§ 19)

(§ 20)

Einleitung ................•. . • . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . .

31

RechtsphUosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine neue Wissenschaft vom Recht? ........................ "Psychosophie"? ............................................

31 33

A. Die Kampfgruppen: Monismus und Pluralismus .......•....

34

1. Das Zeitalter der Unschuld (Theo-Monismus): Dike, die

Göttin .................................................. 2. Der Sündenfall (Dualismus): Dike und Nomos ............ 3. Der Mensch allein (Anthropo-Monismus): Nomos........ Idealismus und LegaUsmus .............................. Vom Sozialismus zum Kommunismus.................... Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Turmbau zu Babel (Pluralismus) .................... 5. Eine gemeinsame Sprache? (Neo-Monismus) ......... . .... a) Sein und Sollen ...............•...................... Die Unterscheidung .................................. Nützlichkeit der Unterscheidung......... ............. Die gewählte Struktur ............. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . b) Vertikale Struktur .................... .............. Die Rechtsnorm (Sollen) .............................. Die "Meta-Norm" (Quasi-sein) ........................ Die Konkretisierung (Sein) .....•.................... c) Horizontale Struktur (ein Exkurs) .................... Amerikanischer Konzeptualismus .................... "Verpflichtung" ...................................... "Privileg", "Nicht-Recht" und "Recht" ................ "Macht", Recht und "Immunität" .................... d) Von der Form zum Inhalt ............................

32

34 37 39 39 40 43 44 46 46 46 47 48 49 49 50 51 51 51 52 53 53 54

10

Inhaltsverzeichnis

B. Der Kampfrnf: Naturrecht und Positivismus................ (§ 21)

(§ 22) (§ 23) (§ 24)

(§ 25) (§

26)

(§ 27)

(§ 28) (§

29)

(§ (§ (§ (§ (§ (§ (§

30) 31)

32) 33) 34)

35)

36) (§ 37) (§ 38) (§ 39) (§ 40) (§ 41) (§ 42) (§ 43) (§ 44) (§ 45) (§ 46) (§ 47) (§ 48) (§ 49)

(§ 50)

(§ 51)

(§ 52)

(§ (§ (§ (§ (§

53) 54)

55) 56)

57) (§ 58)



58)

(§ 59)

55

1. Der Rechtspositivismus als positives Naturrecht..... ..... a) Kelsens "Reine Rechtslehre" .......................... Form und Inhalt .................................... Die "Grundnorm" (Quasi-Sollen) ...................... Wirksamkeit und Geltung ............................ Zur Kritik der Kritik ................................ b) Harts "Concept of Law" .............................. c) Alf Ross ............................................ d) Trügerischer Waffenstillstand ........................ 2. "Naturrecht" als natürliches positives Recht .............. a) Geschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Wachstum und Rückzug ........................ " Gott und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaftsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants kategorischer Imperativ .................... Benthams Lust und Unlust........................ Mills allgemeine Nützlichkeit ...................... Savignys "Volksgeist .. (historische Rechtsschule) .... Jherings "Zweck" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Common Law ................................ "Due process". Menschenrechte und Widerstandsrecht (2) Wiedergeburt ............................... ..... Das Erbe.......................................... Nachkriegs-Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Das "Phänomen" vorgegebener Werte.............. (3) Niedergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühe Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unsere Zeit ...................................... b) Eine typische Kontroverse: Fuller und Hart.. ........ "Moral" und "Primärregeln" ........................ "Innere Sittlichkeit" und "Minimalnaturrecht.. ........

55 56 56 56 58 59 61 62 63 65 65 65 65 65 66 67 67 68 69 69 70 72 72 74 74 77 77 77 78 79 79

3. "Nichtschulen" der Rechtstheorie ........................ a) Soziologie ............................................ (1) Genys donnes .................................... (2) Ehrlichs "Freies Recht" .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Hecks Interessenjurisprudenz ...................... (4) Die "Natur der Sache" ............................ (5) Pounds "social engineering" ...................... b) Realismus ............................................ (1) Die Vereinigten Staaten .......................... Grays Richtertum und Holmes' Aphorismen ...... Llewellyns Norm-Skeptizismus.................... Franks Tatsachenskeptizismus .................... (2) Skandinavien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) ..Topik": Die "Neue Rhetorik" ........................ Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relevanz .............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie .......................................... 4. Don Quixote und die Windmühlen ......................

80 82 82 82 83 83 84 85 85 85 86 87 88 90 90 92 93 93

C. Die Kampfstätten: Lücken und Ungehorsam ................

94

1. Vom Finden und Füllen von Rechtslücken .. " ......... "

94

Inhaltsverzeichn1s (§

60)

(§ 61) (§ 62) (§ 63)

(§ 64)

(§ 65)

(§ 66) (§ 67)

(§ 69) (§ 70) (§ 71) (§

72)

(§ 73)

(§ 74)

a) Die Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vom Finden der Lücke.............................. c) Vom Füllen der Lücke ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Ziviler Ungehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Pflicht zu gehorchen ............................ b) "Die Vorschrift ist ungültig" .......................... (1) Unrichtige Konkretisierung ........................ Recht, Sittlichkeit und Gerechtigkeit .............. Thomas von Aquln ................................ John Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Martin Luther King .............................. (2) Ungültige Apex-Norm ............................ c) "Die Vorschrift ist zwar gültig, muß aber als ungerecht geändert werden" .................................... Änderung unter Beibehaltung der Apex-Norm ........ Änderung der Apex-Norm selbst .................... d) "Recht zum Ungehorsam"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Das Recht, das Gesetz in Frage zu stellen ............ Der "Ungehorsam" des Gesetzes selbst ........ '" ..... "Das Recht zur Revolution" .......................... 3. Strafbarer Gehorsam ................................. ,

11 94 95

97 99

99 101 101 101 102 103 103 104 104 104 105 106 106 106 107 108

Zweites Kapitel: Remt und Remtseln (Vergleimende Redltsphilosophle) (§ 75)

A. Warum Rechtsvergleichung? ,.,., ... , ..... , .............. , .. 111

(§ 76)

1. Prüfstein der Rechtsstruktur: Was ist Recht? ............ 111

(§ 77)

2. Ein Prüfstein der Rechtsphilosophie: Was ist Rechtsein? 113 3. Klassifizierungen ...................................... 114

(§ 78)

B. Geographischer Oberblick .................................. 115 (§ 79) (§ 80) (§

81)

(§ 82)

83) 84) 85) (§ 86)

(§ (§ (§



1. Die Kernländer des Common Law ...................... 2. Die Kernländer des Civll Law .......................... 3. Die Randgebiete ........................................ Skandlnavien .......................................... "Rezipiertes" Common Law .............................. "Rezipiertes" Civll Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Der "Sozialismus" ...................................... Der Islam .............................................. Das römisch-holländische und schottische Recht ..........

115 115 117 117 117 119 120 123 126

87) C. Common Law und Civil Law •.. ,.......................... 127 1. Common Law und römisches Recht ...................... 127

(§ 88)



89)

(§ 90)



91)

Was heißt hier römisches Recht? .............. ,......... Römisches Recht als Quelle englischen Rechts ............ Römisches und englisches Recht im Gegensatz zum Civil Law .................................................. Nichtrömische Quellen des Civil Law .................... Das Körnchen Wahrheit: Bedeutung der 'Rechtslehre ....

127 129 131 131 132

12 (§ 92)

(§ 93)

(§ 94)

(§ 95)

(§ 96) (§ 97)

(§ 98)

(§ 99)

(§ 100) (§ 101) (§ 102) (§ 103) (§ 104) (§ 105) (§ 106) (§ 107)

(§ 108)

(§ 109)

(§ 110) (§ 111)

(§ 112) (§ 113) (§ 114) (§ 115) (§ 116) (§ 117)

(§ 118) (§ 119) (§ 120)

Inhaltsverzeichnis 2. Common Law als nicht-kodifiziertes Recht a) Die "Nlcht-Kodifikationen" .......................... Die "alten" Codices .................................. Das Corpus Juris Civilis ............................ Die "mittleren" Codices .............................. b) Die großen Kodifikationen .......................... österreich ...... . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Code Napoleon ...................................... Das deutsche BGB .................................. Das zwanzigste Jahrhundert .......................... c) Die "Kodifikationen" des Common Law .............. d) Das Körnchen Wahrheit: Bedeutung einer "Kodifikation" .............................................. 3. Gesetzgeber und Richter ................................ a) Der Richterkönig als Gesetzgeber .................... b) Die Gewaltentrennung .............................. Geschichte und Analyse .............................. c) Gesetzgebung und Gesetzgeber ...................... d) Der Richterstand .................................... e) Das Körnchen Wahrheit: Gesetzes-Auslegung und Tech-

135 135 135 136 136 ]37 137 138 139 139 140

4. Richterrecht? ............................................ Das "precedent" des Common Law ...................... Das Fallrecht des Civil Law ............................ 5. Rechtsdenken: Deduktion und Induktion ................ Deduktion im Common Law ............................ Induktion im Civil Law ... . . .. .. .. . .. .. . .. . . .. .. . . . .... 6. Mehr als ein Körnchen Wahrheit: Was bleibt ............ a) Was ist "Recht": Die Quellen des Rechts ............ Systematisierung und Rechtslehre .................... Der Gesetzgebungsprozeß ............................ Richterliche Rechtssetzung ............................ Das Volk und das Recht ............................ b) Was ist "Rechtens": Die Entscheidungsnorm .......... (1) Ein "gemeinsamer Kern"? ....................... , (2) Innerstaatliche Rechtsnormen ...................... Common und Civil Law .......................... Ein gemeinsamer Nenner ........................ (3) Ausländische Rechtsnormen ...................... Common und Civll Law .......................... Ein gemeinsamer Nenner? ........................

152 152 156 157 157 158 158 159 159 161 161 162 163 163 163 163 165 166 168 167

142 144 144 145 145 147 148

nik .................................................. 150

ZWEITER TEIL

Das Ende des Streites (psyrhologie) Drittes Kapitel: Gerechtigkeit und Gerechtheiten (§ 121)

Einführung: Von der Philosophie zur "Psllchosophie" .......... 169 A. Warum die Bitternis? ...••..•.••.••••••••••.••••........... 171

Inhaltsverzeichnis (§

122)

(§ 123)

124) 125) (§ 126) (§ 127) (§ 128) (§ 129) (§ 130) (§ 131) (§ (§

1. Sehnsucht nach dem Absoluten .......................... a) Trugbild der "Gerechtigkeit" ........................ (1) Gerechtigkeit als Recht ............................ Die "GeneralklauseI" .............................. Rechtsgehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. (2) Recht als Gerechtigkeit ............................ Gerechtigkeits-Hinordnung ........................ "Absolute Gerechtigkeit?" ........................ "Relative Gerechtigkeit" (Gleichheit) .............. b) Illusion der Vernunft ................................ c) Werkzeug der Politik ................................ 2. Abscheu vor dem "Instinkt" ............................ 3. Vergebliche ltompromisse .............................. 4. Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

18 171 172 172 172 173 174 174 175 177 178 179 180 184 186

B. Die neue Ara .............................................. 189 (§

132)

(§ 133) (§

134)

(§ 135)

(§ 136)



137)

(§ 138) (§ 139)

(§ 140)

(§ 141) (§ 142) (§ 143) (§ 144) (§ 145)

(§ 146) (§

147)

(§ 148)

1. Recht Strafrecht und Deliktsrecht .............................. Vertragsrecht .......................................... Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ltollisionsrecht .............•............................ 2. Religion, Naturwissenscilaft und Metaphysik ............ 3. Sozialwissenschaften .................................... Allgemeines ............................................ Wirtschaftslehre ........ . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Ästhetik ................................................ a) ltunst ................................................ ltunst und Recht .................................... Kunst und Künstler .. .. . .. . . .. . .. .. . .. .. . . . . . . . .. .. ltünstler und "Recht" ................................ b) "Das Schöne" (beauty) ................................ Schönheitssinn und Schönheiten (beautnesses) ........ Was ist "das Schöne" (beauty)? ...................... c) Der Schönheitssinn .................................. (1) Beschreibungen . .. .. .. . . .. . . . . .. .. . . .. . . . . .. .. ... (2) Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Angeboren oder anerzogen ........................ Angeboren und anerzogen ........................ d) Die Schönheiten (beautnesses) ........................ (1) Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Monismus ........................................ Pluralismus ...................................... (2) Psychologie .. , .................... " ............. Frühe Anfänge .................................... Psychoanalyse ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

189 189 189 190 191 194 196 196 199 200 200 200 200 201 204 204 206 208 208 209 209 210 211 211 212 214 215 215 215

C. Der Sinn für Gerechtigkeit (Gewissen) •....•.............••• 218 (§ 149)

(§ 150)

(§ 151)

1. Untersuchungsplan .....................................• 218

Gerechtigkeit, Moral und Ungerechtigkeit .............. 218 Gerechtigkeit und Instinkt .............................. 218 Beschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 220

14 (§ 152) (§ 153)

(§ 154) (§ 155)

(§ 156) (§ 157)

(§ 158) (§ 159) (§ 160) (§ 161) (§ 162)

Inhaltsverzeichnis 2. Psychologie vor und neben Freud ........................ Gewohnheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Intuition .............................•...............••. 3. Psychoanalyse .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Untersuchungsplan . .. .. . . . . . .. .. .. . . . . . . . . . .. . . . . . .. Zögern .............................................. Detente .............................................. Uneinigkeit und übereinkunft ...................... b) Lustprinzip und Es - Leben und Tod ................ c) Ich und Realität: Jenseits des Lustprinzips .......... d) Überich und Gerechtigkeit ............................ Sigmund Freud ...................................... earl Jung ............................................ Andere .............................................. e) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

221 221 222 223 223 223 224 225 226 228 229 229 229 230 231

D. Die Gerechtheiten .......................................... 232 (§ 163) (§ 164) (§ 165)

(§ 166) (§ 167) (§ 168)

(§ 169)

(§ 170) (§ 171)

1. Philosophie Monismus ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Poesie und Religion .. . .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . .. . .. . . .. .... 2. PsycholOgie . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Ursprung des Konflikts der Gerechtheiten ............ Überich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Andere Quellen des Konflikts ........................ Einzelne Gerechtheiten .............................. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Zur Struktur der Gerechtheiten ...................... Von der Theokratie zur sozialen Kooperation ........ Vom "Kommunismus" zum Nationalismus ............ E. Das ethische und ästhetische Urteil

(§ 172) (§ 173) (§ 174)

(§ 175)

1. 2. 3. 4.

232 232 234 236 237 237 237 237 238 239 240 240 240

. . . • . . . . . • • . . • . . . • . . . • •. 242

Die Wahl zwischen Gerechthelten und Schönheiten ...... Die Rolle der (bewußten) Vernunft ...................... Die Rolle der (unbewußten) Nichtvernunft .............. Rationalisierung? ......................................

242 243 245 246

Viertes Kapitel: Recht und Gerechthelten (§ 176)

A. Gerechtheiten des Strafrechts: Strafe und "Behandlung" .... 248 1. Warum wir strafen ...................................... 248

(§ 177) (§ 178) (§ 179) (§ 180)

(§ 181)

a) Soziale Rechtfertigung und Motivation .............. (1) "Vernunft" ........................................ (2) Nichtvernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Prägenitale Aggression ............................ Moralisierte Gegenaggression (Vergeltung) ........ (3) Ödipale und postödipale Vergehen ................ Notwendige Unterscheidung ...................... Ausschluß von Gruppendelikten ..................

248 248 250 250 252 253 253 255

Inhaltsverzeichnis

(§ 181) (§ 182) (§ 183) (§ 184) (§ (§ (§ (§

185) 186) 187) 188)

(§ 189)

(§ (§ (§ (§

190) 191) 192) 193)

(§ (§ (§ (§

194) 195) 196) 197)

b) Rationale Abschreckung, Sicherung und Besserung (postödipale Vergehen) .............................. Technische und andere Nichtvermögensvergehen ...... Vermögensvergehen .................................. c) Irrationale Vergeltung (ödipale Vergehen) ............ (1) Beweis: der Alltag ................................ Probe aufs Exempel: Wahnsinn in der Todeszelle .. Und sonst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. (2) Wurzeln: bewußt und unbewußt .................. Bewußte Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Unbewußte Wirklichkeit .......................... (3) Der Preis: Der Gesellschaft Schuld und Dankbarkeit (4) Das Bedürfnis: Sicherheitsventil .................. 2. Wen wir strafen ........................................ a) Willensfreiheit: Bewußte Anomalie .................. Determinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Indeterminismus - Freiheit .......................... Resignation .......................................... "Als ob" ............................................ Ambivalenz .......................................... b) Vermutung von mens rea: Unbewußte Wirklichkeit .. Vermutete Absicht ...............................•.. Der böse Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. "Fahrlässigkeit" ...................................... Erfolgshaftung? ...................................... c) Zurechnungsunfähigkeit als Schuldausschließungsgrund: Bewußte Anomalie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Ambivalenz des Rechts .............................. Von M'Naghten zum Model Code: Hohle Worte ........ "Verminderte Verantwortlichkeit": Hilfloser Kompromiß Kampf der Experten: Brot und Spiele ................

15 256 256 258 259 259 259 260 262 262 263 264 266 267 267 268 269 272 273 273 274 274 276 276 278 280 280 280 283 284

3. Wen wir strafen sollen .................................. 285 (§ 198) (§ 199) (§ 200) (§ (§ (§ (§

201) 202) 203) 204)

a) Stand der Diskussion ................................ Gestern und heute: Freispruch des Zurechnungsunfähigen .............................................. Morgen: AbSchaffung der Strafe? .................... Abschaffung oder Absonderung der Berufung auf Zurechnungsunfähigkeit .............................. b) Die notwendige Unterscheidung ...................... Postödipale Vergehen ................................ Ödipale Vergehen .................................... Grenzland ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

285 285 287 288 289 290 291 293

B. Gerechtheiten des Schadenersatzrechtes: Unternehmenshaftung und Schadensausgleich ................................ 295 1. Haftung für Verschulden: Nichtvernunft von heute ...... 295 (§ 204) (§ 205)

(§ 206)

(§ 207)

a) Die Krise ............................................ b) Wie es dazu kam .................................... (1) Die Erbsünde: Verschuldensprinzip ................ Schadenersatzrecht als Strafrecht .................. Schuldvermutung ................................. , Sühne und Ersatz ................................

295 297 297 297 298 299

16

Inhaltsverzeichnis

(§ 208) (§ 209) (§ 210)



211)



214) 215) 216) 217) 218)

(§ 212) (§ 213)

(§ (§ (§ (§

(2) Belastung der Erbsünde: Unternehmenshaftung .... Frühe Rationalisierung ............................ Das Paradox: "Schuldfreie Fahrlässigkeit" ........ Verwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. (3) Flickwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Vermögen als Ersatzmaß .......................... Haftpflichtversicherung ............................ Haftpflichtzwangsversicherung ........ . . . . . . . . . . .. Erfolgshaftung .................................... 2. Schadensverteilung ohne Haftung: Vernunft von morgen a) Widerstände gegen Reform ..................... . . . . ... b) Allgemeine Schadenserstversicherung? ................ c) Telllösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Reformvorschläge .................................... e) Notwendiger Kompromiß ...........................•

301 301 303 304 305 305 306 308 309 310 310 313 314 315 318

C. Gerechtheiten des Prozeßrechts: Fairness und Wahrheit .... 320 (§ 219)

(§ 220) (§ 221)

(§ 222)

223) 224) (§ 225) (§ (§

226) 227) 228) 229) (§ 230)

(§ (§ (§ (§

(§ 231) (§ 232) (§ 233) (§ 234) (§ 235)

1. Partei- und Gerichtsbetrieb ("abversary" und "inquisitorial") ...........•...................................... a) Schlagworte ................•.......•................• b) Problemstellung ...................................... Plan ................................................ Gericht und Parteierl ................................ Beweisrecht .......................................... Richter und Zweikampf .............................. c) Österreichisches Modell .............................. d) Warum der Unterschied .............................. Falsche Rationalisierung .............................. Wahre Gründe ...................................... e) Annäherung? ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

320 321 324 324 325 326 327 329 333 333 335 336

2. Neue Lösungen .......................................... a) Der "kleine Mann" .................................. Ein "Recht für die Armen"? .......................... Anwaltskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Flickwerk ............................................ b) Die Jury ............................................ c) Freiwillige Gerichtsbarkeit ........ . .. .. .. .. .. . .. . ... 3. Und die Wahrheit? ...................................... a) Non liquet ............................................ Non liquet ius ........................................ Non liquet factum .................................... b) Die Zukunft? ........................................ Spiel und Glückspiel .................................. Komprorniß ..........................................

337 337 337 338 339 340 341 342 342 343 344 345 345 346

Bibliographie

.......•..........••...•................................ 349

Register .......................... • . • • • • . .. • . • . .. . . • .. . . . . . . . .. • . . .. •• 439

An Eros und Thanatos An das Leben und den Frieden Vorwort des Verfassers Die Entwicklung der deutschen Rechtsphilosophie seit dem zweiten Weltkrieg ist zwar weitgehend ausländischen Strömungen verwandt, hat aber, sei es aus sprachlichen oder weltanschaulichen Gründen, erst spät begonnen, das Ausland zu befruchten. Fachgenossen auf bei den Seiten des Ozeans muß es daher am Herzen liegen, auf einem Wissens- und Forschungsgebiet, das im vollsten Sinne weltweit ist, jene Einheit wiederherzustellen, die im Mittelalter eine Selbstverständlichkeit war und auch in der Neuzeit nicht gänzlich verschwand. Die klassische Frage nach der "Geltung" von Naturrecht und positivem Recht ist trotz fortdauernder, fast uferloser Debatte· von vielen längst als eine Scheinfrage erkannt worden. Es ist der Hauptzweck des Ersten Teiles dieses Buches zu zeigen, daß diese Debatte, wenn es uns gelingt, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, im Wesen psychologischer Natur ist. Der "Positivismus" ist nur um eine Struktur bemüht, die jeden "natürlichen" theologischen, soziologischen, psychologischen, phänomenologischen, egologischen, existentialistischen oder politischen Inhalt tragen kann und will. Dem naturrechtlichen Positivismus und dem positivistischen Naturrecht Sinn zu geben, ist Aufgabe einer neuen Rechtssoziologie, die eine Wahl zwischen diesen "Philosophien" als das Ergebnis psychologisch erfaßbarer Emotionen erkennt. Aber diese Aufgabe erfordert neues Rüstzeug. Dieses aufzufinden und an Einzelproblemen auf seine Anwendbarkeit zu prüfen soll im zweiten Teil dieses Buches versucht werden. Die neue deutsche Rechtssoziologie ist zwar die Enkelin bodenständiger Ahnen, aber das Kind französisch-englischer Eltern. Sie kann ihre Eigenart wiedergewinnen und dadurch die Welt bereichern, wenn sie sich mit jener anderen auf deutschem Sprachboden entstandenen Wissenschaft verbündet, die, wie ich glaube, den Schlüssel zu wahrhaft neuen Erkenntnissen hütet. Ich spreche von der Psychoanalyse, die seit • Maihofer (Hrsg.), Naturrecht; Hans-Peter Schneider, Books. 2 Ehren_eil

18

Vorwort des Verfassers

den tragischen Ereignissen der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit im deutschen Sprachkreis lange nur unter dem Mimikry einer "Tiefenpsychologie" fortgewirkt hat und erst in den letzten Jahren zu neuem Leben erwacht ist. Es scheint mir an der Zeit, die grundlegenden Entdeckungen dieser Wissenschaft, gestützt und bereichert durch das große Werk von Max Weber und Konrad Lorenz, der Rechtstatsachenforschung dienstbar zu machen. Im zweiten Teil dieses Buches will ich versuchen, eine solche Methode, die ich, scheute ich nicht den Neologismus, gerne Philopsychie oder Psychosophie genannt hätte, zunächst auf die im ersten Teil behandelten ethischen und ästhetischen Themen und dann auf einige Zentralprobleme des Rechtes selbst anzuwenden. Zu diesen Problemen gehören vor allem die Lehren von den Verantwortlichkeiten, Sanktionen und Verfahrensarten im Straf- und Schadensersatzrecht. Ohne irgendwie auf eigene Entdeckungen Anspruch zu erheben, hoffe ich, mit diesem Versuch einer künftigen Forschergeneration einige Anregungen geben zu können. Aber ich darf dem Leser nicht die Erklärung dafür vorenthalten, warum ich einen solchen Vorversuch in einem so kleinen Band wagen und mich dabei noch einer scheinbar willkürlichen Stoffwahl und heterodoxen Methode bedienen zu dürfen glaubte. Ich habe es nicht einmal unternommen, die zweieinhalb tausend Jahre alte Debatte der Rechtsphilosophie zumindest in einer kurzen Zusammenfassung vorzulegen, da es ja zahlreiche ausgezeichnete Autoren gibt, die dies und mehr getan haben. Unter den Neueren gehören hierhier im deutschen Rechtskreis Coing, Larenz und Verdross, in der romanischen Welt Bobbio, Brimo, Cossio, Engisch, Fasso, Frosini, Haesert, Recasens-Siches und Truyol, in Skandinavien Hägerström und Alf Ross, und in den angelsächsischen Ländern Bodenheimer, Wolfgang Friedmann und Julius Stone. Sie alle werden überall zur notwendigen Ergänzung zitiert. Weitere Lektüre wird häufig durch die Verweisung auf Bibliographien anderer angeregt, wie etwa auf die unerschöpflichen Quellenangaben in Stones Trilogie, und durch Zitate aus Fachzeitschrüten wie etwa aus dem Archiv für Rechts- und Staatsphilosophie (ARSP), dem American Journal of Comparative Law (AJCL) oder dem International und Comparative Law Quarterly (ICLQ). Leider habe ich nicht den Versuch machen können, in dieser übertragung dem gewaltigen deutschen Schrifttum volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber vielleicht darf ich doch hoffen, daß der deutsche Leser manche der Hinweise darauf und darüber hinaus auf viele der seit der englischen Urausgabe erschienenen Werke nützlich finden wird. Außer den erwähnten und manchen nicht erwähnten allgemeinen Lehrbüchern der Philosophie und Rechtsphilosophie und Taschenenzyklopädien wie jenen von Brehier und Smith werden für engere Gebiete

Vorwort des Verfassers

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zahlreiche Spezialwerke herangezogen: für allgemeine Philosophie besonders Bertrand RusselI; für die Geschichte der Rechtsphilosophie Beck, Cairns, Cornford und Erik Wolf; für analytische "Jurisprudenz" H. L. A. Hart, Kelsen und Shuman; für Ästhetik Beardsley, Anton Ehrenzweig, Nicolai Hartmann und Erik J ayme, für Rechtsvergleichung Rene David, John Hazard, Koschaker und Wieacker; für Strafrecht J. Goldstein, Jerome Hall, Packer, Reiwald und Silving; für das Recht der Unternehmenshaftung John Fleming, v. Hippel, Prosser und Weyers; für Zivilprozeßrecht Cappelletti, Fleming James, Louisell und Rosenberg; für die Verhaltensforschung Eibl-Eibesfeldt und Konrad Lorenz; für die Phänomenologie Alois Troller und schließlich für Psychoanalyse Bienenfeld, J. A. C. Brown, Erikson, Hacker, Jung, Maetze, Mitscherlich und natürlich vor allem Sigmund Freud. Dazu kommt eine vielleicht allzu weitreichende Bezugnahme auf scheinbar willkürlich gewählte und möglicherweise ephemere Monographien und Aufsätze. Dies mag von manchem Leser störend empfunden werden. Aber solche Bezugnahme schien nötig, um den Zugang zum letzten Stande der Wissenschaft zu sichern, wobei es der Zukunft überlassen bleiben mußte, Vergängliches von Dauerndem zu sondern. In diesem Sinn war überfluß der Dürftigkeit vorzuziehen, ebenso wie die Beachtung junger, werdender Forscher ihrer allzu üblichen Verdrängung zugunsten "führender" Autoren. Andererseits habe ich mich wohl so mancher bedenklicher Auslassung schuldig gemacht. Si licet parvos componere magnis, sei es mir gestattet, hierzu die captatio benevolentiae ins Treffen zu führen, die Huizinga als 67jähriger seinem berühmten Homo Ludens vorausschickte: "Der Leser dieser Seiten sollte nicht ausführliche Dokumentation eines jeden Wortes erwarten. Wer sich mit allgemeinen Kulturproblemen befaßt, ist ständig genötigt, Raubzüge in Provinzen zu unternehmen, die er nicht selbst erforscht hat. Es wäre mir unmöglich gewesen, alle Lücken meiner Kenntnisse ausfüllen zu wollen. Ich mußte jetzt schreiben oder nie mehr. Und ich wollte schreiben." Viele wollten die Persönlichkeit und Begrenzung ihrer Botschaft dadurch ausdrücken, daß sie sie als "Briefe" an Söhne oder Studenten, als formfreie "Vorlesungen" oder "Einführungen" der Öffentlichkeit übergaben. Nicht einmal das durfte ich in meinem Ersten Teil versuchen, der überall der Ergänzung durch eines der genannten umfassenden Lehrbücher bedarf. Mein Zweiter Teil mit seiner psychologischen Analyse ist freilich unbescheidener, denn er will Neues bringen. Daraus ergab sich eine Verschiedenheit in Stil und Inhalt, die unerfreulich sein mag. Aber sowohl völlige Vereinheitlichung wie völlige Trennung hätte die Arbeit eines zweiten Lebens erfordert. Ich hoffe, daß die dem Inhaltsverzeichnis folgende Synopsis zumindest einen ersten überblick des Gesarntplans ermöglicht.

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Vorwortdes Verfassers

In zahlreichen Teilgebieten meiner Arbeit bedurfte ich dringend der Hilfe. Viel verdanke ich meinen Kollegen und Studenten. Unter jenen Autoren, die so freundlich waren, meine ihr Werk betreffenden Ausführungen zu lesen, waren Alf Ross, Hans Kelsen und Konrad Lorenz. Kritischer Lektüre des ganzen Ersten Teiles oder eines oder mehrerer Kapitel daraus unterzogen sich Edgar Bodenheimer (Davis), Mauro Cappelletti (Florenz und Stanford), Anselmo Conte (Pavia), David Daube (Oxford und Berkeley), EI Gathit (Kairo und Berkeley), Murad Ferid (München), Wolfgang Friedmann (New York), Gino Gorla (Rome), Ferenc Mädl (Budapest), Robert Pascal (Baton Rouge), John Rickford (London), Ilmar Tammelo (Sidney), John Wilkins (Berkeley), Athanassios Yiannopoulos (Baton Rouge). Besonderen Dank schulde ich Upen Baxi (Bombay und Sidney), Andrew Bowman (Carmel), John Finnis (London), Friedrich Kessler (Yale und Berkeley), Alfons Noll (Köln), Alois Rietschl (Mainz), Peter Sand (Rom) für detaillierte Kritik. Mein Exkurs in die Psychoanalyse wurde von John Batt (Kentucky), Christian Clemens (Münster), Thomas Cowan (Rutgers), Bernard Diamond (Berkeley), Martin Grotjahn (Beverly Hills) und Alexander Mitscherlich (Frankfurt) geprüft; und mein ästhetischer "Exzess" von Alfred Neumeyer (Oakland), Erik J ayme (Mainz) und Anthony Ehrenzweig (London), dem Sohn meines verstorbenen Bruders Anton, dessen Werk mich veranlaßt hat, Analogien zwischen Gerechtigkeit und Schönheit zu suchen. Wenn es mir gelang, der Phänomenologie ein wenig näherzukommen, dann danke ich dies der geduldigen und wissenden Belehrung Alois Trollers (Luzern). Viel schulde ich auch meinen Kollegen Collings, Johnson, Kadish und Sherry sowie meinem norwegischen Freund Andenaes für ihre Kritik meines Strafrechtsversuchs. Die Zusammenfassung meiner früheren schadensersatzrechtlichen Arbeiten wurde von John Fleming revidiert und mein prozeßrechtlicher Wunschtraum von Cappelletti, Fleming James, Louisell, Schima und Vetter. Dazwischen lagen gute Gespräche an der pazifischen Küste in Carmel mit Andrew Bowman, dessen "Being Human" den Ausgangspunkt zu mancher allgemein menschlicher Besinnung bot. Die Idee einer deutschen erweiterten Fassung dieses Buches im Rahmen dieser soziologischen Reihe kam von Manfred Rehbinder als Antwort auf meine angriffslustigen Versuche, ihn seiner soziologischen Arbeit in Berkeley abspenstig zu machen. Ich will darauf verzichten, zu beschreiben, was es mir bedeutet, dank ihm nach mehr als einem Menschenalter wieder ein Buch in meiner Muttersprache veröffentlicht zu sehen. Den Doktoren Heino Garrn, Uwe Krüger, Franz Mänhardt und Bernd Rebe bin ich für die Herstellung des deutschen Textes und manche wertvolle sachliche Anregung wärmstens verbunden. Nur eines habe ich zu bedauern: Als ich im Jahre 1972, der Einladung der Deut-

Vorwort des Verfassers

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schen Forschungsgemeinschaft folgend, mehrere Monate in Deutschland verbracht hatte, war es zu spät, das Viele und Wertvolle, das ich in diesen Monaten gelernt hatte, in diesem Buche gebührend zu verwerten. Ich muß mich daher damit begnügen, besonders den Herren Kübler in Konstanz, Würtenberger in Freiburg, Simitis in Frankfurt, Heldrich in München und Firsching in Regensburg für die Veranstaltung von Vorlesungen und Seminaren und zahlreichen ihrer Kollegen und deren Assistenten für ihre geistige und persönliche Gastfreundschaft zu danken. Mein zweiter Besuch bei Konrad Lorenz und seinen Tieren ist, wie ich hoffe, nicht ohne sichtbare Nachwirkung geblieben; ebenso wenig wie meine Diskussionen mit Rudolf Bruns (Marburg), Eibl-Eibesfeldt und Habermas (Starnberg), Hager (Salzburg), Maetze (Berlin) und Mitscherlich (Frankfurt). Viele von den mittlerweile erschienenen Kritiken des englischen Originals waren mir besonders wertvoll. Keine formelle Anerkennung kann dem Dank vollen Ausdruck verleihen, den ich meinen Assistenten und anderen Mitarbeitern schulde, allen voran Thomas Reynolds, dem Bibliothekar in Berkeley, für aktive wissenschaftliche Betreuung, Frank Garfield für die Herstellung der ursprünglichen Bibliographie, Angelika Beber für die übersetzung des Index, Maria RosenthaI für die Be:mrgung sowohl des englischen wie (mit Frl. Heinemann, Bielefeld) des deutschen Textes. Ohne die Hilfe von Ilse Simitis (Frankfurt) wäre es unmöglich gewesen, untragbare Rückübersetzungen aus Freuds Werken zu vermeiden. Jeder Lehrer, der dieses Buch liest, wird wissen, daß der Verfasser es ohne Untersützung und Nachsicht seiner Kollegen nicht hätte zustandebringen können. Dekan Ewald Halbach muß für sie alle den Dank zur gesamten Hand entgegennehmen, der auch der finanziellen für die übersetzung von der Verwaltung des Robbins Fund gegebenen Hilfe gilt. Daß diese deutsche Version erscheinen durfte, schulde ich der Großzügigkeit meines Freundes und Verlegers John Landwehr, A. W. Sijthoff in Leiden, und daß diese Version nun vorliegt, dem "über"-Mut des Berliner Verlages. Berkeley 1972 Albert A. Ehrenzweig

Synopsis 1. Nach einer methodologischen Einführung (§§ 1-3) soll versucht werden, jenen Begriffen zu folgen, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte sich über das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit gebildet hat. Der historische Gang beginnt mit dem Zeitalter der "Unschuld", in dem das Recht noch als Teil des Universums angesehen wurde (Theomonismus, § 4) und führt uns weiter zum großen "Sündenfall", der von alters her bis in die neueste Zeit immer wieder die ("positive") veränderliche Rechtsordnung von einem ("natürlichen") ewigen Seinswert der Gerechtigkeit zu scheiden versucht (Dualismus, § 5). Ob nun solche Versuche auf diesem Wert bestehen oder sich mit dem einsamen Schicksal des Menschen bescheiden (Anthropomonismus, §§ 6-8), sie führen uns unausweichlich in jenen Turm zu Babel, in dem jeder unserer Rechtsphilosophen seine Botschaft nur in seiner eigenen Sprache verkünden kann (Pluralismus, § 9).

2. Aus dieser Sprachenverwirrung soll der Ausweg durch den Vorschlag einer gemeinsamen Sprache gesucht werden. Davon ausgehend, daß die Auswahl einer solchen Sprache ausschließlich durch Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmt werden kann (§ 11), wollen wir Kelsens Reiner Rechtslehre die Dichotomie zwischen dem normativen Sollen und dem existentiellen Sein entlehnen (§§ 10-13). Als Brücken zwischen diesem Sein und Sollen werden dann das Quasi-Sein willkürlich gewählter Metanormen wie Glaube, Vernunft oder Macht (§ 14) und der allgegenwärtige, wertorientierte Prozeß der Rechtskonkretisierung erkennbar werden (§ 15). Die Nutzbarmachung dieser Analyse für das horizontale Gefüge juristischer Systementwürfe (Hohfeld) wird diese Diskussion beschließen (§§ 16-20). 3. Haben wir so die "Schulen" des Rechtsdenkens in ihren Kampfgruppen betrachtet, sind wir nun bereit, auf ihren Kampfruf zu hören. Den Anfang soll der Positivismus bilden, wie er in Kelsens Reiner Rechtslehre verkörpert ist (§§ 21-22). Dieser Theorie die Dichotomie von Sein und Sollen (punkt 2) entlehnend, werden wir finden, daß die dieser Theorie eigene Metanorm, das "Minimum der Wirksamkeit" (§ 24), durch jede beliebige andere Metanorm ersetzt werden kann. Haben wir dann weiter Kelsens Fiktion einer "Grundnorm" als eine bloße

Synopsis

ästhetische Verzierung (§ 23) erkannt, können wir die meisten Angriffe auf Kelsens Grundthesen entkräften (§ 25) und diese Thesen in Harts (§ 26) und Alf Ross' (§ 27) nur scheinbar abweichenden Aussagen wiederfinden. 4. Ein kurzer Blick auf den trügerischen, daraus resultierenden Waffenstillstand (§ 28) wird uns zu einer Zusammenfassung jener Theorien führen, die gewöhnlich als "naturrechtZich" bezeichnet werden (§ 29). Diese Theorien umfassen den monistischen Glauben an Gott und die Natur (§ 30), den "Gesellschaftsvertrag" (§ 31), den Kant'schen kategorischen Imperativ (§ 32), Benthams Lust und Schmerz (§ 33), Mills Allgemeine Utilität (§ 34), Savignys "Volksgeist" (§ 35), Jherings "Zweck" (§ 36), die ideologischen Grundlagen des Common Law (§ 37) und schließlich auch die Prinzipien des "due process" und der "Menschenrechte" (§ 38). Dieser Diskussion wird die Beschreibung einer angeblichen "Renaissance" des Naturrechtes nachfolgen, von ihrem Ursprung (§ 39) bis zum "Nachkriegstrauma" (§ 40) und den Thesen der Phänomenologen (§ 41) und zu dem Schluß führen, daß alle diese "Wiedergeburten" in Niedergang enden mußten (§§ 42, 43). Die sich daraus ergebende Sprachverwirrung wird durch eine allseits bekannte wissenschaftliche Kontroverse illustriert (§§ 44-46). In weiterer Folge werden dann andere, angeblich unabhängige Theorien diskutiert, welche wir freilich als "Nicht-Schulen der Rechtsphilosophie" werden behandeln müssen, da deren Anliegen zu den traditionellen Fragestellungen wenig Beziehung hat (§ 47). Hierher gehören Genys donnes (§ 48), Ehrlichs Freirecht (§ 49), Hecks Interessenjurisprudenz (§ 50), die "Natur der Sache" (§ 51), Pounds "social engineering" (§ 52), der amerikanische und skandinavische "Realismus" (§§ 53-57) und ferner - in Paraphrase zu den "New Economics" - die "New Rhetorics" der "Topik" (§ 58). Diese Erörterung soll - unter dem Motto von "Don Quichote und die Windmühlen" - mit einer Tabulierung dessen beschlossen werden, was die wichtigsten "Schulen" nun wirklich ausgesagt haben und wie deren Lehrmeinungen von der Warte ihrer Gegner aus beurteilt werden (§ 59). 5. Nach dieser Beschreibung der Kampfgruppen und ihrer Kampfrufe sollen einige jener Kampfgebiete besichtigt werden, auf denen die Notwendigkeit zu einer semantischen Versöhnung besonders eindringlich vor Augen geführt werden kann. In diesem Zusammenhang werden mit einem Seitenblick auf die "natürlichen (angeborenen) Rechte" Theorien zu den Problemen der Rechtslücken (§§ 60-62), der "civil disobedience" (§§ 63-73) und der "criminal obedience" behandelt (§ 74). Ferner sollen an dieser Stelle als überleitung zu dem Kapitel über vergleichende Rechtsphilosophie (§ 75) die Beziehungen zwischen dem kontinentalen Recht und dem Common Law Erörterung finden.

Synopsis

25

6. Das rechtsvergleichende Kapitel soll zunächst im Bereich des Zivilrechtes auf die Tragweite rechtsphilosophischer Untersuchungen für das richtige Verständnis der Unterscheidung zwischen den zwei Rechtskreisen hinweisen (§§ 76-78). Auf eine geographische übersicht der Kernländer (§§ 79-80) und der Grenzländer (§§ 81-86) folgt eine kritische Analyse der angeblichen Unterschiede zwischen den beiden Rechtskreisen und dessen, was als Funke der Wahrheit von diesen Angaben übrig bleibt. Diese Angaben berühren die Funktionen des römischen Rechts (§§ 87-91), der Kodifikationen (§§ 92-101), der Gesetzgebung und des Richterrechts (§§ 102-109) und schließlich die Methoden juristischen Denkens (§§ 110-112). Systembildung und Rechtsgelehrsamkeit (§ 113), der Weg der Gesetzgebung (§ 114) und Richterrecht (§ 115) erscheinen hierbei als die wesentlichen Charakteristika. Eine Analyse der Bedeutung der so gewonnenen Schlüsse für die Ermittlung und Feststellung dessen, was in bei den Rechtskreisen "rechtens" ist, beschließt dieses Kapitel und zugleich den Ersten Teil (§§ 116-120). 7. Der Zweite Teil dient der Rechtfertigung einer der Hauptthesen dieses Buches. Es soll gezeigt werden, daß sich die zwischen den einzelnen Rechtsphilosophien angeblich bestehenden Meinungsverschiedenheiten nach der Wahl eines gemeinsamen Nenners für ihre Vielsprache (Punkt 2 und 3) auf psychologische Faktoren zurückführen lassen. Diese Faktoren gestalten nun jede dieser Philosophien entweder (1) als "naturrechtlichen Positivismus" durch Einschluß solcher "natürlicher" Metanormen wie Glaube, Recht oder Nützlichkeit im Rahmen ihrer ihnen eigenen "positiven" Sollstruktur, oder (2) als "positivistisches Naturrecht" wegen ihres Ausschlusses aller Metanormen. Die psychologische Motivierung, die dieser Unterscheidung zugrundeliegt, bildet, wie ich glaube, die wichtigste Quelle des großen Unbehagens in und am Recht (§ 121). Bedeutsame Anhaltspunkte liegen in der hoffnungslosen Sehnsucht aller nach den Absoluten der Gerechtigkeit und der Vernunft (§§ 122-127), in dem politischen Ge- und Mißbrauch dieser Absoluta (§ 128), im Anstellen und Verwerfen von Vergleichen mit tierischem Verhalten und dem Instinktiven (§ 129) und selbst in manchem erfolglosen Kompromiß (§ 130). Es waren gerade diese Gegensätze und Kompromisse, die für jenen irrationalen Widerstand verantwortlich sind, der den durch die Entdeckungen der Neuen Ära (§ 131) möglich gemachten psychologischen Untersuchungen entgegengesetzt wird. 8. Bisher hat diese Neue Ära freilich juristische Untersuchungen kaum berührt. Das soll gerade mit Bezug auf so empfindliche Bereiche wie das Straf- und Schadensersatzrecht, das Vertragsrecht, das Völkerrecht und das Internationale Privatrecht gezeigt werden (§ 132). Daneben weisen Religion, Naturwissenschaften und Metaphysik Einflüsse

26

Synopsis

verschiedener Intensität auf (§ 133). Die Sozialwissenschaften aber einschließlich der Nationalökonomie (§§ 134-135) und vor allem die Ästhetik sind es, die für unsere Belange die verheißungsvollsten Analogien bereithalten. 9. Nach einem Versuch, die Beziehung zwischen den Begriffen von Asthetik, Kunst und Schönheit mit dem Künstler selbst in Verbindung zu setzten (§§ 136-138) erweist sich die Dichotomie zwischen dem Gefühl für das Schöne und den einzelnen "Schönheiten" (§§ 139-140) als vielversprechendes Analogon für die darauf folgende Analyse der Dichotomie zwischen dem Gefühl für Gerechtigkeit und den einzelnen "Gerechtheiten" (punkt 10). So soll denn eine historische und psychologische Studie des Schönheitsgefühls (§§ 141-143) und der individuellen Schönheiten (§§ 144-148) den Boden für eine derartige Analyse bereiten. 10. Durch diesen Exkurs in die Ästhetik unterstützt, führt das Eindringen in die Elemente des Gerechtigkeitsgefühls von einer philosophischen Vorgeschichte (§§ 149-151) über vor- und nebenfreudianische Psychologie (§§ 152-153) zum Versuch, die Entdeckungen der Psychoanalyse heranzuziehen. Das Studium der Funktionen des über-Ich, Ich und Es (§§ 154-162) wird uns helfen, einige der individuellen Gerechtheiten, welche uns während unseres ganzen Lebens - oft unbewußt begleiten, bloßzulegen (§§ 163-165). Deren unvermeidlicher Konflikt erklärt schließlich nicht nur den uralten Widerstreit zwischen den Rechtsphilosophen (Erster Teil des Buches), sondern auch einige der wichtigsten Verkrampfungen, mit denen unsere Justiz sowohl im Bereich der Rechtsprechung (§§ 166-175) als auch in einzelnen Gebieten des materiellen Rechts behaftet ist.

11. Die aufeinanderstoßenden Gerechtheiten strafrechtlicher Sanktion liefern das erste und zugleich dramatischste Beispiel. Die ewige Malaise einer strafenden Gesellschaft resultiert zum großen Teil aus deren Unvermögen, zwischen Deliktstypen unter Zugrundelegung ihrer psychologischen Wurzeln und Auslösemechanismen zu unterscheiden (§§ 176-180). Nur jene Delikte, die am leichtesten auf oberflächlich verdrängte und weitgehend bewußte Motivierungen ansprechen, sind rationaler, abschreckender Bestrafung zugänglich (§§ 181-182). Wegen des typischerweise post-ödipalen Ursprungs sowohl ihrer Verdrängung als auch ihrer Motivierung habe ich derartige Delikte als post-ödipale bezeichnet. Sie umfassen einen weiten Bereich, angefangen von den technischen Gesetzesübertretungen bis zu den meisten Vermögens- und gewissen Sexualdelikten. Am anderen Ende des Verbrechensspektrum sind diejenigen Straftaten anzutreffen, bei deren Begehung der Täter sehr fruhe, sehr tiefe

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und deshalb unbewußte Verdrängungen zu überwinden hat. Den Prototyp stellt der Affektmord dar, dem wir bezüglich jener Taten den Terminus "ödipales" Verbrechen entnommen haben, welche wegen ihrer tiefen Wurzeln rationaler Bestrafung weitestgehend entzogen und daher in erster Linie einem irrationalen und darum unzerstörbaren gesellschaftlichen Vergeltungs drang preisgegeben sind (§§ 183-188). Da diese Unterscheidung auf Extreme aufgebaut ist, kann sie freilich keine allgemeinen Lösungen liefern, sondern lediglich den Weg zu notwendigen Differenzierungen weisen. 12. Die vorgeschlagene Methode wird durch eine Untersuchung der "Einrede" mangelnder Zurechnungsfähigkeit untermauert. Diese "Einrede" setzt die bewußte Hypothese der Willensfreiheit voraus (§ 189); trotzdem muß sie bei jeder Anklage die unbewußte Vermutung einer schuldhaften Gesinnung, einer mens rea, niederringen (§§ 190-193). Wenn die Vermutung obsiegt, so kann dieser Konflikt auf der einen Seite zu ziel- und zügelloser Vergeltung führen. Im Gegenfall muß sich die Entscheidung für den Angeklagten auf solche Verzerrungen von Prozeß und Recht stützen, wie sie etwa die halbherzigen Anweisungen an die Laienrichter (§§ 194-196) und die unwürdige Schlacht der Sachverständigen im Gerichtssaal darstellen (§ 187). Derartige Verzerrungen könnten zahlenmäßig vielleicht dadurch verringert werden, daß man sie ganz bewußt auf den rein ödipalen Verbrechensbereich beschränkt. 13. Das Versäumnis, notwendige Unterscheidungen zwischen den Delikten zu treffen, hat überdies zur unentschiedenen und unentscheidbaren Debatte zwischen den "Konservativen" und jenen "Abolitionisten" geführt, welche die Bestrafung durch "Heilbehandlung" und Sicherungsmaßnahmen ersetzen wollen (§§ 198-200). Eine Aussöhnung wäre aber durchaus möglich, wenn sich der Kreuzzug der Letztgenannten auf die Forderung nach behutsamer Verringerung von Vergeltung gegenüber ödipalen Verbrechen beschränken würde und sie gleichzeitig bereit wären, der Tradition und ihren Anhängern abschreckende Bestrafung post-ödipaler Gesetzesübertretungen zu konzedieren. Dann könnte ein von notwendig irrationaler Vergeltung für ödipale Verbrechen getrenntes Strafsystem wenigstens in beschränktem Rahmen schrittweiser Rationalisierung entgegengehen (§§ 201-203).

14. Die Verschuldenshaftung im Schadensersatzrecht fährt fort, das nahezu ausschließliche, wenngleich völlig inadäquate Mittel zur Verteilung von Schäden zu bieten, welche in unvermeidbarer Weise durch technisierte Unternehmungen entstanden sind. Obwohl diese Tatsache vornehmlich einem historischen Zufall zu verdanken ist (§§ 205-207), hat sie sich im Laufe der Zeit zu einer sehr ernsten Gefahr für die gesamte Ziviljustiz entwickelt. Denn ein Schuldhaftungssystem muß not-

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wendig zur Rechtsverzögerung führen, falsches Zeugnis in Kauf nehmen, zu hasardöser Prozeßführung ermuntern und vor allen Dingen jedem Schadensopfer, dem es nicht glücken sollte, ein Verschulden des Verletzers zu beweisen, jeglichen Schadensersatz versagen (§ 204). Andererseits aber wird der Beklagte durch das Verschuldensdogma mit unbegrenzten und ebenso unberechenbaren Risiken beschwert. Dies hat wiederum zur Schaffung und Legalisierung des Institutes der Haftpflichtversicherung geführt, die die Aushöhlung des eigentlichen Zwekkes des traditionellen Schadenersatzrechtes als vornehmlich "admonitorisches" Instrument bewirkte (§§ 210-212). Damit wurde einer weiteren Denaturierung des Verschuldensbegriffs Vorschub geleistet, der nunmehr ganz offen als "schuldfreie Fahrlässigkeit" (§§ 208-209) oder gar als schlichte Verursachung auftritt (§ 213). 15. Seit nahezu 40 Jahren versuchen Reforfflvorschläge das verschuldensabhängige Schadenersatzrecht als Hauptmittel zur Verteilung unvermeidlicher Schäden zu verdrängen. Danach soll die Haftpflichtversicherung des Schädigers durch eine Unfallversicherung ersetzt werden, deren Prämienleistungen durch den Unternehmer zu Gunsten der potentiellen Schadensopfer zu tragen wären (§§ 215-216). Derartige Vorschläge stoßen wohl bei der "Versicherungsindustrie" auf heftigsten Widerstand (§ 214), bleiben aber Gegenstand einer weltweiten Diskussion (§ 217). Eine vernunftgetragene Reform sowohl des Schadensersatzrechtes (so wie ja auch des Strafrechts) kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie dem Opfer "moralischen" Verschuldens weiterhin die Befriedigung seines irrationalen und doch so realen Vergeltungsbedürfnisses gewährt und damit den Weg zum Ersatz derartiger Sanktionen durch rationale Maßnahmen in anderen Fällen ebnet. Um die daraus resultierende Bevorzugung der Opfer wirklich vorwerfbaren Verhaltens zu vermeiden, sollte deren Anspruch in Schadensersat:zbußen umgewandelt werden, welche dann teilweise der gesamten Risikogemeinschaft zufallen würden (§ 218). 16. Der Justizapparat in den Ländern des Common Law hat besonders an dem fortgesetzten Widerstand gegenüber einem umfassenden überdenken des ihnen eigenen "Adversarverfahrens" (adversary proceedings) zu leiden. Dessen Schwächen manifestierten sich - wiederum weitgehend dank historischer Zufälligkeit - in der Rolle des Richters, welcher, angeblich im Interesse der Fairneß, auf eine bloße Schiedsrichterfunktion beschränkt ist (§§ 220-224). Selbst wenn dieses unheilvolle Beiwerk des Common Law zum Teil psychologisch unvermeidlich sein sollte, so ändert dieser Umstand nichts daran, daß manche Auswüchse das Vertrauen des Volkes in das Recht bedrohen und somit die eigentliche Grundlage eines demokratischen Gemeinwesens gefährden

Synopsis

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(§ 219). Es ist an der Zeit, daß man den freien Zugang auch des "kleinen Mannes" zu den Gerichten sicherstellt (§ 225), daß man die Laiengerichtsbarkeit in Zivilsachen neutralisiert oder gänzlich beseitigt (§ 226) und daß man die Initiative des Richters durch Abschaffung gebundener Beweisregeln und die Einführung außerstreitiger Verfahrensarten (in gemeinwohlorientierten Fällen) unterstützt (§ 227). Schließlich wird vielleicht die reifende Erkenntnis über des Menschen Unvermögen je absolute Gerechtigkeit und Wahrheit zu erreichen, in beiden Rechtskreisen zu allmählicher Anerkennung des in vielen Fällen bestehenden Bedürfnisses nach gerichtlichem Kompromiß führen (§ 228).

ERSTER TEIL

Der Streit von gestern: Philosophie Erstes Kapitel

Recht und Gerechtigkeit Einleitung § 1. Rechtsphilosophie. "Jegliches positive Wissen gehört in den Bereich der Naturwissenschaft; jegliches Dogma dagegen ... gehört in den Bereich der Theologie. Zwischen Theologie und Naturwissenschaft aber gibt es ein Niemandsland, das Angriffen von beiden Seiten ausgesetzt ist. Dieses Niemandsland ist die Philosophie1." In rhetorischer Abwandlung dieses Aper~us Bertrand Russells könnte man sagen: Die Rechtswissenschaft - das Studium positiver Rechtssätze - gehört in den Bereich der Wissenschaft; die Rechtsdogmatik - das Studium der rechtlichen Begriffe - gehört in den Bereich der Theologie. Rechtsphilosophie oder "jurisprudence"!, das Studium der Gerechtigkeit dagegen, ist ein Niemandsland, das Angriffen von beiden Seiten ausgesetzt ist. Noch bis vor kurzem war die Rechtsphilosophie ein Bestandteil - und zwar ein wesentlicher - der Philosophie. Viele Philosophen befaßten sich hauptsächlich mit dem Recht und dem Problem der Gerechtigkeit, und nicht wenige Juristen gehörten zu den bedeutendsten Philosophen. Im 1 Russell S. XIII. Viele Philosophen haben den "Gegenstand" ihres Bemühens kritisch untersucht. Siehe neben vielen anderen Funke. t Die internationale Terminologie ist verwirrend. Der angloamerikanische Begrüf "jurisprudence" bedeutet Rechtsphilosophie. Die französische "jurisprudence" und die entsprechenden Begriffe in anderen romanischen Sprachen bezeichnen verschiedene Arten des Fallrechts. Siehe unten § 109; Gorla, Giurisprudenza. Die deutsche "Jurisprudenz" ist ihrem Wesen nach identisch mit dem Studium der Rechtswissenschaft. Der deutsche Begrüf "Rechtsphilosophie" ist auf Gustav Hugo (1764-1844), einen Schüler Kants, zurückverfolgt worden (Viehweg, Hugo; Fritz von Hippel 48-90) und gewann Bedeutung mit Hegels "Philosophie des Rechts", die 1821 erschien. Vgl. Radbruch, Geist 68, der meint, daß die englische "Jurisprudence" nicht eine der deutschen Rechtsphilosophie vergleichbare "wertende und fordernde Betrachtung des Rechts" sei.

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

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§2

Rom der klassischen Zeit war die juristische Rhetorik die Sprache der Philosophie, und im Mittelalter waren es oft zuerst die juristischen Fakultäten, an denen Philosophie als Lehrfach betrieben wurde. Auch in der Folgezeit behielt die Frage nach dem Recht und der Gerechtigkeit einen zentralen Platz in philosophischen Betrachtungen. Spinoza, Rousseau, Vico, Hume, Locke, Hobbes, Leibniz, Kant und Hegel könnten ebensowenig wie Plato, Aristoteles, Cicero oder Thomas Aquinas ohne ihre Stellungnahme zu diesem Fragenbereich verstanden werden. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Rechtsphilosophie von ihrer "erzwungenen Lebensgemeinschaft" mit der Philosophie befreit3 • Das gleiche Aufbegehren, durch das die Naturwissenschaft die "Naturphilosophie" ihrer MonopolsteIlung beraubte, befähigte auch eine neue Rechtsphilosophie, sich aller "Spuren der Alchemie, der Astrologie und der Hexerei" zu entledigen4 • Ob dieser Exodus auch die Philosophie gefördert hat, bleibt dahingestell t 5 • § 2. Eine neue Wissenschaft vom Recht? Die Philosophen haben der Rechtswissenschaft zuviel versprochen und haben ihr zu wenig gegeben. Bei ihrer Suche nach einem Verständnis der menschlichen Existenz haben sie es unternommen, den Begriff dessen, was gemeinhin Gerechtigkeit genannt wird, zu erforschen, einen Begriff, der untrennbar mit der Annahme eines freien Willens des Menschen verbunden ist (§ 160). Aber die Freiheit des Willens ist so unergründlich wie seine Unfreiheit, so unergründlich wie die Unbegrenztheit oder Begrenztheit eines gottlosen oder göttlich gelenkten Universums und die Unbegrenztheit oder Begrenztheit von Raum und Zeit. Kants berühmte "Antinomien" haben dieses Dilemma nur in neuer Form dargestellt 8• Gleiches gilt auch für die Unterscheidung der modernen Physiker zwischen subjektiven (erfahrenen) und objektiven (deduktiv gewonnenen) Erkenntnissen7 • Sollten wir bei unseren Betrachtungen über das Recht nicht besser auf derartige Spekulationen verzichten und Trost in diesem Verzicht finden? Die Grenzen von Raum und Zeit zu begreifen, wird uns immer versagt bleiben. Warum also sollten wir darauf beharren, die Grenzen unseres Willens in dessen Ausrichtung auf die Gerechtigkeit zu begreifen? Ein führender Rechtslehrer gelangt, nachdem er jener Frage eine umfängliche Abhandlung gewidmet hat, zu dem Schluß, daß der Begriff der a Bobbio 19, 35, 40-49. Vgl. auch z. B. Troller 13-14. Patterson 12. Siehe auch Erich Kaufmann 1-3. über die verbliebene

4

Dreidimensionalität des Rechts, vgl. Reale; Goldschmidt. 5 Das Werk solcher Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Nicolai Hartmann, Heidegger, Edmund Husserl, Jaspers, Sartre und Scheler hat einige Beziehung zu Rechtsproblemen zuTÜckgewonnen. Vgl. Troller § 10; unten § 4l. 8 7

Vgl. z. B. L. W. Beck 486-487,492; unten S. 272. Russell 7l7.

§3

..Psychosophie? "

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Gerechtigkeit "im Plan des Weltganzen" menschlicher Erkenntnis Verschlossen bleibt8 • Er kommt dabei zu dem gleichen Ergebnis wie der Nichtgelehrte, der dieses Geheimnis längst Gott oder der Natur überlassen hat. Hatte Hume also recht, als er meinte, daß wir alle metaphysischen Darlegungen als "Sophisterei und Illusion" verbrennen sollten; Wittgenstein, als er die meisten philosophischen Aussagen als "unsinnig" bezeichnete; Whitehead, als er den einzigen Schlüssel zu seiner "Naturphilosophie" von der Poesie erhoffte; und ein junger amerikanischer Existentialist, als er den Philosophen einen "Denker irrelevanter Gedanken" nannte U? Sicherlich können wir Carnap darin zustimmen, daß solche Aussagen der Rechtsphilosophie, die sich auf eine Gottheit, die Natur oder die Vernunft stützen, nicht verifizierbar sind und deshalb keinen "theoretischen Sinn" haben. Aber dieser Schluß betrifft nicht alle im Namen der Philosophie gemachten Feststellungen. Wir mögen Carnap noch folgen, wenn er seine Schlußfolgerung auch auf die Aussage anwendet, daß "Töten böse" sei, da sie nicht als ein "Satz über zukünftige Erfahrungen" verifiziert werden kann10 • Doch kann damit nicht jegliches rechtsphilosophische Bemühen in Frage gestellt werden. Denn wir können doch die Aussage sinnvoll untersuchen, daß "Töten als böse empfunden wird". Es ist solches Bemühen, das über bloßen "poetischen Wert" und "religiöses Pathos" hinausgehtl l • Und es ist eben diese veränderte Fragestellung einer neuen Rechtstheorie, die ich wegen ihrer Grundlegung in der neuen Erkenntnis der Psyche am liebsten "Psychosophie" nennen möchte (§ 121). § 3. "Psychosophie"? "Die Philosophen sind bis jetzt große Erfinder gewesen, anstatt große Entdecker zu sein12." Gewiß, Semantik und Logik haben der uralten Debatte viel von ihrem Ballast und Geheimnis genommen; die Phänomenologie hat ihr manche neue intuitive Einsichten gebracht; und wie immer waren es die Poeten, die uns tiefere Weisheit gegeben haben als unsere Denker13 • Aber wichtiger als all dies: es war die Psychologie, die viel von jenem unbewußten "Beiwerk" zutage gefördert hat, das die fruchtlose Debatte belastet und erhalten hat. Das Zeitalter Platons ist dem Freuds gewichen. Um diese anspruchsvollen Behauptungen zu begründen, wäre eine vollständige Darlegung der Geschichte der Rechtsphilosophie erforderCoing 353. Wittgenstein (1889-1926), Tractatus 4003 (siehe Naess 61-171); Whitehead (1861-1947) 69, 238; ders., Science 127 (siehe Reck 156-164); Batt 999. 10 Carnap (1891-1970), Philosophy 217. Vgl. auch ders., Elimination. 11 Ayer 57; Tammelo 404. 12 Lou Salome, Pfeiffer 196. 13 Unten §§ 8, 41, 51; § 130 Anm. 96; § 131 Anm. 90. 8

8

3 Ehre ..."eig

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§4

lich. Aber jeder solche Versuch würde auch dann, wenn auf ihn ein Lebensalter verwendet würde, lediglich wiederholen, was andere bereits besser getan haben. Deshalb beschränkt sich dieses Kapitel über die "Schulen" unserer Disziplin auf eine auszugsweise Wiedergabe ihrer Geschichte, ihrer Kampfgruppen, Kampfrufe und Kampfstätten, um so den im zweiten Teil unternommenen Versuch vorzubereiten, den Weg zu einer Versöhnung zu zeigen. Wenn dabei bisweilen Oftgesagtes wiederholt wird, so mag man sich dabei an das Wort Goethes erinnern: "Wer kann was dummes, wer was kluges sagen, das nicht die Vorwelt schon gedacht14 ." In der Vorgeschichte der Philosophie war der Glaube des Menschen an ein einheitliches theomonistisches Weltganzes ungestört. Adam und Eva, die alten Inder, Babyionier, Perser, Ägypter und Ionier sahen die Welt in einem Zeitalter der Unschuld (§ 4) als von einer Gottheit regiert. Die Göttin Dike gab der Menschheit jene überirdische Gerechtigkeit, die zugleich weltliches Recht war. Aber als Dike (die Gerechtigkeit) gegen den Nomos des Menschen (das weltliche Recht) angerufen wurde, da war das Zeitalter der Unschuld dem des Sündenfalles gewichen (§§ 5-8). Die Philosophen hatten ihre große Debatte begonnen in ihrem Turm zu Babel, dem sie nur mit dem Schlüssel einer gemeinsamen Sprache werden entrinnen können (§§ 9, 10).

A. Die Kampfgruppen: Monismus und Pluralismus 1. Das Zeitalter der Unschuld (Theo-Monismus): Dike, die Göttin

§ 4. Früheste monistische Vorstellungen vom Recht verbanden das vom Menschen gesetzte Recht mit dessen jenseitiger Begründung. Noah schloß seinen Bund mit Jahwe, dem Gott der Offenbarung15 • Brahmans "wahres Selbst", das kosmische Prinzip in der Natur, ist identisch mit "Atman", dem menschlichen Prinzip in diesem Selbst. Das Nirvana umfaßt sowohl die Natur als auch den Menschen. Im Rig Veda wird das Vrata oder Dharma (menschliches Gesetz) als von Rita (dem Naturrecht) abgeleitet gesehen l8 • Das Buch Manu geht von der gleichen Vorstellung aus l7 • Sogar die konfuzianische Ethik ist als eine bloß "differenzierende Faust, Teil 2, Akt. U, Zeilen 249-250. Kelsen, The Idea of Justice in the Holy Scriptures, in Kelsen, Justice 25-81. Zur persischen MythOlogie, vgl. Truyol 35-39. 18 Allgemein Lingat. Die Entstehungszeit des Rig Veda wird zwischen 1500 und 600 v. ehr. angesetzt. Vgl. auch etwa Truyol 72-75. 17 Die wahrscheinliche Entstehungszeit liegt zwischen 200 v. ehr. und 200 n. ehr. Bühler; David und Grasmann §§ 451, 452; Truyol 75-80. U

15

§4

Dike

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Wiedergabe" einer einheitlichen, natürlichen Ordnung erklärt worden18 • Und viele frühe griechische Denker hatten keine Schwierigkeiten damit, alles Recht aus ihrer pantheistischen Weltvorstellung abzuleiten, in der rechtliche Institutionen "entweder als von den Göttern unmittelbar gegeben oder als Ergebnis eines göttlichen Weltplanes erscheinen"19. Zeus' Anweisung an die Könige Homers, die Themistes, folgte dem Rate der Themis, der vorolympischen Mutter von Recht und Gerechtigkeit2o• Delphis Pythia war beides, Verkünderin der Offenbarung und Verkünderin des Rechts. Natur (physis) und Fatum (moira) gehörten zur moralischen Werteordnung, der auch die Götter, die das Recht schufen, gehorchten21 • Und es war jene überirdische Gerechtigkeit, die als ausgleichender Maßstab den Zusammenprall der Elemente hemmte. Das alles war Poesie. Aber "ohne ihre Poeten wären die Griechen keine Philosophen gewesen"!!. Noch für Cicero bestimmte die alles umfassende göttliche Vernunft der griechischen Stoa summa insita in natura als ratio sowohl die überirdische Gerechtigkeit wie auch das weltliche Recht2S , 24. Auch in der katholischen Theologie folgten sowohl die an die aristotelische, arabische und jüdische Gedankenwelt angelehnte Vernunftlehre des Thomas von Aquin25 als auch die Lehren der Legisten von Irnerius bis Accursius und der Dekretisten von Gratian bis Johannes Teutonicus der griechisch-römischen deistischen Sichtweise28 • Während dabei einige Autoren den Willen Gottes über die Vernunft stellten als "ius a deo voli18 Northrop 146-149. Konfuzius lebte 551--479 v. Chr. VgI. David und Grasmann § 482; Truyol 57-71 (mit Bibliographie). 19 Kessler 100. Siehe auch z. B. Voegelin II 44; Troller § 12. "Die griechische Wissenschaft hatte die Stellung inne, die heute das Naturrecht eingenommen hat." Cornford S. VII. 20 Erik Wolf I 24-34, 72-76; Latte 14~145. 21 Russe1l204-205; Cornford 6,13; Voegelin II 196; Verdross 2~21. 22 Hölderlin, Hyperion, 2. Buch, 19. Brief. "Das große Wort, das h ölaq>EQov EauTw (das eine in sich selber Unterschiedene) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gab es keine Philosophie." Daselbst. Siehe unten Anm. 40--42. 23 Russell 256; Brehier II 23-65; Verdross 44--45; Welzel 38, 45; Pohlenz, S. XVI; Waldstein, Justice 554, 561. 24 Cicero, De Legibus II, c. 5, § 13. über Cicero (106--43 v. Chr.), vgI. Russell 258; Verdross 46--49; Wie acker, Cicero; vgI. dazu des weiteren Text zu Anm. 52. Andere römische Stoiker waren Seneca (3-65 n. Chr.) (siehe Murillo Rubiera); Epiktet (5~130, bekannt durch seinen Schüler aus dem 2. Jahrhundert Flavius Arrianus); und Marc Aurel (121-180) (siehe Farquharson, Hrsg.). Allgemein Verdross 46; TruyoI183-187. 25 über Thomas von Aquin (1225-1274), vgI. etwa Russell 452--463, Stone II 46--47, 51-55, 216-218; Verdross 68-79; Friedmann Kap. 9; Truyol 323340; Granfield; unten § 65. Zur arabischen Philosophie unten § 112 Anm. 42--47. über Maimonides (1135-1204) und andere jüdische Philosophen seiner Zeit vgI. z. B. Vajda. 28 Weigand, passim. Siehe auch Verdross 51-65. über Gratian (etwa 1140) siehe besonders Kuttner, Father.

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1.

Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§4

tum"27, folgten andere der thomistischen Auffassung eines "rationalen" Universums 28 , die auch dem Mystizismus des 14. Jahrhunderts bekannt gewesen war2D , von den großen Philosophen der Renaissance beibehalten wurde 30 und zu neuem Leben in einer jüngeren Stoa erwachen sollte". Sogar in der AufkLärung blieb die monistische Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit, nunmehr gelöst von einem theologischen Dogma, unversehrt. Man ging mit Grotius davon aus, daß das mit der natürlichen Ordnung der Welt gegebene Recht sogar dann die Vorherrschaft habe, wenn wir einräumen müßten ("et iam si daremus"), daß Gott nicht existiert32 ; man verkündete mit Descartes die alles durchdringende Kraft der Vernunft33, die später in der Göttin der französischen Revolution personifiziert wurde; und man suchte eine geschichtliche Bestätigung für diese Thesen in dem ehrwürdigen Symbol des Gesellschaftsvertrages (§ 31). Aber immer mußten sich die Monisten sowohl mit denen, die die Welt und deren Gesetze weniger gut geordnet fanden, als auch mit ihren eigenen Zweifeln auseinandersetzen. Alle unsere Zeitalter der Unschuld waren vom Sündenfall bedroht34 • 27 Dante, Monarchia 11 2. Vgl. Hugo Friedrich 95-98, 109 ff., 148 ff.; Fedele 449; Kelsen, Dante; Frosini, Kelsen e Dante; Truyol, Dante. Der "doctor subtilis" Duns Scotus (1265-1308) sah noch Gottes Willen wenigstens als

durch seine Liebe begrenzt an, die so als ein systemexternes Naturrecht verstanden werden kann. Aber Wilhelm von Ockham (1300--1350), der "venerabilis inceptor", kann mit seiner Lehre, daß Gottes Wille absolut ist, von den "Positivisten" in Anspruch genommen werden: "Quod Deus vult, hoc est justum." Vgl. L. W. Beck Kap. V; Menges; Verdross BO; Oakley; Friedmann 109. 28 über Vitoria (14B3-1546), Suärez (1548-1617) und Hooker (1553-1600) siehe z. B. Mendizäbal; Recasens-Siches 92-95; D'Entreves, Hooker; und allgemein Stone 11 55-65. 2t über Meister Eckhart (1260-1327) vgl. L. W. Beck 45-55. 80 über Petrarca (1304-1374) und Ficino (1483-1499) siehe z. B. Cassirer u. a. (Hrsg.) 23, 185. über den strittigen Nicolaus Cusanus (1401-1464) vgl. L. W. Beck Kap. IV; Heinz-Mohr. 31 über Edmund Burke (1728-1797) vgI. z. B. StanHs; Montrose 23; unten § 142 Anm. 55; § 147 Anm. 84. Eine andere Auffassung seiner Botschaft vertritt Sabine 607. Bewegend in seiner visionären Einheit ist das vergessene Lebenswerk des großen Russen Solowjow. Siehe GäntzeI. Manche mögen den Neo-Theomonismus des 20. Jahrhunderts sogar in solchen scheinbar komplexen Theoremen wie Brinkmanns finden. Siehe Bibliographie. n über Grotius' (1583-1645) "Etiamsi Daremus" siehe St. Leger, passim; Dumbauld. Vgl. auch etwa Huizinga, Hugo; Ottenwälder. Zu der ähnlichen Lehre Gregors von Rimini (gestorben 1358) und Bellarmine (1542-1621) vgl. Verdross 81; Brodrick. 33 Über Descartes unten § 145 Anm. 6. at über innere Bewegungen in der Kirche allgemein Knoll. Eine unschätzbare Geschichte und Bi\.JHographie des 18. Jahrhunderts über das Vernunftrecht gibt uns Glafey. Eine verheißungsvolle Andeutung der Möglichkeit, den Monismus mit Bezug auf das Verhältnis zwischen Superego und Ego zu analysieren (unten §§ 157-162) findet sich bei Money-Kyrle, Man 75, 172-173. Das Id mag den Hedonismus symbolisieren, das Ego den Epikureanismus und das Superego den Kynizismus und den Stoizismus. Siehe oben Anm. 19-24.

§ 5

Dike und Nomos

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2. Der Sündenfall (Dualismus): Dike und Nomos

§ 5. Der Dualismus VOn Recht und Gerechtigkeit hat die Rechtsphilosophie Jahrtausende hindurch durchdrungen und bildete die Wurzel solcher wiederkehrenden politischen Probleme wie des zivilen Ungehorsams (civil desobedience) und der kriminellen Gesetzesbefolgung (criminal obedience) (§§ 57-66). Ja, er erfüllt sich in jedem von uns in der Trennung zwischen Ego und Id35 • Vielleicht werden wir niemals hinausgelangen über die mystische chinesische Triarchie von Tao (Cosmos), Li (Sittlichkeit) und Fa (positivem Recht)36, die Wehklage des Propheten von den "ungerechten Dekreten"37 oder über Hesiods schönes Gedicht, in dem er uns von dem ewigen Ringen erzählt zwischen der Unvollkommenheit des Menschen und seinem Traum. Dike (der Weg, Gerechtigkeit), die Tochter des Zeus, bringt ihre Schwestern Eunomia und Eirene (Ordnung und Frieden) auf die Erde, um Eris (Streit), Bia (Gewalt) und Hybris (Unmäßigkeit) zu überwinden und Tyrannei und Ungerechtigkeit zu bekämpfen38 . Aber es ist dem Menschen aufgegeben, das Recht als Teil ewiger Wahrheit (Aletheia) zu verstehen. Die Verfassung des Dichters und Staatsmannes Solon für Athen übertrug diese poethische Vision durch Eunomias Maßstab des menschlichen Ideals (doxa)3D in die politische Wirklichkeit. Aber schon mit Heraklit begann Dikes Einheit von Recht und Gerechtigkeit auseinanderzubrechen40 • Sein resignierender Realismus ebenso wie der des Xenophanes vor ihm, zog Hesiods "gelehrte" Theogonie ins Lächerliche und räumte ein, daß, "während für Gott alle Dinge schön, gut und gerecht sind, ... der Mensch manche Dinge für gerecht und andere für ungerecht hält ... " So ist für ihn die Gerechtigkeit selbst Eris (Streit) und so sind deren Mägde die Erinnyen, deren Schlangen-Haar späteren, frömmeren Monisten eher Böses als Gutes verhieß41. Heraklits eigene monistische Superstruktur eines einheitlichen Kosmos vermag nicht seinen grundlegenden duaVgl. den historischen überblick aus der Sicht eines Phänomenologen bei TroIler §§ 15-18. 35 Unten §§ 157-16l. Siehe auch z. B. N. O. Brown 148; Buber. ae Z. B. Su; Birmingham; Truyol 69-71 (Bibliographie). 37 Isaiah 10.1. Vgl. Truyol 46--47. 38 Erik Wolf I Kap. 1, 2. über Eris als die "gute" Mutter friedlichen Wettstreits, "die inertia verurteilt" vgl. Voegelin II 146; Truyoll00. 38 über Solon (634-560 v. Chr.?) vgl. Cornford 167-168; Truyoll0l; Höhn; Verdross 6, 15-20; Stone II 10-18; Erik Wolf I 125, 297; Tammelo 324-326; Voegelin II 194-202. co über Heraklit (535-475?) siehe etwa Erik Wolf I Kap. 11; Voegelin II Kap. 6, besonders S. 305-307. 41 Heraklit, Fragm. 16, 62, 94. Vgl. etwa RusseIl 44; Cornford 184-187; Truyol 98-100. Diese Fragmente waren jedoch stets Gegenstand widerstreitender Interpretationen. Kirk und Raven 182-215. über Xenophanes (570 bis 475), dieselben 163-181.

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

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listischen Skeptizismus zu verdecken. Anders als vor ihm Anaximander, für den eine kosmische Gerechtigkeit die Zerstörung der Welt durch widerstreitende Werte verhinderte, verstand Heraklit die Gerechtigkeit als diese Werte umfassend, ohne sie zu versöhnen42 . "Polemos ist der Vater von allem." Denn in sonderbarer Vorwegnahme des "WasserFeuer-Dualismus" in der mittelalterlichen Alchimie4s und der existentialistischen Bildsprache, lebt bei Heraklit "das Feuer in dem Tod der Erde, und die Luft lebt in dem Tod des Feuers; das Wasser lebt in dem Tod der Luft und die Erde in dem Tod des Wassers"44. Für den Sophisten Antiphon behielt eine monistische physis (Natur) noch die Oberhand über Nomos (Recht)4s. Plato hingegen gab seinen in seiner Republik noch sichtbaren Glauben an eine absolute Gerechtigkeit in seinen Nomoi auf und begnügte sich mit einem System gesatzten Rechts48 . Sein Schüler Aristoteles verband die absolute arithmetische Gleichheit seiner "ausgleichenden Gerechtigkeit" mit einer relativen, klassengebundenen "austeilenden Gerechtigkeit", die den Platz des einzelnen in der Gemeinschaft bestimmte und von diesem bestimmt wurde47 • Damit war von Dikes monistischer Botschaft wenig anderes geblieben als eine Tautologie, die zum leeren Schlagwort "Jedem das Seine" werden sollte48. So hat man denn gesagt, daß sich die pluralistische Ethik49 des Aristoteles mit ihrer Ausrichtung auf die herrschende Klasse bloß an die "respektablen" Leute mittleren Alters gewandt habe und von diesen benutzt worden sei ... , um den Eifer und die Begeisterung n Fragm. 53. Siehe Cornford 147, 188-189; T. V. Smith (Hrsg.) I 6; Erik Wolf I Kap. 10; über Anaximander (610-545) Kirk und Raven 99-142; W. Krause 213. 43 Jung 385. (4 Fragm. 25. Siehe Erik Wolf I Kap. 1l. 45 Erik Wolf II Kap. 10; Verdross 22-23; Truyol 108. Ober Protagoras (485--411) und seine Schule siehe etwa Verdross 16-18; Voegelin II 268; unten § 6 Anm. 2. über die Ambivalenz der Sophisten siehe z. B. Brecht 530. 48 Siehe z. B. Erik Wolf IV!2 202; über Platos (429-348) Ethik. Friedmann 7-11; RusseH Buch I Kap. XIII-XVIII; Verdross 30-39; Voegelin III; ders. II 43-44; Brehier I 131-132, 143-145; N. R. Murphy; Gadamer, Plato; Gould; Lodge; unten § 139. 47 Ober Aristoteles' (384-322) Ethik vgl. etwa Friedmann 10-13; SheHens 94-99; Kelsen, Justice 126-133; Voegelin UI; Despotopoulos; Hamburger; Truyo1145. 48 Aristoteles, Nikomachische Ethik V III 6 (ei gar me isoi, ouk isa exousin). Vgl. RusseH 183, 252-270; Stone U 13-14, 39-43; Bodel'.!leimer §§ 3, 44; Verdross 39-49; Walter Becker, Gerechtigkeit; Simmel 51-52. Ulpians Ausspruch, in dem von dem "Willen, jedem das Seine zuzuteilen" die Rede ist (constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi) (Dig. I I, 10) ist weitgehend mißverstanden worden. Unten § 126 Anm. 53. Eine neuere Rechtfertigung bringt z. B. Brecht 335-336, Kap. X. 48 über seine "mesotes" siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik 1129 b, 1158 b ("moralische Tugend ist ein Mittelweg zwischen zwei Lastern, dem Exzeß und dem Mangel").

§6

Nomos

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der Jungen zu unterdrücken50 , eben jener Jungen, die "von Aristoteles", wie Shakespeare sagte, "für untauglich gehalten wurden, Moralphilosophie zu lernen"51. Der ungeheure Einfluß, den Aristoteles' Lehre durch die Jahrtausende ausübte, scheint diese enge Auslegung Lügen zu strafen. Seine Lehren wurden schließlich sowohl von den römischen Stoikern als auch von Cicero angenommen52 , und gelangten durch Augustinus und Tertullian in die Gedankenwelt der Kirche. Augustinus, obwohl er an ein vollkommenes ewiges Gesetz Gottes glaubte, fand sich mit einem unvollkommenen zeitlichen Recht ab, das sich auf die Erbsünde gründete 63 • Auch Thomas von Aquin mußte die Zweiheit anerkennen. Aber da für ihn doch solche Normen, wie das Verbot der Tötung eines Unschuldigen absolute Geltung beanspruchten, hatte er für Abrahams Zustimmung zur Tötung seines Sohnes keine andere Erklärung als daß Isaak "auf den Befehl Gottes, der über Leben und Tod befindet, getötet werden mußte"54. Der Sündenfall schien vollendet. 3. Der Mensch allein (Antbropo-Monismus): Nomos

§ 6. Idealismus und Legalismus. So spricht der Gerichtsrat in Goethes Natürlicher Tochter: "In abgeschlossenen Kreisen lenken wir, gesetzlich streng, das in der Mittelhöhe des Lebens wiederkehrend Schwebende. Was droben sich in ungemessenen Räumen gewaltig seltsam hin und her bewegt, belebt und tötet ohne Rat und Urteil, das wird nach anderem Maß, nach anderer Zahl vielleicht berechnet, bleibt uns rätselhaft t ." Protagoras hatte "den Menschen als das Maß aller Dinge" gesehen2 , und Hegel, der "Idealist", erträumte eine irdische absolute Idee, um die Wirklichkeit, die Vernunft und den Geist zu versöhnen3 • "Formalisten

60 Russell 173. 61 Shakespeare, Troilus und Cressida, Akt 11, Zeilen 168-169. 6Z Oben Anm. 23. Vgl. auch Attisani 264-271. 63 Augustinus (354-430), Buch XIII. Vgl. etwa Verdross 60, 61; Bodenheimer § 5; Russell 344-366; Stone II 44; Deane; Mausbach; Brecht 530. Über Tertullian (150-220?) siehe z. B. Quasten Bd. 2. 54 Thomas von Aquin, 11 1, Qu. 100, Art. B, Resp. Obj. 3. Siehe auch Beck Milhaven 158-166; Curran (Hrsg.); und für Kritik O'Connor, Aquinas and Natural Law (1967). 1 Goethe, Die Natürliche Tochter, Akt IV, Szene 2, Zeilen 147-154. Ist dies eine Erinnerung an Plato? Unten § 139. t Plato, Protagoras 337 b-33B d. Siehe auch ders., Der Staat 337 b-339 b. Eine andere Interpretation dieses Abschnittes bringt Verdross 16-17. Über Protagoras, Diels-Kranz II Nr. 80; Voegelin I 272-273; über die Sophisten im allgemeinen, oben § 5 Anm. 45. I Über Hegel (1770-1831) vgl. etwa Friedmann 164-170; Russell 730-746; Maihofer, Hegel; Coing 43-47; Hyppolite; Ricoeur 462-468; unten § 58 Anm. 68. Ree, der vergessene Rechtsphilosoph, schreibt einmal an Nietzsche über die Hegeische Hypothese als die "ungerechtfertigste von allen". pfeiffer 43.

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§7

der Ethik" oder "Legalisten" sind ohne derartige Konstruktionen fertig geworden und fanden andere monistische Antworten in ebenso abstrakten aber spezifisch menschlichen Prinzipien wie Hobbes' natürlichem Recht zur Selbsterhaltung mit 19 davon abgeleiteten "Gesetzen der Natur"4. Andere schließlich haben umgekehrt eine neue Einheit dadurch angestrebt, daß sie vorgaben, allgemeine Vorschriften des Naturrechts zu konkretisieren (§§ 29-41). Diese Vorstellung finden wir auch in vielen modernen Kodifikationen6 , in Blackstones großartigem System des englischen Common Law 6 , in modernen Lehren wie denen von Becker, Stammler, Leonard Nelson und manchen Phänomenologen7 und schließlich in der kommunistischen Utopie. § 7. Vom Sozialismus zum Kommunismus. Man hat behauptet, der Marxismus sei die erste Theorie, die der "Grundströmung" der Rechtsphilosophie zwischen monistischen und pluralistischen Strukturen dauerhaft entgegengewirkt habe 8 • In unserem Zusammenhang kann diese Lehre - weniger dramatisch - nur so gesehen werden, daß sie trotz ihrer kolossalen politischen und sozialen Stoßkraft die Rechtsphilosophie dort belassen hat, wo sie sie vorfand. Der Marxismus hat lediglich neue Variationen zu jenen zwei Kategorien des Monismus hinzugefügt, die entweder übermenschlichem oder menschlichem Recht die Priorität einräumen9 • Um eine Terminologie zu gebrauchen, die weiter unten zu erklären sein wird (§ 21), der Marxismus wurde entweder als natürliches positives Recht oder als positives Naturrecht formuliert.

Eine Betonung des ersteren mag in Bakunins Anarchismus mit seiner quasi-religiösen Verneinung allen Rechts 10 und in Marx' und Engels' 'Hobbes (1588-1679) HI 116-147. Siehe z. B. Stumpf Kap. 5; Russell Buch III Kap. VIII; Peters; unten § 28 Anm. 64; § 163 Anm. 7; und im allgemeinen Hobbes-Forschungen. 5 Zu den Gesetzen von Österreich und Preußen s. § 96; Agypten (Art. 4), Spanien (Art. 6), Argentinien (Art. 16), Panama (Art. 7). a Unten §§ 37 Anm. 95; 88 Anm. 19. 7 Siehe Walter Becker, Gerechtigkeit 16-19; Stammler (unten § 39); Nelson (1882-1927) 40--46, 6O---Q3, 116-119; seinen Vorgänger Jakob Friedrich Fries (1773-1843); und unten § 8. a Marcic 90, der frühere anti-philosophische Angriffe der Sophisten und der mittelalterlichen "linken" Aristoteliker mit der Beobachtung beiseite schiebt, daß diese lediglich ihren Gegnern geholfen hätten, deren eigene Lehren zu vervollkommnen. e Siehe Weyl, passim; Rodingen; unten § 21. 10 Ober Bakunin (1814-1876) vgl. E. H. Carr. Bertrand Russell hat "diese äußerste Form des Subjektivismus eine Art Wahnsinn" genannt. Russell 494. Oder kann sie etwas milder mit der abstrakten Kunst verglichen werden als eine asoziale Außerung des Ich? Unten §§ 137, 138. Eine zugegeben gänzlich nichtpsychologische und deshalb utopische Analyse des Anarchismus bietet Robert Paul Wolf. Siehe auch Guerin, passim, über Stirner, Proudhon, Malatesta und über die jugoslawische "Selbstverwaltung".

§7

Kommunismus

41

"naturrechtlichem" dialektischen Materialismus gefunden werdoen, der auf die Vision eines "Absterbens von Recht und Staat" hinausläuft, um damit Raum für den "kommunistischen Menschen" in einer klassenund staatenlosen Gesellschaft zu schaffen. "Der erste Akt", so hörten wir damals, "worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft -, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat"lI. Paschukanis wurde der russische Prophet dieser Vision, die eine sozialistische Theorie des Rechts entbehrlich zu machen hoffte 12 . Diese Botschaft ist in der sozialistischen Welt zwar angegriffen aber niemals formell aufgegeben worden13 • Sie ist jedoch, bedingt durch die Realitäten des Krieges und der Not, allmählich in ein bloß utopisches Ziel des sehr realitätsbezogenen sozialistischen Staates umgewandelt worden, das nun im Wege dialektischer Propaganda durch die Partei verfolgt werden soll14. Das Dekret vom 8. November 1918 verlangte eine "strenge Befolgung sowohl des Rechtes der UdSSR als auch doer Entscheidungen, Dekrete, Gesetze und Verordnungen der Zentralregierung" . Stuchka brachte dieses "neue positivistische Prinzip der Legalität noch in Einklang mit einem" natürlichen Anti-Recht als einer bloß vorübergehenden "Form der Organisation der Produktions- und Austauschverhältnisse"15. Reisners Versuch hingegen, die Grundlage solcher Analyse in einem instinktiven Sinn für Gerechtigkeit und einem "revolutionären Legalitätsbewußtsein" zu finden, fand keine Räsonanz 16 . Einen entscheidenden Schlag mußte die klassische anti gesetzliche Theorie in Lenins Verkündung des Legalitätsprinzips im Jahre 1926 und durch die stalinistische Verfassung von 1936 hinnehmen, die eine "Polarisation so11 Engels 307. Vgl. etwa Maihofer, Demokratie 18, 51; Bodenheimer, Antilaw 177-180; Blakeley § 12; Brimo 228; R. Schlesinger Kap. I-III; Lichtheim; über Marx (1818-1883) vgl. Russel Buch III Kap. XXVII; Mehring Raiser 38-44, über Engels (1820-1895) siehe z. B. Gustav Meyer. Über den "ethischen" Austro-Marxismus von Carl Grünberg, Max Adler, Otto Bauer und Karl Renner, vgl. Marcic 87-105; Leser. n Vgl. etwa Guins 5,48,87,328,329,341; Cerroni 77-238; Fuller, Vyshinsky. Paschukanis wurde 1891 geboren und wahrscheinlich in der stalinistischen Ara getötet. Vgl. etwa Rosenbaum; Norbert Reich, Rechtstheorie. 13 Vergleiche etwa Yudin mit Antalffy. Siehe auch Eörsi 151. 14 Insbesondere Hazard Kap. 4, 19; Antalffy 43, 55 ff., 60 ff.; R. Schlesinger 26; unten § 84. 15 Stuchka (1865-1932) in Cerroni 5-74. Siehe Stoyanovitch, Philosophie 43-68; David und Grasmann §§ 130-132, 141-152, 156; Guins 91; Cerroni, Pensiero 52-61; Kucherov Kap. XXI; Rosenbaum. 11 über Reisner (1868-1928) etwa Hazard, Introduction S. XXVI; Stoyanovitch, Philosophie 69-95; ders., Marxisme; Cerroni, Pensiero 52-61. Diese Theorie ist zu Petrazicky's Psychologie in Beziehung gesetzt worden, unten § 153.

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

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zialer Aktivitäten um den Staat"17 proklamierte. Die "kreative Rolle der sowjetischen Gesetzgebung" wurde zwar noch von StaUn innerhalb der "marxistischen Dialektik" als ein bewußter Widerspruch zur klassischen Theorie dargestellt1 8 • Schließlich aber veranlaßte Vyshinsky die sowjetische Akademie der Wissenschaften, die Definition des Rechts als "der Gesamtheit des vom Staat als der Macht der herrschenden Klasse festgesetzten menschlichen Verhaltens"19 anzunehmen. Diese Sicht wurde dann auch in einer Abhandlung aus dem Jahre 1940 umfassend systematisch dargestellt!o. Seither aber ist der Begriff der "herrschenden Klasse" durch den "des Volkes" ersetzt worden und ein "sozialistischer Positivismus" hat die Oberhand behaltenz1 . Aber ist nicht der Glaube an die "Macht des Volkes" als letzte Quelle des Rechts wiederum der Ausdruck eines neuen Naturrechts!!? Es ist wohl noch zu früh, definitive Schlußfolgerungen für die nachstalinistische Zeit Chruschtschows und seiner Nachfolger zu ziehen!'. Der Persönlichkeitskult des obersten Gesetzgebers wird geleugnet; eine weitere Liberalisierung ist angekündigt und auf vielen Gebieten verwirklicht worden. Dagegen ist die Rückkehr zu den naturrechtlichen Idealen der klassischen Ära, denen zufolge das Recht überflüssig sein sollte, bisher eine Angelegenheit der Prophetie geblieben. Nach dem Parteiprogramm vom 31. Oktober 1961 werden erst in den 70er Jahren dieses Jahrhunderts "die materielle Basis und der technische Stand des Kommunismus geschaffen sein". Aber auch für die dann folgende Zeit sollen wir, so scheint es, nicht eine gänzliche Abschaffung des Rechts, sondern nur eine Delegation seiner Erzeugung auf eine stetig wachsende Zahl von Bürgern erwartenu. Jene von uns, die das Recht als ein integrales Element des Menschenloses sehen, müssen fürchten, daß sich hier Platos Utopia wiederholt. Darum hat man wohl die sowjetische 17 Vincent 73. über Lenins (1870--1924) Neue ökonomische Politik (NEP) siehe R. Schlesinger Kap. !II-VI; Guins 64-66; E. L. Johnson 33-51; Szäbo. 18 über Stalin (1879-1953) etwa Hazard 74; Guins 48, 279; E. L. Johnson Kap. III; Rodingen 209. 18 R. Schlesinger 243. Siehe Vyshinsky 38; ders., Tasks; über diesen Staatsmann (1883-1954) Stoyanovitch, Philosophie 175-200; Guins 49-50; Cerroni S. VI-VII; unten § 128 Anm. 71. 20 Golunskii und Strogovich. Siehe Stoyanovitch, Philosophie 201-235 (Golunskii starb 1961); Hazard 440; Horvath, Twilight 12-16; Cerroni S. VII bis VIII, 301-320. 11 Siehe unten § 84; Friedmann Kap. 29; Grzybowski 55-56; Russell 791 bis 810; Serrano Villafafie 169-204. !! Hazard Kap. 4; David S. 170; Naschitz. Hager (19) fordert für den Marxismus eine völlig neue Fragestellung (DDR). 28 Hazard und Shapiro Kap. 1; auch Kolakowski für Polen; Osteuropa Recht 17 (1971) 31, 36 (Bulgarien); Naschitz, Orientations. 24 Kerimov 548.

§8

Phänomenologie

Theorie als "Scholastizismus"25 bezeichnet und ihre Rückkehr zur Philosophie begrüßt26 • Und eben darum hat man ihr wohl andererseits vorgeworfen, umsonst einen neuen Gott im Menschen zu suchen27 • Soll denn positives Naturrecht wiederum einem naturrechtlichen Positivismus weichen, in dem dauernden Kreislauf der "Schulen" durch das Spiel der Worte und Gefühle? § 8. Phänomenologie. Eine anthropo-monistische Verkörperung des Naturrechts mag auch in der "phänomenologischen" Philosophie gesehen werden, der zufolge aller Erfahrung das "unmittelbar Gegebene", das "eidos", die "Wesenheit" vorangeht 28 • Diesem allgemeinen Bild sollte Jaspers das besondere Gegebene des Rechts, das ein Maximum an Sicherheit verspricht, hinzufügen29 . Reinachs früherer Versuch, das "Wesen" bestimmter vorausgesetzter rechtlicher Normen und Begriffe des Privatrechts zu beschreiben und Amseleks "phenomene juridique" drücken in gleicher Weise monistische Vorstellungen aus, die wohl mit Platos Ideen oder Genys "donnes" verglichen werden mögen3D • Auch in Lateinamerika ist man bemüht, ähnliche transzendente Maßstäbe zu finden'1. Coings Begriff der Gerechtigkeit als eines objektiven Wertes 25 Blakeley 72-87. Siehe auch Brimo 217-255; Stoyanovitch 245-280; ders., Marxisme; R. Tucker; Kamenka. 28 Marcic 105. Vgl. auch McBride; Hager; Pfaff. Z7 Marcic 29, 83, 87; ders. 29 Anm. 9 (ergänzende Bibliographie). 28 Unten § 41. Einige dieser Theorien weichen sehr von Edmund Husserls (1859-1938) Lehre ab, der allgemein als der Begründer der Richtung betrachtet wird. Vgl. die ausgezeichnete Zusammenfassung bei Brecht 377-385. Das Wort "Phänomenologie" geht zurück auf Johann Heinrich Lamberts "Neues Organon" (1764) und wurde von Hegel in dessen "Phänomenologie des Geistes" (1807) benutzt. Husserl selbst befaßte sich nicht mit Recht und Gerechtigkeit. Seine Behandlung des von der empirischen Realität getrennten "transzendentalen Bewußtseins" des Individuums als des einzigen Gegenstandes seines Interesses enthielt sich, obwohl schließlich verbunden mit "Appresentation" (die anderen Egos einen gleichen Status einräumt), des außermenschlichen Glaubensbekenntnisses, dem sich einige seiner Anhänger hingaben. Siehe über Heidegger und Scheler, unten § 41 u. Troller, Weg. Obwohl die Phänomenologie durch den Existentialismus eine weltweite Nachwirkung gewonnen hat, ist sie im wesentlichen auf die kontinentale und lateinamerikanische Philosophie beschränkt geblieben. Ist es gänzlich verfehlt anzunehmen, daß das "phenomenon" wie das "topikon" (unten § 58) und das "institutionelle Rechtsdenken" (Rüthers) eine Selbstverständlichkeit für das common law ist? 2B Jaspers (1883-1969) I, IH. Siehe Schill (Hrsg.); Zippelius 120-122; Langemeijer; Schilpp (Hrsg.); unten § 41 Anm. 29; § 189. ao Reinach (1883-1917); Felix Kaufmann; Schreier; Amselek 267-302 (mit Bibliographie). Vgl. Kelsen, Rechtstheorie, mit scharfer Kritik. über Geny unten § 48. Siehe auch Friedmann 200, 206, 208; Gardies; Blackshield, Justice 81; Larenz 119-120. über Gerhart Husserl, ders. 120-124. Aber vgl. Troller

86-89.

31 Siehe z. B. Llambfas de Azevedo 43-46; Reale 45--47; Gutierrez 108-112, 279-283; Goldschmidt Kap. 4. Zu Garcia-Mäynez siehe Kunz (Hrsg.) Kap. IV V.

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§9

führt zu griechischen und römischen metarechtlichen Symbolen der Gleichheit zurück (§ 126), wobei er Menschenwürde sowie menschliche Treue und Freiheit als vorgegebene moralische Grundlagen des Rechts hinzufügt32 • Wir werden auf diese Mystik in Verbindung mit der "Wiederkehr des Naturrechts" (§ 41) zurückkommen, insbesondere bei der Behandlung der Theorie von der "Natur der Sache" (§ 51). Alois Troller gründet seine Lehre auf Emund Husserls Methodologie. Aber er lehnt es ab, jenseits des Menschen liegende Fakten zu postulieren und sucht seine Lösungen in der Natur des Menschen als eines sozialen Wesens, das den allgegenwärtigen objektiven Geist in sich trägtS3 • In diesem Sinn würde wohl Troller Heidegger darin zustimmen, daß die Phänomenologie, wenn sie einmal als die wandelbare und daher dauernde Fähigkeit zu denken verstanden wird, als Disziplin entbehrlich wird und jenem Geschäft des Denkens weichen kann, dessen Erscheinung ein Geheimnis bleibtS4 • 4. Der Turmbau zu Babel (Pluralismus)

§ 9. Der Sündenfall war ein Fall "in die Sprache"35. Wir sind einigen Philosophen bei ihren stets wiederkehrenden Versuchen gefolgt, letztgültige Antworten in einer einheitlichen theistischen oder atheistischen Struktur von Recht und Gerechtigkeit zu finden (§§ 4,6,8). Und wir haben gesehen, daß solche monistischen Vorstöße stets ihr Gegenstück in einer Philosophie fanden, die gewillt war, einen wirklichen oder jedenfalls möglichen Konflikt zwischen dem Naturrecht und dem vom Menschen gesatzten Recht anzuerkennen (§ 5). Die Rivalität zwischen diesen "naturrechtlichen" und "positivistischen" Schulen, die sich mit dem Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit befassen, ist immer wieder als Hauptgegenstand der Rechtsphilosophie diskutiert worden. Buchstäblich Tausende von Büchern und Artikeln haben stets von neuem zu dieser mehr als zweitausendjährigen Debatte beigetragen. Dennoch ist diese Debatte, deren Geschichte noch weiter untersucht werden soll (§§ 21-59), soweit sie nicht nur einen Kampf um Worte darstellt, im Lichte einer neuen "Psychosophie", nicht analytisch, sondern nur emotional begründet. Diese emotionalen Motivationen sollen in Teil II dieses Buches diskutiert werden (§§ 21-59). An dieser Stelle soll die 3Z Unten 126. Siehe Coing (geboren 1912) Kap. II, IV, passim; auch Brimo 396-400. Aber laßt uns Goethes Warnung nicht vergessen, daß jene "die

sowohl Gleichheit wie Freiheit versprechen, Phantasten oder Scharlatane sind". as Troller, Rechtserlebnis § 6; ders. §§ 2 Irr, 30, passim. 34 Heidegger 90. n N. O. Brown 257. Für eine amerikanische Synopsis siehe Isaacs. Ober die "Linguistik" im allgemeinen unten § 130 Anm. 91-97.

§9

Sprachenverwirrung

gegenwärtige Relevanz dieser Debatte und ihre Leere zunächst durch zwei typische Auszüge aus einer juristischen Zeitschrift erläutert werden, und dann durch die Schlußfolgerungen eines führenden Gelehrten. In dem ersten Auszug warnt uns ein Richter ernsthaft, daß "der Gesetzespositivismus formal und steril ist, und daß das Naturrecht und nicht der Positivismus die Grundsätze der Entscheidung liefert, wenn aus dem Gesetz und der Rechtsprechung für den bei Gericht anhängigen Fall nichts zu entnehmen ist". Und in zweiten verteidigt der Präsident einer lokalen Rechtsanwaltsvereinigung den Positivismus mit der Begründung, "daß eine Regierung, die nicht vom Menschen, sondern vom Rechte getragen wird, nur unter einem System positiven Rechts bestehen kann"". In dem Turmbau zu Babel wird hier das Naturrecht als das Ermessen des Richters und der Positivismus als Rechtssystem schlechthin verstanden. Aber die Debatte ist nicht auf solche nichts weniger als gelehrten Ausbrüche beschränkt. Huntington Cairns hat in seiner hervorragenden "Rechtsphilosophie von Platon bis Hegei" folgende Zusammenfassung seiner Arbeit gegeben, die uns zeigt, wie weit selbst die größten Geister davon entfernt waren, ihre Meinungsverschiedenheiten zu lösen oder dodl zwnindest über deren Inhalt einig zu sein: "Uns wurde von Plato gelehrt, daß das Recht ein Mittel sozialer Kontrolle ist, ein Leitfaden guten Lebens, der Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit, der wahren Wirklichkeit des Aufbaues der Gesellschaft; von Aristoteles, daß es eine Verhaltensregel ist, ein Vertrag, ein Ideal der Vernunft, eine Entscheidungsregel, ein Mittel der Ordnung; von Cicero, daß es die übereinstimmung zwischen Vernunft und Natur ist, die Unterscheidung zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten, ein Gebot oder ein Verbot; von Thomas von Aquin, daß es eine Anordnung der Vernunft für das bonum commune ist, geschaffen und verkündet von dem, dem die Sorge für die Gemeinschaft obliegt; von Bacon, daß die Sicherheit die erste Notwendigkeit des Rechts ist; von Hobbes, daß das Recht ein Befehl des Souveräns ist; von Spinoza, daß es ein Plan des Lebens ist; von Leibniz, daß sein Charakter von der Struktur der Gesellschaft bestimmt wird; von Locke, daß es eine vom Gemeinwesen aufgestellte Norm ist; von Hume, daß es ein Gebilde von Vorschriften ist; von Kant, daß es eine im Interesse der Freiheit und durch universale Regeln bewirkte Harmonisierung von Einzelwillen ist; von Fichte, daß es eine Beziehung zwischen Menschen ist; von Hegel, daß es eine Entfaltung oder Verwirklichung der Idee des Richtigen ist37." Seit Hegel haben noch eine Unmenge neuer "Schulen" ihre so verschiedenen Themen und Botschaften verkündet. Daß ihre Themen einander überschneiden, ist offenkundig; und daß ihre Botschaften tautologisch, heterologisch und selbst alogisch sind, wird bei näherer Betrachtung ebenfalls klar. Müssen wir denn mit Goethe schließen, "daß 38 37

24 Los Angeles Bar Association Bulletin 33, 65 (1948). Cairns 556.

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 10

niemand den anderen versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe, was der andere, denkt"? Oder sollen wir auf Goethes Mephistopheles hören? Als Homunculus freudig berichtete, er habe Thales und Anaxagoras gefunden, jene frühen Propheten des Naturrechts ("ich horchte zu, es hieß: Natur! Natur!"), lehnte Mephisto ab, ihnen zu begegnen: "Denn, wo Gespenster Platz genommen, ist auch der Philosoph willkommen. Damit man seiner Gunst sich freue, erschafft er gleich ein Dutzend neue88 ." Bevor wir im zweiten Teil die psychologischen Hintergründe dieser Sprachverwirrung untersuchen, soll ihre Geschichte durch eine semantische Analyse geklärt werden. Die übliche "Kritik der Schrecknisse" (horrors) soll durch eine fruchtbarere "Kritik der Irrtümer" (errors)3D ersetzt werden. Für diese Kritik benötigen wir aber erst eine "Anatomie des Rechtssystems"'O, eine allgemeine Begriffsstruktur, die uns zu einem neuen Monismus führen soll, der das Studium ihres emotionellen Inhalts anderen Wissenschaften überlassen kann. 5. Eine gemeinsame Sprache: (Neo-Monismus)

a) Sein und Sollen

§ 10. Die Unterscheidung. Viele Kontroversen in der Rechtsphilosophie sind auf die Verwirrung in der Behandlung und Terminologie zweier großer Fragen der Rechtstheorie zurückzuführen. Die erste, die verifizierbare Frage nach dem Sein, bezieht sich auf die Beschreibung von Tatsachen, die die Schaffung von Rechtsnormen bestimmen; die andere, die nichtverifizierbare Frage nach dem Sollen, auf die Darstellung dieser Normen als Grundlage von Pflichten. Diese Unterscheidung, die von Männern wie Hume 41 , Kant42 und Kelsen definiert und verfeinert wurde, wird in diesem Zusammenhang immer wieder mißverstanden. Entgegen einer verbreiteten Annahme besagt sie nicht, daß wir nicht in irgendeinem Sinne die gesatzte "Existenz" oder die Satzungstechnik des Seins einer Norm verifizieren können. Wir können angeben und tun dieses auch, daß eine bestimmte Norm "tatsächlich" ein bestimmtes Verhalten vorschreibt, oder daß diese Norm als Feststellung eines Sollens empfunden oder angerufen wird. Und wir können die Art, Goethe, Dichtung 16. Buch; ders., Faust, Zweiter Teil, 2. Akt, 6. Szene. n Bobbio 118. • 0 Bodenheimer 93 . • 1 Hume Buch !II, Teil I, Abschn. 1. Aber vgl. Hoerster 12-14; Brecht 539-541; ders., Myth. Siehe auch Carcaterra, passim; Falzea 198. n Siehe allgemein Lombardi; Legaz y Lecambia. Begriffsklärung findet sich bei McDougal. Aber vgl. z. B. Brecht, Myth. über Ross' Lehre siehe z. B. Jsrgen Jsrgensen; ders., Norm 5-6. 38

§11

Sein und Sollen

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wie diese Norm zu dieser "Existenz" gelangte, ermitteln und verüizieren und tun dieses auch. Was nicht verifiziert werden kann, ist daß sich aus dieser Norm eine Verpflichtung ergibt. Eben unter diesem Gesichtspunkt wird die Norm als ein Sollen und nicht als ein Sein bezeichnet. Aber auch diese Unterscheidungen und Definitionen sind weder wahr noch falsch. Wir werden sie allein unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit entweder annehmen oder zurückweisen'3. § 11. Nützlichkeit der Unterscheidung. Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ist wichtig für jede Terminologie, die einen gemeinsamen Nenner für die einzelnen "Schulen" der Rechtstheorie mit deren (positivistischer) "formaler" Sollens-Theorie "geltenden" Rechts und (naturrechtlicher) Seins-"Phänomenologie" von Recht und Gerechtigkeit schaffen sill". Eine Sollens-Theorie darüber, was rechtlich geschehen "soll", was rechtens "ist", ist, da sie nicht verifizierbar ist, stets eine Angelegenheit der Wahl und kann nur von der Warte eines jeden Beobachters aus bewertet werden. Auf der anderen Seite kann eine Seins-Theorie darüber, was für diesen Beobachter rechtens sein sollte, obwohl sie verüizierbar ist, nur sagen, wie und warum wir dazu kommen, diese Wahl zu treffen, ohne jedoch selbst ein Sollen schaffen zu können. In diesem Licht ist ein scheinbares Paradoxon'6 ein orthodoxer Gemeinplatz: während jede Behauptung über das Recht, wie es sein soll, sich auf ein Sein (ein verifizierbares Werturteil) bezieht, bezieht sich jede Behauptung darüber, was Recht ist, auf ein Sollen (eine angenommene Verpflichtung)46. Die Griechen "eliminierten die physische Substanz aus mathematischen Begriffen"47. Seither haben wir die Mathematik als eine universale Terminologie bei jedem Versuch, diese Substanz zu klassifizieren und zu beherrschen, benutzt. Ähnlich werden wir uns der Struktur des Rechts als eines nützlichen Versuchs bedienen, "die chaotische Mannigca F. S. Cohen, Nonsense 835; H. Kantorowicz 9; unten Anm. 49-51. Somit werden wir allein aus diesem Grunde solche Terminologien wie jene, der zufolge der Begriff des rechtlichen Sollens mit dem des moralischen Sollens übereinstimmt (Laun), vermeiden. Vgl. im allgemeinen Tammelo, Rechtslogik § 19. 'c Bobbio 70-75; ders., "Sein". Siehe allgemein Patterson Teil II; Hudson (Hrsg.); Bucher § 5. Troller, der Phänomenologe, sucht wie Binder und Hegel (siehe Zippelius 24-26), eine Brücke zwischen den beiden Welten zu bauen (61), lehnt aber das Naturrecht ab (199). Mit Heidegger (Metaphysik 150) versteht er das Sollen als Teil und Produkt des Seins (197, passim). Siehe auch Zippelius 54; Peschka, Sein 7-9,11,20-25; unten Anm. 50, 51; über den .. Gesetzes"-begriff in den Naturwissenschaften etwa Kröher (Hrsg.). es Siehe z. B. Fuller Kap. I. C8 Morris Cohen Kap. 8; Yntema 1164. C7 Sambursky 21.

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§12

faltigkeit unseres sozialen Verhaltens zu systematisieren"48. Wir werden dann in der Lage sein, eine universale Terminologie zu entwerfen, um das zu beschreiben, was wir, unter dem Gesichtspunkt unserer Wertvorstellungen von Glauben oder Nützlichkeit, in der Welt der Tatsachen Recht nennen wollen. § 12. Die gewählte Struktur. Jede solche Terminologie wird zugegebenermaßen von vielen möglichen Definitionen des Rechts ausgehen, von denen keine (um diese Selbstverständlichkeit zu wiederholen), da sie eben Definitionen sind, als wahr oder falsch angesehen werden kann". Wir könnten natürlich unser Dezimalsystem in der Arithmetik durch ein Binarsystem ersetzen. In gleicher Weise könnten wir davon absehen, zwischen Sein und Sollen zu unterscheiden und stattdessen voraussetzen, daß das Sein einer jeden "existierenden" Vorschrift für jeden und überall eine rechtliche Verpflichtung oder ein Sollen darstellt, oder daß andererseits alle rechtlichen Verpflichtungen oder Sollensinhalte das Sein eines Werturteiles oder eine andere Tatsache ausdrücken50 • Oder wir könnten in "humanistischem" überschwang das ist keine Ironie - Sein und Sollen in einander aufgehen lassen51 • Aber solche Begriffsgebäude würden kaum helfen, uns aus dem Turm zu Babel zu befreien. 48 J. C. Smith 213. über manche der Schwierigkeiten bezüglich der mathematischen Analogie, besonders im Hinblick auf Descartes' Fragestellung, siehe Gewirth u. a. 40 Zippelius 6-8; oben Anm. 43. "Rechtslehre und reine Mathematik haben keine besondere Methodenlehre nötig, weil beide an sich schon streng bestimmend sind und selbst schon Methodenlehren im höheren Sinne sind, Gesetze enthalten, die sich selbst erklären, indem sie sich selbst legitimieren." So Novalis, Fragm. I Nr. 876. 50 über Kelsens eigene Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Werturteilen siehe Kelsen, Norm and Value. Vgl. auch andere Unterscheidungen z. B. bei B. E. King 236; oben Anm. 44. Ein bezeichnendes Beispiel für das Bedürfnis nach geschlossener begrifflicher und faktischer Analyse bietet Fuller, Interaction. Wir finden hier "Recht" zugleich (1) als eine Metanorm von "interactional expectancy" (9-10, 20--36), z. T. unter Zugrundelegung anthropologischer Erkenntnisse (Gluckman Kap. V, IX) und solcher soziologischen Prägungen wie der der "complementary expectations" (Parsons und Shils 64); (2) als einen Typus einer durch die Apex-Norm delegierten Normgebung (Fuller, Interaction 5: "society has, in some silent way, told them (what) is just and proper"); (3) als eine Beschreibung des Prozesses der Konkretisierung (ders. 5-6, passim), unter teilweiser Zugrundelegung von Erikson, Ontogeny. Kelsens Struktur, ja jede Erwähnung seines Werkes wird vermieden, sogar im Hinblick auf jenen angeblich allgemeinen Widerstand gegen die Behandlung vertraglicher Obligationen als Recht (ders. 14-20), den Kelsen natürlich längst gebrochen hat (Kelsen 258-262). 51 Maslow 84, 177. Die Interrelation von Sein und Sollen war das Thema des Weltkongresses für Rechts- und Sozialphilosophie in Milano-Gordone Riviera 1967. Peter Schneider (Hrsg.). über des Phänomenologen Amseleks "Fusion" siehe Kelsen, Rechtstheorie 357-361.

§l3

Die Rechtsnorm

49

Für die Zwecke unserer einleitenden überlegungen werden wir jenen Teil der "holistischen" Strukturanalyse6! Kelsens am nützlichsten finden, der in kompromißloser, "puristischer" Klarheit auf die Welt des Sollens beschränkt ist (§§ 22-25). Wir können auf diese Weise den Mißbrauch der "positivistischen" Theorie für solche politischen Forderungen wie jene, die die rhodesische Krise, die Aufstände in Ghana, Pakistan oder Uganda 53 oder die "Existenz" bestimmter indischer "Gesetze"M betreffen, vermeiden. Aber unser wesentliches Vorhaben in diesem Ersten Teil bleibt eine Analyse der Schulen der Rechtstheorie mit Hilfe von Kelsens grundlegenden Begriffen, die sich sowohl auf die vertikale als auch auf die horizontale Struktur des Rechts beziehen. Erst im Zweiten Teil werden wir, über Kelsen hinausgehend, einen Blick auf die Welt des Seins werfen und dabei versuchen, der Frage nach dem Warum des Sollens näherzukommen. b) Vertikale Struktur

§ 13. Die Rechtsnorm (Sollen). Eine rechtliche Norm ist eine hypothetische Aussage, der zufolge dem Subjekt eines Inbegriffs gegebener Tatsachen (Tatbestand) eine Sanktion aufzuerlegen ist: "Wenn A (der Normadressat) den B tötet (Tatbestand), so soll er bestraft werden" (Sanktion)55. Es ist eingewendet worden, daß es rechtliche Aussagen gebe, für die diese Formel versage, wie z. B. daß "Eigentum im Wege der übertragung durch den Eigentümer erworben werden kann". Aber auch diese Aussage enthält eine versteckte Sanktion. Denn wir können den Inhalt jener Aussage in Gestalt einer "Ideal-Norm" wie folgt ausdrücken: "Wenn A den B in dessen durch übertragung erworbenen Besitz stört, soll er bestraft werden58 ." Wir werden sehen, daß diese Art der Normkonstruktion nützlich ist für die Betrachtung der logischen Beziehungen zwischen scheinbar unverträglichen Rechtssätzen sowie auch sonst für jeden Versuch, eine folgerichtige Terminologie sowohl für die vertikale als auch für die horizontale Struktur des Peczenik 257-260; auch Hoerster, Rechtspositivismus. State v. Dosso (1958) P. L. D. 533; Uganda v. Prison Comm'ers (1966) E. A. 514; Madzimbamuto v. Lardner-Burke 1968 (2) S. A. 284, rev'd (1968) 3 All E. R. 561 (P. C.). Siehe Dias; J. W. Harris, 29 Camb. L. J. 103 (1971); Amankwah und D. T. Wilson (über Sallah v. Att'y. Gen., S. C. April 17, 1970 (1970) C. C. 54, 55); Date-Bah (über E. K. Sallah v. Ghana, Const. S. C. 8170). 54 Siehe Mishra, passim. " Kelsen § 17. Die Annahme, daß die Rechtsordnung durch Sanktion und Zwang charakterisiert ist, war lange vorherrschend, von Luther und Hobbes zu Christian Thomasius (1655-1728) bis in unsere Zeit. Diese Annahme ist wiederum weder richtig noch unrichtig, ihr Wert bestimmt sich vielmehr lediglich nach ihrer Nützlichkeit. Unten § 24 Anm. 25-28; § 25 Anm. 30-32. Vgl. auch z. B. Vonlandten. 58 Kelsen § 16. 52

53

4 EhrelUlweil

50

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 14

Rechtssystems zu entwerfen. Haben wir im Rahmen dieser Terminologie die Norm definiert, können wir eine Rechtsnorm von Moralsätzen und anderen sozialen Normen nur darin unterscheiden, daß ihr Ursprung eine andere höhere Rechtsnorm ist, also letztlich die höchste gesetzte Norm, die Stone passend als "Apex-Norm" bezeichnet hat57 und die in einer geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassung verkörpert ist. § 14. Die "Meta-Norm" (Quasi-Sein). Mit dieser Definition der Rechtsnorm als einer letztlich auf die "Apex-Norm" zurückzuführenden Norm haben wir Merkls und Kelsens streitige "Stufentheorie" erreicht - und damit die auf der Hand liegende Frage nach dem Ursprung der höchsten gesetzten Norm. Wie können wir erklären, daß wir allen Rechtsnormen, die von einer bestimmten geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassung ausgehen, gehorchen "sollen"? Warum "soll" ein "Staatsorgan" den Ungehorsam bestrafen? Entgegen einer weit verbreiteten Meinung hat Kelsen durch seine "ästhetische" Hypothese von der Grundnorm, die in der Sollens-Struktur bleibt und der ApexNorm lediglich eine höhere hypothetische Norm hinzufügt (§ 23), nicht den Versuch unternommen, diese nicht zu beantwortende Frage zu beantworten. Und jene Philosophen und Propheten aller Zeiten, die dies versucht haben, konnten dies nur mit Verweisung auf ihren Glauben oder ihre Intuition in willkürlicher Anleihe bei einer Welt von nicht nachprüfbarer Realität. Diese Welt mögen wir, um einerseits ihr Mißverständnis als einer Welt des Sollens zu vermeiden und andererseits ihren hypothetischen Charakter als einer Welt des NichtSeins zu betonen, mit einigem Zögern eine Welt des "Quasi-Seins" nennen. Plato und Spinoza sahen ihr Quasi-Sein in dem "guten Leben"; Aristoteles, Cicero und Thomas von Aquin in der Vernunft und der Natur; Kant in dem Ideal der Freiheit; Austin in dem Befehl des Souveräns; Hegel in der Idee des Richtigen; Kelsen in einem "Minimum an Wirksamkeit" der Rechtsordnung und viele andere in deren Beziehung zur Gerechtigkeit (§§ 29-46, 124). Phänomenologen haben sich auf eine vorgegebene Ordnungsbedürftigkeit der menschlichen Gesellschaft berufen, die immer wieder von denen gefunden wird, die an ihr teilnehmen, und die die Zuordnung rechtgebender Zuständigkeit fordert58 • Um diese systemfremden Voraussetzungen gegen das Quasi67 Stone I 104. Der Schöpfer der "Stufentheorie" ist Adolf Merkl. Vgl. Merkl. Ob wir die internationale Ordnung als solch eine Apex-Nonn oder als von der höchsten gesetzten Nonn der nationalen Rechtsordnung delegiert betrachten, ist wiederum eine Frage der Zweckmäßigkeit und nicht der Logik oder der Philosophie. Siehe Kunz, International Law 80--84; McDougal u. a. über die psychologischen Realitäten des Völkerrechts siehe unten § 132 Anm. 8--12. 58 TroUer 193.

§ 16

Konkretisierung

51

Sollen von Kelsens system-immanenter Grundnorm (§ 23) abzugrenzen, will ich sie Metanormen nennen, die nur als psychologische (Seins-) überlegungen erfaßbar sind59 • Die hier auftretenden Werturteile erscheinen auch in anderen Teilen der Rechtsstruktur. § 15. Die Konkretisierung (Sein). In dem Stufenbau der Rechtsordnung (§ 14) gestalten der Gesetzgeber, der Richter und der Verwaltungsbeamte das Recht in einem Prozeß der Konkretisierung, wie Kelsen ihn genannt hat60 • In diesem Prozeß fügen die Rechtsschöpfer dadurch, daß sie eine höhere Norm verwirklichen ("anwenden"), dem Norminhalt ihre eigenen Gerechtigkeitsmaßstäbe oder die ihrer Gemeinwesen hinzu. Sie übertragen dabei das Sein ihrer Werturteile wie das anderer "nicht-formulierter Quellen" des Rechts 8t, in das Sollen des positiven Rechts. So haben wir hier wieder eine Brücke zwischen Sein und Sollen erreicht, die Dike und Nomos in einer neuen monistischen Struktur verbindet. Wie wir sehen werden, führt diese Struktur die große Debatte der Rechtsphilosophie zurück auf ein Schattenspiel der Worte und der Emotionen zwischen denen, die das, was notwendig Natur- und positives Recht zugleich ist, entweder als positives Naturrecht oder als natürliches positives Recht empfinden82 • Ehe wir zu diesem wichtigen Gegenstand zurückkehren, wollen wir in einem kurzen Exkurs unsere Terminologie mit Bezug auf die horizontale Struktur von Rechtssätzen prüfen. c) Horizontale Struktur (ein Exkurs)

§ 16. Der amerikanische "Konzeptualismus". Es muß als eine ironische Fügung angesehen werden, daß zu einer Zeit, als sich in Europa die Begriffsjurisprudenz anschickte, einer Jurisprudenz der Interessen SI Psychologie in diesem Sinne mag so verstanden werden, daß sie solche Methoden wie die einer Phänomenologie einschließt, die Antworten in dem Wesen des Seins oder in Objektiven Geist sucht und auf anderer Ebene im Ergebnis die Gewohnheit als Ursprung des Rechts hinnimmt. Nicolai Hartmann, Problem Kap. 35 b; Zippelius Kap. 8. Erst nach Abschluß des Manuskriptes wurde mir eine wichtige deutsche Schrift bekannt, die mit Berufung auf Klug in ähnlichem Sinne von einem "Metasystem" spricht. Rüthers

35,50.

80 Dieser Prozeß ist auch als Hermeneutik von der "Dogmatik" unterschieden worden, von der man, vielleicht nicht ganz passend, sagt, daß sie alle Antworten durch logische Subsumtion oder Deduktion (Begriffsjurisprudenz) suche. Allgemein Gadamer S. XXII, passim, auch W. Burck:hardt 282, 283; Ballweg, Science 554; ders., Analyse; Ebenstein, Legal Thought 642--644. über Husserls "Epoche" oder "Reduktion" siehe z. B. Troller, Weg 220. Zur Hermeneutik vgl. auch Kaufmann (81) und Baratta (111) in Arthur Kaufmann (Hrsg.). u Bodenheimer 292-324. Vgl. auch Eck:mann 93. 82 Unten §§ 21-58. Siehe Kelsen § 35. Diese Terminologie ist z. T. von Silving, Positive Natural Law, entlehnt. Sie wurde auch von Pound, Natural Law, gebraucht.

52

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 17

zu weichen (§ 50), Rechtsgelehrte in den Vereinigten Staaten, von Hohfeld und dessen Vorläufern inspiriert, begannen, einen Begriffsrahmen für das amerikanische Recht zu erstellen". Das Ergebnis ihrer Bemühungen ist für den hauptsächlichen Gegenstand dieses Kapitels, die Frage nach den Beziehungen zwischen Gerechtigkeit und Recht, nicht von unmittelbarer Bedeutung. Aber eine Stellungnahme zu Hohfelds Begriffen findet sich in vielen Darstellungen der Rechtsphilosophie. überdies wird eine Begriffsanalyse die Nützlichkeit der Normstruktur Kelsens für die Schaffung einer gemeinsamen Sprache weiter bestätigen". Hohfelds Diagramm dessen, was er "rechtliche Gegensätze" (die einander ausschließen) und "rechtliche Korrelate" (die notwendig nebeneinander bestehen müssen) nennte&, ist das folgende: Gegensätze: Recht Nicht-Recht

Privileg Verpflichtung

Rechtsmacht Unvennögen

Immunität Verantwortlichkeit

Privileg Nicht-Recht

Rechtsmacht Verantwortlichkeit

Immunität Unvennögen

Korrelate: Recht Pflicht

Die meisten dieser Begriffe müssen verworfen werden, nicht nur weil sie weitgehend in Widerspruch zu dem allgemein üblichen Gebrauch stehen, sondern in erster Linie weil sie weder klar definiert sind noch sich wechselseitig ausschließen und ihnen somit der einzige Vorzug fehlt, der den Entwurf eines Begriffsrahmens rechtfertigen kannlS • In der folgenden Analyse werden wir die Struktur von Kelsens "Ideal"Norm (§ 12) benutzen, um diese Behauptung zu begründen. § 17. "VeTpflichtung". "Wenn B dem A eine Muschel nimmt, die A am Strand aufgesammelt hat, so soll B gezwungen werden, dem A Schadensersatz zu zahlen." B war verpflichtet, dem A nichts zu nehmen. Die Verpflichtung wird "als die rechtliche Beziehung einer Person B, der von der Gesellschaft auferlegt ist, zum Nutzen einer anderen Person A in einer bestimmten Weise zu handeln oder ein bestimmtes 8S über Hohfeld (1887-1917), Friedmann 268-270; Stone I 140, 143; Paton Kap. 12. Hohfelds Terminologie wurde höchst unerfreulicher Weise durch ihre Aufnahme in das Restatement des American Law Institute sanktioniert. Z. B. Rest., Property, Kap. 1 (1936). Vgl. Ehrenzweig, Treatise 12-13; unten Anm. 67. über Austin und Bentham siehe unten §§ 21, 33; über Bierling (1841-1919), Haesert 39. Siehe auch Salmond 224-245. 84 Ehrenzweig, Common Language. 85 Corbin, Tenninology 166-168. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diese Zusammenfassung von Hohfelds Schema. 88 Stone 1156-157.

§ 19

Hohfeld

58

Verhalten zu unterlassen, ... und die im Falle des Ungehorsams von der Gesellschaft bestraft wird (lies: bestraft werden soll)", definiert. Dieses ist die einzige Definition Hohfelds, die wir annehmen können, obwohl auch diese Definition insoweit unzulänglich ist, als sie den Begriff der Verpflichtung auf solche gegenüber "einer anderen Person" beschränkt und einseitige Verpflichtungen gegenüber dem Staat nicht in sie einbezieht. Alle anderen Begriffe erweisen sich als mißlungene Konstruktionen. § 18. "Privileg", "Nicht-Recht" und "Recht". Das Gegenteil einer Verpflichtung soll ein Privileg sein, "die rechtliche Beziehung zwischen A und B, wobei A (in Ansehung von B) frei ist, ... sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, wie es ihm gefällt". Wenn das Privileg zu handeln das Gegenteil der Verpflichtung nicht zu handeln ist, so hängt die Existenz eines Privilegs von der Nichtstatuierung dieser Verpflichtung durch den Gesetzgeber ab. Aber fast stets erfolgt diese Statuierung, ohne daß dabei an das Privileg gedacht wird. Wenn somit dieser Begriff in derartigen Fällen als Grundlage einer Rechtsnorm gebraucht wird, so muß das notwendig zu falschen Ergebnissen führen 67 • Mit dem Begriff des Privilegs fällt auch der seines Korrelates "NichtRecht" und dessen Gegensatz "Recht". § 19. Rechtsmacht, Recht und Immunität. In unserem Beispielsfall hat A die Rechtsrnacht dadurch, daß er eine Muschel am Strand aufsammelt, Eigentum zu erwerben. Denn er "begründet ein Recht gegen B, ihn nicht in seinem Besitz an der Muschel zu stören". Aber Hohfeld meint zugleich, daß auch Beine Rechtsrnacht besitzt. Denn, indem B dem A die Muschel wegnimmt, schafft er ein dem A zustehendes "sekundäres Recht auf Schadensersatz". Beide Begriffe der Rechtsrnacht sind mangelhaft. Die Rechtsrnacht des B ist nicht zu unterscheiden von seiner Verpflichtung, dem A die Muschel nicht wegzunehmen. Und die Rechtsrnacht des A überschneidet sich mit seinem "Recht" gegen B, das, wie wir lernen, darin besteht, "daß die Gesellschaft dem Bein bestimmtes Verhalten oder ein Unterlassen auferlegt und auf Veranlassung des A in irgend einer Weise den etwaigen Ungehorsam des B bestrafen wird". Mit dem Begriff der Rechtsrnacht fällt auch der seines Gegensatzes, des "Unvermögens", und der seines Korrelats "Verantwortlichkeit". Trotz gelegentlicher Verteidigung ist somit das ganze System zusammengebrochenes. Aber wenigstens der Begriff der Rechtsmacht und seine Ergänzungen könnten sich dann wieder als brauchbar erweisen, wenn sie auf der Vgl. Restatement Second § 163; auch oben Anm. 63. es Simpson, Concepts 549-551; Ross Kap. 6; Williams, Liberty 124-125. Aber siehe wiederum Hislop; Mullock; Losano 261-267. 17

54

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§20

Grundlage der Normstruktur Kelsens neu dargestellt würden. Ein international oft überdachtes "Begriffsrätsel" ist lange die Frage gewesen, wie B die Macht besitzen kann, das Eigentum an einem Gegenstand, der ihm von A anvertraut wurde, auf einen gutgläubigen Käufer C zu übertragen. Dieses "Problem" verliert seinen akademischen Reiz sogleich, wenn wir verstehen, daß die Rechtsmacht des B aus einer Norm resultiert, die dem D eine Sanktion für den Fall auferlegt, daß er C in seinem Besitz an dem Gegenstand stört. Diese an D gerichtete Norm ist natürlich vereinbar mit der Norm, die B für dessen Treuebruch mit einer Sanktion bedroht811 • d) Von deT FOTm zum Inhalt § 20. Nachdem wir eine formelle Struktur des Rechts entworfen und sie sowohl hinsichtlich ihrer vertikalen als auch hinsichtlich ihrer horizontalen Ausrichtung verteidigt haben, sind wir nunmehr imstande, uns wieder der grundlegenden Streitfrage der Rechtsphilosophie zuzuwenden. Diese ist, wie wir gesehen haben, die uralte Kontroverse zwischen denen, die sich selbst Naturrechtier nennen oder so von anderen genannt werden, und denen, die sich selbst Rechtspositivisten nennen oder so von anderen genannt werden. Gegen den Hintergrund unserer einleitenden Analyse monistischer und pluralistischer Theorien dieser "Kampfgruppen" (§§ 4-9) wollen wir nun ihre Streitfrage in einer Weise anaylsieren, von der ich hoffe, daß sie eher zu neuen Lösungen als zu neuem Konflikt führt. In diesem Ersten Teil werden wir uns zunächst die polemischen "Kampfrufe" der einzelnen Schulen anhören (§§ 21-59) und dabei einige ihrer Kampfstätten (§§ 60-75) in der ganzen Welt (§§ 76-114) kennenlernen. Im Zweiten Teil werden wir dann trachten, den unentwegten Kampf mit den neuen Erkenntnissen und den neuen Waffen der modernen Psychologie einer Versöhnung näherzubringen. Denn es soll versucht werden, zu zeigen, daß diese "Schulen" nur psychologisch zu unterscheiden sind. Als "Positivisten" mögen dann jene gelten, die eher dazu neigen, sich mit gesetzten Rechtsvorschriften innerhalb der sichtbaren Struktur des Sollens zufriedenzugeben, und als "Naturrechtler" jene, die sich mehr mit dem Seins-Gehalt der in dem Prozeß der Konkretisierung der Sollens-Normen wirkenden Werturteile befassen. Um den metarechtlichen Charakter dieser Unterscheidung zwischen beiden Schulen und damit ihre analytische Identität hervorzuheben, habe ich ihre Kampfrufe danach gekennzeichnet, daß sie entweder ein "positives Naturrecht" oder ein "natürliches positives Recht" verkünden (§ 15). 88 Über das Problem des Normadressaten im allgemeinen, Uwe Krüger; auch oben Anm. 56.

§ 21

Rechtspositivismus

55

B. Der Kampfruf: Naturrecht und Positivismus 1. Der Redltspositivismus als positives Naturredlt

§ 21. Wie nahezu jeder Begriff in dem Vokabular der Philosophen, so hat auch der Begriff des Positivismus für viele eine sehr vielfältige Bedeutung1 • Hier handeln wir von einer autonomen, nicht auf eine Metanorm (§ 14) bezogenen Theorie des positiven Rechts. In diesem Sinne kann der Positivismus sicherlich bis zu Platons Nomoi, möglicherweise auch bis zu Protagoras 2 und vielleicht sogar bis zum menschlichen Mesarum Mesopotamiens in seinem Gegensatz zum göttlichen KittumS zurückverfolgt werden. Und in diesem Sinne hätte es niemals Zweifel darüber geben sollen, daß die positivistischen und naturrechtlichen Theorien analytisch identisch sind. Es scheint bedeutsam für diese Identität, daß die ersten dramatischen Zusammenstöße zwischen diesen Theorien sich wahrscheinlich erst in der Dialektik der Sophisten ereigneten und in jener Rhetorik, die sich imstande glaubte, die Gültigkeit beider Theorien zu erweisen (§ 58). So war es denn vielleicht kein Zufall, daß der Dialektiker Abelard angeblich unter den ersten war, die den Ausdruck "positives Recht" gebrauchten4 • Aber dieser Teil der Geistesgeschichte vermittelt uns keinen Schlüssel zu der militanten Botschaft des Rechtspositivismus.

Diese Botschaft ist oft mit dem naturwissenschaftlichen Positivismus Auguste Comtes 5 identifiziert worden. Dennoch dürfte, obwohl eine Beziehung zwischen beiden zweifellos besteht8 , der Ursprung des Kampfes wahrscheinlich auf Austins Betonung des souveränen Befehls zurückzuführen sein, der als Apex-Norm an moralische Werte nicht gebunden war7 • Bergbohms Lehre teilte dieses Charakteristikum8 • So1 Friedmann 256; Shuman, passim; Uren; Bobbio 80--126; Batiffol Kap. I; Yasaki. ! Oben § 6 Anm. 2. a Dhorme. Für eine andere Interpretation (Recht gegen Billigkeit) siehe Van Proosdij. « über Abelard (1079-1142), Russell 436---438; Friedmann § 12; Stone II 231; Giuliani 30; auch unten § 58. G über Comte (1798-1857), Kelsen, Justice 159-166; Verdross 174; Larenz

36-39.

• Zippelius 15. 7 Austin (1790--1859), Lecture I. Vgl. etwa Friedmann Kap. 21; Wortley Kap. 7; Jolowicz Kap. 1, 6; Ebenstein; F. Kaufmann; Dias 152-161. Auf dem Kontinent wurde Austin wahrscheinlich zuerst von Soml6 zur Kenntnis genommen. über Kelsens Verhältnis zu Austin siehe Kelsen, Analytical Jurisprudence. 8 Bergbohm (1849-1927) 175, 372, 381, 384, 403, 425, 455. Siehe Stone I 6; Friedmann 258-267; Haesert 37-39; Verdross 165-167; Llambias de Azevedo, Naturrecht.

56

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 23

wohl das, was von dem Kampfruf gegen diesen Positivismus übrig geblieben ist, als auch das, was wir als dessen bleibende Errungenschaft betrachten mögen, wird vielleicht am besten anhand der Lehre von Hans Kelsen beschrieben (§§ 11-15). Wie auch immer seine Lehre historisch eingeordnet werden wird', er kann heute als der führende Exponent dieser Schule angesehen werden10 • a) Kelsens "reine Rechtslehre"

§ 22. Form und Inhalt. Nach Kelsen ist eine Norm die Aussage eines Sollens. Sie ist eine rechtliche (und damit nicht eine Religions- oder Moral-) Norm (§ 13), wenn sie selbst die Konkretisierung einer Rechtsnorm ist (§ 15). Mit dieser Definition versucht Kelsen, die formale Struktur des Sollens von dem Sachinhalt des Seins zu trennen (§ 10). Der "Naturrechtler" hat mithin recht, wenn er meint, der Positivismus handhabe das Recht, als ob es ein "leerer Behälter" sei. In der Tat war es "leere" Mathematik, der der moderne Positivismus zum Teil seinen Aufstieg verdankte. Aber weder dem Mathematiker noch dem Positivisten kann der Vorwurf gemacht werden, daß sie dabei "den Körper der lebenden Materie" vergessenl l • Der Mathematiker, der nur sagt, daß 2 X 2 = 4 ergibt, vergißt dabei nicht, daß 2 X 2 Äpfel lebende Materie sind. Und der Positivist, der die Struktur von Rechtsnormen beschreibt, vergißt dabei nicht, daß diese Normen in unserer Gesellschaft leben. Durch eine formale Analyse negiert er nicht den Inhalt1!. § 23. Die "Grundnorm" (Quasi-Sollen). Wir haben gesehen und werden es nochmals sehen, daß Kelsen wie alle anderen Rechtsdenker seine eigene Metanorm, sein eigenes Quasi-Sein (§ 14) als Grundlage seines Sollens angenommen hat. Für Kelsen sind die zaristischen Dekrete nicht länger als ein Sollen "gültig", weil die auf sie basierte Normenhierarchie ihr Minimum an Wirksamkeit in der Welt des Seins verloren Siehe z. B. Aufricht. Über Kelsen (geboren 1882), Metall, mit Bibliographie; oben §§ 10-15. Zur ..Wiener Schule", die von Kelsen begründet wurde, vgl. den Sammelband "Wiener rechtstheoretische Schule"; Mock; Walker. 11 Sowohl der .. leere Behälter" wie die .. lebenden Materien" sind Begriffe, die von Fuller 132 gebraucht werden. Siehe auch E. Kaufmann 80. Ein früherer Gebrauch des Wortes "rein" in diesem Zusammenhang findet sich in Edmond Picards "droit pur". Mein Student James C. Fowler meinte, daß eine "reine Kunstlehre" in gleicher Weise zu dem Studium der Ästhetik beitragen könnte (unten §§ 136-148). Könnten wir in der Tat nicht heute Kunst mit dem gleichsetzen, was Künstler schaffen und die Begriffsbestimmung des Künstlers der Wahl eines bestimmten "Meta-Wertes" überlassen, sei dieser Meta-Wert nun Harmonie, Schönheit oder auch nur "self-expression" (vgl. oben § 14 zum Begriff der "Meta-Norm")? 11 Die Beziehungen zwischen Form und Materie waren ein Gegenstand der Spekulation, dessen Bedeutungsgehalt sich von Plato bis Hegel ständig wandelte. Vgl. etwa RussellI21-122, 146-147, 165-167,658-659, 736. 9

10

§23

Reine Rechtslehre

57

hat (§ 14). Zugegebenermaßen hat Kelsen somit einen Fremdkörper in seine Sollens-Welt einbezogen. Um das Gesamtbild seiner reinen Rechtslehre wiederherzustellen, hat er aber die seiner Sollens-Welt angepaßte Hypothese (oder ist es eine Fiktion?) einer Grundnorm hinzugefügt, die besagt, daß "Zwangsakte sollen gesetzt werden unter den Bedingungen und auf die Weise, die die historisch erste Staatsverfassung und die ihr gemäß gesetzten Normen statuieren." In verkürzter Form: "Man soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt18 ." Diese scheinbar harmlose Hypothese ist fortgesetzten heftigen Angriffen ausgesetzt. Es ist wohl kaum nötig, solche deplacierten Scherze wie den zu widerlegen, daß Kelsens Suche nach der Grundnorm der amerikanischen Rechtsordnung uns "zu der Kampfstätte (sie) von Runnymede und darüber hinaus zurückführe"lC. Dieses Bonmot verwechselt die (ästhetische) Fiktion der Grundnorm mit einem historischen Datum. Andererseits aber müssen wir solchen Lehren widersprechen, die, obwohl sie vorgeben, Kelsens inhaltsleere Grundnorm anzunehmen, dieser dennoch einen ihr fremden Inhalt zuschreiben. Denn es gibt keinen Weg von "Logizismus" zum "Ontologismus"15. Und wir können nicht nachhaltig genug die immer wiederholte irrtümliche Annahme zurückweisen, daß das Quasi-Sollen von Kelsens inhaltsleerer Grundnorm identisch sei mit dem Quasi-Sein seiner von ihm für sich erwählten inhaltsvollen Metanorm, dem Minimum an Wirksamkeit18 . Die Grundnorm könnte wie jede andere Hypothese nur durch den Nachweis widerlegt werden, daß sie mit dem Begriffssystem, für welches sie geschaffen wurde, unvereinbar ist. Aber wir können eine solche Unvereinbarkeit nicht in der angeblichen Unfähigkeit dieser Grundnorm sehen, die gleichzeitige Gültigkeit gegensätzlicher Normen auszuschließen17. Natürlich könnte in Kelsens wie in jeder anderen Normstruktur sowohl das Tun wie das Unterlassen eines bestimmten Verhaltens mit einer Sanktion belegt werden. Das Gesetz könnte sagen: "Ob A ,X' tut oder nicht, er soll in jedem Fall bestraft werden18." Aber solch eine Rechtsregel könnte, obwohl sie logisch möglich wäre, nur 13 Kelsen 203. Siehe unten § 34; und allgemein G. Hughes, Validity (eingehende und schonende Kritik); Ebenstein, Legal Thought 637-639. Kelsens "Verfassung" ist nach unserer Terminologie (§ 13) die Apex-Norm. Die Normen werden von ihr im Wege der "Konkretisierung" (§ 15) "geschaffen". 14 earl J. Friedrich 219 Anm. 10. 15 Marcic 135, 164-167. 18 Oben § 14. So Larenz 78. Siehe auch Dias, Temporal Approach 79-80. Schlimmer noch, Kelsens Grundnorm ist oft mit der Apex-Norm der Verfassung identifiziert worden. Z. B. Messner 236 (vgl. ders. at 355); Brecht 160. Siehe auch unten § 24. 17 Ross 156-158; auch Amselek 181-190. 18 Kelsen 25, 74. Siehe Tammelo, Postulate 181. über das logische Problem im allgemeinen siehe Kelsen, Rechtstheorie 404-405 mit weiteren Hinweisen.

58

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§24

von einem geistesgestörten Herrscher erlassen werden. Hier scheint Zweideutigkeit in unserer Sprache eine richtige Analyse zu verhindern. Wer gegen Kelsens Grundnorm einwendet, daß sie die Gültigkeit widersprechender Normen nicht ausschließe, meint offenbar, daß keine Rechtsordnung, ob sie nun nach den Begriffen Kelsens strukturiert ist oder nicht, zur gleichen Zeit die Rechtsregel "Wenn A ,X' tut, soll er bestraft werden" enthalten und nicht enthalten kann. Sogar ein geistesgestörter Fürst könnte nicht zur gleichen Zeit ein bestimmtes Verhalten befehlen und nicht befehlen. Als eine normative Vorschrift schließt ein Sollen nicht ein Nicht-Sollen aus. Aber eine indikative Beschreibung, eine Aussage über ein Sollen, schließt in der Tat die Nichtaussage über ein solches Sollen aus. Wenn so die üblichen Angriffe gegen Kelsens Grundnorm versagen, so wollen wir gerne zugeben, daß diese Hypothese nicht die philosophische Frage zu beantworten sucht, warum wir der Apex-Norm, der höchsten gesetzten Norm, gehorchen sollen19 • Die Grundnorm ist ja nicht der Kopf von Kelsens Skulptur, sondern eher eine schöne Krone, mit der der Bildhauer sein Werk schmücken wollte. In der Tat würde die Lehre Kelsens ohne dieses Ornament nichts verlieren außer ihrer Ästhetik!O, § 24. Wirksamkeit und Geltung. Aber wir haben gesehen, daß Kelsen nicht nur der Autor einer formalen Struktur ist, sondern daß er sich, wie seine Gegner, als Jurist auch mit der inhaltlichen Bedeutung des Rechts beschäftigt. Er ist nicht nur ein analytischer Rechtstheoretiker, sondern auch ein positivistischer Philosoph21 • Denn auch für ihn ist das Recht "lebende Materie" in dem "Behälter" seiner "reinen Rechtslehre" (§ 22). In Ergänzung seiner Hypothese von der Grundnorm wählte er deshalb die ihm für seine Zwecke nützlichste Metanorm. Er behauptet, daß die Wirksamkeit eine Bedingung für die Geltung einer jeden Rechtsordnung istu . Damit sucht er dem gewöhnlichen Sprachgebrauch gerecht zu werden. Natürlich begegnet eine solche Behauptung wie die jeder anderen Metanorm, Gegen-Positionen, die sich auf den Glauben, die Intuition oder ein Werturteil stützen!3. In der Tat wurde sie auch unter diesen Gesichtspunkten zum Gegenstand "zete18 Oben § 14. Siehe auch d'Entreves 106-108; ders., ease 43. zo Vgl. auch Shuman 20; Schreiber; Hruschka; Larenz 72---S6; Paton § 5;

Hart 245; und lnsb. Adamovich 24-27. Z1 Shuman 18-26. Eine Verteidigung von Kelsens "Unreinheit" unternimmt z. B. Frosini 63. Siehe auch Hoerster, Möglichkeit. zr Kelsen 213; oben § 14; und allgemein Fechner, Ideologische Elemente; Harry Jones. Dieses ist eine Art "neuen weltlichen" Naturrechts im Sinne von Dias, Temporal Approach. za Oben §§ 4-9. Vgl. auch etwa Lufio Pefia 14-17, mit einer Studie über Angel Amor Rubols Rechtsphilosophie. VgI. auch Ernst Wolf, Gesetz 126-130.

§25

Reine Rechtslehre

59

tischer" und "topischer" Untersuchungen!4 wie auch jener psychologischen Forschung gemacht, die im zweiten Teil dieses Buches unternommen wird. Aber Kelsens Wirksamkeitsformel ist sicherlich nicht unmoralisch oder gar amoralisch, wie von jenen behauptet zu werden scheint, die sie darum bekämpfen, weil sie auf "bloße Machtnormen"25 beschränkt sei. Diese Behauptung ist eben so ungerechtfertigt wie jene gegen Macchiavelli, dem seit Jahrhunderten vorgeworfen wird, daß er die Priorität der Gewalt gegenüber dem Recht vertreten habe, obwohl er doch nur mit Bedauern ein Faktum feststellen wollte28 . Es sind solche grundlegende Mißverständnisse, die den gesamten neukantischen Relativismus als auf "Gewalt und Drohungen" gestützt zu brandmarken lieben27 • Man hätte hoffen dürfen, daß Platon dieser Art philosophischer Verleumdung ein Ende bereitete, als er die Absurdität der Thesen des Thrasymachos und Kallikles darlegte28 , jener Travestien des Positivismus. § 25. Zur Kritik der Kritik. Andere Mißverständnisse sind zahlreich. So haben selbst hervorragende Rechtsphilosophen erklärt, Kelsens Lehre sei "eines der charakteristischsten Anzeichen von Geisteskrankheit", sie sei "gefährlich und irreführend", "terroristisch", "kryptomarxistisch " , "eine geradezu groteske Verfehlung der Wirklichkeit", oder, etwas freundlicher, "ein amüsantes intellektuelles Spiel"29. Vieles von dieser seltsamen Polemik ist jenen grundlegenden Irrtümern zuzu!4 Unten § 58. Siehe auch z. B. Ernst Kramer, Kelsen. Die Wiedereinführung des Aristotelischen Begriffs "topika" ist Kant zugeschrieben worden. Viehweg 107. über Platons "zetema" (Republik 268 cl, Voegelin III 71-81; Tammelo, Rechtslogik 6-14 (F. O. Wolf), §§ 5, 16; auch Tammelo und Klinger 11. Einen Angriff aus dem Lager der Phänomenologen unternimmt Amselek 332. Vgl. Kelsen, Rechtstheorie 361-366. 25 Hall, Nature 563. Vielleicht würde Kelsen's Lehre diesen Anwürfen entgehen, würde sie, wie Cowan, Law 694 vorschlägt, "Gewalt" durch "Kontrolle" ersetzen. Vgl. auch Bobbio, Teoria 119-138. 28 über Macchiavelli (1469-1527) vgl. etwa Maihofer (Hrsg.), Ideologie 3; F. Gilbert; Friedrich, Macchiavelli 182; Fass II 394; Joly; Truyol, Maquiavelo 272. 27 Pound, Theory 38. über Hegels Kant-bezogene Lehre zu diesem Gegenstand siehe Marcic, Hegel 63 mit Bezugnahme auf Hegels Grundlinien §§ 97, 210. über Kelsens "Sanktion" siehe oben § 13; und insbesondere Hall, Social Theory 55. über die Etymologie dieses Begriffes Frosini 98-102; für anthropologische Sichtweise Hoebel 18-28. 28 Platon, Politeia 338 c, 344 c, 348 e; ders., Gorgias 79, 116-118, 488, 492. Vgl. Erik Wolf II 103-128; Voegelin III 71-72; Menzel; Kelsen, Ideologiekritik 217-218; auch unten Anm. 38-45; über die "Machttheorien" im allgemeinen z. B. Brecht 34~348. 28 In dieser Reihenfolge siehe Brimo 292; Bodenheimer 294; W. Becker, Grundformein 101; Hofmann 166; Steininger 219; Thomas Cook 619. Coing hat nunmehr die in seiner ersten Auflage enthaltene Anklage von Kelsens "ethischem Nihilismus" aufgegeben. Coing 97. Als frühe Widerlegung einer solchen "Konfusion" siehe McDougal 831; als Bestandsaufnahme aus dem Jahre 1970 Walter. Vgl. auch etwa Gutzwiller, Rechtsidee 248-266.

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

60

125

schreiben, deren Bekämpfung Gegenstand dieses Buches ist. Hier nur einige wenige zusätzliche Beispiele: (1) Es ist behauptet worden, daß Kelsens Norm angebe, wann ein Verhalten eine Sanktion "zur Folge hat"!o. Diese Behauptung ersetzt fälschlich Kelsens grundlegenden Sollens-Begriff der "Zurechnung" durch den Seins-Begriff der Verursachungl1 • Einem ähnlichen Irrtum unterliegt die Kritik, die davon ausgeht, daß Austins "Befehl des Souveräns" die unrichtige Darstellung eines Seins enthalte". (2) Es ist gesagt worden, Kelsen gehe davon aus, daß das Schweigen des Gesetzgebers "als eine negative Norm konstruiert werden müsse, die einen Anspruch des Klägers ausschließe"ss. Diese Behauptung läßt außer acht, daß nach Kelsens wie nach jeder anderen Theorie im Wege der Interpretation aus einem solchen Schweigen oft das Bestehen eines Anspruches hergeleitet werden kann und bisweilen sogar muß". (3) Es ist gesagt worden, Kelsens Grundnorm gehe davon aus, daß "Staaten sich so verhalten sollen wie sie sich bisher gewohnheitsmäßig verhalten haben"s5. Was Kelsen tatsächlich sagt, ist eine ganz andere und einleuchtende Schlußfolger.mg: Wenn wir annehmen, daß es ein auf Gewohnheit begründetes internationales Recht gibt, so setzen wir dabei eine Apex-Norm voraus, die diese Gewohnheit als Quelle gültiger Normen bestimmt38 • Auch hier begegnet uns also wieder der häufige Irrtum, Kelsens hypothetische Grundnorm begründe ein Sollen, obwohl sie dieses tatsächlich bloß zu erklären vorgibt!7. (4) Kelsen soll angeblich gesagt haben, daß lIes so etwas wie Gerechtigkeit nicht gebe uss . In Wirklichkeit ist für ihn der Begriff der Gerechtigkeit "Modell für die Schaffung guten Rechts und Kriterium für die Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Recht"a., wobei er nur darauf Wert legt, "daß eine scharfe Trennungslinie zwischen dem Recht, das ist, und dem, das sein soll, zu ziehen ist U40 • Man kann es noch als

Bodenheimer 100. Kelsen §§ 17-22; ders., Justice 32; ders., Rechtstheorie 370--373. 11 Hart 79-88. Siehe Austin 24. Über Benedetto Croces Definition siehe Frosini 151 Anm. 50. 11 Bodenheimer 295. Vgl. auch etwa Amselek 194-195. U Kelsen Kap. VIII. Ders., Rechtstheorie 379-383, 388-392; unten § 62. a5 Northrop 65, der sich ausschließlich und fälschlich auf eine bloß sekundäre Quelle verläßt. I. Kelsen 214-217. VgI. G. Hughes, Validity 710--713. über die Gewohnheit als Rechtsquelle Bobbio, Consuetudine; Frosini 81. Über das Problem im Völkerrecht Verdross, Geltungsgrund. 17 Oben § 24. Siehe auch McDougal u. a. 249-252; Lloyd 195; Amselek 181 bis 190. 18 Fuller 121; auch unten §§ 44-46; und z. B. Germann, Probleme 26. 39 Kelsen, Justice 295. 40 Fuller 5. 10

11

H.L. A.Hart

§ 28

61

harmlose Anfeindung ansehen, wenn man Kelsen deshalb vorwerfen will, er habe zur Verwirrung des Rechtsdenkens beigetragen41 • Beinahe lächerlich dagegen ist, wenn man ihn, wenn auch nur zum Teil, mit dem Aufstieg des Nazi-Regimes4! oder damit belastet, daß er "bereitwillig Tyrannen ... Ratschläge erteilte"43. Hilflos sind wir schließlich, wenn man versucht, mit dem Satze, "man müsse Gott mehr als dem Menschen gehorchen"", Kelsens Postulate widerlegen zu können. Kelsen hat seine Gerechtigkeit die "der Freiheit, des Friedens, der Demokratie - der Toleranz"45 genannt. (5) Dem Positivismus ist des weiteren vorgeworfen worden, daß er "einer richterlichen Überprüfung der Gesetzgebung keinen Raum" lasse". Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine solche überprüfung dann und nur dann angebracht ist, wenn das (positive) Recht sie vorsieht. Weder der Positivismus noch irgend eine andere Schule der Rechtstheorie hat irgend etwas mit dieser Frage zu tun. (6) Der Positivismus ist endlich als eine bloße Begleiterscheinung der für das 19. Jahrhundert kennzeichnenden Verherrlichung des Staates und seiner Erscheinungsformen oder gar als eine Haltung disqualifiziert worden, die uns zumute, "den größten Teil der Erkenntnisse der modernen Psychologie unbeachtet zu lassen"'7. Beide "Argumente" verkennen das einzige Ziel und die zeitlose Funktion des Positivismus als einer "strukturalen Analyse" des Rechts 48 •

b) Harts "Concept

of Law"

§ 26. H. L. A. Hart nimmt für sich in Anspruch, das Normschema Kelsens verbessert zu haben. Bestimmte positive Rechtssätze sollen Sekundärnormen sein zum Unterschied von den "eine Verpflichtung enthaltenden Primärregeln", die, da sie auf Oldie offenbarsten Grunderkenntnisse der menschlichen Natur und der Welt, in der wir leben, gegründet sind, sogar in primitiven Gesellschaften befolgt werden J erusalem 82. Fuller 122. 43 Strauss 4. über den polemischen Stil dieses Autors siehe Brecht 549-551; auch unten Anm. 109; § 42 Anm. 6. U W. Schönfeld, Grundlegung 534. 45 Kelsen, Justice 214. Wir finden eine freilich etwas ambivalente Empfehlung von Kelsens "relativer Gerechtigkeit" bei Waldstein 184-186, 189. 48 Cahn 11. Aber siehe unten § 104. Eine eingehende Widerlegung ähnlicher Irrtümer gibt Kelsen, Stone; Kelsen, Logik. über die Beziehungen zwischen Positivismus und Gesetzgebung im allgemeinen siehe auch unten §§ 77, 102, U

42

105. 47

48

Northrop 248. Kelsen, Justice 294. Siehe auch Stoyanovitch, Domaine 61-71; oben

§§ 10--20.

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

62

§27

müssen". Sekundärnormen aber, so wird uns gesagt, dienen als "Anerkennungsregeln" , die Primärregeln als solche identifizieren, als "Änderungsregeln", die den statischen Charakter der Primärnormen korrigieren, und als "Entscheidungsregeln", die die Wirksamkeit der Primärregeln zu erhöhen habencD. Es ist nicht sehr klar, was neu an dieser Struktur sein so1l50. Die beiden letzten Gruppen der Sekundärregeln enthalten Verfahrensbegrüfe, die mit dem Wesen des Rechts nichts zu tun haben. Harts erste Regel der "Anerkennung" aber fand sich nicht nur in Savignys Volksgeist, Ehrlichs freiem Recht und Austins "gewohnheitsmäßigem Gehorsam"5!, sondern schließlich auch in Kelsens Minimum an Wirksamkeit und seinem Prozeß der Konkretisierung52 . Im Gegensatz zu Kelsen fordert Hart freilich wie Ross von der Rechtsnorm nicht nur, daß sie wirksam ist, sondern darüber hinaus, daß sie als verbindlich empfunden wird53 • Aber diese Forderung setzt individuelle psychische Neigungen voraus und kann somit kaum als nützlich für eine allgemeine strukturale Definition des Rechts betrachtet werden. So gibt denn auch Hart in seiner Zusammenfassung angeblicher Meinungsverschiedenheiten mit Kelsen selbst zu, daß er dessen strukturales Schema vollkommen übernommen habe 54 • Diese sehr bezeichnende Tatsache ist in manchen Darstellungen der Lehre Harts, die im Lichte seines berühmten Disputs mit Fuller im Zusammenhang mit den antipositivistischen Elementen von Harts Lehre 55 weiter unten noch diskutiert werden soll, nicht immer anerkannt worden58 . c) Alt Ross § 27. Die Position von Ross in dem Streit zwischen Positivismus und Naturrecht kann vielleicht am besten, ohne freilich damit allen Teilen seines vielschichtigen Werks 57 gerecht zu werden, durch eine Zusammenfassung der von ihm entwickelten Analogie zwischen dem Recht und dem Schachspiel erklärt werden. Ross stimmt mit Kelsen darin

4'

Hart 89-94. Eckmann Kap. 11; Graham Hughes, Existenee; Bobbio, Dieotomie 192 bis 194; Kalinowski, Theorie; Friedmann, Reflexions 205-210. 51 Friedmann 15, 287; auch unten §§ 35, 49. 52 Oben §§ 15, 24. Siehe Stone I 132-135; Ronald Dworkin, Model 17-22, 40--46; über Bierlings sog. "Psychologismus", vgl. Larenz 39-44; unten § 44 Anm.9. S3 Hart 113, et passim (mit vier Einschränkungen); auch unten Anm. 60; Geiger 50; über Harts Begriff der "obligation" z. B. Roseoe Hill. 54 Hart 245-246. Siehe auch Blackshield, Hart 337-338. 6G Unten §§ 44--46. &I Z. B. Ronald Dworkin, Rules 218-230; Summers, Hart; Eckmann 123 bis 124. 57 Z. B. Friedmann 305-310; Miedzianagora 3. Teil. ~o

§28

AlfRoss

68

überein, daß er jeden naturrechtlichen Begriff, der sich als "reiner Begriff der Vernunft göttlicher Herkunft darstellt oder apriori (vor der Erfahrung) in der Vernunftnatur des Menschen existieren soll", ablehnt58 • Ross teilt auch Kelsens neuere Ansicht, die entgegen ihrer früheren "Reinheit" die Geltung nunmehr auf solche Normen beschränkt, die auch "wirklich befolgt werden"sD. Dagegen weicht er in übereinstimmung mit Hart insoweit von Kelsen ab, als er weiter fordert, daß "geltende Normen befolgt werden, weil sie als wirklich verbindlich erfahren und empfunden werden", obwohl er im Gegensatz zu Hart diese Forderung auf die übung und das Gefühl "des Richters oder einer anderen das Recht anwendenden Behörde beschränkt"80. Ross' Analogie mit dem Schachspiel enthüllt, wie ich meine, die Verwundbarkeit der Zugeständnisse, die sowohl Kelsen als auch Ross bei ihren Rechts-"Gültigkeits"-Definitionen der Welt des Seins machen. Könnten wir nicht eine gültige Schachregel jede solche Regel nennen, die die Dekrete eines internationalen Schachkongresses implementiert, oder die von einzelnen Spielern akzeptiert worden ist? Könnten wir nicht ähnlich jene Rechtsregel gültig nennen, die die Verfassung implementiert oder von einzelnen Bürgern angenommen worden ist? Könnten wir eine solche Terminologie nicht sogar dort wählen, wo keine dieser Regeln "wirksam befolgt" oder von Spieler und Bürger, Schiedsrichter und Richter, als wirklich "bindend" empfunden wird? Ist nicht wiederum unser einziges Kriterium jenes, das sich auf die Nützlichkeit einer solchen Terminologie für den gegenständlichen Zweck bezieht? Eben deshalb haben ja manche Philosophen als Recht jene Regeln erklären können, die auf Vernunft oder göttliche Verkündigung gegründet sind. Aber um es zu wiederholen, die Frage nach dem "Was" bei des einzelnen Wahl seiner Metanorm bleibt eine Frage semantischer Nützlichkeit, und die Frage nach dem "Warum" dieser Wahl ein Gegenstand psychologischer Untersuchung. Es gibt keinen "philosophisehen" Waffenstillstand. d) Trügerischer Waffenstillstand

§ 28. Und doch hat es immer Versuche gegeben, Positivismus und Naturrecht miteinander zu versöhnen. So ist gesagt worden, daß sich diese Philosophien ergänzen, weil "positives Recht ohne eine Grundlegung im Naturrecht gänzlich willkürlich sei, während Naturrecht ohne positives Recht der Gerechtigkeit nicht effektiv zum Durchbruch Ross 18. Siehe auch ders., Jurisprudence 39-49. Kelsen §§ 35-36. 10 Ross 18; ders. § 8. Siehe oben Anm. 53. Eine interessante Randbemerkung über die Nachkriegsentwicklung in Japan findet sich in Abes Bericht. 58

U

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

64

§ 28

verhelfen könne"8l, oder noch weniger faßlich, "weil Positivität nicht ohne Negativität besteht, die sie wie der Tag die Nacht überwältigt"62. Auf einer höheren Ebene hat man Horvaths Rechtssoziologie eine "cartesianische Wende" zugeschrieben, mit der er die Spaltung beseitigt habe63 • Und eine "Wiederannäherung" oder gar Aussöhnung ist in einer "integrativen Rechtstheorie" prophezeit worden, in der "sowohl die Naturrechtsphilosophie als auch der Rechtspositivismus als wesentliche Funktionen ausübend anerkannt werden"84. Schließlich betont auch die kommunistische Theorie die "Reflektion des Seins im Sollen"65. Aber jeglicher Waffenstillstand verspricht einerseits zuviel und andererseits zu wenig. Er ~rspricht zuviel für jene, die - immer weniger an Zahl - im Naturrecht (als natürlichem positiven Recht) einen Inbegriff absoluter Werte sehen, die über dem gesetzten Recht stehen; ebenso wie für jene, die - immer mehr an Zahl - im Naturrecht (als positivem natürlichen Recht) bloß eine Gipfelstruktur des gesetzten Rechts sehen. Umgekehrt bietet ein Waffenstillstand jenen von uns zu wenig, die, ob ihnen nun ein religiöser Glaube an absolute Werte zu Seite steht oder nicht, eine Unterscheidung zwischen Naturrecht und positivem Recht überhaupt ablehnen. Um das Selbstverständliche zu wiederholen: Jeglicher Angriff der "Naturrechtler" gegen den Positivismus mit der Begründung, dieser verneine die Bedeutung des Naturrechts, muß fehlschlagen. Denn alles positive Recht ist auf Werturteile gegründet und stellt sich somit als ein positives NatuTTecht (§§ 21-28) dar. Ebenso muß jeglicher Angriff der "Positivisten" gegen das Naturrecht mit der Begründung, dieses verneine die Geltung des positiven Rechts, fehlschlagen. Denn alles Naturrecht, das von einem Beobachter als geltendes Recht angesehen wird, ist für diesen natürliches positives Recht8s • M. Adler, Doctrine 83; auch unten § 123 Anm. 18. W. Schönfeld, Heiligkeit 34. 83 Tammelo, Turn. 84 Hall, Theory 173-174; auch ders., Jurisprudence. Vgl. Gysin 82-98; Stone II 219-222, 226; Uren; Troller, Rechtserlebnis § 6; Maihofer (Hrsg.) S.X. GottZieb 125, 153 würde sowohl Harts Positivismus (§ 26) als auch das Naturrecht durch die Annahme von "fundamental legal rules", Begriffen von "fairness" und "the moral sense" der Gemeinschaft überwinden. über "positive" Regeln des Naturrechts im allgemeinen siehe oben § 6 Anm. 4. Dias bietet ein "neues Naturrecht", das mit dem Positivismus durch den "time-frame of reference" in Einklang gebracht würde. Dias, Temporal Approach 77; ders., 531-532. 85 Peschka 14-16; ders., Rechtsnorm. Siehe auch Kelsen, Communist Theory. 88 Unten §§ 29-58. Dies trifft zu für das Dekret des Gottherrschers in Virgil, Roms jus gentium (§ 92), Englands common law (§ 37), die Vorschriften der Kirche (§ 4 Anm. 25-31), den Koran des Islam (§ 85), Grotius' Völkerrecht (§ 11), die "natural rights" des amerikanischen "due process" (§ 3B), die 81

82

Naturrecht

§ 31

65

2. "Naturredtt" als natürlidtes positives Recht

§ 29. Wer darauf verzichtet, die letztliche Quelle der Rechtsgeltung zu erklären, mag sich mit der Hypothese einer Grundnorm zufrieden geben (§§ 13, 23). Selbst jene, die sich als Positivisten bezeichnen, ziehen es dagegen vor, wie wir gesehen haben, diese Hypothese eines QuasiSollens durch ein freilich stets willkürliches Bekenntnis zu einem Quasi-Sein, einer Metanorm - Gott, Natur, Vernunft, Intuition oder Anerkennung - zu ersetzen oder zu ergänzen (§§ 14, 24). In vorhergehenden Abschnitten haben wir einen ersten Blick auf die schwankenden Beziehungen dieser Metanormen zu gesetzten Apex-Normen in ihrer jeweiligen monistischen oder dualistischen Gestalt geworfen. Vor dem im zweiten Teil zu unternehmenden Versuch, die psychologische Bedeutung dieser Schwankungen zu analysieren, ist eine weitere Erläuterung anhand der geschichtlichen Entwicklung wie auch der zeitgenössischen Lehrmeinungen erforderlich'1. a) Geschichtliches (1) Wachstum und Rückzug

§ 30. Gott und Natur. Die Metanorm in unserer Struktur des Rechts kann entweder ideologisch apriori als eine Schöpfung des Glaubens und der Intuition oder pragmatisch aposteriori als von der allgemeinen Erfahrung, der "Vernunft" oder dem "Geist" des Menschengeschlechts hergeleitet verstanden werden. Wir haben mehrfach jener Philosophen gedacht, die sich mit apriori gegebenen absoluten Setzungen wie Gott oder der Natur (§§ 4-9) begnügen. Was an dieser Stelle noch zu tun bleibt, ist, die Lehre jener zu betrachten, die ihre Metanorm anderweitig gesucht haben. § 31. Gesellschaftsvertrag. In erster Linie gehören hierher alle jene, die davon ausgehen, daß die Notwendigkeit, den Menschen zur Sicherung ihres Daseins Beschränkungen aufzuerlegen und Schutz gegeneinander zu gewähren, zu einem Gesellschaftsvertrag geführt habe, der seine Mitglieder verpflichtet, allen von ihm abgeleiteten Normen zu gehorchen. Wir finden einen Ahnherrn dieses Gedankens in Epikur88 • Und wir können ihn weiterverfolgen in Marsilius' Volkskonsens, in

"Menschenrechte" der Vereinten Nationen (§ 38), den "sozialistischen Menschen" des Marxismus (§ 84) oder selbst Kelsens "wirksame" Rechtsordnung (§ 24). "Institutionelles Rechtsdenken" ist die "Common-Law" Ideologie der deutschen Doktrin. Vgl. statt aller Rüthers 45-47, et passim. G1 Allgemein Stone II Kap. 2-7. Vgl. etwa auch Betancur Kap. IV. 08 "Das der Natur gemäße Recht ist eine den Nutzen betreffende übereinkunft, einander nicht zu schädigen noch aneinander Schaden zu leiden." Epikur (Mewaldt), S. 60. über Epikur (342-270 v. Chr.) z. B. T. V. Sm1th (Hrsg.) II 152; Verdross 19; Truyol168-172; De Witt. 5 Ehreuawels

66

1. Kap.:

Recht und Gerechtigkeit

§32

Lockes pactum subiectionis und in Rousseaus "volonte generale"". Einige Philosophen, wie etwa Grotius, Pufendorf und Spinoza behandelten den Gesellschaftsvertrag als eine historische Tatsache; andere, wie Hobbes, Rousseau und Fichte als ein Postulat der Vernunft70 • In beiden Fällen haben wir es mit rationalisierenden oder gleichsam ästhetisierenden überlegungen darüber zu tun, was letztlich der willkürlichen Wahl einer Metanorm durch den einzelnen oder einer Gruppe zuzuschreiben ist, einer Wahl, die immer den verschiedensten politischen und emotionalen Zwecken dient. § 32. Kants kategorischer Imperativ. Die Funktion der Vernunft ist nicht nur so verstanden worden, daß sie den Menschen zur freiwilligen Preisgabe seiner Freiheit in einem Gesellschaftsvertrag veranlaßt hat. Vielmehr ist sie auch oft als die unmittelbare Quelle allen Rechts angesehen worden. Wir haben diese Ansicht in der Lehre von Aristoteles und Thomas von Aquin gefunden und werden sie wieder in Cokes Begriff des "common law" (§§ 4, 37) antreffen. Ihre höchste neuere Entfaltung erfuhr sie in Kants "Kritik". Der Mensch als freies und vernunftbegabtes Wesen muß dem kategorischen Imperativ folgen, indem er sich so verhält, als ob er wolle, daß die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne71 • Was wir hier mit Nietzsche sagen dürfen und müssen, ist, daß Kant ein geringer Psychologe und Menschenkenner war 72 • Er hat uns nichts gelehrt über die bewußten und unbewußten Vorgänge in der Bildung und im Wirken des Rechtes. Hier kann uns seine Vision ebenso wie Spencers ähnliche Lehre von der Gerechtigkeit73 nicht mehr geben als seine Metanorm, die er apriori annimmt, und die außerdem auf jede Unterscheidung von Recht und Moral verzichtet.

ev über Marsilius (1280-1342), Locke (1632-1704) und Rousseau (1712 bis 1778) z. B. RusseH 470, 629-633, 694-701; Verdross 89, 113-115, 117-121. über Marsilius siehe auch Truyol 372-375; Gewirth; über Locke, Cox; Polin; Wild 127-132; über Rousseau Durkheim, Forerunners 63-138; Brimo 95 bis 130; Röhrs. 70 über Grotius (1583-1645), Pufendorf (1632-1694), Spinoza (1634-1677), Hobbes (1588-1679) und Fichte (1762-1814) z. B. RusseH 569-580. über "Hobbes im deutschen Sprachraum" - eine Bibliographie, vgl. Reinhard Stumpf. 71 Kritik der praktischen Vernunft I, 2. Buch, 2. Hptstück V. Eine Bibliographie über Kant (1724-1804) gibt Beck (535-539). Siehe insbesondere RusseIl 701-718; Beck Kap. XVII; Stone II 82-84; M. Cohen Kap. 4; Jolowicz Kap. VII; Welzel 167-172; Brimo 131-140; Ludwig Schneider; Kaulbach 43; Verdross 136-143; Kroner 166-200; Brecht 368; T. C. Williams. 72 Nietzsche I 691. Villey, Arch. Phi!. Dr. 16 (1971) 257 spricht der Kantschen "Rechtslehre" jede Bedeutung als solche ab. 73 über Spencer (1820-1903) z. B. Stone II Kap. I, 9. über seinen Versuch einer biologischen Begründung seiner Botschaft Verdross 175. Siehe auch Royce.

§ 84

Bentham

67

§ 33. Benthams Lust und Unlust. Unter den großen Denkern der Vergangenheit brachte Bentham am dramatischsten den Relativismus seines Jahrhunderts zum Ausdruck?'. Noch bedeutsamer ist, daß er nächst Hume den Erkenntnissen der Psychologi-e unserer Zeit vielleicht am nächsten kam. Wie für Epikur (§ 31) und Freud (§ 162) war auch für ihn das Lustprinzip die hauptsächlichste Triebkraft allen Handeins. Und wie die meisten modernen Psychologen und viele ältere Philosophen (§§ 168-174) wußte er viel von jenen Trieben, die um Lust und Unlust für immer unversöhnlich einander widerstreiten. So verzichtete er denn auf Moral und Tugend als leere Symbole einer absoluten Gerechtigkeit75 . Aber ihm f-ehlte die Kenntnis des 20. Jahrhunderts von den irrationalen Bestandteilen unserer Motivationen und deshalb benötigte er noch die Krücke einer "rationalen" Hypothese. Er fand sie in dem Postulat des größten Glücks der größten Zahl, das er Beccarias "massima felicita divisa n-el maggior numero"78 zuschrieb. Aber um seine These von dem Recht des einzelnen auf sein persönliches Glück nicht der neuen auf das Glück "der großen Zahl" ausgerichteten Metanorm zu opfern, mußte auch Bentham zu einem Kompromiß Zuflucht nehmen. Da er -es durchweg ablehnte, das Recht irgend eines einzelnen als "unveräußerlich" zu behandeln, mußte er zu der fiktiven Identifikation des eigenen Glücks mit dem des Nachbarn greifen77 • Wenn er auf diese Weise dazu gelangte, die moralische Ordnung in dem Gleichgewicht der Interessen zu sehen, so übernahm er damit auf Kosten seines psychologischen Denkansatzes Kants Metanorm des kategorischen Imperativs78 . § 34. MUts allgemeine Nützlichkeit. Benthams Kompromiß zwischen Vernunft und Fiktion tritt noch augenscheinlicher in der Lehre seines Schülers John Stuart Mill hervor. Skeptisch gegenüber der These seines Lehrers von dem sich selbst regulierenden Gleichgewicht zwischen den Interessen der einzelnen, kehrte er offen zu einem "absolut gesetzten" Gefühl vom Richtigen und Falschen und zu einem Begrüf der "allgemeinen Nützlichkeit" zurück, das er von dem des "gewöhnlich Zweckmäßigen" unterschied79 . Diese und ähnliche utilitaristische Lehren ha74 über Bentham (1748-1832) z. B. Russell 773--777; Friedmann 312-320; Stone II 105-146; Salmond § 3; Jolowicz Kap. VI; Brimo 180; Coing 48-50; Verdross 121-122. Hutcheson (1694-1747) mag als einer von Benthams Vorläufern angesehen werden. Für eine weit ausgreifende naturrechtIiche Kritik vgl. Shakankiri, insb. 416-t33 mit wertvoller Bibliographie 435-451. 75 Bentham, passim; ders., Morals Kap. 3--5. 78 über Beccaria (1738-1794) unten § 176 Anm. 1; auch Alfange 62; Maestro. 77 Vgl. z. B. Kraft 17; Hare Kap. 7. 78 Oben § 32. Siehe z. B. Verdross 122; Friedmann 315; und Bentham selbst: "That which is used to prove everything else cannot itself be proved." Bentham, Morals Kap. I, § 11. 18 über MiII (1806--1873) z. B. Russell 777-778; Stone II 149; Bodenheimer, Justice 25-33; Ryan; J. L. Cowan 104, et passim; Clarence Morris 69-76. Vgl. im allg. MUl.

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

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§35

ben sich bis in unsere Zeit erhalten. So mag man eine spätere Angleichung an sie in Lester Wards "dynamischer Soziologie"SO sehen ebenso wie in den Lehren von Sidgwicks1 und G. E. MooreS!. Auch Huizingas ewiges "Spiel" in Kultur und Recht dient wieder einer "Beherrschung von Natur", die "auf materiellem, moralischem und geistigem Gebiet einen Zustand aufrechterhält, der höher und besser ist, als es die gegebenen Verhältnisse mit sich bringen"83. § 35. Savignys "Volksgeist" (histoTische RechtsschuJe). Neben dem klassischen Utilitarismus von Bentham und Mill, Jherings soziologischen Anfängen (§ 36), der militanten Vernunft der Aufklärung (§ 127), der ausgleichenden Vernunft des common law (§ 37) und dem allgegenwärtigen Prinzip des amerikanischen "due process" (§ 38) muß auch die historische Rechtsschule, die von einer anderen naturrechtlichen Metanorm ausging, erwähnt werdens,. Karl Friedrich von Savignys antirationale und anti-utilitaristische Lehre ist dem marxistischen Glauben an die über allem stehende Weisheit des "kommunistischen Menschen" verwandt (§ 7). Sie sah die Quelle und das Schicksal des Rechts in der "allgemeinen überzeugung des Volkes". Savigny, wie Hegel (§ 59) und Kelsen (§ 23), wurde von manchen für Hitlers ungeheuerliche Berufung auf das "gesunde Volksempfinden" verantwortlich gemacht85 . Berechtigt erscheint andererseits die Beobachtung, daß sein Widerstand gegen die Gesetzgebung die deutsche Kodifikation um ein Halbjahrhundert verzögert hatSI. Keinesfalls können wir aber Savigny dafür verantwortlich machen, daß so manches Argument für diesen Widerstand in der Demagogie jenes J. C. Carter wiederkehrte, der D. D. Fields benthamistische Vorschläge für die Kodifikation des amerikanischen Rechts

Ward 11 139-147. Siehe auch R. Kessler. über Sidgwick (1838-1900) z. B. Friedmann 34. 82 G. E. Moore (1873--1958) fügt dem Wert der "pleasantness" andere konkurrierende Werte hinzu und stellt den Begriff der allgemeinen über den der individuellen Nützlichkeit. Siehe insbesondere G. E. Moore, Utilitarianism. Vgl. z. B. Frankena. 83 Kussbach 182. über Huizinga (1872-1945) unten § 58; auch z. B. Lorenz, Er 40. 84 über Savigny (1779-1861) z. B. Friedmann 209-213; Stone 11 167; Wilhelm Kap. I; Jolowicz Kap. 111; Brimo 159-163; Dawson 451-455; Dias 168 bis 177; über Nikolaus Falck vgl. Volk. Siehe auch Puchta §§ 6, 10, 11, 15, 33, der wegen der von ihm hinzugefügten "Genealogie" individueller Normen als "Pfadfinder einer Begriffsjurisprudenz" bezeichnet worden ist. Zippelius 10-11; Wilhelm Kap. 2. Einen Vergleich zwischen den Formulierungen der historischen Schule und dem stets sich wandelnden "objektiven Geist" der Phänomenologie zieht Troller 22-28. Allg. vgl. Solari §§ 18-23. 85 Brimo 163--173. über Savignys Beziehung zu Hegel z. B. Mitchell Frank80

81

Un 773--789.

88 Wieacker 388-399. über Savignys früheres Vertrauen auf kodifiziertes Recht, Larenz 11.

§

37

Jhering

69

bekämpfre87 . Jedenfalls bleibt Savignys dauerndes Verdienst die Förderung der großen historischen Studien des vorigen Jahrhunderts 88 . § 36. Jherings "Zweck". Rudolf von Jherings große Abhandlung über den Geist des römischen Rechts und sein Kampf gegen die Begriffsjurisprudenz, der die deutsche Kodifikation (§ 98) vorbereitete und unterstützte, haben ohne Zweifel einen unauslöschlichen Widerhall in der Geschichte der Rechtstheorie gefunden. Aber man mag bezweifeln, ob sein Buch "Der Zweck im Recht" "einer der bedeutendsten Marksteine in der Geschichte rechtlichen Denkens"8t genannt werden kann. Sein Versuch, die Interessen des einzelnen mit denen der Gesellschaft in Einklang zu bringen, war so problematisch wie der seiner utilitaristischen Vorgänger und seiner "soziologischen" Nachfolger (§§ 33, 34, 52). Sein Begriff des Zwecks als eines universalen Prinzips war, da ihm die unerläßliche psychologische Fundierung fehlte, nichts anderes als eine neue Metanorm seiner eigenen Wah190 • Duguit, der vieles von Jhering übernommen hat, teilte dessen Schicksal mit seinem eigenen Begriff der "sozialen Solidarität", die er als vom menschlichen überlebenswillen diktiert sahtl.

§ 37. Das Common Law. Seit Jahrhunderten, zumindest seit Sir Edward Coke und bis vor kurzem entsprach es der "offiziellen" Lehre des common law, daß die Richter das Recht nicht schaffen, sondern es nur finden als "eine künstliche Vollendung der Vernunft, die durch langes Studium erworben wird", und der gegenüber niemand als "klüger angesehen werden könne"t2. Ursprünglich diente diese Fiktion dazu, die Inanspruchnahme der rechtgebenden Gewalt durch das Parlament und der Priorität der equity gegenüber dem common law durch den Lordkanzler zu bekämpfent3 . Später berief man sich auf die "Vernunft" 87 Siehe James C. Carter; über die Kontroverse zwischen Carter (1827 bis 1903) und Field (1805-1894) unten § 100; auch Patterson § 4.33. 88 Mommsen (1817-1903); Bachofen (1815-1887) (Wieacker, Gründer 162 bis 180); Feuerbach (1775-1883) (Radbruch, Feuerbach; Kipper 84); Maine (1822-1888); Vinogradoff (1854-1925); und Lord Bryce (1838-1922). Siehe auch Wieacker § 22; Friedmann 223; Gianturco 333-334. 8. Friedmann 322. Vgl. auch Wertenbruch. über Jherings (1818-1892) frühe begriffsjuristische Periode siehe Larenz 24-27; Wilhelm 123-124. Scharfe Kritik seines "Pragmatismus" findet sich bei Erik Wolf, Rechtsdenker 651; Lob seiner "vergleichenden Rechtswissenschaft" bei Zweigert-Suhr; und eine vielleicht nicht unbedeutende Episode in seinen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten erwähnt Ehrenzweig, 33 Albany L. Rev. No. I (1968). 80 Allgemein Bodenheimer § 23; Patterson 459-464; Stone II 147-159; Jolowicz 167-168; Brimo 183; Larenz 44-50. Für phänomenologische Kritik siehe Troller § 19. tl Brimo 193-208; Friedmann 229-236; Brecht 128-130; unten § 39 Anm.9. I! Coke (1552-1634), Institutes Pt. I, §§ 138-197. Siehe R. Berger 352-355; Milsom; John U. Lewis. • 3 Z. B. Friedmann 133-136; Friedrich Kap. X; John U. Lewis 338-339.

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1.

Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 38

des common law, um Bestrebungen für eine Kodifikation zu begegnen und um das Writsystem neuen Bedürfnissen anzupassen". Der klassische Kampfruf nach einem naturrechtlichen common law aber ist Blackstone zugeschrieben worden. Diese Annahme mag richtig oder falsch sein91 • Jedenfalls lebt die Konzeption eines naturrechtlich begründeten common law noch in vielfältiger Weise fort: (1) in der orthodoxen Theorie des Precedent, nach der alles was jetzt als Recht gefunden wird, immer Recht war (§ 106); (2) in gewissen Ideologien auf Rechtsgebieten, in denen noch der Geist ihrer Begründer vorherrscht9S ; (3) in dem politisch beladenen anglo-amerikanischen Schlagwort von der "rule of law"; (4) in gewissen seltsamen Urteilssprüchen und Doktrinen97 ; (5) in solchen Unterscheidungen wie der zwischen "Rechtsgrundsätzen" und "Rechtsnormen"D8; und vor allem (6) in der orthodoxen RechtstheologieD9 . Im übrigen aber enthält das common law in seinen heutigen Darstellungen keine Prinzipien des Naturrechts mehr. In der Tat haben amerikanische Gerichte begonnen, sogar dann, wenn sie erklären, durch die in einem vorhergehenden Fall gefundene Regel gebunden zu sein, dieser Regel künftige Gültigkeit abzusprechen. Durch diese Praxis, die "prospective overruling" genannt wird, wird natürlich die Fiktion einer Grundlegung des common law in einem unveränderlichen Naturrecht preisgegeben100. § 38. "Due Process", Menschenrechte und Widerstandsrecht. Ungeachtet der fortschreitenden "Säkularisierung" des common law bleibt es bedeutsam, daß die Begründer der Verfassung der Vereinigten Staaten und deren Zeitgenossen den Glauben ihrer Zeit an ein vorgegebenes Naturrecht teilten. James Wilson hat diesem Glauben in beredter

Z. B. Milsom; auch oben Anm. 87. über Blackstone (1723-1780) siehe Plucknett 297-300; Aumann 30; Seagle Kap. X; Stone II 72-73; oben § 6 Anm. 6; unten § 88. In diesem Zusammenhang vergleiche Patterson § 5.03 und Boorstin 50, passim, mit Finnis, passim. 9B SO trägt das amerikanische internationale Privatrecht einerseits noch die Kennzeichen von Story's Essay über das Naturrecht und andererseits Kennzeichen solcher Absurditäten wie Beales unwandelbares common law einer Wildwest justiz, die angeblich von einer Klagezustellung an einen zufällig seines Weges ziehenden Wanderer abhängen kann. Siehe Ehrenzweig, Treatise §§ 2 Anm. 3-5, 4, 25. 97 Siehe Ames, passim. 98 Ronald Dworkin, Rules 35-60. 99 Z. B. Brendan Brown 495. Vgl. Kessler, Natural Law 32--34, 58. 100 Z. B. Patterson § 5.04; Friedmann 507-511; unten § 108. 84 05

§ 38

Due Process

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Weise Ausdruck verliehen101 . Zwar mögen diese Theorien im allgemeinen jegliche Bedeutung verloren haben. Aber insoweit als der frühere Glaube an ein Naturrecht in die Verfassung Eingang gefunden hat, ist er ein höchst bedeutsames Werkzeug gerichtlicher Rechtsschöpfung geworden102. Vom Anbeginn der Republik wurden die "natürlichen Rechte" als Teil ihrer Grundrechte behandelt, selbst als die Lehre vom Gesellschaftsvertrag ihr früheres Gewicht verloren hatte10a . Und heute ist das Postulat des "due process" genauso sehr positives Recht in den Vereinigten Staaten geworden wie die "Generalklauseln" typischer Gesetzbücher in Ländern des civil law l04 • Nur wenige werden deshalb Justice Douglas' Bedenken darüber teilen, daß der Supreme Court nicht davor zurückschreckt, seinen verfassungsrechtlichen Urteilen ",Naturrecht', ,due process' und ,Gewissensschock'" zugrundezulegenlo5 • Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (10. Dezember 1948) statuiert in ähnlicher Weise die Freiheit des Richters als Implementierung der naturrechtlichen Begriffe "der Moral, des ordre public und der allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft"108. Eine Serie mehr ins einzelne gehender Konventionen soll in diesem Sinn eine International Bill of Human Rights vorbereiten107. Aber außerhalb solcher Auslegung besonderer Gesetzgebung müssen Philosophen und Juristen auf der Hut sein vor einer weiteren Flucht in das Niemandsland neuer Metanormen. So müssen wir nutzlose Diskussionen um eine "vorpositive Existenz von Menschenrechten"108 zu vermeiden suchen, auch auf die Gefahr hin, uns damit 101 Z. B. Friedrnann 136-151; Corwin; Reuschlein 26. über James Wilson (1742-1798) siehe Bodenheimer 51-52. 102 Z. B. Rochin v. People of California, 342 U.S. 165, 169 (1952). 103 Z. B. Calder v. Bell, 3 Dall. 386, 388 (U.S. 1798) ("social compact"); Wynehamer v. People, 13 N.Y. Rep. 387 (1856) ("absolute private rights"). 104 Unten §§ 62, 107; Friedrnann 136-151. Ein bedeutsames Beispiel der Schwierigkeiten bei der übertragung dieser zivilrechtlichen "equity" in andere Rechtssysteme behandelt Krzeczunowicz (Äthiopien). lOS Sniadach v. Family Finance Corporation of Bay View, 395 U.S. 337, 350 (1969). Justice Douglas fragte: wenn die Richter so "nur auf die Ermahnungen ihres Gewissens verwiesen werden, warum wurde uns dann von den Gründern überhaupt eine geschriebene Verfassung gegeben?" Ders. auf S. 351. Zunehmender Bezug auf "natürliche Rechte" wie das auf Fortpflanzung mag der Doktrin einen neuen Bedeutungsgehalt geben. über die sog. "rule of law" siehe z. B. Opalek, Rule of Law. Eine ausgezeichnete übersicht über die Entwicklung des gleichbedeutenden "Rechtsstaat"-begriffs und damit auch Einsicht in seine analytische Inhaltslosigkeit gibt Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates (1970). 108 Art. 29 (2). Siehe z. B. Wortley Kap. 13-18; Marsh. 107 über die im Jahre 1968 abgehaltene Konferenz über Menschenrechte in Teheran (UN Document A/Conf. 32/4) vgl. Schwelb. Im allgemeinen siehe Frank Newman. lOS Hart, Natural Rights ("equal right of a11 men to be free"). Vgl. auch z. B. Herbert Morris 493 ("personality"); Van der Ven 266 (existentialistische "Ge-recht-igkeit").

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1.

Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§39

als "großherzige Liberale" zu entpuppen109 • Besonders müssen wir uns dagegen verwahren, wenn angebliche "Menschenrechte" für solche politische Forderungen mißbraucht werden wie einerseits die nach "freiem Unternehmertum" und andererseits die nach seiner willentlichen Beschränkung. Das kritischste Beispiel für den Drang eines "Naturrechts", positives Recht zu werden, ist vielleicht der Ungehorsam gegenüber dem positiven Recht unter Berufung auf eine "höhere" Ordnung. Wir werden dieses brennende Problem als ein besonderes Thema für sich behandeln (§§ 63-74), aber es auch im Auge behalten, wenn wir uns zunächst mit dem sogenannten Wiederaufleben des Naturrechts befassen. (2) Wiedergeburt

§ 39. Das Erbe. In der katholischen Kirche hat das Naturrecht bis heute nicht an Bedeutung verloren (§ 4). Im Jahre 1879 übernahm die Enzyklika Aeterni Patris die Lehre des Thomas von Aquin als bevorzugte Rechtsdoktrin1 • Diese Tradition durchdringt die lateinamerikanische Rechtstheorie l und hat zahlreiche Gegenstücke in protestantischen Positionen3 • Die vielleicht hervorragendste Figur in der weltlichen Bewegung einer Wiederbelebung des Naturrechtsgedankens war Stammler, der sich darum bemühte, Kants Kritiken, sowohl die der reinen als auch die der praktischen Vernunft, für die Rechtstheorie nutzbar zu machen4 • Aber sein sich aus diesem Bemühen ergebendes "richtiges Recht" war trotz dessen zugegebenen Veränderlichkeit lediglich eine weitere Metanorm. Und Stammlers ergänzende Grundsätze des Respekts und der Teilnahme5 gleichen Harts und Fullers umstrittenen und widerlegten Katalogen (§§ 44-46). Aber Stammler konnte zu seinen Schülern keinen geringeren zählen als den Schweizer Gesetzesschöpfer Eugen Huber, der ihm sein letztes und bedeutendstes Werk 108 Strauss 5. über diesen vielleicht allzu angriffslustigen Philosophen siehe auch oben Anm. 43; unten § 42 Anm. 6. 1 Aetemi Patris, August 4, 1879, Acta Sanctae Sedis, Bd. 12, 97, 106-115 (1879). Siehe auch Rerum Novarum, May 15, 1891, da selbst Bd. 23, 641, 656 bis 659 (1890-91); Pacem in Terris, April 11, 1963, Acta Apostolicae Sedis, Bd. 55 (Ser. IrI, v. V.) 257, 271 (1963). VgI. Friedmann 387; Rommen 45-57; Maritain, passim; Messner, passim; Wieacker 599-603. Z Kunz, Survey; Yntema, Literature 275-276. a Z. B. Brunner 31; Schelauske 170-191; Midgley, Karl Barth. 4 Oben § 32. über Stammler (1856-1938), z. B. Patterson § 4.23; Friedmann 179-186; Coing 70-75; Stone I 166-181; Brimo 141-144; Larenz 88-96; Erich Kaufmann 107 ("objektiver Idealismus"); Brecht 205-206; Treves § 10; H. Kantorowicz, Lehre, passim. 5 Stammler 161-166; ders., Lehre 52, 57, 141, 153.

§ 39

Wiedergeburt des Naturrechts

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widmeteo. Ähnlich nahe an seine Lehren kamen DeI Vecchio' , Saleilles und Llambias de Azevedo8 • Greifen wir, um eine übersicht über diese Bewegung zu bekommen, auf Friedmanns Zusammenfassung zurück: "Spencers Prinzip der Evolution, Duguits ,soziale Solidarität', Kohlers Evolution der ,Kultur', Pounds ,Social engineering', Riperts ,Regle morale', diese und ein Heer von anderen verkörpern ein naturrechtliches Ideal in dem modernen relativistischen und evolutionären Sinne unabhängig davon, ob sie sich selbst diese Bezeichnung zugelegt haben oder nicht9 ." Fries' und Nelsons "Postulate", Honores Glaube an eine absolute Gerechtigkeit und Cohens "good life" als ein Synonym der Gerechtigkeit mögen dieser Liste "naturrechtlicher" Lehren hinzugefügt werden10. Auch Jerome Hall würde sich einer Einbeziehung seiner These von der "objektiven Geltung moralischer Urteile" nicht widersetzen; gleiches gilt für Maritain hinsichtlich seines Naturrechts der Vernunft; und für Hauriou hinsichtlich seiner göttlichen und unabänderlichen Idee der Gerechtigkeitl l . Auch Friedmann wurde zum "Naturrechtier malgre lui" erklärt, weil er es für möglich hält, "Maßstäbe und Werte zu erarbeiten, die von verschiedenartigen Menschen angenommen werden können"1!. Aber wenige Autoren könnten eine solche Klassifizierung leichter widerlegen. Dies gilt kaum für Perelman, obwohl er darauf verzichtet, von "absoluten und objektiv gegebenen Werten und Wahrheiten" auszugehen. Denn wie können wir ohne Bezugnahme auf ein Naturrecht seinen Glauben an bestimmte Ideen der Gerechtigkeit verstehen, die "für alle vernunftbegabten Wesen gelten und von dem auditoire universei angenommen sind"13? Was Perelman uns am Ende zurückläßt, Siehe Eugen Huber 82-241; unten § 51. DeI Vecchio (1878-1970) Kap. VIII; ders., Essays. Siehe Blackshield, Justice 55-78; Vela; Brimo 144-149. Eine Verteidigung von deI Vecchios Originalität unternimmt R. Newman in deI Vecchio, Essays S. X. Aber vgl. z. B. Brecht 322-324. 8 Siehe Bibliographie. Siehe auch Kunz (Hrsg.) Kap. 111; Haines 252-258; Naegeli Pt. IU. e Friedmann 154. über Spencer oben § 32 Anm. 72; über Duguit (1859 bis 1928) oben § 36 Anm. 91; über Kohler (1849-1919), Stone 11 184-192, Larenz 32-33; über Ripert (1880-1958) unten § 214 Anm. 75; Brimo 338 bis 343. Allgemein auch Stone 11 Kap. 7; Frosini 56-61. 10 über Fries (1773-1843) und Nelson (1882-1927) siehe Gysin Kap. 6. Auch Honore (geboren 1906) 61-94; F. S. Cohen; Morris Cohen 97-114; C. I. Lewis 482-483. 11 Hall (geboren 1901), Living Law 80; Maritain (geboren 1882) 78; Hauriou (1856-1929) 11-12; auch Hansjürgen Friedrich 14-16. über die politischen Folgerungen aus Haurious Theorie der "Institutionen" siehe Friedmann 239-242; Gurvitch. 12 Montrose, Friedmann 433. 18 Perelman (geboren 1912), Idea 86-87; ders., Theorie Pure. Siehe auch Friedmann 23, 24. e 7

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 41

ist Gleichheit im Sinne von IDpians Tautologie des "suum cuique"14. Auch RawZs Wiederentdeckung der Gerechtigkeit als "Fairneß" ist letztlich bloß eine neue "natürliche" MetanormUi. § 40. Nachkriegs-Trauma. "Wenn Glaube und Gewißheit ins Schwanken geraten, lebt die idealistische Philosophie wieder auf 1s." Beispiele sind in unserer Zeit nur zu häufig. Wir beginnen mit Duguits Flucht in die "Gerechtigkeit" nach dem ersten Weltkrieg (§ 36). Und wir fahren fort mit dem Wiederaufleben des Naturrechts nach dem zweiten Weltkrieg, das zumeist dem schlechten Gewissen Nachkriegsdeutschlands und Nachkriegsitaliens zugeschrieben worden ist17 • Heinrich Mitteis benötigte nur die "Luft, die wir atmen" als Grundlage seines Naturrechts18 • Wahrscheinlich am dramatischsten aber bleibt die Nachkriegs"bekehrung" zum Naturrecht von Gustav Radbruch in Deutschland und Antoni in Italien1'. Ein Widerhall in anderen Ländern ist nicht ausgeblieben. Dabin ist zum Willen Gottes zurückgekehrt, obwohl er seine Einordnung als Thomist energisch zurückweist20 ; Villey und Marcic haben sich zu jenem "existentialistischen" Fundamentalismus bekannt (§ 41), den Maslow als die "Einheit der alten Trias des Wahren, des Guten und des Schönen" interpretiert21 • § 41. Das ,,Phänomen" 'Vorgegebener Werte. Die ethische Malaise der Vor- und Nachkriegszeit dürfte auch jene Lehrsätze der Phänomenologie mitverursacht haben, die Mystik geblieben sind (§ 8). In Erinnerung an alte Vorbilder haben Max Scheler22 und Nicolai Hartmann23 14 Perelman, Idea 36, 80-82. Siehe Stone II 326; Vllley 118; ders., Fonnation 39; und oben § 5 Anm. 48. 11 Rawls (geboren 1921), passim; ders., Fairness. Siehe auch unten § 151 Anm. 17; Stone II 331; Perelman 25-33; Bagolini 190-192. 18 Friedmann 152. 17 Z. B. Bobbio 21-23, 83, 179-182; Friedmann 350-356; Friedrich 78; Wieacker 596-625; Schelauske 15-19. Contra Baratta. Siehe auch unten § 74 Anm. 65; Kessler, Natural Law 34. 18 Mitteis 5. 11 Über Radbruch unten § 43 Anm. 7, § 51. Siehe Antoni; contra Piovani, Antoni. Gegen die "Bekehrungs"-Theorie, Erik Wolf, Radbruch; Brecht 564. zo Über Dabin (geboren 1889), Brimo 343-347. Z1 Maslow 84, passim; auch Schelauske 140-154. Für Werke von Marcic und Villey siehe Bibliographie. Steininger 225 begnügt sich mit einem den einzelnen Rechtsordnungen innewohnenden Naturrecht. 2Z Scheler (1874-1928) II B 3; unten § 149 Anm. 2. Eine Kritik von Schelers Abweichung von seinem Lehrer Husserl (oben § 8 Anm. 28) gibt z. B. Brecht 383-84. Siehe auch etwa Ferraz 142-144. 23 N. Hartmann (1882-1950), Ethik, Kap. 29 e; ders., Problem 406-564. Vgl. etwa Friedmann 197-201; Villey 100, 103; Larenz 118-126; Schelauske 115-117; aber auch Poulantzas 19 ff.; Brecht 383-384. Troller versucht, Hartmanns Idee, die von dem "objektiven Geist" allein ausgeht, mit einer Phänomenologie in Einklang zu bringen, die auf dem menschlichen Bewußt-

§41

Phänomenologie

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Schemata konstruiert, die der menschlichen Erfahrung vorgegeben sein sollen oder zumindest neben ihr bestehen, in offenbarer Sympathie mit G{mys rationellen und idealen donnes. Reinach, Gerhart Husserl, Luijpen, Diemer und Zippelius24 sind einig darin, daß außer den von unseren Sinnen wahrgenommenen Dingen und außer psychologischen Fakten "an sich" noch andere Phänomene existieren, die wie mathematische Formeln dem menschlichen Geist auch dann "verfügbar" sind, wenn kein einziger Mensch sie im Augenblick denkt. Welzels "Sachlogische Strukturen", Amseleks "normes qui se donnent objectivement comme juridique dans leur historiete meme", und Henkels "Vorgeordnete Bahnen" von "Gesetzmäßigkeiten" führen zu demselben Ergebnis - oder demselben toten Punkt, während der Argentinier Carlos Cossio noch seine eigene "egologische" Phänomenologie mit Kelsens "juristischer Logik des Sollens" zu verbinden hofft25 • So scheint es denn unvermeidlich für den Phänomenologen, der Ethiker oder Philosoph sein will, seine quasi-mathematischen Formulierungen mit ethischen Werten gleichzustellen wie dem des "treuen Verhaltens"2B und so zum Erbauer neuer Metanormen zu werden. Wenn so gesagt werden kann, daß die Phänomenologen an dem Wiederaufleben des Naturrechts beteiligt waren!7, so gilt Ähnliches von John Wilds "dynamischer Theorie", der gewisse "perfective tendencies" sein und dem "wirklich gelebten Dasein" sowohl der Individuen wie der Gemeinschaften beruht. TroIler §§ 5, 21, passim. Er räumt ein, daß "die selbständige Daseinserkenntnis schwer und nur wenigen und auch diesen nur in Bruchstücken möglich ist". Ders. S. 175 Anm. 7. VgI. auch aus dem bahnbrechenden Werk Ernst Cassirers, Bd. III 27--41; und Betancur, Anh. t4 Siehe Bibliographie; auch Mandelbaum; Edie (Hrsg.); Larenz 132-141 über das, was er eine "Wertungsjurisprudenz" nennt. Aber vgI. Emge 87, 116; TroIler 86-89. 25 Welzel (geb. 1904) 243; Amselek 357; Henkel, passim (auch Schelauske 244-245; Serrano Villafafie 75-77); Cossio (geb. 1903) 365 (auch ders., Judgment; ders., Impugnaci6n; Friedmann 201-202; Brimo 382-390; Mantilla Pineda; Poulantzas 29 Anm. 29; Reale 56; Machado Nato; Naranjo). 28 Zippelius 30. 27 Vgl. aber Troller, Rechtserlebnis 54, für den das Naturrecht nur ein Symbol einer gerechten Ordnung als einer Ganzheit ist. Er beschränkt im wesentlichen seine "Vorgegebenheiten" auf den Menschen als Individuum in einer Symbiose, die bestimmte Organisationsformen erfordert. TroIler 191. Andere Vorgegebenheiten stellt er richtig als bloß innerhalb der Struktur .. möglich" hin, in bezeichnendem Gegensatz zu anderen Phänomenologen. Siehe insbesondere seine Bedenken bezüglich Eugen Hubers Beinahe-Phänomenologie (Huber 27-29, 157-158), der "reaIia" und Logik zu seinen Elementen der Rechtsordnung hinzufügte. Ders. 159-162; auch unten § 91 Anm. 31. Lange vor den Versuchen der Phänomenologie, eine Vorgegebenheit des Vertrages zu schaffen, war man sich darüber klar, daß solche Versuche zu .. den gleichen unüberwindlichen Schwierigkeiten" führen, .. welche als die Grenzen unserer Erkenntnis allen Wissenschaften gemeinsam sind". Armin Ehrenzweig, Rechtsgrund 90. Ober den Versuch, eine Verbindung zwischen Phänomenologie und Jung herzustellen, siehe Richek und Brown.

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Recht und Gerechtigkeit

§41

wie die Triebe nach Ernährung und Erzi-ehung als "wesentlich für den Menschen betrachtet28 • Weniger klar hingegen ist das für manche Existentia.listen. Heidegger, Jaspers und Sartre erkannten den schmerzlichen Zwang zur Wahl zwischen widerstreitenden Werten2D, die Recasens-Siches in einer Hierarchie zu versöhnen suchtSo. Martin Bubers "personalistische" Botschaft verspricht Versöhnung im "DU"S1 und andere neue Lösungen bieten die vieldeutige "Natur der Sach-e" (§ 51). In Anbetracht der Ambivalenz existentialistischer Autoren, ihrer oft beabsichtigen Unklarheit und ihrer Abneigung, sich dem Problem von Recht und Gerechtigkeit direkt zu nähern, muß sich derjenige, der sich um dieses Problem bemüht, mit der zunehmenden Zahl solcher Autoren beschäftigen, die über den Existentialismus schreiben, ohne selbst Existentialisten zu seins2 . In diesen Arbeiten begegnen wir der Lobpreisung prä-existentialistischer Prophezeihung3s, einer "para-existentialistischen" Auslegung des Thomismus in der Suche nach menschlicher Würde 34 , Ansätzen zu einer historischen Synthese35 , theologischem Kompromiß38, einem existentialistischen FreirechtS7 , und, am klarsten, einem Naturrecht, das sich "hin zur Gestalt einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft zwischen Menschen" wendet38• Marcuse will eine existentialistische vom Todestrieb beherrschte Imagerie mit der Gottheit des Aristoteles und mit Hegels Geist verbindensD • Andere suchen Eros in ihrer Verwerfung der Naturwissenschaft in Anhänglichkeit an einen idealisierten homo ludens (§ 58) oder in einer Wiederverbindung der 28 John Wild, passim. Siehe Stone II 196-202; Kelsen, Justiee 174-197; ders., Ideologiekritik 232-292; Brecht 558-559. tt über Heidegger (geboren 1889), z. B. Verdross 217-218; Romano, Teeniea e giustizia nel pensioro di Martin Heidegger (1969); Villani, Heidegger. über Jaspers oben § 8 Anm. 29. über Sartre (geboren 1905) z. B. Naess; Poulantzas, Sartre; Klaus Hartmann. Der Phänomenologie ist auch zugute geschrieben worden, daß sie sich der Psychoanalyse genähert (Rieoeur 376--418) und Kelsen beeinflußt habe (Waldstein 181). 30 Reeasens-Siches (geboren 1903) Kap. 12; auch ders., Axiology 148-156. Siehe z. B. Friedmann 201-202; Reale 57-58. 31 "Der Mensch wird am Du zum Ich" Buber (1878-1965), Du 28; ders., Gutes. Siehe z. B. Schelauske 154-170; Wyss 405-407,545. 32 Z. B. Batt 1013-1023; Bodenheimer, Classieism 917-924; Stone 11 202-210; Bourke Kap. XVIII; Brimo 367-393; 415-427; Maslow 9-17; Blackshield, Existentialism; Welzel 209-219; Schelauske 140-154; Ehrenzweig, Phänomenologie; Ryffel 256-262. 33 über Kierkegaard (1813-1855), z. B. Bourke 296; Shestov. " Mareie 262-267, 274-276; ders., Naturrecht. Siehe z. B. Brimo 70-72. 35 Messner, Existenzordnung. 30 Bourke 299-301. Über Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) z. B. Chauchard. 37 Über Georg Cohn, unten § 57 Anm. 56, 57. 38 Maihofer, Existenzrecht 50. Siehe z. B. von der Heydte; Verdross

218-219. 30

Mareuse (geb. 1898) 111-118,122.

§ 43

Niedergang des Naturrechts

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"Werte des Seins" in "Selbstaktualisierung"·o. Vielleicht die eleganteste und sachkundigste Analyse der existentialistischen "Ethik der Doppeldeutigkeit" ist Jolivets Vergleich zwischen Sartres "Theologie des Absurden" und Don Quichotes Kampf gegen die Windmühlen. Beide finden ihre Heiligung in dem "Dienst an den Unterdrückten und Gedemütigten"". (3) Niedergang

§ 42. Frühe Anfänge. Man hat gesagt, daß Montesquieu die Naturrechtslehre untergraben habe, indem er die "notwendigen Beziehungen, die sich aus der Natur der Dinge ergeben", eng beschränkt und die Bedeutung der menschlichen Determinanten des Rechts betont habe l • Aber es war Hume, der zuerst dem modernen Skeptizismus die Tiefe jenes psychologischen Verständnisses gab, das allein die Glaubensillusionen ersetzen konnte. Für ihn hatte die Vernunft aufgehört, eine Metanorm zu sein. Sie "ist und soll nichts anderes sein als die Sklavin unserer Leidenschaften" und nicht ihre Herrin. Es ist nicht eine Metanorm, sondern unser "moralisches Gefühl", das die Rechtsordnung stützt. Und dieses Gefühl "entsteht nicht aus der Natur, sondern künstlich, wenn auch notwendig durch Erziehung und menschliche Konventionen". Es ist darum fähig auch auf "solche halben Rechte und Verpflichtungen" zu reagieren, auf die ich später als widerstreitende "Gerechtheiten" noch Bezug nehmen werde!. Humes Zeitgenossen sahen seine Lehre als "offenen Krieg gegen den common sense", "nicht weniger kühn und sinnlos als den der Giganten, um den allmächtigen Jupiter zu entthronen"'. Manche mögen noch heute mit Russell "hoffen, daß irgendwann einmal noch etwas weniger Skeptisches als Humes System entdeckt werden wird". Aber sie werden Russell darin zustimmen müssen, daß sich Humes System bis heute als unwiderlegbar erwiesen hat'. § 43. Unsere Zeit. In unserer Zeit war es Max Weber, der den "Kampf" gegen nichtverifizierbare Werte wiederaufnahm. Er folgte der Entwicklung unseres Rechtssystems von "charismatischer" Verkündigung über 40 Z. B. Batt 15; Maslow 207. Edel 12, 14, 52 unterscheidet seine "EP" (die "existentiale Perspektive") als ein bloßes Mittel von "stage-setting". Cl Naess 279. Siehe Jolivet 107; Beauvoir; oben Anm. 29. Vgl. auch etwa Brufau Prats,Moral, vida social y derecho en J. P. Sartre (1970). 1 Ober Montesquieu (1689-1755) z. B. Friedmann 29; Bodenheimer § 11; Durkheim, Precurseurs. Vor ihm wurde Spinoza (1632-1677) (IV 28, 45, 46, 53-54, 60) wegen seiner Opposition gegen das Naturrecht der Häresie geziehen. Vgl. Hampshire; Altwicker (Hrsg.); unten § 127 Anm. 61; § 157 Anm.61. I Hume (1711-1776) 415, 483, 531; unten §§ 127 Anm. 60, 153-171. a Thomas Reid 16. c Russe1l659-674. Siehe Friedmann Kap. 12.

78

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 44

gelehrten und empirischen Sachverstand und auto- wie theokratische Herrschaft zu beruflicher Rationalisierung, wobei ihm allerdings eine Einsicht in psychologische Zusammenhänge verschlossen blieb5 • Leo Strauss' und seiner Jünger heftiger Angriff bestätigt nur Webers großen Beitrag zur "Entnaturrechtlichung" der Rechtsphilosophie'. Radbruch war Weber darin verwandt, daß er die Wahl zwischen solchen Werten wie Gerechtigkeit, Nützlichkeit und Sicherheit dem Gewissen des einzelnen überließ7. Dieser überblick über einige Phasen in der Entstehung, dem Rückzug, dem Wiederaufleben und dem Niedergang der naturrechtlichen Metanormen soll noch um eine weitere Perspektive durch die Behandlung gewisser moderner Denkrichtungen erweitert werden, die ihrem Ansatz nach "soziologisch", "realistisch" oder "dialektisch" sind und deshalb passender als "Nicht-Schulen" der Rechtstheorie (§§ 47-58) dargestellt werden. Doch soll dieser Darstellung eine kurze Diskussion einer typischen Kontroverse vorangeschick:t werden, die immer wieder als ein bezeichnendes Beispiel für den fortdauernden Streit zwischen den traditionellen Schulen angesehen wird. b) Eine typische Kontroverse: FuHer und Hart § 44. Es ist hier die Annahme vertreten worden, daß die "Schulen der Rechtstheorie" nur durch die jeweils emotionell stärkere Betonung entweder des positiven Charakters allen Naturrechts (§§ 21-28) oder des naturrechtlichen Charakters allen positiven Rechts (§§ 29--43) zu unterscheiden sind. Der folgende flüchtige Blick auf den Streit über Recht und Moral zwischen dem "Positivisten" Hart und dem "Naturrechtler" Lon Fuller bestätigt diese Annahme, die auch durch das Studium anderer Schriften beider Autoren bekräftigt wird8 • Der erwähnte Streit bezieht sich auf Fullers Thesen über die Begründung der Rechtsordnung durch die "Moral" und über das, was er die "innere Sittlich5 Unten § 134. über Weber (1864-1920) z. B. Friedmann 245-247; Brimo 354-365; Stoyanovitch 77-112; und insbesondere Rheinstein, Introduction; auch H. S. Hughes (geboren 1916) 287-335; Parsons Kap. V; Schur; Loos. e Strauss 64-65. Siehe oben § 25 Anm. 43. 7 über Radbruch (1878-1949) z. B. Stone II 235-263; Ehrenzweig, Harvard; Larenz 102-105. über seine naturrechtliche Verwerfung von Nazi-Gesetzen

nach dem Kriege, die die Aufgabe früherer Anschauungen anzeigen mochte oder nicht, oben § 40 Anm. 21; Bodenheimer § 33; Friedmann 194 Anm. 6; unten § 51. über die verwandte Lehre von Wilhelm Sauer siehe Larenz 105-107.

8 Hart, Positivism; FulIer, Reply. Siehe auch §§ 25, 26; Hall 174-175; Brecht 331-335. Eine deutsche Würdigung von Fullers Lehre findet man bei Lewan. Eine andere bekannte Kontroverse (Fuller und Nagel) ist der Gedankenaustausch in 3 Natural Law Forum 68, 77, 82 (1958). Ein ähnlicher Konflikt findet sich innerhalb Northrops eigenen Werkes. Siehe Brecht

329-331.

§ 46

Fuller und Hart

79

keit des Rechts" nennt. Wir werden uns davon überzeugen, daß keine seiner Thesen begrifflich relevant ist. § 45. "Moral" und "Primärregeln". Für Fuller hängt die Geltung des Rechts von dessen "Annahme" durch die Mitglieder der jeweiligen Rechtsgesellschaft ab, die wiederum durch bestimmte "moralische" Qualitäten seines Anspruchs auf Gehorsam bedingt ist9 • In ähnlicher Weise verlangt Hart eine allgemeine Befolgung oder "tatsächliche Annahme". Seinen "neutralen" (verfahrensbezogenen), von ihm sogenannten sekundären Anerkennungsregeln10 fügt er aber noch "primäre Pflichtregeln" hinzu, die sich auch in vorrechtlichen primitiven Gesellschaften finden sollenll . Trotz seiner Neigung, diese Regeln als anthropologisch beweisbar zu betrachten, führt er so einen Begriff ein, der offenbar nichts anderes ist als seine eigene hypothetische Metanorm12, ebenso wie sein "Minimal-Naturrecht" und Fullers noch zu behandelnde "Moral". § 46. "Innere Sittlichkeit" und "Minimal-Naturrecht". Fuller verdient zwar Beifall dafür, daß er sich von vielen anderen "Naturrechtlern" distanziert. Denn er räumt ein, daß jegliche Suche nach einer Einigung über "substantielle" Inhalte von Moral und Gerechtigkeit unfruchtbar ist. Aus diesem Grunde weist er sogar Harts "Minimal-Naturrecht" zurücklS • Aber es wird uns schwer fallen, von diesem Naturrecht gewisse Elemente von Fullers eigener "innerer Sittlichkeit" zu unterscheiden, die "das Recht möglich macht". Manche seiner Anforderungen an das Recht wie dessen Bekanntmachung, Verständlichkeit und Klarheit, Mangel von Widersprüchen, zeitliche Konstanz sowie übereinstimmung zwischen dem tatsächlichen amtlichen Verhalten und der jeweiligen statuierten Rechtsnorm, sind zwar nicht mehr als "Mindesterfordernisse eines funktionierenden Rechtssystems" 14. Aber wir können wohl kaum die "naturrechtliche" Komponente solcher Maßstäbe einer "inneren Sittlichkeit" des Rechtes leugnen wie die seiner Allgemeinheit, seiner Zukunftswirkung oder seiner Beschränkung auf mögliche Forderungen. Noch können wir die Metarechtlichkeit der Behauptung über• Fuller, Morality Kap. IH. Allgemein Lewan. Vorgänger erwähnt z. B. Bierling I 29,43,82; oben § 26 Anm. 52. 10 Hart 111; oben § 26; auch Sartorius. Für einen früheren Gebrauch des Begriffes "Sekundärregeln", Ripert, Regles 575. 11 Hart Kap. V. über Hohfelds verwandte Begriffe, Hislop. Eine Kritik von Harts Dichotomie unternehmen Fuller, Morality 133; Eckmann 60--85. Siehe auch Gil-Cremades 22-25. 12 Oben §§ 14,24; auch Bodenheimer 144-145; Stone II 221-226; Summers, Hart; Olivecrona 1971, Kap. 1, 2. 13 Fuller, Morality 185-186. Siehe auch Gil-Cremades 24. 14 Friedmann 18, unter Bezugnahme auf Fuller, Morality Kap. II.

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

80

§47

sehen, daß gewisse Folgen menschlicher Beziehungen zu absurd sein können, um als rechtliche in Betracht zu kommen. Und Fuller selbst sieht in seiner "Sittlichkeit der Aspiration" ein "zentrales, unbestreitbares Prinzip dessen, was substantielles Naturrecht genannt werden kann"15. Fullers "Naturrecht" sowie jedes andere besteht, nach der Terminologie dieses Buches aus verschiedenen und oft widerstreitenden "Gerechtheiten", die bewußt oder im Unterbewußtsein den Prozeß der Konkretisierung bestimmen (§§ 15, 168-171). Diese Gerechtheiten können natürlich wie alle anderen ersetzt, mit neuem Gehalt versehen oder neu geordnet werden. Und das ist denn auch alles, was Hart in seiner Kritik an Fullers System tut und tun kann. Wir hören von "menschlicher Verletzlichkeit, annähernder Gleichheit, begrenztem Altruismus", die alle auf das Mindestziel des überlebens zurückzuführen seien und sich wie "na.turgegebene Notwendigkeiten" als "unverzichtbare Merkmale eines nationalen Rechts" darstellen sollen18. Kein Wunder, daß Hart ebenso wie Fuller einräumen muß, es bestehe "ein Kern zutreffender Einsicht in der Naturrechtslehre". Wenn er dennoch gegen Fuller daran festhalten möchte, Positivist zu sein, so muß er die Unterscheidung zwischen seinem Rechtsbegriff und Fullers "Moral" wiederherzustellen suchen17 • Er betont in diesem Zusammenhang, daß sogar die Norm "Du sollst nicht töten" nicht notwendig eine moralische Wahrheit sei, da die Möglichkeit bestehe, daß die Menschen aufhören, wechselseitig verwundbar zu sein, wodurch diese Norm überflüssig würde. Aber abgesehen von solchen tours de force ist es nicht leicht zu klären, was eigentlich diesem ganzen Streit zugrundeliegt. Beide, Hart und Fuller, wollen gerechtes Recht, beide scheinen die Theorie, daß das Recht ein Befehl ist, abzulehnen, beide stellen notwendige Bedingungen für das überleben der Rechtsordnung auf, beide billigen eine Theorie richterlicher Auslegung18 . So illustriert die berühmte HartFuller Debatte wiederum die analytische Gleichsetzung der beiden "Schulen". 3. "Nicht-Schulen" der Rechtstheorie

§ 47. Wir haben gesehen, wie sich der Rechtspositivismus und die Naturrechtslehre als die bei den "großen Schulen der Rechtstheorie" mit dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit beschäftigen. Bedauerlicherweise werden gemeinhin diesen Schulen bestimmte Denk15 IS

17 18

Fuller 186. Hart Kap. IX. Siehe Eckmann 44-56. Z. B. Summers, Hart 652. Hall 175; auch Witherspoon; oben Anm. 8.

Rechtssoziologie

§47

81

richtungen gleichgeordnet, die auf gänzlich andersartige Probleme gerichtet sind. Obwohl diese so verschiedene ",Banner' tragen wie die des ,social engineering' (Pound), des ,Existentialismus' (Heidegger), einer ,phänomenologischen' (Husserl), einer ,integrativen' (Hall) oder einer ,egologischen Rechtstheorie' (Cossio) etc., so ist doch der von ihnen vermittelte Eindruck von Einzigartigkeit und Neuheit trügerisch"1. Die hervorragendsten unter diesen Neulingen sind jene Lehren, die vielleicht als (nicht)philosophische "Nicht-Schulen" einer soziologischen, realistischen oder dialektischen Rechtstheorie bezeichnet werden können. Die beiden ersten verdanken wahrscheinlich ihre Entstehung jener Enttäuschung, die die Juristenwelt am Ende des letzten Jahrhunderts angesichts der praktischen Irrelevanz der damals zwar eben erst emanzipierten aber schon veraltenden Rechtstheorie empfand. Denn auf dem Kontinent, wo neue Gesetzbücher entweder schon eine bisher unbekannte Funktion (§§ 96-99) übernommen hatten oder dabei waren, diese zu übernehmen, konnte diese Theorie nicht die erforderliche Hilfe leisten. Und in den Vereinigten Staaten war es der Rechtstheorie nicht gelungen, einem Konzeptualismus zu begegnen, der von der strengen "Precedent-Doktrin" dieses Jahrhunderts ausgelöst und genährt worden war und Ansätze zeigte, mehr der juristischen Fachsprache als dem Zweck der Rechtsnormen zu folgen:. Aber die so entstandenen Richtungen der europäischen Soziologie und des amerikanischen Realismus ebenso wie ihre ausländischen Nachfolger konnten keine neue Rechtsphilosophie hervorbringen. Dies gilt gleichfalls für die spätere Rückkehr zur Dialektik, der ähnliche Enttäuschungen im Rechtsschöpfungs- und Anwendungsprozeß zu verdanken sein mögen. Diese Dialektik hat in verschiedenster, den einzelnen Autoren eigenen Art und Weise, sich entweder an eine der traditionellen Schulen angeschlossen oder sich mit solchen andersartigen Fragen wie der der praktischen Verwaltung der gerichtlichen Maschinerie oder der Ermittlung des auf den Einzelfall anwendbaren Rechtes beschäftigt. Viele von diesen Bemühungen waren zweifellos von großer Bedeutung. Aber sie waren weit entfernt von jenem Denken über das Wesen des Rechts, das wir als das eigentliche Ziel unserer rechts theoretischen überlegungen zu betrachten gewohnt sind. Diese Feststellungen bedürfen der Illustration durch kurze Analysen einiger von heiden Rechtskreisen ausgewählter Lehren.

1 2

Friedmann 363; auch z. B. Patterson, Pound. Unten § 106; Ehrenzweig, Treatise § 124.

6 EbreD."eil

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

82

§ 49

a) "Soziologie" (1) Glmys donnes § 48. Wenn die Unzufriedenheit der Praktiker die historische Ursache der soziologischen Bewegung in Europa bildete, so brauchen wir uns nicht zu wundern, daß es Frankreich war, dem wir das verdanken, was "vielleicht die am meisten durchdachte Rechtstheorie ist, die je vom Gesichtspunkt des Rechtspraktikers entworfen worden ist"lI. Es war Fran~ois Geny, der die Tatsache, daß das französische Recht der bloßen Exegese eines jahrhundertealten Gesetzbuches entwachsen war, ins Blickfeld rückte. Er betonte die Anerkennung eines "droit libre", das sich aus Sitte, Fallrecht und Lehre zusammensetzt, und unterschied sich so von seinen konzeptualistischen Vorgängern. Seine bedeutenden praktischen Einsichten sind jedoch alles andere als die Grundsätze einer neuen philosophischen Schule. Sowohl seine ,donnes' wie seine ,construits' enthalten lediglich jene naturrechtlichen Elemente, die den Prozeß der Konkretisierung innerhalb jeder normativen Struktur bestimmen'.

(2) Ehrlichs "Freies Recht" § 49. Wie Geny betonte auch Eugen Ehrlich im Gegensatz zu dem Monopolanspruch des kodifizierten Rechts das Mehrgewicht des außergerichtlichen "lebenden Rechts", sowie der gerichtlichen Rechtsgestaltung. Seine Zielscheibe war die deutsche Kodifikation von 1900 und deren begriffsjuristische Nachlese. Wegen dieses Angriffs wurde er einerseits als Vorläufer des amerikanischen Rechtsrealismus gefeiert (§§ 53-57) und andererseits verurteilt, weil er die Schleusentore zur Anarchie geöffnet habe. Ja, es wurde ihm sogar vorgeworfen, er habe dazu beigetragen, die richterliche Verwirklichung der dem geschriebenen Recht widersprechenden Nazi-Ideologie vorzubereiten6 • Ungeachtet solcher unsinnigen Angriffe ist nun Ehrlich unanfechtbar als einer der großen Rechtsdenker anerkannt. Aber im Sinne eines strukturalen Begriffssystems hat er keine neue philosophische Richtung begründet. Seine Lehre stellt vielmehr wie die von Geny, Ernst Fuchs und Hermann Kantorowicz lediglich eine auf soziologische Faktoren gegründete Version eines "natürlichen positiven Rechts" dare. FIiedmann 328. Oben §§ 13, 15, 41. über Gcny (1861-1944) vgl. etwa FIiedmann 331-332, 335; Bodenheimer § 28; Mayda; Dabin §§ 136-182; BIimo 328-337; Battifol 61; Villey, Essais Kap. IX. 5 Siehe Hinweise bei FIiedmann 342-344. 8 über Ehrlich (1862-1920), Fuchs (1859-1929) und Herman Kantorowicz (1877-1940) z. B. Bodenheimer § 28; Riebschläger und insbesondere Rehbinder, Ehrlich; auch Larenz 62-72, der Oskar Bülow als Vorläufer und Franz Jerusalem als Nachfolger dieser Gruppe behandelt; und Raiser 45-51. I

4

§ 51

Interessenjurisprudenz

88

(3) Hecks Interessenjurisprudenz § 50. Wie die Freirechtsbewegung und Savignys Volksgeist (§ 36) war Hecks Botschaft lediglich ein Ruf nach größerer Beachtung metarechtlicher Elemente bei der Rechtssetzung und nicht ein Beitrag zur Diskussion über das Wesen des Rechts7 • Ja, was hier als eine "Jurisprudenz" der "Interessen" bezeichnet wird, gehört schon von der Fragestellung her in den Bereich der Naturwissenschaft und sollte deshalb nicht mit der Bedeutung des englischen Wortes "jurisprudence" (legal philosophy) gleichgesetzt werden. Wie Genys oder Durkheims "soziologische Methode"8 bezog sich Hecks Lehre vor allem auf die Untersuchung widerstreitender Interessen Einzelner und sozialer Gruppen in ihrer Einwirkung auf das Recht und nicht auf die Untersuchung des Rechts selbst. Heck, dem vor-Freudschen Erforscher psychologischer Fakten ist deshalb zuzustimmen, wenn er selbst seine Lehre bescheiden als bloß "auf die praktische Rechtswissenschaft" bezogen bezeichnete'.

(4) Die Natur der Sache § 51. Dieser Begriff wird meistens als ein Symbol für den dynamischen Charakter des gesamten Recht~, als ein Ausdruck sich wandelnder sozialer Beziehungen angesehen10 • So verstanden bezeichnete dieser Begriff (wie Geny donnes, Ehrlichs Freies Recht und Hecks Interessen) bloß einige der Wertelemente, die den Prozeß der Konkretisierung bestimmenl l . Soweit hingegen "Natur der Sache" als eine Neufassung der Lehre Thomas von Aquins oder sonst als eine überpositive Rechtsquelle verstanden wird1!, oder, was häufiger geschieht, in die mysteriöse Sprache der Phänomenologie13 einbezogen wird, verliert der Begriff jegliche Beziehung zur Rechtstheorie. Villey zählt zu den Anhängern dieser Lehre ohne weitere Unterscheidung: Radbruch (§ 43), 7 Heck, Problem. Vgl. Friedmann 334. Über Heinrich Stoll und MüllerErzbach siehe Larenz 50; Knauthe, Kausales Rechtsdenken und Rechtssoziologie: Eine Würdigung der Lehre von Müller-Erzbach (1967). Max Rümelin (1861-1931) sollte in demselben Zusammenhang erwähnt werden. s Durkheim (1858-1917), passim; unten § 189; auch z. B. Friedmann 229; Batiffo133, 44; Schur; Shuman 157; Kurt H. Wolff, passim. g Heck 126. Siehe auch z. B. Schoch (Hrsg.); Bodenheimer § 28; Larenz 50-62; Zippelius 13; Edelmann. Vgl. die phänomenologische Kritik bei Troller § 19. 10 Z. B. Friedmann 203; Maihofer, Natur; ders. (Hrsg.), Ideologie 28-35; Engisch, Idea 112-120; Ballweg, passim; Gutzwiller, Rechtsidee 66, 134-148; Coing, Verhältnis. 11 Oben § 15. Siehe z. B. Bobbio 197-212, 225-238; Stone II 256--258. 12 Z. B. Hassemer; Diesselhorst 244. 13 Oben §§ 8, 41; insbesondere Henkel 288 ff. mit weiteren Hinweisen. Aber vgl. die Unterscheidung zwischen den beiden Theorien bei Troller 163 und die ontologische Terminologie bei Arthur Kaufmann (Hrsg.), Teil I.

84

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 52

Coing (§ 8), Fechner14 , WelzeP5, Maihofer (§ 41), Asquini, Baratta, Bobbio und M6rra18 • Er schließt mit der Frage, ob die neuen Propheten über Aristoteles hinausgelangt seien17 • (5) Pounds "social -engineering"

§ 52. Roscoe Pound sah den unphilosophischen Charakter einer "Rechtswissenschaft der Interessen" vielleicht weniger klar als deren Begründer Philip Heck18 • Schon die Bezeichnung seiner eigenen "soziologischen Rechtstheorie" läßt ein philosophisches Anliegen erkennen111• Nun war gewiß Pounds Beitrag zur Entwicklung des amerikanischen Rechts und Denkens von bleibender Bedeutung. Ja, einige seiner frühen Schriften, wie z. B. sein klassischer Aufsatz über das Vertragsrecht, zeigen ein soziales Verständnis und einen gelehrten Scharfsinn, die ihresgleichen nicht so leicht bei irgendeinem amerikanischen Autor finden 20 • Andererseits ist es wohl so, daß sein einst berühmter Katalog individueller, öffentlicher und sozialer Interessen "an exzessiver Unbestimmtheit leidet" und, weit entfernt von einer philosophischen Lehre, wenig mehr ist als "ein politisches Manifest zu Gunsten einer liberalen und kapitalistischen Gesellschaft "21, mit wenig Beziehung zu aktuellen Problemen2!. Aber sei dies, wie es wolle, jegliche Interessenanalyse bietet nur eine mehr oder weniger wirksame Prüfung und Abwägung von Werturteilen und trägt nichts bei zum Verständnis des Rechts. Obwohl vielleicht "Soziologie", ist sie nicht Rechtsphilosophie, sondern im besten Fall ein Verfahren, um einzelne Rechtsinstitutionen zu verbessern. Insofern aber Pound weiterging und seinen "Sozialtechniker" (social engineer) aufforderte, "höheren Idealen" zu dienen, wiederholte er bloß Formeln eines Naturrechts der Vergangenheit. Aber u Fechner 146; ders., Naturrecht (der das "Vorgegebene" mit dem von dem Menschen Geschaffenen in Einklang bringen will). Siehe auch Diez-Alegria. 15 Oben § 41 Anm. 25. 18 Siehe Bibliographie; und im allgemeinen z. B. Stone II 208-209; Poulantzas Kap. V; Battifol Kap. III; Tammelo, Facts. Vgl. Larenz 140-141, 388-394; Serrano Villafafie Kap. IX; Arthur Kaufmann. Wir könnten in diesem Zusammenhang auch die Werke von Schambeck, Dreier und Stratenwerth erwähnen. Aber wir müssen zugeben, daß die ganze Diskussion "reichlich verworren und widerspruchsvoll" ist. Troller 158. 17 Villey, Nature 283; auch ders., Essais 59. über K. R. Poppers Skeptizismus z. B. Müller-Schmid 131. Vgl. auch z. B. Gars6n Valdes. 18 Oben Anm. 9. 18 Pound (1870-1964) I. Vgl. etwa Friedmann 336-341; Patterson 265-274; Bodenheimer § 29; Stone III 41-50; Kap. 41; auch die Bibliographie bei Dias 188-204; und M. Rehbinder, JZ 1965,482. 20 Pound, Liberty. Siehe im allgemeinen Stone II Kap. 9. 21 Lloyd, Introduction 178. !2 Stone, Pound 1582--1583 gibt eine Liste solcher von Pound ignorierter Probleme. Vgl. auch Paton Kap. V; Fuller, Morality 169-170.

Realismus

§ 53

85

diese "soziologische Rechtslehre" hat fruchtbaren Widerhall außerhalb Amerikas gefunden2s • Obwohl Max Webers großes ursprüngliches Werk kaum seinesgleichen gefunden hatU , so hat die Rechtssoziologie doch letztlich große Fortschritte auf beiden Ufern des atlantischen Ozeans gemacht26 • Sollte sie sich willig und fähig erweisen, sich der Psychologie zu verbünden, so mag sie wohl noch einer der Grundsteine der Rechtsphilosophie der Zukunft werden. b) "Realismus" (1) Die Vereinigten Staaten § 53. Die realistische Richtung ist als "radikaler Flügel der soziologischen Rechtsschule"28 bezeichnet worden. Jedenfalls hat diese Richtung entgegen einer weit verbreiteten Annahme trotz ihrer wichtigen Beiträge zur Rechtssetzung und Rechtsanwendung wenig zu dem Disput über Recht und Gerechtigkeit zu sagen27 • Ja, es gibt keine Schule der Realisten, und es ist nicht zu erwarten, daß es je eine solche Schule geben wird. Es gibt keine solche Gruppe mit einer offiziellen oder anerkannten, nicht einmal mit einer sich herausbildenden Lehrmeinung. Realisten sind nur in ihren Negationen, ihrem Skeptizismus und ihrer Neugierde verwandt28 • Nach diesem Caveat des führenden Gelehrten dieser Richtung können wir solche seltsamen Ansprüche wie den auf "einen gründlichen nachweislich wahren Rechtsrealismus"u beiseite lassen und statt dessen versuchen, die Lehren einzelner Realisten darzustellen, und zwar in einer Reihenfolge, die ihrer allmählichen Entfernung von der Norm zur Tatsache, von der Philosophie zur Technik hin entspricht. 23 Z. B. mit Bezug auf Indien Sethna, mit einem Vorwort von Pound; mit Bezug auf Skandinavien Castberg 78. U Oben § 42 Anm. 5. 25 Unten §§ 56, 134; Rehbinder, Ehrlich; Levy-Bruhl; Horvath; Habermas, passim. Raiser 52-66. Leider ist es mir nicht mehr möglich, an dieser Stelle über die Ergebnisse meiner im Sommer 1972 unter den Auspizien der Deutschen Forschungsgemeinschaft unternommenen Studienreise zu berichten. !8 Bodenheimer § 31. Siehe auch Friedrich Kessler 109; Casper; Dias, Jurisprudence 527-531. 27 Z. B. Friedmann Kap. 25; Yntema 1165; Garlan; Rumble. In Italien wird der amerikanische Realismus bezeichnenderweise als "dezisionismo" angesehen. Conte. über entsprechende Strömungen in Spanien, Castän Vasquez 69-73. !8 Llewellyn, Realism 1233-1234. !I Richard Taylor 613.

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 54

§ 54. Grays Richter und Holmes' Aphorismen. Einer der Vorväter des Rechtsrealismus, John Chipman Gray, sah sein hauptsächliches Anliegen in einer Aufwertung des Richterrechts. Er wies damit die Gesetzgebung als einzige Rechtsquelle und Grundlage positivistischer Analyse zurück30 • Die Stoßrichtung seiner Beweisführung ist dabei dieselbe wie die von G{mys donnes, die der Freirechtsbewegung und Interessenjurisprudenz auf dem Kontinent (§§ 48-50) und die der Lehre Salmonds in England81 • Wie diese Theorien verlebendigt Grays Werk lediglich den allgemeinen Prozeß der Konkretisierung, ohne eine Definition des Rechts zu suchen.

Oliver Wendell Holmes wird gemeinhin als der Schutzpatron der amerikanischen Realisten angesehen. Tatsächlich war er der Autor jener provokativen Aper!;us, die zum eigentlichen Aushängeschild des amerikanischen Rechtsrealismus außerhalb Amerikas wurden: "Das Leben des Rechts ist Erfahrung und nicht Logik"'2; und "Die Voraussagen dessen, was die Gerichte tatsächlich tun werden, und nichts Anspruchsvolleres ist es, was ich unter Recht verstehen." Diese und ähnliche beiläufige Bemerkungen" sind ernstlich als Ausdruck einer nihilistischen Philosophie oder eines "ethischen Agnostizismus"s5 geschmäht worden. Seltsamerweise war Holmes eher umgekehrt einer der wenigen Begriffsjuristen der amerikanischen Rechtstheorie. So war es Holmes, der erklärte, daß "die ersten Grundsätze des Rechtsdenkens" die Anwendung des am Orte des Vertragsschlusses geltenden Rechts erfordernIs. Kein Wunder, daß Holmes' große Leistung in anderen Bereichen als denen der Rechtsphilosophie zu suchen ist. Und dies kann, ohne ungerecht zu sein, auch von anderen großen Vertretern der realistischen Richtung gesagt werdens7 • Nur Llewellyns und Jerome Franks Werke erfordern besondere Aufmerksamkeit. § 55. Llewellyns Norm-Skeptizismus. Während sich Gray und Holmes damit zufrieden gaben, die Rolle des Richters als Gesetzgeber aufzuwerten, suchte Kar! Llewellyn die "wirkliche Norm" hinter der Sprache a. John C. Gray (1839-1915) § 231. Oben §§ 48-50; Salmond 41. Allgemein Bodenheimer 270-271; Friedmann 265-266; Jolowicz 131-134. 3! Holmes (1841-1935) 1. BI Holmes, Path 172. Siehe Bodenheimer § 30; Friedmann 293-294. 11

Siehe auch Holmes, Natural Law. Bodenheimer 115. Vgl. Friedmann 348-350. 38 Ehrenzweig, Treatise § 174; ders., Nutshell § 53. 37 Zu diesen zählen Thurman Amold (1891-1969); Adolf Berle (1895-1971) und G. C. Means (geb. 1896). It

15

§56

Llewellyn

87

des Richters; wußte er doch, daß diese Sprache oft nur aus den dem Richter im Einzelfalle zur Verfügung stehenden Rechtsworten besteht, dazu bestimmt, einem wandelbaren "den Lebensumständen innewohnenden" Naturrecht38, den obsiegenden unter den hier sogenannten "Gerechtheiten" (§§ 166-169) Wirksamkeit zu geben. Vielleicht können wir Llewellyn zu den wahrhaft großen Rechtsdenkern zählen. Jene, die den Vorzug hatten, ihn als Philosophen zu kennen, mögen bedauern, daß seine Zeit weitgehend durch solche Bemühungen wie den Entwurf eines Handelsgesetzbuches in Anspruch genommen war. Denn er war niemals imstande, seine einzigartigen psychologischen, künstlerischen und rechtstheoretischen Einsichten durch eine sorgfältige Ausarbeitung seines großartigen Jugendwerkes zu einer eigenen Rechtsphilosophie zu entwickeln. Sein geistreiches und beredtes Testament in der ,Tradition des Common Law' (1960) ist kaum mehr als ein Versuch, seine Kritiker durch ein poetisches Lob der Rationalität und Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen zu versöhnen. Es ist dabei weit entfernt von seiner jugendlichen Herausforderung, daß "das Recht selbst" nichts anderes sei als das, "wofür sich die Rechtswalter entscheiden"s8. § 56. Franks Tatsachen-Skeptizismus. Llewellyn versuchte, dem Richterrecht neuen Sinn zu geben. Jerome Frank aber schien sowohl dem kodifizierten wie auch dem Fallrecht den Charakter des Rechts überhaupt abzusprechen. Denn, so sagte er, "schließlich sind alle Normen bloße Worte, und solche Worte können nur durch Entscheidungen in die Tat umgesetzt werden; wenn immer die Gerichte einen Fall entscheiden, sagen sie, was die Normen ausdrücken, ob nun diese Normen in Gesetzen oder in den Rechtsansichten anderer Gerichte enthalten sind"". Aber als ihm vorgeworfen wurde, dadurch den Begriff des Rechts praktisch auf die Entscheidung in jedem einzelnen Fall beschränkt zu haben, lenkte er teilweise ein. "Bestreitet man, daß das Recht aus Normen besteht, heißt das ebensowenig zu verneinen, daß es Normen gibt, ebenso wie es nicht heißt, die Realität von Gras oder die Tatsache zu verneinen, daß eine Kuh Gras frißt, wenn man bestreitet, daß die Kuh aus Gras besteht41 ." 38 Levin Goldschmidt, zitiert nach Llewellyn, Common Law 122. Siehe auch Llewellyn (1893-1962) 68; Ehrenzweig, Treatise § 101. ae Über Llewellyns Lehre siehe Bodenheimer § 31; Friedmann 296-297; Stone III 63-71; Garlan. Im Hinblick auf Llewellyns Suche nach der "wahren Regel" kann man wohl nicht allgemein von einem "regelnihilistischen amerikanischen Realismus aus den dreißiger Jahren" sprechen. So aber Stig Jergensen, Norm 6. Vgl. allg. M. Rehbinder, 18 Kölner Z. Soz. 2 Sozialpsych. 18 (1966) 532. 40 Jerome Frank (1889-1957) 125. u Ders.270.

88

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§57

Frank war vielleicht der erste, wenn nicht der einzige führende Jurist, der seiner Lehre eine psychoanalytische Grundlage zu geben suchte. Obwohl seine Annahmen auf primitivste psychoanalytische Gleichungen beschränkt4Z und somit groben Mißverständnissen ausgesetzt waren43 , wird ihn eine zukünftige Rechtspsychologie als einen ihrer ersten Vertreter anerkennen müssen. Denn Franks schließliche Botschaft - wichtig wenn auch nicht rechtstheoretisch - ist es, daß das, was im rechtlichen Universum geschieht, zum Teil von ("natürlichen") außerrechtlichen Faktoren bestimmt wird, die, um es in unserer Terminologie zu sagen, innerhalb des ("positiven") Prozesses der Konkretisierung zur Geltung kommen". Einige frühe Realisten wie Cook, Underhill Moore und Oliphant hatten sich mit Experimenten beschäftigt, um empirisch statistische Daten zu ermitteln, die diesen Prozeß bestimmen. Die "experimentelle Rechtstheorie" wurde ihre Erbin'5. Diese Bewegungen sind wohl längst einer Flut soziologischer Studien im großen Stil gewichen'8. Vielleicht ist so Franks, des Tatsachenskeptikers, nachhaltiger Ruf nach besserer Tatsachenerkenntnis weithin gehört worden, auch ohne daß es ihm gelungen wäre, eine Rechtsphilosophie zu begründen'?

(2) Skandinavien § 57. Es ist gesagt worden, daß die Ähnlichkeit des skandinavischen Rechtsrealismus mit der amerikanischen realistischen Richtung eine ausschließlich verbale sei. Tatsächlich kann dem skandinavischen Realismus zum Unterschied von seinen amerikanischen Gegenstücken weder eine eigene positivistische Struktur wie die eines "gültigen" Fallrechts zugeschrieben, noch der Mangel einer Beziehung zu den Metanor4Z So wird der Wunsch nach Rechtssicherheit wohl allzu einfach auf einen "Vaterkomplex" zurückgeführt. Frank 18, passim. Vgl. in demselben Sinn Kolakowski, Rationalismus 206. 43 Z. B. Norbert Reich 110. ff Frank, Courts § 53. Über den Begriff der Konkretisierung, oben § 15. 45 Beutel; ders., Implications; ders., Relationship; und insb. Uwe Krügers ausgezeichnete übersetzung des Hauptwerkes: Die experimentelle Rechtswissenschaft (1970). Siehe auch Thomas Cowan, Postulates. über Underhill Moores "institutionelle Untersuchungen" vgl. Northrop, Issues 51-53; Norbert Reich 88. über Rechtstatsachenforschung Nussbaum; Rehbinder, Rechtstatsachenforschung; Ehrlich, Recht und Leben; Bendix. 48 Allgemein Friedmann 304; unten § 104. Rehbinder, Entwicklung gibt einen etwas skeptischeren Überblick und bedauert die Zurückdrängung von Teamarbeit. 47 Allgemein Bodenheimer § 30; Friedmann 300-301; Stone III 735-738.

Skandinavien

§57

89

men einer "Philosophie" des Rechts vorgeworfen werden48 • Wohl haben die meisten führenden Vertreter dieser Schule, deren Begründer Axel Hägerström war, den Begriff einer absoluten Gerechtigkeit verworfen49 • Da sie aber diese Stellungnahme mit den meisten Autoren aller "Schulen" teilen, kann diese nicht den skandinavischen Realismus umschreiben, ebensowenig wie Verwerfung von Austins und Kelsens Grundnormen als "mystisch". Andererseits muß jenen Skandinaviern Originalität zugebilligt werden, die den bindenden Charakter des Rechts verneinen und dieses lediglich als Gesamtheit von Regeln verstehen, "die Verhaltensmuster für die Ausübung von Gewalt enthalten"6o. Aber auch damit haben diese Autoren sich nur für eine ihnen nützlich erscheinende Terminologie entschieden, außer etwa dort wo Hägerström sich einer psychologischen Analyse des Rechtsmechanismus näherte, dadurch daß er die Verbindung zwischen rechtlichen Tatsachen und ihren Folgen als "magisch" erfaßte51 • Eigenartigerweise aber blieb ihm das Werk seines Zeitgenossen Sigmund Freud unbekannt, dessen Studien über die "Allmacht der Worte" neue Aspekte für das Verständnis der "Magik" mancher menschlicher Institutionen eröffneten52 • Die Schüler Hägerströms haben, indem sie fortfuhren, die "Geltung" oder "Existenz" des Rechts einfach zu verneinen, gleichsam ihre eigene negative Rechtsphilosophie entwickelt. Vielleicht hat man deshalb zwischen ihren Lehren und Kafkas verzweifelndem "Prozeß" Analogien finden wollen53 • Aber sogar der überaus skeptische Lundstedt sah sich genötigt, seine skandinavische Anti-Philosophie durch die Annahme einer "common sense-Gerechtigkeit" und einer Ausrichtung der Rechtsordnung nach "sozialer Wohlfahrt" zu ergänzen54 • All dieses ist anders in dem Werk des heute führenden skandinavischen Rechtsphilosophen Alf Ross (§ 27). Obwohl aufbauend auf dem 48

Siehe Friedmann 304-311. über den Begriff der Metanonn, oben §§ 14,

3~6.

über Hägerström (1868-1939), z. B. Ross Kap. 13. 50 Olivecrona 134. Leider war es nicht mehr möglich, die völlig revidierte zweite Auflage dieses wichtigen Werkes einzuarbeiten. Siehe auch ders., Legal Theories; Friedmann 307-308; Redmount 473-477; Frykholm 160-162; Pattaro. Aber vgl. Geiger 11. 51 Hägerström 274. Siehe auch Ross 227; Olivecrona (1971) Kap. 8. 52 Z. B. Freud XXIII 113 (Moses and Monotheism Part II Cl. 53 Batt 1006 Anm. 23. Eine vergleichbar pessimistische Interpretation kann vielleicht in Jerusalems Sichtweise einer "desintegrierenden" modernen Rechtstheorie gefunden werden. Siehe Jerusalem; auch Larenz 166-173. 54 Lundstedt (1882-1955), Legal Thinking 72, 137-144, 169; auch ders., Criticism; Friedmann 308-309; Tammelo 323,334-336. Aber vgL Geiger 30. 49

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

90

§58

Werk seiner nordischen Vorgänger, wendet er sich doch nicht von der Denkrichtung seines von ihm als solchem anerkannten Lehrers Kelsen ab 55 • Dies gilt wohl auch für seinen Landsmann Stig Jorgensen. Und Castberg, der norwegische Kollege, räumt ein, daß das praktische Rechtsleben ohne den Begriff des Rechts als Gesamtheit verbindlicher Normen "undenkbar" ist5'. Der "existentialistische" Exkurs des dänischen Gelehrten Georg Cohn gibt freilich vor, neue Einsichten zu bringen. Seine Lehre muß jedoch entweder als eine weitere Theorie naturgegebenen positiven Rechts 57 oder als eine erneute Darstellung der Freirechts-Theorie58 verstanden werden. c) "Topik": Die "Neue Rhetorik"

§ 58. Geschichte. Ständig von neuem hat der Mensch versucht, ohne die Krücke der Metanorm Lösungen in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu suchen. Wir sahen Neomonisten und Realisten bei ihrem Versuch, den Menschen sich selbst zu überlassen und Soziologen verschiedener Richtungen dabei, Endgültiges in sozialen Beziehungen zu suchen mit dem Ergebnis, daß sie schließlich doch wieder einer "höheren" Ordnung vertrauen mußten. Andere Eroberungszüge und Unabhängigkeitsbestrebungen des Denkens finden sich in der "Neuen Rhetorik", die sich im Gegensatz zu einem system- mit einem problemorientierten Denken begnügt und um Antworten ohne äußere Hilfe ringt. Daß es kaum etwas Neues in diesen Bemühungen gibt, folgt aus deren Geschichte, die mit geringen Abweichungen dem Modell von Aristoteles' Topik s8 folgt. Dieses Werk war die eigentliche Quelle der "Dialektik" als eines philosophischen Denkens, das sich mit der "Rhetorik" als einer Technik verband80 • Cicero, der Neo-Stoiker, sah in ArOben §§ 22-25, 27; Bodenheimer § 32. 51 Castberg (geb. 1883), passim. Geiger 11 würde zweifellos mit dieser Position übereinstimmen. Vgl. auch Stig Jergensen, Norm 7, 14-15. 17 Kelsen, Existentialismus 18l. Siehe oben § 41 Anm. 36. 118 Oben § 49 Anm. 36. Siehe z. B. Friedmann 344; Eckhoff, Sociology; Arnholm; Sundby. 58 Aristoteles, Topik, Buch I, Kap. I 100 a ("Argument begründet auf allgemeine Meinung"). Vgl. etwa Stone I 227-238. Siehe auch über Platos Phaidon, Erik Wolf IV/2 Kap. 22. Plato benutzt in seinem Staat (532 b) das Wort Dialektik, um damit den Weg zu beschreiben, der zur Erkenntnis des Guten führt. 10 Aristoteies, Rhetorik 1357 a. Vgl. auch die Unterscheidung zwischen Dialektik und Rhetorik daselbst 1356 b. Siehe z. B. Voegelin III 359-362; Bodenheimer, Reasoning 380; Pieper. Aber vgl. Plato, Gorgias 457 a (Freispruch des Lehrers von Vergehen seiner Schüler), 463 ("basische Kunst"), 471 (Rechtsstreit) mit Plato, Phaidros 272-274 (gegen die Rhetorik als die Denkweise, die das "Wahrscheinliche" über das Wahre stellt). 611

§ 58

Topik

91

gument und Gegenargument, in equitas und Recht, in der Anhäufung von Topoi, nicht nur das beste Medium für die Ausbildung des jungen Juristen, sondern auch philosophische Abwehr gegen "ein perfektes Recht", das droht "perfekte Ungerechtigkeit"81 zu werden. AbtHard wurde schließlich auf der Grundlage von Boethius' Aristotelismus' der Begründer der mittelalterlichen Dialektik82, der zufolge "jede disputatio aus Frage, Antwort, Thesis, Zustimmung, Verneinung, Argument, Erörterung und Schlußfolgerung bestehen muß"8a. Das 11. Jahrhundert sah die philosophi oder peripatetici als späte Schüler des Sokrates diese Kunst als wandernde Lehrer üben. Kein Wunder, daß wir Gegenreaktionen gegen einen Mißbrauch solcher Dialektik als übertriebene Skepsis in einer neuen Welle simplizistischer Askese, aber auch in John von Salisburys Verteidigung von Aristoteles gegen die bloßen "Logiker84 oder in Thomas von Aquins Ruf nach einem systematischen "Kalkül"8s finden. Dennoch die Dialektik währte fort. Vico mit seiner Antinomie zwischen dem 'Verum', dem Paradigma der Gerechtigkeit, und dem ,Certurn', dem menschlichen Bemühen, sie zu erreicheno8 , und Leibniz mit seinem mystischen Rationalismus, der Unvereinbares vereinen wollte67 , waren die bedeutenden modernen Vorkämpfer dieser aus dem Altertum überkommenen Argumentation, die in vielfältigen Abwandlungen in der Dialektik von Hegel und Marx 88 und in Nicolai Hartmanns 81 über Cicero (106--43), z. B. Montpensier, Cicero; Wieacker, Cicero; Wesel 133. Vgl. zur römischen Dialektik Viehweg mit Waldstein, Topik. 82 über Abelard, oben § 21 Anm. 4; unten § 112. über Boethius (480-524), Beck 21, 28; unten § 189 Anm. 22. 83 "Ein gewisser Magister Radulfus", zitiert bei Pieper 516. Damit ist wahrscheinlich Radulfus Niger, ein englischer Professor der Dialektik in Paris aus dem 12. Jahrhundert gemeint. über Bertold von Konstanz (gest. 1100) siehe Grabmann I 234-239. über die "Brocardica" der Glossatoren, vgl. Peter Weimar, Argumenta; Otte. 84 Über John von Salisbury (1110-1180), z. B. Brehier 111 59-68, 78-83; Friedmann 105; unten § 65 Anm. 34. 85 Siehe Pieper 516. über Dante, den Dialektiker, Hugo Friedrich, Komödie

108.

88 Vico XLVII-LIX. über Vico (1668-1744), Croce, Vico; Gianturco 329; Frosini 181-191; Treves § 11. 17 Z. B. Leibniz (1646-1716) V 500; auch Grua 212, 507; Brimo 90-91; Welzel, Leibniz; Perelman 79; Hans-Peter Schneider 342-367. 88 Über Hegel (1770-1831), z. B. Russell 730-746; Friedmann 164-174; Marcic, Hegel; ders., Kritik 185-186; Werner Becker; Topitsch, Hegel; Kirby; Treves § 12. Über Marx (1818-1883), oben § 6; und z. B. Thomas Blakeley; Kirby; Wetter; Bocheiiski 61-71; Seifert. Siehe auch allgemein Franklin; unten § 122 Anm. 6; Friedrich Müller (der eine Koordination unter dem Gesichtspunkt der "Entfremdung" sucht). über russische Stellun~­ nahmen zu einem bisweilen behaupteten Konflikt zwischen Hegels Idealismus (oben § 7 Anm. 4) und seiner Dialektik vgl. Lamsdorff-Galagane 189 bis 192 Anm. 73; auch allgemein Perie. Rüthers 50-51 belegt überzeugend

92

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§58

"aporetischem" Denken wiederkehren sollte". Ähnliche Techniken finden sich auch bei vielen unserer ausgezeichneten Zeitgenossen7o •

Relevanz. Zugegebenermaßen mag die Botschaft dieser Nichtschule einige Bedeutung für jene Kontinentaljuristen haben, deren Denken durch ein orthodox-begriffssystematisches Denken beeinflußt ist7 1 • Auch mag sich einiges von dieser sehr alten und zugleich sehr neuen Lehre bei der Schilderung historischer Bewegungen und Gegenbewegungen bewähren72 und politischen Widerhall in den rechtstheoretischen Schriften des Kommunismus finden 73 • Und was als eine "problemorientierte und methodenpluralistische" configurative Rechtstheorie des Völkerrechts angeboten wird, mag ein neuer Brennpunkt für die weitgehend sterile Diskussion in diesem ständig wachsenden Gebiet werden7 '. Dagegen ist die "Topik" ebenso wie die Phänomenologie7G für das common law eine Selbstverständlichkeit7'. Goethes Skepsis war allgemeiner. Sein Gast Hegel hatte ihm zugegeben, daß seine Dialektik, obwohl sie "im Grunde nichts weiter (sei) als der geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen innewohnt", von geistig Kranken mißbraucht werden könne, "um das Falsche wahr und das Wahre falsch zu machen". Da Ir_einte Goethe scherzend, "daß mancher dialektisch Kranke im Studium der Natur eine wohltätige Heilung finden könnte"77. die Verwendbarkeit und Verwendung Hegelscher Begriffe für entgegengesetzte Ideologien. Vgl. aber über Hegel und Freud, Sonneman. IV Z. B. Nicolai Hartmann, Diesseits; auch oben § 41; Toulmin. 70 Z. B. Coing (oben § 41) 342-343; Esser, Grundsatz 44-68; id., Vorverständnis; Perelman, Idea Kap. XI; ders., Argumentation (siehe oben § 39 Anm. 13; Stone I 327-329; Franklin; Wieacker 396-397); Tebaldeschi; und vor allem Viehweg, passim. über Viehwegs Werk siehe Bibliographie; Larenz 150-156; Stoeckli; Horn, Topiklehre. Siehe auch. oben § 41; Ekelöf, Topik; Canaris 135-154; Strasser 234; Diederichsen; Giuliani, Controverse 94-99; Tammelo, Facts; Ryffel 393-397; J0rgensen 269-273; Gil-Cremades 25-38; Delgado Ocando. Einen Versuch, das axiologische, topische und "strukturale" Rechtsdenken in Einklang zu bringen, unternimmt Otto, passim. 71 Dies gilt sogar für die Rechtsvergleichung. Vgl. Kramer, passim. Im allgemeinen z. B. Hall, Method; McDougal, Comparative Study, Struck. 7Z Z. B. Albert; Gonseth ("philosophie ouverte"). über K. R. Popper siehe MüUer-Schmid, passim; Kritik und Verteidigung bei Werner Becker und Kulenkampff. 73 Siehe u. a. Schulz. 74 McDougal u. a. 296-299. 75 Oben § 41. Es ist kein Zufall, daß die Topik eine Selbstverständlichkeit auch für die Phänomenologen ist. TroUer § 30. Siehe auch Larenz 424; Oswald (für eine versöhnliche Haltung). über das Verhältnis zum "Realismus", vgl. Stig J0rgensen, Typologie. 78 Z. B. Stone I 332-337; unten §§ 89, 108; auch Lasswell und McDougal 236; Cardozo, Paradoxes. 77 Eckermann II 249.

§59

Topik

98

Psychologie. Solch ein Studium der Natur führt den Psychoanalytiker zu den Dichotomien des Bewußten und Unbewußten, des Ego und des Id, des Lust- und Realitätsprinzips, des Eros und Thanatos78 . Er wird darum zügern, seine eigene Dialektik Huizingas ewigem Spiel zu überlassen, das beginnen soll, wo "Biologie und Psychologie zu Ende sind"71. Eher wird der Analytiker des Menschen Ambivalenz nur als einen Ausdruck dessen sehen, was Hermann Hesse in seinem Glasperlenspiel so bewegend und traurig als den Kontrapunkt von Mathematik und Musik des Universums erfaßt hat; und in seinem Siddartha als die letzte Einsicht, daß "von jeder Wahrheit ... das Gegenteil ebenso wahr" ist denn "einseitig ist alles, was mit Gedanken gedacht und mit Worten gesagt werden kann" 8o . Innerhalb der in diesem Buch vorgelegten Rechtspsychologie wird die juristische Rhetorik, dieser Tummelplatz unseres bewußten Strebens nach abstrakter Gerechtigkeit, als die bloße Oberfläche der Dialektik zwischen den konkreten Gerechtheiten des Unterbewußtseins erscheinen. 4. Don Quixote und die Windmühlen

§ 59. Wir sind nun in der Lage, von den Kampfgruppen zu den Kampfstätten der Schulen und Nichtschulen der Rechtstheorie überzugehen. Vielleicht werden deren Kampfrufe klarer aus dem folgenden Diagramm über den Kreuzzug Don Quixotes hervortreten. Können wir dem fahrenden Ritter in seinem Kampf gegen die Windmühlen zur Seite stehen?

78 Z. B. Wyss 465-468, unten §§ 157-162; auch Jung, Soul 138; Fenichel; Plass. 78 Huizinga (1872-1945) 4. Siehe N. O. Brown, Life 32-39; Dewey 277; Voegelin II 257-260. über eine verwandte Sichtweise der "symbolischen Rechtstheorie" siehe Rodes 100. 80 Hesse, Siddhartha 128.

94:

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 60

Aus der Sicht der Kritiker:

Aus der Sicht der Anhänger:

1. "Positivismus"

a) "Naturrechtler": Verneint das "Sein" der Gerechtigkeit (das Recht, das "sein soll"), dadurch Despotie und Anarchie unterstützend. b) "Realisten": Verkennt das Faktische im Recht.

2. "Naturrecht"

a) "Positivisten": Ist darauf gerichtet, das positive Recht zu ersetzen, dadurch Despotie und Anarchie unterstützend. b) "Realisten": Glaubt an absolute Gerechtigkeit und läßt andere Faktoren der Rechtsschöpfung außer Betracht.

3. "Realismus"

a) "Positivisten": Läßt die Existenz von Normen unbeachtet. b) "Naturrechtler": Läßt die Frage nach Gerechtigkeit unbeachtet.

Betrachtet das Recht als Norm, als ein "Sollen", und überläßt anderen das "Sein" des Rechts, (1) wie es geSchaffen (Konkretisierung), (2) wie es "sein soll" (Gerechtigkeit), (3) warum es befolgt werden soll (Metanorm). Betrachtet das Sein des Rechts (1) wie es "sein soll" (Gerechtigkeit), (2) warum es befolgt werden soll (Metanorm), (3) wie es geschaffen wird (Konkretisierung), und überläßt anderen die Struktur des "SolIens". Betrachtet das Recht "als Faktum" (wie es ist oder sein soll), indem es den Gegenstand und den Prozeß der . Konkretisierung erklärt, während er anderen die SollensStruktur und das Sein der Metanorm überläßt.

Grundthesen des:

c. Die Kampfstätten: Lücken und Ungehorsam 1. Vom Finden und Füllen von Rechtslücken a) Die Lücke

§ 60. § 6 des österreichischen ABGB sieht vor, daß ein Gesetz ausschließlich "nach der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhang und aus der klaren Absicht des Gesetzgebers" interpre-

§ 61

Lücken

95

tiert werden soll. Ähnliche Bestimmungen finden sich im sächsischen BGB, im preußischen ALR und im italienischen Codice civile von 18651 • Auch Justinian2 und Napoleon versuchten, ihre Gesetzgebung gegen richterliche Fortbildung zu sichern3 • Und sogar die Begriffsjuristen am Anfang unseres Jahrhunderts glaubten noch, daß alles Recht in den Strukturen geschriebener oder ungeschriebener Prinzipien zu "finden" sei. Weil es also keine Lücken zu füllen gab, waren Richter und Rechtsgelehrte auf die Aufgabe der Rechts-"Anwendung" verwiesen'. Abgesehen von diesen und ähnlichen Episoden der Selbsttäuschung haben Gesetzgeber, Richter und Rechtsgelehrte immer gewußt, daß Rechtsanwendung Rechtsschöpfung, und dieser Prozeß ein Vorgang der Abwägung von Interessen und Billigkeitsgründen im Zuge der Konkretisierung ist (§ 15). Dies sind die "nichtförmlichen" Quellen des Rechts, die der imaginäre "Positivist" nicht für seines Studiums wert befunden haben soll. Da diese Annahme falsch ist, mag der Umfang und die Methode des Findens und Füllens von "Lücken" als das erste hier zu besuchende Kampfgebiet betrachtet werden zwischen jenen, die (fälschlich) Positivisten, und jenen, die (fälschlich) Naturrechtier genannt werden. Wir werden wieder feststellen, daß der Konflikt zwischen diesen "Schulen" - abgesehen von historischen und soziologischen Unterschieden zwischen den verschiedenen Ländern - nicht ein Konflikt der Analyse, der Philosophie oder des Glaubens, sondern emotionaler Neigungen ist'. b) Vom Finden deT Lücke

§ 61. Eine der vortrefflichsten Illustrationen des emotionalen Substrats eines Großteils der philosophischen Kontroverse über "Gesetzeslücken" ist Fullers brillanter hypothetischer Höhlenforscher-FaU'. Fünf Richter formulieren ihre Entscheidungsgründe als Positivisten, Naturrechtier oder Realisten. Der Fall betrifft Höhlenforscher, die, als sie durch einen Erdrutsch verschüttet für einige Wochen ohne Nahrung gelassen waren, nach einer fairen einstimmig beschlossenen Aus1 Preuß. ALR (unten § 96), Einl. §§ 46, 59, 60; Sächs. BGB § 22; !tal. Codice Civile (1865) Art. 3 I. I Codex 1.14.12; unten § 94. a Allgemein Esser, Grundsatz 179-181; David und Grasmann, §§ 86, 87; unten § 97. , Oben §§ 47-52; Bodenheimer Kap. XVI. 5 Z. B. David und Grasmann §§ 90-92. Larenz 354 stimmt mit Heck (oben § 50) und Binder darin überein, daß das Auffinden von Lücken stets eine Angelegenheit der "Wertung" ist. Vgl. allgemein Canaris, Lücken; Stark. • Fuller, Problems 2.

96

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 61

losung einen aus ihrer Gruppe verzehrt hatten. Sollten sie deshalb des Mordes für schuldig erklärt werden7 ? Einer der Richter, der sich zu einer Naturrechtsdoktrin bekennt, befürwortet einen Freispruch. Er argumentiert teilweise so, daß die gesetzliche Strafe für vorsätzliche Tötung hauptsächlich den Zweck der Abschreckung habe und sich deshalb nicht auf die Tötung in einem Fall des Notstandes beziehe. Ein anderer Richter, der die Rolle des "Positivisten" übernimmt und für Schuldspruch stimmt, spottet über "das penchant" seines Kollegen, "Löcher in den Gesetzen zu finden"8. Dieser erinnere ihn an den Mann, der, nachdem er ein Paar Schuhe gegessen hatte, sagte, daß er die Löcher am liebsten möge. "Gerade so hält es mein Bruder im Recht mit den Gesetzen; je mehr Löcher sie haben, umso mehr behagen sie ihm. Kurzum, er hält nichts von Gesetzen9 ." Was diese und andere Argumente sehr schön zeigen, ist die notwendig wertbestimmte, oder wenn man so will, gerechtiglreitsbestimmte Technik, Lücken ("lacunae") in einer Rechtsregel zu finden oder zu verneinen, sei diese nun ein Gesetz oder ein Präzedenzfall. Der Positivismus hat natürlich niemals die Notwendigkeit dieser Technik verneint, obwohl sie von der Naturrechtsdoktrin als ihr Monopol in Anspruch genommen wird (§§ 15,25). Was einige Positivisten von einigen Anhängern des Naturrechts unterscheidet, ist daher nur eine emotionale Bereitschaft oder Abneigung, eine Lücke zu finden. Der gleichen emotionalen Motivation unterliegt die Entscheidung bezüglich der "Offenheit" oder "Geschlossenheit" eines Rechtssystems, ein Problem, das so alt wie das römische und jüdische Recht lO und heute von besonderer Bedeutung in internationalen Beziehungen istl l • Wenn die Sanktion einer Norm aufgrund deren Interpretation nicht für anwendbar befunden wird, so ist dieser Befund genauso eine Anwendung der Norm wie die Bejahung der Sanktionl2 • Bergbohm irrt daher, wenn er schließt, daß eine Tatsache, von der man annimmt, daß sie nicht rechtlich geregelt sei, eine "rechtlich irrelevante Tatsache" seps. Denn die zugrundeliegende Auslegung der Rechtsordnung ist deren Anwendung l • und führt daher nicht zu einer echten Lücke im Gesetz. 7 Siehe Queen v. Dudley (1884) L. R. 14 Q. B. Div. 273; United States v. Holmes, 26 Fed. Cas. 360 (1842). 8 Fuller, Problems 9-10... When we speak of ,gaps' in the law (we merely mean) that we do not like the rule." Brierly 128. • Fuller, Problems 18. 10 Daube, Texts 3-28. 11 Z. B. Stone I 188-195; auch Esser, Grundsatz 179-182; und der Meinungsaustausch zwischen Lauterpacht und Stone (Non Liquet); unten § 232. 12 Vgl. aber Coing 334-342; ZiteImann 3-7; ders., Lücken. 13 Bergbohm (1849-1927) 398,547. 14 Allgemein Bobbio 118; Coing 75-76; Radbruch 212.

§ 62

Lücken

97

Was immer in dem Prozeß der Interpretation eine Lücke genannt werden mag, muß von Positivisten wie Naturrechtlern als "unechte Lücke" verstanden werden15 • Sogar ein Richter, der es ablehnt, einen unklaren Fall zu entscheiden, entscheidet ihn, indem er eine Sanktion ablehnV'. Auch Savatiers Unterscheidung zwischen "Lücken" (lacunes) und jenen "Löchern" (creux), von denen man sagt, daß sie bestehen, wenn eine Jurisdiktion fehlt, ist mithin analytisch betrachtet irrelevant, genauso irrelevant wie die Unterscheidung zwischen Lücken "intra legern" (innerhalb des Gesetzes) und Lücken "praeter legern" (außerhalb des Gesetzes)11. c) Vom Füllen der Lücke § 62. Wenn die beiden Schulen nicht durch die Art ihres Vorgehens beim Auffinden einer (notwendig "unechten") Lücke unterscheiden werden können, so verhalten sie sich auch vollkommen gleich, wenn sie vorgeben, eine Lücke auszufüllen, sobald sie diese gefunden haben. Ein Beispiel: Sowohl gesetzliche wie richterrechtliche Normen, die für Fälle unerlaubter Handlungen Schadensersatz vorsehen, schweigen, soweit es um Verletzungen des Foetus geht. Kelsen ist der Vorwurf gemacht worden, in solchen Fällen einen Klageanspruch verneint zu haben (§ 25). Dies ist unrichtig. Kelsen, wie alle Positivisten, könnte grundsätzlich jedem Naturrechtler zustimmen, der in der Norm eine (unechte) Lücke finden und im Wege der Analogie einen Anspruch bejahen würde.

Jegliche Meinungsverschiedenheit, die in solchen Fällen entstehen mag, ist auf Werturteile und nicht, wie so oft behauptet wird, auf verschiedene Rechtstheorien zurückzuführen. Das Problem ist oft durch dramatische Beispiele, fiktive und historische, veranschaulicht worden. So haben wir von dem bestellten oder gewählten Führer schiffbrüchiger Reisender gehört, die an einem Rettungsfloß hängen, auf dem sich nur begrenzte Wasservorräte befinden. Eine "elitäre Gerechtigkeit" würde ihn veranlassen, den Ältesten oder den Stärksten oder den Begabtesten die größeren Mengen zu geben. Eine "egalitäre Gerechtigkeit" würde von ihm verlangen, die Anteile unter allen gleich aufzuteilen ungeach15 Kelsen 245-250. Diese Terminologie kann bis auf Zitelmann (217) zurückverfolgt werden. Vgl. Bydlinski, passim; aber auch Miedzianagora 104 bis 115. 18 Eine solche Entscheidung auf "non liquet (ius)" ist jetzt in allen Rechtssystemen verboten. über die "Rechtsverweigerung" aus tatsächlichen Gründen (non liquet "factum"), unten § 231 Anm. 47. 17 Allgemein Perelman (Hrsg.), Lacunes 521. Vgl. Engisch 155; Stone I 188-195; Tammelo, Openness; Germann, Probleme 121. Ähnlich unglückliche Unterscheidungen finden sich z. B. bei Klug, Lacunes, passim. Vgl. aber auch Rüthers 43-61, für den "institutionelles Rechtsdenken" die Lückenhaftigkeit des Rechtssystems als solchen voraussetzt.

7 Ehrensweil

1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

98

§62

tet ihres Alters, ihrer Stärke oder ihrer Begabung. Und eine "soziale Gerechtigkeit" würde ihn vielleicht bewegen, die Durstigsten oder Jüngsten oder Schwächsten zu bevorzugen18. Das Recht scheint dazu zu schweigen. Aber es enthält deswegen keine "Lücke". Unser Führer wird das Recht anwenden, wie er es interpretiert, indem er zwischen den widerstreitenden "Gerechtheiten" wählt. Wem unser Beispiel zu entlegen erscheint, der möge die schwierige Lage der heutigen Medizin bedenken, die Direktiven dafür entwerfen soll, wie Spender und Empfänger von Organverpflanzungen ausgewählt werden sollen1D. In solchen Situationen kann uns natürlich das gesetzte Recht eine verbindliche Richtschnur bieten. Es mag, wie in der frühen französischen Republik, den Richter anweisen, den Willen des Gesetzgebers durch ein "refere legislatif" zu suchen. Art. 20 des Codex Iuris Canonici von 1917 erinnert uns an diese Lösung. Oder das Gesetz mag wie der bekannte Art. 1 des schweizerischen Zivilgesetzbuches vom Richter verlangen zu entscheiden, wie wenn er selbst Gesetzgeber wäre (§ 99). Oder es mag ihn auf das Naturrecht oder die "allgemeinen Prinzipien des Rechts" verweisenzo• Aber immer müssen Positivisten wie Naturrechtler die von ihnen "gefundenen" (unechten) Lücken mit Werturteilen füllen, seien diese im Gesetz nun ausdrücklich oder stillschweigend berufen. "Die Theorie von den Gesetzeslücken erscheint somit als eine Theorie, die sich selbst verzehrt"Z1. Der psychologische und schulfremde Charakter der Meinungsverschiedenheiten kann vielleicht am besten durch einen bekannten Meinungsaustausch zwischen einem Psychoanalytiker und einem Rechtslehrer illustriert werden. Waelder, der Analytiker, warnte, daß die Annahme einer Lücke, um sie durch Anwendung absoluter Grundsätze zu füllen, zu der gefährlichen illusion einer totalen Ordnung und so nur zu leicht zu skrupellosem Gebrauch von Macht führen könne22 • Diese Betrachtungsweise beklagt Clarence Morris, der Rechtslehrer, als "Gleichgültigkeit angesichts von Ungerechtigkeit" und verspricht, daß "die Suche nach praktischen Fortschritten in Fragen der Gerechtigkeit auf die Dauer und Stück für Stück eine gerechtere Welt schaffen werde"23. Diese Kontroverse über das Finden und Füllen von Rechtslücken spielt sich, wie sich zeigt, nicht zwischen widerstreitenden PhiZ. B. Cahn, Decision 61-71; Fried, Life. Z. B. New Biology. 20 Oster. ABGB (1811) § 7; !tal. Codice Civile (1865), Ein!. Art. 3. Diese Vorschriften nehmen Genys Forderungen (§ 48) vorweg bzw. folgen diesen. Das neue italienische Gesetzbuch (1942), Einführungsgesetz Art. 12, bevorzugt eine Zuflucht zum gesetzten Recht durch Bezugnahme auf "allgemeine Prinzipien der Rechtsordnung des Staates". Siehe auch Gorla, Precedenti 6. n Huberlant 86. u Waelder (1900--1967), Justice. Siehe Ehrenzweig und Westen. 23 Clarence Morris 16. 18 19

§ 63

Lücken

99

losophien, sondern zwischen Oberfiächen- und Tiefenpsychologie ab. Beide Autoren verurteilen Kinderarbeit und Schuldturm. Aber Morris, der auf absolute Maßstäbe der Gerechtigkeit vertraut, behauptet, daß "die Menschheit allgemein darin übereingestimmt hätte, solche Ungerechtigkeiten müßten unterdrückt werden". Wo eine dahingehende spezifische Rechtsregel fehlt, würde er mithin eine (unechte) Lücke im Gesetz finden und sie mit seinen Grundsätzen der Gerechtigkeit ausfüllen. Waelder andererseits bleibt der Existenz von "Interessenkonnikten" eingedenk. Anstelle eines dem gesetzten Recht übergeordneten absoluten Maßstabes der Gerechtigkeit hofft er auf eine "liebende Versöhnung" der widerstreitenden Gerechtheiten im Wege der Interpretation des Rechts (§§ 168-171). Sogar heute wird die "Gerechtheit" der Notwendigkeit, die Familie zu ernähren, oft die Gerechtheit des Jugendschutzes überwiegen, so daß man Kinder in ländlichen Gemeinschaften zur Feldarbeit zulassen mag. Hier würde also das "Schweigen" des Gesetzes betreffend Kinderarbeit nicht als Gesetzeslücke verstanden werden. Auch der Schuldturm ist nicht einem naturrechtlichen Verbot erlegen. Noch heute wird mancherorten das überwiegen der Gerechtheit, Darlehensgeber zu schützen, gegenüber der Gerechtheit, Gefängnisstrafe auf den Kriminellen zu beschränken, zur Inhaftierung des Schuldners führen. Ja, manche mögen glauben, daß die Auswirkungen eines Atomkrieges zu einern Zurück in eine vorindustrielle Vergangenheit führen könne. In solch einer unglücklichen Zukunft könnten sowohl Kinderarbeit wie Schuldturm wieder rechtens werden. Vielleicht dürfen wir hoffen, daß eine künftige Wissenschaft ihren emotionalen Widerstand gegen die Unterscheidung zwischen dem absoluten Sinn des Menschen für Gerechtigkeit und seinen relativen Urteilen über jene widerstreitenden Gerechtheiten, die auf ein einzelnes Ereignis einwirken, überwinden wird. Solche Wissenschaft wird endlich Positivisten wie Naturrechtler, Psychoanalytiker wie Philosophen befähigen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen und den Weg zu einer psychologischen Untersuchung zu öffnen, die im zweiten Teil dieses Buches in Angriff genommen werden soll. Eine solche Untersuchung wird uns auch eher als eine philosophische Analyse den Schlüssel zu dem semantischen Verständnis des zivilen Ungehorsams geben, das eines der dringendsten Rechtsprobleme unserer Zeit geworden ist. 2. ZIviler Ungehorsam

a) Die Pflicht zu gehorchen § 63. Die Theorie des Widerstandsrechts ist das "Herz der Rechtsphilosophie" genannt worden!'. Mit diesem Thema haben wir einen !4



Marcic 277. Vgl. etwa auch Cowan, Law 688-692.

100

1. Kap.:

Recht und Gerechtigkeit

§63

Kernpunkt öffentlicher Problematik erreicht und müssen besonders darauf achten, daß wir uns sowohl von terminologischen als auch von emotionalen Kontroversen fernhalten. Der emotionale Streit ist natürlich nur allzu realitätsbezogen und war dieses, seit es ein Recht in Evolution und Revolution gab25 • Wir selbst als Bürger werden auch immer wünschen, an diesem Kampf teilzunehmen, sei es für "Freiheit und Gerechtigkeit" oder "Gesetz und Ordnung". Aber als Juristen und Philosophen müssen wir vermeiden, diese und andere Kampfrufe durch eine semantische Verwirrung der Bedeutungsgehalte in den Dienst der Staatspolitik oder der Gewalt zu stellen. Vielmehr muß unsere semantische und psychologische Analyse dazu beitragen, den emotionalen Inhalt des Streites klarzustellen. Wenn es uns nun einmal bestimmt ist, als Erbauer des Himmelsturmes zu scheitern, so mag es um unserer geistigen oder körperlichen Schwächen willen sein. Aber wir sollten nicht durch eine Verwirrung der Sprachen geschlagen werden, die uns nicht nur von jenen droht, die das Neue suchen, sondern auch von jenen, die das Alte verteidigen. Wir haben eine Rechtsvorschrift als Norm umschrieben, die rechtmäßig innerhalb der Hierarchie von Rechtsnormen konkretisiert wird. Diese Hierarchie ist das geltende Rechtssystem, d. h. das System, von dem wir annehmen, daß es vermöge einer frei gewählten Metanorm mit Recht Gehorsam beansprucht (§§ 13-15). Jede Rechtsvorschrift soll deshalb per definitionem befolgt werden. Die bedeutende Literatur, die sich dennoch darum bemüht, die Pflicht zum Gehorsam zu erklären, setzt mithin notwendig andere Definitionen von Rechtsvorschriften voraus. Ausgehend von unserer eigenen Definition muß der zivile Ungehorsam, d. h. der Ungehorsam gegenüber einer Rechtsnorm ohne Gewaltanwendung, einer der folgenden Anforderungen genügen: Einmal kann sich jemand, der die Vorschrift nicht befolgt, darauf berufen, sie sei ungültig, da sie eine höhere Rechtsnorm verletze, das heißt eine falsche Konkretisierung dieser Norm darstelle; oder weil das gesamte Rechtssystem (Apex-Norm), von dem sie abgeleitet ist, selbst mit Rücksicht auf eine vorausgesetzte "höhere" Metanorm, ungültig sei. Oder er kann durch seine Ungehorsamshandlung behaupten, daß die Vorschrift, obwohl gültig, seiner Vorstellung von Gerechtigkeit widerspreche. Er kann dann, es sei denn, daß seine Handlung ziellos ist und um ihrer selbst willen gesetzt wird, entweder fordern, daß die Vorschrift innerhalb des Systems geändert werden müsse, oder daß das System (die Apex-Norm), das die Vorschrift enthält, selbst ersetzt werde!8. 25 Die antike und früh-christliche Doktrin beschreibt Stüttler. Siehe auch allgemein Van Dusen. !I Siehe Kelsen, Justice 257. Vgl. Ernest Nagel. Im Lichte dieser Analyse

§ 64

Ziviler Ungehorsam

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b) "Die Vorschrift ist ungültig" (1) Unrichtige Konkretisierung § 64. Recht, Sittlichkeit und Gerechtigkeit. Eine Rechtsvorschrift soll per definitionem befolgt werden (§§ 13, 63). Wer, obwohl Rechtsadressat, einer solchen Vorschrift "zivil" seinen Gehorsam verweigert, wird gewöhnlich behaupten, daß diese Vorschrift in Wahrheit keine Rechtsvorschrift sei, weil sie innerhalb des Rechtssystems nicht richtig konkretisiert sei (§ 15). Dafür sei das folgende Beispiel um seiner "Harmlosigkeit" wegen gewählt: Der Dekan einer Rechtsfakultät ist durch die beschlußfassende Körperschaft der Universität ermächtigt, Maßnahmen zu treffen, die dazu dienen, das ordnungsgemäße Funktionieren der Fakultät zu ~währleisten. Er untersagt generell das Rauchen im Bereich der Fakultät. Ein Student, der bestrebt ist, die Rechtmäßigkeit dieser Regelung zu prüfen, d. h. ihre richtige Konkretisierung, beschließt, dem Verbote zuwiderzuhandeln, um durch eine ~gen die zu erwartende Disziplinarstrafe gerichtete Beschwerde die Annullierung der seiner Meinung nach unrechtmäßigen Regelung zu erreichen. Der Student bestreitet, zivilen Ungehorsam gegenüber einer Rechtsvorschrift zu üben, da er ja deren Gültigkeit in Frage stelle. Dennoch hat man in solchen Fällen oft behauptet, daß es sich hier um den Widerstreit verschiedener Begriffe des Rechts handelt. Eine solche Behauptung kann natürlich politisch gesehen höchst zweckmäßig sein. In jeder Analyse rechtstheoretischer Terminologie aber muß sie unberücksichtigt bleibenz7 •

Dies gilt auch für alle Argumente für und gegen jenen Typ des Ungehorsams, der die Geltung der gesetzten Vorschrift als "unsittlich" oder "ungerecht" verneintt8 • Kriton versuchte, Sokrates zu überreden, dem Gefängnis zu entfliehen, da er unrechtmäßig in Haft gesetzt worden sei. Aber der Weise lehnte es trotz der "Ungerechtigkeit" der Entscheidung der Richter ab, diese als ungültig zu behandeln. Worüber Sokrates und Kriton uneinig waren, war also nicht ein verschiedener Rechtsbegriff, sondern eine verschiedene Wertung in dem Konflikt zwischen den Gerechtheiten der Verteidigung der Freiheit und des Gehorsams gegenüber dem richterlichen UrteiltD • Für Thomas von Aquin scheint es nicht zweckmäßig, den Begriff des zivilen Ungehorsams allgemein dahin zu definieren, daß er "im Namen einer vorausgesetzten höheren Autorität als der des in Frage stehenden Gesetzes um der Änderung des Gesetzes willen unternommen wird". James L. Adams 294. Vgl. aber Greenawalt. 17 Siehe Marcic 31, 276-287 mit umfassender Bibliographie. t8 Z. B. Fortas; Wasserstrom, Obligation; Arnholm, Naturrecht; McGuigan. tl Siehe Chroust; Piovant, Interpretazione. Was Phaidons Dialog betrifft, ist der Konflikt als ein dialektischer interpretiert worden, der stch dadurch

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 65

berechtigte die Gerechtheit der Gleichheit nicht zum Ungehorsam gegenüber ungleicher Behandlung, wo solcher Ungehorsam "Skandal erregen oder schwerwiegenderes Leid schaffen würde" als Gehorsam (§§ 4, 65). Für ihn war also die Vermeidung von Skandal und Leid ebenso "gerecht" und darum "Recht" wie jene Gerechtheit, die im Prozeß der rechtlichen Konkretisierung überwog. Des Rechtes Wahl zwischen widerstreitenden Gerechtheiten wird natürlich oft durch die Vernunft erleichtertSo. Aber wir sollten uns eingestehen, daß hier auch irrationale Triebe wie jene der Aggression und der Rache, bewußt oder unbewußt, ihre Rolle spielen. Und wir sollten alle Versuche zurückweisen, die immer wiederkehrenden Kampfrufe der Politik und des Glaubens und den allzu menschlichen Zusammenprall von Werten und Instinkten in über-menschliche Botschaften der Wahrheit zu verkleiden. Um es nochmal zu sagen: Hier müssen wir, Juristen und Philosophen, auf der Hut sein. Den Gehorsam gegenüber einer Norm mit der Behauptung zu verweigern, sie sei ungültig, da sie "in ungerechter Weise" eine höhere Norm konkretisiert habe, bedeutet nichts anderes als daß die Geltung der verletzten Norm aufgrund einer willkürlichen Wahl zwischen widerstreitenden Gerechtheiten verneint wird. Keiner der großen Propheten des Ungehorsams war imstande, dies zu bestreiten und der sich daraus ergebenden Ambivalenz zu entgehen31 • § 65. Thomas von Aquin. Thomas unterschied vier Typen oder besser Stufen des Rechts. Die lex aeterna ist die Bestimmung des Universums nach der "göttlichen Vernunft"; das ius divinum ist der Wille Gottes, wie er in der Heiligen Schrift offenbart ist; während der Mensch durch die Vorschriften des ius naturale erkennt, "was gut und böse ist" und mit Hilfe seiner Vernunft die "besonderen Bestimmungen" des im humanum schafft. Wie Augustin, auf den er sich bezog, verkündete Thomas, daß "ein Recht, das nicht gerecht ist, überhaupt nicht als Recht erscheine, und darum das Gewissen nicht binde"32. Martin Luther übernahm dieses Postulat in seiner Theorie von den "beiden Reichen"33. Eines von Thomas' Beispielen handelt von dem Herrscher, der gegen das Naturrecht verstößt, indem er es unterläßt, dem menschlichen Gesetz, das er selbst geschaffen hat, zu gehorchen. Obwohl Thomas auflöst, daß in dem Zyklus alles Seienden Gerechtigkeit sich in Ungerechtigkeit verwandelt und Ungerechtigkeit Gerechtigkeit wird. Erik Wolf IV/2 20-21. 30 Allgemein Greenawalt. 81 Z. B. Thomas von Aquin II Q. 91, Art. 1--4, Resp. jeweils zu Obj. 3 jedes Artikels. 32 Ders. Q. 96, Art. 4, Resp. Siehe z. B. Stone II 53; Friedmann 108-111. über die Annahme von Thomas' Lehre durch die Kirche, oben § 39 Anm. 1. Vgl. Marcic 175 mit seinem § 9 und Messner 350, 375. 31 Martin Luther (1483-1546) 229-281.

§m

Ziviler Ungehorsam

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nicht mit Johannes von Salisbury übereinstimmt, daß solch ein Herrscher ermordet werden sollte84 , war er doch der Auffassung, daß ihm der Gehorsam verweigert werden könne85 . Der hier sanktionierte zivile Ungehorsam verneint die Gültigkeit der mißachteten Vorschrift, weil diese die zunächst höhere (naturrechtlich gesetzte) Norm nicht wirksam konkretisiere38 • Aber der zugrunde liegende Konflikt verschiedener Gerechtheiten ist nur unzureichend verdeckt in der Behauptung, daß sogar solch eine Vorschrift, wenn sie sich auf die Autorität des Gesetzgebers stützen könne, als von der lex aeterna abgeleitet zu betrachten sei37• Ähnlich doppeldeutig scheint jener Teil von Gandhis Aufruf zu gewaltlosem Widerstand, der sich auf ein verfassungsmäßiges Recht für jene beruft, "die sich daran gewöhnt haben, dem Gesetz willentlich zu gehorchen, ohne seine Sanktionen zu fürchten"88. § 66. John Locke. Locke ersetzt das Gesetz Gottes als Apex-Norm durch den Konsens freier Menschen. Er geht dabei von dem Gesellschaftsvertrag aus, der die Macht der Regierung auf Maßnahmen beschränkt, die dem Gemeinwohl dienen. Ungehorsam gegenüber anderen Maßnahmen hält sich somit innerhalb des Rechts und muß sich nicht auf ein "höheres" Naturrecht berufen. Aber die Ambivalenz bleibt bestehen. Denn der GesellschaftsvertragsG könnte sehr wohl dahin interpretiert werden, daß einer Minderheit, die vom Prozeß der Gesetzgebung ausgeschlossen ist, damit auch das Recht zum Ungehorsam abgesprochen wird. Diese und ähnliche Widersprüche sind auch in den Werken vieler anderer führender Autoren zu finden 40 • § 67. Martin Luther King. Die Botschaft dieses großen populären Führers in seinen Schriften, Lehren und Handlungen erinnert in mannigfacher Weise an die Botschaft Thomas von Aquins, so wenn er den Ungehorsam rechtfertigt gegenüber "einem Gesetz, das eine Mehrheit an Zahl oder Macht einer Minderheit auferlegt, ohne sich selbst daran zu halten"41. Rechtstheoretisch gesehen besagt Kings Postulat lediglich, Über John von Salisbury, oben § 58 Anm. 64; auch Russell 440. Q. 96, Art. 6. Siehe z. B. Friedmann 106; Bodenheimer 6. as Eine Analyse dieser Konstruktion findet sich bei Lumb. 37 Q. 96, Art. 4, Resp. Obj. 1. Siehe z. B. Stone II 53 Anm. 107. 38 Über Gandhi (1869-1948), unten § 70; auch Dhawan 238-239; Horsburgh Kap. 5. It Oben § 31; aum Patterson § 4.15; Cairns 336; Russell, Buch III, Kap. XIV. 40 Z. B. Pufendorf (§ 31); Cocceji (1644-1719), Juris Publici Prudentia (1695); Christian Wolff (1679-1754) (siehe Ludovici mit einer zeitgenössischen Liste seiner Werke, auch unten § 121 Anm. 57); Rousseau (§ 31); Delolme (1740 bis 1806); Burlamaqui (1964-1748) (vgl. Bibliographie). Über Hobbes, z. B. Mayer-Tasch; Truyol, Hobbes 8. U Martin Luther King (1929-1968) 85. Siehe Thomas von Aquin Q. 96, Art. 5, Resp. zu Obj. 33. 34

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1.

Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 69

daß eine gesetzte Rechtsregel nur dann verbindlich von der Apex-Norm der Verfassung abgeleitet (konkretisiert) ist, wenn diese Rechtsregel den Gehorsam des Gesetzgebers verlangt. Denn wenn dieses Postulat nicht als ein Bestandteil des gesetzten Rechts angesehen wird, ist es nichts als ein metarechtliches Werturteil, dessen Stützung durch moralische über:reugung, politischen Druck und öffentliche Meinung freilich ein wirksames Mittel sein kann, um den Gesetzgeber zu veranlassen, die gesetzte Rechtsregel aufzuheben oder zu berichtigen. Soweit aber das Werturteil Kings als gültiges Recht hingestellt oder befunden wird, ist es nichts als ein Teil des normalen Prozesses der Konkretisierung und kann weder als Beweis für eine Theorie zivilen Ungehorsams noch als eine Theorie "natürlichen" (positiven) Rechts herangezogen werden. Denn es bleibt belastet durch jenen Konflikt der Gerechtheiten, der unserem immerwährenden Kampf für "Gerechtigkeit" in der Konkretisierung höherer Normen immanent ist. Nur wo der zivile Ungehorsam über das gesetzte Rechtssystem und dessen Apex-Norm hinausreicht, stützt er sich auf das, was wir ein (positives) Naturrecht genannt haben. (2) Ungültige Apex-Norm § 68. Thomas' Lehre bezieht sich lluf einen Ungehorsam, der das Naturrecht oder das göttliche Gesetz als gültige gesetzte Apex-Norm unberührt läßt. Dies ist anders in jenem wahrscheinlich berühmtesten und ältesten Beispiel für zivilen Ungehorsam, Antigones Weigerung, dem königlichen Verbot des Begräbnisses ihres Bruders zu gehorchen. Dieses Verbot, erklärte sie, sei dem Befehl ihrer Götter entgegen. Diese Sage mag den mystischen Kampf zwischen den olympischen und älteren Göttern symbolisiert haben4!. Oder sie mag einfach das ewigmenschliche Problem ausgedrückt haben, zwischen dem, was als irdische und göttliche Gerechtigkeit empfunden wird, wählen zu müssen43 • In beiden Auslegungen war es die gesetzte Apex-Norm, um die der Streit ging. Und es war wiederum jene Apex-Norm, die angegriffen wurde, als sich im 19. Jahrhundert amerikanische "Transzendentalisten" auf eine höhere Norm bezogen, die, wie sie behaupteten, jede Rechtsordnung ächte, die Sklaverei und ungerechte Kriege dulde". c) "Die Vorschrift ist zwar gültig, muß aber als ungerecht geändert werden"

§ 69. Anderung unter Beibehaltung der Apex-Norm. Wer einer Vorschrift mit der Begründung, sie sei ungerecht, den Gehorsam verwei42 Z. B. Comford 110-119; Harrison Kap. X; Flück!ger. " Siehe Erik Wolf 1248-280. "Emerson, Thoreau, Theodore Parker und G. W. Curtis betrachteten diese Duldung nicht als eine Verletzung geltenden Rechts. Für sie gab es ein "höheres Gesetz" über der Verfassung. Siehe Madden, 95, 96, und passim.

§ 70

Ziviler Ungehorsam

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gert, verneint nicht notwendig ihre gültige Konkretisierung und rechtliche Sanktion im Rahmen der Apex-Norm (§§ 64-67); noch verneint er gewöhnlich die Gültigkeit dieser Apex-Norm (§ 68). Er kämpft auch zumeist nicht um ihre Änderung und damit für den Umsturz des ganzen Rechtssystems (§ 70). Vielmehr verweigert er der Vorschrift in der Regel den Gehorsam lediglich in der Absicht, den Gesetzgeber zu veranlassen oder zu zwingen, eine mißliebige Vorschrift durch eine "gerechter" scheinende zu ersetzen. Gandhis und Kings Ungehorsam waren wenigstens teilweise von dieser Art4s . § 70. Anderung der Apex-Norm selbst. Nicht immer aber ist der zivile Ungehorsam so in seinem Ziel beschränkt: Manchmal will er tatsächlich die Änderung der höchsten gesetzten Norm, der Apex-Norm selbst, erzwingen, handle es sich dabei um eine geschriebene oder ungeschriebene Verfassung oder die Autorität des absoluten Herrschers. Gandhis Position war ambivalent. Bisweilen rechtfertigte er seine Aufforderung zum zivilen Ungehorsam durch ein "verfassungsmäßiges" Recht der "auserwählten Wenigen", die zur Selbstkasteiung bereit seien48 . Diese Version seines Kreuzzuges, die sich selbst auf die Apex-Norm stützte, gehört in einen schon früher besprochenen Zusammenhang. Aber bisweilen kämpfte er auch für eine Änderung der vom Kolonialherrscher erlassenen Apex-Norm selbst47 . Begrifflich kann auch solcher Ungehorsam gewaltlos sein. Seine Metanorm, die diesen Kampf "legalisierte", war Satyagraha (wörtlich "Bestehen auf Wahrheit") als eine Lebenshaltung, die "die Rechtfertigung der Wahrheit nicht durch die Verhängung von Leiden über den Gegner, sondern über sich selbst sucht ... durch die Kraft der Seele, die Leben und Achtung des Gegners voraussetzt sowie Willigkeit auf die Stimmen des Gewissens und der Vernunft zu hören, die so unbewußt auf den Gegner einwirken"48. Aber unglücklicherweise führen schon das erstrebte Ziel, die Apex-Norm zu ändern, und der darum zu erwartende Widerstand von Seiten des Herrschers allzu oft gerade zu jener gewaltsamen Aktion, die für Gandhi "Zügellosigkeit, Gesetzlosigkeit und Tod bedeutet hat, so wie für ihn ziviler Ungehorsam Freiheit, Wachstum und Leben war"4~. 45 Gandhi 60; M. L. King 83-84; auch Konvitz. Schillers gleichermaßen ambivalente Tendenz in seinem Wilhelm Tell behandelt Waider. 48 Oben § 65 Anm. 38; unten §§ 71, 73. 47 Baxi; Horsburgh 50-51; Wolfensteln. 48 Dhawan 126, 128-142. Eine psychologische Geschichte von Gandhis Lehre bezüglich seines "Prinzips des Ahisma" gibt Erikson, Gandhi 410-418. Durchgängige Analogien zwischen Freuds und Gandhis Botschaften ebendort, 244-247, 438-440. "In beiden Begegnungen kann nur die militante Sondierung einer vitalen Streitfrage durch eine nicht gewaltmäßige Konfrontation jene Einsichten ans Licht bringen, die auf beiden Seiten vorha'!1den sind." Ebendort 439; auch Leys und Rao 446-448. 40 Dhawan 239. über das Mißverständnis von Gandhis Haltung gegenüber der Gewalt, Erikson, Gandhi 283-286.

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

§ 72

d) "Recht zum Ungehorsam"? § 71. Das Recht, das Gesetz in Frage zu stellen. Man hat oft von demjenigen, der Recht schafft (Gesetzgeber, Richter und Verwaltungsbeamter), selbst verlangt, daß er ein Recht auf zivilen Ungehorsam erkenne. Mit solcher Anerkennung würde aber natürlich der zivile Ungehorsam aufhören, Ungehorsam zu sein. Denn eine solche Anerkennung würde bedeuten, daß bestimmte Rechtsvorschriften so formuliert oder interpretiert werden, daß sie die Verletzung anderer gesetzter Vorschriften für besondere Zwecke gestatten, wie etwa um die überprüfung einer behaupteten Diskriminierung zu erzwingen. Wo auf diese Weise ein "Naturrechts"-Postulat ein Teil gesetzten Rechts würde, verriete es nur, wenn auch vielleicht zu großem Nutzen, die Ambivalenz des Rechtsschöpfers 50 • Ein weniger verwegener Vorschlag würde es bei der Sanktion belassen, andererseits aber den Rechtsschöpfer verpflichten, sowohl das Recht, eine gegenteilige Meinung zu äußern wie auch das "Recht", "geeignete Maßnahmen" zu ergreifen, "um eine Modifikation (des angeblich ungerechten Gesetzes) zu erreichen", anzuerkennen und zu garantieren51 • Aber solch ein Plan würde lediglich den zivilen Ungehorsam und seine Sanktion von ihrer sozialen Mißbilligung befreien - die tatsächlich beide lange weitgehend verloren haben.

§ 72. Der "Ungehorsam" des Gesetzes selbst. Wenn das Gesetz bisher weitgehend außerstande war, Mechanismen für seine eigene überprüfung zu schaffen, so hat es doch stets Vorkehrungen für seine Selbstberichtigung getroffen. Aristoteles pries seine "epieikeia" als "Anpassung des Rechts", wo dieses fehlgeht 52 • Das biblische Recht verwarf oft "summum ius" als "summa iniuria"53. Das römische prätorische Recht war in vielfacher Hinsicht dazu bestimmt, dem ius civile auszuweichen54 , in derselben Weise, wie hiyal-Fiktionen strenge Gesetze des islamischen Rechts umgehen56 • Erasmus machte die Konzeption Aristoteles' zu einem wesentlichen Teil humanistischen Denkens51 • Und kontinentale Philosophen haben wiederholt das Recht des Richters nachdrücklich betont, gegen das Gesetz zu entscheiden, um die Gerechtigkeit zu fördern 67 • Schoenfeld, Superego 311. Tebaldeschi 106; auch Martin 136. $! AristoteIes, Nikomachische Ethik, 1136 a-1138 a; ders., Rhetorik, 1374 a bis b. Siehe z. B. Radin, Justice; Marcic § 11; Hamburger 101-105; Ralph Newman, Equity; ders., Comparative Law. 53 Daube, Roman Law Kap. 5. 5' Z. B. Friedmann 490-492; Bodenheimer § 71; Crook 30. 5S Z. B. Anderson Kap. 2, passim. 58 über Erasmus (1466-1536) z. B. Russell 512-517; Guido Kisch 331-343 (mit mittelalterlicher und moderner Bibliographie). 57 Engisch 170-171; Coing 283-286; Frosini 91-97. 50 $1

§ 73

Ziviler Ungehorsam

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Aber es gibt noch viele andere Beispiele. Der König von England ermächtigte seinen Kanzler, die Gerichtsbarkeit des common law unter dem Gesichtspunkt der equity einzuschränken. Das mexikanische Bundeszivilgesetzbuch von 1926 erlaubt dem Richter, eine Rechtsvorschrift zu Gunsten -eines armen Illiteraten, der sich auf Unkenntnis des Gesetzes beruft, unbeachtet zu lassen58 • Und viele Vorschrüten europäischer Gesetzbücher sehen ausdrücklich die berichtigende Anwendung von Billigkeitsgrundsätzen vor59 • Schließlich erfüllt auch die amerikanische jury insoweit eine ähnlich-e Funktion in jenen wichtigen Gebieten des Rechts, wo ihr unbegründeter Srpuch dazu dient, solche pseudo-rationalen Vorschriften, wie jene, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit und zivilrechtliche Haftung bestimmen, zu neutralisieren60 . Weniger dramatisch aber weltweit sind der Notbehelf des "ordre public" gegenüber übergeneralisierten oder obsoleten Vorschriften aus dem internationalen Privatrecht und anderen Rechtsgebieten61 und die "Generalklauseln" der Gesetzbücher des civil law und auch mancher Formeln des späten common law (§§ 101, 123). § 73. Das "Recht zur Revolution". Das äußerste Recht zum Widerstand würde von einem Gesetzgeber gewährt, der ein gewaltsam-es Vorgehen gegen seine eigene Autorität gestatten würde. In der Tat "enthält der Gedanke, daß Bürger, die unter dem Gesetz leben, ein Recht zur Revolution haben, begrifflich nichts Unzulässiges"62. Der lang vergessene Artikel 61 keines geringeren Rechtsdokumentes als der Magna Charta von 1215 anerkannte ausdrücklich ein solch-es Recht. Die Pairs werden darin ermächtigt, dann, wenn der König es versäumen sollte, gewissen Beschwerden zu entsprechen, "zusammen mit der Gemeinschaft des ganzen Königreiches den König mit allen nur d-enkbaren Mitteln zu bedrängen ("distrain and distress"), durch Beschlagnahme seiner Schlösser, Ländereien, Besitzungen sowie in jeder ande68 Art. 21, der jedoch die Zustimmung der Exekutive voraussetzt. Siehe auch z. B. § 8 des österreichischen Regierungsentwurfes eines Strafgesetzbuches (1968). über eine entsprechende alte schwedische Vorschrift in Olaus Petris "Normen für die Richter" von 1550 siehe David s. 94. Vgl. Marcie 159,

282.

58 BGB §§ 315, 829, 920; Oster. ABGB §§ 500, 904, 914, 1310; !tal. Codiee Civile, Art. 113, 114; Statute of International Court of Justiee Art. 38 (1) (e); Codex Juris Canonici, Canons 20, 80 ff. über die "Generalklausel" siehe unten § 123. Über "civil law equity", im allgemeinen z. B. Ralph Newrnan, Equity; Yntema. 80 Unten §§ 177-197, 204--213. Siehe z. B. Cornish 115-125. In Zeiten der Krise erwartet man gelegentlich von der Jury sogar eine außerrechtliche Genehmigung "gerechtfertigter" Kriegsverweigerung. Vgl. Joe Sax. Eine ähnliche Funktion, illegale Handlungen zu schützen, hat man auch diskretionärer Nichtverfolgung zugesprochen. Dworkin, Disobedienee. n Z. B. Ehrenzweig, Reeueil §§ 65-71. u Summers, Introduetion 9. Vgl. auch MeIntosh 906.

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

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ren ihnen zu Gebote stehenden Weise, bis der Beschwerde zu ihrer Befriedigung genuggetan ist". Moderne Gesetzgebungen bieten zusätzliche Beispiele88 • Viele Philosophen haben sich auf verschiedene Metanormen berufen, die als Apex-Norm sogar die Beseitigung des Herrschers als "Recht" gestatten sollen. Thomas sprach dem Volke das Recht zu, den ungerechten Herrscher abzusetzen, Johannes von Salisbury billigte den Tyrannenmord84 , und J ohn Locke kam zu ähnlichen Schlüssen auf Grund des Gesellschaftsvertrags. Von Blackstone sagt man, daß er vorsichtiger verwandten Gedanken gefolgt sei8~. Und in neuerer Zeit anerkannte Geny ein naturgegebenes Recht auf Rebellion gegen "schreienden Mißbrauch gesetzgeberischer Macht"!!. Aber nicht einmal König Johann erlaubte seinen Pairs, ihn seiner Krone zu berauben. Und auch Thomas' Kaiser, für den die Sicherung von "Menschenrechten" gegen seine Regierung in dem "göttlichen" und sogar im "natürlichen" Recht zu sehen war, war kaum geneigt, zuzulassen, daß das "ewige" Recht zur Anfechtung seines Amtes selbst angerufen werde. Diese letzte Konsequenz wurde erst gezogen, als Art. 35 der französischen Verfassung von 1793 den Aufstand gegen eine ungerechte Regierung zur "heiligsten Pflicht des Volkes erklärte"!7. 3. Strafbarer Gehorsam

§ 74. Das Problem des zivilen Ungehorsams betrifft die Frage, wann eine gesetzte Vorschrift verletzt werden kann. Ein Gegenstück zu dieser Frage geht dahin, wann eine gesetzte Vorschrift verletzt werden muß. Dieses Problem ist in diesem Zusammenhang nur selten diskutiert worden. Dennoch ist es, nachdem es zuerst in der Lehre Thomas von Aquin berührt worden war, der Prüfstein der sogenannten Wiederkehr des Naturrechts seit dem zweiten Weltkrieg. So wurden gewisse Nachkriegs-Entscheidungen in Deutschland, die Gehorsam für strafbar erklärten, als neuer "Beweis" für die "Existenz" des Naturrechts benutzt. 88 Z. B. Text zu unten Anm. 67; Bonner Grundgesetz, Art. 20 IV. Für ergänzende Hinweise, Marcic 285-287. Für die amerikanische Geschichte vgl. In re Anastaplo, 366 U.S. 82, 112-116 (1961) (Black, J., in Dissent). 14 Oben Anm. 34, 35. 85 VgI. Blackstone §§ 44, 59. über Blackstone, oben §§ 31, 65; auch Finnis 175. 18 Zitiert nach Friedmann 332. Siehe oben § 48. 87 Declaration des droits de l'homme et du citoyen, 24. Juni 1793: "Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist Aufruhr des Volkes und jedes seiner Teile heiligstes Recht und unbedingteste Pflicht." Vgl. Duguit u. a. 65. Die schwedische Verfassung von 1720 mag als ein Vorläufer dieser Bestimmung angesehen werden. Jägerskjöld, Tyrannicide 80. Siehe auch oben Anm.63.

§ 74

Strafbarer Gehorsam

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In einem Fall handelte es sich um eine Frau, die, in Befolgung eines Parteibefehls, Anzeige gegen ihren Ehemann erstattete; in einem anderen Fall um die schon während der Auflösung des Regimes von einem Nazi-Beamten vollzogene standrechtliche Hinrichtung eines Mannes, dem vorgeworfen worden war, einer Halbjüdin Unterkunft gewährt zu haben8s • Weder diese Entscheidungen noch die Theorien, die von ihnen abgeleitet oder ihnen zugeschrieben worden sind, haben einer Naturrechtsdoktrin neue Beweiskraft gebracht. Wie die Urteile von Nürnberg bestrafen sie zugegebenermaßen Gehorsam gegenüber gesetzten Rechtsvorschriften unter Berufung auf ein "höheres Recht". Aber, weit entfernt davon, die "Existenz" eines solchen Rechts zu beweisen, verkleiden sie lediglich das "Setzen" von rückwirkenden, legislativen oder judikativen Aufhebungen früheren Rechts 8D und veranschaulichen die Tatsache, daß Recht fortlaufend durch wertgerichtete Konkretisierung neu geschaffen wird. Ein Richter, der heute die Gültigkeit eines NaziErlasses oder einer Nazi-Maßnahme verneint, stellt lediglich fest, daß dieser Erlaß oder diese Maßnahme nach dem gegenwärtig geltenden Recht nur dann Recht war, wenn sie dem entsprechen, was er heute als bestimmte Mindestanforderungen der "Gerechtigkeit" ansieht. Indem er so gesetzte Rechtsvorschriften erneut interpretiert, tut er nichts anderes, als was jedem Richter stets zu tun auferlegt ist. Weder bekundet er damit einen Glauben an das Naturrecht, noch schafft er ein Problem für den Positivisten70 • Ein abschließendes Beispiel wird zeigen, daß diese Schlußfolgerung nicht stets für selbstverständlich gehalten worden ist. Auf einer internationalen Konferenz nach dem zweiten Weltkrieg berichtete ein bekannter deutscher Rechtsgelehrter über seine Erfahrungen unter dem Hitler-Regime. Er erklärte mit einiger Feierlichkeit, daß er Positivist gewesen, aber wegen jener Erfahrungen seither ein Anhänger der Naturrechtsdoktrin geworden sei. Er meinte, daß einige von Hitlers Erlässen wie der, der die Tötung gewisser geisteskranker Menschen anordnete, "einfach nicht Recht sein konnte". Um trotz der Tatsache, daß dieser Erlaß einst ordnungsgemäß von einer mit Durchsetzungsmacht ausgestatteten Regierung verkündet worden war, zu dieser Schlußfolgerung zu gelangen, glaubte er die "Existenz" eines Naturrechts annehmen zu müssen, das den Gehorsam gegenüber der "positiven" Vorschrift verbat. Diese Ansicht kann aber nur auf zweierlei 88 Für den "Spitzel-Fall" vgl. Hart, Positivism 618; Fuller, Reply 652; ders., Morality 187-195; Friedmann 350-356; Wortley 444-452; Ernst von Hippel; Villani 18-19. 88 Geny, Science s. 288. 70 Vgl. aber Hall, Integrative Jurisprudence 324.

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1. Kap.: Recht und Gerechtigkeit

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Weise verstanden werden. Entweder konstruierte er jede Rechtsvorschrift, die von seiner Regierung erlassen wurde, dahin, daß sie für ihn nur gültig war, wenn sie von seinem Gewissen gebilligt wurde; oder er entschied, daß tür ihn Hitlers Apex-Norm gemessen an einer höheren Metanorm der Gerechtigkeit ihre Gültigkeit verloren hatte. Es gibt nichts in beiden Konstruktionen, das der "positivistischen" Theorie widersprechen würde. Wohl hätte unser Freund dem Gefängnis oder dem Galgen anheimfallen können, wenn er sich entsprechend seinen Ansichten verhalten hätte. Sobald er aber für sich selbst beschlossen hatte, die Rechtsnatur, das gültige Sollen, von Hitlers Sanktionen oder die Apex-Norm des damaligen Rechtssystems zu negieren, hörten diese Sanktionen, hörte das ganze System, obwohl es "gesetzt" war, tür ihn auf, gültiges positives Recht zu sein. Ebensowenig wie die Gültigkeit eines Rechtssystems, kann die einer davon abgeleiteten Vorschrift verifiziert werden. Diese Gültigkeit wird vielmehr als mehr oder weniger nützlich entweder angenommen oder verneint, je nach der Willkür jedes einzelnen Beobachters. Man kann natürlich von bestimmten Staatsakten als rechtlich wirksam sprechen. Man kann so das Recht als Faktum betrachten. Gerade dies wollen wir von einem psychologischen Standpunkt im Zweiten Teil dieses Buches versuchen. Selbst von diesem Standpunkt aber bleiben die Begriffe des Naturrechts (außer wenn es als Ausdruck eines metarechtlichen Glaubens angesehen wird) und des positiven Rechts identisch, mögen auch die diesen Begriffen entsprechenden Worte verschiedene gefühlsmäßige Reaktionen ausdrücken oder auslösen. So hören strafbarer Gehorsam, ebenso wie ziviler Ungehorsam auf, ein Kampffeld der "Schulen der Rechtsphilosophie" zu sein.

Zweites Kapitel

Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie) A. Warum Rechtsvergleicllung? § 75. Aus drei Gründen scheint es angebracht, an dieser Stelle eine vergleichende Untersuchung einzubeziehen. Erstens können wir in der Gegenüberstellung von Rechtsordnungen jene Rechtsstruktur prüfen ("Was ist Recht?"), für die wir uns im Ersten Kapitel über die rechtsphilosophischen "Schulen" entschlossen haben. Zweitens werden wir andere wichtige Kampfplätze der Auseinandersetzung zwischen diesen Schulen, nämlich das "Rechtsein" einzelner Regeln, als Prüfstein unserer Analyse erforschen können ("Was ist rechtens?"). Und drittens mag es uns gelingen, im Zuge der Untersuchung gewisse begriffliche Unklarheiten zu beseitigen, die immer wieder die internationale Verständigung behindern. 1. Ein torüfstein der Recbtsstruktur: Was ist Recbt? § 76. Wenn wir uns des Abends niederlegen, zweifeln wir nicht daran, daß das Möbel, auf dem wir ruhen, gemeinhin als Bett bezeichnet wird. Und mit gutem Grund nehmen wir an, daß andere Kulturen und Sprachen einen entsprechenden Begriff und ein entsprechendes Wort besitzen. Untersuchen wir jedoch fremde Kulturen und Sprachen, so kann sich herausstellen, daß unsere Annahme nicht ganz so verläßlich ist, wie sie anfangs erschien. Wenn wir dazu neigen, das Vorhandensein von vier Beinen in unsere Definition einzubeziehen, dann werden wir die japanische Schlafrolle auf dem Tatami aus unserem Betrachtungsfeld ausschließen müssen. Eine solche Definition wäre nun gewiß nicht "falsch". Was zweifelhaft sein könnte ist nur, ob sie für unseren gerade vorliegenden Zweck nützlich wäre. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn wir es mit dem Bereich gewisser Sicherheitsanforderungen für "Betten" zu tun haben. Für andere Zwecke könnte unsere Definition dagegen ungeeignet sein. So könnte uns daran gelegen sein, festzustellen, wieviele Menschen irgendwelche eigene Schlafvorrichtungen

112

2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

§ 76

haben. Beim Definieren des "Rechts" müssen wir uns in ähnlicher Weise an der Brauchbarkeit der jeweiligen Definition für eine erfolgreiche Verständigung orientieren. Was sollen wir zweckmäßigerweise für die Vergleichung der führenden Rechtssysteme "Recht" nennen? Wir werden sehen, daß der uns gemeinsame Gerechtigkeitssinn unsere Wahl zwischen einander widerstreitenden Gerechtheiten und damit schließlich die Erzeugung und Anwendung allen Rechtsinhaltes bestimmt (§§ 149-169). Wir werden mehr über diese Wahl zu sagen haben, die wir alle danach treffen, was wir tun "sollen" oder was uns zu tun "gefällt". Wir wissen wenig über die Ursprünge dieser Wertungen. Selbst von einem Menschen, der in den Wäldern von der sagenhaften Wölfin gesäugt worden ist, kann man sich - genausowenig wie von seinen tierischen "Pflegeeltern" - kaum vorstellen, daß er handelt, ohne zu wählen was ihm "gefällt"1. Wie dem auch sei, das Kind an der Mutterbrust zeigt sein Vergnügen oder Mißvergnügen je nachdem, ob es in der Lage ist oder nicht, seinen Neigungen zu folgen. Diese Reaktion können wir seine erste Ökonomik (§ 135) oder Ästhetik (§§ 136-148) nennen. Und wenn das Kind irgendwann und irgendwie lernt, Befehle zu beachten oder zu mißachten, so können wir von seiner ersten Ethik sprechen. Denn die Verhaltensregeln und Normen, die es auf diese Weise aus den Reaktionen seines Vaters, seiner Mutter, seiner Geschwister oder einer Gemeinschaft ableitet, antworten auf ein angeborenes oder entwickeln ein angelerntes Gerechtigkeitsgefühl. Für unsere augenblicklichen Zwecke ist es unerheblich, wo wir die Grenze zwischen diesem vagen Gefühl und der bewüßten Anerkennung einer gültigen Rechtsnorm ziehen. An einem bestimmten Punkt seiner Entwicklung wird das Kind beginnen, die Anordnungen seines Vaters als Teil eines allgemeinen Autoritätsmusters hinzunehmen. Ebenso wird an einem bestimmten Punkt seiner Geschichte ein primitives Gemeinwesen aufhören, feststehende Bräuche mechanisch zu befolgen und damit anfangen, eine Gehorsamspflicht lediglich auf eine gültige "Rechtsnorm" zu beziehen. Die Anthropologie hat uns reichlich mit Fakten und Spekulationen über den Ursprung und das Werden derartiger vorrechtlicher und rechtlicher Ordnungen versorgt2 • Indessen können wir uns für unsere Zwecke damit zufrieden geben, die Quellen der Normsetzung in bestehenden "Rechtsordnungen" zu vergleichen, um ihr "Rechtsein" aus dem Blickwinkel der Rechtsphilosophie zu bestimmen. 1 Vgl. etwa Frosini 25-26; Hass 68 (über ein Experiment). Eine poetische Behandlung dieses Themas findet man in Kiplings Jungle Book in der Figur des Mowgli. I Unten § 34. Vgl. A. S. Diamond; Sawer.

Warum Rechtsvergleichung?

§ 77

118

2. Ein Prüfstein der Rechtsphilosophie: Was ist Reddsein?

§ 77. Wir haben gesagt, daß die Rechtsvergleichung einen weiteren Kampfplatz unserer rechtsphilosophischen "Schulen" darstellt. In der Tat wird der "Positivismus" unrichtig allzu oft mit der angeblichen Vorliebe kontinental-europäischer Rechtssysteme (civil law) für Gesetzgebung identifiziertS, im Gegensatz zum angeblich "naturrechtlichen" Charakter des von Richtern "gefundenen" common law (§ 37). Die Widerlegung dieses Irrtums und ähnlicher anderer wurde immer zwingender durch die Fluktuationen und militärischen Besetzungen während der beiden Weltkriege, die die Kontakte zwischen den Rechtskreisen erheblich intensiviert haben. Internationale Konferenzen sowohl auf wirtschaftlichem als auch auf politischem Gebiet machen die Vertrautheit mit den Besonderheiten des Rechtsdenkens von Verhandlungspartnern erforderlich. Leider demonstrieren etwa die Protokolle der Konferenzen über Rechtsvergleichung und über internationales Privatrecht' oder - dramatischer und verhängnisvoller - die Protokolle der Nürnberger Prozesse die Fallstricke sprachlicher und ideologischer Mißverständnisse. Es ist daher kein Wunder, daß selbst das zwischenstaatliche Gespräch unter Rechtsphilosophen am Fluch der babylonischen Sprachverwirrung leidet. Es ist dieses Gespräch, um das es uns hier in erster Linie geht. Das Versagen herkömmlicher Versuche, den wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Rechtsordnungen zu definieren, hat viele resignieren lassen. Andere haben sich wiederum mit Genugtuung der Selbsttäuschung hingegeben, daß die Unterschiede allmählich schwinden. Indessen sind weder Resignation noch Genugtuung gerechtfertigt. Eine kritische Durchforschung der angeblichen Unterschiede wird m. E. erweisen, daß jede der gegenwärtigen Theorien, möge sie in ihrer Allgemeinheit auch ungenau sein, einige Körnchen Wahrheit enthalten, die uns, verbunden mit anderen, einer hilfreichen Analyse näherbringen. Diese Analyse wird uns auf eine Reise um die Welt führen, in Zeit und Raum, durch die Kern- und Randgebiete der einzelnen Rechtssphären. Bei diesem Unternehmen wird es sich als förderlich erweisen, nach Ausschluß der übrigen Klassifizierungen sich auf die vorgeblichen und wirklichen Unterschiede der beiden weithin dominierenden Rechtssysteme, derer des civillaw (einschließlich des kontinentaleuropäischen) und des common law ("anglo-amerikanischen" Rechts) im Hinblick auf ihre Auffassungen des Rechtsbegriffs zu konzentrieren. Auf der Grundlage dieser rechtsphilosophischen Analyse wird dieses Kapitel durch einen pragmatischen Versuch abgeschlossen, der dem verglei3 4

Fuller 31; Richard Taylor 633. Vgl. oben § 25; unten § 110 Anm. 33. Vgl. etwa Vitta Kap. H, rH.

8 EbrellJlweil

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

§78

chenden Betrachter helfen soll, festzustellen, was bei einer bestimmten Fragestellung in einem bestimmten System "rechtens" ist. Dieser Versuch wird, so glaube ich, sowohl die im ersten Teil erarbeiteten Folgerungen als auch mein Vertrauen auf die psychologische Betrachtungsweise im zweiten Teil bekräftigen. Schon hier müssen wir betonen, daß unsere Vergleichung jenes Rechtsgebiet ausschließen muß, das wir ungenau als das des Status bezeichnen können und das hier alle persönliche Beziehungen betreffenden Rechtsregeln, einschließlich die des Erbrechtes und des Grundeigentums, umfaßt. Denn auf diesem Gebiete hat eingeborenes Gewohnheitsrecht sich in einem großen Teil der Welt behauptet, obwohl es auch dort nun einer ungewissen Zukunft entgegengehen mag. Was übrig bleibt und hier als "civil" oder "common" law behandelt werden soll, ist schwer hinreichend präzise zu definieren. Ich will, einer Anregung Murad Ferids folgend, von "Vermögensverkehrsrecht"6 sprechen, wobei wir uns aber immer daran erinnern müssen, daß wir hier solche Rechtsgebiete wie Schadensersatzrecht und außerhandelsrechtliches Vertragsrecht einschließen. Wir haben es dabei im wesentlichen mit wirtschaftlichen Beziehungen, die allen Rechten gemeinsam sind, zu tun, etwa ähnlich dem römischen jus gentium, das ja, obwohl es von fremden Kaufleuten eingeführt und dann für sie weiter fortgebildet wurde, schließlich zum Alltagsrecht des Alltagsmenschen wurde. 3. Klassifizierungen

§ 78. Den meisten Klassifizierungen, die in rechtsvergleichenden Darstellungen vorgeschlagen werden, gelingt es nicht, damit rechtsphilosophische Erkenntnisse zu verbinden. Da gibt es (1) Klassifizierungen nach Kulturen, geteilt in primitive Rechte (Australien, die Südseeinseln, beide Teile Amerikas und Afrika), alte Rechte des Mittelmeerraumes (Ägypten, Babylonien, Griechenland und Rom), römisch-germanische Rechte Kontinentaleuropas und des anglo-amerikanischen Bereiches, religiöse Rechte (hebräisch, christlich und islamisch) und asiatische Rechte (Türkei, Persien, Indien, China, Japan und die Mongolei)8; (2) Klassifizierungen nach Rassen und Sprachen in den verschie5 Dieser Ausdruck entspricht dem französischen "droit patrimonial" und hat kein englisches Äquivalent. Dulckeit-Schwarz 37 verfolgt die Geschichte seines "Verkehrsrechts" zurück zu seiner Trennung vom "fas" als "ius". Vgl. auch a.a.O. § 13. o Vgl. etwa David §§ 9-12; R. B. Schlesinger 251-261; Malmström. Im folgenden wird der Ausdruck "anglo-amerikanisches" Recht nach Tunlichkeit vermieden werden. Denn in vielen entscheidenden Punkten ist das englische Recht dem "kontinental-europäischen" ähnlicher als dem amerikanischen Tochterrecht. Ebenso wird der Ausdruck "kontinental-europäisches Recht" zumeist zu vermeiden sein, da ja das civil law viele asiatische (Japan und

§ 80

Geographischer überblick

115

denartigsten Kombinationen7 ; (3) genetische Klassüizierungen in barbarische, barbarisch-romanische, barbarisch-romanisch-kanonische und barbarisch-demokratische Rechte 8 ; und (4) die ökonomische oder ideologische Unterscheidung zwischen "kapitalistischen" und "sozialistischen" Rechtskreisen. Indessen müssen wir uns bei unserer rechtswissenschaftlichen Analyse im vorliegenden Zusammenhang auf die eine große Zweiteilung beschränken, die den Rechtskreisen des civil law und des eommon law entspricht. Ein Blick auf die Rechte in einigen Randgebieten soll diese Beschränkung rechtfertigen und die Hauptmerkmale der Kernländer weiter erhellen.

B. Geographischer Oberblick 1. Die Kernländer des common law

§ 79. Zu diesen Ländern gehören England, Kanada mit Ausnahme von Quebee (§ 80), Australien und Neuseeland sowie andere Teile des Commonwealth (§ 82). Die Vereinigten Staaten haben mit Ausnahme von Louisiana und Puerto Rieo das eommon law rezipiert, wenn auch nicht ohne Reibung9 • Demgegenüber boten Irland (d. h. heute der Irische Freistaat und Nordirland) und Wales dem übermächtigen Einfluß des englischen Rechts aus nicht ganz geklärten Gründen wenig Widerstand10• 2. Die Kernländer des civil law

§ 80. Es wird sich zeigen, daß es nicht leicht ist, Merkmale zu identifizieren, die allen Rechtsordnungen des eivil law gemein sind. ZuIndonesien) und afrikanische (Ägypten und alle frankophonen Länder) und vor allem die latein-amerikanischen Rechte umfaßt. Vgl. auch etwa Kiralfy. 7 Lateinische, germanische, angelsächsische, slawische und islamische Rechte (Sauser-Hall); lateinische, angelsächsische, germanische und slawische Rechte (DeI Vecchio); romanische, angelsächsische und islamische Rechte (Sarfatti); romanische, germanische, sozialistische, common law, religiöse und traditionelle Rechte (David); romanische, angelsächsische, islamische, hinduistische und chinesische Rechte (Tylor). Vgl. Arminjon. Obwohl Zweigerts Lehre überzeugend die große Bedeutung des "Stils" betont (46-56), schließt er mit einer ähnlichen Aufzählung romanischer, germanischer, nordischer, angelsächsischer, kommunistischer, fernöstlicher (nicht-kommunistischer), islamischer und Hindu Rechte (55). Vgl. Malmström 143. Siehe aber auch des letzteren Autors okzidentale, sozialistische, asiatisch nicht-kommunistische und afrikanische Gruppen und Untergruppen. A.a.O. 147. Ober Schnitzers Klassifikation, vgl. a.a.O. 132-134. 8 Martinez Paz 154. 8 Radin, Rivalry; David und Grasmann §§ 367-370; Aumann, Influence; Stein, America. 10 Unten § 82; Wigmore Kapitel X; Rabel. Bezüglich Schottlands, vgl. unten § 86 Anm. 83. 8·

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphllosophie)

§ 80

nächst wird die Kodifikation des Privatrechts als solches Merkmal betrachtet. Tatsächlich ist sie wenigstens in a11 den Ländern vorhanden, die sich heute als Kernländer dieses Rechtskreises bezeichnen lassen. Eines der großen noch geltenden älteren Gesetzbücher ist das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811. Es ist heute in Österreich selbst noch fast uneingeschränkt in Kraft und dürfte auf andere, jetzt kommunistische Länder Mitteleuropas einigen Einfluß behalten habenl l • Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 hat eine große Familie gegründet, zu der die Gesetzbücher von Brasilien (1917), China (1930), Japan (1896) und Polen (1934) gehören. Darüber hinaus ist es verwandt mit den Gesetzbüchern Mexikos (1928) und der Schweiz (1881-1907)12. Die Familie des französischen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1804 (§ 97) ist recht uneinheitlich. Einige ihrer Mitglieder ähneln ihrem Vorfahren mehr in der Form als im Inhalt (wie die Gesetzbücher von Louisiana und Spanien); andere wiederum, insbesondere die jüngeren Geschwister, tragen nur noch den Familiennamen13 • Zu den jüngsten Kodifikationen gehören diejenigen Äthiopiens (1960), der Deutschen Demokratischen Republik (1965), Griechenlands (1946), Perus (1936), Polens (1964), Portugals (1967), der Tschechoslowakei (1964), der UdSSR (1964) und Ungarns (1959); sie haben von allen klassischen Gesetzbüchern etwas übernommen. Der durchdringende und dauernde Einfluß der Kodüikation in den Ländern des civil law wurde kürzlich durch die Erfahrungen Indonesiens und Jugoslawiens demonstriert, deren Gesetzbücher aufgrund politischer Umwälzungen aufgehoben wurden - nur um dann in der gerichtlichen Praxis wenigstens zum Teil beibehalten zu werden14 • Baade, passim; unten § 96. Unten § 98. Das Schweizerische Gesetzbuch wurde von der Türkei im Jahre 1926 rezipiert. David § 447; Ansay und Wallace (Hrsg.); Hirsch, Einfluß; unten § 85. 13 Es folgt eine Aufzählung von Mitgliedern dieser Familie, und zwar einschließlich der längst verschwundenen: Ägypten (1875), Argentinien (1869), Belgien (1804), Bolivien (1830), Chile (1855), Columbien (1873) (über Chile), Costa Rica (1841) (über Chile), Cuba (1889) (über Spanien), Ekuador (1887) (über Chile), EI Salvador (1880) (über Chile), Guatemala (1877) (über Chile), Haiti (1825), Honduras (1880) (über Mexiko), Iran (1951), Italien (1865, 1942), der Libanon (1934), Louisiana (1882), Mexiko (1870, 1988), Nicaragua (1871) (über Chile), Niederlande (1838), Panama (1922) (über Spanien), Paraguay (1889) (über Argentinien), Peru (1855) (über Chile), Philippinen (1889) (über Spanien), Portugal (1867, 1967), Puerto Rieo (1889) (über Spanien), Quebee (1866), Rumänien (1863), San Domingo (1845), Spanien (1899), Syrien (1949), Thailand (1908), Uruguay (1868) (über Argentinien), Venezuela (1867). Siehe De Vries; Cappelletti, Merryman und Perillo; Limpens; Venema. Vgl. auch Ferid I/A 46-48, der die Dominikanische Republik und Luxembourg hinzufügt. 14 Vgl. David S. 154. 1951 instruierte das höchste indonesische Gericht alle Richter, jede Abweichung von traditionellen Rechten mit besonderen revolutionären Grundsätzen zu begründen. Vgl. unten § 83. 11

11

§ 82

Randgebiete

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3. Die Randgebiete

§ 81. Skandinavien. In Anbetracht ihrer weit auseinanderlaufenden historischen Entwicklungen sollten die skandinavischen Länder nicht einfach als einheitliches Rechtssystem betrachtet werden. Sie haben allerdings gemein, daß der Einfluß des römischen Rechts bei ihnen zumindest schwächer war als auf dem europäischen Kontinentl 5 • Und dann haben die Gesetzbücher aller dieser Länder, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt (Dänemark 1687, Norwegen 1683, Schweden und Finnland 1734) eingeführt wurden, wohl wegen ihres Alters und ihres Mangels an naturrechtlicher Fundierung und pandektistischer Systematisierung, niemals die Funktionen übernommen, die für die Gesetzbücher anderer Länder des civil law typisch sind. Sonst aber unterscheiden sich die skandinavischen Rechte wesentlich voneinander. Wohl hat man sie gelegentlich alle als "Gewohnheitsrecht" zusammengefaßtltl. Aber dieser Ausdruck verbirgt mehr als er erklärt. Merkwürdigerweise kann unter den europäischen Ländern nur Andorra zweckmäßig als ein Gebiet des Gewohnheitsrechts betrachtet werden17 . Vielleicht kommt Norwegen, das eines der ersten Gesetzbücher aufzuweisen hat, dem common law am nächsten. Dänemark und Island sind von dieser Tradition wahrscheinlich am weitesten entfernt18 , während Schweden und Finnland üblicherweise dazwischen eingeordnet werdeni'. Der Entwurf eines einheitlichen "Nordischen Gesetzbuches" scheint geringe Annahmechancen zu haben20 • § 82. "Rezipiertes" common law. Eine Anzahl von Ländern hat Prinzipien, Verfahrensweisen, Handhabung und sogar Gesetze des common law "rezipiert"21. Zweifellos bildeten politische Ereignisse wie "treuhänderische Verwaltung, Kolonisation, Eroberung oder Abtretung fremder Gebiete" die primären Gründe dieser Rezeptionen22 , und nicht so sehr, wie auch behauptet worden ist23 , die qualitative überlegenheit 15 Jägerskjöld, Roman Influences; David und Grasmann § 46. Vgl. Rehfeldt, Schweden; Sundberg 198-200; und im aUg. Stig Jergensen, Grundzüge. 18 Orfield; Eek, passim; im allgemeinen Vanderlinden 36, 44; Gomard. 17 Angelo, passim. 18 Vgl. auch Gomard, passim; Orfield, Icelandic Law. Ober Magnus Hakonarson (1239-1280) vgl. Lodrup. 18 Schmidt und Strömholm 61-71; Beckman; Von Eyben; Uotila (Hrsg.). Für den civil-Iaw-Charakter des skandinavischen Rechts, Sundberg 198; für eine "Dritte Welt"-Klassifikation, Stig Jergensen, Grundzüge 530. !O Fr. Vinding Kruse. Wegen des vollständigen Titels siehe die Bibliographie. !1 Rabel, passim; Goodhart et aI.; R. B. Schlesinger 254-261; O'Regan. U T. B. Smith, Cuckoo. !3 Graveson. Influence.

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

§ 82

des common law. Anscheinend wurden Grund und Umfang der Rezeption überall entscheidend durch die Organe der Rechtsprechung bestimmt. Zu den Ländern dieser Gruppe gehören frühere und jetzige Mitglieder des Commonwealth, darunter Zypern und Malaysia, wie auch die anglophonen Länder Afrikas 24 • Die größte Bedeutung hat in diesem Zusammenhang natürlich Indien (§ 85). Obwohl die englische Verwaltung unter dem Einfluß von Bentham und Macauley seit 1838 Gesetzgebungsexperimente einleitete und Indien schließlich seine Unabhängigkeit zurückgewann, hat das common law einen Großteil seiner Vorherrschaft behalten. Dies mag weitgehend auf das vielen Gegenmaßnahmen zum Trotz fortbestehende überwiegen der englischen Rechts-· sprache zurückzuführen sein25 und gleichzeitig den Grund dafür liefern daß der Einfluß amerikanischer Verfassungsprinzipien beständig wächst!'. Vielleicht liegt es am geringeren Widerstand gegen Englisch als offizieller Rechtssprache, daß Burma allem Anschein nach die englische Tradition noch erfolgreicher bewahrt hat. Demgegenüber ist Ceylon seinem civil law-Erbe treugeblieben, obwohl es am englischen Verfahrensrecht festhält; die Ursache hierfür mag in der ethnischen Spaltung und der verbliebenen römisch-holländischen Tradition liegen (§ 86). Die englische Ausbildung der Juristen mag teilweise erklären, warum die Bedeutung des common law selbst in Ländern wie Israel fortbesteht, wo diese Tradition mit religiösen Einflüssen, mit überbleibseln türkischen Eigentumsrechts und mit dem kontinentaleuropäischen Rechtsdenken führender Richter konkurriert!7. Aus ähnlichen Gründen scheint in den Philippinen das spanische Erbe so gut wie gänzlich dem amerikanischen Einfluß gewichen zu sein. Das ehemals ganz und gar amerikanische Gerichtswesen scheint auch für eine wohl einzigartige Gesetzesbestimmung verantwortlich zu sein, wonach einer Präzedenzentscheidung Gesetzeskraft zukommt. Ob sich ähnliche Entwicklungen auch in Puerto Rieo ergeben werden, hängt wahrscheinlich von den zukünftigen politischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten ab2s • In Japan (§ 83) haben die Experimente der amerikanischen Besatzungsbehörden dem civil law-Rechtssystem kaum mehr hinzugefügt als einen 24 Zu diesen Ländern gehören Ghana (Harvey), Kenia, Liberia (R. B. Schlesinger 258), Nigeria, Rhodesien (möglicherweise mit einem römisch-holländischen Anteil, § 86), der Sudan und Tansania (Mustafa) (Tanner). Vgl. David und Grasmann § 510; unten § 85. über Malaya siehe unten Anm. 65. U David und Grasmann §§ 463, 472, 476, 477; Zajtay, Rezeption 264; R. B. Schlesinger 257. 28 Gledhill, passim. !7 Vgl. Sassoon, passim; Yadin, passim; Bentwich; Tedeschi und Yadin (Hrsg.). 28 Unten § 109; Santa-Pinter, passim; R. B. Schlesinger 12-13, 202-203.

§ 83

Randgebiete

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gemischt amerikanisch-kontinentaleuropäischen Obersten Gerichtshof und ein gemischt amerikanisch-kontinentaleuropäisches Verfahren, aber auch eine durchaus echte Tendenz, den amerikanischen Gesetzesentwicklungen auf dem Gebiet des Handelsrechts zu folgen29 • Demgegenüber hat in Louisiana die allumfassende Bedeutung der sprachlichen Gemeinschaft mit den Nachbarstaaten dazu geführt, daß die spanischfranzösische Tradition trotz ihres Behauptungswillens in vielen Rechtsgebieten fast gänzlich in den Hintergrund gedrängt wurde 30 • Ob die tapferen Anstrengungen der Rechtsgelehrten in Schottland auf die Dauer in der Lage sein werden, dem Ansturm des common law zu wehren, bleibt abzuwarten31 • § 83. "Rezipiertes" civil law. Wir haben bereits erwähnt, daß die Rechte Japans und Lateinamerikas zur Familie der deutschen und französischen bürgerlichen Gesetzbücher gehören. In Japan hat wohl die Meiji-Restauration von 1868 der einheimischen Feudalordnung der Tokugawa (1603-1868) nachhaltig ein Rechtssystem nach deutschem Vorbild oktroyiert, wobei nur ein fortbestehendes ländliches Gewohnheitsrecht auf den Gebieten des Familien- und Erbrechts vorläufig ausgenommen werden kann32 • In der Türkei (§ 80) und in Lateinamerika ist das Bild weniger klar. Das moderne kontinentaleuropäische Rechtssystem scheint sich in Brasilien am sichersten etabliert zu haben, wohl infolge des Umstandes, daß sein Gesetzbuch von 1916 nicht wie jene anderer lateinamerikanischer Länder das fast mechanische Produkt einer allgemeinen Rezeption französischen Rechts im 19. Jahrhundert war, sondern das späte Substitut jener nachbyzantinischen königlichen Ordinanzen (1603, 1643), die ihr überdauern in unsere Zeit zunächst der Unabhängigkeit des Kaisertums verdankten33 • Andererseits mag die echt schöpferische Gesetzgebungsautonomie Mexikos eine Folge seiner noch fortwährenden sozialen Revolution sein3•• Was die übrigen Länder Lateinamerikas anlangt, so hat man Zweifel darüber geäußert, ob und U David und Grasmann §§ 497-500; Itoh; Von Mehren (Hrsg.), Japan 24 ff., 188 ff.; unten Anm. 32. ao Yiannopoulos (Hrsg.), Civil Law; Dainow, Lislet; Tate; Oppenheim; F. F. Stone. über Francis Xavier Martin's (1762-1846) Einfluß während der Formungszeit siehe Aumann 146--148. Im allgemeinen vgl. R. B. Schlesinger 12. a1 T. B. Smith, Contribution; id., Cuckoo; unten §§ 86, 109. a! David und Grasmann § 496; Wigmore Kap. VIII; Wren; Minear; Takayanagi. Vgl. aber auch oben Anm. 29. über die Rolle des Richterrechts vgl.

Kawashima, Precedent; Kitagawa. 33 Die Ordena~öes Filipinas wurden im Jahre 1603 verkündet und traten 40 Jahre später in Kraft. Martins Ferreira 11, Abschn. III. Den sozialen Hintergrund des Gesetzbuches behandelt Gomes. Texeiras de Freitas' (18161883) Werk ist der Gegenstand des Symposiums in Revista Forense 97 (1944) 527-542. über die institutionalisierte Ausweichtechnik des Jetto, siehe Rosenn. 34 Eine nützliche Bibliographie findet sich in Bayitch und Siqueiros.

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

§ 84

inwieweit das moderne Recht in die Sitten und Gebräuche der eingeborenen indianischen Bevölkerung oder in das alte Erbe der Kolonisten - einschließlich der spanischen Siete Partidas aus dem 13. Jahrhundert - eingedrungen seis5 • Zu den Ländern, die unter dem französischen Recht oder einem seiner (belgischen und portugiesischen) Abkömmlinge leben, gehören die frankophonen, neuerdings unabhängigen Staaten Afrikas und Madagaskar wie auch das alte Königtum von Siam38 • Das Zivilgesetzbuch Athiopiens wurde zwar von dem Franzosen Rene David verfaßt, wird aber größ. tenteils von Richtern angewandt, die nach englischem Muster ausgebildet worden sind37 • In Indonesien scheint die Aufhebung des niederländischen Zivilgesetzbuches im Jahre 1960 den holländischen Einfluß nicht beseitigt zu haben. Allem Anschein nach lebt die Ausbildung der Juristen in den Niederlanden teilweise wieder auf, und zwar möglicherweise deshalb, weil holländisch als Gelehrtensprache zumindest vorläufig weiterexistiert. Man hat freilich ursprünglich gemeint, daß das auf Gewohnheit beruhende Adatrecht38 das Gesetzesrecht in toto durch ein neues Fallrecht ersetzt habe. Indessen dürfte zu vermuten sein, daß die fortschreitende Industrialisierung wenigstens auf dem Gebiete des Wirtschaftsrechts die Rezeption eines entwickelten Rechtssystems verlangt, sei es im Wege der Restauration der holländischen Tradition oder durch die übernahme anglo-amerikanischer Rechtstechniken39 • § 84. Der "Sozialismus". Das führende Werk über Rechtsvergleichung widmet sowohl dem common law als auch dem civil law erheblich weniger Raum als dem, was es als "sozialistische Rechte" bezeichnet40 • In ähnlicher Weise hat J ohn Hazard versucht, in seiner Monographie "Communists and their Law" die Eigenständigkeit des sozialistischen Rechts zu etablieren41 • Prüft man die Literatur in Ost und West über diese Materie, so zeigt sich allerdings, daß für eine derartige Behand35 Vgl. allgemein Karst; Eder. über die Siete Partidas, siehe unten § 95 Anm.13. 38 Oben § 80; unten § 84; Salacuse; Dechamps; Crabb (Congo); David und Grasmann § 510. Über Thai Recht (Zivilgesetzbuch 1935), siehe z. B. Kraichitti. 37 David und Grasmann § 506; Redden; Vanderlinden, Ethopia; Sedler, Ethopia; Sand, Reform; unten § 99 bei Anm. 34. Vgl. Friedmann, Development 46--49; R. B. Schlesinger 261. Über Eritrea und Somaliland, siehe ebenda 262 Anm. 66. 38 Oben § 80; Ter Haar. 39 Lev; Hazard, Modernization. 40 David und Grasmann Teil H. Siehe auch David, Teil II; Malmström 146; R. B. Schlesinger 252; und dazu auch ebenda 266. U Hazard. Vgl. aber E. L. Johnson 3; Ehrenzweig, Buchbesprechung, 58 Calif. L. Rev. 1005 (1970). Es ist bezeichnend, daß David (nos. 247-261) sich in seinem Versuch, die Autonomie des sozialistischen Privatrechts zu beweisen, auf Eigentums- und Vertragsrecht beschränkt.

§ 84

Sozialismus

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lung auf all jenen Gebieten ein unbestreitbares Bedürfnis besteht, die herkömmlicherweise dem öffentlichen Recht zugeschrieben werden und auf denen die politischen Umwälzungen unserer Zeit das Verhältnis des Bürgers zum Staat umgestaltet haben. Diese Gebiete haben sich allmählich auf zahlreiche Vorgänge des streitigen nicht-richterlichen und außerstreitigen richterlichen Verfahrens ausgedehnt42 , sowie auf viele Beziehungen des Produktions- und Verteilungsprozesses. Hier aber sind wir nur mit jenen Rechtsgebieten befaßt, die herkömmlich als Teile des Privatrechts behandelt worden sind. Und da dürfen wir feststellen, daß in den zentralen Bereichen des Familienrechts, des Erbrechts und des Deliktsrechts die "sozialistischen" Rechtseinrichtungen voll und ganz zur klassischen Struktur des civil law zurückgekehrt sind43 • Selbst auf dem Gebiet des Eigentumsrechts ist die bestehende Kluft so weit verengt worden, daß Unterschiede innerhalb jedes der beiden "Rechtskreise" oft bedeutsamer geworden sind als Unterschiede zwischen diesen Rechtskreisen selbst. Einerseits hat ja in den "sozialistischen" Ländern das private und gesellschaftliche Eigentum immer weiter zugenommen und scheint nun sogar die Mittel des Produktionsprozesses einbeziehen zu wollen. Andererseits gibt es in kapitalistischen Ländern ein ebenso bedeutsames Anwachsen staatlicher, quasi-staatlicher und genossenschaftlicher Eigentumsrechte und weitgehend regulierter sogenannter "public utilities" (z. B. Gas, Wasser und Energieversorgung). Die stärkste Bastion der Separatisten sind wohl jene Rechtsbeziehungen, bei denen der Staat gesellschaftliche Privatunternehmen als Partner von Arbeits- und Tarifverträgen zum großen Teil verdrängt hat. Gleichwohl bleibt die Frage bestehen, ob diese Veränderungen die Strukturen der traditionellen Rechtsinstitute soweit umgestaltet haben, daß es gerechtfertigt ist, sie einer "dritten Welt" des Privatrechts zuzuschreiben44 • Wiederum gibt es auf bei den Seiten bedeutsame Zeichen, daß die menschliche Natur schließlich eine Brücke über die allmählich dahinschwindende Kluft errichten wird. Einerseits verabDavid und Grasmann §§ 132-134, 164-167, 234-238, 252-255. E. L. Johnson Kap. VIII; Hazard Kap. 10 (Erbrecht), Kap. 15 (unerlaubte Handlungen); unten Anm. 46. In bezug auf die Parallelentwicklung im Familienrecht sogar einschließlich der Diskriminierung nichtehelicher Kinder siehe ders. Kap. 12; Whitmore Gray 248. Vgl. aber auch Rev. Crit. Dr. Comp. 22 (1970) 523, 526. Die hier gezogene Schlußfolgerung wird eher bestätigt als widerlegt durch Eörsis hoch abstrakten Versuch, die "fundamentalen Probleme des sozialistischen Privatrechts" zu etablieren. Siehe Eörsi, Problems 129 (Vertragsrecht), 132 (Deliktsrecht). über die höchst bezeichnende Geschichte eines völlig "kapitalistischen" Versicherungssystems in Ungarn, siehe Szabay 376-377; im allg. Zweigert und Kötz I §§ 23-27. 44 Vgl. Baade; Wieacker 507-508; Gorla, Interets 9; E. L. Johnson 163-165. über die Stabilität allen Privatrechts im allgemeinen siehe Dekkers 505. Javits unternimmt einen interessanten Versuch, einen sozialistisch-kapitalistischen Begriff des "ownerism" zu entwickeln. 4!

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scheut auch die "kapitalistische" Welt die Habsucht einzelner, wenn sie sich gegen das Gemeinwohl richtet; außerdem bedingt der immer -enger werdende Raum ein weitgehendes Ineinandergreifen individueller Rechte. Beide Faktoren werden aus der privaten Wirtschaftsführung in zunehmendem Maße eine öffentliche Einrichtung machen, und sie werden den freien Wettbewerb immer m-ehr in eine am Gemeinwohlorientierte Planung und die Vertragsfreiheit in Verbraucherschutz verwandeln4s • Auf der anderen Seite empfinden die sozialistischen Länd-er seit langem ein Bedürfnis, die Privatinitiative zu fördern, und sie haben bereits damit begonnen, auf Kosten der Monopolwirtschaft und allumfassender Planung die Konkurrenz zwischen staatseigenen Unternehmen zu beleben48 • Was demnach zahlreichen Autoren als rechtsphilosophische Begriffstrennung -erscheint, dürfte sich bald als nicht mehr - und nicht weniger - erweisen als ein gewiß fundamentaler Unterschied in der tatsächlichen Betriebspraxis und in der Indoktrinierung der Regierungsbeamten. Die Divergenzen zwischen den verschiedenen sozialistischen Ländern sind aus demselben Grunde trotz der höchst unterschiedlichen politischen und historischen Entwicklungen für unsere Belange ohne Bedeutung47, seitdem der "Marxismus-Leninismus" und der "historische Materialismus" durch die Rückk-ehr zur "Legalität" auf dem Gebiete des Privatrechts eine eigenständige Ideologie aufgegeben zu haben scheint48 • Es ist daher kein Wunder, daß die Juristenausbildung und die Rechtslehre im Osten weiterhin großenteils auf historischen Quell-en basieren. Ja, in den meisten Ländern außerhalb Rußlands hat in dieser Hinsicht anscheinend zu keiner Zeit ein Bruch mit der Vergangenheit stattgefunden". Dieses Faktum trifft selbst auf diej-enigen sozialistischen Länder zu, die früher Kolonialgebiete waren50 • 46 David und Grasmann §§ 205, 206, 212-217, 220; David §§ 248--252; Hazard Kap. 7~, 13-14. Vgl. auch die rechtsvergleichenden Untersuchungen über Regierungsverträge bei Loeber; R. B. Schlesinger 359-361. Über Adhäsionsverträge, siehe unten § 132 Anm. 3. 48 Ferenc Mädl (Budapest) weist in diesem Zusammenhang auf ein rasch wachsendes Interesse hin, das in sozialistischen Ländern an einer gegen die Monopole immer unabhängigerer Staatsunternehmen gerichteten .. Antitrust"-Gesetzgebung bestehe. Vgl. And6; Ung. Regierungsdekret Nr. 25 (1967) § 9, Nr. 56 (1967) § 18, Nr. 1 (1968) §§ 5~. 47 David und Grasmann 239-248; Slapnicka; Hazard, passim. In bezug auf die DDR siehe Markovits; Pleyer und Lieser 211-224. Für Ungarn vgl. Eörsi. 48 Oben § 7; David und Grasmann §§ 111-118, 209. 48 David und Grasmann §§ 120-127, 231-234; M6rra; Hazard und Shapiro. 60 Hierzu gehören Senegal (Hazard, Mall; ders., Negritude), Guinea (ders., Guinea) und Guyana (ders., Guyana). Vgl. auch Hazard, West African Law. Nach einem acht Jahre währenden Experiment kehrte MaU im Jahre 1968 wieder zu seinem Erbe zurück. Hazard Kap. 18. Über Aigerien vgl. Hazard. Algeria; allgemein Hazard und Rudzinski, 18 AJCL 762 (1970).

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Islam

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Das "sozialistische" Recht teilt sogar den westlichen Glauben an ein "Naturrecht" (§ 7). Trotz gegenteiliger Behauptungen des Marxismus beschränkte sich die Revolution in dieser Hinsicht darauf, die Metanormen von Moral und Gerechtigkeit durch andere Metanormen ökonomischer Interessen zu ersetzen51 • In gleicher Weise ist die Technik der Gesetzesauslegung offenbar dieselbe geblieben wie in den übrigen kontinentaleuropäischen Staaten52 • Nicht anders verhält es sich mit den Kontroversen über die Stellung des Richterrechts, anderen Gewohnheitsrechts und der Rechtslehre 53 • Ist es nicht endlich Zeit, daß diese Tatsachen auf beiden Seiten des nicht mehr Eisernen Vorhangs anerkannt werden, um die wild wuchernden Mißverständnisse unter den Rechtsgelehrten zu vermeiden5'? Es soll nicht versucht werden, das Rechtssystem Chinas in diesem Zusammenhang zu beurteilen. Die vor-revolutionäre Rechtsordnung gründete sich zum großen Teil einerseits auf deutsche Gesetzbücher und andererseits auf die konfuzianische Ablehnung des Rechtsstreits 55 • Da die anwachsende Literatur über die nach-revolutionäre Entwicklung seit 1949 noch keinen unparteiischen Blickwinkel bietet, bleibt sie unschlüssig58 • Das Privatrecht von Kuba wird wahrscheinlich sein spanisches Erbe trotz eines revolutionären Gerichtswesens bewahren57 • § 85. Der Islam. Die Rechte des islamischen Bereichs stellen auf dem Gebiet, das ich unscharf "Vermögensverkehrsrecht" nennen mußte (§ 77), genausowenig eine getrennte Rechtssphäre dar wie die "sozialistischen" Rechte58 • Einerseits hat der Islam von frühesten Zeiten an David und Grasmann § 164; Horvath; Naschitz. Unten § 107; David und Grasmann §§ 168, 205; David § 192. 53 Unten § 108; Knapp; David und Grasmann §§ 170, 196-203, 259-261; Hazard, Modernization. 64 Bezeichnenderweise gelangt gerade jenes Werk, das mit Bezug auf den Anspruch der sozialistischen Welt auf Autonomie die Führung übernommen hat (oben Anm. 40), zu der SchlußfOlgerung, daß vielleicht einmal, in größerer zeitlicher Entfernung, die Einheit von Osten und Westen als zu unserer Zeit wiederhergestellt erscheinen wird. Aber selbst heute hat man gefunden, daß die sozialistischen Rechtsordnungen "statt im Vordergrund einer wahrhaft neuen Ordnung zu stehen, derselben positivistischen Auffassung treu geblieben sind, die gerade jetzt im Westen sich im Abstieg befindet". David Nr. 60. Vgl. David und Grasmann §§ 119, 211; auch Ehrenzweig, Private International Law §§ 9, 21, 80, und passim; ders., Reeueil 215 und passim. 55 Kroker; David und Grasmann § 482; Su; Bodde und Morris; Wigmore Kap. IV; Engelborghs-Bertels und Decker. Siehe auch Chang hinsichtlich der übertragbarkeit eines westlichen Systems auf China. 68 David und Grasmann §§ 488-489; Su, Wesen; Hazard 57-65, passim; Tay, China; Lubmann; J. Cohen; ders., Meditation; David §§ 481--493; Stahnke. Für ein "ease-study" über die Entwicklung Maoistischer Philosophie vgl. Cyrus Lee; auch R. B. Schlesinger 676 f. 67 Vgl. J. Bermann; Hazard 29, 180, 419. 58 Vgl. aber David und Grasmann 16,420; Muslim Law Symposium. 51

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entscheidend auf die Bildung der westlichen Gedankenwelt eingewirkt, waren es doch arabische Gelehrte von Spanien, die der mittelalterlichen scholastischen Wissenschaft aristotelische Philosophie und vielleicht selbst systematisches Rechtsdenken gebracht haben5v • Andererseits haben europäische Vorbilder einen dauernden Einfluß auf die Vermögensverkehrsrechte der islamischen Welt ausgeübt. So haben die frankophonen islamischen Länder Afrikas, ebenso wie Ägypten, Iran, Libanon und die Türkei sich offiziell den Familien des civil law durch Nachbildung der schweizerischen und französischen Kodifikationen angeschlossen60 • Viele andere wiederum haben weitgehend die Technik und die Ideologie des common law angenommen81 • Freilich halten alle islamischen Länder daran fest, ihre Ergebenheit gegenüber der religiösen Autorität zu bekennen; ja, manche ihrer Verfassungen und Gesetze einschließlich jener von Ägypten, Syrien, Irak und Libyen bringen diese Ergebenheit klar zum Ausdruck und schreiben dem Richter vor, Gesetzes"lücken" durch religiöse Gebote zu füllen G2 • Man kann aber diese Technik trotz ihrer verschiedenen Wurzeln weder im Geiste noch in der Funktion von jener unterscheiden, die in den Ländern des common law durch den Rückgriff auf Naturrechtsprinzipien (§ 37) und in den Ländern des civil law entweder durch die stillschweigende Einbeziehung des Naturrechts mit Hilfe von "Generalklauseln" oder durch ausdrückliche Verankerung des Naturrechts in den Gesetzbüchern praktiziert wird (§ 124). Es mag natürlich sein, daß eingeborene Gewohnheiten allmählich in eine Reislamisierung münden werdenos. Viele neue Unterschiede mögen so bezüglich gewisser Rechtsregeln besonders auf dem Gebiete des Personenrechts entstehen. Aber zumindest auf dem Gebiete des "Vermögensverkehrsrechts"" wird wahrscheinlich das übernommene europäische Prozeßrecht schließlich zur vollständigen Absorbierung von 400 Millionen in 30 Ländern lebenden Moslems in die Sphären des civillaw und common law führen. Unten §§ 91, 112. Vgl. etwa Russell 283; Jabara. Oben Anm. 13; auch § 80; Coulson 3. Teil; David §§ 445--446. Eine Kodifikation des Familienrechts in Iraq (1959) wurde im Jahre 1963 widerrufen. Jwaideh. U Oben § 82. Hierzu gehören Pakistan (Gledhill), Liberia (Allott 11-12), Malaya (Glos; Hooker), Singapur (Siraj), Tanganjika (Cole und Denison), Uganda (Morris und Read) und Nigeria (Park). Wir können noch den Sudan mit einem konkurrierenden französischen Erbe hinzufügen. Sedler, Subsahara; Guttmann; Twining; Deng; Anderson; Sudan; Khalid. oz Art. 1 des ägyptischen Zivilgesetzbuches weist den Richter, der eine Lücke zu finden glaubt, an, "nach der Gewohnheit zu entscheiden, wo eine solche Gewohnheit fehlt, gemäß den Grundsätzen moslemitischen Rechts" und schließlich nach natürlicher Gerechtigkeit und Billigkeit. Vgl. allgemein etwa Linant de Bellefont §§ 13-25; Liebesny 31. 03 David und Grasmann § 449; Coulson Kap. 14; ders., Conflicts; Allot. 01 Anderson, Marocco; ders., Arab World. Zur Wortwahl siehe oben Anm. 5. 68

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Islam

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Diese überlegungen lassen die Frage offen, ob wir nicht wenigstens jenen Ländern eine Sonderstellung zugestehen sollten, die weder durch das common lawG5 , noch durch Kodifikationen ihrer Vermögensverkehrsrechte beeinflußt worden sind66 • Tatsächlich nimmt man in diesen Ländern noch heute an, daß ihre gesamte Rechtsordnung auf religiöses Recht zurückgehe. Die vierstufige Hierarchie dieses Rechts umfaßt (1) den Koran als das Heilige Buch; (2) die Sunna, die als unfehlbare Zusammenfassung der Lehre (Hadith) und des Beispiels des Propheten angesehen wird; (3) das Idschma, die übereinstimmende Überzeugung der Gelehrten, deren Autorität vom Koran abgeleitet wird; und (4) die Quyas, die Analogieschlüsse verlangen. - Doch selbst der Nichtspezialist muß an dieser Stelle einhalten. Der vorliegende überblick beschränkt sich, wie schon ausgeführt, auf das, was wir als das Gebiet des Vermögensverkehrsrechts bezeichnet haben, so daß solche ortsgebundene Materien wie das Familienrecht, das Erbrecht und bisweilen das ländliche Eigentumsrecht ausgeschlossen werden67 • Und auf diesem Gebiet kann uns das verfügbare Material nicht so leicht davon überzeugen, daß sich das islamische Recht im Geiste oder in der Verfahrensweise grundsätzlich sowohl vom civil law als auch vom common law unterscheidet. Zwar müssen wir feststellen, daß durch lange Zeit die islamischen Gelehrten ihre Tätigkeit auf die Exegese religiöser Quellen beschränkt haben, wie diese sich im zehnten Jahrhundert verfestigt hatten; aber in unserer Zeit haben sie damit begonnen, das islamische Recht modernen Bedürfnissen anzupassen88• Darüber hinaus hat eine Laiengerichtsbarkeit stets mit der Rechtsprechung des Khadi konkurriert, und wir werden uns vergeblich nach Beispielen ursprünglicher Rechtsinstitute und Lösungen umsehenGD. Selbst die wenigen viel zitierten Normen religiösen Ursprungs sind längst modernen Bedingungen angepaßt worden, so z. B. die aus alten Zeiten stammenden Verbote, Zinsen zu nehmen und aleatorische Verträge zu schließen70 • Es kann also wohl festgehalten werden, daß "außer den Materien, die sich auf das ,Personenstandswesen' beziehen, sich das Recht aller dieser Länder entüber Malaya, vgl. etwa M. B. Hooker; über Indien, unten Anm. 76-78. Hierher gehören Afghanistan (Sirat), Saudi Arabien (Shamma) und Somalia (mit italienisch-englischem Einfluß, Contini 1099). Einige Länder haben nur ihr Statusrecht kodifiziert. Hierzu gehören Tunesien (Anderson, Tunis), Marokko (ders., Marocco), Irak und Pakistan (Gledhill) ebenso wie Kuwait, das dem Irak folgt (Anderson, Arab WorId). Auch Kodifikationen beziehen sich auf religiöse Quellen. 87 Oben Anm. 7, 64. über das islamische Recht im allgemeinen, Anderson, David und Grasmann § 125; Schacht 58; ders., Islamic Law. Siehe ferner Seymour; Zweigert und Kötz I § 29. 88 David und Grasmann §§ 428-429, 433. 8D Dies. §§ 443, 447; Schacht Kap. 25. 70 David und Grasmann § 441; oben § 72. 85

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weder der römischen oder der germanischen Rechtsfamilie oder der des common law angeschlossen hat"71. Das indische Recht ist gelegentlich als zur selben Kategorie wie das islamische Recht gehörig behandelt worden. Hierfür hat man zwei Gründe vorgebracht. Zum einen ist das indische Recht gleichfalls als religiöses Recht klassifiziert worden, das von einer breiten Bevölkerung anerkannt und verehrt wird72 • Zum anderen war das islamische Recht auf kurze Zeit unter dem Mogul Alamgir das Recht Indiens 7s . Aber diese Gründe rechtfertigen schwerlich, daß diese Rechte als Vertreter einer "religiösen" Rechtssphäre behandelt werden, die unabhängig neben dem common law und dem civillaw besteht, und zwar auch dann nicht, wenn man das kanonische Recht und das hebräische Recht in diese Sphäre einbezieht74 . Althergebrachte Dogmen des Hinduismus75 . Aber diese Dogmen haben sich, ebenso wie jene des Islam, anscheinend längst auf örtliche Rechte und Gebräuche auf den Gebieten des Familien- und Erbrechts beschränkt. Da gibt es die heiligen Bücher der Srutis (1500600), die philosophische Dichtung der Smritis und die Abhandlungen über das Weltgesetz des Dharma, die die Gesetze Manus (um 100 v. Chr.) zusammen mit den Kommentaren, den Nibandhas (12. bis 17. J ahrhundert), enthalten76 . Was aber in diesen Quellen etwa von allgemeiner Bedeutung gewesen sein könnte, wurde durch das englische Gerichtswesen während der britischen Herrschaft umgestaltet oder durch Gesetzgebung ersetzt77 . Im ganzen gesehen scheint es daher angezeigt, Indien im Hinblick auf sein "Vermögensverkehrsrecht" zur Familie des common law zu zählen78 . § 86. Das römisch-holländische und schottische Recht. Ähnlich wie die Rechtsordnungen Skandinaviens (§ 81) haben die Rechtsordnungen der Südafrikanischen Republik7t, Ceylons und der Republik Guyana80 teil an 71 David und Grasmann § 406. Siehe auch Wigmore Kap. IX. 7Z David und Grasmann § 450. 73 Schacht Kap. 14. 7~ Oben § 82. Vgl. aber David und Grasmann §§ 17, 41. 7S David und Grasmann § 450; Zweigert und Kötz I § 30. 76 Derrett; Lingat; Sen-Gupta. über Mazzarellas weithin unbeachtete, aber ausgezeichnete Beiträge siehe Derrett, Ethnology 28-41. 77 Oben § 82; David und Grasmann §§ 461, 463--466, 473; Freeman, Hindu Jurisprudence; Setalvad. 78 Oben bei Anm. 24; David und Grasmann §§ 476-479; R. B. Schlesinger 257; Derrett, Introduction; Mishra. Zum Völkerrecht siehe Friedmann, Structure Kap. 18 78 Hahlo und Kahn; Kahn, Festschrift Pont (1970) 219. Über den Wettbewerb zwischen den beiden Rechten in Lesotho, Poulter. Bezüglich Rhodesia, Basutoland, Bcchuanaland und Swaziland, David no. 513. 80 Hazard, Guyana. Für Ceylon vgl. Jennings und Tambiah; R. B. Schlesinger 234, 259, 663.

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Römisches Recht

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den Wesenszügen sowohl des angloamerikanischen common law als auch des civillaw. Diese drei Staaten hielten die Treue der früheren Kolonisten gegenüber dem Recht der Niederlande aufrecht, wie es vor seiner Kodifikation im Jahre 1838, in der Gestalt eines "Usus modernus pandectarum"81 existierte. Es muß jedoch angenommen werden, daß zunehmende Kommerzialisierung und wachsende Sprachprobleme eine Vorherrschaft des common law zumindest auf dem Gebiet des Vermögensverkehrsrechts begünstigens2 • Das schottische Recht ist von maßgebender Seite mit dem römisch-holländischen Recht verglichen worden und bildet den Gegenstand eingehender, höchstinteressanter selbständiger UntersuchungensI. C. Common Law und Civil Law § 87. Unsere Reise durch die Welt hat uns gezeigt, daß wir es für unsere rechtsphilosophische Untersuchung zumindest außerhalb des Familien- und Erbrechts in erster Linie mit der Unterscheidung zwischen dem common law und dem civillaw zu tun haben. Wir sind jetzt soweit, daß wir die Grundlage dieser Unterscheidung mit Bezug auf ihre philosophische Bedeutung näher untersuchen können!. Ehe ich meine eigene Ansicht zusammenfasse, will ich versuchen, kurz auf jene orthodoxen Formulierungen einzugehen, deren jede, obwohl sie in ihrer Allgemeinheit wohl kaum richtig ist, ein bedeutsames "Körnchen Wahrheit" zu bieten verspricht. Nach diesen Formulierungen unterscheiden sich die beiden Systeme hauptsächlich in ihrem Verhältnis (1) zum römischen Recht, (2) zur Kodifizierung, (3) zu ihrem höchsten rechtsetzenden Organ und (4) zu ihren Denkmethodenl!. 1. Common Iaw und römisches Recht

Was heißt hier "römisches Recht"? Der vielleicht am weitesten verbreitete Irrtum besteht in der Annahme, daß sich das common law dadurch vom civillaw essentiell unterscheide, daß ihm im Gegensatz zum letzteren die römische Tradition fehle. Bevor diese Annahme untersucht werden kann, muß der Ausdruck "römisches Recht" in diesem Zusammenhang definiert werden. Denn die uns bekannte Geschichte dieses Unten § 91; Koschaker 234; Lee. Vgl. etwa Redivivus. 83 Oben § 82; T. B. Smith, Shared Tradition; ders. (Hrsg.); Wigmore 1014; Walker. 1 Merryman, passim. Vgl. auch Von Mehren, Civil Law; Cappelletti-Merryman-Perillo; Lawson; Milsom, Common Law. Z Dainow, Civil Law. Vgl. aber Mayda, Reflections, bei Anm. 41-42. 81 81

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

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Rechts erstreckt sich auf über 2500 Jahre und hat sich in jenem ewigen Wechselspiel zwischen Rechtssicherheit und Wandel hin und her bewegt, das für den Zweck unseres Vergleiches so entscheidende Bedeutung hat: von der dunklen Periode vor den Zwölf Tafeln (450 v. ehr.) über die formalen Verfahrensweisen des ius civile und die Jahrhunderte seiner allmählichen Liberalisierung durch den Prätor bis zur Ossifizierung der Leistungen dieser "klassischen" Periode in den Händen der kaiserlichen Bürokratie und zur fälschlich sogenannten justinianischen Kodifikation. Selbst dieser Markstein menschlicher Errungenschaft stellte nur einen Anfang dar. Da war auf der einen Seite die selbständige Entwicklung des römischen Rechts im byzantinischen Reich3 , die ihren Einfluß in Europa auf den Islam ausübte'. Und da gab es auf der anderen Seite das dramatische Wiederaufblühen des römischen Rechts in Europa in der ersten Hälfte unseres Jahrtausends in den lombardischen Schulen und in den Händen der Glossatoren, Konsiliatoren und Kommentatoren. Dieses Wiederaufblühen führte wiederum zum fließenden Prozeß der "Rezeption" und dadurch zu einem halben Jahrtausend jener letzten Blütezeit, die im Usus Modernus der Pandekten und in den großen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts ihr Ende fand 5 • Was man heute im gegenwärtigen Zusammenhang allgemein unter dem Begriff "römisches Recht" versteht, ist das römische Recht der klassischen Zeit, das durch die entscheidende Funktion des prätorianischen Edikts und durch die Responsa der gelehrten Juristen gekennzeichnet ist. Der zweite Abschnitt dieser Periode wird gewöhnlich datiert vom Beginn des Prinzipats des Augustus (27 v. ehr.) bis zum Tode des Modestinus, des letzten spätklassischen Juristen (235 n. ehr.), während man für den ersten Abschnitt das ganze erste Jahrhundert v. ehr. in Anspruch nehmen kann. Damals verkündete der Prätor in seinen jährlichen Edikten das Recht, das er durch den Formularprozeß anwenden oder schaffen werde'. Seine "formulae" waren Instruktionen an den Judex, den Fall zugunsten des Klägers oder des Beklagten zu entscheiden je nachdem, ob er die in der Formel hypothetisch angenommenen Tatsachen unter Anwendung der verfügbaren Rechtsbehelfe als erwiea Zachariae von Lingenthal, passim. Vgl. auch unten Anm. 30; § 99 Anm. 32. 4 Hitti 400; Koschaker 14-17; unten § 112 Anm. 43-48. a Unten §§ 91, 8~99; Savigny 63-65; Söllner; Stein; Radin Kap. 1-2;

Norbert Horn, Literatur; Wieacker Teil II; Ders., Gründer 44; Peter Weimar; Anguissola. e Dawson, Lay Judges 14-29; Stein 29-30; Wenger § 18. Der Niedergang des prätorianischen Rechts begann mit der lex Cornelia aus dem Jahre 67 v. Chr., die die Prätoren ermahnte, die Prinzipien zu beachten, die im "edicturn perpetuum" niedergelegt worden waren. über die kaiserliche Bürokratie siehe Kunkel, Herkunft 290-304.

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Römisches Recht

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sen ansah7 • Ähnlich dem englischen "writ" wurde die formula wie die responsa, auf die sie oft gestützt wurde, durch fortschrittliche Veränderungen der für den Richter verbindlichen Instruktionen zum Werkzeug der Rechtsentwicklung. Das auf diese Weise geschaffene Recht wurde Teil jener Werke der Rechtsgelehrsamkeit, die schließlich in den Digesten Justinians verewigt wurden8 • Allein diese kurze Beschreibung dürfte erhellen, wie wenig das moderne systematische kontinental-europäische Recht dem amorphen klassischen römischen Recht ähnelt und wie groß andererseits die Verwandtschaft zwischen dem letzteren und dem ungeschriebenen common law Englands war 9 • Eine weitere Analyse dieser Verwandtschaft sollte jede Versuchung beseitigen, die römische Herkunft als Spezifikum des civillaw zu behandeln10• § 88. Römisches Recht als Quelle englischen Rechts. Das englische Recht hat zwar mehreren Anläufen einer "Rezeption" des römischen Rechts widerstanden, die mit den Ereignissen auf dem Kontinent hätte vergleichbar sein können; in mehreren Stadien seiner Geschichte ist das englische Recht jedoch nachhaltig durch das römische Recht beeinflußt wordenl l . Obwohl Detailfragen noch viel umstritten sind, ist soviel unstreitig: (1) England wurde durch die Römer von 43-406 n. ehr. fast ein halbes Jahrtausend lang besetzt gehalten. Römische Juristen betätigten sich als Richter und als Verwaltungsbeamte. Ob zu ihnen Papinian gehörte, ist zweifelhaft. Wir wissen nur, daß dieser hervorragende Gelehrte der Zeit des klassischen Rechts, dessen Werke einen wesentlichen Teil der justinianischen Digesten bilden, den Kaiser Severus im Jahr~ 208 nach Britannien begleitet hat 12 • Und wir wissen, daß der Rö~ mer Javolenus im Jahre 86 dort als Jurist tätig war. Er und seine Kollegen mögen einen erheblichen Einfluß auf die angelsächsische Praxis Radin §§ 14, 20-22; Kaser, Anfänge 384; Coing 299. Dawson 105, 107-119; Allen 160. Vgl. auch Burdick, Praetor; unten § 94. 9 Bodenheimer § 4; Friedmann 101-103. 10 Hazard, Kap. VIII und passim, hat den Ausdruck "romanistisch" gewählt, um den civillaw Rechtskreis als ganzen zu kennzeichnen. Dieser Ausdruck ist gewiß einem pedantischen "romanisch-germanischen" Recht vorzuziehen. Auch ist es richtig, daß sich der Ausdruck "civil law" zu Gegenüberstellungen mit dem Strafrecht und dem Handelsrecht anbietet. Dennoch müs~ sen wir die "civil law"-Terminologie beibehalten, um die offensichtlich irrtümliche Betonung des "romanistischen" Elementes aller "non-common" Rechte zu vermeiden. Die Alternative "kontinental-europäisches Recht" ist wegen der Weltverbreitung des civil law unannehmbar. über das Verhältnis zwischen den romanischen und germanischen Rechtskreisen vgl. insbesondere Neumayer. 11 Serutton; Buckland und MeNair 18-22; Losano 251; Vinogradoff 62, 97; Pollock und Maitland Kap. IV. Siehe auch Ehrlich, Logik 49. über die "Rezeption" des römischen Rechts im allgemeinen vgl. Koschaker, passim; Wieacker, Rezeptionsforschung. über die Einflüsse englischen Rechts auf dem Kontinent vgl. Grünhut. 12 Vgl. Costa I 8. 7

8

9 Ebrenzweig

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

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und Gesetzgebung gehabt haben. Noch um das Jahr 600 n. ehr. schrieb Aethelbert von Kent die Gesetze ("dooms") seines Königsreichs "in römischem Stil"ls. In der Tat verdanken wir vielleicht jener Periode manche der römisch-rechtlichen "Konstruktionen", die heute noch allen westlichen Rechtsordnungen gemein sind14 • (2) Wilhelm der Eroberer scheint der römischen Gelehrsamkeit teilhaft gewesen zu sein, die damals in Oberitalien blühte. Er brachte den großen Lanfranc von der bologneser Rechtsschule mit und machte ihn zu seinem Kanzler. Aus Bologna kam auch Englands erster Professor des Rechts, der berühmte Vacarius, der von 1139 bis 1149 in Oxford weilte. (3) Im Laufe der nächsten beiden Jahrhunderte verfaßten englische Autoren wie Bracton und Glanvill Abhandlungen, deren materieller Inhalt zwar hauptsächlich englischen Ursprungs gewesen zu sein scheint, die sich aber einer lateinischen Terminologie bedienten, welche sich auf die Summa Institutionum des Bolognesers Azo zurückführen läßt15 • (4) Die Kirchengerichte judizierten nach dem kanonischen Recht des Kontinents, das seiner Substanz und seinem Geiste nach dem römischen Recht entstammte 18 • (5) Viele Jahrhunderte hindurch waren die Kanzler des Königs und ihre Berater Angehörige der Geistlichkeit, die natürlich im Kirchenrecht bewandert waren. Ein großer Teil des englischen und amerikanischen Billigkeitsrechts (equity) läßt sich unmittelbar auf diese Quelle zurückführen17 • (6) Das Recht der Kaufleute (law merchant) und das Seerecht (law of admiralty), für die verschiedene Gerichte zuständig waren und die sich besonders mit internationalen Transaktionen befaßten, folgten weitgehend der römischen Tradition18• Und (7) selbst ein so später englischer Rechtsgelehrter wie Blackstone war sich des römischen Ursprungs großer Teile seiner Lehre voll bewußt111• Nach alledem verwundert es nicht, daß das römische Recht dem englischen Recht in vieler Hinsicht näher I !estanden hat als dem sogenannten "romanistischen" Recht des Kontinents". 13 Die Bedeutung dieser Stelle ist nicht klar. Sie hat sich möglicherweise nur auf die Gesetzesform der dooms bezogen. Plucknett 8 mit Zitat aus Bede, Historia Ecclesiastica, Bände 2, 5. 14 J. C. Smith 209, 214. U über Lanfranc (1005-1089) vgl. etwa MacDonald. über Bracton (gest. 1268) und Glanvill (gest. 1190), vgl. etwa Pollock und Maitland Kap. V, VI; Vinogradoff 71, 104; Allen 184-185; C. A. Schmidt 142-150. 18 Vgl. unten bei Anm. 16 (§ 95); auch Wigmore Kap. XIV; Feine, passim; Cicognani, Canon Law (übers. 1934); Metz; Kuttner, Schuldlehre 308-314; B. F. Deutsch, passim; Wieacker 71-80. 17 Seagle Kap. VIII; David und Grasmann § 282; Millar, Discovery. 18 Scrutton; Burdick; Mitchell. 18 Blackstone, passim. Vgl. oben § 6 Anm. 5; §§ 31,37,65. !O Von dieser Terminologie oben Anm. 10. Vgl. auch allgemein Crook, passim.

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Römisches Recht

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§ 89. Römisches und englisches Recht im Gegensatz zum Civil Law. Das englische und das römische Recht weisen eine große Anzahl bedeutsamer Ähnlichkeiten auf, die nicht nur durch ihre vielfachen faktischen Berührungen hervorgerufen worden sind; man hat diese Ähnlichkeiten häufig einer geistigen Verwandtschaft beider Weltreiche, der entscheidenden Rolle der Anwaltschaft in beiden Ländern und ihrer gemeinsamen Wertschätzung des "Individualismus" zugeschrieben. Wichtige Ausdrucksformen dieser Ideologie, die dem modernen kontinental-europäischen Recht fremd sind, hat man im Schutz der Eigentümerstellung gegenüber einem gutgläubigen Erwerber, in der Testierfreiheit über bewegliches Vermögen zum Ausschluß der Pflichtteile und in dem Fehlen eines Rechtsschutzes für den mittellosen Schuldner gesehen!1. Andere vielleicht zufällige Ähnlichkeiten sind die Formstrenge des Vertragsrechts, das Fehlen der Eintragung von Grundeigentum und die Rolle von "Maximen"2!. Bezeichnender ist der Gegensatz zwischen dem "topischen" (Fallrechts-)Charakter des vor-pandektistischen römischen Rechts und des anglo-amerikanischen Rechts einerseits und der "axiomatischen" Struktur des modernen kontinental-europäischen Rechts andererseits 23 , ein Gegensatz, der sich auch in unterschiedlichen Techniken der Gesetzesinterpretation ausdrücki (§ 107). Schließlich ähneln einander auch die Methoden, mit denen im klassischen Rom und im common law neues Recht geschaffen wird24 • All diese Ähnlichkeiten gewinnen im Lichte zahlreicher nicht-römischer Züge in den modernen kontinental-europäischen und anderen Rechtsordnungen des civil law eine erhöhte Bedeutung für unsere Analyse. § 90. Nicht-römische Quellen des civil law. Selbst während und nach der "Rezeption" des römischen Rechts durch die Gerichte und Universitäten des Reiches 25 wurden die germanischen Rechtstraditionen und Lokalrechte in den deutschen Hof- und Stadtgerichten weiterhin gepflegt28. Diese Rechtstraditionen und Lokalrechte haben das moderne deutsche Recht dauernd beeinflußt27 • Ehe das Recht in Frankreich kodifiziert 21 Pringsheim, passim. Vgl. auch R. B. Schlesinger 224-230; Peter. Einige dieser Ähnlichkeiten können natürlich anderen Ursprüngen zugeschrieben werden. In Bezug auf den Mythos über die "Abneigung gegen die Intestaterbfolge" und den Schuldnerschutz siehe auch Daube, Roman Law 71-75, 93--94. Vgl. unten Anm. 31. 22 Stein Kap. IX. Vgl. auch Gutzwiller, Rechtsidee 78--79. za Oben § 58; unten § 112; Fritz Schulz Kap. IV; Radbruch Geist 9. Die Unterscheidung zwischen Induktion und Deduktion sollte jedociJ. nicht überbetont werden. Unten § 110. 2f Oben Anm. 8; Viehweg 26 ff.; Kaser § 83. 25 Lawson 24; C. A. Schmidt §§ 9, 10; R. B. Schlesinger 240-241. 26 Dawson Kap. 3; J. W. Thompson. 27 David und G:,asmann § 39; Wie acker § 6; allgemein R. B. Schlesinger 217-221. Malmstrom 187-188 erwähnt unter den nicht römischen Institutionen eheliche Vermögensrechte und Handelsrecht.

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

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wurde, war es durch eine Trennungslinie von Bordeaux bis Genf in je einen Landesreil mit römischem Recht (droit ecrit) und mit (geschriebenem) Gewohnheitsrecht (coutumes) geteilt. Die Coutumes, die im wesentlichen nicht-römischer Herkunft waren, obwohl auch sie das römische Recht als ratio scripta anerkannten, spielten in der Entwicklung des französischen Rechts eine führende Rolle 28 • Das italienische Recht wurde vor der Kodifizierung zum großen Teil auf gerichtliche Vorentscheidungen gegründet, und zwar in beabsichtigter Opposition gegen die römisch-rechtliche communis opinio doctorum28 • Und selbst in denjenigen Ländern, in denen das römische Recht einst vorherrschte, verlor es seine klassische Form. Das byzantinische Recht, das weit über das Mittelalter hinaus lebendig blieb, unterschied sich grundsätzlich von seinem römischen Vorfahren30 • Schließlich können wir am Rande vermerken, daß das römisch-ägyptische Recht dem modernen Europa jenes Eintragungssystem für das Grundeigentum vermittelte, das von Rom selbst nie entwickelt worden war und das heute noch die meisten Länder des common law zu ihrem Schaden entbehren31 • Indessen liegt der eigentliche Beweis für den nicht-römischen Charakter des derzeitigen civil law im Kodifikationsprozeß, der sich -- abgesehen von politischen Gründen und dem Bedürnis nach Vereinheitlichung - eher aus den Ideologien des Humanismus und der Aufklärung herausbildete als aus der römisch-rechtlichen Tradition (§ 92). § 91. Das Körnchen Wahrheit: Bedeutung der Rechtslehre. Wenn auch die Einwirkung des klassischen römischen Rechts nicht als grundlegendes Unterscheidungskriterium zwischen den beiden Rechtssystemen betrachtet werden kann, so hat doch die mittelalterliche römisch-rechtliche Geschichte unzerstörbare Spuren in der civil-Iaw-Tradition hinterlassen (§ 112). Viele ihrer begrifflichen Kategorien, wie z. B. die wichtige Unterscheidung zwischen dinglichen und obligatorischen 28 Marie-Louise Carlin; David und Grasmann §§ 36-40; David und De Vries. Siehe auch Dawson 263 ff.; C. A. Schmidt 132-142; Deäk und Rheinstein 551; und insbes. Ferid IIA 6-13. 28 Dawson 134-147; Gorla 639-642. 30 Zachariae von Lingenthal; David und Grasmann §§ 120, 121, 233; Dieter Simon. In Griechenland blieb das byzantinische Recht bis zur Kodifikation des 20. Jahrhunderts vorherrschend. Vgl. auch oben Anm. 3; unten § 99 Anm.12. 11 Obwohl Einzelheiten zweifelhaft bleiben, ist es erwiesen, daß das Registrierungssystem des Altertums von den Grundsätzen der Öffentlichkeit und guten Glaubens beherrscht war. Wenger, Quellen 760. Über den hellenistischen Ursprung des Notariatsamtes vgl. ders. 740--744. Über römisch-ägyptisches Recht im aUg. siehe Arthur Schiller, und für Rechtsvergleichung Kruse, Property; R. B. Schlesinger 466-477. Vgl. auch Goth für einen scharfen Angriff gegen den in den Vereinigten Staaten fortdauernden Widerstand der Versicherungs-.. industrie" gegen Einführung eines Landregisters.

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Rechtslehre

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Rechten, sind klare Unterscheidungsmerkmale geblieben, obschon einige dieser Kategorien auch vom common law übernommen worden sind31 • Am bedeutsamsten ist jedoch die Tatsache, daß die große Hochachtung vor der Rechtslehre (la doctrine), die in civil law Ländern, besonders jenen des germanischen Rechtskreises, vorherrscht, auf das klassische römische Recht zurückverfolgt werden kannas. Es waren die Schriften der Rechtsgelehrten, die die Hauptgrundlage des justinianischen Werkes bildeten, und niemand anders als die Gelehrten waren letztlich für dessen Formulierung verantwortlich34 • Jahrhunderte später bemühten sich in Europa die Glossatoren, Konsiliatoren und Kommentatoren um eine Angleichung der wiederentdeckten Digesten an die mittelalterlichen Verhältnisse35 • Und dann wiederum waren es die romanistischen Gelehrten der Renaissance und die Philosophen der Aufklärung, die die Geistesbotschaften ihrer Zeit in systematischen Werken ausdrückten81 • Und schließlich, nachdem in Frankreich und Italien anscheinend ein "Chaos" von Lehrmeinungen geherrscht hatte 37, kulminierte der "Usus modernus" des römischen Rechts im Werk der deutschen Pandektisten, die für die Vervollkommnung und die Fortdauer der systematischen Betrachtungsweise sorgten38 • Diese Betrachtungsweise gilt als eines der Hauptcharakteristika des civil law. Sie wurde von den Scholastikern, von der Artes-liberales-Tradition der frühesten mittelalterlichen RechtsausbildungS' und vielleicht auch von den aristotelischen Gelehrten des spanischen Islam (§ 112) zu einer Zeit vorweggenommen, als die Lehrsätze des römischen Rechts Postulate der Vernunft geworden waren. Ganz anders verhielt es sich in der tausendjährigen Geschichte des common law. Wo es eine Rechtsgelehrsamkeit gab, lag sie meistens bei Richtern wie Bracton, Glanvill und eoke in England, Story und Kent in den Vereinigten Staaten (§ 88). Selbst das Werk Blackstones, der kein Richter war, stand gänzlich innerhalb der common law-Tradition mit ihrer über allem stehenden richterlichen Gewalt. Erst in jüngster Zeit fängt die Rechtslehre an, in den Vereinigten Staaten neuen Boden zu gewinnen. Neben dem Wachstum der juristischen Ausbildung ist für Oben § 88; Stone II 224-227. Radin § 31; David und Grasmann §§ 104, 105. U Unten § 94; Dawson 113-119. 35 David und Grasmann §§ 68, 91; Koschaker 104-105; C. A. Schmidt § 2; Wieacker 45-96; Dawson 126-134; Stein Kap. VIII; Svolos 39--44. 38 Dawson 196-213, 232-242; Wieacker 90-93, 146-150, 161-169,312-322; allgemein Rheinstein, insb. 101; R. J. White. 37 Gorla 393-942. Vgl. auch R. B. Schlesinger 217-218. 88 David und Grasmann § 27; Dawson 456--459; Wieacker § 23 (Insb. 254 bis 257 über den Einfluß der Mathematik). Ober "Systembildung" im allg. vgl. unten § 112. 8. Wieacker 52-70. 32

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diese Entwicklung wahrscheinlich die Tatsache verantwortlich, daß die richterlichen Vorentscheidungen in der Ansammlung von buchstäblich Hunderttausenden von Gerichtsurteilen immer unzugänglicher werden. Der "Decennial Digest", dieses Zerrbild früherer wissenschaftlicher Auswahlsamrnlungen, hat mit seinem ungeheuren, labyrinthischen Fundortsystem ("Key system") das Problem nur noch verschlimmert, indem er die Fiktion ermöglichte, daß jedes endgültige Gerichtsurteil ohne Rücksicht auf Rang und Fähigkeit des Richters "Recht" sei. Bis zum Jahre 1961 wurden 22058 Entscheidungsbände veröffentlicht; bis 1953 waren es über zwei Millionen Urteile40 . Der ComputeT ist die unausweichliche "Perfektion" dieser monströsen Entwicklung41, die auch das Ausland zu bedrohen scheint42 und die durch die sogenannte Wissenschaft der "Jurimetrie"4a ein zweifelhaftes Ansehen gewonnen hat. Zumindest erfordert die Urteilsflut eine überprüfung der amerikanischen Fallmethode in der juristischen Ausbildung" - ironischerweise gerade jetzt, wo diese Methode in anderen Ländern ständig neue Anhänger gewinnt. Nur dann, wenn die Rechtslehre die Aufgabe übernimmt, in Zusammenarbeit mit den Gerichten richterliche Weisheit aus richterlicher Routine, pseudowissenschaftlicher Sprache und mechanischer Klassifizierung herauszuheben, kann das common law das 20. Jahrhundert überleben. Nur eine wissenschaftliche Rechtslehre kann es unnötig, ja sogar sinnlos werden lassen, daß der Anwalt, wozu er heute in grotesker Weise geneigt ist, sich "denselben Fall", den "case on all fours" durch Abonnement eines "Forschungsdienstes" sichern will, obwohl dieser ihm ja nichts als einen bloßen richterlichen Ausspruch, seines Hintergrundes und seiner Begründung beraubt, als "Recht" liefern kann. Soll die Rechtslehre dieses Schreckgespenst verscheuchen, ehe es zu spät ist, so muß sie sich jenem systematischen Denken zukehren, das aus der zweitausendjährigen Geschichte des civillaw hervorgegangen ist4s . Was heute bei der Beurteilung des römischen Rechts als Spezifikum des civil-Iaw-Rechtskreises als kleines Korn der Wahrheit übrigbleibt, kann auf diese Weise einmal die Rettung des common law bedeuten (§ 112). 40 Laut Mitteilung der West Publishing Co. in St. Paul, Minnesota, hatte diese bis 1970 allein 5620 Bände des National Reporter System veröffentlicht. über die Prezedentdoktrin vgl. unten § 108; und allgemein Llewellyn, Common Law 345-362. Radbruch, Geist 46 erinnert daran, daß die Harvard Rechtsbibliothek schon im Jahre 1916 23215 in den Vereinigten Staaten und im Commonwealth erschiene Entscheidungsbände enthielt. u Stone I 37-41; ders., III Kap. 14; J. Kaplan; Lawlor; Stone, Social Sciences. 42 SimHis; Drobnig 232. (3 Jurimetrics; Loevinger; Levinson. 44 Watson, Quest 116. 45 Ehrenzweig, Legal Science.

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Kodifikation

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2. Common law als nicht-kodifiziertes Recht

§ 92. Ein weiterer Gemeinplatz, der die rechtsphilosophische Diskussion über den Unterschied zwischen den beiden Rechtskreisen durchzieht, liegt in der Behauptung, daß das civil law im Gegensatz zum common law kodifiziert und somit der Beeinflussung durch das "Naturrecht" entzogen seil. Schon rein tatsächlich ist diese Behauptung irreführend, gibt es doch einerseits zahlreiche common-Iaw Länder, die zumindest dem Namen nach ihr Recht kodifiziert haben (§ 100), und wurden doch andererseits viele Länder Europas lange Zeit vor der Verabschiedung ihrer Gesetzbücher selbstverständlich als Teile des civil-Iaw Rechtskreises betrachtet. Ja, manche dieser Länder haben der Kodifizierung erheblichen Widerstand geleistet! und andere mögen im Begriff sein, sich der common-Iaw-Einstellung zu dieser Rechtsgebung anzunähern'. Auch sollten wir uns in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß der eigentliche_ Vorfahre aller "civil laws" , das römische jus gentium, fern aller Kodifikation, sich selbst als "Naturrecht" ausgab·. Diese Tatsachen liegen auf der Hand. Eine exakte Bewertung des Kodifikationselements in den Unterschieden zwischen den beiden Rechtssphären setzt indessen eine größere Präzision unserer Terminologie voraus, wobei wir uns allerdings dessen bewußt bleiben müssen, daß diese Terminologie wie jede andere willkürlich bleiben muß und ihre Rechtfertigung in ihrem Zweck finden muß. In diesem Sinn müssen wir zunächst die "alten" und "mittleren" Gesetzbücher als "Nicht-Kodifikationen" aus unserer Analyse ausschließen, da sie sich nach Ursprung, Form und Funktion wesentlich von den modernen Kodifikationen unterscheiden, ebenso wie jene große Kompilation heterogener Quellen, das Corpus Juris Civilis des Justinian.

a) Die "Nicht-Kodifikationen" § 93. Die "alten" Codices. Seit es eine überlieferte Geschichte gibt, kennt die Menschheit großartige Proklamationen "des Rechts" in Sammlungen einzelner Rechtsnormen, die man später als Gesetzbücher Friedmann 533-539; Lawson 47. David und Grasmann § 232. Von größter Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Kontroverse zwischen Thibaut, dem Befürworter eines Gesetzbuches, und Savigny, dem Historizisten (§ 35), die mit der Kontroverse zwischen Field und Carter in New York verglichen werden kann (§ 100). Vgl. oben § 37 Anm. 87; Jacques Stern (Hrsg.); Kiefner; Aumann 207-211. über Feuerbachs Stellungnahme vgl. Kipper 85. S Für die römisch-holländischen Rechte und Schottland, vgl. oben § 86. über das ungarische Recht vor seiner Kodifikation, vgl. Zajtay, Introduction. Losano 257 verweist auf Katalonia und Südafrika. Larenz 177 hebt die wachsende Vorherrschaft des Einzelgesetz- und Richterrechtes auf der ganzen Welt hervor. 4 Maine 52-55, 60, 73-77. 1

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oder Codices bezeichnete. Sie wurden erlassen durch religiöse Führer wie Moses in Israel (1200 v. Chr) und Manu in Indien (100 v. Chr.), durch Autokraten wie Menes in Ägypten (3400 v. Chr. ?), die sumerischen Herrscher (2000 v. Chr.), Hammurabi in Babylonien (um 2000 v. Chr.), Tan in China (1100 v. Chr.) und Shotoku Taishi in Japan (gest. 621 n. Chr.) oder durch demokratische Organe wie den Archon Solon in Athen (600 v. Chr.) oder die Verfasser der Zwölf Tafeln in Rom (450 v. Chr.). Daneben gab es noch private Kompilationen5• Keines dieser Dokumente verkörperte den Versuch, "das Recht zu kodifizieren". § 94. Das Corpus Juris CiviZis. Als Vorfahre der modernen Kodifikation wird für gewöhnlich eine Kompilation angesehen, die späterhin das Corpus Juris Civilis Justinians genannt wurde. Wenn man jedoch umfassende Regelung und Systematisierung als Hauptmerkmale der civillaw-Gesetzbücher erachtet, so läßt sich weder das eine noch das andere in Justinians "chaotischer"6 Sammlung finden. Sein Werk besteht aus einem kurzen Einführungslehrbuch (auf der Grundlage der Institutionen des Gaius), aus einer Sammlung der Kaiserkonstitutionen (dem Codex), die an die Stelle der Konstitutionensammlung seines Vorgängers Theodosius II (401-450) trat, aus einer Reihe von Einzelgesetzen (den Novellen) und vor allen Dingen aus den Digesten, mit deren Namen die moderne Terminologie so ungeheuerlichen Mißbrauch getrieben hat. Zweifelsohne wurden die Digesten seit ihrer Wiederentdeckung im elften Jahrhundert zur Grundlage der Rechtswissenschaft dieses Jahrtausends, die in der pandektistischen Lehre des 19. Jahrhunderts gipfelte7 • Sie selbst aber bestehen vornehmlich aus Auszügen früherer Literatur und aus den Darstellungen tatsächlicher und hypothetischer Fälle. Sie sind daher alles andere als systematisch und ähneln eher einem amerikanischen "Case Book" als einem modernen Gesetzbuch.

§ 95. Die "mittleren" Codices. Die Anfänge dieser Gesetzbücher gehen auf die salischen, burgundischen und westgotischen Aufzeichnungen des römischen Rechts im frühen Mittelalter zurück8 • Hierher gehören des weiteren: die sogenannten angelsächsischen "Codes" mit ihren Bußkatalogen und Abhandlungen9, die Statuten des Lehn- und Seerechts 1o, die 5 Vgl. allgemein Wigmore 17, 59, 86, 105, 158, 247, 342, 374, 463; Pharr; Schnitzer Kap. X; Kunkel. über Hammurabi (siehe Bibliographie) vgl. etwa Preiser 20-22; Eilers; Gutzwiller, Rechtsidee 64-65. über den wahrscheinlich privaten Charakter der hettitischen Rechte (13. Jh. v. Chr.) vgl. ders., 23, 25-28. Zu den letzteren vgl. auch Driver und Miles; J. Friedrich; über die zwölf Tafeln etwa Kunkel 35; unten Anm. 55. über Kretas Frührecht vgl. Willets. • David und Grasmann § 27. Vgl. aber Yntema, Roman Law 81. 7 David und Grasmann §§ 27, 51. Vgl. auch Radin § 36. 8 über das vorchristliche salische Recht (507-511) vgl. Eckhardt; allgemein Wigmore 835-839; H. Brunner § 39; Von Amira und Eckhardt Bd. I. g Pollock und Maitland I 3; Turk 30-35; Liebermann (Hrsg.).

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Kodifikation

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mongolischen Rechtsbücher des 13. und 17. Jahrhunderts ll , die Ruskaja Pravda aus dem 14. Jahrhundert, der das Gesetzbuch Peters des Großen von 1649 folgte l2 , die skandinavischen Gesetzbücher (§ 81) und der Libro de Leyes (Sie te Partidas) Kastiliens (1263). Das zuletzt genannte Gesetzeswerk verlor seine offizielle Stellung wenige Jahre nach seiner heftig bekämpften Verkündung, gewann aber während des Mittelalters bis hinein in die Gegenwart einen bedeutenden Einfluß auf Lateinamerika13 • Dieser Liste können wir noch Philippe de Beaumanoirs "Coutumes des Beauvaisis" aus dem Jahre 1283 und den Tres Ancien Coustumier der Normandie hinzufügen14 • Eike von Repgows Sachsenspiegel aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts hatte trotz kirchlicher Opposition einen beträchtlichen Einfluß auf die Stadt- und Lehnrechte jener Zeit. Aber auch hier ist festzustellen, daß es sich eher um ein philosophisches und politisches Werk handelt als um ein systematisches Gesetzbuch l5 • Papst Gregor IX. (1145-1241) publizierte 1234 eine Sammlung seiner Dekretalien, den sogenannten Liber extra, der auf Gratians berühmter Concordantia Discordantium Canonum (1140) beruhte. Nach der Erweiterung durch spätere Sammlungen wurde diese "Kodifikation" im Jahre 1582 amtlich publiziert. Sie ging als Corpus Juris Canonici in die Geschichte ein und behielt ihre Geltung bis zur Verkündung des systematischen "Codex" im Jahre 1917 16 • Der wechselhafte Gang der Gesetzesund Gewohnheitsrechtssammlungen, der die Jahrhunderte vor den Großen Kodifikationen kennzeichnet, ist eine faszinierende Geschichte für sich. Ihrer Beschreibung und Betrachtung widmet sich eine Untersuchung, die an uns zahlreiche Versuche königlicher und gelehrter Autoren in Frankreich, Spanien, Savoyen, Schweden, Dänemark, Bayern und.England vorüberziehen läßt, bis zu den Großen Codices l7 • b) Die Großen Kodifikationen

§ 96. Österreich. Unter einer Kodifikation im modernen Sinne des Wortes versteht man ein systematisches und umfassendes Gesetzgebungswerk, das einen neuen Anfang ankündigt. So gesehen gingen den 10 Zu den letzteren gehören die Tafeln von Amalfi, die Llibre deI Consolat de Mar von Barcelona (siehe Mitsidis), die Rechte von Wisby und der Hansestädte und vor allem das Seerecht von Oleron. Gilmore und Black §§ 1-3. U Riasanovski, passim. 11 David und Grasmann §§ 121-123. 13 Oben § 83 Anm. 35; Vanderlinden 23-24, 260-261; Radio, Stete; Van Kleffens 171, 191. !4 Vinogradoff 80-96. 15 David und Grasmann § 35; Wieacker 106-107. Über Feudalrecht v~1. Thompson. 18 Oben § 88 Anm. 16. über den Codex vgl. etwa Bonscaren und EIlis. 17 Vanderlinden, passim. Vgl. auch Levasseur, Structure.

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großen Kodifikationen die "Lawes and Libertyes" der Massachusetts Bay Colony (1648) und andere koloniale Gesetzgebungsakte voraus, die auf Grund des vitalen Interesses der jungen Siedler an der Bekräftigung ihrer Bürgerrechte und ihres Vertrauens auf ihre religiöse Tradition darauf ausgerichtet waren, mit dem überlieferten Erbe zu brechen!8. Die parallele europäische Kodifikationsbewegung entstammte dem humanistischen und naturrechtlichen Idealismus der Aufklärung!9. Ihr Impetus läßt sich vielleicht am besten anhand des Werkes Franz von Zeillers zeigen, der als Hauptverfasser des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches von 18112° noch annahm, daß er das gesamte Rechtswissen in einigen wenigen Prinzipien zusammenfassen könne!!. Selbst die endgültige Fassung des Gesetzbuches besteht aus nur 1502 Paragraphen, die in ihrer Kürze mit den 719 Artikeln des Entwurfes vom Cambaceres zu einem Französischen Bürgerlichen Gesetzbuch (1793) vergleichbar sindli. § 97. Der Code Napoleon. Bis zum heutigen Tage ist Napoleons Code Civil von 1804 der Prototyp einer erfolgreichen Kodifikation geblieben23 • Seine Anfänge reichen 300 Jahre zurück bis zum Wunschbild Dumoulins (1500-1566) und Colberts (1619-1683) erstem Gesetzgebungsexperiment (1665). Indessen waren es Domat (1625-1696) und Pothier (1699-1772), beide Richter und Rechtsgelehrte, die den Weg durch ihre Abhandlungen ebneten. Zu den endgültigen Verfassern gehörten 18 Riesenfeld 107, 115-134. In bezug auf Südkarolina siehe Aumann 121 bis 123. Wegen ihres ähnlichen politischen Hintergrundes hat man gelegentlich selbst die Kodifikationen der griechischen Kolonien Süditaliens aus dem 7. Jh. vor Chr. hier eingereiht. Haskins 11. 18 David und Grasmann § 45; Wieacker § 19; ders., Aufstieg; Harrasowsky 64; Thieme; Gutzwiller, Rechtsidee 71-77. 20 Oben § 80 Anm. 11. Vgl. auch Zweigert und Kötz I § 13. 11 Zeiller (1753-1828), passim. 21 Wilhelm 266. Die Vorläufer dieses Gesetzbuches waren der von Kreyttmayr (1704-1790) verfaßte Codex MaximiIianeus Bavaricus CiviIis (1756) und das Preußische Allgemeine Landrecht (1794) Friedrichs n., des Zeitgenossen und Freundes Voltaires. Wie alle großen Kodüikationen war auch das Preußische Gesetzbuch im wesentlichen das Werk eines Mannes. Unten § 101. Im Geiste der Aufklärung wurde es von Kar! Gottlieb Svarez (1746 bis 1798) verfaßt, um die individuelle Freiheit und das "Naturrecht" genauso zu garantieren wie die Interessen des Staates. Es teilte indessen das Schicksal jener Kodifikationen, die von dem Tage an, an dem sie geschaffen wurden, nur mehr eine vergangene Epoche widerspiegelten. Wieacker 334. Vielleicht ist es ihm deswegen nicht gelungen, im eigenen Lande und im Ausland den Rang zu erreichen, den es verdient hatte, weil es den Nachwehen der französischen Revolution und dem darauf folgenden Sieg der historischen Schule Savignys zum Opfer fiel. Oben § 35; Vanderlinden 38--45. Aber man hat dem Gesetzbuch Friedrichs auch Rigidität und Geringschätzung richterlicher Fortbildung vorgeworfen. Vgl. aber hierzu auch Thieme, Kodifikation; Gutzwiller, Rechtsidee 67-72. 23 Yiannopoulos, Code; Limpens; Ferid 11 A 22-25; unten Anm. 25.

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Jacqueminot, Tronchet und vor allem Portalis 24 • Mit gutem Recht betrachtete Napoleon den Code als sein letztes und dauerndes Ruhmeswerk, und in der Tat ist dessen Einfluß enorm gewesen25 • Es ist bezeichnend für das hohe Ansehen, welches das civil law der Aufgabe der Kodifikation zollt (§ 10), daß der gegenwärtige überarbeitungsprozeß schon ein Vierteljahrhundert gedauert hat und wahrscheinlich noch lange Zeit fortgesetzt werden wird28 • Der nachhaltige Einfluß des Code Napoleon ist nur vom deutschen BGB annähernd erreicht worden. § 98. Das deutsche BGB. Das deutsche "Bürgerliche Gesetzbuch" von 1896 war im wesentlichen das Produkt jener Begriffsjurisprudenz, die über ein Jahrhundert lang durch die Epigonen des römischen Rechts, die Pandektisten, aufgebaut worden war 27 • Von Anfang an traf diese Kodifikation auf die heftige Gegnerschaft von "Germanisten" wie Otto von Gierke, der auf einen neuen Ansatz drang28 • Viele der Gedanken, die von diesen Gegnern und später von den Vertretern der Interessenjurisprudenz (§ 50) geäußert worden sind, sind längst lebendiges Recht geworden29 • Dennoch übt das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch nach wie vor einen beträchtlichen Einfluß auf die Gesetzgebung unseres Jahrhunderts aus 30 • § 99. Das zwanzigste Jahrhundert. Die Schweiz erließ ihr Zivilgesetzbuch im Jahre 1907. Es war, wie soviele andere große Gesetzeswerke, in der Hauptsache das Werk eines Mannes, Eugen HuberssI. Im Jahre 1911 wurde es durch eine überarbeitete Fassung des älteren Obliga24 Vanderlinden 34, 54, 57. Siehe insb. Domat. über Portalis (1746-1807) vgl. Levasseur. Als Vorgänger ist Cambaceres zu nennen, obwohl sein Werk durch das von Tronchet und Portalis überschattet wurde. Vgl. näheres bei Ferid 11 A 13-16; Zweigert und Kötz I §§ 6-8. 25 Wigmore 1021-1033; Arnaud 52-64; Wilhelm; Vanderlinden 45, 102, 115, 151, 452; Maillet; L. Baudouin, Influence; Gutzwiller, Rechtsidee 77--84; oben 80 Anm. 13. über das Verhältnis dieses Werkes zum common law vgl. Schwartz (Hrsg.). !8 David und De Vries 9; R. B. Schlesinger 382-383; Houin. Ferid I A 63 meint, der Gedanke einer Gesamtrevision sei bereits aufgegeben. 21 Oben § 91 Anm. 38; Dawson 459-461. über Puchtas "Genealogie der Begriffe" vgl. Larenz 17-23; über Windscheids "rationalen Positivismus", ders. 27-31. Vgl. Zweigert und Kötz I §§ 11-12. 18 über Gierke (1841-1921) vgl. Dawson 479-480. Siehe auch Folke Schmidt, Comments. 29 In bezug auf die Rechtsnormen über Produzentenhaftung und die allgemeinen Geschäftsbedingungen siehe Ehrenzweig, Negligence, passim; ders., Treatise § 172. so Oben § 80 Anm. 12; Schnitzer, Bd. 2, 227-237. 11 Ein beliebtes Beispiel ist Art. 14 (2), der in drei Worten statuiert: "Ehe macht mündig." über den Einfluß des Naturrechts vgl. Huber (1849-1922) 52-54, 246; auch oben § 41 Anm. 27. Allgemein, Schnitzer, Bd. 2, 337-239; Wieacker § 26; TroUer § 20. über das türkische Tochtergesetzbuch vgl. oben § 80 Anm. 12, 85. Anm. 26. Vgl. Zweigert und Kötz I § 15.

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tionenrechts (1894) ergänzt. Obwohl dieses Zivilgesetzbuch eigenständigen Quellen und seinen französischen und deutschen Vorgängern viel verdankt, ist es vielleicht die schöpferischste moderne Kodifikation, die sich durch ihre Kürze und Klarheit auszeichnet. Sie ist weithin bekannt durch ihren Artikel 1, der - wie G€mys "droit libre" (§ 48) - den Richter an~ist, hilfsweise wie ein Gesetzgeber zu fungieren (§ 106). Griechenland ersetzte 1941 sein absterbendes byzantinisches Gewohnheitsrecht, den Hexabiblos von 1345, durch ein ZivilgesetzbuchS!, und Italien publizierte 1942 eine Neufassung seines Gesetzbuches aus dem 19. Jahrhundert, das seinerseits das Ergebnis zahlreicher früherer Experimente gewesen war33 • Für Äthiopien verfaßte Rene David ein Zivilgesetzbuch, das 1960 inkraft trat. Sein "synthetischer" Charakter, der es als "Waisenkind" zur Welt kommen ließ, ist kritisch durchleuchtet worden34 • Die jüngste Kodifikation ist das Zivilgesetzbuch von Portugal, das im Jahre 1967, hundert Jahre nach seinem Vorgänger, verabschiedet wurde. Die kommunistischen Länder haben ihr Zivilrecht entweder schon neu kodifiziert, wie die UdSSR (1964)35, die Tschechoslowakei (1964), Ungarn (1959) und Polen (1964), oder sie sind im Begriff dies zu tun, wie z. B. Jugoslawiens 8 und die DDR37. Für unsere Zwecke ist es wesentlich, diesen Entwicklungen das gegenüberzustellen, was man in den Ländern des common law als Kodifikation bezeichnet hat. c) Die "Kodifikationen" des common law

§ 100. Sir Francis Bacons (1561-1621) Denkschrift an den König, mit der er "die Sammlung und Ergänzung der Gesetze Englands" (1616) empfahl, wurde feindselig aufgenommen38 • Und Benthams erfolglose Bemühung, die Kodifizierung des common law in den Vereinigten Staaten in die Wege zu leiten, ist eine bezeichnende Episode in der amerikanischen Geschichte s8 • Wir haben auch gesehen, daß sich ähnliche Bemühungen nur in entfernten Territorien des Commonwealth, insbe3Z Wegen der deutschen Besetzung trat das Gesetzbuch erst 1946 in Kraft. Es wurde also 111 Jahre nach dem Versprechen König Ottos, es zu erlassen, verabschiedet. Yiannopoulos; Zepos 85; Bayitch, Codificaci6n 43. 33 Cappeletti, Merryman und Perillo; Vanderlinden 42-43. 34 Oben § 83. 3S Vgl. allgemein David und Grasmann § 161. Das Gesetzbuch beschränkte sich auf Allgemeine Grundsätze, die von den einzelnen Republiken ausgefüllt wurden. Vgl. etwa Rudzinski 33; Yoffe u. a. 38 David und Grasmann §§ 243-248; oben § 80 nach Anm. 13. 87 Oben § 80; Grzybowski 66-71; David und Grasmann § 236; Markovits. 88 Vanderlinden 35, 54; Montpensier, Bacon. Ober Bacons Einfluß auf das junge Amerika siehe Aumann 121. 89 Bentham 453-460, 467, 474-475. In der folgenden Diskussion bleiben Teilkodifikationen "moderner" Rechtsgebiete wie etwa des Gesellschaftsrechtes unbeachtet. Vgl. Schmitthof 1; unten vor Anm. 54.

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sondere in Indien (§ 82), als wirkungsvoll erwiesen haben, und selbst dort gelang es nicht, Verfahren und Ideologien des common law zu beeinflussen. Das bedeutsamste Gesetzgebungsexperiment in der englischsprechenden Welt, das nach dem fehlgeschlagenen ersten "modernen Gesetzbuch" der Massachusetts Bay Colony (1648) (§ 96) und nach der von Bentham inspirierten Bewegung Anfang des 19. Jahrhunderts stattfand 40 , war die von David Dudley Field Mitte des vorigen Jahrhunderts in New York begonnene Kodifikation41 • Sein Zivilgesetzbuch traf im Osten der Vereinigten Staaten auf entschiedenen Widerstand42 . Dagegen wurde es von einer Anzahl jener Staaten rezipiert, denen eine eigene common law-Tradition fehlte (Kalifornien, Nord- und Süd-Dakota, Idaho und Montana). In Kalifornien, dem führenden "Kodifizierungsstaat" , erfüllte es die zusätzliche Aufgabe, den damals noch fortbestehenden Einfluß des mexikanischen Rechts zu beseitigen. Und doch muß Fields Experiment heute als Fehlschlag angesehen werden (§ 35). Schon im Jahre 1873 wurde es in England lächerlich gemacht als eine gewöhnliche Sammlung von Extrakten, "die außer gelegentlichen, den Institutionen Justinians und dem Code Napoleon entlehnten Bruchstücken von Terminologie und Aufbau ... in einer gänzlich unverdauten Form die Begriffe und solche Vorstellungen reproduziert, wie sie hastig zusammengeschriebene Lehrbücher zur Wiedergabe des englischen Rechts verwenden"u. Sir Frederick Pollock nannte das kalifornische Gesetzbuch "die wohl schlechteste Kodifikationsarbeit, die jemals hervorgebracht worden ist"44. Im Jahre 1884 leitete Pomeroy den Niedergang des Gesetzbuches ein, indem er sowohl seine Qualität als auch seine Funktionen angriff. Dieser Feldzug führte 1888 schließlich zum Sieg, als der Oberste Gerichtshof von Kalifornien erklärte, daß man das common law, wo das Gesetzbuch "so verworren und unklar ist, daß man ihm keine vernünftige Bedeutung zumessen kann, als unberührt betrachten müsse"45. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt, bis man das Gesetzbuch im Zweifelsfall als bloße Neuformulierung geltenden Rechts zu behandeln und solche Zweifelsfälle so oft wie David und Grasmann § 366. Field (1805-1894). Vgl. Kimball 374-382; Bayitch, Codificaci6n 55. 42 über Carter vgl. oben §§ 35 Anm. 8, 92 Anm. 2. Nur Georgia erließ 1863 eine modifizierte Fassung. Vgl. hierzu, Bayitch, Codificaci6n 49. 43 Amos 95. Es wäre interessant zu wissen, ob Amos mit seinem Landsmann Edward Jenks genauso streng ins Gericht gegangen wäre; Jenks versuchte noch im Jahre 1905, einen "blackletter Digest" des englischen Rechts, wie es auf dem Papier steht, anzufertigen, und nahm damit manche der bedenklichen Wagnisse der sog. "Restatements" des American Law Institute vorweg. Vgl. Ehrenzweig, Desperanto; Losano 259 ("curioso"). 44 Zitiert in Maurice Harrison 185. 45 Sharon v. Sharon, 75 Cal. 1, 13 (1888). 40

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möglich anzunehmen begann. Kein Wunder, daß jetzt viele Gerichtsentscheidungen die Bestimmungen des Gesetzbuches nur ganz beiläufig erwähnen oder gänzlich ignorieren'6. So können wir denn in dieser Behandlung gesetzten Rechts das Körnchen Wahrheit jener Unterscheidung sehen, die man zwischen den beiden Rechtssystemen mit Bezug auf die Kodifikation zu machen liebt. d) Das Körnchen Wahrheit: Bedeutung einer "Kodifikation" § 101. Ein amerikanischer "code" unterscheidet sich in seiner Funktion notwendigerweise von jedem der großen Gesetzbücher des civil law. Für diese Tatsache gibt es vielfältige Gründe. (1) Als vielleicht wichtigster Faktor ist hervorzuheben, daß bei den amerikanischen Kodifizierungen all jene Anreize fehlten, die alternativ oder kumulativ die kontinental-europäische Entwicklung bestimmt haben. Es gab keinen ehrgeizigen Reformkönig, kein Bedürfnis nach revolutionärer Rechtssicherheit gegen Herrscherwillkür, kein Streben nach Vereinheitlichung der Gesetze und weder das Verlangen, mit einem mächtigen Nachbarn zu wetteifern noch eine Ideologie, di.e nach einem neuen Ausdruck suchte'7. (2) In den Vereinigten Staaten fehlte und fehlt heute noch der beständige und fachlich qualüizierte Apparat, der den civil law-Gesetzgebern von Justinian bis Maximilian, Friedrich 11., Maria Theresia, Napoleon, Wilhelm II. und bis zur Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Verfügung stand. Wer sich unter unseren Zeitgenossen mit Tribonian in Beryt, Kreittmayr in München, Svarez in BerUn, Zeiller in Wien, Portalis in Paris oder Huber in Bern messen kann, wird kaum nach der untergeordneten Rolle und der begrenzten Wirkungsmöglichkeit trachten, die eine amerikanische Gesetzgebungskörperschaft ihren Beratern und Assistenten anbietet'8. (3) In den Vereinigten Staaten ist nicht nur das Gesetzgebungsziel, sondern auch die Gesetzgebungstechnik dem "demokratischen" Kompromiß unterworfen. Dadurch ist jedes größere Gesetzgebungsvorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt. Nicht nur die sogenannten "Restatements" des American Law Institute, sondern auch einige der ehrgeizigsten amerikanischen Kodifikationsprodukte, wie das Beweisrechtsgesetz von Kalifornien (Evidence Code) oder das Musterstrafgesetzbuch (Model Penal Code) des InstituteU, be48 Van Alstyne 6--8, 29-33: David und Grasmann § 116. Eine potentiell ähnliche Einstellung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland zeigt sich im "Apothekerurteil", BVerfGE 7 (1958) 377-344 (11. Juni 1958). 47 Lawson 49-52, 61-62; Arnaud 8-22; Wilhelm; Vanderlinden 220-225. Vgl. Art. 4 der französischen "Rechtserklärung" von 1791, laut der Freiheit "nur vom Gesetz" zu erwarten ist. 48 Unten § 105; Wieacker 474. Der Autor war von 1942-1944 mit der Verfassung von Gesetzen für New York betraut - als Assistent mit einem Monatsgehalt von $ 150! Vgl. unten Anm. 75. 40 Deutsche Ausgabe: "Entwurf eines amerikanischen Musterstrafgesetz-

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zeugen die Richtigkeit dieser Beobachtungen. Vor allen anderen Dingen erfordert ja die Abfassung von Gesetzen Einheitlichkeit und Zielsicherheit. (4) Aber dem amerikanischen Rechtssetzungsvorhaben fehlt es nicht nur an fachlicher Qualifikation, richtungweisender Leitung und innerer übereinstimmung. Im Hintergrund lauert die Befürchtung der amerikanischen Gesetzesverfasser, daß der in der traditionellen Technik des common law ausgebildete Richter jedem neuen Gesetz mit Argwohn, wenn nicht mit Feindseligkeit begegnet (§§ 105-107). Die dieser Befürchtung zuzuschreibende Spezijizität der Gesetze fordert zunächst richterliche argumenta e contrario heraus, auf die die Gesetzgebung dann wieder mit unübersehbarem NoveZlenjlickwerk reagiert - im scharfen Gegensatz zu dem, was man irreführenderweise als "Flucht" (statt als Aufstieg) in die Generalklausel50 des civillaw benannt hat; im Gegensatz auch zur Ehrfurcht und zögernden Haltung des civil law Juristen, mit der er das Werk seiner Vorfahren weitergestaltet. Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 ist zwar durch Spezialgesetzgebung und authentische Interpretation ergänzt worden, aber (abgesehen von den Eingriffen während der nationalsozialistischen Periode) bis auf den heutigen Tag !.n 160 Jahren nur selten novelliert worden51 • Wird sich der amerikanische Uniform Commercial Code der jahrhundertealten feindlichen Tradition widersetzen können? Schon jetzt hat der Widerstand gegen manche seiner Entlehnungen europäischer Generalklauseln deren Verteidigung nötig gemacht52 • Wird England sein neues Unterfangen gelingen, wenigstens das Vertragsrecht zu kodifizierenSI? Die hier festgestellten Unterschiede zwischen den bei den Rechtskreisen hinsichtlich ihrer Behandlung kodifizierten Rechts spiegeln sich auch in der Behandlung der übrigen Gesetze wider, die seit jeher sowohl dieses Recht als auch das Richterrecht ergänzt haben. Derartige Gesetze betreffen so zentrale Materien wie das Familienrecht, das Erbrecht, das Aktienrecht, das Versicherungsrecht, das Handelsrecht allgebuches vom 4. Mai 1962", übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Richard M. Honig, Berlin 1965. Für die sog. "demokratische" Methode der Gesetzesverfassung vgl. Mentschikoff, Democracy. 50 Dawson 451-479, in Anlehnung an Hedemann; (Bibliographie); R. B. Schlesinger 232-233; auch oben § 62, 99 Anm. 31; unten § 123. 61 R. B. Schlesinger 382-383. über das portugiesische Erfordernis verfassungsmäßiger Ermächtigung vgl. David 87. Für die Niederlande vgl. Langemeijer, Reforme. über die "Ehrfurcht" gegenüber dem Gesetz siehe Herold 470 und Bartholomeyczik 18. 52 Ellinghaus; Ralph Newman, Good Faith; R. B. Schlesinger 498-499; allgemein Mentschikoff, passim; Bayitch, Codificaci6n 9; unten § 123 Anm. 11. Vgl. aber Melinkoff. Für eine "existentialistische" Verteidigung vgl. Bonsignore 145-156. Gegen dieses Experiment schon Beutel (deutsch) 13~131. " Hahlo; Gower; Chloros 863.

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

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mein und das Miet- und Pachtrecht. Der Schwerpunkt unserer weiteren Diskussion muß daher auf der Gesetzesverfassung und Gesetzesauslegung im allgemeinen liegen. In diesem Zusammenhang ist die Geschichte der Gesetzgebung als solcher, ihrer Technik und ihrer Wirkung von überragender Bedeutung (§§ 107, 113). Unsere Untersuchung ist eng verknüpft mit der faktischen und ideologischen Verschiedenheit des Status aller Organe des Rechtssetzungsprozesses, insbesondere der Stellung des Gesetzgebers und des Richters 54 • 3. Gesetzgeber und Richter

§ 102. Für unsere gegenwärtigen Zwecke wäre eine Analyse der anthropologischen, politischen und historischen Quellen des Rechts nicht relevant. Ebensowenig haben wir es an dieser Stelle mit der Tatsache zu tun, daß zu allen Zeiten "Rechtserzeugung" durch Berufung auf außerrechtliche Rechtsquellen, auf Metanormen (§ 14), rationalisiert oder sollten wir sagen: irrationalisiert wurde. Wir haben beobachtet, daß sich Priester und Autokraten auf die Gottheit beriefen, daß Volksversammlungen und gewählte Volksvertreter Naturrecht geltend machten, daß Gelehrte für ihre Autorität die Vernunft in Anspruch nahmen, und daß Richter vorgaben, unveränderliches Gewohnheitsrecht anzuwenden und zu verkünden (§§ 30-59). Sicherlich ist die Ubiquität solcher Ansprüche hinsichtlich ihrer psychologischen Grundlage von großem Interesse und Gewicht. Sie könnte uns letzten Endes zu unbewußten Quellen urzeitlicher Ängste oder Schuldgefühle führen oder - dichter an der Oberfläche - zu einer "Ästhetik" des Rechts, die mit der immer erneuten Wiederkehr repräsentativer Kunst vergleichbar wäre (§§ 134-148). Aber die Metanormen von Offenbarung, Natur, Vernunft oder Macht können nicht angerufen werden, um die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines bestimmten Rechtssystems als solchen oder einer seiner besonderen Rechtsvorschrüten zu beweisen oder zu widerlegen. Noch haben sie mit unserer Bemühung zu tun, dasjenige Organ zu identifizieren, das in einem Rechtssystem als die "Apex-Norm", als eine höchste gesatzte Rechtsquelle, angesehen wird. Im Zuge dieser Bemühung werden wir die Wechselbeziehungen von Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung und Rechtslehre in einem kurzen historischen und geographischen überblick prüfen müssen, der, wie alle Rechtsgeschichte mit der uralten Vision der Einheit beginnen muß. a) Der Richterkönig als Gesetzgeber

§ 103. Zur Frühzeit war die Gottheit Gesetzgeber, Verwalter und Richter. Die Ägypter huldigten ihrem Herrscher als einem Gott; Hamu

Svolos 16-22; David und Grasmann §§ 78-108.

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murabi leitete seinen Codex von Marduk ab; Homers Könige empfingen ihre Gesetze und Rechtsspruche von Zeus. Wenn das römische Recht die Bühne der Geschichte betritt, begegnen uns königliche und priesterliche Herrschaft im überlieferten Augenblick ihres Niederganges. Die soziale Bedeutung jener großen, als die Zwölf Tafeln (451 v. ehr.) bekannten Gesetzgebung bleibt im dunkeln. Man hat sie sowohl als Ergebnis der Revolution der Plebejer gegen die Patrizier interpretiert als auch als Ausdruck eines Konservatismus gegen versteckte Reformen55 • Nach mehreren Jahrhunderten aristokratischer und demokratischer Regierung des Senatus Populusque Romanus als höchsten Rechtsschöpfers beanspruchten Princeps und Imperator allmählich diktatorische und göttliche Gewalt. Ein Jahrtausend später sollte cerseibe Anspruch von ihren einander bekämpfenden Nachfolgern, dem Papst und dem pseudorömischen Kaiser des Mittelalters, wiederholt werden. Auch unsere letzten Könige schreiben ihre schwindende Autorität immer noch Gottes Gnade zu, haben aber längst Gesetzgebung, Rechtsprechung und Regierung anderen überlassen. Die Gewaltentrennung hat die autokratische Theokratie verdrängt. b) Die Gewalientrennung

§ 104. Geschichte und Analyse. Die Anfänge der Gewaltentrennungslehre werden Locke zugeschrieben, ihre Vollendung Montesquieu: "Um den Mißbrauch der Gewalt unmöglich zu machen, müssen die Dinge so geordnet werden, daß die eine Gewalt die andere im Zaume hält5 6." Wir sehen diese Gewalten heute als die der Verwaltung, der Gesetzgebung und der Rechtsprechung57 • Indessen sind diese Funktionen, wie immer man sie definiert, analytisch nicht unterscheidbar, denn sie bilden allesamt Konkretisierungen der Apex-Norm, die sich nur nach der mehr oder weniger zufälligen Bezeichnung des konkretisierenden Organs unterscheiden58 • Dies war schon Platon bekannt, und die Vereinigten Staaten sind dabei, diese uralte Erkenntnis in einer erneuten, frustrierenden Auseinandersetzung zwischen dem Präsidenten, dem Supreme Court und dem Kongress wieder zu entdecken. Nur politische und nicht analytische Gründe können denn die Tatsache erklären, daß die Lehre von der Gewaltentrennung in den beiden Rechtskreisen in ihrem vielStein 5,7; Radin § 9. Vgl. auch oben Anm. 5. Montesquieu, Pt. H, Buch XI, 4. Kap. (S. 132). Montesquieu (§ 42) soll einiges von Bolingbroke (1678-1751) übernommen haben (siehe Shackleton). Für ihn war das Problem das notwendige Gleichgewicht von König, Adel und Bürgerschaft. Melichar 23-25; Naumann. Für eine heterodoxe Auslegung vgl. Merry 243, 293, 316, Kap. VIII. Über Montesquieus unrichtige Auffassung des englischen Rechts vgl. etwa Radbruch, Geist 33-34. 57 David und Grasmann 48-49; Merry; auch Raoul Berger, passim. 58 Kelsen 221-267; Melichar 7-16; oben § 15. 65

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

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leicht wichtigsten Test in zwei diametral entgegengesetzten Weisen angewandt worden ist. Dieser Test ist die richterliche Kontrolle der Gesetzgebung. Der Test: Richterliche Kontrolle. Für Montesquieu selbst waren die Richter nur "der Mund, der die Worte des Gesetzes verkündet, unbeseelte Wesen, welche weder die Geltung noch die Wirkung des Gesetzes ändern können"slI. War dies aus Unwillen über die Gesetzgebung der rechtsprechenden parlements des ancien regime geschrieben worden? Oder darum, weil diese Gerichte, gleich den Senaten von Piemont und Savoyen sich frei fühlten, die communis opinio doctorum sowie das Dekret des Königs zu verwerfen, wenn diese "gegen die grundlegenden Gesetze des Königsreiches verstießen"80? Wie dem auch sei, die französische Revolution gab Montesquieu recht. Napoleon versuchte, genauso wie Justinian und Friedrich H. vor ihm, seinen Code zu schützen, indem er den Richtern verbot, sich in der Aufstellung "allgemeiner oder gesetzlicher Vorschriften" zu ergehens1 • Die meisten civillaw-Länder haben zwar solche vergeblichen Verbote vermieden, haben aber wenigstens die richterliche Gesetzeskontrolle beschränkt. Die Schweiz gestattet allerdings eine überprüfung der kantonalen Gesetze. Österreich, Deutschland und Italien haben besondere Verfassungsgerichte eingerichtet8!. Und der französische conseil d'etat sowie der conseil constitutionnel sind wie die entsprechenden Einrichtungen in Holland, Österreich und Italien ermächtigt, gewisse Gesetze vor ihrer Verabschiedung zu überprüfen 63 • Aber selbst diese Länder haben an einer Ideologie festgehalten, die einer generellen überprüfung der Gesetzgebung feindlich gegenübersteht, denn sie fürchten, daß andernfalls die Integrität der beiden anderen Staatsgewalten gefährdet würde8c . Die englische Doktrin von der Souveränität des Parlaments stimmt mit dieser Sicht überein. Freilich hat Coke erklärt, falls "ein Gesetz des Parlaments gegen gemeine Rechte und die Vernunft verstößt, ... so wird das common law es überprüfen und ein derartiges Gesetz für nichtig erklären"85. Montesquieu pt. II, Buch XI, Kap 6 (S. 138). Gorla 632, 642. Im griechischen Stadtstaat hatte die Volksversammlung eine einzigartige doppelte Funktion als Gesetzgeberin (Eklesia) und Gericht (Heliaia). Tarkiainen. über die französischen Parlamente vgl. Brissaud §§ 409-419. 01 Einl. ALR § 50; Ludwig's XIV Ordonnance of 1667, tit. I art. 7; Josefinisches Gesetzbuch (1786) Teil I § 26; Code Civil art. 5. Vgl. etwa Esser, Grundsatz 144, 295; Rüthers 15; unten Nr. 72; § 109 Nr. 26. 02 Cassandro; Rupp. oa McWinney, Restraint; Waline; Freedemann. über Verwaltungsgerichte im allgemeinen vgl. Riesenfeld, French System. e. Vgl. Cappelletti, Review; Geck, passim; Rausch und Schmitt (Hrsg.); Hans Peters. 05 Dr. Bonham's Case, 8 Coke 114 a, 118 a, 77 Eng. Rep. 646, 652 (1610). Für eine erschöpfende und überzeugende Analyse siehe Raoul Berger, Dr. Bonham's Case. 69

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Aber trotz zahlreicher Kontroversen wurde die:rer berühmte Satz (in übereinstimmung mit Blackstone) in England immer lediglich dahin verstanden, daß er die Gesetzesauslegung anhält, dem "natürlichen" common law zu folgen und nicht etwa dahin, daß er die Gerichte ermächtigt, das Gesetz zu Fall zu bringen. Bis auf den heutigen Tag ist niemals behauptet worden, daß das Parlament von einem Gericht überführt werden könne, ultra vires gehandelt zu haben88• Demgegenüber haben die Gerichte in den Vereinigten Staaten seit der klassischen Entscheidung von Chief Justice Marshall87 die Lehre von der Gewaltentrennung so interpretiert, daß sie alle Rechtsprechungsakte, einschließlich die der überprüfung der Gesetzgebung und Verwaltung, in ihre Hände legt88 • Mehrere Länder des Commonwealth sind diesem Beispiel gefolgt. Und Norwegen kann auf eine lange feststehende Tradition desselben Inhalts zurückblicken8'. Wie beständig sich die am amerikanischen Modell orientierten Nachkriegs-Reformen in Ländern wie Zypern, Japan, Jugoslawien und der Türkei erweisen werden, bleibt abzuwarten7o • Trotz seiner theoretischen Unhaltbarkeit hat also das Theorem der Gewaltentrennung wichtige praktische Ergebnisse gezeitigt71 • Die Divergenzen zwischen diesen Ergebnissen bilden den Ausdruck eines psychologischen Konflikts, der für unseren Versuch, die grundlegende Unterscheidung zwischen den beiden Rechtssystemen zu ermitteln in hohem Grade relevant ist. Da sich der vorliegende überblick nur mit dem Privatrecht beschäftigt, werden wir, unseren Versuch fortführend, die in anderer Beziehung höchst bedeutsame relative Funktion der Verwaltungsakte beiseite lassen und uns auf die Rollen der Gesetzgebung und der Rechtsprechung beschränken. c) Gesetzgebung und Gesetzgeber

§ 105. Beide Rechtskreise haben die Gesetzgebung als oberste Rechtsquelle anerkannt: England seit dem Sieg des Parlaments, die Vereinigten Staaten seit dem Inkrafttreten ihrer geschriebenen Verfassung und die Civil-Law-Länder spätestens seit der Kodifizierung ihrer Rechte. Gewiß, die Vormachtstellung der Gesetzgebung, mag sie auch nach der gegenwärtigen offiziellen Lehre unanfechtbar sein, ist durch deutliche ee Jenks 43. Vgl. aber Finnis 170 für eine andere Auslegung Blackstones.

Marbury v. Madison, 1 Cranch 137, 2 L. Ed. 60 (1803). McWhinney. Siehe David und Grasmann § 411. Für Quebec vgl. Dussault; für Israel vgl. Nimmer. es Eckhoff, Impartiality 25-32. Für Finnland vgl. Saario 203; über Skandinavien im allgemeinen auch Sundberg 202. 70 Cappelletti und Adams, passim. 71 Bodenheimer 275-276. 87

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Spuren ihrer wechselhaften Geschichte gekennzeichnet. So haben wir gesehen, daß die (rechtsprechenden) "parlements" des vorrevolutionären Frankreich das Recht ausübten, Gesetze für nichtig zu erklären. Darüber hinaus erhoben ihre arrets de reglement den Anspruch auf eine positive, wenigstens subsidiäre und vorläufige Gesetzgebungswirkung. Und denselben Anspruch vermochten die Senate von Piemont und Savoyen einzigartigerweise auf ein vom Herrscher selbst erlassenes Gesetzgebungsdekret zu gründen72 • Zieht man aber die herkömmliche Verwundbarkeit des Rechtsprechungsamtes und seiner Unabhängigkeit in Betracht73 , so brauchen wir uns nicht zu wundern, daß ein nachrevolutionäres Frankreich und ein befreites Italien Verfechter der modernen civil-Iaw-Ideologie wurden. Ein personifizierter Legislator, der Gesetzgeber, wurde das Symbol der Befreiung des Volkes von einer Justiz, die als Werkzeug des Königs fungiert hatte, und der Richter wurde in eine untergeordnete Rolle verwiesen (§ 106). In den Ländern des common law andererseits blieb die unpersönliche "Legislatur", ideologisch gesehen, das unbedeutendere Organ, weil ja dort der Richter im Laufe der Geschichte die Rolle des Volksbeschützers übernommen hatte. Freilich hat man in den Vereinigten Staaten auf die Schaffung eines Justizministeriums gedrungen, das nach dem kontinental-europäischen Vorbild als unabhängiger Initiator und überwacher des Gesetzgebungsverfahrens fungieren und diesem Verfahren somit mehr Würde und größere Achtung verschaffen soUre7'. Noch immer aber müssen für eine solche Behörde parlamentarische Revisions-Kommissionen kümmerlichen Ersatz bieten. Da sie von jährlichen geringen Zuweisungen abhängig sind und daher nur über unerfahrenes und schlecht bezahltes Personal verfügen, auch ständig von politischer Einmischung bedroht sind, haben sie sich als völlig unzureichend erwiesen75 • So bleibt denn die amerikanische Gesetzgebung weitgehend zufälliger und zweckorientierter Initiative und Intervention ausgeliefert. In der Tat hat in den Vereinigten Staaten der Supreme Court selbst gelegentlich als eine Art Gesetzgebungsausschuß gehandelt71 • d) Der Richterstand

§ 106. Sieht man von politischen Entwicklungen ab, so ist die Vorherrschaft der Rechtsprechung im Rechtskreis des common law wahrschein7! Gorla 645; ders., Bedeutung 22 n. 48; Dawson 305-314; allgemein Germann, Primat; unten § 108 Anm. 6. Vgl. aber oben Anm. 61. 78 Dawson 242--258. 74 Cardozo 357. 75 Heinemann; Deek; oben Anm. 48. Über den verschiedenen Begriff des kontinentalen Gesetzgebers vgl. Uwe Krüger § 3. 78 BerIe, passim. Vgl. auch unter § 108 Anm. 17.

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lich letztlich ursprünglich durch zwei Faktoren begründet worden: die Einheit des englischen Gerichtswesens und die machtvolle Organisation der englischen Richter und Anwälte77 • Indessen kann die nachhaltige Schwäche der RichtersteIlung auf dem europäischen Kontinent nicht nur dem Mangel dieser beiden Faktoren zugeschrieben werden. Vielmehr muß diese Schwäche ihre Erklärung in einem circulus vitiosus finden, der sich hier ähnlich schließt wie in der Welt des common law, wo er umgekehrt die Unterlegenheit des Gesetzgebungsprozesses befestigt hat (§§ 105, 107). Es scheint, als habe die niedrige Stellung des modernen civillaw-Richters, der sich als Beamter mit kleinem Einkommen und geringem Sozialprestige begnügen muß78, sein Selbstwertgefühl beeinträchtigt und ihn daran gehindert, mehr Macht und Ansehen zu verlangen und zu erlangen. Zwar ist er genauso wie sein common law Kollege unabhängig und unabsetzbar. Aber sogar seine Rechtsstellung ist in manchen Beziehungen geschmälert. So kann er beispielsweise wegen Schäden in Anspruch genommen werden, die im Zusammenhang mit seiner Pflichterfüllung entstanden sind7D . Es wäre wohl kleinlich und unrealistisch, dieser Geringfügigkeit allein seine Neigung zuzuschreiben, sich in der Anonymität seines Amtes zu verbergen. Aber diese Anonymität kann ihrerseits zum Teil als ein bedeutsamer Ausdruck des dem europäischen Richter fehlenden Berufsstolzes verstanden werden80 • Im Gegensatz hierzu genießen die common law-Richter, die sich selbst an der Spitze des Rechts sehen und auch so gesehen werden, einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status, der ihnen seinerseits dazu verholfen hat, ihre Position zu behaupten und weiter auszubauen. Es ist bezeichnend, daß in den Ländern, in denen - wie z. B. in Piemont und Savoyen während des 17. und 18. Jahrhundert - die Richter ihren englischen Kollegen ähnelten, die Gesetzgebung in jene untergeordnete Rolle zurückversetzt wurde, die ihr heute noch in der angloamerikanischen Welt beigemessen wird (§ 104). Wir werden freilich später sehen, daß diese Ergebnisse das common law nicht etwa immer begünstigen. Vielleicht hat gerade die geringere 77 Unten § 223; Dawson 34-50; Koschaker 172; Plucknett, Profession. über Max Webers Betonung des Hauptorgans vgl. Rheinstein, Introduction; ders., Rechtshonoratioren. Vgl. aber auch Bernstein. über Webers Charakterisierung des englischen Richters als eines "charismatischen" Rechtschöpfers vgl. etwa Marsh 227. über wichtige Unterschiede innerhalb der Rechtskreise des civillaw vgl. etwa Zweigert, Jurist. 71 über den Staatsbeamtenstatus des römischen Richters siehe Kaser, Anfänge. Für Skandinavien vgl. Blomstedt; im allgemeinen Calamandrei 35-44; Von Mehren 841-842; R. B. Schlesinger 118-120. 7t Dawson 488. Obwohl diese Haftpflicht praktisch geringe Bedeutung hat, zwingt sie viele Richter, sich zu versichern. 80 Von Mehren 842; Cappelletti 28-29; Nadelmann, Dissent; ders. NonDisclosure; Federer; Arndt. Für eine Ethymologie und Geschichte des Dissent vgl. Daube, Dissent.

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

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Stellung und Besoldung des civil law Richters jene Vervielfältigung der Mitglieder seines Standes ermöglicht, die nun dem "einfachen Mann auf der Straße" jenen Zugang zu "seinem Richter" verschafft, der ihm in den Ländern des common law so schmerzlich fehlt. Dieser Mangel ist in der Tat so ernst, daß man in ihm nicht weniger als eine Bedrohung des demokratischen Staates und des Vertrauens des Volkes in sein Recht sehen kann. Hier wird für das Selbstwertgefühl und die Unzugänglichkeit des common law-Richters ein hoher Preis gezahlt81 . Aber, gleichgültig wie man die Vor- und Nachteile dieses Unterschiedes zwischen den beiden Rechtssystemen ansieht, der Unterschied selbst ist für unsere gegenwärtige Analyse von entscheidender Bedeutung. Denn er wirkt sich ausschlaggebend auf die Haltung des Richters gegenüber der Gesetzgebung aus und damit auf den Begriff des Rechts als solchen. e) Das Körnchen Wahrheit: Gesetzes-Auslegung und Technik

§ 107. Als es noch eine ungeteilte Curia Regis gab, vollzog und erließ sie Gesetze, um einzelnen Mißständen nach Brauch und Vernunft abzuhelfen. Selbst als ein unabhängiges Parlament damit anfing, die Anerkennung seiner Gesetze als neues Recht zu fordern ("novel ley"), behielten diese Gesetze ihren Abhilfecharakter. Dies gestattete den Gerichten und zwang sie sogar, die Gesetze so auszulegen, als seien sie lediglich darauf angelegt, "ein spezielles Unrecht zu beseitigen"82. Dies ist natürlich längst nicht mehr offizielle Theorie83 • Aber der rechtsvergleichende Betrachter wird erkennen, wieviel von dieser frühen Praxis in den common law-Ländern lebendig geblieben ist, im krassen Gegensatz zur modernen civil law-Tradition84 • Da ist vor allem die tief verwurzelte Abneigung des common law-Richters, Gesetzgebungsakte als Ausdruck genereller Prinzipien zu behandeln. Und diese Abneigung hat ihrerseits einen weiteren circulus vitiosus erzeugt, der einen weiteren grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Rechtskreisen verfestigt hat. Die Neigung des common law-Richters zur restriktiven Auslegung zwang den Gesetzgeber zu einer kasuistisch detaillierten Gesetzesfassung, und diese hat ihrerseits die Gerichte oft dazu veranlaßt, die Gesetze in allen nicht besonders erfaßten Fällen als nicht anwendbar anzusehen85 • Demgegenüber neigt der civil law-Richter, der zumindest vorgibt, daß er alle Entscheidungen schließlich aus Unten §§ 115, 221-224. Heydon's ease (1584) 3 Rep. 18, 76 Eng. Rep. 637. In bezug auf eine ähnliche römische Lehre siehe Wieacker 69. 83 Von Mehren, Tudor; Friedmann 456-461; Landis; Radin, Interpretation; ders., Short Way. 84 David und Grasmann § 346; R. B. Schlesinger 397-398. 85 Jolowicz 290-292. Vgl. Traynor; oben vor Anm. 76. 81

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seinem Gesetz ableitet, dazu, das Gesetz extensiv und durch Analogie auszulegen, wodurch er den Gesetzestechniker zum Gebrauch einer allgemeinen Sprechweise ermutigtSs. Doch selbst dieser Unterschied zwischen den beiden Rechtssystemen enthält wenig mehr als ein Körnchen Wahrheit. Denn selbst die civil law-Juristen haben seit langem die Abhängigkeit des Gesetzgebers vom Richter erkannt. Hierzu sei ein führendes Handbuch zitiert: "Das Gesetz ist die oberste Rechtsquelle. Gleichwohl kann es vorkommen, daß ein Richter sich über das Gesetz hinwegsetzt. Sein Beispiel kann Nachahmung finden. Ein fester Gerichtsgebrauch kann das Gesetz entkräften. Solches widerfährt nicht nur schlechten oder veralteten Gesetzen; auch ein gutes Gesetz kann dem Widerstand der Praxis unterliegen ... Das sind Tatsachen, die man feststellen, aber auf keinen Fall juristisch begründen oder rechtfertigen kann. - Recht kann eben auch durch Rechtsbruch entstehen, nicht nur in großen geschichtlichen Katastrophen - Eroberung, Staatsstreich, Revolution - sondern auch im kleinen, im alltäglichen Verkehr und in der Praxis der Behörden, wie man zu sagen pflegt, ,via facti's7." Das Recht wird überall von Richtern geschaffen und überall wird der Gesetzgeber seine Autorität zu schützen suchen. In ähnlicher Weise verliert ein weiterer Unterschied bezüglich der Gesetzesinterpretation im Lichte einer genaueren Prüfung einen Teil seines Gewichts. Die englische Rechtstradition verbietet es, zur Gesetzesauslegung "Gesetzgebungsmaterialien" wie Ausschußprotokolle, Sitzungsberichte von Hearings und schriftliche Äußerungen der Gesetzesverfasser heranzuziehenss . Demgegenüber hat die Praxis auf dem europäischen Kontinent, in Skandinavien und immer häufiger auch in den Vereinigten Staaten eine solche Heranziehung begünstigtSg. Indessen sind sich die Gerichte überall durchaus im klaren darüber, daß diese "teleologische Konstruktion" auf der Suche nach dem wahren Willen des Gesetzgebers eine Fiktion darstellt9o • Was daher heute noch als wesentlicher Gegensatz zwischen den beiden Rechtssystemen erscheint, dürfte sich letzten Endes einerseits in einer verfeinerten Gesetzestechnik in der Welt des common law und andererseits in einem wachsenden Realismus bei den Juristen des civillaw auflösen. 8e Ekelöf 80, 83; auch Zweigert und Puttfarken. Für eine tiefschürfende vergleichende Analyse vgl. Esser, Grundsatz 231-241, passim. 87 Armin Ehrenzweig § 15. 88 "Travaux preparatoires". Jolowicz 287-290; Allen 468,487,501; Kilgour. Ekelöf 97-100; Strömholm; Zweigert und Puttfarken 709-712. 80 Ekelöf 94. Vgl. Schmidt, Statutes; Graham Hughes, Rules; Mac Callum; Zweigert und Puttfarken, passim.

8.

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

§ 108

4. Ricbterrecht?

Die vierte Behauptung über den Unterschied zwischen dem common law und dem civil law ist in ihrer Allgemeinheit ebenso irreführend wie alle anderen. Ihr zufolge erkennt zwar das common law, nicht aber das civil law die Präzedenzentscheidung als Rechtsquelle an. Um das Körnchen Wahrheit aus dieser Behauptung herauszuschälen, müssen wir wiederum zunächst unsere Begriffe klären. § 108. Das "precedent" des Common Law. Die Geschichte des englischen "Fallrechts" begann mit den zufälligen, fragmentarischen Berichten der (normannisch-französischen und englischen) Yearbooks. Sie entwickelte sich fort mit dem technisch bedingten Anwachsen der Autorität richterlicher Entscheidungen nach der Erfindung und Verbreitung der Buchdruckerkunst und mit dem allmählichen Wachstum der Doktrin von der bindenden Vorentscheidung, die durch die zunächst inoffiziell und später amtlich gedruckte Wiedergabe der meisten Gerichtsentscheidungen Unterstützung erhielt1. In England erreichte diese Doktrin im Jahre 1898 mit ihrer formellen Anerkennung durch das House of Lords ihren Höhepunkt!. Sie verlor aber viel von ihrer Kraft im Jahr 1966, als der Lord Chancellor unter Berücksichtigung zahlreicher zwischenzeitlicher Entwicklungen erklärte, daß sich die law lords fürderhin nicht mehr als an ihre früheren Entscheidungen gebunden betrachten würdens. In den Vereinigten Staaten ist diese Doktrin kaum je mehr als eine sich ständig ändernde Gewohnheit gewesen, und sie folgt weiterhin verschiedenen Formungen, die in zunehmendem Maße durch mechanische Behandlung der Case-"Ekologie" beeinflußt werden4•

Es ist offensichtlich, daß die "Anwendung" eines Gerichtsurteils als bindenden Rechts die Anerkennung einer Rechtssetzungsbefugnis des ersten Richters voraussetzt. Indessen ist selbst ein Gericht des common law wenig geneigt, eine solche Befugnis anzuerkennen, die ja zumindest vorgibt, den Souverän zu ignorieren. Wir wollen uns nicht dem Wagnis einer psychoanalytischen Spekulation über die Gründe dieser Abneigung aussetzeni, sondern wir wollen uns einerseits in diesem Zusammenhang mit der pragmatischen Erklärung zufrieden geben, daß vOn allem Recht die Herbeiführung eines Modikum oder zumindest eines Scheines von Sicherheit erwartet wird, und daß andererseits der Souverän selten bereit sein wird, eine von sich selbst verschiedene

4

Dawson 50-99; Kimball 232-243; Stone I 237; Jolovicz 226-23. London Tramways v. L. C. C. [1898] A. C. 375. Stone, Chains. Über frühere amerikanische Doktrin vgl. J. Smith. Siehe auch oben § 91

5

Unten § 114; Schoenfeld, Childhood 151.

1 I

3

Anm.40.

§ 108

Richter

158

Quelle solcher Sicherheit anzuerkennen'. Wir wollen auch darauf verzichten, die philosophische Grundlage der faktischen Anerkennung des Fallrechts zu überprüfen, die - in verschiedenen Formulierungen - stets eine Kombination von Ehrfurcht vor Hergekommenem und "right reason" gewesen ist. An dieser Stelle haben wir es mit den verschiedenen Theorien über die Bindungswirkung der Präzedenzentscheidung zu tun, die in einem Land des common law eine von der Betrachtungsweise des civillaw-Juristen verschiedene Rolle spielen7 • 1. Nach der sogenannten "klassischen" Theorie kommt es ausschließlich auf des Gerichtes eigene Erklärung über die seiner Entscheidung angeblich zugrunde liegenden Grundsätze an8 • Trotz bedeutsamer Unterstützung hat diese Theorie heute ihre Vorherrschaft verloren. Möglicherweise sind ihr jedoch im Rahmen der wachsenden Bedeutung des unten (6) zu erörternden "settled precedent" ein neuer Inhalt und eine neue Rolle zugewiesen worden.

2. Trotz fortdauernder Kontroversen genießt Goodharts Formulierung größere Zustimmung, wonach die "bindende" ratio decidendi, das "holding", jene Tatsachen darstellt, die man als "wesentlich" ("material") für die Entscheidung des vor entscheidenden Gerichts erklärte. Diese Formulierung versagt freilich in den Fällen, in denen nachfolgende Gerichte bezüglich dieser "Wesentlichkeit" verschiedener Meinung sind10 • Eine solche Meinungsverschiedenheit kann eine Formulierung, die bisher als "bindende" ratio decidendi betrachtet wurde, in bloße mehr oder weniger "überzeugende" obiter dicta verwandeln. Wir verstehen nun, warum die Unterscheidung zwischen "holding" und "dictum" weithin als "in der Praxis bedeutungslos" abgeschrieben wirdl1 • 3. Aus diesem Grunde versucht der amerikanische Rechtsrealismus, einem 300 Jahre früher von Coke geäußerten Gedanken folgend, die "wirkliche Entscheidungsnorm" ("true rule") durch eine selbständige Bewertung der der Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen zu bestimment:. e Eine faszinierende Ausnahme findet sich in der Gesetzgebung von Piemonte. Oben § 105 Anm. 72. Vgl. allgemein Eckhoff, Impartiality. 7 Unten § 109; David und Grasmann § 340. Die anglo-amerikanische Theorie und Praxis werden oft auf dem europäischen Kontinent leider immer noch in unzulässiger Weise simplüiziert. Dubischar 63; unten Anm. 19. 8 Stone I 268, 278, 280; Paton § 45; Simpson 160-163; Montrose 151; Dias 15-38. • Goddhart; Simpson 164-168; Bodenheimer 376-377. Diese Formulierung ist selbst auf die richterliche Auslegung von Gesetzen angewendet worden. über die "Legisputation" vgl. Julius Cohen. 10 Vgl. allgemein, Levi. 11 Cross 85-86. Siehe Paton § 45; Simpson 149-150; Jolowicz 231-261. Aber vgl. wiederum für Ost-Afrika Dodhia v. National and Grundlays Bank, Kenya, Civ. App. No. 53 of 1968, J. Afr. Law 1970, 34.

154

2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophfe)

§ 108

4. Aus dieser Sicht heraus hat Edward Levi die Meinung vertreten, daß es dabei, was als Entscheidungsnorm gelte, einzig und allein auf die Auffassung des zweiten Richters über die ratio decidendi des ersten Falles ankomme, die folglich für ihn nicht mehr von einem obiter dictum unterscheidbar ist1 8 • Vielleicht wird sich diese Auffassung einmal als die wirksamste Garantie für eine Weiterentwicklung, ja das Fortbestehen des common law erweisen. Denn diese Entwicklung muß ja letztlich auf den selbständigen Gedanken und Wertungen jedes einzelnen Richters beruhen. Tatsächlich haben selbst konservative Gerichte selten gezögert, frühere unerwünschte "holdings" durch kunstreiches und künstliches "dinstinguishing" oder selbst durch Nichtbeachtung unwirksam zu machen14. Ja, obwohl dies immer wieder in Abrede gestellt worden ist, haben die Gerichte diese Praxis keineswegs auf Fälle beschränkt, in denen die Anwendung der Präzedenzentscheidung "unvereinbar mit dem Leben um uns ist, nicht mehr modernen Ansprüchen genügt oder Begriffen der Gerechtigkeit widerspricht"15. 5. Manchmal haben amerikanische Gerichte sich sogar für berechtigt gehalten, Entscheidungen höherer Gerichte mit der Annahme beiseite zu schieben, diese Gerichte würden heute nicht wieder so entscheiden1'. Häufiger aber und gradliniger ist die Praxis mancher Gerichte, ein offenes "oveTTuling" der Präzedenzentscheidung zu erklären, besonders in verfassungsrechtlichen Fällen. Zumindest der United States Supreme Court handelt in solchen Fällen oft eher als ein politisches Gremium, denn als ein Gericht und vereint in sich alle Gewalten der platonischen Könige 17 • Von hier ist es nur ein kurzer Schritt bis zu der ausdrücklichen Abschaffung selbst der Fiktion, daß ein common law-Gericht Recht nur "findet" und es nicht selbst macht. Dies geschieht in der immer häufiger werdenden Praxis, die Wirkung eines overruling auf künftige Fälle zu beschränken und so die "prospective" Rolle gesetzgebender Körperschaften zu arrogieren18 • Oben § 55 Anm. 38; Llewellyn, Common Law 62-120. Levi 2, 5; ders., Nature; Stone I 267. Dagegen Simpson 169. Auf anderem Wege erreicht Harari 11-12 ein ähnliches Ergebnis. 14 David und Grasmann § 359; Friedmann 463-474; Simpson 170-175. Diese Praxis scheint sicherlich derjenigen vorzuziehen zu sein, wonach sich einige Richter an das precedent gebunden erklären mit der ausdrücklichen Absicht, auf diese Weise ein höheres Gericht zur Änderung "des Rechts" zu bewegen. Siehe z. B. P. Beiersdorf & Co. v. McGohey, 187 F. 2d 14, 15 (2d Cir. 1951), per Jerome Frank. J. Hier kann die vom Richter als verfehlt angesehene Entscheidung bestehen bleiben (und im zitierten Fall tat sie es auch), weil die unterliegende Partei keine Berufung einlegen konnte oder wollte. 15 Simonson v. Cahn, 261 N. E. 2d 246, 247 (New York 1970). 18 Siehe Fujii v. State, 242 P 2d 617 (Ca!. 1952). 17 Friedmann 442-449; David und Grasmann § 407. Vgl. auch oben § 105 Anm.76. 18 Oben § 37; Bodenheimer 370-375; Durgala. Für eine Liste der vom Supreme Court aufgestellten Bedingungen für die Rückwirkung seiner Ent12

13

§ 108

Richter

155

6. Nach alledem müßte es dem Betrachter aus der Sicht des civillaw erscheinen, als könne das common law-Fallrecht kaum mehr als eine Rechtsquelle angesehen werden, die mit der Gesetzgebung des civil law vergleichbar wäre 19. Indessen wäre dies ein vorschnelles Urteil. Zunächst ist jede theoretische Analyse, die sich auf gedruckte Entscheidungen beschränkt, irreführend. Diese Entscheidungen bestehen fast nur aus Berufungs- und Revisionsurteilen und schließen daher die Entscheidungen erstinstanzlicher Gerichte aus, die normalerweise der Spruchpraxis der höheren Gerichte folgen. Darüber hinaus wird das, was man das "Modell für Objektivität" genannt hat, Gerichte im allgemeinen dazu bewegen, ähnlichen Fallentscheidungen zu folgen, solange es ihnen nicht gelingt, "einen auf der Hand liegenden wichtigen Unterschied zwischen den Fällen aufzuzeigen"20. Endlich betrifft die weit überwiegende Mehrheit der anhängigen und nichtanhängigen Konflikte Fragen, über die es keinen echten Rechtsstreit mehr geben kann, weil Serien anerkannter Vorentscheidungen ("settled precedent") existieren, deren "holding" schon seit langem in abstrakte Normen gefaßt worden ist, die zumindest so starr sind wie die der civil law codes 21 . So würde ein common law-Rechtsanwalt auch niC"ht im entferntesten daran denken, scharfsinnige "Unterscheidungen" ("distinctions") anzustellen, um der Haftung des Produzenten für seine Produkte nach dem heute allgemein anerkannten Grundsatz der "MacPherson rule" zu entgehen22 . Darum halten es gelehrte Gerichte bisweilen für nötig, selbst bedenkliche ,Nur-Dikta', die derartige "settled rules" zu werden drohen, ausdrücklich zu entwerten!3. Andererseits ist die Unsicherheit, die in nicht endgültig entschiedenen ("unsettled") Bereichen bestehen bleibt, keineswegs größer als in anderen Rechtssystemen, die ihre "Lücken" durch Gesetzesauslegung ausfüllen. Die common law-"Dialektik", die sich zwischen der ratio decidendi und dem bloßen obiter dictum, zwischen bindendem und bloß überzeugendem Richterspruch hin und her bewegt, ist weder mehr noch weniger flexibel oder willkürlich, weder mehr noch weniger Rechtsquelle als argumenta e contrario oder per analogiam im civillaw. Aber auch hier bleibt ein Körnchen Wahrheit in der Unterscheidung scheidungen vgl. Linkletter v. Walker, 381 U. S. 618 (1965). Über "prospective overruling" siehe Jenkins v. Delaware, 396 U. S. 213 (1969). Für einen überblick: über übliche Techniken vgl. Keeton, Justice; Llewellyn, Common Law 77-9.

Blondeel, passim. Oben Note 7. Christfe 134l. !1 Wasserstrom 35. Vg!. auch Lorenz, Methodenlehre. 22 Unten Anm. 34. 23 über Reich v. Purcell, 432 P. 2d 727 (Ca!. 1967) vgl. Ehrenzweig, Comment, 15 UCLA L. Rev. 570, 571-572 (1968). 18

10

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophle)

§ 109

übrig, obwohl diese durch die ständig zunehmende Bedeutung des Fallrechts im Rechtskreis des civillaw noch weiter eingeengt erscheint. § 109. Das Fallrecht des Civil Law. Das griechische und das römische Recht weisen außerhalb der Tradition des Formularprozesses wenige Spuren eines Fallrechts in unserem Sinne auf (§ 87). Ebensowenig konnte das mittelalterliche Recht auf dem europäischen Kontinent eine derartige Fallrechtsdoktrin hervorbringen!4. Indessen scheinen die französischen Parlements, die vor der Revolution richterliche und Gesetzgebungsfunktionen in ihren arrets de reglement verbunden hatten, ihre eigenen Entscheidungen als sich selbst und andere bindend angesehen zu haben, genauso wie die Senate von Piemont und Savoyen (§ 105). Seit Louet scheint die Tendenz bestanden zu haben, jede einmal entschiedene Rechtsfrage als ein für allemal entschieden zu behandeln!l. Möglicherweise hat diese Tatsache dazu beigetragen, daß die Schöpfer der Kodifikationen versuchten, dem Richter ausdrücklich die Befugnis zur Rechtserzeugung vorzuenthalten. Aber bekanntlich hatte weder der code civil noch das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 noch das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 mit derartigen Monopolansprüchen mehr Erfolg als der Codex Justinians mit seinem Verbot der Kommentierung früherer Literatur!8. Was von diesen Ansprüchen übrig geblieben ist, ist zum einen die offizielle Ablehnung des Fallrechts als einer echten allgemeinen Rechtsquelle und zum anderen die Tatsache, daß der "jungfräuliche Boden", der diesem Recht in einem Kodifikationsland verbleibt, vielleicht nicht so ausgedehnt ist wie in einem Land des common law-RechtskreisesIT • Ironischerweise ist jedoch das Fallrecht aufgrund faktischer Anerkennung in den civil law-Ländern in vielen Fällen strenger und manchmal sogar formaler geworden, als die Präzedenzdoktrin des common law. Wir brauchen nur an die romanische "jurisprudence constante" und an Deutschlands im Ausland sogenannte "Fallrechtsrevolution" zu denken!8. Das schweizerische Recht hat sich in ähnlicher Weise entwickelt!lI. Im Gegensatz zu den Richtern des common law neigen civil u Dawson 103-107, 119-124; Jolowicz 220-223; Koschaker Kap. 12. Dawson 314-32:1, 337-338. t8 Oben § 104, Anm. 61; Stone I 99; Codex Justinianus 1.14.12; 7.45.13. Vgl. auch Osterr. ABGB § 12. 17 Schmidt 5; Dawson 495. Vgl. das kritische Essai über die RechtsgewiJ3heit von Lopez de Ofiate. !8 Dawson 400-431; Bruteau; Ferid I 1 A 84-65; David und De Vries 113; Svolos 35-58; Werner Goldschmidt 284-287; David ss. 106, 107; Loussouarn; R. B. Schlesinger 430. Ober die spanische "doctrina legal" siehe auch Brown. !D Dawson Kap. VI; Esser, Grundsatz 267-289; Germann; Kaufmann und Hassemer. Zum holländischen Recht siehe Pitlo; zum türkischen etwa David S. 107; zum italienischen Losano 258. u

§ 110

Rechtsdenken

157

law-Gerichte jedoch dazu, ihre Begründung durch die Aufstellung eines abstrakten Prinzips einzuleiten. Dieses Prinzip, das hernach in die Kommentare und Lehrbücher als Leitsatz eingeht, ist häufig von den Tatsachen des besonderen Falles abgetrennt, die oft gar nicht einmal ganz feststellbar sind. Diese Trennung der Tatsache vom "holding" erschwert jene Technik des "distinguishing", die zum Wachstum des common law so viel beigetragen hat, und sie läßt die Entscheidungsregel eines civillaw-Falles dem ähneln, was wir ein "settled precedent" (§ 108) genannt haben. In der Tat erklären sogar viele europäische und lateinamerikanische Rechte bestimmte abstrakte Entscheidungen ihrer obersten Gerichte als formell bindend, wenn sie in Plenarsitzungen verkündet worden sind1o• Noch radikaler und insoweit einzigartig ist die Vorschrift des philippinischen Rechts, daß "Gerichtsentscheidungen, die die Gesetze oder die Verfassung anwenden oder auslegen, Bestandteil der Rechtsordnung der Philippinen sind"I!. Ähnliche Merkmale einer Gegenentwicklung treten in anderen Mischsystemen hervorl . 5. Rechtsdenken: Deduktion und Induktion

§ 110. Es ist häufig behauptet worden, daß das Denken des common law-Juristen typischerweise induktiv von einem Fall zum andern "ähnlichen" Fall vor sich gehe, während sein civillaw-Kollege seine Schlüsse angeblich durch Deduktion aus Prinzipien ableite, die in Gesetzen und wissenschaftlichen Werken formuliert sind. Bei näherem Hinsehen erweist sich diese Behauptung als genau so übermäßig vereinfacht wie diejenige, wonach das civil law eine Vorliebe für den Positivismus haben soll und das common law im Gegensatz dazu dem Naturrecht ergeben seisa. In Wirklichkeit ist das deduktive Denken im common law genauso häufig und wichtig wie das induktive Denken im civillaw.

Deduktion im Common Law. In einem klassischen Fall wurde der Verkäufer eines Gerüstes für den Schaden haftbar gemacht, den nicht der Käufer, sondern ein Dritter erlitten hatte, weil der Anspruch des Verkäufers dem eines Apothekers "ähnlich" war, der zuvor einem 80 Lipstein; Ernst Cohn; Dainow, Civil Law 427; Herzog 163; David und De Vries 113 f.; Clagett 125. Siehe z. B. auch das deutsche Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BGBl. III Nr. 1104-1), wonach die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in bestimmten Fällen "Gesetzeskraft" haben (§ 31 Abs. 2 BVGG); auch Art. 136 der italienischen Verfassung. 31 Philippine Civil Code Art. 8; De Santos; Gamboa; oben § 82. Vgl. auch für ähnliche lateinamerikanische Bestimmungen, Karst 106-108, 626-627. SI über schottisches Recht vgl. etwa T. B. Smith, passim; über das Recht von Louisiana, Daggett u. a. U Siehe Lawson 65 ff.; oben § 77 Anm. 3. Vgl. Zweigert 49; und über den Deduktionsbegriff im allgemeinen Kent Sinclair 831-856.

158

2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

§ 112

Dritten gegenüber für die Lieferung eines gefährlichen Präparates haftpflichtig erklärt worden war. Ganz offensichtlich setzte diese "Induktion" aufgrund der Ähnlichkeit ein Werturteil über die Erheblichkeit und das Vorliegen der "Gefährlichkeit" voraus und dieses Werturteil wurde später als allgemeiner Grundsatz formuliert34 , dessen abstrakt verbindliche Geltung schließlich als ein "settled precedent" anerkannt wurde (§ 108). Dieser Subsumtionsprozeß ist natürlich identisch mit der Deduktion, die angeblich auf das civillaw beschränkt ist. Trotz der unbestreitbaren Wichtigkeit des induktiven Verfahrens in zweifelhaften Fällen sollten wir daher nicht vergessen, daß sich die Masse des amerikanischen case law im täglichen Rechtsleben durch Erweiterung, Klassifizierung und fortschreitende Abstrahierung schon seit langem der deduktiven Wirkungsweise eines Gesetzes angenähert hat. § 111. Induktion im Civil Law. Sollten die kontinental-europäischen Gerichte eines Tages den Produzenten gegenüber dem Verbraucher generell, mit oder ohne Hilfe besonderer Gesetzgebung für haftpflichtig erklären, so werden sie dies durch "Deduktion" aus Gesetzen begründen, welche die Haftung aus widerrechtlichen Verletzungshandlungen regeln35 • Indessen liefern natürlich Gesetze genau so wie cases im allgemeinen eine spezifische Antwort nur aufgrund eines Interpretationsverfahrens, das sich großenteils auf Analogie oder Unterscheidung stützt. Beide Methoden setzen induktives Denken voraus. Ein klassisches Beispiel findet sich im französischen Code Civil, der eine strenge Haftung für alle Schäden vorsieht, die durch "Gegenstände in Verwahrung" des Beklagten verursacht worden sind; diese Bestimmung ist mit Hilfe der Analogie dazu verwendet worden, das gesamte System der französischen Unternehmenshaftung zu errichten38 • 6. Mehr als ein Körnchen Wahrheit: Was bleibt

§ 112. Die folgende Zusammenfassung soll als Erweiterung und Ergänzung der vorangegangenen Erörterung jene Faktoren aufzählen, von denen mit Fug und Recht gesagt werden kann, daß sie entscheidend zu den noch verbleibenden Hauptunterschieden zwischen den beiden 34 MaePherson v. Buick Motor Co., 111 N. E. 2d 1050 (N. Y. 1916); Ehrenzweig, Negligenee 30, 81. 35 Schmidt, Comments; Kessler, Produets Liability. 38 Code Civil, Art. 1384 (1). Mazeaud und Tune Bd. 2, 104-346. Obwohl diese allgemein bekannte Entwicklung höchst eindrucksvoll ist, sollte nicht vergessen werden, daß sie natürlich genauso wie die amerikanischen Parallelentwicklungen in erster Linie durch den Einbruch der industriellen Revolution hervorgerufen worden ist. Das induktive Denken war daher weniger eine "philosophische" Erkenntnis als vielmehr lediglich ein praktisches Werkzeug. Ein typisches Beispiel für das Mißverständnis eines common law Juristen ist Northrop, Issues 62.

§ 113

Zusammenfassung

159

Rechtskreisen beigetragen haben, und zwar im Hinblick auf die Quellen "des Rechts" im allgemeinen und auch in bezug auf das, was in einem bestimmten Falle "rechtens" ist.

a) WaB ist "Recht": Die Quellen des Rechts § 113. Systematisierung und Rechtslehre. Die nachrömisch kanonische und spätere pandektistische Systematisierung des Privatrechts stellt noch immer ein wichtiges, vom common law zu unterscheidendes Charakteristikum dar. Die nähere Analyse dieser Tatsache ist außerordentlich durch den Umstand erschwert, daß der Begriff des Systems selbst nicht zu definieren ist und darum Gegenstand intensiver Diskussion und Meinungsverschiedenheit geblieben ist37 • Hier sind wir aber nur mit dem geschichtlichen Pro7.:eß befaßt, den wir auf jeden Fall leicht als den der Systematisierung identifizieren können. Der Ursprung dieses Prozesses freilich bleibt zweifelhaft. Bis auf wenige Ausnahmen war das klassische römische Recht nicht systematisch, was immer wir auch unter einem System verstehen, trotz der damaligen Existenz systematischer Modelle38• So bildeten die Vorläufer des modernen Systems wahrscheinlich die Versuche der Bologneser Legisten, den Inhalt bestimmter Kapitel des Corpus Juris zu "summieren"311. Im 12. Jahrhundert fügten die "Kommentare" der frühen Kanonisten der "summa" der sekularen Legisten ein analytisches Element hinzu 40 • Indessen scheinen die ersten vollständigen Systeme von den Dekretalisten zu stammen41 • a7 Unter systematischem Denken wird hier ein "deduktives" System verstanden im Gegensatz zu jenen Strukturen (oder sollte es heißen Nicht-strukturen?) rechtlichen Denkens, die man gelegentlich als "serial", dialektisch oder gar cybernetisch bezeichnet hat. Vgl. Viehweg 101, 102. Nur bei Annahme der letzteren Terminologie könnte man auch für das englische Recht einen systematischen Charakter in Anspruch nehmen. So Lawson, Strength 3; auch Raz. Allgemeine Diskussionen des Systembegriffs finden sich um und bei Canaris; Wieacker, Book Review; Nicolai Hartmann, Metaphysik 10; Lasswell und McDougal 235-236; Kasparek. 38 Quintus Mucius Scaevola (gest. 82 B. C.) ist als Vorläufer genannt worden. Dig. 1.2.2.41; Schulz, History 64-95; Stein 36. Wir mögen hier Gaius (160 n. Chr.) und Justinians "Institute" anfügen. Oben § 94. Bezüglich älterer griechischer Quellen vgl. Blühdorn 72-76 mit weiteren Verweisungen (77 Anm. 11) und ders. 100 über den Ursprung des griechischen Wortes "systema". Vgl. auch unten Anm. 43; La Pira; und Blühdorn 71-72, 75 über den unsystematischen Charakter der Digesten und die Vergleichbarkeit der römischen actio mit dem englischen writ. Vgl. aber auch Yntema, Roman Law

81.

se Horn, Literatur 107, 122. Die Denkgrundlage der Legisten blieb jedOch das dialektische Argument aus dem Einzelfall. H. Kantorowicz. Der Einfluß der lombardischen Rechtslehre mag den islamischen Einwirkungen vorangegangen sein. 40 Oben §§ 85, 91; Kuttner 123; Fournier und Le Bras. Cl Kuttner 386; Coing 301-302. über die spanische Rechtslehre jener Zeit siehe Van Kleffens 176.

160

2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

§ 113

Ich bin noch nicht in der Lage, meine Vermutung zu erhärten, daß verschiedene Stadien dieser ganzen Entwicklung in entscheidendem Maße islamischer Tradition zuzuschreiben sind. Diese Tradition basierte auf der griechischen Philosophie 4t und kulminierte in systematischen Werken wie Shäf'i's Risäla". Sie wurde durch Araber und Juden über Syrien nach Spanien getragen und in der islamischen Theologie verfestigt·'. Und in jener Periode mag sie im freien Wissens- und Gedankenaustausch, der den Anfang unseres Jahrtausends segnete, ohne weiteres Eingang in europäische Klöster gefunden haben45 • Die westliche Kultur wuchs im Schatten der weiter fortgeschrittenen Zivilisation des Islam, und das mittelalterliche Christentum erlangte seinen Teil am Erbe griechischer Naturwissenschaft und Philosophie weniger über Byzanz als vielmehr durch den Islam. "Die Gemüter der christlichen Scholastiker und der Gelehrten des mittelalterlichen Europa wurden durch niemanden so sehr bewegt wie durch Ibn Roschds Aristoteles 48 ." In der Tat war der arabisch-aristotelische Averroismus vom 12. Jahrhundert bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, der in Albertus Magnus und seinen Schülern seinen Höhepunkt erreichte, die herrschende Geistesrichtung47 • Auch mögen die vielen "methodischen" Schriften des 16. Jahrhunderts wohl eine Reaktion gegen jene Dialektik dargestellt haben48 , die durch Abelards "Sie et Non" auf die islamischen Questiones und Responsiones zurückgeführt werden kann. Diese hatten aber auch ihren Anteil an der Inspiration jener "Summae", die dem modernen System den Weg bereiteten4', das im Werk der deutschen Pandektisten und der französischen "Eeole de l'Exegese" kulminiert5o • Dieser Systematisierungsprozeß blieb dem eommon law lange Zeit fremd. Die ersten systematischen wissenschaftlichen Abhandlungen ü Milliot 14, 251, 772; Dawson, Europe 152-153; Peters; Wigmore 543; Hitti 371, 580; Van Kleffens 99; Menlmdez Pidal 46-52. es über Shäf'i (767-820) vgl. Schacht Kap. 7; Islamic Jurisprudence. ce Vgl. etwa Gardet und Anawati 261; Truyol 280-284, 308; Quadri; De Boer. U Brehier !II 49, 88, 99, 111, 116, 119, 178; Jolowicz 90; Menendez Pidal 33-60. Zu den berühmten christlichen Besuchern im arabischen Spanien gehörten der Mönch Gerberto de Aurillac (später Papst Silvester 11) und Peter der Verehrungswürdige, Abt von Cluny. Ders. 33, 41. Lateinische übersetzungen des Koran gehen bis ins 12. Jh. zurück. 41 Dawson 168. Vgl. auch Beck 29-30. n über Albertus Magnus (1193-1280) vgl. Beck 31-40; Truyol 323-325; Arendt; auch Hitti 583. über Averroes (1126-1198) vgl. Truyol 287-291; Gautier. über Avicenna (980-1037) vgl. Truyol 284-287; De Vaux; Ernst Bloch. C8 Blühdorn 77-88. ce Vgl. Rashda1l128; Merryman, Style; oben § 58. 1i0 Oben §§ 48-50. über Savigny und Jhering vgl. Blühdorn 123, 149; allgemein Coing 303-307.

§ 115

Zusammenfassung

161

Englands waren wohl lediglich Nebenerscheinungen des "naturwissenschaftlichen" Ehrgeizes des 17. Jahrhunderts und der cartesianischen "Logik"61. Erst in den letzten Jahrzehnten sind Werke von wirklich wissenschaftlichem Rang erschienena2 • In den Vereinigten Staaten hat unser Jahrhundert zwar so hervorragende Systeme wie die "Contracts" von Corbin oder die "Torts" von Prosser hervorgebracht. Noch immer aber bildet das Nicht-System des "American Digest" den Ausgangspunkt juristischer "Forschung" (research); und auch diese Forschung ist dem Rechtsfall des "kleinen Mannes" unzugänglich (§§ 116, 226). Diese Tatsachen, die durch die lange Vernachlässigung der juristischen Lehre verursacht wurden, haben ihrerseits zwangsläufig die Stellung und Fruchtbarkeit dieser Lehre im common law-Rechtskreis beeinträchtigt. Demgegenüber hat ihre grundverschiedene Entwicklung in der Welt des civil law jenen nachhaltigen Einfluß auf die Gesetzgebung ausgeübt, den wir früher beobachten konnten. § 114. Der Gesetzgebungsprozeß. Akademische Lehre und Systematisierung haben die Großen Codices geschaffen, die in der Welt des common law nicht ihresgleichen finden (§§ 96-99). Als Unterscheidungsmerkmal ist indessen die Perfektion des Gesetzgebungsprozesses in civil law-Ländern noch bedeutungsvoller. Neben dem Einfluß der Systematisierung ist diese Perfektion hauptsächlich den hochqualifizierten und berufsstolzen Justizministerien zu danken (§§ 92-100). Das Fehlen entsprechender Einrichtungen hat - neben anderen vielschichtigen historischen Gründen (§§ 101-107) - zumindest in den Vereinigten Staaten zu weiteren entscheidenden Unterschieden gegenüber kontinental-europäischen Gesetzgebungstechniken beigetragen. Zu ihnen gehören die Gegensätze zwischen genereller und spezieller Gesetzesfassung und zwischen extensiver und restriktiver Interpretation (§§ 101, 105-107), die sowohl Ursache als auch Folge der richterlichen Rechtsetzung gewesen sind.

§ 115. Richterliche Rechtsetzung. Die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber der legislativen und der richterlichen Rechtsetzung und der unterschiedliche Status der Justiz in den beiden Rechtskreisen bedingen einander (§§ 102-104, 101-109). Vielleicht erleichtert es das Verständnis dieses wichtigen Verhältnisses, wenn man es zwar analytisch und praktisch unrichtig, aber - so glaube ich - psychologisch korrekt als ein Paradoxon wie folgt umschreibt: Der common law-Jurist behandelt ein Gesetz als gültig, weil der Richter es ihm erlaubt, während der civil law-Jurist ein Urteil als rechtsetzend anerkennt, weil 51 Amaud 125--138. Über die Abhandlungen von HaIe und anderen siehe Barbara Shapiro. 52 Lawson, Doctrinal Writing.

11 EhreMweis

162

2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphllosophie)

§ 115

der Gesetzgeber es ihm erlaubt. Ich wiederhole aber, daß diese Gegenüberstellung nur als psychologische Charakterisierung und nicht als Beschreibung bewußten und sichtbaren Rechtsgeschehens gemeint ist. Als Nebenfolgen dieser Einstellungen lassen sich unterschiedliche Rechtsprechungsstile ansehen: Auf der einen Seite die Anonymität und Nüchternheit des Urteils in den meisten civil law-Ländern (§§ 106, 109) und auf der anderen Seite der selbstbewußte und kunstvolle Stil der Urteilsbegründungen im Bereich zumindest des klassischen common law. Freilich ergehen sich common law-Richter bisweilen in überaus breiten, historischen, spekulativen und soziologischen Erörterungen, die in bezug auf die anhängige Streitfrage oft wenig erheblich sind und deshalb gelegentlich von civil law-Autoren mit "Tischreden" verglichen werden63 • Aber dieser Stil hat sich häufig, wenn auch nicht immer, als ein vortreffliches Mittel zur Weiterbildung des common law erwiesen. Die sehr persönlichen Einzelvoten -Von der Majorität zustimmenden oder widersprechenden Richtern haben in dieser Hinsicht eine besonders bedeutende Rolle gespielt (§ 106). Doch wie ich schon gesagt habe (§ 100) und noch weiter ausführen werde (§§ 221-224): Die common-Iaw·-Länder müssen für ihren Stolz auf ihre Richter einen hohen Preis zahlen. Denn diese Richter sind immer eine dem "kleinen Mann" unerreichbare Aristokratie geblieben.

Das Volk und das Recht. Die sehr viel geringere Zahl der commonlaw-Richter und ihr erhöhter Status, den sie relativ spät im Leben erlangen, haben ihre Beziehungen zum "kleinen Mann" weitgehend gestört, der in einem Land des civillaw zumindest historisch und ideell das Recht und die Möglichkeit des Zutritts zu seinem Richter hat. Das common law wird die nächste politische oder soziale Revolution nur überleben, wenn es für den allgemeinen Zugang zu seinen Normen und zu seinen Gerichten sorgt und auf diese Weise das Vertrauen des Volkes auf Gesetz und Gericht vergrößert. Eines der vordringlichsten Erfordernisse ist die grundlegende Revision des gegenwärtigen, gänzlich obsoleten Systems des als "adversary" bezeichneten Prozesses. Ein so armseliges Flickwerk wie die viel gerühmte Erweiterung des Rechts auf "counsei" und "discovery" ist lediglich dazu geeignet, fundamentale Schwächen der common-Iaw-Justiz zu verschleiern. Das Festhalten an der "Unparteilichkeit" und der "Gleichheit" als den höchsten Tugenden wiegt die Tatsache nicht auf, daß das common law das Juristenrecht des mittelalterlichen Conveyancer geblieben ist. Sehr viel mehr muß getan werden, und das bald. Ironischerweise gewährte die Zivilrechtsprechung in den civillaw-Ländern auch noch unter den drückendsten Diktaturen dem "kleinen Mann" wenigstens außerhalb des politischen Ben Schmidt 17. Vgl. allg. Wetter; Weyrauch 259-260.

§ 117

Zusammenfassung

163

reiches mehr Schutz als die demokratischen Regierungen in den Ländern des common law. Hier stellt sich der Rechtsvergleichung eine ungeheure und großartige Aufgabe. Der zweite Teil dieses Buches wird auf psychologischer Grundlage den Weg zu manchen Problemen und ihren möglichen Lösungen zu weisen suchen. b) "Was ist rechtens"? Die Entscheidungsnorm

(1) Ein "gemeinsamer Kern"? § 116. In unserer Analyse der Unterschiede zwischen dem common und dem civillaw haben wir in der üblichen Hervorhebung der Rollen des römischen Rechts, der Kodifikation, der bindenden Vorentscheidung und des Rechtsdenkens lediglich Körnchen an Wahrheit gefunden. Andererseits haben wir diejenigen Unterschiede als wesentlich hervorgehoben, die zwischen den beiden Systemen in bezug auf Systematisierung, Rechtslehre, Gesetzgebung, richterliche Rechtsetzung und vor allem hinsichtlich der Stellung der Allgemeinheit gegenüber Recht und Rechtspflege bestehen. Wenn diese Feststellungen zutreffen, so müssen sie auch auf jeden Vergleich zwischen einzelnen Rechtsnormen und Institutionen einen beträchtlicht:n Einfluß ausüben, und zwar selbst über gewisse unüberwindbare terminologische Hindernisse hinaus 5'. Aufgrund einer 14jährigen Arbeit offenbarte ein Forschungsprojekt an der Cornell-Universität sowohl die Schwierigkeiten als auch die Möglichkeiten eines derartigen Vergleichs; es ging dabei um den Versuch, den "gemeinsamen Kern" eines sehr eng begrenzten Gebietes des Vertragsrechtes ohne den üblichen Rückgriff auf die herrschende Lehre zu ermitteln55 • Indessen muß sowohl der mit alltäglichen Problemen internationaler Transaktionen beschäftigte Jurist als auch der Rechtsgelehrte, der einen umfassenderen Vergleich unternimmt, einfachere Techniken anwenden. Anstelle einer theoretischen Diskussion, soll hier ein konkretes Problem besprochen werden, um einige der Unterschiede aufzuzeigen, die zwischen den beiden Rechtskreisen in bezug auf die Feststellung innerstaatlicher und ausländischer Rechtsnormen bestehen. Um die Unterschiedlichkeit der beiden Normenarten zu unterstreichen, wurde als innerstaatliche Rechtsnorm in diesem Beispiel eine Norm des internationalen Privatrechts gewählt. (2) Innerstaatliche Rechtsnormen § 117. Common und civil law. Bei der Feststellung innerstaatlicher Rechtsnormen einschließlich der Normen des internationalen Privatrechts betrachten sich die Gerichte in beiden Rechtskreisen in erster 54 55

Drobnig, passim. Vgl. auch allgemein Neumayer. R. Schlesinger, Formation. Siehe Ehrenzweig, Book Review.

164

2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

§ 117

Linie als an jede einschlägige Gesetzesregelung gebunden. Fehlt eine solche Regelung, dann versuchen Richter, Anwälte und Rechtsgelehrte, gleich welcher Nationalität, herauszufinden, wie ein Gericht ihres eigenen Landes den Fall wahrscheinlich entscheiden würde. In diesem und keinem anderen Sinne müssen wir Justice Holmes' berühmtes Aper~u verstehen, wonach Recht nichts anderes sei als Prophezeiung (§ 54). Hier, bei dieser Prophezeihung, aber wenden die Richter, Anwälte und Rechtsgelehrten der beiden Rechtskreise unterschiedliche Verfahren an. Ein amerikanischer Jurist wird offiziell vorgeben, er lasse sich leiten durch das, was er als "precedent" findet, nämlich eine Entscheidung, die dem vorliegenden Fall aus tatsächlichen und "policy"Gründen "ähnlich" ist (§ 108). Ein italienischer Jurist wird offiziell auf die Gesetzesinterpretation zurückgreifen58 • Indessen wissen wir natürlich, daß diese offiziellen Lösungswege den wahren Sachverhalt nicht vollständig wiedergeben. In den Vereinigten Staaten hat man das "binding precedent" schon seit langem als Mythos anerkannt. Bei der Lösung zweifelhafter Rechtsfragen verwenden amerikanische Gerichte häufig den Rekurs auf das "precedent" hauptsächlich deswegen, um ihre eigenen rechtspolitischen Ansichten auszudrücken, wobei sie in zunehmendem Maße Unterstützung in der juristischen Literatur suchen. Und auf dem europäischen Kontinent besteht die Entscheidungshilfe für den Richter in der herrschenden Rechtsprechung oder in der herrschenden Literaturmeinung (§§ 109,114). Diese Diskrepanz zwischen offizieller Theorie und inoffizieller Praxis wirkt sich allmählich zu Lasten der internationalen Verständigung aus. Hier ist ein Beispiel: Ein in seinem Heimatland lebender Italiener wird bei einem Verkehrsunfall in Frankreich durch fahrlässiges Verhalten seines kalifornischen Fahrers getötet. Die amerikanischen Angehörigen des Verstorbenen möchten den Fahrer nach dem ihnen günstigsten Recht verklagen - vorzugsweise entweder in Italien oder in Kalifornien, wo der Beklagte Vermögen hat. Seit der Entscheidung des französischen Kassationshofes von 196967 können Gratisfahrgäste ohne den Nachweis eines Verschuldens aufgrund der allgemeinen Bestimmung Schadensersatz einschließlich Schmerzensgeld verlangen. Das italienische Recht schließt außer in Kriminalfällen dieses Schadenselement aus. Und Kalifornien verlangt für jeden Anspruch den Beweis der groben Fahrlässigkeit auf Seiten des Fahrers. Ob man nun mit der Anwendung des von allen günstigsten französischen Rechts rechnen 58 Merryman, Style. Wie die amerikanischen Praktiker mit Bezug auf Prezedenzfälle bedienen sich europäische Juristen unterschiedlicher Methoden je nach dem Alter und dem Rang des anzuwendenden Gesetzes. 57 Collovray v. SNFC, Cass. Feb. 12, 1969, Bull. Cass. Civ. Feb. 1969, Pt. 11,

34.

§ 118

Zusammenfassung

165

kann, hängt natürlich vom internationalen Privatrecht des Landes ab, in dem die Klage erhoben wird58• Bis vor kurzem haben die amerikanischen Gerichte - einschließlich der kalifornischen - trotz Festhaltens an einigen Umgehungsmöglichkeiten im allgemeinen vorgegeben, das Recht des Unfallortes, die lex loci delicti, anzuwenden. Seit einiger Zeit haben sie jedoch damit begonnen, vom Recht mit der "bedeutsamsten Beziehung" oder mit dem "überwiegenden Staatsinteresse" zu sprechen51 • Es ist daher nicht mehr zweifelsfrei, ob sie nicht vielleicht ein anderes Recht als das französische anwenden würden. Folglich wird ein amerikanischer Ratgeber zur Sicherung der Vorteile des französischen Rechts erwägen, die Klage in Italien zu erheben und daher versuchen, die Kollisionsnorm dieses Landes mit Hilfe eines italienischen Kollegen herauszufinden. Anfangs scheint die Meinung des italienischen Juristen höchst ermutigend zu sein. Er wird uns sagen, daß seine Gerichte trotz des Fehlens einer konklusiven Gesetzesbestimmung das französische Recht als die lex loci delicti anwenden werden. Fragt man nach der Quelle seines Gutachtens, so wird er uns zunächst auf die zahlreichen Entscheidungen italienischer Gerichte in diesem Sinne verweisen. Nach einem Studium der einschlägigen Entscheidungen wird der amerikanische Jurist indessen darauf hinweisen, daß keine von ihnen eine ausländische Norm angewendet hat, die den Kläger begünstigt. überraschenderweise wird der italienische Jurist auf diesen Einwand keine andere Antwort wissen als die, daß die "communis opinio" ihm zur Seite stehe60 • Da die Rechtslehre in Italien nicht offiziell als Rechtsquelle anerkannt ist, wird der amerikanische Berater seinem Klienten mit Bedauern mitteilen müssen, daß er nicht in der Lage war, die italienische Kollisionsnorm festzustellen, weil sowohl Gesetzesrecht als auch ein bindender Präzedenzfall fehlen. § 118. Ein gemeinsamer Nenner. Diese Schlußfolgerung wird auf den einhelligen Widerstand der kontinental-europäischen Rechtsgelehrten stoßen. Nun muß freilich der Rechtsvergleicher die Terminologie jeder Rechtsordnung akzeptieren, und zwar insbesondere dort, wo sie die Frage betrifft, was in dieser Rechtsordnung "rechtens" ist. Indessen muß er dann, wenn er die Rechtsnormen verschiedener Länder zu vergleichen hat, eine Terminologie wählen, die auf sie alle anwendbar ist. Wenn er sich also mit dem Vergleich der in Italien und in Kalifornien geltenden Kollisionsnormen beschäftigt, kann er weder - nach der offiziellen Art des civil law - davon ausgehen, was in den führenden 68 S9

10

Ehrenzweig, Reeueil § 3. Ehrenzweig, Treatise § 211; ders., Reeueil §§ 102-105; ders., Nutshell § 8. Ehrenzweig. Reeueil §§ 104-105.

166

2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphilosophie)

§ 119

Handbüchern als rechtens erscheint, noch kann er - in der offiziellen amerikanischen Weise - eine Gerichtsentscheidung als ein "binding precedent" zitieren. Er muß vielmehr versuchen festzustellen, was das Gericht wahrscheinlich tun wird, und zwar selbst auf die Gefahr hin, dem "Experten" zu widersprechen. Unglücklicherweise sind derartige Experten - einschließlich amerikanischer "Zeugen" und europäischer Institute für Rechtsvergleichung - gemeinhin damit zufrieden, ihre eigenen oder die ausländischen "offiziellen" Verfahrensweisen anzuwenden. Dieses Vorgehen ist nicht nur vom Blickwinkel des Rechtsvergleichers aus unbefriedigend, sondern es erzeugt oft ernste praktische Schwierigkeiten. In unserem Fall, der die Feststellung der eigenen Regel des zu wählenden Forums betrifft, sind diese Schwierigkeiten zumindest dadurch herabgesetzt, daß die festzustellende Regel der Revision durch das Höchstgericht des Forumlandes unterworfen ist. Aber die Schwierigkeiten vergrößern sich, wo die Meinung des "Experten" eine ausländische Rechtsnorm betrifft, die nach dem internationalen Privatrecht des Gerichtsstandes ein Teil der Entscheidungsnorm dieses Gerichtsstandes werden SOllGI, obwohl sie niemals vom Höchstgericht jenes Staates überprüft werden kann, um dessen Recht es sich handelt. (3) Ausländische Rechtsnormen

§ 119. Common und civH law. Zu den Hauptfällen, bei denen in den Vereinigten Staaten "Experten" für ausländisches Recht herangezogen werden, gehören die Streitigkeiten über die Rechtsnachfolge amerikanischen Vermögens, in denen Ausländer nachweisen müssen, daß ihr Heimatland amerikanischen Staatsbürgern "Reziprozität" gewährt 6!. Selbst heutigen Tags, wo ausländisches Recht weithin als "Recht"Ga und nicht mehr als eine bloße Tatsache anerkannt wird, bestehen die amerikanischen Gerichte für gewöhnlich darauf, daß die Parteien Urteile ausländischer Gerichte - und seien sie noch so niedriger Instanz - beibringen, und dies sogar für Länder des civil law, in denen derartige Urteile wenig bedeuten. Diese Praxis erstaunt den kontinentaleuropäischen Juristen als Karikatur seines Rechts, und dies um so mehr als die so geformte Meinung des amerikanischen Gerichts über eine Regel einer fremden Rechtsordnung der überprüfung durch die Gerichte dieser Rechtsordnung entzogen ist. Wir wollen indessen auch die andere Seite betrachten. Kontinentaleuropäische Juristen erstatten recht ungezwungen ihre Gutachten über amerikanisches "Recht" ohne Rücksicht darauf, ob ihnen ein Gericht Ehrenzweig, Foreign Rules. Ehrenzweig, Treatise § 46. Ba Ehrenzweig, Nutshell §§ 23-25; Sass. Bi

82

§ 120

Zusammenfassung

167

des betreffenden Staates in den USA auch nur mit einiger Wahrscheinlichkeit zustimmen würde. Ein kurzer Blick auf die Gutachtensammlungen deutscher Institute für Rechtsvergleichung aus den Jahren 1968 und 1970 bestätigt diese BeobachtungS'. Da wird oft von einem nicht existenten "anglo-amerikanischen Recht" gesprochen. Und oft sind die vornehmlichen Quellen so zweifelhafte Handelserzeugnisse wie das "Corpus Iuris Secundum" oder "American Jurisprudence", auf die sich kein ernstzunehmendes amerikanisches Gericht berufen würde, oder die "Restatements" des American Law Institute, die zu keinem Zeitpunkt auch nur vorgegeben haben, in irgendeinem bestimmten Staat geltendes "Recht" wiederzugeben85 • Auch werden längst obsolete Entscheidungen beharrlich weiterzitiert, und zwar ohne jeden Hinweis auf ihre Entstehungszeit und offensichtlich ohne einen Versuch, ihre Nachfolge festzustellen. Aus diesen Gründen wird ein amerikanischer Jurist die Abneigung seines kontinental-europäischen Kollegen gegen die Art der Behandlung seines eigenen Rechts in anderen Ländern teilen. § 120. Ein gemeinsameT NenneT? Gleichwohl möchte ich nicht etwa vorschlagen, daß die gegenwärtige Praxis der bei den Rechtskreise geändert werde. Wahrscheinlich gibt es weder im Rechtskreis des common law noch in dem des civillaw ein anderes leicht zu handhabendes Verfahren. Im Interesse der internationalen Verständigung scheint jedoch ein besseres Verständnis der heutigen übung unabdingbar. Im Gegensatz zu Gutachten, die inländisches Recht fehlerhaft wiedergeben (§ 117), können Gutachten, die auf der Grundlage heimischen Kollisionsrechts ausländisches Recht zu heimischem Recht machen, nicht schlüssig als "richtig" bekräftigt oder als "unrichtig" verworfen werden. Im Grunde sind diese Gutachten daher oft nichts anderes als rein spekulative, wenn auch häufig sehr interessante Ansichten darüber, wie ein inländisches Gericht einen Fall mit ausländischen Berührungspunkten gerechterweise entscheiden sollte. Oder in anderen Worten: Das Gutachten eines amerikanischen "Experten" ist in diesem Zusammenhang das Gutachten über ein selbst geschaffenes deutsch-amerikanisches Recht". Freilich können amerikanische Gerichte durch eine vorwiegende oder wiederholte Bezugnahme auf derartige Ansichten allmählich deutsch-amerikanische Normen für deutsch-amerikanische Rechts8. Gutachten zum internationalen und ausländischen Privatrecht 1967 und 1968 (herausgegeben von Ferid, Kegel, Zweigert, 1970). es Ehrenzweig, Desperanto. ee Bisweilen erkennen Richter, daß sie auf diese Weise häufig "ein Ergebnis hervorbringen, dessen übereinstimmung mit dem eines ausländischen Gerichts in der Theorie größer sein mag als in der Wirklichkeit". Conte v. Flota Mercante DeI Estado, 277 F. 2d 664, 667 (2d Cir. 1960).

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2. Kap.: Recht und Rechtsein (Vergleichende Rechtsphllosophie)

§ 120

fälle entwickeln, die die Kraft eines heimischen Gewohnheitsrechts erlangen könnten. Indessen sollte die Rechtswissenschaft darauf bestehen, daß Gerichte und Rechtsanwälte überall anerkennen und zugeben, was sie in Wirklichkeit tun, wenn sie ausländische Rechtsnormen "anwenden", daß sie nämlich ihre eigene Rechtsordnung mit ihrem eigenen Verfahren im Lichte ihrer eigenen Anschauungen über das, was "Rechtens" sei, interpretieren und daß sie so - wie man treffend gesagt hat - eher als Architekten denn als Fotografen ausländischer Rechtsnormen handeln67 • Vielleicht können wir dann trotz der vielen mechanischen Verschiedenheiten auf diesem Gebiete zwischen den beiden Rechtskreisen eine Einigungsbewegung befördern, die ähnlich jener für den Rechtsbegriff selbst uns einem besseren Allgemeinverständnis näherbrächte.

87 Werner Goldschmidt, zitiert Kegel 180. Vgl. auch Ehrenzweig, Foreign Rules 79, wo auch Fälle erwähnt werden, in denen "schlechtes Recht" im Hinblick auf seine kollisionsrechtliche Verurteilung im Ausland verbessert worden ist.

ZWEITER TEIL

Das Ende des Streites (Psychologie) Drittes Kapitel

Gerechtigkeit und Gerechtheiten Einführung: Von der Philosophie zur "Psychosophie"

§ 121. Einst glaubte der Mensch, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums, einzig in ihrem Ursprung und ihrer Sendung. Ausgehend von vagen Träumen und Zweifeln vergangener Zeiten erwies Koperniskus diesen Glauben als Illusion. Dabei stieß er auf Empörung und einen Widerstand, der fast ein Jahrhundert später noch stark genug war, seinen großen Schüler Galileo zum Widerruf zu zwingen. Aber wir haben mit der Wahrheit zu leben gelernt, und die moderne Wissenschaft von der Erde begann mit ihrer Entdeckung. Wir verloren eine Illusion und begannen, unsere Welt zu erobern. Einst glaubte der Mensch, sein Körper sei der Gipfel der Schöpfung, einzig in seinem Ursprung und seiner Sendung. Ausgehend von vagen Träumen und Zweifeln vergangener Zeiten erwies Darwin diesen Glauben als Illusion. Dabei stieß er auf Empörung und einen Widerstand, der fast ein Jahrhundert später noch stark genug war, Lehrer und Schüler zu versuchen, das neue Wissen als Häresie zu verdammen. Aber wir haben mit der Wahrheit zu leben gelernt und die moderne Wissenschaft vom Leben begann mit ihrer Entdeckung. Wir verloren eine Illusion und begannen, unseren Körper zu erobern. Einst glaubte der Mensch, die Vernunft stehe im Mittelpunkt seines Geistes als alleinige Herrin seines Ursprungs und seiner Sendung. Ausgehend von vagen Träumen und Zweifeln der Vergangenheit erwies Freud diesen Glauben als Illusion. Dabei stieß er auf Empörung und einen Widerstand, der mehr als ein halbes Jahrhundert später noch stark genug ist, Lehrer und Schüler zu versuchen, das neue Wissen als Obszönität zu verwerfen oder es doch wenigstens hinter schönen Worten zu verbergen. Aber die meisten von uns sind soweit, mit der Wahrheit

170

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 121

zu leben und mit ihr war die moderne Wissenschaft vom Geiste geboren. Wir verloren eine Illusion und begannen, unsere Seele zu erobern. Aufgabe der zukünftigen Rechtswissenschaft wird es sein, die neue Wahrheit dem Verständnis und der Reform von Rechtsregeln und unserer Auffassung von Recht und Gerechtigkeit dienstbar zu machen. Diese Untersuchung kann sich nicht auf die Entdeckungen Freuds beschränken. Mehr als 30 Jahre sind seit seinem Tod vergangen und seitdem ist viel gefunden und gesagt worden, was unsere Probleme betrifft. Es sind sogar neue Schulen entstanden, die - zutreffend oder nicht - Psychoanalyse genannt worden sind, und sie sind bezüglich mancher Ziele und Mittel der neuen Wissenschaft verschiedene Wege gegangenl • Aber dies ist kein Buch über Psychologie. Ich könnte und - zum Glück - muß in dieser peinvollen Auseinandersetzung nicht Stellung nehmen. Aber ich bleibe davon überzeugt - und muß mich fairerweise gleich zu Beginn zu meiner überzeugung bekennen -, daß die Entdeckungen von Freud und einiger seiner Schüler die Tür zu einer neuen Rechtswissenschaft geöffnet haben. Von hier aus werden andere ihre eigenen Wege zu wählen haben. Wir dürfen und müssen also großzügig sein bei der Betrachtung der nach-Freud'schen - oder sei es auch: der nicht-Freud'schen - Zukunft der neuen Wissenschaft. Aber wir müssen klar mit der vor-Freud'schen Vergangenheit brechen. Vielleicht brauchen wir sogar einen neuen Namen für die neue Wissenschaft. Mit einigen Bedenken hätte ich sie gern "Philopsychie" genannt. Denn es ist nun die Psyche (Seele) mehr als die Sophia (Weisheit), die uns den Schlüssel liefert. Aber der Mißklang dieses Wortes hat mich veranlaßt, "Psychosophie" vorzuziehen, und auch diese Wortneubildung möchte ich nur vorschlagen und sie dann ihrem eigenen Schicksal überlassen. Bisher hat die neue Disziplin kaum begonnen, in die Sozial- und Geisteswissenschaft einzudringen. Die Ästhetik (§§ 136-148) und die Wirtschaftswissenschaft (§ 135) haben ihre ersten Impulse erhalten. Aber Metaphysik (§ 133), Ethik und Rechtsphilosophie kämpfen noch immer um ihre Befreiung von dem Stillstand der letzten zweieinhalb Jahrtausende. Wir haben gehört, wie die Kampfgruppen (§§ 4-20) ihre Kampfrufe für und gegen das Naturrecht erhoben haben (§§ 21-59). Wir sind ihnen durch viele Rechtssysteme und Philosophien (§§ 76-120) gefolgt zu ihren Kampfstätten richterlicher Rechtsetzung (§§ 60-62), des zivilen Ungehorsams (§§ 63-73) und des kriminellen Gehorsams 1 Zur Geschichte der nach-Freudschen Psychoanalyse, vgl. z. B. J. A. C. Brown; Whyte; Fromm, Crisis Kap. V. Vielleicht wird die Geschichte zwischen der Neuen Wissenschaft und der antiken Weisheit Asiens wichtige Beziehungen finden. über die Unterscheidung des Shintoismus zwischen dem bewußten "omote" und dem unbewußten "ura", vgl. z. B. Herbert 115.

§ 122

Absolute Gerechtigkeit?

171

(§ 74). Wenn unser neues Wissen uns dabei helfen soll, diesen Kampf zu beenden und den bitteren Streit im gemeinsamen Streben münden zu lassen, müssen wir die Gründe der Bitternis zu verstehen suchen.

A. Warum die Bitternis? 1. Sehnsucht nach dem Absoluten

§ 122. "Oh ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt2 ." Widersprüche in philosophischen Systemen "werden gewöhnlich auf die immense Kompliziertheit der Aufgabe zurückgeführt. Aber sie können auch wesenseigene Unstimmigkeiten im Menschen widerspiegeln, die kein System lösen kann3 ." Daß der Mensch trotzdem auf seinem hoffnungslosen Sehnen nach Absolutem beharrt, hat Bertrand Russell resignierend auf den "Terror kosmischer Einsamkeit"4 zurückgeführt. Der Mensch erhofft sich von der ewigen Gerechtigkeit in einer kosmischen Ordnung Trost in seiner Angst vor einem einsamen Tod. Vor Tausenden von Jahren suchte in Babyion Gilgamesch diese Gerechtigkeit in hilflosen Träumen von Unsterblichkeit5 , der ägyptische König in seinem Grabmal, Odysseus auf dem Meer. In unserem Zeitalter blickt der Christ zum Himmel, der Moslem zum Paradies und Schopenhauer zum Pantheon des kosmischen Willens 6• Tillich glaubte an die "Wesensnatur des Menschen", das nicht erklärbare Prinzip der Liebe als agape7 • So hat der Mensch - unwillig oder unfähig, Zweifel zu ertragen - entweder diesen Zweifel in immer neuen, hilflosen Träumen von Einheit verleugnet oder ihn - in hilflosem Ärger seinen zweifelnden Mitmenschen hingeworfen. Wollen wir endlich über hilflose Träume ebenso wie über hilflosen Ärger hinauskommen, müssen wir den wenigen folgen, die die Philosophie vor der Illusion des Absoluten, naturwissenschaftlicher Megalomanie und relativistischer Verzweiflung bewahren wollen, müssen wir z s

Hölderlin 10. Money-Kyrle 108.

Russell (1872-1970) 2. Sandars, Kap. 4, 7. aSchopenhauer II § 17, in mystischem Antagonismus zu Hegels Geist oder Idee (Hegel, Religion I 209-356, XV 109; oben § 58 Anm. 68), von der man gesagt hat, sie sei ein bloßes "Ding in einem ontologischen Sinn", ein bloßes Absolutum "in concreto, ad personam und ad hoc". Marcic, Kritik 176. Gegen Schopenhauers Willen als "metaphysisches Ein-sein", Ree in einem Brief an Salome. Pfeiffer 173. 7 Tillich (1886-1965) 28,87,95. Vgl. Lindbeck; S. J. Fletcher, Situation. über die Mystik des Todes vgl. Choron; Slochover. "Illusionen werden aus Gedanken über das Leben geboren, aber sie sterben nicht am Denken, sondern am Leben." Lou Salome, Pfeiffer 193. 4

5

172

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 123

bei der Psychosophie unsere Zuflucht nehmen, bei der Erforschung unseres Geistes, unseres Bewußten und Unbewußten, in einer neuen "Wissenschaft der Wissenschaften"8. Aber nur wenn wir gleichzeitig die Grenzen solcher Forschung sehen und hinnehmen, können wir das Trugbild der Gerechtigkeit zu durchdringen hoffen, ob es sich uns nun absolut zeigt oder relativ, als Vortäuschung der Vernunft oder als Werkzeug der Politik. Auf unserem Weg wird das Recht unser ständiger Begleiter sein.

a) Trugbild deT "GeTechtigkeit" (1) Gerechtigkeit als Recht

§ 123. Die "Genemlklausel". Eine Diskussion über die "Existenz" von Gerechtigkeit hat nichts zu tun mit den vielen Fällen, in denen Gerechtigkeit ausdrücklich zum Bestandteil des Rechts selbst geworden ist. Generalklauseln in Rechtsnormen, die auf Maßstäbe der Gerechtigkeit verweisen, schaffen keinen jener Gegensätze von Gerechtigkeit und Recht, die wir auflösen wollene. Auch setzen diese Klauseln keineswegs einen metarechtlichen Begriff der "Natur der Sache" (§ 51) voraus. Wir denken hier an Bezugnahme auf "Angemessenheit" oder "Vernunftmäßigkeit" in vielen gesetzlichen oder richterrechtlichen Vorschriften10, "Treu und Glauben" im römischen Recht und in moderner Gesetzgebungl l oder etwa auch auf "Minimalanforderungen der Menschlichkeit" im Urteil von Nürnberg, in deutschen Nachkriegsentscheidungen und in der Erklärung der Menschenrechte (§§ 38, 74). Ähnliche Klauseln sind zahlreich in allen Rechtsordnungen als "immanente Konfliktslösungen"1!. Sie fordern nur ausdrücklich jene Konkretisierung höherrangigen Rechts durch Werturteile, die der Anwendung allen gesetzten Rechts wesenseigen ist (§ 15). Sie mögen dem konkretisierenden

Simpson und Field 162. Vgl. allgemein Hedemann; Patterson 235-239; Zippelius 47; Dohna 75; Dubischar § 24; oben §§ 99 Anm. 51; § 101 Anm. 50. 10 Vgl. z. B. Maihofer, Natur; Wieacker 476--477. 11 Ähnliche Formeln sind im Schikaneverbot und mit den "guten Sitten" des BGB in den §§ 226, 826 gegeben. Gegen manche Opposition hat die Formel von "Treu und Glauben" auch in die amerikanische Gesetzgebung Eingang gefunden. Über Uniform Commercial Code §§ I-2m, siehe oben § 101 Anm. 52. Siehe auch die Bezugnahme auf den "guten moralischen Charakter" (good moral character) im amerikanischen Nationality Act. Cahn, Decision 8 8

30~12.

11 David no. 94. Siehe allgemein z. B. Engisch, Idee 79-80. Unnötig zu erwähnen, daß jede Generalklausel Gegenstand politischen Mißbrauchs sein kann. So erging es etwa der Formel vom "gesunden VOlksempfinden" im Nazi-Deutschland und wohl auch dem "gesellschaftlichen Rechtsbewußtsein" in Maos China. Siehe Bodde und Morris 517-530. Siehe andererseits für eine Analyse der "Allgemeinen Rechtsgrundsätze" im Statut des internationalen Gerichtshofes von jenseits des "Vorhangs", Herczegh.

§ 123

Absolute Gerechtigkeit?

173

Organ - Gesetzgeber, Richter, Verwaltungsbeamten - einen weiten Ermessensspielraum bieten, aber sie fordern keine besondere Art von "dialektischem Urteil im Namen der Gerechtigkeit"13 - ja sie erlauben sie nicht. "Gerechtigkeit" bleibt ein Trugbild, auch wo sie ausdrücklich im Recht verankert scheint.

RechtsgehoTsam. Das Wort "Gerechtigkeit" hat in mehreren Sprachen, wie im Deutschen, dieselbe Wurzel wie das Wort "Recht": justitiajus (latein); oiglus-oigus (estnisch); pravilnost-pravo (russisch)!'. Und die italienischen und französischen Worte für Recht (diritto, droit) bezeichnen den "geraden" Weg der Gerechtigkeit. Diese etymologische Tatsache spiegelt sich in jenen Auffassungen wider, die Gerechtigkeit mit Recht identifizieren und erstere als ein "Scheinproblem"1G ansehen. Diese Auffassungen einfach als "naturrechtlich" abzutun, vernachlässigt die tiefer liegenden Konflikte. Die Gleichstellung von Recht und Gerechtigkeit kann dem ersteren einen Sinn geben wie etwa in Hobbes bekanntem Wort, daß "kein Rechtssatz ungerecht sein kann"16. Oder sie kann, wie bei den unzähligen im Ersten Teil erörterten Variationen, eine Metanorm verkörpern, die den Geltungsbereich gesetzten Rechts erklärt oder begrenzt17 . Oder sie kann nach einem trügerischen Burgfrieden suchen, indem sie "die ewigen Wesensmerkmale der Gerechtigkeit" in der "öffentlichen Meinung"18 verkörpert findet oder von der Voraussetzung ausgeht, daß die gewohnheitsmäßige Durchsetzung des Rechts selbst das Gefühl hervorruft, ihm verpflichtet zu seinu. Wir werden sehen, daß es diese letztere Illusion war, die Shakespeare und Nietzsche in der Sprache ihrer Poesie beschrieben (§ 152). Aber diese Gedanken - wie alle anderen, die Recht und Gerechtigkeit gleichstellen - gehen an solchen immergültigen psychologischen Tatsachen vorbei wie an der des Gerechtigkeitssinns. Wir werden gewiß den Rechtsgehorsam als eine der vielen "Gerechtheiten" verstehen, die von frühester Jugend an mit uns wachsen. Aber darüber hinaus gibt es einen Gerechtigkeitssinn, sei dieser nun angeboren oder anerzogen, zu dem diese Gerechtheiten in Beziehung treten. Und den Ursprung dieses GeU Ein Vorschlag von Bodenheimer, Reasoning. über die phänomenologische Identität der Generalklauseln mit allen Rechtsregeln, siehe TroIler § 1 Anm. 25, gegen Llompart 55. 14 Tammelo 317, 324. Siehe auch Tammelo und Prott 419. 15 Marcic 175. 18 Hobbes, Leviathan, Kap. 30, 182. über Hobbes (oben § 3 Anm. 70), siehe auch Kessler, Natural Law 41-44. Dasselbe Ergebnis wurde auf ganz anderem Weg von D'Entreves 116, 121 erreicht. "Ius quia iustum". 17 Siehe statt vieler über Pufendorf (oben § 31 Anm. 70), Krieger 84-85, 88-89; Brufau Prats. 18 Hegel, Rechtsphilosophie § 317. Siehe auch ders. § 145 Z ("objektive Moralität"). 18 Dies ist die Auffassung des skandinavischen Realismus. Oben § 57.

174

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 124

rechtigkeitssinns werden wir außerhalb des Rechts zu suchen haben!O, wie wir auch ungerechte Rechtssätze hinnehmen müssen. (2) Recht als Gerechtigkeit § 124. Gerechtigkeits-Hinordnung. Wenige werden behaupten, daß alle Vorschriften einer Rechtsordnung gerecht seien. Aber wir wissen, daß irgendwelche Gerechtigkeitsmaßstäbe in jede Rechtssetzung Eingang finden (§ 123). Und die meisten von uns werden unter "Recht" nur solche Normen verstehen, die - mögen sie nun als gerecht empfunden werden oder nicht - Bestandteil eines Gefüges sind, das insgesamt gerechtigkeitshingeordnet21 ist. Diese Voraussetzung ist natürlich nur eine Metanorm, die wie alle Metanormen nur ein Zweckmäßigkeitsurteil oder einen Glaubenssatz darstellt, niemals aber Anspruch auf Wahrheit haben kann2!. Und doch ist sie immer Bestandteil der Rechtsphilosophie gewesen, sowohl der "positivistischen" wie der "naturalrechtlichen" , von Plato, Aristoteles 2S , Cicero und Hume bis zu Kelsen.

Diese ideologische Hinordnung der Rechtsordnung auf die Gerechtigkeit ist es, die der Positivismus angeblich zu Unrecht herabgesetzt und das Naturrecht angeblich zu Unrecht verherrlicht hat (§ 59). Beide Behauptungen sind unrichtig, wenn sie eine wissenschaftliche Unterscheidung beinhalten sollen, denn alle "Schulen" akzeptieren eine Hinordnung zur Gerechtigkeit. Sie erscheint für den "Positivisten" als "Minimalinhalt", für den "Naturrechtler" als "innere Sittlichkeit" (internal morality) und für den Soziologen als quasi absolute Vorschrift materialer Gerechtigkeit hier und jetzt!c. Wieder einmal handelt es sich bei dem, was als Konflikt des Denkens erscheint, um einen Konflikt der Emotionen. Wie viele andere Antinomien hat man auch diese gelegentlich als Folge des "Prototyps aller Gegensätze ... der Gegensätzlichkeit der Geschlechter"!5, angesehen, die man wiederum in dramatischer und mythischer Weise dem großen Zweikampf von Leben und Tod zugerechnet hat!'. Jedenfalls haben solche Antinomien ebensowenig mit 20 Siehe z. B. Geiger 255, 340; und allgemein unten §§ 154-159, 163-165. u Verdross 200, 255-256. Siehe auch Dohna 71; Tammelo, passim; oben § 14; Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht (1971) 94, passim. 22 Oben § 14. za Platos Terminologie kann verschieden ausgelegt werden. Siehe unten § 139 Anm. 29. Seine "Gesetze" erscheinen durch sophistische Unordnung gefährdet, die durch die unübersetzbare "Polypragmosyne" verkörpert wird. Aber sie werden durch die Dikaiosyne, Gerechtigkeit, geschützt. Der Staat 443 b-d, 444d. Siehe Voegelin III 64-66. Das Recht des Aristoteles vermittelt zwischen widerstreitenden "Gleichheiten" und sucht damit der Gerechtigkeit zu dienen. Politik 120-128. Siehe ders. 338-340; auch Darbellay 10; unten Anm.47-54. 14 Oben §§ 26, 44--46, 50. Siehe allgemein Stone 11 341-344. 15 Cornford 65. II Fromm 140,152.

§ 125

Absolute Gerechtigkeit?

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Philosophie zu tun wie die emotionalen Schlagwörter von "Recht und Ordnung", "Gerechtigkeit und Fortschritt", möge man nun diese Gerechtigkeit absolut oder relativ verstehen27 , § 125, "Absolute Gerechtigkeit"? Wir haben gesehen, daß die Gerechtigkeitshinordnung allgemein als jeder als Rechtsordnung bezeichneten Ordnung wesentlich angesehen wird, Aber selbst Anhänger eines Naturrechts werden kaum behaupten, daß eine einzelne rechtliche Handlung und ein einzelner rechtlicher Anspruch an einem absoluten Maßstab der Gerechtigkeit gemessen werden kann, Wer dennoch "Fundamentalist" bleiben will28, sollte sich auf einen alten Kommentar zur Genesis besinnen: "Du begehrest die Welt und begehrest Gerechtigkeit. Wähle Dir eine von beiden, aber wenn Du nicht ein wenig verzichten willst, kann die Welt nicht fortbestehen!'," Urteile über Gerechtigkeit sind je nach ihrem Autor, ihrer Zeit und ihrem Ort verschieden. "Positivisten" und "Naturrechtler" stimmen mit Anthropologen und Soziologen darin überein, daß es - wenn überhaupt - nur sehr wenige Handlungen und Ansprüche gibt, die abstrakt "gerecht" oder "ungerecht" genannt werden können3o • Dieser Meinung ist offensichtlich auch Jung, selbst wenn er von einem " Gewissen " spricht, das entweder "richtig" oder "falsch" ist und von "gut" und "böse" als Prinzipien, die lange vor uns existierten und sich weit über uns hinaus erstrecken31 , Und die gleiche Folgerung muß von jenen seiner "humanistischen" Schüler akzeptiert werden, für die "Gut" und "Böse" in einer durch "Selbstaktualisierung"3! geschaffenen "brave new world" überwiegen wird. Der "axiologische Realist" mit seinem "ontischen Status der Werte" wird kaum besser fahren 33 als der mehr konventionelle Philosoph, der eine Art absoluter Gerechtigkeit von der Voraussetzung einer "common sense-Ethik" ableitet34 , In der Tat kann keine der immer wiederkehrenden Absolutheiten dem prüfenden Blick historischer oder psychologischer Prüfung standhalten. Der Glaube an die Heiligkeit des Eigentums als eines natürlichen Rechtes ist antiken Ursprungs. In der Neuzeit wurde er von Bentham, !7 über Gerechtigkeit und Politik, siehe oben §§ 60-73j unten § 128. Siehe auch im allgemeinen, Leinweber, Gibt es ein Naturrecht? (2. Aufl, 1970). 28 Siehe z. B. Brecht, passim. Vgl. auch etwa Waldstein 192, im wesentlichen auf römischer Grundlage. 20 Genesis 12.1. Siehe Levi Midrash (300 A. D.). 30 Siehe z. B. Mead; Selznikj Von Mises 51-55; oben § 32 Anm. 73. u Jung 447, 448, 456-468. 3! Maslow 83, 149, 206, 220, 222, passim. 3S Vivas VIII, 14 Ewing 9,

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

176

§ 125

Locke und vielen katholischen Denkern vertreten35 • Sie könnten sich hierfür darauf berufen, daß wir den Menschen in allen Kulturen an Objekte gebunden finden38 und daß die Institution des Privateigentums sogar in den kommunistischen Gesellschaften unserer Zeit erhalten oder wieder eingeführt wurde37 • Aber nach allgemeiner Auffassung ist diese Institution nicht B~standteil eines Naturrechts - wie sogar dieses Rechts großer Prophet Thomas von Aquin einräumt38 • Tiefere Einsichten mögen uns hier die Psychologie und Anthropologie der Zukunft bringen, kaum aber jenes existentialistische Gleichnis, das den Prototyp des Eigentums in unserem Besitz "uns~rer eigenen Person" sieht39 • Andere Postulate des Naturrechts sind gleichermaßen anfechtbar. So haben wir mit einiger Skepsis Fullers "verfahrensrechtliche" Minimalanforderungen an den Begriff des Rechtseins erwähnt und müssen wohl Harts "gleiches Recht aller Menschen, frei zu sein"co hinzufügen. Manche mögen sich mit dem Gedanken trösten, daß - wenn die W eisen aller Völker und Zeitalter zusammen kämen - sie wenigstens darüber einig wären, daß Töten ohne hinreichenden Grund immer "ungerecht" ist41 • Was aber ist ein hinreichender Grund? Im Sinne von Freuds Allegorie waren vielleicht selbst Vatermord, Brudermord und Völkermord einmal "gerecht"'!. Und man sagt uns, daß noch heute bei gewissen Eskimos "Kindermord, Greisenmord und Krankenmord erlaubte Taten seienc3 . Jedenfalls steht außer Zweifel, daß in unserer eigenen Gesellschaft selbst bedenklichere medizinische und genetische Eingriffe in das Menschenleben auf lange Zeit Gegenstand lebhafter Diskussion 85 Davitt 18-22, 86-96; Messner 1084. Siehe aber auch den Phänomenologen Troller (Rechtserlebnis 52). Allgemein siehe Friedmann 123-124, 166, 167,314,389-390; Gutzwiller 23-24. 88 Eibl-Eibesfeldt 267. In bezug auf den "territorialen Imperativ" siehe Ardrey; Howard. über Ardrey siehe unten Anm. 81. Vgl. auch Wickler 14a-

144. 87

38 SD

(0

Hazard, Kap. 9, 10; Stoyanovitch, Regime. Oben § 5 Anm. 54, unten § 168. Siehe Friedmann lla-ll1. N. O. Brown 145-146. Hart, Natural Rights 173. Siehe oben §§ 44-46; G. Hughes, Positivists

548-552.

41 Siehe z. B. Messner 378-384; Troller, Rechtserlebnis 52 (Phänomenologie). Aber vgl. z. B. Williams, Sanctity. Eindrucksvoller sind jene ethologischen Erkenntnisse, die ein "moralanaloges" tierisches Verhalten entdeckt haben, das das Töten innerhalb der Art verhindern soll. Eibl-Eibesfeldt 113, 115. Danach kann der "böse" Wolf nicht einmal seinen hilfslosen Feind beißen, wenn er sich erst einmal ergeben hat. Lorenz, Er, 124. Aber in der Tierwelt gibt es auch die "süße" Taube, die (rechtmäßig?) ihre Schwester in der Gefangenschaft quälen kann. Ebendort. Siehe unten § 179 Anm. 18. Für einen biologischen Versuch, vgl. Wickler 9a-91. (Z Freud XIII 141-160. 4S Hoebel 74. Die Praxis der Kannibalen ergibt weitere quälende Beispiele. Siehe z. B. Hogg; Lazari-Pawlowska; Myrdal 49, passim.

§ 126

Relative Gerechtigkeit?

177

sein werden - innerhalb und außerhalb "naturrechtlicher" Glaubensinhalte 44 • Vergewaltigungen zwischen den Mitgliedern verschiedener Stämme sind immer geduldet worden; der Raub der Sabinerinnen wird den römischen Eroberern "gerecht" erschienen sein. Auch heute noch weichen die Verbote des Inzests und der Polygamie nach Umfang und Sanktion weit voneinander ab. Außerhalb eines wahrscheinlich überall zu findenden "horror matris"45 ist somit ein allgemeiner Kernbestand der Gerechtigkeit kaum vorhanden. So hat in der Tat der Hinduismus im Gegensatz zum Christentum immer um die Relativität und Unvollkommenheit des dharma gewußt4G . Wenn es aber keine absolute Gerechtigkeit gibt, können wir dann doch vielleicht ihre relative Auffassung retten? § 126. "Relative Gerechtigkeit" (Gleichheit). Die bekannteste und auch am wenigsten hilfreiche Definition relativer Gerechtigkeit ist Ulpians "suum cuique" (jedem das Seine), das er seinen griechischen Meistern verdankt 47 . Jedem die Gerechtigkeit zu versprechen, die er gerechterweise verlangen kann, ist natürlich ein leerer Zirkelschluß48. Um dieser Kritik zu entgehen, hat man Ulpians Formel immer dahin interpretiert, daß sie irgend eine Art von "Gleichheit" voraussetze. Hierin haben Philosophen mit Theologen übereingestimmt und die judäische Religion mit dem Christentum4Q . Da es aber keine absolute Gleichheit geben kann, hat man dies Postulat immer dann als erfüllt angesehen, wenn diejenigen gleich behandelt werden, die vor dem Rechte gleich sind nur um damit den ergebnislosen Zirkelschluß zu wiederholen: Das Recht soll die Gleichheit gewährleisten und die Gleichheit wird inhaltlich bestimmt durch das Recht50 • Suum cuique kann nur dann mehr als ein Schlagwort sein, wenn es durch Interpretation Inhalt gewinnt. So hat man von diesem Satz gesagt, er verlange die Rechtfertigung unvermeidbarer UngleichheitS1 , oder die vorzugsweise Behandlung der Unterprivilegierten52 oder er sei lediglich als Ruf nach der Bemühung zu verstehen, Gerechtigkeit zu üben 53 , was dem entsprcht, was ich hier als unSiehe z. B. Friedmann, Interference. Siehe z. B. Hammurabi's Code § 157; und allgemein Eibl-Eibesfeldt 183, 185. Über Inzest vgl. z. B. Kelly. 46 Vgl. Bonhoeffer 62, 101 mit Nikhilananda 71. 47 Oben §§ 4, 5 Anm. 48, 39; unten Anm. 53; §§ 157, 163 Anm. 10. Über Aristoteles' mesotes, siehe Voegelin III 348-349; oben Anm. 23. 48 Siehe Llewellyn, Good 256-257. Vgl. auch etwa Tammelo, Survival9-10. 4D Vgl. Rack.man mit Lakoff. Der Hinduismus hat sich hier ferngehalten. Siehe Somjee. 50 Siehe Hume, Buch III, Teil II, Abschnitt VI; G. Husserl 251; Bonhoeffer 108-112; Cardozo 276; Lloyd 120; Castberg 74; Bedeau 18-28; Bodenheimer, Anthropology 667-675. 51 Zur amerikanischen Verfassung, siehe Friedmann 416-419. 52 Honore 53. 53 Siehe Troller § 5 III bei Anm. 75, auch ders. § 27 IV bei Anm. 30. Er 44

45

12 Ehrell&weis

178

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 127

seren Gerechtigkeitssinn (§§ 149-151) im Gegensatz zu den einander widersprechenden Gerechtheiten (§§ 163-165) bezeichnen möchte. Dennoch haben viele Autoren, die heutigen Existentialisten eingeschlossen, weiterhin Gerechtigkeit und Gleichheit einfach gleichgesetzt54 • Auch diejenigen, die diese nichtssagende Gleichstellung auf die Vernunft zurückgeführt haben, haben wenig mehr zu bieten als eine andere Formel.

b) Illusion der Vernunft § 127. In der ganzen Geschichte der Philosophie hat man vom positiven Recht behauptet, es sei in der Vernunft begründet (§§ 4-5). Unter ihren sinnbildlichen Umschreibungen sind sowohl die als eines göttlichen Rechts bei Sophokles und den Stoikern, die der natürlichen Gerechtigkeit bei Aristoteles, den Sophisten und den Römern, als auch die der phänomenologischen "Schöpfungs- und Gattungsvernunft"l5 gewesen, die kaum von Gaius' "natürlicher Vernunft der menschlichen Rasse"58 zu unterscheiden ist. In vielfältigen Variationen sind ähnliche Formeln Jahrhunderte später Teil der scholastischen Theorie und später sogar der Lehre von Renaissance und Aufklärung gewesen (§ 30). Christi an Wolff hat gar einen "wahrhaftigen Kodex der Vernunft"57 erarbeitet. Und die Vernunft war auch die Grundlage des Gesellschaftsvertrages von Marsilius bis Grotius, Locke und Hobbes (§ 31), wie auch die von Cokes common law (§ 37), Lord Mansfields Pragmatismus58 und unzählbarer anderer Formeln6'.

drängt zu einer Rückkehr zur vollständigen Zitierung von Ulpians "voluntas jus suum cuique tribuendi". Aber siehe auch ders. § 5 am Ende; und ders., Rechtserlebnis § 5, wo TraUer ein Verständnis des "suum" als des Wesens der Gerechtigkeit voraussetzt. So auch Plato und Thomas von Aquin. Siehe Kessler, Natural Law 35-39; oben § 5 Anm. 48. Für Begrilfe der modernen Ekonomie, siehe Lasswell und McDougal 226-229. U Siehe Friedmann 193-213; Huxley; Friedrich 165-170, 191-199; Tammelo, Rechtslogik 58-62. 55 "Schöpfungs- und Gattungsvernunft" . Troller § 25. Topitsch 24 weist den anthropomorphen Mythos zurück. Allgemein siehe z. B. Zippelius §§ 14, 15. 58 Gaius (Dig. 1,1,9): "naturalis ratio inter omnes homines". Paulus (Dig. 1.1.11) sah das Naturrecht verkörpert in dem, was "immer billig und gut" ist. 57 Batiffol 57. über Christian WoIff (1679-1754), siehe auch TraUer § 18; und allgemein Cordero Kap. CI. 58 über Lord Mansfield (1705-1793), siehe Fifoot Kap. VIII. 68 über Benthams Vertrauen in die Zweckmäßigkeit, siehe oben § 33. Siehe auch Saydah 35, 75-76, 106-124 über C. I. Lewis. über Vicos wiederversöhntes Verum und Certum, siehe z. B. Croce, Vico; Gianturco 329. über Pufendorfs "zwei Neigungen ... von der Natur implementiert", siehe Krieger 92. über Kants Imperativ, siehe oben § 32. über Stammlers "richtiges Recht", siehe oben § 39. über Croces Werte, siehe z. B. H. S. Hughes 200-229. über Genys donnes, siehe oben § 48. Siehe auch Roubier 216 über seine "höchst zu schätzenden Interessen"; Puy über seine ,,80 Thesen"; Bergson, Morality 82 über seine zwei Gerechtigkeiten (siehe auch unten § 138); über Stones "Enklaven", Black:shield, Enc1aves 170; Kraft zu seiner pragmatischen ..Moral". Vgl.

§ 128

Vernunft

179

Wir mögen nicht mit Hume darin übereinstimmen, daß "die Vernunft nur der Sklave der Leidenschaften ist und sein sollte und niemals nach einer anderen Aufgabe streben darf, als ihnen zu dienen und zu gehorchen"60. Denn die Vernunftserfahrung des Menschen hinterläßt ihre Spuren in vielen seiner Urteile (§ 167). Wir brauchen auch nicht Hübners bittere Attacke gegen Spinozas "rationale" Lehre zu folgen, die auf ein natürliches Recht von "Begierde und Macht" gestützt war81 • Von Plato bis Freud haben wir immer gewußt, daß das rationale Ich des Menschen ihm dabei dient, seine selbstzerstörerischen Instinkte, sein Es zu unterdrücken (§ 156). Wie aber Hume vorausahnte, ist dieses Es, in Verbindung mit dem Todestrieb des überichs, ein wesentlicher, irrationaler Bestandteil unseres Sinnes für Gerechtigkeit. Und wir können es nicht als eine "Funktion der Ethik" begreüen, auf rationale Weise den Konflikt der Interessen auf ein Minimum zu reduzieren62 • Was als vernunftgeborene "Gerechtigkeit" erscheinen mag, ist nur allzuoft nicht mehr als eine "rhetorische Floskel", eine täuschende Rationalisierung irrationaler Triebe83 - oder eine trügerische "Ethisierung" einer allzu rationalen Absicht im Dienst der Politik. "Er nennt's Vernunft und brauchts allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein84 ." c) Werkzeug der Politik

§ 128. Naturrecht ist "eine im Kampf zwischen der mittelalterlichen Kirche und dem deutschen Kaiser auf bei den Seiten benutzte Waffe gewesen; in seinem Namen ist die Gültigkeit internationalen Rechts behauptet und die Forderung nach Freiheit des einzelnen gegen den Absolutismus geboren worden. Wieder geschah es unter Berufung auf die Grundsätze des Naturrechts, daß amerikanische Richter als Interpreten der Verfassung dem Versuch einz-elstaatlicher Gesetzgebung widerstanden, die unbeschränkte wirtschaftliche Freiheit des einzelnen abzuändern und einzuschränken. So haben oft naturrechtliche Auffassungen - weit von bloß theoretischen Spekulationen entfernt - oft mächtige politisch-e und rechtliche Entwicklungen herbeigeführtes." auch Tammelo, Rechtslogik S. 10. über die "Wiedergeburt des Naturrechts", siehe oben §§ 39--41; und zur totalitären Philosophie, oben § 7. Vgl. auch allgemein Garcia San Miguel. 80 Hume, Buch II, Teil III, Abschnitt III. Siehe oben § 42 Anm. 2. u Hübner (1668-1731) II 433. über Spinoza (1632-1677), siehe oben § 42 Anm.l.

Toulmin, Reason 224. Tammelo, Material Justice 501; Marcuse 110. 84 Goethe, Faust, Prolog im Himmel. 85 Friedmann 95-97. Siehe auch Shuman Kap. VIII; Kessler, Natural Law (im Verhältnis zur Demokratie). über Dantes zwiespältige Stellung zwischen Papst und Kaiser, siehe H. Friedrich, Komödie 89-90. Über Recht und Macht im allg. vgl. Diritto e Potere. 82

63

180

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 129

Goethe antwortete den Rebellen: "Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist." Und Schillers schottische Königin warnte Lord Burleigh: "Mißtraut Euch, edler Lord, daß nicht der Nutzen des Staats Euch als Gerechtigkeit erscheineSt." Die Aufklärung hatte dem Herrscher eigene moralische Maßstäbe zugebilligt, um ihn zu befähigen, die beste mögliche Welt für die Menschheit zu schaffen 87 • Auch einige moderne Auffassungen von Gerechtigkeit betonen die Politik oder was sie "soziale Zweckmäßigkeit"S8 nennen. Es ist diese Betonung, die der Positivismus vermeiden wollte, indem er die Gerechtigkeit vollkommen aus seinem Gesichtskreis zu verbannen suchte nur um damit beschuldigt zu werden, er habe die "Politik der Gewalt"lD zur Grundlage allen Rechts gemacht. Diese Beschuldigung ist falsch, wie wir gesehen haben70 • Auf der anderen Seite erscheint die Gewalt als eine bloß "philosophische" Rationalisierung politischer Ziele, wie in Lenins oft zitiertem Aphorismus, daß jedes Recht eine politische Maßnahme sei71 • Und Macht kehrt auch in der Resignation des Realisten und der Rebellion des Existentialisten wieder72 • Aber weder Sehnsucht nach Absolutem, noch Ablehnung der Pseudovernunft und politische Schlagwörter können allein die große Bitternis erklären. Vielmehr werden Vertrauen auf den Instinkt und zugleich die Abscheu davor, eitler Kompromiß und Widerstand gegen psychologische Prüfung sich als dem grimmigen Streit der Philosophen wesentlich erweisen. 2. Abscheu vor dem "Instinkt"

§ 129. Der nimmer endende Kampf zwischen "Naturrechtlern" und "Positivisten" in der Rechtsphilosophie hat ein interessantes Analogon in der Kontroverse zwischen den "Vitalisten" und den "Mechanisten" in der Naturphilosophie7S • Wenn Thomas von Aquin noch immer die eigentliche Quelle des Lebens in der Vernunft Gottes sah, so führten es Goethe, Faust, Erster Teil, Nacht, Wagner Szene, Zeile 55; Schiller, Maria Stuart, Akt I, Szene 7. 87 Siehe Stolleis, insbesondere über Christian Garve (1742-1898). Wir könnten hier einen utilitaristischen Ersatz für die Gottheit und einen Vorläufer der Mehrheitsherrschaft in der Demokratie sehen. Siehe oben §§ 33, 34. 88 Siehe z. B. Eckhoff 74; und allgemein Friedrich 198; Casper; Rosenblum. GD Jhering 187. 70 Oben § 25. Siehe auch Stone Irr 607. 11 Siehe Hazard und Shapiro 3. Siehe auch Vyshinsky 38: "Recht ist keine ,rätselhafte Form', sondern eine lebende Wirklichkeit, die das Wesen der sozialen Beziehungen zwischen Klassen ausdrückt." Siehe oben § 7 Anm. 19. 72 Siehe z. B. Batt; auch oben §§ 57, 123. Di Robilant begnügt sich damit, die "Ideologie" von der "Theorie" der Gerechtigkeit zu unterscheiden. 7a Diese Analogie wurde von Peter Sand in einer unserer vielen Korrespondenzen über kontroverse Teile dieses Buches vorgeschlagen. Siehe unten den Text bei Anm. 79-84.

§ 129

Instinkt

181

seine Nachfolger wieder den Begriff "Instinkt" in unsere Sprache ein74 . Er bezeichnet einen "außernatürlichen Faktor, der einer kausalen Erklärung weder zugänglich ist, noch ihrer bedarf und der nicht im Wege irgendeines Denkens erklärbar ist, wie wir es durch unsere eigene Erfahrung gewohnt sind. Somit bietet er eine außernatürliche PseudoErklärung für natürliche Vorgänge"75. In der Beschränkung auf eine Beschreibung solcher Vorgänge haben uns Konrad Lorenz, der Begründer der Ethologie, und seine Mitarbeiter die Anwendung ihrer Wissenschaft vom tierischen Verhalten auf Menschen angeboten. Auf diese Weise haben sie sowohl die ausschließliche Befassung der Soziologen mit sozialem Verhalten als auch die Zentralvorstellung der Gestalttheoretiker von einem alles durchdringenden "Ganzen" durch eine Synthese von teils individuellen und teils sozialen, teils anerzogenen und teils angeborenen Bausteinen der menschlichen Schicksalsbestimmung ersetzt78 • Nietzsche beginnt seine "Fröhliche Wissenschaft" für die "Lehrer vom Zwecke des Daseins" so: " ... Ich finde sie immer bei einer Aufgabe, ... das zu tun, was der Erhaltung der menschlichen Gattung frommt 77 ." In der Tat ist unser Drang, die Rasse durch Essen, Vermehren und Kämpfen (Aggression) zu erhalten, kaum jemals in Frage gestellt worden. Und Aristoteles' "zoon politikon" ist daneben wohl auch mit dem Bedürfnis nach Gemeinsamkeit und Zuneigung geboren78 • Aber die bittere Gegnerschaft, die wir in der Philosophie vom Menschen beobachtet haben, ist nicht am Studium der Instinkte vorbeigegangen, die dem Menschen und seinem Bruder, dem Tier, gemein sind 79 • 74 Cicero hat diesen Ausdruck zuvor benutzt. Ebenso Tacitus. War er Ulpians jus naturale verwandt, diesem Mensch und Bestie gemeinsamen Verhalten, das die sexuelle Verbindung, Fortpflanzung und Erziehung einbezieht? Dig. 1,1,1,3. 75 Konrad Lorenz (b. 1903) 126. 78 Siehe z. B. Lorenz 114-117. Für psychoanalytische Anerkennung von Lorenz' Lehre, siehe z. B. Erikson 425. Vgl. auch Hass 56-57, 188-189 für eine Beschreibung des Fortschrittes vom "Instinkt", von der "Imagination", von der "Abstraktion", die auch noch mit Tieren geteilt wird, zur "Intelligenz", von der es heißt, sie sei "offenbar" (?) dem Menschen eigentümlich. über den Pfarrer Reimarus (1760) als Vorgänger der Verhaltensforschung, vgl. Wickler

17-21.

77 Nietzsche 11 551 (Fröhliche Wissenschaft I, 1). Zur psychoanalytischen Gleichstellung von Aggression und Selbsterhaltungsdrang, siehe Money-Kyrle, Man 154-155. Aber vgl. auch Lorenz, Weltbild 22, der betont, daß Instinkte auch ohne Bezug auf ihre Zweckmäßigkeit bestehen. 78 Eibl-Eibesfeldt Kap. 4, 7 unter Berufung, neben anderen Beweisen, auf solch symbolisches Tierverhalten wie Geschenke (128), gegenseitiges Reinigen (132), phYSischen Kontakt überhaupt (140), Küssen im Besonderen (131, 156), Grußgesten (193-220) und vor allem das überall anzutreffende Lädleln (196), das auch bei einem stummen und blinden Kind beobachtet werden kann (21). Siehe auch unten Anm. 87. Novalis, Fragm. I 489: "Instinkt ist Kunst ohne Absidlt".

182

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 129

Wenn die "Vitalisten" in der rassenerhaltenden Zweckmäßigkeit tierischen Verhaltens ein "Wunder ... einen übernatürlichen Faktor der Entelechie" sahen, so haben sie - wie Nietzsche - die Wirklichkeit in derselben Weise wie die Anhänger des Naturrechts mit einem Mythos ausgestattet. Und wenn die "Mechanisten" den Instinkt als einen bloßen "Reflex" ansahen, so nahmen sie damit die Resignation und Frustration des Rechtspositivismus vorweg. Obwohl weder die Vitalisten noch die Mechanisten jemals die Existenz von Instinkten und deren überall vorhandenen Einfluß auf das Verhalten von Mensch und Tier verneint haben oder verneinen konnten, so hat doch im Jahre 1968 eine Gruppe hervorragender Wissenschaftler das Lebenswerk von Konrad Lorenz, des großen Erforschers von Instinkt und Verhalten, als "Schreibtischanthropologie des 19. J ahrhunderts"BO beiseitegeschoben81 • Man muß wohl annehmen, daß solche Angriffe für notwendig gehalten wurden, um eine erhabene Menschheit von dem "Stigma" zu befreien, die Aggressivinstinkte mit dem niedrigen Tier zu teilen. Dasselbe Motiv scheint Versuchen zugrunde zu liegen, unseren "primitiven", bloß "organischen" Instinkten andere und höhere "gutartige" Triebe hinzuzufügenB2 . Von solchen kindlichen und kindischen Wunschträumen müssen wir aber jene ernsthaften Bemühungen unterscheiden, die das Verhältnis der Aggression zu ihrem Gegenspieler zu verstehen trachten, dem sozialen Bedürfnis des Menschen in dem ewigen Wettkampf zwischen Eros und Thanatos. 71

Siehe Lorenz 128; Hass, Kap. 4. Vgl. auch Lorenz, Studies XIII 250-254,

299-315.

80 Montagu in Montagu 13. Der Ethologie ist auch vorgeworfen worden, sie rechtfertige ein Regime der Gewalt und der Aggression. Plack. über ähnliche und ähnlich fehlgehende Kritik der positivistischen Rechtsphilosophie, siehe oben § 24 Anm. 28. 81 Das Werk von Ardrey, eines von Lorenz' ethologischen Nachfolgern, ist als "gutes Theater und drittklassige Wissenschaftsreportage" lächerlich gemacht worden. Seott, in Montagu 55. Vieles in der Montagu-Sammlung ist mit Recht als "erstaunlich schlecht" verworfen worden. Meynell 306. Ein anderer Kritiker ließ sich dazu herab zu versichern, daß Ardreys "Kompetenz und beruflicher Hintergrund daraus bestehe, daß er einmal in einer der Schaubuden auf der Chikagoer Weltausstellung im Jahre 1930 gelesen habe". Holloway. Ernstere und würdigere Kritik einiger Ansichten Ardreys findet man bei Eibl-Eibesfeldt 78. Vgl. auch Lorenz, Studies XIV über Ardrey und D. Morris. 81 Davitt 7-17. Siehe auch Seott in Montagu 55. Aber siehe schon 1920, Rivers Kap. VI. Die Psychoanalyse hat man mit ähnlichen Mitteln angegriffen. Siehe unten § 131. Kein Wunder, daß ein führender deutscher Lehrer noch im Jahre 1970 sich verpflichtet fühlte, diese Wissenschaft gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie erniedrige den Menschen zu einem "bloß instinktiven" Wesen. Mitscherlich, Versuch 153-155. Ironischerweise hat fast 200 Jahre früher ein junger Dichter es "sonderbar" gefunden, "daß nicht längst die Assoziation von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und ihre gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat". Novalis (1772-1801), Fragm. I Nr. 598.

§ 129

Instinkt

183

Hume war der Auffassung, daß der Mensch seine "künstliche Tugend der Pflicht als anerzogenes Produkt der Zivilisation" erlernt habe B3 . Das mag wohl so sein. Aber ebenso wie manche Ästhetiker einen angeborenen Instinkt des Schönen anerkannt haben, haben manche Rechtsphilosophen von einem angeborenen Instinkt der Gerechtigkeit gesprochen, der bei Menschen und Tieren mit anderen Instinkten das Ziel gemeinsam habe, "das Leben der Rasse zu erhalten"84. Diese Auffassung wird stark von der ethologischen Forschung unterstützt. Die erzwungene und freiwillige Unterwerfung vieler Tiere unter "höhere" Autorität kann wahrscheinlich als die erste Stufe der Anerkennung einer als "rechtmäßig" empfundenen Rangordnung und damit als Ursprung unseres Sinnes für Gerechtigkeit angesehen werden, denn diese Empfindung enthält sowohl Elemente instinktiver Aggressivität als auch der Furcht und gesteht "jedem das Seinige ZU"S5. Auf jeden Fall kann das, was die Scholastiker, die Ethologen und die Rechtsphilosophen den - angeborenen oder anerzogenen - Sinn für Gerechtigkeit genannt haben, bei unseren täglichen Beobachtungen als tatsächlich vorhanden erkannt werden. Waddington hat vom Standpunkt seiner "evolutionären Ethik"B8 einen höchst wertvollen Beitrag zu diesen Beobachtungen geleistet. Aber sein allgegenwärtiger Optimismus hat ihn wohl zu einer überbetonung der konstruktiven Rolle anerzogener Elemente bewogen. Selbst Eibl-Eibesfeldt, der diese Elemente ebenso wie die Aggressionslust (§ 178) als angeboren ansieht, erwartet wohl zuviel von einer progressiven "Besserung" der Menschheit im Wege weiterer Verlagerung der Triebe von Aggression und nachbarlicher Liebe 87 • Die Psychoanalyse sollte fähig sein, zu dieser 83 Hume, Buch III, Teil II, Abschnitt I. Siehe auch ders., Morals, Abschnitt II, Teil II. 84 Lundstedt 45. Siehe oben § 57. Für psychoanalytische Unterstützung, siehe Money-Kyrle, Man 123. über den Sinn für das Schöne, siehe unten §§ 140, 141. Die Geschichte des "Unbewußten" wird schon 1867 von Eduard v. Hartmann von Leibniz (15), Hume (17-18), Kant (18), Schelling (21-22) bis zu Herbart (27) verfolgt. 85 Lorenz, Er 51-52, 115-128. Siehe auch Eibl-Eibesfeldt 101, 103, 105, 191, Kap. 6; Wickler 65-66. Diese Theorie führt uns zurück zu dem Werk von Schjelderup-Ebbe im Jahre 1923. Siehe Niesen 21. In diesem Sinn würde das erste "Gute" und "Böse" äquvalent zu "stark" und "schwach" gewesen sein. Ders. 26. über Bergsons "guter Junge" Theorie, siehe Waddington 163; Russell 793. Ardrey, das bevorzugte Ziel der Anti-Ethologen (oben Anm. 81), nannte sein Buch den "Territorialen Imperativ". Es scheint bezeichnend, daß die Rechtsgeschichte das Wort "Territorium" vom Lateinischen "terrere" - den Angreifer abschrecken - abgeleitet hat. Wenger, Institutes 39 Anm. 32. Siehe auch unten § 171 Anm. 70; § 179 Anm. 19; und, in anderem Zusammenhang, auch Mitscherlich Weg 416; Meynell; Jorgensen, Law 101, passim; Storr 4. Kap. 88 Waddington 24, 162. Siehe auch unten §§ 164 Anm. 33, 171 Anm. 70; und im allgemeinen Carthy und Ebbing. 81 Eibl-Eibesfeldt 89, 110-111, Kap. 3, der unter den gutartigen angebo-

184.

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 130

Diskussion neue Gesichtspunkte beizutragen. Freud war sich freilich über die Zwiespältigkeit von "Vererbung" als biologischem Begriff im klaren. Ja, er ließ die Frage offen, ob "es beim Menschen ererbte psychische Bildungen, etwas dem Instinkt der Tiere Analoges gibt"88. Und Parsons neigt dazu, Freuds Zweifel zu teilen8U . Aber dies mag sein wie es wolle: die weitere Untersuchung von Bejahung oder Ablehnung von Instinkten in der Ästhetik und Ethik sollte uns näher an eine der Quellen der großen Bitternis zwischen den Philosophen der Gerechtigkeit bringen (§§ 142, 147, 150-159). Bevor wir uns dieser Untersuchung zuwenden, müssen wir der von allzu leichten Kompromissen gespannten Fallstricke gewahr werden. 3. Vergebliche Kompromisse

§ 130. Gerechtigkeit, oder wie wir zu sagen vorziehen werden, die einzelnen Gerechtheiten, können nicht als absolute Begriffe definiert werden. Noch können wir diese Gerechtheiten mit der Elle scheinbar objektiver Maßstäbe - wie Gleichheit, Vernunft oder Politik - messen. Wir kommen zu der Schlußfolgerung, so unerfreulich sie vielen erscheinen mag, daß wir "eigenlich nur aufgrund unserer eigenen Gefühle loben oder tadeln"uo. Um den resignierten Rückzug auf einen so undefinierbaren und damit wenig beruhigenden "Instinkt" zu vermeirenen Trieben solche wie das Mitleid findet (Kap. 4, 7), die sogar die "altruistische" Selbstaufopferung (76) einbeziehen, und solche Ausdrücke der Geselligkeit und Liebe, die sich für die Erhaltung der Rasse als vorteilhaft erwiesen haben (oben Anm. 78), im primären Vertrauen auf die Brutpflege der Eltern (16), als auch auf die Gegenaggression durch Gruppen innerhalb der Art. Zum letzteren siehe z. B. Lorenz, Böse 327 ("Es gibt keine Liebe ohne Aggression"; auch ders. 145; Eibl-Eibesfeldt 187-190). Siehe auch z. B. Geiger 67-71; Weigel; Hass, Kap. 16, 18; Lepp 106--115; Du Chardin, Phenomenon ("evolutionärer Instinkt"). Mit einigen Vorbehalten teilt anscheinend der Psychoanalytiker Money-Kyrle (Man, Kap. II, III) diesen Optimismus. Und Freud bemerkte 1926 in einem bewegenden Brief an Romain Roland, daß er an der "Menschenliebe" hänge, weil sie "für die Erhaltung der Menschenart ... unerläßlich" sei. Briefe 1873-1939 (1960) 361. Siehe Mitscherlich, Versuch 91; auch Beres, Menschlichkeit. Wenn Eibl-Eibesfeldt 177 seine Brutpflege (146--148) im Gegensatz zu Freuds bloß "sexuellen" Verhältnissen stellt, mißinterpretiert er, wie ich meine, Freuds breite Auffassung dieses Begriffes, der sehr wohl Eibls eigenes Konzept von "Liebe" einschließen mag. Siehe auch unten § 133 anm. 28. 88 Freud, Das Unbewusste, GesSchr V, 480, 510. Siehe auch Dobzhansky 11-14, 26--54; Ricoeur 122-123. Viel Verwirrung ist dadurch verursacht worden, daß es unmöglich ist, Freuds "Trieb" sinnvoll zu übersetzen, der sowohl angeborene wie anerzogene Bedürfnisse umfaßt. Beres, Menschlichkeit 423, 427, 429; Heinz Hartmann, Comments; ebenso Erikson, Gandhi 427; Sterba. Vergote 52 Schlägt den Neologismus "pulsion" vor. Dieses Wort wäre auch der englischen und deutschen Fachsprache dienlich. SB Parsons Kap. XII. Siehe oben § 52. 90 Ayer 112. Siehe auch denselben, Revolution 78; Friedmann 270-273; Wittgenstein 6; G. Williams, Language § 9; Stone and Tarello; Semanties.

§ 130

Kompromiß

185

den, haben manche versucht, Restbestände von Absolutem und Verifizierbarem durch subtile Unterscheidungen zu retten. So hat man vorgeschlagen, wir sollten Gewißheiten wenigstens für bestimmte Bereiche und Erkenntnisüberzeugungen aufrechterhalten91 • In der Tat könnten solche überzeugungen für eine bestimmte Person oder Gruppe zu einer bestimmten Zeit nachweisbar sein. In dieser objektiven Nachweisbarkeit aber wirken sie nur als "Daten" in der Formung der subjektiven, emotionalen überzeugungen solcher Personen oder Gruppen. Ein juristisches Beispiel mag diese anscheinend komplexe Behauptung verdeutlichen. Gehen wir davon aus, daß nur ein wenigstens fahrlässig handelnder Fahrer für einen Autounfall zur Verantwortung gezogen werden kann. Die Beurteilung der Frage, ob der Fahrer "fahrlässig" gehandelt hat, ist subjektiv-emotional und das Gericht oder die Richter werden sie gemäß ihren eigenen "moralischen" Forderungen an den "vernünftigen Menschen" vornehmen. Wir wollen ferner davon ausgehen, daß der Unfall auf der Verletzung einer Vorschrift beruhte, die das Fahren auf der rechten Fahrbahnseite vorschreibt. Hier steht der die Rechtslage Untersuchende dieser Verletzung als einem objektiven, erkennbaren "datum" gegenüber. Aber dieses Datum ist lediglich als ein Element des subjektiv-emotionalen Vorganges der wertenden Beurteilung der Fahrlässigkeit erheblich92 • Ähnlich ist es, wenn wir in dem Wunsch, im täglichen Leben eine "gerechte" Entscheidung zu treffen, neben vielen anderen Gegebenheiten oder "Daten" auch solche objektiven, erkennbaren Tatsachen berücksichtigen wie Gewohnheiten und Überzeugungen9S • Aber unsere Entscheidung wird dennoch "im Licht unserer eigenen Gefühle", "zwischen widerstreitenden Voraussetzungen" getroffen und ist selbst niemals objektiv-erkennbar richtig oder falschl4 • Sogar eine solche linguistische Analyse eines mißlichen Kompromisses kann natürlich nicht "neutral"'5 sein. Weder die Sprachwissenschaft noch die Logik können uns hier helfen, dem Turm zu Babel zu entkommenD8 • Weder Positivisten, noch Naturrechtler, noch Realisten können der Schlußfolgerung entgehen, daß Gerechtigkeit, obwohl sie nicht als objektiv-erkennbare Tatsache "existiert", irgendwie das FunktioSiehe z. B. Stevenson 14. Ehrenzweig, NutsheU § 2. 83 Waddington 38. U Probert, passim. 85 Lenk, passim. Siehe auch oben § 9 Anm. 37. 88 Siehe z. B. Patterson, Logic; Klug; Tammelo, Outlines; Von Wright; Kalinowski; Ross, Directives; H. Wagner; Cowan 14-15. Gegen die symbolische Logik als ein Werkzeug der Rechtsphilosophie, TroUer § 5 1/2. Er betont die Tatsache, daß Symbole niemals klarer sein können als die Worte, die sie symbolisieren. 81

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 131

nieren des Rechts beeinflußt. Jenseits von Metaphysik, Sprachwissenschaft und Logik verbleibt ein objektiv-erkennbarer Test unseres Sinnes für Gerechtigkeit bei allen subjektiv-emotionalen Reaktionen. Diese Reaktionen sind die wesentlichen Objekte "psychosophischer" Forschung (§§ 168-174). Wenn wir erst einmal den heftigen Widerstand, der dieser Forschung beständig im Wege steht, verstanden und überwunden haben, dann sind wir endlich den tiefsten Wurzeln des bitteren Streites nähergekommen. 4. Widerstand

§ 131. Wir werden auf die generelle Abneigung der Philosophen gegen die Psychologie noch zurückkommen (§ 133). Diese Haltung wird offensichtlich noch immer von vielen Rechtsphilosophen geteilt. W ohI haben sich psychologische Studien mit einzelnen Rechtsproblemen auseinandergesetzt, so mit den Gründen und Folgen der Scheidung, dem Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Management und in erster Linie dem Wesen von Verbrechen und Strafe (§§ 176-201). Aber selbst die meisten jener Arbeiten, die eine "Psychoanalyse der Rechtswissenschaft" zu liefern vorgeben, sind über solche Einzelstudien nicht hinausgekommeno7 • Und die subtile Untersuchung von Ricoeur (1970) über Freud und die Philosophie berührt rechtswissenschaftliche Probleme nur am Rande. Umgekehrt haben sich bis heute die "Rechts"philosophie, so gut wie die "Rechts"soziologie, "Rechts"anthropologie und die politische Wissenschaft von der Erforschung der Psychologie von Recht und Gerechtigkeit ferngehalten und haben sich so ihren alten Spielplatz für Semantik und Emotion zu erhalten verstanden.

Die Rechtsphilosophen haben ihren Widerstand gegen die neue Wissenschaft in verschiedenster Weise zum Ausdruck gebracht. Manche haben die Freud'sche Lehre selbstzufrieden als umstritten abgetan. Andere haben sie mit offenbarer Aggression als "Absurditätensammlung" oder als protestantischer Ethik fremd zurückgewiesen, sie in Karikaturen lächerlich gemacht oder höhnisch einer "säkularisierten Form der Sektenweihe" verglicheno8 • Und noch andere haben sich respektvoll dafür entschieden, sie dadurch zu umgehen, daß sie ihr eigenes Interesse auf verifizierbare Bewußtseinsphänomene beschränkten". Aber Psychoanalyse ist auch mit völlig irrelevanten Argumenten Siehe z. B. J. Goldstein, passim. In der Folge des Textes: Hall 468-471; Fine 164; La Piere; Meachem; Davitt 70. Leonard Kaplan, passim, nimmt eine vorsichtige, vermittelnde Position ein. 89 Siehe z. B. Troller 216. Aber wir können auch unbewußte Assoziationen verifizieren, indem wir sie im Wege der Selbst- oder Drittanalyse bewußt machen. 87

18

§ 131

Widerstand

187

von Existentialisten und anderen "Anti-Psychologen" angegriffen1oo , irrigerweise als selbstverneinender Pessimismus101 abgelehnt oder in einfältiger Unkenntnis als Odipus-"Sadismus" verworfen worden102 . Eine billige, popularisierte sogenannte "Logotherapie" geheiligten "Sinnes" meint, sie weit hinter sich gelassen zu haben103 , während andere sich ahnungslos damit begnügen, ihr jeden "bestimmten Inhalt" abzusprechen104 . Am wirkungsvollsten aber ist der Widerstand jener, die sich entschlossen haben, die Psychoanalyse zu ignorieren105 . In der Tat haben einige Rechtsphilosophen mit entwaffnender Ignoranz es möglich gefunden, sie als "phallische" LiteraturlOG oder als eine "mushroom science"107 abzutun oder, kaum glaublich, als "das letzte Aufflackern einer Denkart, die dem 19. Jahrhundert eigen war und jedes Ergebnisses vom philosophischen Standpunkt aus entbehrt"loB. Schon eher verständlich als solche offensichtlich polemischen niaiseries ist das politische Mißtrauen der Marxisten109, die mythische Zurückhaltung der Existentialisten (§ 41) oder der Argwohn der Traditionalisten gegenüber aller Psychologie als "Weichmacher" der gesell100 Siehe z. B. Jaspers 20--27; ebenso Becker, GrundformeIn 125; Neumann; Richard; Redlich. Einige Gestalttheoretiker haben sich dazu berufen gesehen, jede moderne Psychologie als "atomistisch" zu verwerfen. Schewe 97 ff. Siehe auch oben Anm. 82. 101 Bodenheimer, Case. Siehe auch Prott 540. Aber siehe N. O. Brown, Life 8I. 102 Gorer 33. 101 Frankl 103. Siehe auch unten § 133 Anm. 26. 104 Nagel 41. 105 Siehe z. B. Cowan 22; Marcic 83; Horvath, passim; Brecht, passim. Ewing 95-97 schiebt die Psychoanalyse zwar großzügiger, aber gleich gründlich deshalb beiseite, weil sie nur einen Teil der menschlichen Entwicklung beschreibe. Ein zweibändiges, 1968 erschienenes Symposium über die Lehren der Wiener Schule (Kelsen, Merkl, Verdross) enthält nur einen diesbezüglichen Artikel, einen fünfseitigen Essay über den "Begriff des Staates und die Psychoanalyse" - von Kelsen (1927!). Wiener Schule 209-214. Ein führendes italienisches Buch verweist die gesamte Psychologie in eine Fußnote über Cahn. Frosini 47 Anm. 19. 108 Ogden 49 Anm. 107 Morris Cohen 85. 108 Bocheiiski 26. Sogar für einen führenden Philosophen sind "Freudsche Ideologien" nichts als ein Teil des sterbenden "Alpdrucks auf dem Leben des Geistes und des Intellekts". Voegelin I, S. XII. "Sonderbar, daß das Innere des Menschen bisher nur so dürftig betrachtet und so geistlos behandelt worden ist. Die sogenannte Psychologie gehört auch zu den Larven, die die Stellen im Heiligtum eingenommen haben, wo echte Götterbilder stehen sollten." Novalis, Fragm. I 455. So ein Dichter des 18. Jahrhunderts!. IOD Siehe z. B. Winn. Siehe auch oben § 7. Für eine Pavlovsche Attacke, vgl. H. K. Wells. über Marcuses seltsame Ambivalenz, vgl. Steigerwald, Herbert Marcuses ..Dritter Weg" (1969).

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 131

schaftlichen Grundhaltung gegenüber dem Verbrechen llO • Am legitimsten erscheint zumindest auf den ersten Blick die oft genannte Abneigung gegen den - wie viele sagen - quasi religiösen Abwehrmechanismus der Psychoanalyse. Es ist ganz richtig, daß die Psychoanalyse oftmals "eine abweichende Meinung oder Skepsis" als einen Widerstand, der "von der Theorie selbst erklärt" werden muß, ansieht111 , etwa ebenso, meint man, wie das katholische Dogma den Zweifel als Sünde verdammt. Aber es ist mehr als diese Abneigung erforderlich, um die Theorie der Psychoanalyse zu widerlegen, mehr auch, als die weit verbreiteten Zweifel am praktischen Erfolg der Pionier-Methoden und Mißerfolge der Freud'schen oder auch der nach-Freud'schen Therapie. Es ist wohl keinesfalls zu rechtfertigen, daß noch heute psychologische Probleme auch in hervorragenden Arbeiten über Gerechtigkeit nicht einmal erwähnt werden11l• Im Jahre 1969 berichtete die New York Times, daß Paul VI. Freud öffentlich als gefährlichen Demagogen gebrandmarkt habe11S • Wir müssen wohl bei der Erinnerung an die Tatsache Trost suchen, daß die Inquisition im Jahre 1633 die Entdeckungen des Kopernikus als Häresie verdammt und daß noch in unserem Jahrhundert ein amerikanisches Gericht den Darwinismus als "Brutoelogie" zurückgewiesen hat114 • Heute haben die Menschen wieder ein Tabu errichtet, um eine gefährdete Illusion vor den Entdeckungen einer neuen Ära zu retten. Aber bevor wir darangehen, dieses Tabu zu überwinden115 , werden wir versuchen einzuschätzen, was eine solche überwindung für einige der wichtigsten Gebiete des Rechts und anderer Disziplinen versprechen könnte. 110 Keller 202-203. über diesen Abwehrmechanismus, siehe allgemein unten §§ 185, 189. 111 Holloway 97. über eine Bemühung diesem Argument entgegenzutreten, siehe Money-Kyrle, Man 18. U! Dies gilt auch für Bodenheimer, Felix Cohen, DeI Vecchio, Fuller, Hart, Maritain, Perelman, Rawls und Stone; solche Symposien wie Nomos VI; und Hooks und Summers' Anthologien. Siehe HoIIitscher 82-86. ua New York Times, 2. Okt. 1969, S. 23: Der Papst indentifizierte hier zum ersten Mal, wenn auch nur in Parenthese, unter seinen intellektuellen Feinden Sigmund Freud, den Begründer der modernen Psychoanalyse. Es wird ferner berichtet, daß der Papst im Bulletin des Vatikan in diesem Zusammenhang dahin zitiert wurde, daß er Freud namentlich beschuldigt habe, "den Weg zu einer als Freiheit verkleideten Lizenz, zu einer als Befreiung von konventionellen Skrupeln verkleideten Abirrung des Instinks" geöffnet habe. Vgl. hierzu die Feststellung eines katholischen Historikers, daß Freud "manche der vom Christentum gebotenen Möglichkeiten zur vollen Entfaltung gebracht habe". Entralgo 131. 114 Siehe oben § 121. Erst im Jahre 1950 billigte die Kirche offiziell die Lehre Darwins. Enzyklika Humani Generis. m Als mutigen Versuch, die "schicksalhafte Antipathie" gegenüber der Psychoanalyse in Deutschland zu erklären, siehe Mitscherlich, Versuch 12, passim; oben Anm. 82.

§ 132

Die neue Ara im Recht

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B. Die neue Ära 1. Recht

§ 132. Strafrecht und Deliktsrecht. Ich werde später versuchen, den psychologischen Ursprung und die Funktionen der nicht endenwollenden Diskussion um die zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit nachzuzeichnen (§§ 183-218). So werde ich mich um eine Erklärung dafür bemühen, warum das Recht noch immer an dem Vorwurf der "Fahrlässigkeit" als einer unverzichtbaren Voraussetzung für zivilrechtliche Verantwortlichkeit selbst für technisierte Vorgänge festhält, obwohl wir doch längst wissen, daß unvermeidliche Risiken eine Verteilung des Schadens unabhängig vom Verschulden erfordern. Im Hinblick auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit werde ich versuchen, einige Gründe für unsere fruchtlosen Vermittlungsversuche zwischen Juristen und Psychiatern und zwischen dem Ruf nach General- und Spezialprävention einerseits und nach Heilung des Verbrechers andererseits aufzuzeigen. Ist es nicht augenscheinlich, daß die infantile Gesellschaft niemals ganz auf ihre Befriedigung durch Vergeltung verzichten kann, mit geringer Beachtung dessen, was ihr Juristen und Psychiater über die Beweggründe und die Strafwürdigkeit des Angeklagten zu sagen haben? Zum Abschluß soll ein kurzer Blick auf die Implikationen dienen, die vielleicht ein psychologisches Verständnis gesellschaftlicher Reaktionen für die Reform des Verfahrens sowohl in Zivil- wie in Strafsachen haben könnte (§§ 219-227). Bevor ich zu diesen zentralen Problemen zurückkehre, soll an einigen wenigen zusätzlichen Beispielen gezeigt werden, daß kaum ein Gebiet des Privatrechts den Folgen der neuen Fragestellung entgehen kann.

Vertragsrecht. Es gibt wenigstens zwei Entwicklungstendenzen, die, aus psychologischen Gründen, den Bereich der klassischen Vertragsdogmatik zu beschränken drohen oder besser gesagt zu beschränken versprechen. Da ist an erster Stelle das zu nennen, was man die "Deliktisierung" durch die Betonung admonitorischer Sorgfaltspflichten genannt hat; sie führt zur Verschüttung so geheiligter Grundsätze wie Zustimmung, Annahme und "consideration"l (dieses Äquivalents der deutschen causa). An zweiter und entscheidender Stelle muß das genannt werden, was man nun lange als eine Rückentwicklung "vom Vertrag zum Status" erkannt hat!. Wenn der mittelalterliche dem Feudalismus entronnene Arbeiter darin, daß er in frei ausgehandeltem Vertrag seinen Lohn bestimmen durfte, eine Befreiung erblickte, so sieht Siehe z. B. Cowan; Dugan. Rehbinder, Status, 942, 947, 953, 955 sucht und findet mit überzeugendem Argument eine bessere Beschreibung dieser weberschen "Idealtypen" in der "Rollen"terminologie der modernen Soziologie. 1

!

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 132

sich sein Nachfolger als Arbeitnehmer, Mieter oder Versicherungsnehmer durch Adhäsionsverträge gefährdet, in denen er als "kleiner Mann" auf einer punktierten Linie sich auf vorgefertigten Formularverträgen mächtiger Unternehmer, der Feudalherren der Neuzeit, seiner Rechte begibt. Schon 1943 wurde uns nahegelegt, "die tiefgehenden Widersprüche in der Struktur unseres Vertragssystems zu erkennen, eine Erkenntnis, die bis dahin zu schmerzvoll gewesen sei, als daß man ihr hätte erlauben können, sich zur Ebene des vollen Bewußtseins zu erheben"'. Seitdem hat sich viel geändert und der Arbeitnehmer, der Mieter, der Versicherungsnehmer sucht Schutz vor seinen "Verträgen" in seinem vom Staat gesicherten Status. Das israelische Adhäsionsvertragsrecht (1964) bietet eine erste versuchsweise Lösung4. Aber unsere Ära beginnt ihrem Trauma mit Hilfe der neuen Psychologie bewußt die Stirne zu bieten. Eine wertvolle Studie über die Ambivalenz von Wohlfahrt-Gesetzen in ihrer Liebe und ihrem Haß für die Armen ist ein bezeichnendes Beispiel6 • Doch wir werden uns noch mit ähnlichen Traumata in so verschiedenartigen Gebieten wie denen des Scheidungs-, Kindersorge-, Arbeits-, Gesellschafts- 8 und Verfahrensrechts7 beschäftigen müssen.

Völkerrecht. Wenn sich das Privatrecht so lange psychologischer Forschung widersetzt hat, brauchen wir uns nicht zu wundern, daß das Völkerrecht, das dem Kampf zwischen Krieg und Frieden so innig verwoben ist, neuen schicksalhaften Einsichten und Folgerungen so hartnäckig widerstanden hat. "Friedensforschung" ist die Aufgabe eines Instituts für "Polemologie" geworden und ganze Anthologien beginnen dieser Frage gewidmet zu werden8 • Aber nur psychologische Unter3 Kessler, Adhesion 633. Vgl. auch z. B. Slawson; Lando; Ehrenzweig, Adhesion Contracts. • Siehe Hecht. Eine diesbezügliche Vorschrift im sowjetrussischen Zivilgesetzbuch ist als "nicht länger erforderlich" abgeschafft worden. Hazard 316317. Vgl. auch Henrich. 5 Diamond, Leviathan. • Siehe Schoenfeld, Childhood 148-150; Leonard Kaplan 782-785; J. Morris; Ellsworth und Levy. Ein 1969 erschienenes "philosophisches" Symposium über "Freiwillige Assoziationen" erwähnt nicht einmal die tiefgehenden psychologischen Probleme auf diesem Gebiet. Nomos XI (1969). über die Ethologie des Eigentumsrechtes, vgl. Wickler 140-141; oben § 125 Anm. 3538. TUnten §§ 172-175 8 Siehe z. B. Krippendorff. "Theorien" über das internationale Recht liegen außerhalb des Rahmens dieser Randbemerkungen. Vgl. die übersicht in Falk Kap. XV, insbesondere hinsichtlich einer kurzen Analyse von Myres McDougals "Policy Science". Von letzterer hat man gesagt, sie habe sowohl Kelsens Struktur (ders. 43, aber siehe oben §§ 22-25) als auch einen gleichermaßen "obsoleten" Impressionismus durch "wissenschaftliche Fragestellung" und "dynamische Orientierung" im Verhältnis zu "Macht und Autorität" ersetzt. Ders. 460-463. Aber McDougals absoluter Wert der "menschlichen Würde" erinnert uns an "naturrechtliche" und existentialistische Vorstellungen (oben

§ 132

Die neue Ära im Recht

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suchungen der "Irenologie", der Wissenschaft vom Frieden, können uns die ewige Drohung menschlicher Aggression bewußt machen9 • Wir werden uns freilich mit Freuds und Waelders tragischer Betonung der "nicht-diskutablen Fragen" bescheiden müssen, mit der schicksalsvollen Rolle von Selbsterhaltung und "kollektivem Narzißmus"lo, und mit dem Fluch der "nichtrealistischen Gewalt" 11. Aber vielleicht wird die neue Wissenschaft dadurch, daß sie diese irrationalen Triebe bewußt macht. uns dabei helfen, wenn auch nicht alle Verbrechen und alle Kriege, so doch manche zu verhindern. In diesem Sinn hat man uns die erschütternde Hypothese angeboten, daß die Rettung der Welt "von der Verbreitung eines glaubhaften Mythos außerirdischer Aggression abhängen" mag, die uns bei der Unterdrückung unserer eigenen helfen soll12.

KollisionsTecht. Das internationale Privatrecht ist natürlich viel weniger von emotionalen Konflikten beeinflußt als das Völker-, Straf-, Delikts-, Vertrags-, Scheidungs-, Arbeits- und Gesellschaftsrecht oder die Rechtsphilosophie. Aber sogar hier mögen gelegentlich bittere Wortschlachten tiefere Gefühle und Empfindlichkeiten verbergen, die vielleicht am besten auf psychologischer Ebene verstanden werden können. Der Autor macht lebenslange Beschäftigung mit diesem Fach als Entschuldigung dafür geltend, daß er es hier zur näheren Erforschung ausgewählt hat. Welches Recht muß angewendet werden, wenn der dem Gericht vorliegende Fall auswärtige Anknüpfungspunkte aufweist? Als die italienischen Stadtstaaten nach dem Zusammenbruch des allumfassenden römischen Reiches sich dieser Frage gegenübersahen, suchten sie die Antwort in den Wünschen des auswärtigen Souveräns hinsichtlich der extraterritorialen Anwendung seines "statutum". Die Auswahl des Fürsten, dessen Wünsche auf diese Weise zu beachten waren, erfolgte damals noch unter dem Einfluß einer Ideologie, die einem das Reich § 41), an Gültigkeitstheorien, die von einer "Konformität relevanter (?) Gemeinschaftserwartungen ausgehen wie sie durch autoritative Entscheidungsprozesse determiniert werden" (ders. 462) oder an Alf Ross' "positivistischen" Komprorniß (oben § 27 Anm. 60). Weitere Beispiele solcher Ambivalenz sind bei McDougal, Lasswell und Miller, passim, zu finden. Einen guten Überblick über die Debatte zwischen "Positivismus" und Naturrecht auf diesem Gebiet bringt Giraud. Vgl. auch Gould und Barkun. D Starke. Siehe Ehrenzweig, Stanford. 10 Waelder, Conflicts. Vielleicht war es das intuitive Wissen um diese nicht faßbaren Gewalten, das Hegel veranlaßte, die internationalen Beziehungen von seiner Forderung nach Recht und Ordnung auszunehmen. Zu diesem "Kreuz" in Hegels Lehre, siehe Marcic, Hegel 74--75. A. M. überzeugend Friedmann, 60 Calif. L. Rev. 1718 (1972). Zur "Vertragsfalle", siehe Beilenson. Zum Narzissmus vgl. auch Schumacher. 11 Casper, passim. 11 Falk 569. Unter den Religionen ist wohl der Buddhismus, für den das Friedensversprechen entscheidend ist, die wirksamste. Jayatilleke Kap. V.

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 132

überlebenden römischen "überrecht" Geltung zusprach. Trotz des schließlichen Absterbens dieser Ideologie ist der "Statutismus" Bestandteil aU unserer Theorien des KoUisionsrechts geblieben lS • Aber diese Theorien, ihrer Grundlage in der Wirklichkeit und der Zielsetzung beraubt, sind den Widrigkeiten eines irrationalen und wirklichkeitsfremden Kampfes in fünf Jahrhunderten ausgesetzt gewesen. Historiker wollen wissen, daß Coquilles Feindschaft gegenüber Dumoulin, dem lutherischen Statutisten, z. T. auf dessen Haß gegen Coquilles katholischen Onkel Bourgoin, zurückzuführen war l4 • Bezeichnender ist es, daß Dumoulins "klassischer" Kampf gegen d' Argentre als der zwischen einem Anhänger königlicher Vorrechte und einem Vertreter feudaler Unabhängigkeit verstanden worden ist1 6 • In unserer Zeit ist eine Art ambivalenten "Statutismus" in höchst dramatischer Weise von dem großen amerikanischen Richter Oliver WendeU Holmes repräsentiert worden. Er war es, der sich zu einem ganz und gar irrationalen Glauben an "höchste Prinzipien des Rechtsdenkens" bekannt hat, um seine Anerkennung der lex contractus als eines übergesetzlichen Prinzips zu rechtfertigen l6 • Dennoch gestand er gleichzeitig seine sehr rationale Geringachtung des "virtuosen Pillet" ein, der in Frankreich ähnlichen "Humbug" vertreten hatte 17 • Die Ambivalenz und Aggressivität, die ähnliche Angriffe in der gesamten Geschichte des internationalen Privatrechts provoziert haben, verlangen nach psychologischer Analyse. Sie mögen vor allem auf das andauernde Gefühlsbedürfnis zurückzuführen sein, wenigstens ein Sinnbild wohlwollender Eintracht und Stabilität unter der Pax Romana vor den ernüchternden Forderungen grausamer Realitäten in der nachrömischen Welt der Kämpfe und Völkerwanderungen zu retten. Deshalb mögen die italienischen Statutisten weiterhin auf einer nicht existierenden supranationalen Ordnung bestanden haben, die die territoriale Reichweite ihrer Statuten bestimmte. Der Holländer Huber folgte trotz der von den Niederlanden neu errungenen Unabhängigkeit weiterhin einem nicht existierenden supranationalen Rechtsbefehl, der "comitas" gegenüber dem fremden Souverän verlangte l8 • Der Deutsche Savigny postulierte ohne jede Unterstützung einer internationalen Ehrenzweig, Reeueil § 34. u Dupin 432. Wegen einer Analyse von Coquilles und Dumoulins Ansichten, siehe Gamillscheg 127-131. 15 Laine 344. Siehe auch GamiIlscheg 33, 73, 88, 93, 98. über die Auswirkung der Naturrechtsdoktrin auf diese Streitfrage, siehe Franeeseakis; allgemein Batiffol, Aspeets. 16 Mutal Lire Ins. Con. v. Liebing, 259 U. S. 209, 214 (1922). Siehe Ehrenzweig, Treatise § 4. 17 Holmes, Letters Bd. 2, S. 137-138. 18 Siehe Ehrenzweig, Private International Law §§ 21-23. Zu einer "sozialistischen" Neuformulierung dieser "Theorie" siehe Mädl 23-25. 18

§ 132

Die neue Ara im Recht

193

oder auch nur nationalen Regelung ein nicht existierendes supranationales Prinzip, das den "Sitz" jedes Rechtsverhältnisses bestimmte!9. Das American Law Institute, ähnlich zögernd, der Realität ins Auge zu schauen, setzte lange Zeit ein nicht existierendes supranationales System voraus, das das Land oder den Staat auswählte, in dem einzelne Rechte "wohlerworben" würden20 • Und die neueste amerikanische Lehre geht nunmehr unter dem Zwang, sich dieser Fiktion zu entledigen, von einem nicht existierenden supranationalen Schema aus, nach dem bestimmte Staaten apriori an bestimmten Fällen "interessiert" oder mit ihnen "befaßt" oder "verbunden" sind 2 !. Diese einigermaßen armseligen Anstrengungen, das Chaos in zwar wohlwollendes aber hilfloses Ordnungsgebaren zu zwingen, erinnern uns seltsam an die "Abstraktionen" moderner Kunst und damit zugleich an die gegenwärtige Flut von Rufen nach "abstrakter" Gerechtigkeit, die dem anarchischen "Nicht-Recht" unserer Zeit eine neue Richtung geben soll (§ 137, 138). All diese Konflikte sind nichts anderes als ein Teil der immerwährenden Spannung zwischen Illusion und Wirklichkeit, die die Rechtswissenschaft wie überhaupt alles menschliche Denken und Handeln durchzieht. Um zu diesem am wenigsten gefühlsbeladenen Tummelplatz des Rechts, der Arena des internationalen Privatrechts, zurückzukommen: Hier könnte eine abgestandene Diskussion von Jahrhunderten, verdeckt durch feierliche Bekenntnisse von Vernunft und Logik, eine neue Perspektive durch psychologische Deflation erhalten. Vertrauen in die absolute, verteilende Gerechtigkeit eines allwissenden und allmächtigen Vaters muß immer wieder enttäuscht werden durch die unversöhnliche Geschwister-Rivalität zwischen den Gerechtheiten der Gleichheit, Freiheit und Selbstbehauptung. Dem Respekt oder Widerwillen gegenüber den "wohlerworbenen" (vested) Rechten des Bruders und dem Beharren auf seine "wohlverdienten" (vested) Verpflichtungen ist stets entgegengewirkt worden durch die Furcht vor der Vergeltung und schuldbewußte "comitas", in peinlicher Wiederholung widersprüchlicher infantiler Forderungen nach Gleichheit, Schutz und Belohnung (§§ 164--166). Und sogar solche beredten, scheinbar "moralischen" Theoreme wie das vom selbstbeschränkten, "altruistischen" Interesse des Staates oder das von einer "Symmetrie" seiner und anderer Forderungen, sind immer von aggressiven Gegentrieben und anderen unversöhnlichen Tatsachen des Lebens aufgehoben worden2!. 11 Siehe Ehrenzweig, oben Anm. 18, S. 50; ders., Reeueil S. 45. Siehe auch De Nova § 6; oben § 35. 20 Siehe Ehrenzweig, oben Anm. 18, § 20; ders., Reeueil §§ 39, 44. 21 Siehe Ehrenzweig, oben Anm. 18, § 27; ders., Reeueil §§ 41--43; ders., Desperanto; ders., Nutshell § 8. 22 Siehe Ehrenzweig, Reeueil § X (Venture into the Unknown).

13 Ehre...." ..i,

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 133

Die Rückbesinnung auf bewußte und unbewußte eigene Rechtszwecke jedes Staates vor dem Hintergrund der internationalen Gemeinschaft würde in ihrer resignierten Illusionslosigkeit wahrscheinlich mehr zum gegenseitigen internationalen Respekt beitragen als hochtönende Bekenntnisse zu einer illusionären Einheit. So ist es denn, daß allzuoft der Schein von Recht und Gerechtigkeit sich in verstecktem Streit und Chaos offenbart. Vielleicht werden wir in ferner Zukunft unter dem Streit und Chaos die "verborgene Ordnung" finden, die Anton Ehrenzweig in seiner Analyse der unbewußten Schöpfung in der Kunst freigelegt hat (§ 148). Aber bevor wir uns so einer vollkommeneren Wirklichkeit nähern, müssen wir uns damit bescheiden, Illusionen als solche zu erkennen und zu zerstören. Die Aufgabe, das Recht in die Hauptströmung des Denkens dieses Jahrhunderts einzufügen, müssen wir späteren Generationen überlassen. Dieses Kapitel will lediglich versuchen, den Forderungen der neuen Ära nach einer Neueinschätzung des Hauptgegenstandes der vorliegenden Untersuchung zu entsprechen. Hier in der Debatte über die Bedeutung der Gerechtigkeit sprechen Juristen und Philosophen noch immer die Sprache des antiken Griechenland. Um aber diesen Versuch doch in die Perspektive einer allgemeinen Bemühung einzuordnen, muß ihm ein kurzer überblick über die Leistungen und Erkenntnisse der Psychologie in anderen Disziplinen vorausgehen. 2. Religion, Naturwissenschaft und Metaphysik

§ 133. Die Religion ist seit jeher ein bevorzugtes Objekt der Psychologie. Das psychoanalytische Interesse begann spätestens mit Freuds "Zukunft einer Illusion"!3. Umgekehrt sieht Jungs Mystizismus in der Religion die notwendige geistige Ergänzung jeder Psychologie!'. Besonders erwähnenswert sind auf der einen Seite Reverend Pfisters einzigartige, rührende Bemühung, Psychoanalyse und Religion zu versöhnen15 ; auf der anderen Seite Frankls ebenfalls einzigartiger, aber weniger bewundernswerter Versuch, die religiöse Abneigung gegen Freud mit pseudofreudschen und pseudoreligiösen Mitteln zu befördern28 • 23 Freud XXI. Siehe auch Rank (1884-1939); Sauty; Rank und Sachs 7384; Flugel 260-280; Jones III. Kap. 13; ders., Religion; Zilboorg, Religion; Ricoeur 531-551; Klauber. 24 Jung, Soul 135, 137, 140, 208. Siehe auch z. B. Hartshorne S. VI. 26 Pfister (1873-1949), Letters; ders., Sittlichkeit; ders., Weltanschauung.

Vgl. auch Krapf, der die parallelen Sendungen von Psychoanalyse und Religion betont. 21 Frankl., Pathologie. Siehe auch oben § 131 Anm. 103. Auf derselben Ebene wenn auch von anderer Seite, etwa Montagu 108, 138--144.

§ 133

Naturwissenschaft

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Auch die Naturwissenschaften sind von psychoanalytischer Neubewertung nicht verschont geblieben!7. Ja, es ist sogar so, daß der große Ethologe Konrad Lorenz (§ 129) erwartet, aus der Verbindung seiner Entdeckungen mit denen der Psychoanalyse werde der Beginn einer "Basalwissenschaft" hervorgehen28 • Unnötig zu erwähnen, daß Psychiatrie und Sozialarbeit ohne Psychoanalyse undenkbar geworden sind2'. Zweifelhaft ist jedoch geblieben, ob auch die Metaphysik an dieser Symbiose teilhaben wird. Kant sah für die Psychologie keinen Raum in der Philosophie, wo sie nicht auf rationalen Prinzipien beruhtSo. Freud selbst, in seiner unendlichen Bescheidenheit, sagte einmal, er habe sich "immer nur im Parterre und Souterrain des Gebäudes aufgehalten"St. Und seit der Zeit sind wir kaum vorangekommen. Ein überblick über die Entwicklungen in der Philosophie aus dem Jahre 1964 erwähnt die Psychoanalyse in zwei Sätzens2 • Eine 1968 erschienene Vorschau über die "Amerikanische Philosophie der Zukunft" ignoriert die neue Wissenschaft, ebenso wie gewisse übersichten über die amerikanische Vergangenheit dies tunS8 • Ein Buch, das vorgegebenermaßen ganz dem Verhältnis zwischen Philosophie und Psychoanalyse gewidmet ist, beschränkt sich auf einige oberflächliche linguistische übungen und einige noch oberflächlichere Buchbesprechungens.t. Ein anderes ähnliches Werk erschöpft sich in dem Mißbrauch psychoanalytischer Begriffe, um eine hochgradig heterogene, mystische Trinität dialektischer Interdependenz von Es, Ich und überich zu installierens5 . Und ein SymSiehe z. B. Anton Ehrenzweig I 238-254; und insbesondere Lorenz (oben zur Ethologie; Jones III. Kap. 10; Benjamin und Mirsky zur Biologie; und Jelliffe zur Medizin. Für eine kritische, aber unpsychologische Geschichte der Biologie, vgl. etwa auch Faucault. über das Verhältnis der Naturwissenschaften zum Recht, vgl. Stephanitz. Zur Ethik vgl. Roubiczek. 28 Lorenz, Weltbild 94. Er hofft, daß diese Wissenschaft imstande sein wird, jene Soziologie einzubeziehen, die - eine andere Tochter deduktiver Bemühung - noch immer geneigt ist, das induktive Studium der Natur zu vernachlässigen. Umgekehrt mag der ethologische Begriff eines "unbenannten Denkens" der Psychoanalyse einen neuen Schlüssel zum Unbewußten liefern. atto Koehler in Heinz Friedrich (Hrsg.) 116. Siehe auch oben § 129 Anm. 87. Vgl. auch wiederum Wickler, passim, mit Stig J0rgensen, Law and Society 101. 29 Siehe allgemein Ferenczi, Medicine; Katz, Goldstein und Derschowitz; Kenworthy. über den Widerstand gegen die Kriminalpsychiatrie, vgl. Moser, Elend. Im allgemein vgl. oben § 131. 30 Siehe Denker, passim; auch oben § 32. 31 Freud, Briefe 424 (an Binswanger). 32 Prosch 328. 13 Novak (Hrsg.). Vgl. den erstaunlichen Neudruck aus dem Jahre 1968 ~iner amerikanischen Philosophie von Heute und Morgen, die nicht einmal m Anspruch nehmen kann, ein Gestern geboten zu haben. Kallen und andere. Siehe z. B. auch Murphy und Murphy (Hrsg.); Melden, in Melden (Hrsg.) 27

§ 129)

1-19. 34

35

Wisdom 169-194, 270-281. Benoit Kap. 11.

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 134

posium über "Psychoanalyse, wissenschaftliche Methode und Philosophie" endet nur allzu kennzeichnend mit einer "wechselseitige Mißverständnisse" überschriebenen Zusammenfassung38 • Daß Jungs Kryptoanalyse mit ihrer Wiedereinführung einer "spirituellen" Philosophie wenig versprach, wird in den Werken jener seiner Anhänger deutlich, die in ihrer neuen "Philosophie der Psychoanalyse" den Schlüssel zur Persönlichkeit in den "Tendenzen des Verhaltens" sehen37 • Aber auch die Psychoanalytiker selbst haben nur wenig mehr zu bieten. Zwei frühe Studien beschäftigen sich mehr mit dem Philosophen als mit seinem Denken38 • Sogar innerhalb dieses engen Rahmens sind sie jedoch ohne Nachfolger geblieben. Money-Kyrles Symposium-Seiten sind trotz ihrer tantalisierenden Brillanz zu sparsam und Beres' Schrift beschränkt sich auf die Geschichte 3t1 • Es bleibt also viel zu tun. Natürlich wird man "von einem Einzelnen nicht erwarten dürfen, daß er einen Urwald fällt, und sich zufrieden geben müssen, wenn seine Axt da und dort eine Lichtung geschaffen hat, die einen freieren Ausblick ermöglicht"'o. Wir möchten aber meinen, daß die Psychoanalyse, unfähig und unwillig, des Menschen Griff nach einem unfruchtbaren Mond zu folgen, ihn auf dem Weg zu seiner schöpferischen Seele führen wird. 3. Sozialwissenschaften

§ 134. Allgemeines. Freud selbst hat öfter die praktische und theoretische Rätlichkeit der Anwendung seiner Entdeckungen auf soziale Phänomene bezweifelt. Er war nicht sicher, ob eine Sozialpsychologie die möglichen Konsequenzen biologischer Vererbung und dessen, was andere als nichtdeterminiertes, übertragenes "ozeanisches" Gefühl empfanden, würde einbeziehen könnenu. Hätten Freud und Max Weber des anderen Werk gekannt, hätte diese "intellektuelle Konfrontation, die eine der größten Möglichkeiten für unsere Zeit" in sich trug, vielleicht einige jener sozialen Einsichten hervorgebracht, die uns noch immer fehlen'2. Aber Freud würde ganz gewiß nicht damit übereinstimmen, daß seine "Psychologie des Individuums per se die Psychologie Crockett. Charles Baudouin, Kap. VIII, X. Siehe auch Jung, Soul 207, 235. 38 Winterstein; Rank und Sachs 113-120. 38 Money-Kyrle; Beres, Morality. Aber siehe auch Money-Kyrle, Man. 40 Winterstein 175. Mitscherlich hat nach den Gründen für die Stagnation psychoanalytischen Denkens gesucht. Versuch 126-129. Er beendet seine Studie mit der resignierten Feststellung, daß wir, wenn wir vorankommen wollen, riskieren müssen, "der Gorgo in Gestalt der menschlichen Geschichte zu trotzen". Ders. 173. 41 Freud XXI 64-66, 72. Siehe auch das., XXIII 116--122, wo Freud einen großen Teil der Veranlagung eher als "wiedererweckt" sieht als in jedem Kind "wiedergeboren". 42 S. Hughes 198. 38

37

§ 134

Sozialwissenschaft

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des genus" sei'3. Wir müssen vorsichtig sein, wenn immer wir versuchen, die Erkenntnisse der Individualpsychoanalyse auf die Sozialforschung zu übertragen". Die Gesellschaft wird von des Psychiaters Diwan verschont bleiben und wir werden weiterhin mit ihren Neurosen leben. Wir können nur "erwarten, daß jemand eines Tages das Wagnis einer solchen Pathologie der kulturellen Gemeinschaften unternehmen" - und möglicherweise wenigstens eine an den Symptomen orientierte Therapie ersinnen wird'5. Nach Kopernikus und Darwin fanden sich die anthropozentrischen Naturwissenschaften den Forderungen eines allozentrischen Universums und Miniversums gegenüber. Nach Freud hatten sich die egozentrischen Sozialwissenschaften den Forderungen eines allozentrischen Geistes zu stellen. Sie haben kaum begonnen, diese Herausforderung anzunehmen. Solche psychologischen Worte und Begriffe wie "Frustrierung, Schuld, Aggression, Angst, Repression, Projektion, Verdrängung, Wunscherfüllung, Verteidigungsmechanismen, Reaktionsformation, Übertragung und Unsicherheit ... sind so sehr Gemeineigentum der gegenwärtigen Sozialwissenschaften geworden, daß viele Forscher auf diesem Gebiet sich ihres Freudschen Ursprungs kaum mehr bewußt sind"46. Ob nun manche dieser Ausdrucke Freuds Werk vorangehen oder nicht41 : ihr Gebrauch in seinem Sinn ist jedenfalls in weitem Umfang Gemeineigentum geworden.

Die politische Wissenschaft schließt jetzt Lasswells amerikanische und Mitscherlichs europäische Beiträge ein und hat Psychoanalytiker wie Money-Kyrle und Waelder angezogen48. Erikson hat die Psychologie der Geschichte wiederbelebt", die man lange wegen ihres Schlafzustandes oder ihrer Korruption gescholten hatte 50 , und die eine Kampfstätte geblieben ist. Die heutige Anthropologie ist der neuen Wissenschaft entweder direkt oder indirekt verpflichtet. Hoebel, Kardiner, Malinowski, Mead, R6heim, Sapir und viele andere legen gegenüber 43 Marcuse 107. Vgl. aber auch Alexander und Margarete Mitscherlich; Fromm, Crisis 15-20, 117. 44 Freud XXI 139-145; Parsons, Structure; Blackshield 142, 173; Lorenzer; Mitscherlich, Ich; unten § 173. Hiermit wird die phänomenologische a prioriVoraussetzung eines "objektiven Geistes" negiert. Troller § 25, passim. Siehe oben § 41 Anm. 23-27. 4$ Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Schr. XII, 27, 113. 48 Ruitenbeek (Hrsg.) XVII-XXVIII. Siehe auch Rank und Sachs 33-72,

85-97.

Whyte, passim; Parsons, Superego; Wyss, Depth Psychology 97-105. Siehe die Bibliographie. Siehe auch Horkheimer; und allgemein Felix E. Oppenheim. 48 Erikson; ders., Luther; ders., Gandhi. Siehe auch Rieff, History. Jungs Einfluß erscheint deutlich in Toynbees gesamtem Lebenswerk. Siehe auch allgemein Gardiner; H. E. Bames. 50 Siehe z. B. Carr, History 184; Lessing; Henningsen. 47

48

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 134

einer abnehmenden Anzahl von Gegnern Zeugnis hierfür ab 51 • Unglücklicherweise haben die Forscher, die versucht haben, eine Brücke zwischen Anthropologie und Psychoanalyse zu bauen, bisher weitgehend versäumt, ihre rechtstheoretischen Implikationen herauszuarbeiten52 • Auf der anderen Seite sind solche Arbeiten, die dem Verhältnis zwischen Anthropologie und Philosophie gewidmet sind, entweder in ihren Akzenten existentialistisch58 oder völlig feindlich gegenüber der modernen Psychologieu . Die zeitgenössische Kriminologie wäre undenkbar ohne Rückgriff auf die Arbeiten von Psychoanalytikern wie Franz Alexander, Bromberg, Bernard Diamond, Flugei, Hacker, Menninger, Reik, Reiwald oder Zilboorg, um nur einige wenige zu nennen. Und was in unserem Zusammenhang das diffuse Spektrum der Soziologie betrifft, so müssen die brillanten Kombinationen von Freuds Lehre und praeter-Freudschen Entdeckungen durch Stewart Hughes und Talcott Parsons genannt werden56 , ebenso wie die Arbeiten von Männern wie Adorno, Ginsberg, Lasswell oder Riesman und mehrere wertvolle Anthologien58 • 51 Über Freuds Beitrag vgl. Jones III Kap. 11. Für eine Bibliographie siehe Nader. Siehe auch Max Müller Festschrift; Huber, Piron und Vergote 222. Ein Autor schreibt unbedenklich Freuds zentrales "Lustprinzip" der "grenzenlosen Gier" seiner neurotischen Patienten im bürgerlichen Wien zu. Gehlen 94. 6! Siehe z. B. Schoene; Wyss; NoH, Normativität; Lepanies und Nolte 86119. Vgl. auch im allg. Lampe; Bodenheimer, Anthropology. 53 Siehe z. B. Landsberg. Hengstenberg 39 besteht entgegen Freud darauf, daß Instinkte in ihrem Charakter zweckgerichtet sein müssen. Siehe oben § 129. Rothacker sieht die Aufgabe seiner Wissenschaft darin, die Distanz des Menschen vom Tier zu beweisen, da ja beim letzteren "alles dicht und unmittelbar am Körper haftet". Ders. 122. U Siehe z. B. Davitt. Die meisten Symposien geben sich als neutral. Nader (Hrsg.); Fallers. Siehe auch die Beiträge in der Max Müller Festschrift (1966), deren Interesse an diesem Thema auf einen, und zwar einen gegnerischen Beitrag beschränkt ist. (Dessauer). Zur Geschichte der Bezeichnung "Rechtsanthropologie", die bis 1754 zurückverfolgt werden kann, siehe Erik Wolf, Problem 136-137. Siehe auch Derrett, Ethnology, über Mazzarellas (18681958) anscheinend fast apokryphe "juridische Ethnologie" (vorwiegend Indien verpflichtet). Ein vor-psychologisches Werk über Vorgeschichte ist das von Pittioni. 61 Stuart Hughes; Parsons und Shils 52, 67; Parsons, Superego; ders., Oedipus. Siehe auch Bates; Nolte. Zu solchen frühen Vorläufern wie Eugen Huber (oben § 41 Anm. 27), siehe Kellermann 14-25. 68 Siehe Bibliographie; Adorno, Soziologie; Meng (Hrsg.); Ruitenbeek (Hrsg.); auch Burgess; Klaus Horn; Hollitscher 106-116; Hartmann, Sociology; Fromm, Crisis Kap. 3 (Marx). Aber siehe Treves und Van Loon 1-20, 280-282; Treves §§ 20, 21; Friedman und Macauley; Maeijer et a1.; Manfred Rehbinder; Hirsch und Rehbinder; Ernst Hirsch; Habermas; Schur; Selznik; Carbonnier; Terre; Ryffel 62-76; Hall und Lindzey 143; Naucke und Trappe (Hrsg.). Es ist wohl so, daß allgemein "der Beitrag der Psychoanalyse zur Sozialpsychologie in der Gegenwart ebenso unerwünscht [ist], wie es zu Anfang des Jahrhunderts die Theorie der Libidoentwicklung war". Mitscherlich, Versuch 32. Eine ausgezeichnete Summierung der Rechtssoziologie bietet Raiser. Vgl. auch Habermas und Luhmann.

§ 135

Sozialwissenschaft

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Aber bisher ist es wohl die Ästhetik gewesen, die der hier vorgeschlagenen Analyse am nächsten gekommen ist. Sie wird daher in näheren Einzelheiten nach einem kurzen Blick auf mögliche Einsichten der Volkswirtschaftslehre behandelt werden. § 135. Wirtschaftslehre. Die jahrhundertealte Diskussion über die "Theorien" der Volkswirtschaftslehre wartet noch immer auf psychologische überprufung51. Eine vorläufige, fraglos gewollt vereinfachte psychoanalytische Studie verspricht neue Aspekte der hochinteressanten Ähnlichkeiten mit der so farbenreichen und so ergebnis armen Geschichte der Rechtsphilosophie 58 • Auf der einen Seite hat man uns gezeigt, wie eine nominalistische ("positivistische") Ökonomie, wahrscheinlich unter dem Einfluß der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts51 , ihre Ethik den Metanormen der Theologie und Philosophie überlassen und ein "eng verwobenes System ökonomischer Gesetzmäßigkeiten unter logischer Ableitung von gewissen philosophischen und psychologischen Prämissen" wie Allwissenheit, Gleichgewicht und Rationalität aufgebaut hat. Auf der anderen Seite sind wir Physiokraten, Sozialisten, Nationalisten, Romantikern, Klassizisten, Historizisten und Institutionalisten begegnet, die den Wunschträumen ethischer Postulate - ähnlich denen des Naturrechts - nachhängen. Kein Wunder also, daß die Große Debatte unter den Ökonomen genauso bitter klingt wie jene zwischen den Rechtsphilosophen. Wir lesen von Verachtung einer "theoretischen Öde" und hören den wechselseitigen Vorwurf der Schuld an den "sozialen Gebrechen unserer Zivilisation". Wenn trotzdem "Allwissenheit", "Gleichgewicht" und "Rationalität" weiterhin in der ökonomischen Analyse verwendet werden, sollte es vielleicht deswegen geschehen, weil solche Ideen und Methoden wie in der Rechtsphilosophie "bestimmte psychologische Bedürfnisse befriedigen müssen": nämlich auf den Spuren eines überkommenen Symbolismus solche Ängste zu besänftigen, die durch unvermeidliche Konflikte und Ambivalenzen hervorgerufen werden? Vielleicht wird uns eine Analyse der Ästhetik den Antworten einiger dieser beunruhigenden Fragen näher bringen. G7 Siehe z. B. Schumpeter; Gemahlig (Hrsg.); Hutchison Kap. 1, 3; Snygg. Diese Debatte hat man eine "kuriose Mischung von Folklore und Tautologie" genannt. Cowan 17. 58 Weisskopf 3--4, 117-124, 131-157, mit den in diesem Abschnitt zitierten Stellungnahmen. Siehe auch Parsons, Essays Kap. IX; Schilder 310-331; Money-Kyrle, Man 164, 168 (über Laissez-faire und Marxismus). aa In der Ökonomie ist dieser Einfluß vorweggenommen worden durch die merkantilistischen Tendenzen des 17. Jahrhunderts, die in der Lehre vom Laissez faire des 18. und 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten. Siehe Sayag, der für eine neue Theorie der "Bedürfnisse" plädiert.

200

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 137

4. Ästhetik

a) Kunst

§ 136. Kunst und Recht. Bis vor kurzem teilte die Wissenschaft von Kunst und Schönheit das Schicksal der Wissenschaft von Recht und Gerechtigkeit und blieb im Kern unberührt von den neuen Entdeckungen. Daher scheinen Vergleiche zwischen diesen Stiefkindern der Psychologie für die Diagnose und Therapie ihrer Schwächen besonders erheblich. Ja, vielleicht können wir in der Ästhetik schneller und müheloser vorankommen als in der Ethik und Rechtstheorie. Denn wir werden bei dem Studium von Kunst und Schönheit auf weniger moralische, politische und religiöse Emotionen und Hemmungen treffen als bei der Analyse von Recht und Gerechtigkeit. Aber dieses Versprechen kann nur erfüllt werden, wenn wir in den beiden Bereichen Vergleichbares finden. Das erfordert einen kurzen Exkurs in die Geschichte. Für Jahrtausende war die Kunst dem Recht darin vergleichbar, daß sie dessen magischen Ursprung und Streben nach ewiger Geltung teilte. Und Kunst blieb dem Recht vergleichbar, als beide das "Gute" suchten. Denn wenn das Recht als ein Instrument der Gerechtigkeit erschien, so war die Kunst das "Können" - techne bei den Griechen, ars bei den Römern - , Schönheit zu schaffen1• Es blieben so manche Künstler und Juristen des Mittelalters und der Neuzeit bis in das 18. Jahrhundert hinein darin verwandt, daß sie als pflichteifrige "Kunstwerker" feudalen, päpstlichen und kaiserlichen Herren dienten. Und die Vielgestaltigkeit ihrer "artes" umfaßte die Poesie, die Architektur und die Malerei - ebenso wie die Rhetorik, die Kunst des Rechts. So folgten denn Kunst und Recht "Traditionen" von Schönheit und Gerechtigkeit. In Nietzsches Worten war damals die Ästhetik "eine Weibsästhetik", die nur den Künstler sah, der "empfängt"!. Und es gab wohl ebensowenig eine Philosophie der Kunst wie eine Philosophie des Rechts. § 137. Kunst und Künstler. Als aber die ursprüngliche Mission der Kunst, Schönes zu schaffen, aufhörte, Platos "Wiederschöpfung" durch mimesis zu gleichen, hörte sie auch auf, einem Rechte zu gleichen, das fortfuhr, der Gerechtigkeit zu dienen. In unserem Zeitalter geschah dies, als zunächst die Renaissance und dann die Romantik des 19. Jahrhunderts ihre Aufmerksamkeit von der Kunst dem Künstler zuwandte'. Gombrich Kap. 1, 2, 4. Nietzsche § 873. Für einen klaren historischen Überblick über die Rollen von Ordnung und Vernunft von der Renaissance bis zur Aufklärung siehe Bate 14-26. aGambrich Kap. 24, 25; Beardsley Kap. 10. Sogar Goethe sah Mozarts 1

Z

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Ästhetik

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Es war nicht länger das Gedicht, das von Bedeutung war, sondern der Dichter, die Nachtigall, "die sang, ihre eigene Einsamkeit zu erhellen"4. Apollinisches Maßhalten schien dionysischer Ekstase gewichen zu seinl • Die neue Freiheit führte den Künstler seitdem durch Impressionismus, Expressionismus, Kubismus und Surrealismus in eine Position, die die Gesellschaft bereitwillig als Anspruch auf eine von ihr unabhängige Existenz anerkennt'. Wenn auch die Kunst weiterhin für eine gewisse Zeit in Abhängigkeit vom Einfühlungsvermögen des Beobachters gesehen wurde, so erwartete man doch vom Künstler nicht mehr, daß er sich an den Schönheitssinn seines Mitmenschen halte. Ja, das surrealistische Manifest verlangte sogar nach einem "psychischen, vom Geist gelenkten und der rationalen Kontrolle entzogenen Automatismus"7. "Anstatt nach objektiven Maßstäben für das Schöne in der Außenwelt zu suchen, haben wir uns nach innen gewendet, um die Quelle ästhetischer Erfahrung in unserem Geiste zu finden 8 ." Man sagt, es gebe "nicht mehr so etwas wie Kunst, sondern nur noch Künstler"'. Anstatt dem Recht als Instrument des Schönen vergleichbar zu sein, würde des Künstlers schöpferischer Selbstausdruck damit aufhören, dem Objekt der Ethik vergleichbar das Objekt der Ästhetik zu sein und hätte nun seinen Platz neben des Richters "Kunst" im Rechtsprechungsprozeß statt neben dem Rechte selbst zu finden (§§ 136, 145, 166). Aber dies kann nicht das Ende sein. § 138. Künstler und "Recht". Daß sogar der Künstler manchmal an festgesetzte Maßstäbe gebunden war und in zivilen oder nicht so zivilen Ungehorsam gezwungen worden ist, mögen wir als Laune der Geschichte abtun. Wir mögen vergessen, daß Michelangelo dem Papst, Walter von Stolzing Wagners Meistersingern und so mancher französische Künstler der Academie Fran!;aise zu trotzen hatte. Aber wir können es wohl auch eine Einwirkung des "Gesetzes" auf den Künstler nennen, daß er bewußt oder unterbewußt, positiv oder negativ - immer von der "Tradition" beeinflußt worden ist. Diese Tradition mag klassisch oder

Kunst von dem "dämonische(n) Geist seines Genies" diktiert. Eckermann II

346. über Vasaris Renaissancewerk, das Biographien lIder berühmtesten Ma-

ler, Bildhauer und Architekten" wiedergibt, vgl. etwa Panofsky Kap. 5. 4 Shelley 1l. 5 Nietzsche I 620, 660. Siehe Beardsley 284-290; Herbert Read 115-135; Hugo Friedrich 161-165. t T. V. Vischer (1807-1887); Lipps. Siehe allgemein Beardsley Kap. 27. 7 Breton 24. 8 Anton Ehrenzweig 11 265. Siehe auch Franz Alexander 141-142. Vgl. aber etwa Hofstaedter Kap. 5-8 ("das wichtigste Buch über Ästhetik", Lang, J. Phi!. 67 (1970) 986, 987) über die "spirituelle Wahrheit der Kunst", die den bloßen "Ausdruck" umwandelt. t Gombrich 5. Siehe auch z. B. Lincke 392-394.

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 138

romantisch seinlO • Sie mag dem Ruf des späten 19. Jahrhunderts nach "Realismus" im Dienst sozialer Forderungen folgen; sie mag die "Schöpfung" mit dem "Leben überhaupt" als ihrem Objekt betonenl1 ; oder sie mag "Nonkonformität" um ihrer selbst willen predigen. Es ist das wahre Wesen der Sendung des Künstlers, "die Welt von neuem zu sehen. Dennoch bindet eine lebende Kette der Tradition die Kunst unserer Tage noch immer an die des Zeitalters der Pyramiden, trotz der Häresien des Echnathon, des Aufruhrs der ,dunklen Zeiten' des Mittelalters, der Krise der Kunst in der Reformationszeit und des Bruchs mit der Tradition zur Zeit der französischen Revolution"1!. Die Kraft der Tradition mag, wie wir gesehen haben, einen Tiefpunkt erreicht haben. Nach Jung erfreut sich der moderne Künstler geradezu an einer Verfremdung von Sinn und Gefühpa. Für eine "büßende Kunst" bleibt das Gedicht ein Schrei, die Erzählung ein Traum, das Gebäude ein flüchtiger Blick, das Porträt eine Karikatur. Der Bildhauer verkündet seine "arte povera" als Abwendung von "jeder ästhetischen Qualität und jedem ästhetischen Inhalt". Und eine "Inferentialkunst" ist zufrieden mit ihrem schweigenden musikalischen Intermezzo und der leeren Seite, mit "Durchsichtigkeiten ... entsprechend der Leere in den Dingen"a. Aber im Grunde schließt gerade die Aggressivität dieser Haltung oft das Verlangen nach Mitteilung ein. In der Tat wird die sogenannte Inferentialkunst wohl zugleich den Höhpunkt und den Tiefpunkt der Selbstgenügsamkeit des Künstlers bedeuten. Die Zeit kann nicht so fern sein, in der neue Mitteilung, eine neue Tradition die Kunst wieder dem Recht vergleichbar machen wird als Antwort auf eine allgemeine Sehnsucht nach Freude und Frieden, Schönheit und Gerechtigkeit. Es gibt tatsächlich "natürliche und notwendige Grenzen für des Künstlers Hermetizismus", der uns von der unmittelbaren Darstellung über die verschlüsselte Darstellung durch Gleichnis, durch Metapher und Symbolismus zum Nichtssein geführt hat1&. Die abstrakte "Nicht-Schönheit" des einzelnen Künstlers wird wieder zur konkreten Schönheit der Kunst der Gesellschaft werden müssen, wenn auch vielleicht erst nach einer bewußten Verbindung mit dem Häßlichen und dem Leidvollen Bodenheimer, Classicism. Siehe Bergson (1859-1941) 29, 141. Siehe auch oben § 127 Anm. 59, 85. über Bergsons Einfluß auf die moderne Kunst, siehe z. B. Ashton 19-24. 11 Gombrich 10, 445. 13 Jung, Soul 383. 14 Santayana, Writings 271, 275; Celant; Kostelanetz. Siehe auch z. B. N. O. Brown 259. 15 Weinberg 42, 427. Siehe auch H. Friedrich 17, 90i und insbesondere Grotjahn, Symbol 169-170, passim. 10

11

§ 138

Ästhetik

208

und nach einer Rückkehr zur Form18. Wie neue "Gerechtheiten" werden neue "Schönheiten" (beautnesses) aus der Rebellion hervorwachsen. Und die Suche nach "dem Schönen" wird - bewußt oder unbewußt Kunst entstehen lassen, wie die Kunst das Schöne erzeugen wird - so wie die Suche nach Gerechtigkeit immer Recht hervorgebracht hat und das Recht Gerechtheit (§§ 123, 124). Aber die Zeit ist noch nicht reif. Die neue Kunst hat das neue Recht nicht erreicht und wird sich noch einige Zeit dieser Freiheit erfreuen. Gewiß, ein Diktator mag, in der Schwäche seiner Herrschaft durch Gewalt, sogar in der abstrakten Kunst eine Bedrohung für seine "konkrete" Gerechtigkeit sehen und versuchen, Ästhetik durch sein Gesetz zu regieren. Hitler und Stalin haben das getan. Aber während eine demokratische Gesellschaft es sich leisten kann, die Rückkehr abstrakter Kunst zu konkreten Schönheiten zu erwarten, nötigt der Ruf nach abstrakter Gerechtigkeit, einem "Nicht-Recht", das jede Kommunikationmit der Gesellschaft zurückweist, zur "Konfrontation". Die Geschichte hat uns ihre Lektion erteilt. Die Philosophie der Aufklärung hat sich im Bewußtsein ihrer Befreiung von theologischer Starrheit und Strenge abstrakten Idealen hingegeben. Damit hat sie für eine kurze Zeit die Menschheit den ewigen Konflikt zwischen Traum und Wirklichkeit vergessen lassen. Die Revolution ersetzte den König und sein Recht durch die Göttin der Vernunft und ihre Gerechtigkeit. Aber das ancien regime ging in das nouveau regime über und das "Establishment" kehrte mit grimmiger Starrheit zurück. Und heute, fast zwei Jahrhunderte später ist es nun eine Neue Linke, die über zivilen Ungehorsam hinaus einer anderen abstrakten Gerechtigkeit als ihrem Leitstern zu folgen vorgibt - dies in nicht so befremdlicher Parallele zur Botschaft des "modernen" Künstlers, die als seinen alleinigen Auftrag den abstrakten Ausdruck seines Selbst in einer Wiederbelebung uranfänglicher Magie oder einer neuen apollinischen Beherrschung "hermetischer" Werkzeuge ansieht17 • Um es noch einmal zu sagen: im Gegensatz zur Kunst kann das Recht nicht eine solche Position im Verhältnis zu einer Gesellschaft einnehmen, die für ihr Dasein eine konkrete, bewußte und in sich stimmige Ordnung braucht. Die Kunst kann - jedenfalls für eine gewisse Zeitfernab sich selbst überlassen bleiben. Sie kann sogar mit dem "nackten Unbewußten"18 prunken und mag, in MacLeishs glücklicher FormulieSiehe H. Friedrich 33-44, 77-80. Siehe derselbe 28, 161-165, 180, 184. Siehe auch z. B. Poe; Barr 562. Worringer sieht "Abstraktion und Einfühlung" als stets wiederkehrende Wurzeln des Kunstwillens. Wörringer (Primitive, altes Ägypten, Orient - Renaissance, Romantik), 36, 48, 62,68,83,84, passim. 18 Franz Alexander 154. Siehe auch Rank 207; Ashton 7 (über Appollinaires frühe Beschäftigung mit diesem Thema). 10

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 139

rung, das "Nicht-Gedicht, das Nicht-Bild, das Spiel, das nicht spielt", hervorbringen und damit einer "Verkleinerung des Menschen"lD frönen. Aber die Gesellschaft kann nicht mit einem "Nicht-Recht" überleben. Sie kann nicht warten, bis Kunst und Recht - wenn auch vielleicht in naher Zukunft - als Sucher nach dem "Guten", nach dem Schönen und nach der Gerechtigkeit wieder vereint werden. Wenn auch die Kunst des Schönen vergessen kann, so muß das Recht immer Gerechtigkeit suchen. Und eine Rechtstheorie, die sich aufmacht, die Ästhetik zu erforschen und sich dienstbar zu machen, muß die Tatsache hinnehmen, daß sie sich jetzt noch nicht mit dem Vergleich von Recht und Kunst, sondern stattdessen mit der Wissenschaft vom Schönen als dem früheren und wahrscheinlich zukünftigen Gegenstand der Ästhetik befassen muß. Der Rechtsphilosoph muß sich daher selbst beschränken auf den Vergleich der Funktion des Sinns für Gerechtigkeit mit Bezug auf das heutige Recht und heutige Gerechtheiten, mit der Funktion des Sinns für das Schöne mit Bezug auf die Schönheiten (beautnesses) von gestern und morgen. b) "Das Schöne" (beauty) § 139. Schönheitssinn und Schönheiten (beautnesses). Einer der Hauptgedanken dieses Kapitels ist die These, daß jede Rechtsphilosophie zwischen einem einheitlichen Sinn für Gerechtigkeit und widerstreitenden Gerechtheitsurteilen unterscheiden muß. Ähnlich werden wir hier zwischen einem einheitlichen Sinn für das Schöne und widerstreitenden Beurteilungen von Schönheiten (beautnesses) unterscheiden. Bevor ich diese Unterscheidung weiter rechtfertige, fühle ich mich verpflichtet, den Neologismus "beautness" und seine übersetzung als "Schönheit" im Gegensatz zu dem Sinn für das "Schöne" zu verteidigen. Das Wort "beautness" selbst erfordert keine Verteidigung. Es ist auf der anglo-französischen Wurzel von beauty-beaute aufgebaut und ist wohl eindeutig dem Webster-Ungeheuer (beauteousness-"Schönigkeit") vorzuziehen. Die deutsche übersetzung von beautness als "Schönheit" ist darum als Gegensatz zum Begriff des Schönen gewählt worden, weil dieses Wort eine Mehrzahl zuläßt. Was eine Rechtfertigung erfordert, ist die Zuflucht zu einer Wortneuschöpfung oder -neuverwendung überhaupt, aber ich hoffe, daß ihre Zweckmäßigkeit, ja ihre Unerläßlichkeit für die Darstellung widerstreitender Mehrzahlen auf den folgenden Seiten deutlich werden wird20 • 1. MacLeish.

Ähnliche Neologismen wären auch für andere westliche Sprachen erforderlich. Im Französischen könnte vielleicht ein neues Begrüfspaar "sentiment de beaute" und "beautes" annehmbar sein; im Deutschen "Sinn für das Schöne" und "Schönheiten"; im Italienischen "sentimento per la belta" und 10

§ 139

"Das Schöne"

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VieUeicht dürfen wir mit jenem Werk beginnen, in dem wohl zum ersten Mal die Notwendigkeit für die vorgeschlagene Terminologie offenbar wurde: und das ist kein geringeres als Platos Staat. Dabei bin ich mir der Tatsache wohl bewußt, daß Platos Werk vielen, einander widersprechenden Behauptungen seine Autorität leihen muß. Das ist nicht nur auf die Transzendenz der Problematik zurückzuführen, sondern auch auf die Tatsache, daß Plato, wie alle großen Denker, denen Zeit gegeben war, auf verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung ihr Werk neu zu prüfen, manchmal seine Ansichten oder wenigstens die Art ihres Ausdrucks geändert hat. Diese Schwierigkeit wird vervielfacht dadurch, daß es nicht immer leicht ist, Platos eigene Ansichten und die der Darsteller seiner Dialoge auseinanderzuhalten. Und schließlich zwingt oft unklare Sprache den übersetzer, vieldeutige moderne Begriffe zu verwenden. Vor allem diese letzte Tatsache ermutigt mich, eine neue Interpretation des wichtigen Schlußkapitels von Buch 5 des "Staates" anzubieten21 • Ich bin der Meinung, daß die dichterische Intuition von Platos Genius, ohne die Werkzeuge moderner Psychologie zur Verfügung zu haben, die Unterscheidung zwischen dem Sinn für Gerechtigkeit und dem Sinn für das Schöne auf der einen und widerstreitenden Gerechtheiten und Schön..l}eiten (beautnesses) auf der anderen Seite vorweggenommen hat, die ich als so entscheidend für meine Analyse ansehe. Die zweifache Aussage dieser Stelle in Platos Staat kann vielleicht wie folgt verstanden werden. Das "KaUm" und das "Dikaion", das Schöne und die Gerechtigkeit "selbst" oder ihre Formen (Ideen) sind unveränderlich, wenn auch unserem Denken unzugänglich, für unsere "Vorstellung" die einzig wirkliche Realität wie die Schatten in der Höhle. In der hier vorgeschlagenen Terminologie sind sie - psychologisch - unsere wirklich realen, unveränderlichen Sinne für das Schöne und die Gerechtigkeit. Aber wie Platos "Wirklichkeit" verweigern sie die Antwort auf unsere Fragen nach den "polla (vielen) kala" und "dikaia". Denn diese Schönheiten (beautnesses) und Gerechtheiten, um unsere Begriffe wieder zu verwenden, sind notwendigerweise mit"bellezze". Die meinen "justnesses" korrespondierenden Ausdrücke wären dann "sentiment de justice" und "justesses" (unten § 162 Anm. 95); "Gerechtigkeitssinn" und "Gerechtheiten", "sentimento della giustita" und "giustizie". Zl Plato, Republic 478-480. über das kaUm als Idee, siehe z. B. Kelsen, Ideologiekritik 20; über die Höhle, daselbst 203; über die Gerechtigkeit als "geheimes" Wissen, daselbst 228. Das Problem wird nicht einmal erkennbar in Richards' "New Version founded on Basic English" (1942). Plato spricht an vielen anderen Stellen vom Schönen, vom Gerechten und vom Guten im Plural. Siehe z. B. die Gesetze 854 c; Hans Wolff 176-180 (mit einer Genesis von Platos Gedankenwelt, und dem Hinweis auf den Zwischencharakter des Fünften Buches); und allgemein Erik Wolf IV/2, 100, 111, 310. Als ungewöhnliche Kritik, siehe Brinkmann 338-389.

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 140

einander unvereinbar, so daß alle Dinge und alles Tun, von denen man sagt, sie seien schön oder gerecht, zugleich auch häßlich und ungerecht sind. Die Schwierigkeit, der die übersetzer in allen modernen Sprachen begegnen und die z. T. die Unterscheidung zwischen unvereinbaren Schönheiten (beautnesses) und Gerechtheiten und den einheitlichen Sinnen für das Schöne und die Gerechtigkeit verdunkelt hat, hat zwei Quellen. Einmal gebrauchte Plato selbst "pollä kalll" sowohl für die vielen (unvereinbaren) Schönheiten (beautnesses) und die Dinge, die zugleich als schön und häßlich empfunden werden. Zum zweiten erfordern alle modernen Sprachen für die übersetzung dieser Stelle eine Umschreibung wie etwa das Hinzufügen eines Hauptwortes - oder eine Wortneuschöpfung der hier vorgeschlagenen Art. So erscheint pollä kalä durchweg als "beautiful things" im Englischen (Cornford) oder als "Vielerlei" oder "vieles Schöne" im Deutschen (Schleiermacher). Daß aber Plato diese Worte in zwei verschiedenen Bedeutungen benutzte, wird nahezu schlüssig durch die Tatsache bewiesen, daß er erst von dem bloßen "Glauben" an die "pollä kalä" als Gegensatz zu der Vorstellung von der "Idee des kaHm" spricht und später von den Dingen, die zugleich schön und häßlich sind. Die Unterscheidung wurde wiederentdeckt von Relativisten wie Hobbes, der "Erscheinungsformen des Sinns" (causes of sense) vom "Sinn selbst" unterschied2!. Und zu Beginn des 18. Jahrhunderts erklärte Hutcheson, daß "das Wort Schönheit ("Beauty" = beautness) für die in uns hervorgerufene Idee und der Sinn für das Schöne für unsere Fähigkeit, diese Idee in uns aufzunehmen, verwendet wird"23. Vielleicht wird der Sinn für das Schöne, wenn er erst einmal von der unglücklichen Gleichsetzung mit der Beurteilung individueller Schönheiten (beautnesses) befreit ist, uns bei unserer Suche nach Ursprung und Funktion der Gerechtigkeit helfen. Für das Ziel dieser Suche kann, wie ich glaube, ein vorläufiger überblick über die vergangenen und gegenwärtigen Theorien der Ästhetik wichtige Ähnlichkeiten aufdecken. § 140. Was ist "das Schöne" (beauty)? Die zahllosen Theorien über das Schöne sind "Monumente unbelohnter Plackerei von Jahrhunderten" genannt worden!'. Und dennoch wäre das Studium dieser Theorien höchst wertvoll für unsere eigene Bemühung. Denn viele sind den "Schulen der Rechtstheorie" nicht nur in ihrer analytischen Fruchtlosig!!

!I

Hobbes II 25, 1. Hutcheson, 7. über diese schottische "Common-sense School", siehe Bate

51-52.

u Sachs 148.

§ 140

"Das Schöne"

207

keit, sondern auch in ihrer psychologischen Fruchtbarkeit vergleichbar. Aber hier ist wohl kaum der Ort, den geschichtlichen Gang der Ästhetik von Platos Diotima, die nach dem transzendentalen Schönen verlangte, Goethes Helena, die Faust das Schöne versagte, über die neoplatonische Identifikation des Sehenden mit dem Gesehenen bis zur Wiedergestaltung dieser Visionen in St. Augustins De Musica und noch in Ficinos Renaissance-Philosophie nachzuzeichnen. Noch können wir uns dem Neubeginn in der Verlagerung vom Gesehenen auf den Sehenden im 18. Jahrhundert bei Descartes widmen. Die Ästhetik als unabhängige Sparte der Philosophie war ein Produkt der Aufklärung und erhielt ihren Namen erst im Jahre 175025 • Am Ende des 18. Jahrhunderts fand sie den Höhepunkt ihrer Entwicklung im deutschen Idealismus bei Kant und Hegel28 • Aber das 18. und 19. Jahrhundert waren Zeuge ihres wachsenden Wettbewerbs mit naturwissenschaftlicher Forschung und deren wachsenden Einflusses, wie er in Fechners "experimentellem" Ansatz deutlich wurde27 und sich dann durch eine Verbindung mit anderen Disziplinen in vergleichenden Bemühungen erweiterte28 • Diese Bemühungen führten ihrerseits zu Differenzierungen, die denen nicht so unähnlich waren, die die Geschichte der Rechtstheorie durchziehen. So gab es manche "analytische" oder "subjektivistische" Schulen, die die "Existenz" des Schönen als solchen verneinten und sich nur der Beschreibung des schönen Objekts und unserer individuellen Reaktionen hierauf zuwandten29 • Sie erinnern uns an den Rechts"positivismus", der die "Existenz" des Rechts als solchen verneint und sich nur mit der Beschreibung von Rechtsnormen und ihren "Konkretisierungen" befaßt. Aber es hat auch "objektivistische" Schulen gegeben, die versichern, daß "wir, sofern wir eine subjektivistische Theorie akzeptieren, gezwungen sind anzuerkennen, daß es keine andere Wissenschaft oder Philosophie der Ästhetik gibt als die Geschichte des Geschmacks und die Psychologie der Emotionen"30. Diese Schulen erinnern uns an jene des Naturrechts, die versichern, daß wir, sofern wir eine positivistische Theorie akzeptieren, gezwungen sind anzuerkennen, daß Baumgarten (1714-1762). über Ficino, siehe unten Anm. 59. Kant, Urteilskraft; Hegel, Ästhetik. Eine Bibliographie über Hegels andauernden Einfluß bei Henckemann 5. Die Rückkehr zu Hegel schließt beides ein, seinen frühen Glauben an das Schöne und seine spätere Betonung von Vernunft und Spiel. Siehe z. B. D. Heinrich. über Kants Konflikt mit Herder bezüglich des ersteren Trennung des Schönen vorn Guten und die Nachwirkungen dieses Konflikts, siehe Triepel, Kap. 2 (ohne auch nur den Versuch psychologischer Analyse). 17 G. T. Fechner (1801-1887), Vorschule. über die Ästhetik "von unten", siehe unten § 147 Anm. 89. über den früheren Einfluß der Mathematik, siehe z. B. Bate 29-30. 28 Dessoir, passim. H Siehe Beardsley 502-556. ao Osborne 74. !5

25

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

208

§ 141

es !reine andere Wissenschaft oder Philosophie des Rechts gibt, als die Geschichte der Macht und die Psychologie der Emotionen (§§ 29~3). Diese argumenta in terrorem - die für uns des Terrors entbehren haben soviele "historische", "idealistische", "soziologische" ",naturalistische", "pragmatische", "existentialistische", "semiotische", "marxistische" und "philosophische" Schulen in der Ästhetik gezeugtSl, wie in der Rechtsphilosophie. Zu viele dieser Schulen sind entweder durch Doppeldenken oder Nichtdenken charakterisiert gewesen. So hat man uns an einem Ende des Spektrums solche Entdeckungen beschert wie die, daß "ebenso wie das Schöne ein Teil des Guten ist ... , Gutheit (goodness) und Wahrheit Arten des Schönen sind"s2. Dazu sagt Nietzsche: "An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen, ,das Gute und Schöne sind eins'; fügt er gar noch hinzu ,auch das Wahre', so soll man ihn prügeln." (I 871, W. 281). Aber am anderen Ende sind wir, scheint es, gar von einer neuen Wissenschaft der "Pulchrimetrie" bedroht, einer Zwillingsschwester der neuerdings respektablen "Wissenschaft" der Jurimetrie s3 • Noch einmal: wir werden einer relevanten Analyse näherkommen, wenn wir zwischen einem Sinn für das Schöne, der dem für die Gerechtigkeit vergleichbar ist, und solchen einzelnen Schönheiten (beautnesses) unterscheiden, die wir mit den einzelnen Gerechtheiten vergleichen können. c) Der Schönheitssinn (1) Beschreibungen

§ 141. Mit wenigen Ausnahmen haben sich Versuche, den Sinn für das Schöne zu definieren, mit solchen Tautologien begnügt wie der "einzigartigen ästhetischen Emotion, die Wesen und Beginn allen ästhetischen Vergnügens ist"14. Aber es war nicht weniger als philosophische Poesie, die Plato unseren Sinn für das Schöne erinnern ließ, was unsere Seele "einst sah auf ihrer Reise mit einem Gott"85. Und es war nicht mehr als poetische Philosophie, die Plotin unserer Seele ein Ver81 Siehe z. B. Beardsley Kap. 12. Was von einer Ästhetik geblieben ist, die sich mit der Kunst selbst befaßte, ist anscheinend entweder ein Nebenprodukt existentialistischer (Heidegger, Halder) oder hermeneutischer Intuition von Ganzheit (Gadamer); ein semantischer Kampf um das Begreifen (Wittgenstein) ; oder marxistische Betonung der ökonomischen Bestimmtheit des Stils (dazu siehe auch Kandinsky 63). 32 S. Alexander 273. Diese Dreieinigkeit ist ältesten Ursprungs. Siehe etwa Bate 8. 33 Siehe oben § 91 Anm. 43; auch etwa Maeijer 83-135 (Wolak, Bos, Seeber). über "Kinetische Kunst" siehe etwa Ashton 141-148. U 35

Bell 11.

Plato, Phaedrus 249. Siehe Voegelin 111 138-139.

§ 142

Schönheitssinn

209

mögen geben ließ, "das besonders auf das Schöne gerichtet ist"". Seitdem haben wir wenig mehr über solche "Vermögen" oder "Instinkte" hinzugelernt. Eine Probe aufs Geratewohl, die uns durch die Jahrhunderte von Blair bis Nicolai Hartmann führt, muß diese betrübliche Resignation erhärten37 • Vielleicht kommen wir noch am besten zu Rande, wenn wir mit dem common-sense-Vertrauen des Kunsthistorikers uns auf den Drang des Künstlers, "es richtig zu machen", ("to get it right") verlassen und damit zu einer Formel zurückkehren, die Alison vor zweihundert Jahren gebraucht hat38 • In der Tat mußte eine 1962 durchgeführte experimentelle Untersuchung zugeben, daß der Sinn für das Schöne nicht präziser beschrieben werden kann, als mit dem Verweis auf unser Vergnügen39 • Aber wenn Beschreibung des Begriffs versagt, so wollen wir doch ein wenig mehr über seinen Ursprung wissen, sei er nun angeboren oder anerzogen. (2) Ursprung § 142. Angeboren oder anerzogen. Es hat immer Philosophen gegeben, die an der Möglichkeit, die Entwicklung unseres Sinnes für das Schöne zu erfassen, verzweifelt und ihn einfach als eine angeborene Eigenschaft der Art behandelt haben. Darwin sah in ihm ein Werkzeug des "progressiven Fortschritts"40, Spencer das Ergebnis der "akkumulierten Erfahrung" der Menschheit41 . Freud folgerte, daß die Wissenschaft von der Ästhetik versagt hat. "über Natur und Herkunft der Schönheit hat sie keine Aufklärung geben können; wie gebräuchlich, wird die Ergebnislosigkeit durch einen Aufwand an volltönenden, inhalts armen Worten verhüllt. Leider weiß auch die Psychoanalyse über die Schön38 Plotinus I, 6. Siehe Turnbull 42. über Plotinus (204-270). siehe z. B. Dewey 291-292; Russell Bk. I. Kap. XXX; Brehier II, Kap. VII; Inge. passim; und unten Anm. 47. 58. 37 Wir finden den Sinn für das Schöne definiert als .. die Kraft, Lust von dem Schönen der Natur und der Kunst zu empfangen". Blair 18. Über diese neuklassische. vorpsychologische .. School of Taste", siehe etwa Bate 44-48. Später finden wir Beobachtungen der .. Gefühle" des einzelnen Individuums (Kant I 108); von der Natur abgeleitete Intuition (Kames 442); und Betonung des menschlichen Spieltriebes. Siehe Schiller 10, 132; unten Anm. 55. über Schiller (1759-1805) siehe Hofmannsthai 61. Unter seinen Nachfolgern waren Hegel und Spencer (§ 32). Der Dichter ersetzt die Natur durch sein Ideal. Hölderlin 85. Der Pragmatist zieht die .. Erfahrung" vor. Dewey. Art. Siehe McDermott; Bouwsma 50 (.. Ausdruck"). Nicolai Hartmann gab sich mit der .. ästhetischen Reflektion" zufrieden. Ästhetik 3; oben § 41. Und Gestaltpsychologen verwerfen die Emotion insgesamt für das Objekt. Arnheim 302-319; Koffka. Northrop sieht ein wesentlich östliches .. undifferenziertes ästhetisches Kontinuum". Complexity 205. 18 Gombrich 14. Siehe Alison I. I, 1. Dazu etwa Bate 105-106. 151-152. 39 Valentine 6. Siehe auch Von Mises 62. 40 Darwin (1809-1882) 142. Siehe Sutherland Kap. XVII. 41 Spencer, Essays 312. Siehe oben Anm. 37; und § 32 Anm. 72.

14 Ehr"DZW"ig

210

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 143

heit am wenigsten zu sagen. Einzig die Ableitung aus dem Gebot des Sexualempfindens scheint gesichert; es wäre ein vorbildliches Beispiel einer zielgehemmten Regung. Die ,Schönheit' und der ,Reiz' sind ursprünglich Eigenschaften des Sexualobjekts'!." Diese Auffassung wird durch die doppelte Deutung des Wortes "Sinnlichkeit" für Sex und Sensibilität bestärkt'!. Freuds Andeutung wurde von Anton Ehrenzweig aufgenommen, dessen zwei Bücher über das künstlerische Schaffen und die künstlerische Einbildungskraft posthum viel Aufmerksamkeit gefunden haben". Auf der anderen Seite ist Freuds Ansatz von Traditionalisten, Gestalttheoretikern und auch von einigen seiner eigenen Anhänger in Frage gestellt worden'5. Auf jeden Fall läßt dieser Versuch wie andere Theorien über den Sinn für das Schöne die Frage offen, ob dieser Sinn angeboren oder anerzogen ist'8, ob es, in Goethes Worten, die "Sonne ist, die die Welt erhellt, oder das sonnengleiche menschliche Auge". Folgen wir dem Dichter, wenn er antwortet: Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken; läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt' uns Göttliches entzücken?t1

§ 143. Angeboren und anerzogen. Vielleicht können wir dadurch am meisten über den Ursprung des Sinns für Gerechtigkeit erfahren, daß wir dem Sinn für das Schöne (ob er nun angeboren sein mag oder nicht) als einem Werkzeug für die Erhaltung bewußter Aufmerksamkeit gegen den Einfluß unbewußter Wahrnehmung folgen'8. Beginnen wir mit der Unterdrückung unseres Wunsches nach - und später: unserer Scham vor - "häßlichen" und "schmutzigen" Dingen und Taten48 • Wir werden dann unseren Sinn für das Schöne als eine Flucht vor Neurosen erfahren, die durch solche Unterdrückung und Scham hervorgerufen werden: Eine Flucht in Phantasien und Träume, um uns U Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Schr. XII 28, 50. Eingehendere Spekulationen über das Verhältnis des Kindes zur "guten Brust" der Mutter findet man bei Money-Kyrle, Man, Kap. VII; Segal. 48 Marcuse 182-183. U Anton Ehrenzweig (1908-1966) I 64-65. Siehe Kuntz. 45 Arnheim 218. Siehe auch Holland 17-20; unten Anm. 88. Dalbiez, ein Psychoanalytiker, findet Freuds Ansatz "inkohärent", weil er Sexualität, Spiel und Agnostizismus betone. Dalbiez II 454-459. Einen Versuch, das Schöne auf den Lebensinstinkt zu beziehen als "die Sehnsucht, sich in Rhythmen und Ganzen zu verbinden", unternimmt Sega1207. 41 Jung 67,69. t1 Goethe XXXVII 5, Plotinus paraphrasierend, oben Anm. 36. 48 Anton Ehrenzweig I 61, 79. 4D Mary Douglas. Siehe auch Rickman. über das frühe (Hegeische) Verständnis dieses Verhältnisses, siehe z. B. Weisse; Rosenkranz; Kuno Fischer.

§ 144

Die Schönheiten

211

"vor allem zu bewahren, was die Strenge des Überichs erwecken und Angst und Schuldgefühle hervorrufen könnte"5o. Wir erinnern uns an Platos Flucht aus der Höhle mit ihren Schatten der göttlichen Wirklichkeit51 , an die Katharsis in der griechischen Tragödie62 , an Nietzsches apollinische Befreiung von dionysischer AngstSS , Deweys Flucht vor der Realität54 und an die vielversprechende Beachtung der Funktion der Langeweile65 • Aber: wie man auch immer den Sinn für das Schöne definiert, er muß, sei er nun angeboren, angestammt oder anerzogen, deutlich von den von mir mit einigem Bedenken sogenannten einzelnen Schönheiten (beautnesses) unterschieden werden. d) Die Schönheiten (beautnesses)

(1) Philosophie

§ 144. Die Ästhetik hat sich - wie Ethik und Rechtstheorie schrittweise von absolutistischen Dogmen emanzipiert. Gott, Natur und Vernunft sind entthront worden. Wo einmal das überich und das Ich die Herrschaft in der Gerechtigkeit und im Schönen beanspruchten, hat nun das Es sein Geburtsrecht geltend gemacht (§§ 156-158). Wenn die Wissenschaft vom kaUm k'agathön, vom Schönen und Guten, eine neue und tiefere bewußte Wirklichkeit erfahren soll, müssen wir nach einer unbewußten "verborgenen Ordnung"5' suchen. Die Geschichte dieser Suche ist lang und mühsam gewesen und wie die Geschichte der Rechtstheorie durch Ärger und Ärgernis begleitet worden67 • Für Jahrhunderte, bis zum Durchbruch pluralistischen Denkens, war die Ästhetik durch jene monistischen Bestrebungen bestimmt, für die die widerstreitenden Schönheiten (competing beautnesses) Bestandteile eines einheitlichen Begriffes des Schönen waren.

Sachs 237. Plato, Republik 514-518. über den Ursprung dieses berühmten Simile im Empedocles und den Orphen, siehe Russell 57. 62 Siehe Aristoteles, Poet. 1449 b ("Erleichterung durch Mitleid"). Vgl. Alibertis; Marcuse 145. 53 Vgl. Anton Ehrenzweig I 57-68, 79-82. Siehe auch oben Anm. 5; unten Anm. 102, 103. Man hat auch die Angst als "Wurzel des künstlerischen Schaffens" durch "Abstraktion", einer zweiten Wurzel dieses Schaffens durch "Einfühlung" in einem "glücklichen, pantheistischen" Zustand gegenübergestellt. Worringer 49, et passim. 64 Dewey 279. Siehe unten § 165 Anm. 20. " Wir können mit Dubos' (1670-1742) Wunsch beginnen, Langeweile zu vermeiden (siehe Morei); Lord Kames' (1696-1742) Vorliebe für das Neue; Edmund Burkes (oben § 4 Anm. 31) Streben nach "sozialer Qualität" und natürlich Humes Prinzip von Lust und Schmerz. Oben §§ 31-34. 5$ Anton Ehrenzweig II. 5T Siehe allgemein Gombrich, Illusion 10. 60

61

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

212

§ 145

§ 145. Monismus. Wir werden wenig von dem vorsokratischen Monismus einer kosmischen OTdnung oder Pythagoras' arithmetischer HaTmonie oder von Plotins "absolutem Schönen" gewinnen, von dem er zugab, daß es außerhalb unseres Verständnisses liege58 . Und wenn wir ein Jahrtausend weitergleiten bis zur Renaissance, so finden wir noch immer solche neoplatonistischen Pseudo-Definitionen des Schönen wie: Regelmäßigkeit oder "Harmonie und Gleichklang von Zahl und Farben"59. Vielleicht war einmal Leben in solchen Formeln zu einer Zeit, in der einige der größten Künstler ihre eigene Harmonie schufen1o • Aber auch während der Aufklärung blieb Regelmäßigkeit trotz Descartes' Semi-Skeptizismus11 die Grundid~e des Schönen und erschien wieder in der ambivalenten Formulierung von Lessings Laokoonl2 • Diese und andere monistische, "objektive" Theorien überdauerten wie ähnliche Theorien des Naturrechts. Ja, sie fanden sogar einen neuen Ausdruck in Hobbes' und Humes Vergötterung der "Nützlichkeit"llI. Dieser widersprach allerdings Shaftesbury in seiner Verteidigung des Nutzlos-Schönen der Natur mit ihren Kontrasten und Grausamkeitenl4 . Dieses Schöne, das der Malerei bis hin zu den ornamentalen oder doch menschenbezogenen Landschaften der Renaissance und nahezu aller vorromantischen Poesie von Homer bis Goethe fremd geblieben war15, mußte die alten absoluten Begriffe bedrohen. Dies tat auch Kants "uninteressiertes Wohlgefallen"le, das sowohl Blakes Romantik als auch &8

Oben § 4, oben Anm. 36, 47. Siehe auch Russell 35, 284-297; Brehier

184-195.

5. Ficino (1434-1499). über Giordano Bruno (1548-1600) siehe auch Corsano. eo Siehe z. B. Gombrich Kap. 15. 11 Descartes (1596-1650), Musik. Siehe z. B. Maritain, Descartes; Jaspers, Descartes; Bodenheimer § 8; Brehier IV, Kap. III; Russell 557-568; OeingHanhoff; Bouwsma 51-63, 85-98; Bate 29-30; oben insbesondere § 4 Anm. 33. Siehe auch Boileau (1636-1711). 12 Lessing (1729-1781), Laokoon III. Siehe z. B. Beardsley 78-87, 130-136, 140; Szarota. "Lessing sah zu scharf und verlor darüber das Gefühl des undeutlichen Ganzen, die magische Anschauung der Gegenstände, zusammen in mannigfacher Erleuchtung und Verdunklung." Novalis I Nr. 683. e3 Siehe oben §§ 31-34. u Shaftesbury (1671-1713) 391-408. Siehe etwa Bate 50-51. 85 Siehe Gombrich Kap. 24; Bate 2-3, 80 (Reynolds). über die Verwandelung von "Arcady" aus "einer freudlosen und kalten griechischen Provinz in ein Fantasieland vollkommener Seligkeit", vgl. Panofsky Kap. 7, 300. Kenneth Clark führt uns durch zwei Jahrtausende "symbolischer", "tatsächlicher", "fantastischer", und "idealistischer" Landschaftskunst zur "natürlichen" Landschaft des 19. Jahrhunderts. Vgl. a11g. (besonders über die Suche nach der "Tabula Rasa" um 1800) Robert Rosenblum. ee Kant, Urteilskraft § 2.

§ 145

Die Schönheiten

213

Schillers und Spencers Auffassung der Kunst als Spiel vorwegnahm G7 . Aber Shaftesburys Bewunderung für die "größten Objekte der Natur" sollte ihn überleben als eine absolute Schönheit (beautness) des SublimenGS, das, wie die Regelmäßigkeit, soweit es auf Neo-Platonismus zurückging, in Kants Weltordnung wiederkehrte Gv . Es ist das Verdienst von Männern wie Schelling und Hegel, daß sie alle Schönheit (beautness), obwohl noch immer absolut gesehen, als eine bloße Reflektion einer nicht wirklichen Idee ansahen70 . In Goethes unübertrefflichen Worten bleibt unser nur "der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit". Denn nur "im farbigen Abglanz haben wir das Leben"71. Daß das uralte Vertrauen in das Absolute alles andere als tot ist, wird in solchen Theoremen wie denen Nicolai Hartmanns deutlich, der, obwohl er dem Sinn für Schönes Veränderlichkeit zugestand, den "Wert" des Schönen als konstant betrachtete72 • Und wir werden oft den Schauer des "dejA vu" fühlen, wenn wir die Schriften unserer größten Lehrer und Künstler73 verfolgen - bis zum Surrealistischen Manifest, das als seine Schönheit (beautness) "das Wunderbare, alles Wunderbare"u pries. Um dieses entmutigte und entmutigende Ergebnis und 87 Über Blake (1757-1827) siehe Russell 677-678. Über Schiller, siehe oben Anm. 37; über Spencer, oben Anm. 37, 41; § 32. über Schleiermacher (1768-1834), der Ausdruck und Spiel in einem neuen Absoluten zu versöhnen versuchte, siehe z. B. Flückiger, Schleiermacher. Über englischen Romantizismus im allgemeinen, vgl. Bate, Kap. VI. 8S Shaftesbury I, XI. Das Wort "sublim" hat man auf eine Übersetzung (aus dem Jahre 1698) des Titels eines dem Longinus zugeschriebenen griechischen Werkes zurückverfolgt. Bate 46-47. Die Bedeutung dieses Wortes aber hat sich oft gewandelt: von einem Gegensatz zu sophistischem Voluntarismus zu des IB. Jahrhunderts englischem universalen "beau ideal", und schließlich zu Burkes Identifikation mit "schreckhaft". Ders. 49, 82-83, 154. so über Kant, siehe oben § 32; passim. Siehe auch z. B. Brehier II Kap. VII; Russell 706. 70 Über Schelling (1775-1884) siehe z. B. Russell 703, 718; Bate 171; über Hegel (oben Anm. 26) ("fühlbares Erscheinen der Idee"), siehe z. B. RusselI, Buch IU, Kap. XXII. 71 Goethe, Faust II, Akt 2. über Goethes Verwandtschaft mit Plato, siehe z. B. Badelt 155-17l. 72 Nicolai Hartmann, Ästhetik 307-309. Siehe oben § 41 Anm. 23. 73 Das Schöne ist definiert worden als "equipoise", "Synästhetik" vom chinesischen Vorbild ableitend. Ogden 6, 72, 81. Es ist als der "erfolgreiche künstlerische Ausdruck" gesehen worden. Benedetto Croee (1866-1952) 91 bis 92. Oder man hat es als die "Harmonie alles Seienden" bezeichnet (Nohl 105) oder einfach mit "Lust", "Zweckmäßigkeit" oder "Erregung" identüiziert. Santayana (1863-1952) 49. Siehe auch ders., 1 Writings 237, 256. In der "Erforderlichkeit" und anderen neuen Begriffen der Gestaltpsychologie (Arnheim) können wir nur ein ähnliches Eingeständnis einer Niederlage sehen; ebenso in Erie Newtons (204) "Kraft, Reaktionen von des (Betrachters) akkumulierter Erfahrung hervorzurufen"; in Deweys (54) Neuschöpfung durch den Betrachter; oder in Maritains (Art) Rückkehr zu Aquinas transzendentalen Visionen. Über Vasarelys (geb. 1908) "Wahrheit aus optischer Kultur" und Jaffes "De Stijl", siehe Ashton 115-137. 7f Breton 16. Über Bretons Beziehung zu Freuds Lehre, siehe Ashton 83.

214

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§146

die Verweisung weiterer Belege in den Kleindruck der Fußnoten zu rechtfertigen, wollen wir unser "j'accuse" mit einem ausführlichen Zitat aus einem einmal maßgeblichen Text beenden. Das Schöne, so lehrte man uns damals, ist "das, was charakteristische oder individuelle Ausdrucksfähigkeit für Sinneswahrnehmung oder Einbildung hat und den Bedingungen von genereller oder abstrakter Ausdrucksfähigkeit im selben Medium unterworfen ist"75. Für tiefere Einsichten müssen wir uns an jene wenden, die dem Traum einer einheitlichen Ordnung entsagt haben. § 146. Pluralismus. Es ist wohl der Jurist und Naturwissenschaftler Bacon, von dem gesagt werden kann, daß er den Weg zur Erkenntnis der immanenten Konflikte der Schöpfung und Schätzung von Kunst und Schönheit (beautness) wieder eröffnet hat76 . Aber es war Hume, einer der ersten Psychologen der Rechtsphilosophie, der mit seinem Studium der "allgemein herrschenden sanften Kraft"77 den Begriff der unterbewußten Assoziation einführte. Damit ermöglichte er uns, den widerstreitenden Reaktionen unseres einheitlichen Sinnes für das Schöne auf einzelne Schönheiten (beautnesses) näherzukommen. Schönheiten (beautnesses) hatten ihren Wettbewerb begonnen. Unter den relativistischen Begriffen waren Addisons "Vergnügen an der guten ,Beschreibung' eines Misthaufens"78 und Hutchesons "mathematische" Alternative von Einheitlichkeit und Verschiedenheit7 9 • In den späteren Katalogen von Schönheiten (beautnesses) beobachten wir jenen Widerspruch und überfluß, die uns an die Kataloge der Gerechtheiten erinnern80 • Wir müssen uns wohl mit Hogarths "Prinzipien" begnügen, die "Grazie und Schönes" ("Tauglichkeit, Verschiedenheit, Einheitlichkeit, Einfachheit, Schwierigkeit und Quantität")81 hervorbringen - oder auch mit Lord Kames' "Regelmäßigkeit, Einheitlichkeit, Proportion, Ordnung und Einfachheit"8z. Aber wie in der Rechtsphilosophie wollen wir die zugrundeliegenden Konflikte zu erklären versuchen, um zu lernen, uns mit ihnen als Produkt unserer psychologischen Struktur abzufinden81 • Bosanquet 5. Ober Bacon (1561-1626), siehe z. B. Montpensier, Bacon; Bowen; Bate 55. 77 Hume, Unterstanding, Teil I, Abschn. IV. Siehe auch derselbe Teil IV, Abschn. II; oben § 42. Ober den englischen "Assoziationismus" dieser Zeit, siehe Bate Kap. IV. 78 Addison (1672-1719) Nr. 418. Siehe im allgemeinen Bate 98-99. 78 Hutcheson 17. 80 Siehe oben §§ 44--46; unten §§ 164--165. Zur Musik vgl. etwa Slote. 81 Hogarth (1697-1764) 48. Siehe Bate 106. 8! Kames (oben Anm. 55) 97. Siehe Bate 105, 107, 146-147. 8S Aber siehe z. B. Wittgenstein, Lectures 17, 19. 75 78

§ 148

Psychoanalyse

215

(2) Psychologie

§ 147. Frühe Anfänge. Edmund Burke begann, sich der modernen Psychologie mit seiner Abhandlung über die ästhetischen Beziehungen zwischen Vergnügen und Schmerz zuzuwenden8'. Und Psychologie war auch in Diderots "rapports", deren Anzahl die Stufen des Schönen bestimmen sollten85 wie in Dubos' oder Lord Kames' Reaktionen auf Langeweile und Sehnsucht nach Neuem88 . Allison sah Schönheiten (beautnesses) als Funktionen geistiger Assoziationen87 . Und Psychologie kann - wenn sie auch noch nicht ausdrücklich hervorgehoben wird in jener antiken Betonung der Harmonie gesehen werden, die wir in der "Richtigkeit" der "Gestalt" wiedererkennen88 • Aber nur eine Psychologie des Unbewußten kann diese Formeln durchdringen. Anfänge dieser Technik erscheinen in jenen Theorien der Romantik im letzten Jahrhundert, die von der Untersuchung des Objektes "von unten"81, von des Beobachters "Einfühlungsvermögen"'O oder von dem "Spiel" des KünstlersIll ausgehen. Aber sogar in der Psychoanalyse stehen wir noch am Anfang. § 148. Psychoanalyse. Freud bekannte immer, er sei ein Laie in der Ästhetik und sein Ansatz war "entwaffnend in seiner Bescheidenheit"ll. In der Tat hat sich die Psychoanalyse zumeist mit posthumen Untersuchungen einzelner Künstler zufrieden gegeben. Die Initiative hierzu stammte von Freudta und wurde unglücklicherweise zumeist von Amateuren, nur selten von Experten, fortgeführtll'. Solche Untersuchungen 84 86

Burke 32-37. Siehe auch Stanlis; Bate 104, 150, 154; oben Anm. 55. über Diderot (1713-1784), siehe Crocker; Friedenthai, Entdecker des Ich

(1969).

Oben Anm. 37, 55, 82. AUson (1757-1839), Essay I, Kap. I; oben Anm. 77. Dieser Gedanke ist im zeitgenössischen Schrifttum wiedergekehrt. E. Newton (oben Anm. 73). 88 Amheim 112-119. Siehe auch z. B. Köhler; Koffka; oben Anm. 45. 89 über Dilthey (1833-1911), siehe z. B. Nohl 195-205; Hodges. über Fechner, siehe oben Anm. 27. 80 über F. T. Vischer, siehe oben Anm. 6. über den Gegensatz von "Einfühlung" und Abstraktion, vgl. oben Anm. 53. 81 Siehe oben Anm. 55, 67. Noch 1908 bedauert Worringer 46, daß "eine Psychologie des Kunstbedürfnisses ... noch nicht geschrieben" worden sei. Vgl. aber schon Eduard von Hartmann 245, der freilich auch Tieren und Pflanzen ein instinktives Schönheitsgefühl zuspricht. Daselbst 257. 82 Herbert Read, Value 17. Siehe Freud XIII 211. Vgl. auch allg. Gombrich, Ästhetik; Jones III Kap. 15. IS Siehe Freuds Studien über Da Vinci, Shakespeare und Michelangelo. Freud XI 59; ders., XIII 211; ders., XIV 314. Siehe z. B. Holland 9-44; Kris, Contributions 277-280. • 4 Unter den letzteren siehe z. B. Eissler, Gombrich, Kris und MoneyKyrIe (Man, Kap. VII). 88 87

216

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 148

können jedoch in die Irre führen, wenn sie vom Werk des Künstlers getrennt bleiben. Hugo von Hofmannsthai meinte mit poetischer Lizenz, daß "der Autor und sein Leben weit mehr der Effekt der Werke sind, als daß sie seine Ursache wären95 • Die Psychoanalytiker wiederum, die des Künstlers Werk selbst untersucht haben, haben sich öfter und intensiver mit dem Schöpfungsprozeß als mit Geschaffenem beschäftigt9s • Von solchen Abhandlungen haben wir kaum mehr gelernt als daß Poesie aus einer "Transposition des Motivs, Verkehrung in das Gegenteil, Schwächung der Verbindung, Aufteilung einer Figur, Verdoppelung von Prozessen, Verdichtung des Materials und besonders aus Symbolismus" 87 besteht. Ob wir nun solche Beschreibungen des Unbeschreibbaren schätzen oder nicht, sie bringen uns in unserem Verständnis individueller Schönheiten (beautnesses), um das es hier geht, nicht weiter. Eine dieser Schönheiten können wir vielleicht von Freuds versuchsweiser Spekulation über eine ursprüngliche Leistung des Sinnes für das Schöne ableiten. Dieser Sinn, so meinte er, mag anfänglich dem Manne dabei gedient haben, seine geschlechtliche Erregung zu neutralisieren, als diese sich auf nichtgenitale Teile des weiblichen Körpers erstreckt hatte, nachdem dessen Genitalien durch die neu angenommene aufrechte Haltung verborgen worden waren. Freud dachte, daß diese Neutralisierung vielleicht den Genitalien jene erregende Funktion bewahrte, die zur Fortpflanzung der Rasse erforderlich war. Nebenbei mag denn dieser Prozeß durch die ästhetische Betonung bestimmter sekundärer Geschlechtsmerkmale in unserer bewußten Freude an der menschlichen Form den dauerndsten und sichersten Maßstab einer Schönheit (beautness) geschaffen haben's. Lange vor Freud hat Schopenhauer ähnliche Gedanken gehabte, und Konrad Lorenz scheint ihnen zuzustimmen100 • Wenn wir diese Spekulation über den sexuellen Ursprung einiger unserer Schönheiten (beautnesses) weiter verfolgen wollen, können wir andere Elemente in Bildern eines sekundären Symbolismus finden 101 • Natürlich gibt es Schönheiten (beautnesses), die auf andere Ursprünge zurückzuführen und auch nicht notwendig Produkte des Kampfes zwi85 Hofmannsthai 7 mit Berufung auf "das Wort eines geistreichen Franzosen". 81 Siehe z. B. Rank, Künstler; Phillipson, Teil 11; Jung, Soul 199; Segal 196-203. 87 Rank und Sachs 102-103. 08 Siehe Freud XXI 83. Vgl. auch über Lorenz' Lehre, Hass 73. 80 Schopenhauer (1788-1860) I1I Kap. 44; VI 457. Zum Verhältnis zwischen Freud und Schopenhauer vgl. Aloys Becker 116--117,125,131. 100 Lorenz 161-162. 101 Siehe Baudouin 269-299; Herbert Read 85-92. Vgl. auch Grotjahn, Symbol 170--179.

§ 148

Psychoanalyse

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schen überich und Es sind (§§ 151-158). Vielleicht sollten wir mit William James, Bergson und Nietzsche davon ausgehen, daß viele solcher Schönheiten (beautnesses) auf die ununterbrochene Wechselwirkung zwischen apollinischer Liebe des Maßes und dionysischem Trieb des schöpferischen Künstlers zurückzuführen sind102 , wobei sie "die gefährdete Oberflächen-Gestalt gegen den disintegrierenden Druck unbewußter (vor-bewußter) Wahrnehmung" unterstützenlOS. Aber es gibt auch Schönheiten (oder Häßlichkeiten), die auf unbewußte Phantasien in dem freien "Tiefen-Sinn" des Künstlers und des Beobachters zurückzuführen sind104 . Hier ist es, wo wir dem begegnen, was Jung als die "Schönheit des Chaos" herabsetztl° 5 , aber auch was Anton Ehrenzweig die "verborgene Ordnung der Kunst" genannt hat. Diese Ordnung besteht als Organisation des Unbewußten in einer "Identität von Gegensätzen, der pansexuellen Existenz vor der Scheidung von männlich und weiblich" und "vor Unterscheidungen wie denen von davor und danach, darüber oder darunter, rechts oder links, vorne oder hinten"10B. Vielleicht werden wir dem Verständnis dieser Entwicklung näherkommen, wenn wir sie mehr als eine "verborgene Quelle der Ordnung" als die "Quelle einer verborgenen Ordnung" sehen107 . Auf jeden Fall gewähren uns die verborgenE; Ordnung oder ihre verborgenen Quellen Zugang zu jener "sekundären Stilgestaltung", durch die im Laufe der Zeit "der rücksichtslose Symbolismus der modernen automatischen Malerei sich in den Augen einer künftigen Generation in ein stilles dekoratives Ornament kristallisieren wird"I08. Genug! Dies ist keine Abhandlung über Ästhetik, sondern nur ein Exkurs in eine verwandte Disziplin. Dieser Blick auf den Sinn für das Schöne und seine Reaktion auf einzelne Schönheiten (beautnesses) hat, 102 Siehe Anton Ehrenzweig I 9-11, 34-35, 57; auch N. O. Brown, Life Kap.5. 10a Anton Ehrenzweig I 71-72. "Um es möglichst allgemein auszudrücken, das ästhetische Gefühl des Schönen ... interveniert zum Vorteil des Prinzips der Differenzierung (Eros) gegen die nivellierende Tendenz unbewußter Arten des Begreifens (Thanatos)." Daselbst. Die Kraft abstrakter Gestaltanalyse hat wahrscheinlich ihren Ursprung in der Latenzperiode des Kindes, von seinem 6. Lebensjahr bis zur Zeit der Pubertät. Anton Ehrenzweig 11 18-19. 104 Anton Ehrenzweig I 77, 111. 105 Jung 383. 101 Kuntz 352. 107 Ders. 354. lOS Ders. Vgl. im allgemeinen Anton Ehrenzwefg II Kap. 5. Vielleicht werden wir in einem dritten Millennium die Behauptung ernstnehmen können, daß .. Kunst ohne eine spezifisch formalästhetische Struktur im Bereich des Spieles bleibt, während eine Kunst, die zwar keinen Inhalt aber Struktur und Organisation hat, im Bereich der Mathematik und Geometrie bleibt". Noy 644.

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 150

wie ich hoffe, einen wichtigen Schlüssel zum Studium zentraler Gegenstände dieses Buches gegeben. Diese sind der Ursprung des Sinns für Gerechtigkeit, seine Reaktion auf einzelne Gerechtheiten und der Prozeß der Auswahl zwischen ihnen (§§ 166-168). Wir wollen mit dem Sinn für Gerechtigkeit beginnen. C. Der Sinn für Gerechtigkeit (Gewissen) 1. Untersucbungsplan

§ 149. Gerechtigkeit, Moral und Ungerechtigkeit. Diese Abhandlung wird die Gerechtigkeit nicht von der Moral oder Ethik unterscheiden, wenn zu solchen Unterscheidungen auch oft gedrängt worden ist1 • Die psychologische Struktur dieser Begriffe ist für unseren Zweck dieselbe. In Schelers schönem Satz: Sie betreffen alle "die Logik des Herzens"l. Insbesondere wird im folgenden jener Moralbegriff unbeachtet bleiben, der meist mehrdeutig des öfteren mit bestimmten, in der Regel sexuellen Maßstäben des Verhaltens identifiziert wird, die von Rechtsreformern entweder abgelehnt oder unterstützt werden3 • Man hat vorgeschlagen, daß der Sinn für Gerechtigkeit zutreffender als "Sinn für Ungerechtigkeit" beschrieben werden könnte', in derselben Weise, wie der "Sinn für Häßliches" zutreffender unseren "Sinn für das Schöne" beschreiben magll. Aber der Mensch hat immer in Begriffen der Gerechtigkeit gedacht, ob er sie nun als ein Werkzeug von Gottes positivem oder Satans negativem "Sein" ansah'. Wir werden deshalb die traditionelle Bezeichnung beibehalten und - gar nicht so ungern die Auswertung solcher Versuche beiseite lassen, die die "Erfahrung der Ungerechtigkeit" zum Gegenstand von Fragebogenaktionen gemacht haben7 •

§ 150. Gerechtigkeit und Instinkt. Unsere Gerechtheitsurteile werden und müssen verschieden sein. Aber sie reagieren immer auf ein Gefühl, 1 Siehe z. B. Bodenheimer, Justice 17-25. Vgl. Tillich 14; Waddington 26 Anm.1. I Scheler, Formalismus (oben § 42 Anm. 20), 2. Teil 215. 3 Siehe z. B. Devlin; Skolnick, Virtue; G. Hughes; Lloyd 58-64; Wiethölter 120-148. Vgl. Hart, Law; Ten; Hoerster, Moral; Nagel, Morals. « Edmund Cahn (1906-1964). Siehe die Bibliographie. § Siehe Croce (§ 145 Anm. 73) 92-93. Siehe auch Anton Ehrenzweig I 80; oben § 139 Anm. 21. 8 Tammelo, Material Justice. Vgl. Jung, Religion 171. 7 Barton und Mendlovitz. Dieses Programm verspricht wenig mehr als die Ergebnisse einer ähnlichen Untersuchung vor mehr als einem halben Jahrhundert. Neda. Siehe auch Souto und Souto (185) mit Bezugnahmen auf frühere skandinavische Studien von Kutschinsky, Makela, Christie, Andenaes und Shirbekk.

§ 150

Der Sinn für Gerechtigkeit (Gewissen)

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das uns allen zu eigen ist, wenn auch seine Grenzen und seine Intensität entsprechend den psychologischen oder sollten wir sagen pathologischen Eigenheiten jeder Person verschieden sein mögen8 • Nur in diesem Sinn können wir jene verstehen, die behaupten, "das Recht gehört zum Wesen des Menschen"U oder ist ein Produkt der menschlichen Vernunft 1o• Wir mögen es ablehnen, diesen Sinn für Gerechtigkeit selbst als "Instinkt" zu qualifizieren, da wir ja dessen biologischen Ursprung nicht kennen (§§ 128, 157). Aber wenigstens in bezug auf seine Funktion können wir diesen Sinn mit unseren Ernährungs- und Begattungsinstinkten vergleichen. Der Sinn für Gerechtigkeit bestimmt die Rechtsetzung in derselben Weise wie der Hunger das Essen, der Geschlechtstrieb die Fortpflanzung. Nur science fiction könnte ein menschliches Wesen konstruieren, das ohne seinem Instinkt zu folgen ißt und trinkt aufgrund der rein intellektuellen Einsicht, so sein Leben und das seiner Art zu erhaltenl l . Und nur science fiction könnte eine Gesellschaft konstruieren, die das Recht als bloß rationalen Mechanismus für die Erhaltung von Sicherheit und Ordnung schaffen könnte und würde. Die Natur ist zu weise, um sich nur auf den Intellekt oder die Vernunft des Menschen zu veJ·lassen. Sie hat ihn vielmehr durch Vererbung oder Erziehung in derselben Weise mit einem Sinn für Gerechtigkeit ausgestattet, wie sie ihm die angeborenen Triebe von Hunger und Sex gegeben hat. Das ist "die Moralität, die das Recht möglich macht"!!. In dieser Funktion ist der Sinn für Gerechtigkeit immer sowohl von den "Naturrechtlern" wie von den "Positivisten" anerkannt worden. Bei unserer weiteren Erforschung dieses Phänomens aber müssen wir darauf achten, den einheitlichen Sinn für Gerechtigkeit von seinen vielfältigen Reaktionen auf widerstreitende Gerechtheiten zu unterscheiden, wie auch die "schöpferische Gerechtigkeit" als agape "auf die konkreten Forderungen der jeweiligen Situation hört"18. Andernfalls würden wir denselben Irrtum begehen, den Biologen und Ästhetiker begehen würden, wenn sie bei der Erforschung des Hungerund Geschlechtstriebes oder des Sinnes für das Schöne einzelne Menus, 8 Blackshield, Justice 26; Tammelo, Rechtslogik 50. Das Tier mag, um Nietzsches Satz zu variieren, "diesseits von Gut und Böse" sein. Konrad Lorenz, der diese glückliche Umschreibung geprägt hat, hat mich freundlicherweise in einem Gespräch in seinem Institut im Sommer 1970 ermächtigt, sie zu gebrauchen. 8 Verdross, Ansprache, zitiert Marcic 20. Ca. Wielinger, ARSP 57 (1971) 559. 10 Troller § 27 IV, Anm. 26. So schon Brentano 13. 11 In seinem Dschungelbuch behandelt Kipling Mowgli, das Menschenkind unter den Wölfen. Als Vorläufer, siehe Itard. Vgl. auch oben § 76 Anm. l. Vgl. auch Eduard von Hartmann 238, der schon 1867 den Gerechtigkeitssinn "in der tiefsten Nacht des Unbewußten" findet. 12 Fuller, Morality 33-34. Siehe auch Brusiin 156 ff. 1I Tillich 37. Siehe unten Anm. 34; §§ 163-171.

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 151

Paarungsgewohnheiten oder Schönheiten (beautnesses) untersuchen würden. Und doch hat dieser Irrtum die Sprache der Philosophie aller Zeitalter geprägt14.

§ 151. Beschreibungen. Für den Hinduismus ist jedem Menschen sein dharma angeboren. Die vorsokratische Gerechtigkeit war im Mythos des Schicksals verwurzelt; ihm entfliehen zu wollen war Hybris. Nach Platos und Aristoteles' wirklichheitsnäherer Auffassung bestimmt die Gerechtigkeit für jede Sache oder Person den ihr zukommenden Platz15 • Aber in der ganzen Geschichte sind Versuche, den Sinn für Gerechtigkeit zu definieren und zu beschreiben, gescheitert. Sogar Hume und Hutcheson gaben sich mit ihrer Intuition zufrieden1'. Jede willkürliche Auswahl von Beschreibungsversuchen würde zeigen, daß ein Vakuum besteht, das einen neuen Inhalt fordert 17. Denn alle diese Versuche erschöpfen sich in der Aneinanderreihung von leeren Formeln der Art, der wir in der "Philosophie" des Sinns für das Schöne begegnet sind18. Wieder müssen wir in der Psychologie Hilfe suchen.

Siehe allgemein Bourke Kap. XVI. Siehe, in dieser Folge, Nikhilananda 71; Russell 113--114, 183; Voegelin III 338-340; oben §§ 4, 5. Aber siehe unten § 164. Aristoteles unterschied sehr deutlich zwischen dem Gerechtigkeitssinn und einzelnen Gerechtheiten. Vgl. etwa Nikomachische Ethik 1129 a. 18 Hutcheson 117; Hume, Morals, Abschn. I. Siehe auch Patterson 34; oben §§ 42, 139; unten Anm. 22. Die Phänomenologie stimmt damit überein. Troller § 27 Anm. 28. 17 Im folgenden einige Definitionen von führenden Philosophen. Der Sinn für Gerechtigkeit ist ein "abstraktes Gefühl". Spencer (§ 32 Anm. 72, § 39 Anm. 9) I 24. Es ist "das moralische Bewußtsein" (Dilthey, § 147 Anm. 89); eine "grundlegende moralische Erfahrung" (Nohl 23); das "sentimento giuridico" (DeI Vecchio Kap. VII); die "Fähigkeit, Richtiges von Falschem zu unterscheiden" (Huxley und Huxley 177); "a priori" Fähigkeit (Lorenz 175, siehe Hommes 186); ein "unausweichliches Postulat", eine "innere Stimme" (Brecht 371-374; 410, 567-568); ein "universales Streben" (Tammelo 312; Pescatore § 309); ein "unstillbarer Durst" (Rommen 134) oder einfach ein "Herdeninstinkt" (Nietzsche 11 595). Anspruchsvoller, aber kaum erfolgreicher, ist die Beschreibung des Sinnes für Gerechtigkeit als der "common sense der Menschheit". Austin, Lectures IV 148. Siehe oben § 21 Anm. 7; auch Mitteis 7, 18, 33 ff., 38; Troller § 27 IV; Bambrough. Ähnlich der "common sense der Gerechtigkeit" des immer skeptischen Lundstedt (oben § 57 Anm. 53; Friedmann 309); oder das Vertrauen auf "verita" (Opocher). Das "Recht" (Mill Kap. IV) oder "letztlich Gute" (Sidgwick Kap. XIV, Buch III) der Utilitaristen haben wohl ihre Laufbahn beendet. Aber müssen wir nicht auch die "schöpferische Intuition" (Geny, oben § 48); das nicht kognitive "Bekenntnis" (Radbruch, Grundzüge 2); die Flucht in die Metaethik (Lazari-Pawlowska); oder die Sehnsucht nach "Fairness" (Rawls, Fairness; oben § 39, unten § 160) ebenso vergessen? Weitere Umschreibungen finden sich bei Sparshott; und vgl. allgemein Bodenheimer § 57; Friedmann 29, 85,186; Friedrich 167. 18 Oben §§ 141-143. 14

15

§ 152

Psychologie

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2. Psyehologie vor und neben Freud

§ 152. Gewohnheit. Der erste psychologische Ansatz zur Erkenntnis des Ursprungs unseres Sinnes für Gerechtigkeit ist wohl derjenige, der die Rolle gewohnheitsmäßigen Gehorsams betont. Änderungen ästhetischer Maßstäbe mögen im Laufe der Zeit durch Gewöhnung Fremdes und Häßliches in wohlbekannte Schönheit (beautness) verwandeln1'. Ähnlich kann "Ungerechtigkeit" im Laufe der Zeit gerecht werden. Das griechische "Ethos", die lateinischen ,,mores" und die deutsche "Sitte" meinen zunächst die Gewohnheit und erst dann die Moralität20 . Ethos bestimmt weiterhin sowohl Verhalten (Ethologie) wie auch die Moral (Ethik). Aristoteles sah den Sinn für Gerechtigkeit aus "guten Gewohnheiten" erwachsen, die durch die Befolgung des Rechts entstehen!1. Und für Hume folgte der Sinn für Gerechtigkeit "künstlich, wenn auch notwendig aus Erziehung und menschlichen Konventionen"ll2. Diese augenscheinlich allzu einfachen Erklärungen haben bis heute in solchen Lehren wie der von Jellineks "normativer Kraft des Faktischen"23, der vom "Recht als Tatsache" (§ 57) bei den Skandinaviern und der von Jerome Franks "Realismus"24 überlebt. Hamlet hatte es zuvor schon gesagt: "Der Teufel Angewöhnung ... ist hierin Engel doch, er gibt der übung schöner, guter Taten nicht minder eine Kleidung oder Tracht, die gut sich anlegt." Damit hat wieder einmal der Dichter "einem luftigen Nichts einen Ort und Namen gegeben"25.

Die Rolle des Rechts- und Gewohnheitsgehorsams bei der Entwicklung des Sinns für Gerechtigkeit hat man auf den Trieb des Menschen zurückgeführt, seine Art zu erhalten!'. Diese Gedanken finden wir im Werk eines anderen Poeten wieder, dem wir einige unserer tiefsten philosophischen Einsichten verdanken. Zunächst sah Nietzsche Rechtsnormen durch die Gewohnheit eines geordneten Austausches entstehen, den der Mensch für sein überleben braucht. Aber dann fordert er uns auf, um unsere Kinder diese unedle Quelle des Rechts vergessen zu lassen, sie zu lehren, die Rechtsvorschriften "zu bewundern und nachzuahmen" und sie damit in Gerechtigkeit zu verwandeln. Gott wird helOben § 148 Anm. 108. Siehe auch oben § 123. Aristoteles wußte, daß "morals" (Eihxi) "mit geringer Abänderung" von der Gewohnheit (iHtoS) abgeleitet ist. Nik. Ethik 1103 a. tl Oben § 5 Anm. 50. tt Hume, Buch III, Teil 11, Abschn. I. ta Jellinek 337-339. Vgl. etwa auch Crawford. 24 Frank 105, 265. Siehe oben § 56; und allgemein über die Gewohnheit, Leiser. 25 Shakespeare, AMidsummer Night's Dream, Akt V, Szene 1. !I Oben §§ 6, 141, 142, 146; unten § 155. über Darwins Auffassung, siehe Sutherland; Huxley und Huxley Kap. 111. le

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 153

fen. Denn er "hat die Vergesslichkeit als Türhüterin an die Tempelschwelle der Menschenwürde hingelagert" 27. Vor-Freudsche Psychologen kamen über diese dichterische Vision kaum hinaus 28 • § 153. Intuition. PetTaZicki ist für viele der Gründer der modernen Rechtsphilosophie geblieben. Aber er überließ uns am Ende doch nur unserer "Intuition", nachdem er uns durch sein Labyrinth spezifischer und abstrakter "evolutionärer Tendenzen" und "Impulse" geführt hatte!'. Robinsons Werk, das mit Recht als das erste amerikanische Buch über die Rechtspsychologie angesehen wird, kommt bedauernd zu der Schlußfolgerung, daß es keine Wissenschaft von der Ethik gibt30 • Und die "sozialistische" Psychologie machte es sich selbst unmöglich, diesen toten Punkt zu überwinden, indem sie Freuds Trennung von Bewußtem und Unbewußtem wie auch seinen "Pansexualismus" verdammte und fälschlich davon ausging, seine Theorie begrenze die Charakterbildung auf die frühe KindheitS1 •

Unserer Zeit kamen wohl jene am nächsten, die wie Rousseau die Rolle der menschlichen Angst bei der Bildung des Sinnes für Gerechtigkeit verstanden. Aber er suchte diese Angst zu beschwichtigen, indem er die Sünde beiseite ließ und zum Naturzustand zurückkehrte, während er den "natürlichen" Konflikt in uns selbst ignorierte s2 • Kants ka1legori'!;cher Imperativ mit seiner Identifikation von Feind und Selbst näherte sich der psychologischen Realität des überich33 • Aber seine a-priori-Formel vermochte nicht, uns den notwendigen Schlüssel zu den Konflikten und Ängsten zu geben, die den Sinn für Gerechtigkeit schufen. Eigenartigerweise hat eine freudige und mutige Theologie von heute zu einem großen Teil ihren Weg in halb widerstrebender, halb nachgebender Gemeinschaft mit der Psychoanalyse gesucht, mit der sie ein "transmoralisches Gewissen", eine "schöpferische Gerechtigkeit" in Liebe-agape zu teilen meintu. Aber nur geduldige Selbstanalyse kann Nietzsche II 158. Siehe allgemein Whyte, The Pre-Freudians. Noch einmal Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft Buch V: "Der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber er weiß es nicht; das bewußt werdende Denken ist nur der kleinste Teil davon." 28 Zu Petra!icky (1867-1931), siehe z. B. Bodenheimer 107; Opalek 139, 144; Redmount 489-495; Meyendorff; Timasheff; Baum 48-50; Podgorecki; Horvath, Timasheff. 10 Robinson 225. I1 Rubinstein 257, 285, 767, 826. Siehe auch Simon (Hrsg.); Payne; H. K. WeHs. 32 über Rousseau, siehe Russell Buch III, Kap. XIX; E. Cassirer, Rousseau; oben § 38. aI Siehe Bromberg 190; auch oben § 32; unten § 158. über die Funktion des Zornes by Aristoteles vgl. Giuliani, Giustizia 61-67 mit Berufung auf Aubenque. " Tillich Kap. 4, auch 37-38, 79-80. Der "moralische Imperativ (ist) die Forderung, tatsächlich das zu werden, was jemand eigentlich und deshalb 17

18

§ 154

Psychoanalyse

228

uns jenes "Wissen um die Schwäche" lehren, von dem allein wir Stärke erhoffen können16 • 3. Psychoanalyse a) Untersuchungsplan

§ 154. Zögern. Wir haben die Ironie der Geschichte angemerkt, die ein Treffen zwischen Max Weber und Sigmund Freud, diesen beiden großen Zeitgenossen der Sozialwissenschaft, verhindert hat (§ 134). Es war eine ähnliche Ironie, die für Freuds Versäumnis verantwortlich ist, selbst die vielgestaltigen Probleme dieser Wissenschaft in Angriff zu nehmen. Man hat dies auf sein Zögern zurückgeführt, zu einer Machtstellung seiner Lehre beizutragen, für die, wie er wußte, unsere Zeit lange nicht bereit sein würdeSt. Ja, schon als junger Mann hat er "rücksichtslos seiner starken Vorliebe für die Philosophie widerstanden" und, wenn er auch kaum das Recht in diese Vorliebe eingeschlossen hätte, so ist es doch bedeutsam, daß "die einzige Prüfung in seinem Leben, in der er versagte, die in forensischer Medizin gewesen ist"87.

Bisher haben auch andere Psychoanalytiker vor den fundamentalen Problemen von Recht und Gerechtigkeit zurückgescheut. Gewöhnlich haben sie sich mit der Nachzeichnung einzelner Gerechtheiten zufrieden gegeben38 oder sie haben - wie Plato und Aristoteles - sich hauptsächlich um eine Beschreibung des "gerechten Menschen" bemüht39 • Sogar das augenscheinlich einsichtigste psychoanalytische Werk über Moral erörtert den Sinn für Gerechtigkeit nur im Hinblick auf das Strafrecht". Einige Schüler von Jung haben allerdings diese Frage auf breiterer Ebene erörtertu . Aber Jung selbst, der zwar einen besonderen Begriff des Bösen kannte, gestand zu, daß man konkret von einem Tatbestand spricht, dessen tiefste Qualität wir in Wirklichkeit nicht kennen4!.. potentiell ist, (die) Kraft des menschlichen Seins, ihm von der Natur gegeben, die er hier und jetzt aktualisieren soll". Ders. 12; auch 16, 18. Siehe auch J. Fletcher, Situation. über Bachofens "naturalistische schließliche Vision"; vgl. Zweigert, Bachofen. 15 Cardozo 330. Siehe auch B. H. Levy 66-67. se Bernfeld, passim. 87 Jones I 27, 29. Freud ist von einem seiner frühen Nachfolger beschuldigt worden, er habe die Ethik und die Metaphysik .. mißhandelt". Dalbiez 463 bis 491, 449--454. 18 Siehe z. B. West, Theory; Bergler und Merloo, Kap. 1, 2; Schoenfeld, Natural Law. Siehe auch unten § 163. 39 Siehe z. B. Money-Kyrle, Man Kap. VIII. 40 Flugell40, 160, 169-170, 193, 198, 212-214, 255. U Vgl. z. B. 5 J. Anal. Psych. 91 (1960). Vgl. auch Erlch Neumann. 41 Jung 457. Siehe auch Dry 205-206.

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

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§ 155

Ähnlich haben jene Schüler Freuds, die sich weiter vorgewagt hatten, letztlich ihren Fehlschlag zugegeben. So können wir kaum neue Ergebnisse in Fromms Abwandlung der Kantschen Forderung finden, daß die Gerechtigkeit auf eine "soziale Situation bezogen werden soll, in der ein Mensch nicht sein eigenes Ziel ist, sondern ein Mittel für die Ziele eines anderen Menschen wird"4s. Tammelo hat trotz seiner Bezugnahme auf Psychoanalyse in seinem brillanten sokratischen Monolog über Gerechtigkeit sich jeder Schlußfolgerung aus dem unvermeidlichen Konflikt enthalten". Levine hat uns nur eine kurze Vorschau auf eine "Psychographie" gegeben, die die in Moralität transformierten Instinkte nachzeichnen würde'5. Und andere führende Autoren, wenn sie sich natürlich auch des ambivalenten Verlaufs dieses Prozesses bewußt waren, haben die traditionelle und fruchtlose Suche nach Moralcodices einzelner Gerechtheiten weiter betrieben46 . So ist es traurige Gewißheit geblieben, daß "wir so gut wie nichts über die schöpferischen Sozialkräfte wissen und ihren stärksten Impuls, unser angeborenes, zutiefst verwurzeltes Gerechtigkeitsgefühl "47. § 155. Detente. Die größte Schwierigkeit bei der Entwicklung neuer psychoanalytischer Ansätze für ein Verständnis des Sinnes für Gerechtigkeit ist vielleicht die Tatsache, daß weder Juristen noch Psychoanalytiker sich für diese Aufgabe als qualifiziert angesehen haben und daß beide sich so wenig um eine gegenseitige Befruchtung bemüht haben. Kein Wunder, daß die wenigen psychoanalytischen Versuche von Juristen auf einzelne, ausschließlich rechtliche Probleme beschränkt geblieben sind, und daß auch diese ziemlich willkürlich ausgewählt wurden, wie etwa: gewisse Aspekte des Geschworenengerichts, des Scheidungs-, Arbeits- und Seerechts oder die Rolle des Richters in einem kontradiktatorischen (adversary) System48 • Auf der anderen Seite haben sich jene Psychoanalytiker, die sich an das "Recht" herangewagt haben, nur mit jenen Gebieten befaßt, die ihnen aus ihren eigenen Erfahrungen als Therapeuten oder Gerichtssachverständigen vertraut sind, nämlich das Straf- und Familienrecht48 . In den seltenen Fällen, in denen sie sich auch um das Recht als solches bemüht haben, haben sie dazu ge43

Erich Fromm (geb. 1900) 53. Siehe auch derselbe, Man. Vgl. z. B. Bourke

274-275.

" Tammelo 399-403. 45 Levine. Siehe oben § 58. 48 Siehe z. B. Heinz Hartmann; Feuer; Malmquist; Sathaye; Hartmann und Loewenstein. 47 Anton Ehrenzweig II 223. 48 Siehe oben § 132 Anm. 7. Zum Verfahren siehe z. B. Katz, Goldstein und Derschowitz; Schoenfeld, Symbolismus 59-ß3; Frank, Courts Kap. 6; unten §§ 220-227. 4U Siehe z. B. Flugel Kap. IIr; oben Anm. 48.

§ 156

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Psychoanalyse

neigt, von ihren psychologischen Einsichten chen50 •

kein~n

Gebrauch zu ma-

Man hat diese Forschungslücke manchmal auf die Tatsache zurückgeführt, daß die Psychoanalyse, die im Gegensatz zur "Schulpsychologie" mehr in der Medizin als in der Philosophie wurzelt, an den Bemühungen der letzteren nicht t~ilgenommen habe 51 • Aber schließlich förderte ja Freud selbst die Laienanalyse52 , und diese wurde ja auch tatsächlich von einigen seiner Schüler, unter denen so mancher Philosoph war, praktiziert. Ein anderer prominenter Autor hat diese befremdende detente damit zu erklären versucht, daß "die Psychoanalyse keine Quelle moralischer Werte ist"53. Aber diese Erklärung reicht nicht aus. Schließlich sind psychoanalytische Techniken auf j~nem moralischen Wert gegründet, der für viele der größte ist: der Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst. Und das Gewissen, die Sublimierung und die Liebe sind wesentliche Teile der psychoanalytischen "Hygiene der Persönlichkeit und Gesellschaft"54. Die Psychoanalyse kann und muß die "Werte" ihrer Patienten identifizieren und testen. Was sie damit den einzelnen gewährt, kann sie der Gesellschaft nicht vorenthalten. Sie kann und muß uns zu dem Konfliktsbewußtsein verhelfen, das allein uns zu einer Diagnose der Probleme der Gerechtigkeit führen kann und letztlich vielleicht zu einer Therapie einzelner Symptome, wenn auch wohl nicht zur Wurzel der schlimmsten Krankheit des Menschen, seinem Selbstzerstörungstrieb55 • Aber der Weg vor uns, wenn auch auf bekanntem Boden gebaut, hat manche Zweigung. § 156. Uneinigkeit und Vbereinkunft. Bei der Entwicklung einer psychoanalytischen Theorie der Gerechtigkeit sollten wir uns nicht durch Uneinigkeiten unter den Psychoanalytikern behindert fühlen. Gewiß benöti~n wir weitere Einsichten in die nach-Freudschen Bemühungen um das sehr kontroverse Mutter-Kind-Verhältnis58 • Wir werden auch mehr über den viel diskutierten Ursprung und die Funktion des überich und es "Ich-Ideals" in bezug sowohl auf das Ich als auch das Es wissen wollen, und über die zyklischen Beziehungen zwischen dem Lust50 Siehe z. B. Bernard Diamond, Method; ders., Ray Lectures. Aber siehe ders., Leviathan. 51 Money-Kyrle 102. 52 Freud XX 179. 6S J. Goldstein 1060. Siehe auch Redmount; West; Heinz Hartmann. 54 Dry 152-154. 55 Siehe allgemein Freud XVIII 19. Siehe auch Pfister, Sittlichkeit 165; Weiss. Mein früheres Eintreten für eine psychoanalytische Theorie der Gerechtigkeit (Ehrenzweig, Jurisprudence) hat einigen Beüall gefunden. Shuman, Book Review 1452. 58 Siehe im allgemeinen Melanie Klein; Anton Ehrenzweig I 260, II 233, 293-295; Wyss, Depth Psychology 166-320.

15 EbreDSwel,

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 157

und Realitätsprinzip, zwischen Schuld und Schami? Und wir dürfen wohl hoffen, einmal die emotionale Meinungsverschiedenheit unter den Psychoanalytikern bezüglich des Todestriebes überwinden zu können. Denn, Anton Ehrenzweig meinte einmal, diese Meinungsverschiedenheit ähnelt ja der zwischen Positivisten und Anhängern des Naturrechts mit ihren tiefen Wurzeln in der Angst, die durch alles Experimentieren mit dem Unbewußten hervorgerufen wird. Schließlich wird wahrscheinlich die von außen kommende Entwicklung in der Massenpsychologie der Massenmedien und Psychodelen so manche Erweiterung und Revision einiger grundlegender Voraussetzungen der vorliegenden Untersuchung erfordern. Aber weder Meinungsverschiedenheiten unter den Psychoanalytikern noch irgendwelche Erweiterungen oder Revisionen ihrer Erkenntnisse können unsere Aufgabe berühren und keinesfalls rechtfertigen sie sterilen Widerstand. Unsere Studie über den Ursprung und die Funktion des Sinns für Gerechtigkeit setzt nur jene Begriffe von Ich und überich voraus, die - von geringfügigen Unterscheidungen abgesehen - im Kern unumstritten sind58 • Wenn dieser Abriß eines Laien auch nur hoffen kann, einen möglichen Ausgangspunkt für die so notwendige Forschung von Experten anzubieten, so muß er doch die zentralen Hilfsbegriffe einbeziehen, die diese Forschung für ihre Untersuchung der Gerechtigkeit brauchen wird. b) LustpTinzip und Es - Leben und Tod

§ 157. Man hat gesagt, der ererbte Teil des Es drücke sich zuerst in der "pulsierenden Verwirrung" und der unbewußten Gestaltreaktion des Kleinkindes aus sP • Während diese frühesten Entwicklungsstufen gewiß den Willen zum Leben erkennen lassen, so stellen sie wahrscheinlich auch die ersten Schritte zur Vernichtung des Lebens dar60 • Freud glaubte, daß der Prozeß dieser aufeinanderfolgenden seelischen Vorgänge "jedesmal durch eine unlustvolle Spannung angeregt wird und dann eine solche Richtung einschlägt, daß sein Endergebnis mit einer Herabsetzung dieser Spannung, also mit einer Vermeidung von Unlust oder Erzeugung von Lust zusammenfällt"81. Es ist dieses "Lustprinzip", Siehe unten §§ 157-162. Siehe z. B. Jones 111 Kap. 8; Erikson 111-157; ders., Growth IV, 2; Anna Freud; Fine Kap. XI; Marcuse Kap. 11; Piers und Singer 11-17, 48-54; Malmquist 301-307; Anton Ehrenzweig 11 182-186, 248-249; eoles, passim (über Erikson). Vgl. auch Wilhem Reich, Superego; und darüber M. B. Zweig. 51 Siehe z. B. Money-Kyrle 117-119. 10 Freud XXIIII4~147. Siehe auch oben § 129 Anm. 88. 11 Freud, Jenseits des Lustprinzips, Ges. Schr. VI, 191. Dürfen wir diese Libidoenergie mit Spinozas "titiIlatio" vergleichen? Siehe Hampshire 162; oben § 42 Anm. 1; § 121 Anm. 61. 57

58

§ 157

Lustprinzip und Es

227

das der durch Bekämpfung der der Libidoenergie des Lebensdranges innewohnenden "Erregung" der "Konstanz" zu dienen sucht und darum letztlich dem Todestrieb gleichgesetzt worden ist62 • Diese Annahme ist wohl vielfach bestritten worden63 • Wer aber diese Theorie einfach als "künstlich", "nihilistisch" oder "allzu pessimistisch" verwirft64, ignoriert ihre Geschichte und ihre allgemeine Bedeutung. Die Auffassung des Todes als Ruhezustand ist nicht nur der orientalischen Weisheit des Nirvana eng verwandtes, sondern kann auch ehrwürdige westliche Ahnenreihen für sich in Anspruch nehmenee . "Niemals zuvor" hat man gesagt, "ist der Tod so wesentlich zum Bestandteil des Lebens gemacht worden und niemals zuvor ist der Tod dem Eros so nahe gekommen61 ." In unserer Untersuchung des Sinns für Gerechtigkeit, wie in aller wissenschaftlichen Forschung, muß die Frage nach dem "Woher" jener nach dem "Wofür" vorausgehen oder sie wenigstens begleitenl8 • Wir haben den Mechanismus beobachtet, durch den das Lustprinzip eine sekundäre ästhetische Befriedigung erzeugen soll, um eine größtmögliche geschlechtliche Erregung (Eros) für die Erhaltung der Rasse zu gewährleisten (§§ 141, 148). Aber wir haben nicht zu entscheiden versucht, ob der Sinn für Schönes (oder Häßliches) einem ererbten Produkt dieses Urmechanismus verwandt ist oder von jedem von uns neu erworben wird (§§ 141, 142). Wir werden auch nicht zu entscheiden versuchen, ob der Sinn für Gerechtigkeit (oder Ungerechtigkeit) einem ererbten Produkt des Lustprinzips verwandt ist oder als Folge der Erfahrung jedes einzelnen gesehen werden muß. Aber wenn die Spekulation über die ursprüngliche Quelle des Sinns für Schönes Erfolg verspricht, dann dürfen wir wohl zumindest den Ansatz zu einer ähnlichen Spekulation über den Sinn für Gerechtigkeit suchen. Könnte nicht die Ur-Ethik, wie die Ur-Ästhetik z. T. ein Meachnismus sein, durch den das Lustprinzip sekundäre Befriedigung erzeugte, um den größtmöglichen Aggressionsanreiz für die Erhaltung der Rasse zu gewährleisten? Oder, um diese Parallele zu verfolgen: Freud hat gemeint, daß wir die Genitalien desG2 Freud XVIII 38--11. Siehe auch N. O. Brown 85; Ferenczi 367. Vgl. Schilder 12. 13 Fine 176-178. Zu Freuds frühen Zweifeln, siehe Freud XVIII 59. u Frankl 28; Coing I 99; Bodenheimer 261. Coing hat diesen Angriff in der 2. Ausgabe seines Werkes vennieden. 15 Siehe z. B. Durckheim; Negre; oben § 4 Anm. 16. se Siehe Freud XVIII 8--10, wo Fechners (1801-1887) Inspiration anerkannt wird. Allgemein siehe z. B. Marcuse 25, 108--109, 139, 167; N. O. Brown

105.

e7 Marcuse Kap. 11. GS Dieser Gedanke geht durch Lorenz' gesamtes Werk. Siehe die Bibliographie. 15'

228

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 158

halb nicht "schön" finden, weil das Lustprinzip durch die Auswechselung seiner Objekte dazu gedient hat, sie vor einer "Ästhetisierung" und damit vor einer schließlichen Neutralität zu bewahren, die den Fortpflanzungstrieb behindert hätte. Könnten wir nicht in demselben Sinn daran denken, daß wir Töten niemals "gerecht" finden, weil das Lustprinzip es vor einer "Ethisierung" und damit vor einer schließlichen Neutralität bewahrt hat, die den Selbstverteidigungstrieb behindert hätte? Zugegeben: beide Spekulationen mögen weit hergeholt und überkünstlich erscheinen. Aber wir können immerhin argumentieren, daß sie, ob sie nun berechtigt sind oder nicht, in unserer Suche nach den Ursprüngen unserer Sinne für Schönes und Gerechtigkeit zumindest unter die Oberfläche von Worten und bloßem Glauben zu gelangen trachten. Jedenfalls aber müssen wir sowohl über das Es und die Lust hinaus in den Bereich von Ich und Realität vordringen, um uns wenigstens der Funktion, wenn nicht dem Ursprung des Sinns für Gerechtigkeit zu nähern. c) Ich und Realität: Jenseits des Lustprinzips

§ 158. Man hat oft angenommen, daß das Kind sich in den ersten 6 Monaten in Fortsetzung seiner intrauterinen Existenz in psychologischem Gleichgewicht befinde". Dieser "primäre Narzißmus" erleidet seinen ersten Schock, wenn die Mutter dem Säugling den Rücken kehrt. Es mag sein, daß diese erste Ungerechtigkeit erträglich wird, wenn sie als gerechte Strafe für eine imaginäre Missetat oder sogar für das reale Delikt des ersten aggressiven Bisses begriffen wird70 . Auf jeden Fall ist das Kind einer feindlichen Umgebung begegnet und sein Ich muß Frieden mit dieser Realität zu machen suchen. Ein "Realitätsprinzip" mag es dann zwingen und befähigen, dem sofortigen Lustgewinn eine zwar verzögerte, aber gesicherte Befriedigung in "zivilisiertem" Einverständnis mit den Forderungen der Autorität vorzuziehen. Aber diesen Forderungen begegnet es nicht ohne Kampf. Sie werden dem "undifferenzierten Nährboden" des Kindes eingepflanzt, manchmal als "extreme, fast-psychotische Aggressionen"71 eines überich, das wir in der Folge als den Hauptdarsteller in unserem Drama antreffen werden (§ 159). Dieses überich verstrickt das Ich in jenen fortdauernden Kampf, den wir wohl als vitalen Faktor im Wachstum jenes Sinns für Gerechtigkeit verstehen müssen, der von Freud "der entscheidende kulturelle Schritt" se Kohut 245-246. Siehe auch Ricoeur 261-280; oben Anm. 59. Siehe Anton Ehrenzweig II 216-217; Klein, Conscience; Erikson 79; J. A. C. Brown 71-79; Bienenfeld, Justice 5. Die Funktion des Realitäts70

prinzips wechselt mit dem "sozialen Charakter" jeder Kultur. Fromm, Crisis 16. 71 Heinz Hartmann, Ego 39. Siehe auch Anton Ehrenzweig II 226.

§ 160

Realitätsprinzip und Ich

229

genannt worden ist7!. Ist es dieses Verständnis, das Laotse meinte, als er sagte, daß Gerechtigkeit die verlorene Liebe ersetze73 ? Nur in Utopia können wir eine Magie erahnen, durch die diese beiden eins werden". In unserer Welt müssen wir zufrieden sein, wenn überich, Ich und Es "in fruchtbarer Wechselwirkung verbleiben ... , kontrolliert von dem ewig wogenden Kampf zwischen den Kräften von Thanathos und Eros"'5. d) Vberich und Gerechtigkeit

§ 159. Sigmund Freud. Gewöhnlich werden drei konstituierende Elemente des Überich genannt: jenes, das "auf Liebe und Scham gegründet ist und Selbstlosigkeit, Opfer für andere und Mitleid für sich selbst verlangt"'8; "Introjektion" von elterlichen und quasielterlichen Verhaltensweisen als auch anderen "institutionalisierten Verhaltensmodellen"71; und Zurückweichen einer Aggression, das durch frustrierende Gegenstände der Umwelt hervorgerufen wird'8 . Halten wir uns diese unbewußten Konstitutivelemente des Freudschen überich vor Augen, so ist nicht leicht zu verstehen, wie zeitgenössische Experimentalisten das Verhältnis dieses Begriffes zur Moralität in Frage stellen können'9 ; wie Jungs Mystik uns über Freuds Lehre hinausführen soll (§ 160); oder wie, schließlich, irgendeine Abwandlung des Inhalts dieser Lehre (§ 161) die einzige These unserer Analyse berühren könnte, nämlich die entscheidende Rolle der Dreiheit von Es, Ich und überich für das Verständnis unseres Sinnes für Gerechtigkeit. § 160. eart Jung. Wenn Jung seine "conscientia" (syneidesis) in archaischem Erbe80 verwurzelt sah, so stand er damit nicht im Gegensatz zu Freuds Auffassung, der meinte, eine solche Erbschaft könnte ein wichtiger Faktor bei der Entstehung des überich sein81 • Auf der 71 Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Schr. XII, 28, 63. Siehe allgemein Money-Kyrle 119. über Freuds Begriff des Bewußtseins, siehe z. B. Ricoeur 204, 449; Zulliger 381-382. Vgl. auch etwa Pattison (mit Bibliographie). über Ego-psychologie im allgemeinen vgl. auch Fromm, Crisis 21-29; Alexander, Development. 71 Siehe Coing 283. 74 N. o. Brown 152, 254. 7$ Anton Ehrenzweig II 226. 7' Bienenfeld, Prolegomena 1261. Siehe auch Winnicott; oben Anm. 57. 77 Parsons, Structure 49. Als ein Beispiel einer einschlägigen Gruppenpsychologie aus der puritanischen Geschichte, siehe Kai Erikson. 78 Diese Frustration "verlangt grausame Maßnahmen gegen sich selbst, gegen die Mitmenschen, und gegen die Feinde und beruht auf Furcht und Schuld". Bienenfeld. Prolegomena 1261. Siehe auch Schoenfeld 311. 78 Bandura und Walters 206. Siehe auch Licke. 80 Jung 440. Siehe auch z. B. Reik, Myth 5. 81 Freud XXIII 98. R6heim sah in dieser Erbschaft sogar einen Teil der "Einheit der Menschheit". Kap. X. Siehe auch Schilder 223; Glover 25-32;

230

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 161

anderen Seite suchte Jung vergeblich, Freuds entscheidende Ergänzung dieser Erbschaft, ein frühes Wachsen des Sinns für Gerechtigkeit beim Kind, entbehrlich zu machen, indem er vorschlug, daß Moralität als solche ein universelles Attribut der menschlichen Psyche sei, das Ergebnis einer autonomen Dynamik, das man treffend Dämon (Sokrates), Genius, Wächter, Engel, besseres Ich, Herz, innere Stimme, der eigentliche und höhere Mensch genannt habe. Diese Mystik kann uns kaum mehr Befriedigung geben als Jungs Einsicht, daß der Sinn für Gerechtigkeit als ein Teil der ererbten Struktur unserer Psyche immer existiert hat8%. Im Lichte dieser alles eher als klärenden Formulierungen wird es noch weniger verständlich, wie Jung und einige seiner Anhänger Freuds Gedankengebäude als nur zu des Autors eigentümlichem "Typ" passend abtun konnten, oder weil es ein bloßer "Deckmantel für religiöse Mißverständnisse"83 sei oder einen bewußten Willkür akt der Repression8' darstelle und von einem "amoralischen Ursprung"85 vergiftet sei.

§ 161. Andere. In dieser Untersuchung über Rechtsphilosophie können wir nicht versuchen, auch nur eine kursorische Analyse der Diskussion über die wesentlichen Elemente des hier nur kurz umschriebenen Begriffs "überich" zu geben88 . Diese Diskussion hat viele wichtige Variationen hervorgebracht, wie die der Zweiteilung in ein gutes und ein böses überich, gegründet auf "verfolgende" und "depressive" Schuld87 • Darüber hinaus hat sich die Diskussion auf solche benachbarte Gebiete wie die einer biologischen "Schließmuskelmoralität"88 und auf solche J. A. C. Brown 46. Taucht dieser Gedanke schon im "Gemeinwissen" des griechischen Chors auf? N. O. Brown 87, 103-104. 81 Jung, Ges. Werke, Bd. 6, 483. Zum kollektiven Unbewußten vgl. etwa Lerner 248-249; unten § 169 Anm. 58. Siehe auch unten § 163 Anm. 20. Für einen Versuch der Anwendung Jung'scher Begriffe auf die Rechtsphilosophie, vgl. Lerner 272-287. 83 Jung, Soul Kap. VI, 259. über Jung im allgemeinen, siehe z. B. Wyss 321-361.

84 Jung sieht diese vorgebliche Repression gegründet auf .. eine Anerken~ nung moralischer Anstößigkeit des Inhalts des Unterdrückten". Jung 438 bis 439. Wovon sollen wir diesen ..moralischen" Maßstab ableiten? Tillich (78) sieht, weniger zwiespältig, .. dauernde Akte der Unterdrückung, deren Ergebnis das schlechte Gewissen ist". 81 Vivas 143, 148. Andererseits sieht Springer 41 ein Verdienst in Freuds .. Wiederentdeckung" der Heiligen Schrift. 88 Oben Anm. 76-78. Die folgenden Beispiele müssen ausreichen: Freud IV 255-264; XIX 31-39, 48-55, 173-179; XXI 123-133, 136-137; XXII 60-69, 109; Rank 286-295 (.. Ideal-Formation"); R6heim, Magie 51-61; Flugel 34-39; ders., Kap. IV, V; Anton Ehrenzweig II 233, 236; Watson 76-88; Parsons, Superego; Malmquist 301-308, 317; Beres; ders., Vicissitudes; Meyer; Sandler; Furer; Hammermann; Hartmann und Loewenstein; Fromm, Man; Schafer 181-188; Spitz; Breastad; Brandt 141. 87 Siehe Money-Kyrle, Man 124-131, Klein 9 folgend. 88 Ferenczy, Habits.

§ 162

Gerechtigkeit und Überich

281

meta-Freudschen Spekulationen wie die über ein "Ich-Ideal"s, und schließlich über ein "Über-Es" erstreckt, das von manchen als eine dem Realitätsprinzip vorangehende Pseudo-Moralität verstanden wird·o. Glücklicherweise brauchen wir in diesem Theoriengetürnrnel nicht Stellung zu beziehen. Noch brauchen wir auf der anderen Seite in einer neo-mythischen, existentiellen Einheit mit denen Zuflucht zu suchen, "die selbstaktualisierend zur Auflösung der Freudschen Dichotomien und Trichotomien neigen"·1. Schließlich werden wir auch nicht der oft wiederholten Behauptung zustimmen, daß andere Kulturen nicht die gesellschaftlichen Bedingungen aufweisen, auf die Freud seine "ödipale" Triarchie gründetet!. Denn "der Eifersuchtsaspekt von Freuds Ödipuskomplex ist gewiß universell und auf die verlängerte Abhängigkeit des Kleinkindes von der Sorge der Mutter gegründet"". Wenn auch Es, Ich und überich, Lust- und Realitätsprinzip gewiß nur eine symbolische Struktur von notwendig sich überschneidenden, nicht klar geschiedenen Entwicklungsstufen des Kleinkindes sind, so genügen sie doch, um eine lebendige Sprache an die Stelle eines leeren Wortschwalls zu setzen. e) Folgerungen

§ 162. Wir haben für unsere Untersuchung des Sinns für Gerechtigkeit nicht wenig von den Freudschen Studien über die Zwei- bis Sechsjährigen und auch von den nach-Freudschen Spekulationen über den Säugling und das Kleinkind gelernt. Wir haben die frühen Wechselwirkungen von Lust- und Realitätsprinzip, von Ich und überich beobachtet. Es mag sein, daß wir künftig noch weitere Erkenntnisse von einer vertieften Beobachtung des nachfolgenden Lebensabschnittes, jenes der Latenzperiode, erwarten können. Während dieser Periode entwickelt das Kind durch das Wachsen seiner schöpferischen Kraft analytische Fähigkeiten, die über seine frühere undifferenzierte, synkreti~ stische Sicht der Wirklichkeit hinausgehen". Vielleicht hat auch unser Siehe z. B. Lampl de Groot; oben Anm. 76. Siehe z. B. FlugeI158-160; Money-Kyrle; Furer; Marcuse 228. 'I Maslow 96. Siehe auch ders. 194, 207. 92 Vgl. aber Parsons, Oedipus; Kranzer. Das Ortigues-Team fand denselben Komplex bei den Senegalesen, wenn auch mit Ersetzung des Vaters durch Gruppe und Ahnen. Ortigues und Ortigues 303, passim. Siehe auch Schoene Kap. VII. Für eine freilich hier nicht wesentliche Spekulation über die Geschichtlichkeit der Figur Oedipus, siehe Velikovsky. 93 Franz Alexander, Influence 427. Siehe auch Mitscherlich, Versuch 16-17, teilweise gestützt auf Marcuse, Kultur 135; Parsons, Oedipus; und besonders Stephens. Ober eine wachsende Betonung der Mutterbeziehung, siehe Melanie Klein, passim; Fromm, Crisis Kap. 2, 6. Für frühe Grundlegung, vgl. auch Bachofen. U Anton Ehrenzweig II 133-134, 260, 280-289. 8. 80

232

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 163

Sinn für Gerechtigkeit Anteil am Prozeß dieser analytischen Differenzierung, der dann zur "akademischen" Einordnung der in der Schule erlernten Gerechtheiten im Jünglingsalter hinüberführt. Ja, das Studium dieses Prozesses könnte sogar neues Licht auf jenen häufigen Rücklauf in den nachpubertären Jahren werfen, der für die Älteren so tief verwirrend ist. Denn es mag sein, daß es eine erneute "künstlerische" Ent-Differenzierung von Gerechtheiten ist, die den jungen Rebellen zu seiner neuen und doch so alten synkretistischen Sicht führt (§ 163). Ein solches abstraktes, undifferenziertes, monistisches "Spiel" mit der Gerechtigkeit (§§ 165-174) könnte so das reifere Wissen des Erwachsenen als eine Wiederaufnahme des skeptischen Realismus des Jünglings erscheinen lassen (§ 171). Offenbar kann ein Sinn für Gerechtigkeit, der in seinem Ursprung und seiner Entwicklung so komplex ist, auch in demselben Individuum nicht anders als verschiedenartig auf konkurrierende Stimuli reagieren. Nachfolgende Abschnitte sind einer versuchsweisen Analyse dieser Stimuli als der unserer konkurrierenden "Gerechtheiten" gewidmet95 • Aber dieser Analyse wird ein kritischer überblick und die Aussonderung solcher irrtümlicher "Philosophien" vorausgehen müssen, die zu einer Vermengung dieser konkurrierenden Gerechtheiten in dem einheitlichen Sinn für Gerechtigkeit tendieren. Es wird sich zeigen, daß diese Philosophien jenen ähneln, die - ähnlich irrtümlich - zu einer Vermengung konkurrierender Schönheiten (beautnesses) in dem einheitlichen Sinn für das Schöne tendiert haben (§§ 141-143,145).

D. Die Gerechtheiten 1. Philosophie

§ 163. Monismus. Ältestes Wissen und intuitives Erfassen der das Universum und die menschliche Gerechtigkeit durchwaltenden Konflikte im antiken Griechenland waren der modernen Psychologie auf dramatische Weise nahei. Aber die spätere Philosophie wandte sich, vielleicht aus Furcht vor der darin enthaltenen Bedrohung durch Gewalt, einer Ideologie zu, die wir heute bürgerlich nennen würden dem Konzept eines harmonischen Universums, in dem es möglich ist, jede Handlung oder Forderung entweder als gerecht oder ungerecht zu bewerten. Dieses utopische Konzept kann sowohl in dem antiken dop15 Vielleicht kommt das französische Wort "justesse" meinem Neologismus am nächsten. Gorphe 197. Vgl. oben § 139 Anm. 20. 1 Siehe oben § 5. über Gorgias (483-376), den Lehrer der Rhetorik, der Wissenschaft vom Argument, vgl. z. B. Erik Wolf 11 60; auch oben § 41.

§ 163

Die Gerechtheiten

233

pelsinnigen Postulat der Gleichheit als auch in Aristoteles' goldener Mitte wahrer Tugend gefunden werden!. Dieses Vakuum wurde von epikureischer Skepsis kaum berührt3 und erscheint wieder in all seiner Hohlheit in der mittelalterlichen Hymne an die "iustitia preclarissima ... bewundernswerter als Hesperus oder Luzifer"4. Noch Voltaire sah eine Gerechtheit, "die als solche dem gesamten Uni~ versum erscheint"5. Kants Werk wiederum lag eine ebenso monistische. "motivierende" Pflichtformel zugrunde 6 • Ähnlich hat das utilitaristische "cliche" des größten Glücks der größten Zahl von Bentham und Mill die Realität unvermeidbaren Konflikts ignoriert7. Auch das innere Gute G. E. Moores erwies sich kaum als tauglicher, obwohl es eine anti-utilitaristische, "nicht-natürliche" Kategorie darstellte 8 • Und wenn Nietzsche einmal alle Gerechtheiten als Ergebnis der vom Unterdrücker dem Unterdrückten als Tugend auf erzwungenen Diktate erklärte, so hielt er hier noch immer an einem einzigen Wert fest 9 • In der Tat hat die moderne Philosophie kaum jemals ganz von einem einheitlichen Maßstab der Gerechtigkeit gelassen und hat so die schließliche Resignation der Griechen in einer kosmischen Ordnung im wesentlichen bis heute bewahrt. Wir finden auch jetzt noch viele Autoren, die alle Gerechtheit mit Gleichheit identifizieren. Und es hat sogar in neuerer Zeit Autoren gegeben, die mit einer solchen Interpretation Ulpians "suum cuique" verteidigt haben10 • Wie weit sind wir über Aristoteles' monistische verteilende Gerechtigkeit hinausgelangt, wenn im Jahre 1968 einer der hervorragendsten amerikanischen Philosophen in einer Reihe von Untersuchungen alle Gerechtigkeit als "fairness" erklärt? Ihre Prinzipien werden beschrieben "als das Einverständnis zwischen moralischen Per2 Aristoteles, Politik IV, 11. Siehe auch Plato, Gesetze 756 e-758 a. Zu seiner Metaxy siehe Kelsen, Ideologiekritik 186, 204. Allgemein siehe auch Friedmann 10; Russell 173; Erik Wolf I 197; T. V. Smith (Hrsg.) 11 82-83; TroUer, Rechtserlebnis 43; unten Anm. 76; oben §§ 4, 5, 126. 3 Siehe allgemein Russell, Buch I, Teil III, Kap. XXVI, XXVII. Siehe auch z. B. Verdross 1-44; oben § 31 Anm. 68. t Norbert Horn, Baldus 139. s Bestermann 299. 8 Siehe Patterson 32; oben § 32. 7 Siehe z. B. Waddington 19; Patterson 33; Bodenheimer, Justice 25-33. Siehe auch oben §§ 33, 34. über Hobbes' siebzehn abgeleitete "Naturrechte", siehe oben § 6 Anm. 4. 8 über G. E. Moore (1873-1958), siehe Warnock Kap. 2; Bouwsma 1-20, 129-148; Stig Jergensen 26~267; Klemke. Vgl. z. B. Moore Kap. I, 5-21, 58 ("naturalistischer Trugschluß"). o Nietzsche II 834, passim. Siehe z. B. Russell 767-773. Vgl. aber unten Anm. 35, 37. 10 Z. B. Warkönig 207; Hofmann 6~68; Ryffel 219-227. Siehe oben § 126

Anm. 47; § 127 Anm. 53.

234

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 164

sonen (sie!), die Möglichkeiten ihrer Welt nicht für den eigenen Vorteil auszunutzen, sondern die zufälligen Verteilungen der Natur und soziale Chancen in einer Weise zu regulieren, die dem wechselseitigen Vorteil aller dient"U - anscheinend also ohne die geringste Berücksichtigung der unvermeidbaren und tiefgreifenden Konflikte der Gerechtheiten. Und was haben wir gewonnen, wenn wir das Verlangen nach Gleichheit einem unersättlichen Neid zuschreiben, der mit zunehmender Gleichheit wächst; oder wenn wir die Wirkungsweise dieses Verlangens auf unsere "Investition" oder ein Ergebnis der "Historizität" gründen1!? Sogar die wertvollsten soziologischen Studien bringen die erforderlichen Unterscheidungen nichtta. Und auch Batiffol sieht die Gerechtigkeit noch immer als eine Einheit, obwohl er natürlich das Bestehen bewußter und unbewußter Konflikte anerkennta, während Lord Dennings verwandtes aristotelisches Vertrauen auf das Urteil des richtig denkenden Menschen ein bloßer Aphorismus ist - und dazu noch ein zirkelschlüssiger15 • Wir können uns auch nicht damit zufrieden geben, daß man auf die Vernunft als Wesenskern der Gerechtigkeit zurückgreifttl. Gleiches gilt für die doppelsinnigen Symbole der Ontologie t7 oder für Jungs "parapsychologischen, mystischen ... Archetyp"t8. Kein Wunder, daß für William James das moralisch gut war, was irgendeine Forderung befriedigt t9 , und daß sogar sein Mitstreiter für den Pragmatismus, John Dewey, uns ohne Antwort ließ!o. Nur eine pluralistische Suche nach einzelnen Gerechtheiten kann das Vakuum ausfüllen. § 164. Pluralismus. Nach der Auffassung des Hinduismus sind Gut und Böse niemals absolut gewesen!1. Sogar die griechische Ethik ist 11 Rawls, Addenda 71. Siehe auch ders., Fairness; ders., in Hook, Law (Hrsg.) 3; ders., in Olafson (Hrsg.) 80. Aber siehe Chapman; Robert P. Wolff, Rawls. Für eine Theorie der "Wechselseitigkeit" vgl. auch Giuliani, Giustizia. 11 Siehe in dieser Folge Schoeck; Homans; Gerhard Bauer. Vgl. Llompart 146. 13 Siehe z. B. Eckhoff, Sociology; Selznik, Justice 184. 14 Batiffol Kap. IV. 16 Denning 4. 11 Siehe Bodenheimer, Justice 33-45. Id., Anthropology 681 räumt mir jetzt zwar den Konflikt der Gerechtheiten ein, hält aber an einem "Residuum" absoluter Gerechtigkeit fest. 17 Siehe z. B. Tammelo, Sollecitudine. Siehe auch Bagolini, der, nachdem er zutreffend unversöhnliche Konflikte zwischen Gerechtheiten festgestellt hat (197, 404), diese dadurch aussöhnen will, daß er eine monistische Gerechtigkeit "in der absoluten, kritischen und moralischen Notwendigkeit sieht, seine eigene Situation, seine Interessen und seine Sicht der Welt nicht zu verabsolutieren ... ". Ders. 208. 18 Jung, Soul 449. Siehe auch oben § 160 Anm. 84. Für Freudsche Anklänge, vgl. Grotjahn, Symbol 2-3. ID James 105. über James (1842-1910), siehe z. B. Flournoy. 20 Dewey (1859-1952) 59-60. Siehe White (Hrsg.) 176; oben § 143 Anm. 54. 21 Siehe z. B. Herbert 256; Nihilananda 71; Truyol 73.

§ 164

Die Gerechtheiten

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trotz monistischer Formeln in ihrer Ambivalenz und Dialektik immer pluralistisch gewesen22 . Und die mittelalterliche "Topologie" der Äquitas setzte die Tradition fort23 • Erst die moderne Rechtstheorie hat begonnen, ausdrücklich widerstreitende Gerechtheiten zu unterscheiden, obwohl es dafür natürlich Vorläufer in manchen spezifischen Regeln des Naturrechts gab 2'. Parsons' Prozeß der "Bewertung" nimmt wenigstens die nötige kritische Analyse vorweg25 , während die sogenannte "naturwissenschaftliche Philosophie" diesen Prozeß ausdrücklich zurückweist26 • Aber sogar Perelmans "konkrete" Formeln der Gerechtigkeit27 und Stones "Enklaven der Gerechtigkeit"28 haben sich damit zufrieden gegeben, den Konflikt festzustellen, ohne zu versuchen, seine Gründe zu erforschen. Bobbio ist einer der wenigen heutigen Rechtsphilosophen, die erkannt haben, daß die Ablehnung der Naturrechtslehre nach einer neuen "Phänomenologie der Gerechtigkeit"29 verlangt. Einen solchen Fortschritt können wir kaum von der Konkretisierung des utopischen Zieles eines "besseres Lebens"30 erwarten. Noch scheint der "Dritte Weg" der Existentialisten für die große Debatte viel zu versprechen31 • Andererseits würde ich zögern, neue Möglichkeiten der Tierverhaltensforschung32 oder einer "biologischen Weisheit" geringzuschät2! Siehe oben § 5; auch Zippelius 99. Ein hervorragendes Beispiel bietet Aristoteles, Nik. Ethik 1129 b, der dem Menschen für solche Gerechtheiten (a.yatM) zu beten rät, die ihm unter jenen Gerechtheiten entsprechen, die "einfach gerecht" sind (&l'tAW~ ayaita). Diese Auslegung ebenso wie vieles andere verdanke ich David Daube. n Siehe oben § 58; im allgemeinen Norbert Horn, passim. Bezüglich mittelalterlicher Behandlung des zivilen Ungehorsams siehe oben § 65. 24 Unter den Vorläufern sind Stammler 148--150; ders., Lehre. Vgl. oben § 39 Anm. 4, 5; Nelson 40-46; Royce 50-57 ("mehrere Bewußtheiten"). Zu Fullers und Harts Katalogen vgl. oben §§ 44-46; Patterson 282-287; Cahn 22. 25 Oben § 134 Anm. 55. Siehe Black (Hrsg.), passim. über Perrys Werttheorie relativer "Interessen", siehe z. B. Perry §§ 49-58. 26 Siehe z. B. Reichenbach 314-315; C. I. Lewis 6, 10, 329. 27 Siehe z. B. Perelman 15. 28 Siehe z. B. Stone I 349; Blackshield, Enclaves. "Universale Attribute" versprechen kaum mehr. Selznik, Justice 184. 29 Bobbio 71-72. 30 König, passim. 31 Dieser Weg soll uns zu den Gerechtheiten der Freiheit als "Ich-Finalität" führen; jenen der Humanitas als "Du-Finalität"; der menschlichen Gemeinsamkeit als "Wir-Finalität"; und einer "Gerechtigkeit" als einer unbenannten zusätzlichen "Finalität". Lerner 112 ff., 145 ff. Wir sind wohl eher beeindruckt von einer Trias von Gerechtheiten, die den Austausch, den Ausgleich und den Gehorsam gegenüber dem Recht bestimmen. TroUer § 27 IV bei Anm. 32; ders., Rechtserlebnis 44-49. über einen angeblich neuen "humanistischen" Angriff, vgl. Kurtz (Hrsg.). ar Siehe Lorenz 165; Eibl-Eibesfeldt 110-111, 120, 122, der den Ursprung des Konflikts zwischen Aggression und Mitleid aufzeigt und uns zu den Gerechtheiten des Gehorsams und der Loyalität führt.

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 165

zen, die schrittweise eine Lösung der "Schismo-Genesis" der Gerechtheiten in einem der Entwicklung körperlichen Eigenschaften ähnlichen Ausfallprozeß versuchen würde33 • Aber sei dies wie es wolle: eine Rechtstheorie ohne psychologische "Anatomie" ist Religion, oder "im besten Fall Poesie". Und der Dichter Botschaften sind ebenso "vieldeutig wie die Orakelsprüche"34. So beschied sich denn einer der größten Philosophen, Friedrich Nietzsche, damit, zwar nicht "beweisen", aber "ein bißchen seufzen und singen" zu können35• § 165. Poesie und Religion. Der Dichter Heraklit wußte, daß "Krieg allem gemein und Kampf Gerechtigkeit ist"38. Nietzsche, der Dichter, schrieb, daß "der Mensch in der Moral sich selbst nicht als ein Individuum, sondern als ein Dividuum behandelt"37. Und moderne Theologie sieht sogar in den zehn Geboten, der Bergpredigt und den Paulusbriefen dichterischen Konflikt38 . In der Welt Indiens des 6. Jahrhunderts v. ehr. "machte der Buddha die Entdeckung, daß die angebliche Unteilbarkeit einer ,individuellen' Persönlichkeit eine Illusion ist. Mit dem scharfen Auge der Intuition erkannte Er die Persönlichkeit als eine fließende Folge von unzählbaren psychologischen Zuständen. Jeder dieser Zustände, wie Er sie sah, war sowohl von seinen Vorgängern wie seinen Nachfolgern geschieden. Nur zwei Kräfte hielten sie zusammen: der Wind des Verlangens, der sie vor sich hertreibt, wie eine Herde eilender Wolkenzüge, und die Last des Karma - das gesammelte Gleichgewicht des sich selbst führenden moralischen Gewinn- und Verlustkontos, welches durch das Verlangen in seinem vergeblichen Versuch hervorgebracht wird, sich selbst zu befriedigen38 ." Der Buddha wußte also um den ewigen Kampf zwischen den Instinkten von Leben und Tod, zwischen Eros und Thanatos, der uns den Zugang zu den Geheimnissen der Gerechtigkeit öffnet. Wird uns in Utopia der Zugang zu Agape, zu Laotses Liebe, je offen sein? Oder wird eine andere Menschheit vom Kampf ablassen und sich dem Magister Ludi", dem Herren des Spiels, ergeben? Unser Zeitalter muß seinen Weg an den Krücken einer erst beginnenden Wissenschaft vom inneren Menschen entlanggehen. aa Huxley 32. Siehe auch Waddington Kap. 16; oben § 129 Anm. 86. Blackshield, Enclaves 180; Troller 174. Es gab tatsächlich einmal eine Zeit, in der der Dichtkunst ausdrücklich rechtliche Autorität beigelegt wurde. Horn, Baldus 106. 35 Pfeiffer 31. Vgl. ebenda 81, 82, 87. ae Oben § 5 Anm. 40-44. Siehe auch Russell 44. Vgl. Verdross 10-15. 37 Nietzsche, Werke, Bd. 6, 75. Siehe auch Erik Wolf IV (2) 46. 38 Tillich 39. 19 Toynbee, Bd. 12, 107. 40 Huizinga. Siehe auch zu Hesses Glasperlenspiel oben § 58. Eine überraschende Teilinterpretation des gewaltlosen Widerstandes als Spiel bringt Erikson, Gandhi 133. 34

§ 167

Konflikt

237

2. Psychologie

a) Ursprung des Konflikts der Gerechtheiten § 166. überich. Wir haben es unternommen, den Kampf zwischen jenen, die die "Existenz" eines Naturrechts als einer "gültigen", auf Gerechtigkeit aufbauenden Rechtsordnung behaupten, und jenen, die sie verneinen, zu stillen. Ein solches Unternehmen muß die Tatsache hinnehmen, daß dieser Kampf, insoweit er nicht ein Wortstreit ist, auf tief verwurzelten Emotionen beruht. In psychologischer Terminologie sind diese Emotionen teilweise in Doktrinen zum Ausdruck gekommen, nach denen "die Autorität des überich entweder durch die Konstruktion solcher Systeme, die vorgeblich absolut sind, gestützt oder durch einen Skeptizismus unterminiert wird, der bestimmt ist, ihm seinen Schrecken zu nehmen. Kants Ethik mit ihrer Betonung des kategorischen Imperativs ist wohl ein gutes Beispiel für die erste Alternative; die der Epikureer, die den Aberglauben als die Ursache der Furcht angriffen, ein gutes Beispiel für die zweite41 ."

Den Aspekt des überich, auf den in dieser Analyse Bezug genommen wird, haben wir mit jenem angeborenen oder anerzogenen Sinn für Gerechtigkeit identifiziert, der der Menschheit gemeinsam ist. Aber wollen wir den Kampf um das Naturrecht beenden, ist es - wie wir gesehen haben - nicht genug, die emotionale Bedeutung der verschiedenen Funktionen des überich für den Sinn für Gerechtigkeit auf ihre Quelle zurückzuverfolgen. Wir müssen auch den Ursprung der vielfältigen einzelnen "Gerechtheiten" zu verstehen suchen, die in weiten Bereichen miteinander unvereinbar sind. Denn es ist diese Unvereinbarkeit, die für die Zähigkeit und Intensität des jahrhundertealten Kampfes verantwortlich ist. § 167. Andere Quellen des Konflikts. Wenn wir einmal diese Unvereinbarkeit der Gerechtheiten und ihren Ursprung festgestellt haben, werden wir den Konflikt als unvermeidbar und permanent hinnehmen und auf weitere fruchtlose doktrinäre Versöhnungsversuche verzichten können. Denn diese Unvereinbarkeit ist nicht etwa bloß heilbaren Unzulänglichkeiten unseres Denkprozesses zuzuschreiben, sondern der immanenten Struktur jeder Zivilisation. Gerechtigkeit innerhalb dieser Struktur ist sowohl auf "die Lösung als auch auf die Verewigung" des Streites zwischen den Brüdern, "ihres Zankes um die väterliche Erbschaft", zurückgeführt worden42 • Dies mag zu einfach erscheinen. Aber sowohl in der Ästhetik wie in der Ethik haben wir gesehen, wie innerer Zwiespalt das Wachsen jedes Kindes begleitet (§§ 148, 157-159). Diese 41

U

Money-Kyrle 109. Siehe oben § 159. N. O. Brown 17.

288

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 168

Tatsache müssen wir resignierend hinnehmen und auf einen kindlichen Glauben an ein alles umfassendes "Recht der Liebe"43 und ein mystisches Vertrauen in eine alles heilende agape und göttliche Gnade44 verzichten. Erst wenn wir so viele der widerstreitenden Gerechtheiten als möglich festgestellt und analysiert haben, können wir daran gehen, den Kampf der Worte zu beenden und erst dann können wir versuchen dem näherzukommen, was uns sowohl als Philosophen als auch als Juristen am meisten betrifft: dem Prozeß der Entscheidung, jene sowohl rationale wie irrationale Wahl zwischen diesen Gerechtheiten, die unser ganzes Leben durchzieht". § 168. Einzelne GeTechtheiten. Die Forschung auf diesem Gebiet ist fragmentarisch und diffus geblieben. Im Nachweis einzelner Gerechtheiten hat Piaget wichtige Pionierarbeit geleistet, indem er die beim Kinde nicht koordinierten Prozesse von moralischem Zwang und Trieb zur Kooperation untersucht hat48 . Andere konzentrieren sich auf frühe, aus Notwendigkeit entstandene Tabus und auf die Selbstbestrafung, die den Gehorsam gegenüber den Eltern zu festigen sucht47 . Bienenfeld sah als Ursache der widerstreitenden Gerechtheiten des Säuglings "Verhaltensgebot, Gewalt, dauernde Regeln, das Gewähren und Erhalten des Angemessenen und die Gegenwart von zwei Parteien, derer des Herrschers und des Beherrschten"48. Freud hat, sein Leben lang juristischen Problemen abhold, nur nebenher eine einzige Gerechtheit in der Versicherung identifiziert, "daß die einmal gegebene Rechtsordnung nicht wieder zu Gunsten eines Einzelnen durchbrochen werde"49. Waelder hat in seiner Untersuchung der Gewalt seine besondere Aufmerksamkeit der sowohl dem einzelnen als den Menschen überhaupt aus der Gerechtheit der "Ehre" drohenden Gefahr zugewandt50 • Und eine der Einzelgerechtheiten hat man sogar der Ästhetik zugeschrieben, von der man gesagt hat, daß sie in dem uralten Streben nach Harmonie eine Gerechtheit der "elegantia iuris" geschaffen habel1 • Es gibt natürlich noch viele andere Werte und Instinkte. Einige von ihnen "können der Einheit des Ichs eingefügt werden". Aber andere Küchenhoff, passim. u Tillich 33, 37, 44, 56-58, 94. 45 Unten §§ 172-175. Siehe z. B. West, Theory 774-787. 41 Piaget, passim. 47 Bergler und Merloo Kap. 2. 48 Bienenfeld, Justice 4. " Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Schr. XII, 27, 63. Siehe oben 43

§ 154 Anm. 36, 37.

Waelder, Violence. Cardozo 118-119. Zu Cardozos Konzept, den Richter als Künstler zu sehen, siehe B. H. Levy Kap. 111. Siehe auch Bartolomeyczik. 50

51

§ 169

Konflikt

289

bleiben unvereinbar. Sie werden "von dieser Einheit durch den Prozeß der Verdrängung abgespalten, auf niedrigeren Stufen der psychischen Entwicklung zurückgehalten und zunächst von der Möglichkeit einer Befriedigung abgeschnitten"52. Dazu bleibt der Zwang, Erfahrungen des überlebenden Es zu wiederholen. Dieser Zwang ist teilweise auf die dem organischen Leben innewohnende Trägheit zurückzuführen, die wie ein Wandervogel danach strebt, zu einem frühen Zustand zurückzukehren. Zum anderen Teil entspricht diese Trägheit dem Trieb, Unlust zu vermeiden, die durch die Befreiung des unterdrückten Instinkts hervorgerufen würde53 . Kein Wunder, daß viele der so regellos in Versöhnung, Unterdrückung und Wiederholung entstandenen Gerechtheiten lebenslang im Konflikt liegen. § 169. Ausblick. "Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen54• " Unsere wichtige Aufgabe ist es, den ererbten Konflikt der Gerechtheiten durch Neuerwerbung zu vermindern. Das wird weitere schwierige Forschung erfordern. Unser vordringlichstes Anliegen wird es sein herauszufinden, ob die Gerechtheiten des einzelnen Menschen in Gruppen-Gerechtheiten umgeformt werden können. Manche haben dies verneintS5 . Aber ein Jo"'orscher vom Rang Konrad Lorenz' geht davon aus, daß "durch die Synthese von Individuen eine überindividuelle Totalität gewonnen werden kann"sl. Möglicherweise kann einiger Fortschritt in unserem Wissen von solchen Untersuchungen erwartet werden, die sich mit der Entwicklung bestimmter Gerechtheiten in Kinderheimen und Kibbutzim57 beschäftigt haben. Es steht dahin, ob solche und ähnliche Untersuchungen Jungs Konzept eines "kollektiven Unbewußten"s8 bestätigen werden, das Freud in seinen frühen Werken über Massenpsychologie und Totem und Tabu vorweggenommen und in seinem posthumen Moses weiter verfolgt hatst . Dies mag indes sein, wie es wolle, mit oder ohne Bezug auf eine Gruppenpsychologie wird der Mensch sich noch lange mühen müssen, um jenen Kern der Gerechtheiten herauszuschälen, der - wie große Kunst - darum unsterblich ist, weil er "im Geiste jedes neuen Zeitalters wiedergeboren wird"60. Aber auch ohne derart in letzte Rätsel vorzudringen, wollen wir etwas be61 51

64 56

51

51 58

82.

59 10

Freud, Jenseits des Lustprinzips, Ges. Schr. VI, 191, 195. Daselbst, passim. Goethe, Faust, Erster Teil, Nacht, Monolog., Zeilen 84-85. Siehe z. B. Lamprecht 82. Lorenz 116. Siehe allgemein oben § 129. Siehe Batt, Essay 540, 542. Jung, Ges. Werke, Bd. 6,527; Bd. 7,421. Siehe auch oben § 164 Anm. 81, Freud XXX I, XVIII 67, XXIII 92-94. Darüber Grotjahn, Symbol 2-3. Anton Ehrenzweig II 133.

240

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§171

scheidener versuchen, dem abstrakten Skelett der Gerechtheiten des einzelnen, mit dem wir uns bisher beschäftigt haben, eine etwas konkretere Gestalt zu verleihen. Der folgende Entwurf, der hauptsächlich auf Rudolf Bienenfelds Pionierarbeit fußt, mag sich hierfür als nützlich erweisen, wenn er auch kaum mehr als ein Modell für zukünftige Forschung sein kann. b) Zur Struktur der Gerechtheiten

§ 170. Von der Theokratie zur sozialen Koopera.tion. Wir sehen die erste theokratische Vorstellung des Kindes von einer Gerechtheit in seiner Achtung vor den allmächtigen Eltern. Diese Achtung läßt alles der elterlichen Autorität Entgegenstehende als ungerecht im Sinn eines von Piaget sogenannten "heteronomen Moralismus" erscheinen. Aber der Glaube an die Allmacht der Eltern sieht sich von Anfang an im Widerstreit zu Freuds kindlicher Allmacht der Gedanken81 • Schon das hilflose Kleinkind sieht sich selbst als Mittelpunkt der Welt, fähig, andere "gerecht" zu töten und zu verletzen. Dieser Traum erscheint zu einer Zeit als Wirklichkeit, in der alle Wirklichkeit nur ein Traum ist. Und was die Verwirklichung des Traumes hindert, wird damit im Sinne eines anarchischen Begriffs der Gerechtigkeit ungerecht. So sind diese heiden widerstreitenden Gerechtheiten, die theokratische und die anarchische, gleichzeitig vorhanden wie alle die anderen, die folgen werden. "Im Augenblick mag das Kind seinen (anarchischen) Protest dagegen erheben, daß es daran gehindert ist, seine Gewalt über einen großen Hund auszuüben, um im nächsten Augenblick in den göttlichen (theokratischen) Schutz der Rockzipfel seiner Mutter zu fliehen, wenn das Bellen seinen Glauben an seine eigene Allmacht erschütterte!." Aber das ist nur ein erstes Stadium in einem lebenslangen Prozeß. Wenn das Kind beginnt, die Wirklichkeit hinzunehmen, gesellt sich zu den ersten beiden Gerechtheiten sein Beharren auf Selbstbestimmung, gemäßigt durch eine auf das Zusammenleben mit anderen gegründete Gerechtheit der Zusammenarbeit. Und schließlich werden alle diese Gerechtheiten mit neuen Werten verschmolzen, die aus einem neuen Bewußtsein der Sozialordnung erwachsen.

§ 171. Vom "Kommunismus" zum Nationalismus. Wir beobachten das zwei Jahre alte Kind, das in dem Wunsch nach der absoluten Gleichheit eines "primitiven Kommunismus" eine Erdbeere von genau der gleichen Art verlangt, wie sein älterer Bruder sie erhalten hat - eine mit einer Raupe. Wir sehen den Dreijährigen, wie er anerkennt, daß es in einem "progressiven Kommunismus" eine gerechte Ungleichheit geben mag, 81

e!

Freud XIII 83-91, 186, 188. Bienenfeld, Prolegomena 33.

§ 171

Struktur

241

die seinen älteren Bruder wegen seines größeren Bedürfnisses bevorzugt63 . Wir sehen den Vierjährigen, der in seiner ersten traumatischen Resignation die gerechte Ungleichheit einer "sozialistischen" Lehre zugesteht, die jeden nach seiner Leistung behandelt84 • Und in späteren Jahren finden wir alle diese Gerechtheiten durch eine "konservative" ergänzt, die das Kind veranlaßt, auf der Erhaltung seiner Besitztümer ohne Rücksicht auf Gleichheit, Bedürfnis oder Leistung zu beharren. Daran schließen sich eine "liberale" Gerechtheit, die nach Freiheit von jeder Beengung verlangt66 und eine "nationalistische" Gerechtheit, deren Anspruch auf die Mitglieder der Familie oder Gruppe begrenzt ist66 . Schließlich können wir von einer "legalen" Gerechtheit sprechen, die Gehorsam gegenüber dem Recht fordertG7 ; und können der Ethologie des Menschentieres die Gerechtheit der moralisierten Aggression88 , des Rangbewußtseins8D , des Schutzes der Schwachen70 und der Beschwichtigung des Gegners71 entlehnen. Es ist wahrscheinlich, daß die bewußte Differenzierung zwischen Gerechtheiten in der Latenzperiode des Kindes, der zweiten Hälfte seines ersten Jahrzehnts, vor sich geht (§§ 162,174). Aber offenbar vermag nur die gleichmütige Reife der späten Jahre die entscheidende Wahrheit hinzunehmen, daß viele dieser Gerechtheiten für immer miteinander unversöhnlich bleiben. Ihr Konflikt folgt der Jugend durchs Jünglingsalter bis zur Erwachsenheit und bedroht Familien, Gemeinschaften und Nationen. "Wenn in Not, neigt der Mensch zum Kommunismus, wenn erfolgreich zum Sozialismus, wenn angegriffen zum Konservatismus und wenn im Angriff zum Liberalismus, und es ist das nationalistische Dogma der Kinderstube, das sich in der instinktiven Bildung einer einheitlichen Front gegen Außenseiter zeigt7!." Wie dennoch RichSiehe z. B. Chapman. Siehe z. B. Feinberg. 85 Siehe z. B. Fried. oe Siehe z. B. Mitscherlich, Versuch 74-75. Zur Tiergeschichte der nationalistischen Gerechtheit, vgl. Eibl-Eibesfeldt 16, 110-111, 246; Wickler 76-85. 87 Siehe z. B. Perelman 15; auch oben §§ 57, 123. 88 Siehe unten § 179. 89 Siehe oben § 129 Anm. 85; auch Grzimek 62--63. 70 Siehe oben § 129 Anm. 87; auch Tinbergen 16. 11 Aber es wird nicht leicht sein, in dieses Schema der menschlichen Wirklichkeiten solche erhabenen Träume wie den von einer schließlichen Versöhnung einzufügen. Cahn, Decision. Zu Eibl-Eibesfeldts und anderer vorsichtigerer Hoffnung auf eine evolutionäre Milderung des Konflikts, vgl. oben § 129 Anm. 87; § 164 Anm. 33. Gegenüber der von der PhänomenolOgie hinzugefügten Gerechtheit des Kindes, die "dem Bruder das Seine zu geben" wünscht, müssen wir skeptisch sein. Troller § 27 IV Anm. 33, in Antwort auf meine auf Bienenfeld fußende Kritik. Ehrenzweig, Phänomenologie 66. n Bienenfeld, Prolegomena 22-23. Siehe auch Ehrenzweig, Jurisprudence 1352, 1358. Ga

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16 Ehren.welB

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3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 172

ter, Gesetzgeber, Eltern, Lehrer und Polizisten ihre Wahl "hier und jetzt"73 treffen müssen und treffen, wollen wir nun als den Prozeß der Entscheidung untersuchen und dabei von seiner Ähnlichkeit mit des Künstlers Wahl von Geschmack und Werkzeug zu lernen suchen. E. Das ethische und ästhetische Urteil 1. Die Wahl zwischen Gerechtheiten und Schönheiten

§ 172. Wir haben hier zwischen den ewig widerstreitenden (relativen) Werten der Schönheiten (beautnesses) und Gerechtheiten und jenen einheitlichen (absoluten) Sinnen für das Schöne und die Gerechtigkeit unterschieden, die auf diese Schönheiten und Gerechtheiten reagieren. Diese Unterscheidung kann vielleicht für einige Streitfragen in dem immerwährenden Kampfe zwischen Absolutisten und Relativisten in Ästhetik und Rechtstheorie ein wenig begrüfliche Klarheit bringen. Aber soweit dieser Kampf um die relative Bedeutung unvereinbarer Schönheiten und Gerechtheiten geführt wird, erscheint er als einer von Emotionen, der psychologischen Variablen unterworfen und darum einer begrüflichen Klärung unzugänglich ist74 . Uns bleibt also noch immer die entscheidende Frage, wie unsere Sinne für das Schöne und die Gerechtigkeit zu ihrem Urteil gelangen, wenn sie - bewußt oder unbewußt - zwischen widerstreitenden Werten zu wählen haben. Wie kann der Künstler, der das Schöne "darstellen" will, sein Besucher, der ein schönes Werk der Kunst erwerben will, jene Schönheit auswählen, die er formen oder bevorzugen will? Wie wählt der Bürger oder der Richter die Gerechtheit, der er folgen soll? Wie wählen wir, in Max Webers Worten, zwischen den Göttern in unserem "Polytheismus der Werte"76? Uns bleiben noch immer die Rätsel der Entscheidung.

Traditionelle Formeln sind alt und von geringem Wert. Plato und Aristoteles rieten wie Solon mesotes oder metaxy. Durch Tugend sollen wir den Mittelweg zwischen zwei falschen Entscheidungen finden und das iustum pretium zahlen78 . Paulus sieht wie Moses und andere Propheten die Lösung in der Forderung, andere so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen77 . Und Kant empfiehlt uns - wie Augustinus - anderen nichts anzutun, was wir nicht selbst erleiden wolCahn, Decision, passim. Aber siehe zu den "polyzentrischen Lebensbeziehungen", Fuller, Adjudication 7. 76 Weber, Aufsätze 587-589. Siehe oben §§ 134, 136, 145; auch Marcuse 174. 78 Oben Anm. 2. 77 Paulus, Briefe an die Römer 13, 9; 3 Mose 19, 18. 78 74

§ 173

Urteil

248

len7B • Aber das ist zu wenig. Gerade die übertragung des Konflikts vom Ich auf das Du ist psychologische Entstellung. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß all diese scheinbar schlüssigen, rationalen Maßstäbe für eine wohlmeinende Entscheidung nichts anderes sind als eine "untrennbare Mischung von rationalem Denken und irrationaler ,Empathie"'7D. Vielleicht war Carl Jung der einzige Psycho-Philosoph, der wenigstens die unterbewußten Gegensätze anerkannte. Freilich sah auch er den Prozeß der Entscheidung als teilweise durch einen "gegebenen Moralkodex" determiniert, den wir als angelehrte Gerechtheiten bezeichnen würden. Aber er wußte auch, daß sein "Archetyp" eines wahren und authentischen Bewußtseins "ein auf Gegensätzen beruhendes Potential" ist. Diese Gegensätze erschienen ihm in solchen Visionen wie der des J ahwe, der "gerecht und ungerecht, gütig und grausam, wahrhaft und trügerisch" ist, wie der von Platos Wagenlenker mit seinen weißen und schwarzen Pferden und der eines Luzifer verkörpernden Christus und der eines Faust mit zwei SeelenBo • Wir müssen bedauern, daß Jung, indem er Freuds Überich so durch einen ArcheTyp ersetzte, den wir zugegebenermaßen nicht verstehen könnenB1, den Schlüssel fortwarf, der uns vielleicht einmal das Tor zu jenen Mysterien öffnen wird, die er ahnte. Damit hat er jenen fast Recht gegeben, die ihn einen "Mystagogen", einen "Reaktionär" und "zutiefst verwirrt"B! genannt haben. In der Tat verbleibt uns letztlich nicht mehr von seiner Beschreibung des Prozesses der Entscheidung als die schöpferische Kraft des Ethos, die wie alle schöpferischen Fähigkeiten des Menschen empirisch aus zwei Quellen fließt: aus dem rationalen Bewußtsein und aus dem irrationalen UnbewußtseinB3 . Aber es sind ja gerade die rationalen und irrationalen Quellen der Entscheidung, die wir erforschen müssen. 2. Die Rolle der (bewußten) Vernunft

§ 173. Wir haben beobachtet, wie das Lustprinzip und die apollinische Ordnung ewig auf ein Gleichgewicht von Frieden und Tod gegen das dionysische Chaos von Kampf und Leben hinwirken (§§ 157, 158). Es ist 78 Oben § 32 Anm. 71, 72 (Spencer). Über St. Augustin, siehe oben § 5 Anm.53. ~D .~ah~ 26. Sie~e auch Gorphe, passim; Bagolini, Definitions 339 ("Sympathle ). DIe EntWIcklung des common law mag als ein oft sehr markantes Beispiel erwähnt werden. Peter Bums. 80 Siehe Jung, 441, 444, 447-449. 81 Ders. 453. 82 S. Hughes 160; Glover 88. 88 Jung 454.

10"

244

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 173

der wechselnde Einfluß dieser unbewußten, irrationalen Kräfte, der zu einem großen Teil verschiedene Arten der "Entscheidung" zwischen Gerechtheiten bestimmt. So wird der Strafprozeß so stark von solchen nicht artikulierten Trieben beeinflußt, daß die Entscheidung des Richters und der Geschworenen oft genauso obskur und willkürlich erscheint, wie der unkontrollierte, "abstrakte" Selbstausdruck der "modernen" Kunst. Aber nicht jede richterliche Entscheidung ist von dieser Art. So ist der Zivilprozeß, mit Ausnahme der quasi-strafrechtlichen Verfolgung von Körperverletzungen (§§ 204-208), sehr viel stärker und sichtbarer von rationalen, bewußten Argumenten beherrscht, die die richterliche Entscheidung öfter dem kontrollierten, konkreten Suchen nach Harmonie in der "klassischen" Kunst ähnlich erscheinen lassen. Um die Rolle der Vernunft in ihrem Wettstreit mit Nichtvernunft zu illustrieren, wollen wir uns einen Richter vorstellen, der von Gesetzes wegen nach freier überzeugung einem säumigen Schuldner, dessen Notlage durch persönliches Mißgeschick verursacht wurde, einen Zahlungsaufschub entweder zu gewähren oder abzusprechen hat. Der berufsmäßige Kreditgeber will in des Schuldners Grundstück vollstrecken und beansprucht für sich die Gerechtheit seines Vertrauens in die Rückzahlung des Darlehens um anderer Geschäftsverbindungen willen, die ja wiederum für zahlreiche Außenseiter von Bedeutung sind. Der Richter wird und soll seine Entscheidung in den Grenzen des Rechts weitgehend durch ein bewußtes und ausdrückliches Abwägen der widerstreitenden Gerechtheiten erreichen, die den Schutz des Schwächeren und die Unverbrüchlichkeit des gegebenen Wortes, Erwägungen der Billigkeit und Rechtssicherheit einschließens4 . Unnötig zu erwähnen, daß der Richter in diesem Prozeß des Abwägens durch Gruppengerechtheiten unterstützt und gehemmt wird, für die wir wichtige Parallelen in der ästhetik und Ökonomie gefunden haben. Denn der einzelne "nähert sich tatsächlich einem allgemeinen Typ des Moralcharakters"s5. Aber was immer die Auswirkung des Gruppendenkens sein mag, Gerechtigkeit muß, in Llewellyns prägnanter Sprache, "immer unter dem schlimmen Einfluß des Mangelprinzips gesucht werden: selten, selten in der Tat gibt es gute und gesicherte Gerechtigkeit, um allen zu genügen"S8. So wird denn sogar der Versuch einer rationalen und bewußten Motivation in unserem Fall nicht jener irrationalen und weithin unbewußten Faktoren entraten können wie der des Mitleids in Identifikation mit dem Schuldner, der Abneigung oder des Vorurteils gegenüber dem zum Siehe z. B. Becker 14. Money-Kyrle 112. Siehe auch oben §§ 134, 137, 170. Hier könnte die Soziologie noch viel in der Analyse von Tendenzen zu bieten haben, die zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Gebieten überwiegen. Luhmann. 81 Llewellyn, Good 254. Siehe auch Dietze. U

85

§ 174

urteil

245

"Establishment" gehörenden Gläubiger, oder einfach der Freude an der Macht. Die meist unbewußte Rolle solcher "Nichtvernunft" ist grOßS7. 3. Die Rolle der (unbewußten) Nichtvernunft

§ 174. "Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrundegehenss." Wir können dieses schöne Paradoxon als jene Zurückweisung verstehen, die das Surrealistische Manifest der bewußten Suche nach "Wahrheit" im Konflikt der Schönheiten (beautnesses) entgegensetztS8 . Der Künstler lenkt seine geistige Energie von solcher bewußten "Entscheidung" ab und greift unbelastet nach jener unbewußten und undifferenzierten Vision, die er in den Jahren seiner Latenz verloren hat80 . "Was allen Beispielen der Entdifferenzierung gemeinsam ist, ist ihre Freiheit, keine Entscheidung treffen zu müssen81 ." Das ist nicht nur in der Kunst so, sondern auch im Recht. Nach dem Aufruhr der infantil undifferenzierten, synkretistischen Gerechtigkeit (§ 168) erreicht das Kind in der Latenzzeit eine analytische Differenzierung seiner Gerechtheiten (§ 171), nur um in der Pubertät neuer Verwirrung ausgesetzt zu sein. Dann neigt es wohl in seinen ersten Entscheidungsversuchen zur Rückkehr in frühere undifferenzierte Sichten einer einheitlichen Gerechtigkeit. Aber im Gegensatz zum Künstler in seiner Befassung mit der Kunst kann der erwachsene Bürger in seiner Befassung mit dem Recht nicht dem Selbstausdruck allein frönen. Das "flower child" der 60er Jahre unterlag mit seiner "inferentialen" Gerechtigkeit (§§ 148,162). Aber wenn auch die mündige Gesellschaft immer auf einer Differenzierung der widerstreitenden Gerechtheiten bestehen muß, so bleibt sie doch selbst unfähig, den hieraus resultierenden Konflikt allein durch die Vernunft zu lösen. Dieser Konflikt wird nur oberflächlich durch die Schaffung rechtlicher "Stile" entschärfte2 • Der Richter im "Augenblick der Wahrheit" ("moment of truth") kann nicht umhin, "auf die Synthese verschiedener Elemente, auf die Anordnung relevanter Tatsachen, auf den Punkt der Reaktion, auf die Situation als ein Ganzes, auf die Gestalt"V8 zu reagieren. Kein 87 Siehe z. B. Piers und Singer 60, 63; Money-Kyrle. Ethics 229-232. Vgl. Nozick. 88 Nietzsche I 871, Nr. 281. 88 Breton 24. 80 Siehe z. B. Anton Ehrenzweig 11 258-259, 296; Herbert Read. Value 79; oben § 148. 81 Anton Ehrenzweig 11 32. "Meer mogen we niet van hem verwachten". Drion 169. 82Llewellyn. Good 227-230. Vgl. im allgemeinen Triepel Kap. 6. va Siehe Swisher 882. Als ein "behavioristisches" Werk, vgl. z. B. Nagel. Siehe auch Peczenik, Foundation.

246

3. Kap.: Gerechtigkeit und Gerechtheiten

§ 175

Wunder also, daß sowohl Naturrecht wie Positivismus in ihrem Bemühen versagen müssen, gesicherte Maßstäbe anzubieten, und daß die scheinbar zynische Botschaft des Realisten das uralte Problem eigentlich nur offenlegt. Das beste, was wir uns hier erhoffen können, ist, durch weitere Forschung das wechselnde übergewicht der einzelnen irrationalen Faktoren auf einzelnen Gebieten des Rechts zu bestimmen. Damit könnten wir, manchmal mit Hilfe eines wohlgemeinten Betrugs des "Als Ob"", mit der Rationalisierung der Nichtvernunft wenigstens zu einem kleinen Teil Erfolg haben. 4. Rationalisierung?

§ 175. Verfassungs-, Straf- und Deliktsrecht werden vorwiegend von der Haltung des Gehorsams und Ungehorsams gegenüber der Elternfigur bestimmt, könnten wir auch hier und in anderen Bereichen noch viele Facetten der Aggression und des Mitleids hinzufügen. Gesetze der Familie, der Erbfolge und des Vertrages spiegeln Zusammenarbeit und Wettstreit zwischen den Geschwistern wider. Das Eigentumsrecht trägt den Stempel sowohl der wechselnden Abhängigkeit zwischen den Mitgliedern der Familie als auch den der Reste früher analer Tendenzen. Und das Sozialrecht zeigt klare Relikte aus dem Säugestadium des Kindes l5 • Solche Diagnosen sind offensichtlich übermäßig vereinfacht und verlangen nach Ergänzung auf verschiedenen psychologischen und soziologischen Ebenen". Aber sie deuten auf einige der Gründe hin, warum bestimmte Rechtsinstitutionen sich als für jede Gesellschaft grundlegend erwiesen haben; warum der größte Teil des Privatrechts sogar solche dramatischen Umschwünge wie "kommunistische" Revolutionen überlebt hat (§ 84); und warum andererseits kein "kapitalistisches" System instande gewesen ist, ohne soziale Gesetze zu bestehen.

Man hat versucht, einige der Schritte aufzuzeigen, durch die wir hoffen dürfen, die Auswirkung der Vernunft auf einige der irrationalen Elemente unserer rechtlichen Strukturen erhöhen zu können97 • Alle diese Versuche müssen letztlich Freuds Ermahnung folgen, "das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann: Wo Es war, soll Ich werden"98. t4 Ladd 127 definiert die rationale Entscheidung als eine, "für die der Entscheidende gute Gründe geben kann". U Bienenfeld, Prolegomena 9-14, 134-158, 161-176, 187-206 . .. Siehe allgemein Durkheim, Ethics Kap. XI-XVIII. 87 Siehe Flugel 242-260 . • 8 Freud, Neue Folge der Vorlesungen, Ges. Sehr. XII, 154, 234. Für eine Auslegungskontroverse unter Analytikern, vgl. Heinz Hartmann, Ego 73 mit Fromm 24.

§ 175

Urteil

247

Man hat wohl diesen berühmten Satz und Gedanken des Meisters infragegestellt. Wie Martin Grotjan es mir gegenüber einmal formulierte: wir müssen mehr nach Harmonie als nach Eroberung streben. Dies könnte als Befürwortung jener "erotischen Rechtstheorie" verstanden werden, die auf der "Zurückweisung" einer thanateischen Wissenschaft beruhen soll, befreit sowohl von Konkurrenz wie vom Computer". Aber es wird lange dauern, ehe auf diese Weise "der unbewußte Geist, indem er von der Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem, dem Seher und dem Gesehenen läßt, Dinge tun kann, die der bewußte logisch arbeitende Geist nicht tun kann"IOo - bis wir zu dem scheinbar "programmierten" Zusammenspiel von Aggression und Liebe beim Tier zurückgekehrt sind101 • Wie gut man dem Ich auch immer neue und "bessere" Maßstäbe und Techniken lehren mag, es wird dem Zwang zur Wahl ausgesetzt bleiben, sei es in Eroberung, in Harmonie oder in Liebe. Im letzten Kapitel werde ich zu zeigen versuchen, wie Vernunft, Nichtvernunft und Rationalisierung mit dieser Wahl in wichtigen Bereichen rechtlicher Entscheidung, in Recht und Rechtheiten, ihren Weg zu finden suchen.

" Siehe Batt, Essay 533,548-550; A. Kaplan. 100 Milner, 94, 99, 100. 101

Eibl-Eibesfeldt, oben § 129 Anm. 87.

Viertes Kapitel

Recht und Gerechtheiten § 176. In früheren Kapiteln konnten wir beobachten, wie sich das Hauptproblem der Rechtsphilosophie - nämlich die Frage nach dem Begriff und der Idee der "Gerechtigkeit" - im wesentlichen als ein durch irrationale Emotionen belasteter Gegensatz zwischen widerspruchsvollen "Gerechtheiten" entpuppt, der vornehmlich psychologischer Untersuchung bedarf. Im folgenden soll dieselbe Methode auf gewisse Zentralfiguren unseres Rechtes angewendet werden, die darum Bestandteile unseres allgemeinen Rechtsdenkens geworden sind, weil sie in tief in unserem Inneren verwurzelten Gerechtheiten begründet sind. Da nun das Recht dem Menschen am häufigsten und zugleich am eindrucksvollsten in seinen Sanktionen entgegentritt, sollen in diesem Zusammenhang sowohl straf- und zivilrechtliche Schuld und Verantwortlichkeit, als auch der Prozeß ihrer Sanktionierung erörtert werden.

A. Gerechtheiten des Strafrechts: Strafe und "Behandlung" 1. Warum wir strafen

a) Soziale Rechtfertigung und Motivation (1) "Vernunft" § 177. Spätestens seit Bentham's utilitaristischer Botschaft! wird in jedem Hörsaal oder Lehrbuch gelehrt, daß Strafe heute drei rational zu erfassenden Zwecken dient: der generellen Abschreckung potentieller Rechtsbrecher (Generalprävention), der Abschreckung des Täters von einer Wiederholung seiner Tat (Spezialprävention) und schließlich dem Schutzbedürfnis der gefährdeten Gesellschaft!. Letzteres wird dadurch 1 Siehe Bentham, Rationale 29. Vgl. auch Bentham, Prinzipien 60-66. über Bentham siehe allgemein oben § 33; auch Pincoffa 17-25. Siehe auch Beccaria (1738-1794), passim; und über dessen Theorie Preiser, in Todesstrafe 39--40; oben § 33 Anm. 75. 2 Siehe etwa Singer 409, 412, passim, der allerdings überholtem Behaviorismus ungebührenden Respekt zollt (413--415, 422--423). Siehe unten § 181 Anm. 32. Zur Rehabil1tation vgi. Liszt; Schmidhäuser; WaZker-Nigel.

§ 177

Strafzwecke

249

befriedigt, daß man den Täter entweder einfach eliminiert, ihn durch Haftmaßnahmen von der "normalen" Gesellschaft absondert, oder ihm die Möglichkeit gibt, sich in Zukunft zu bewähren, d. h. zu "rehabilitieren". Manche Psychologen begnügen sich sogar damit, das Strafrecht nur im Lichte dieser letztgenannten Maßnahmen zu analysieren. Sie vernachlässigen damit nicht nur die irrationale aber unvermeidliche Vergeltung, sondern sogar die rationale Generalprävention. In zunehmendem Maße sind wir aber bereit, uns einzugestehen, daß die Kriminaljustiz selbst den klassischen Strafzwecken nur in äußerst unzulänglicher Art und Weise gerecht wird. Um so erstaunlicher ist es daher, daß wir trotz dieser Erkenntnis dennoch alle Versuche, unser Strafrecht zu verbessern, an dessen "offizieller", traditioneller Struktur ausrichten. Die starke Triebfeder des "inoffiziellen" - von den Schöpfern der Strafgesetzbüchern nicht einkalkulieren - Motors unserer strafgesetzlichen Wirklichkeit, nämlich den allzu menschlichen Vergeltungsdrang, sind wir nur selten bereit anzuerkennen und vermeiden es geflissentlich, dieser Tatsache unvoreingenommen gegenüberzutreten. Fast alles, was gegen diese Einstellung vorgebracht werden könnte, wurde bereits in einer schier unübersehbaren Zahl von Publikationen aus den verschiedensten Ländern ins Treffen geführt; und die kritischen Stimmen stammen keineswegs nur aus den Reihen der Rechtswissenschaftler, sondern vielmehr aus nahezu allen Bereichen der Geisteswissenschaften. Dabei blieb aber ein für die gegenwärtige Betrachtung überaus wichtiges Argument meist völlig unberücksichtigt: alle führenden Untersuchungen betrachten das Verbrechen so, als wäre es ein durchweg homogenes Produkt menschlicher Fehlleistung!; auch die gegenwärtigen Gesetzesvorschläge beharren auf dieser Auffassung4 • Sie sind daher nicht in der Lage, den sich immer mehr zuspitzenden Gegensatz zwischen "Humanisten", die alle Strafe abschaffen, und "Konservativen", die den Status quo aufrechterhalten wollen zu lösen'. Jede Analyse des Strafrechts, jede Diagnose und Prognose darüber kann aber nur dann zu sinnvollen Ergebnissen führen, wenn zwischen verschiedenen Verbrechenstypen unter Berücksichtigung der Variationsbreite in ihrer Behandlung durch die Gesellschaft sowohl in rationalen als auch besonders in irrationalen Maßnahmen unterschieden wird. Dennoch haben sogar jene wenigen Untersuchungen, welche hauptsächlich einer Psychologie der strafenden Gesellschaft gewidmet sind, diese notwendigen Unterscheidungen verabsäumt'. a Siehe etwa Hall, Kapitel IX; Hart, Punishment 234-236. Siehe auch Andenaes, Punishment. Bezüglich des kontinentalen Rechts, siehe etwa MueZler. 4 Bezüglich der USA, siehe den Model Code; für Europa WiethöZter 96-97. I Siehe unten §§ 189, 199. Siehe etwa auch Boas. • Siehe etwa Reiwald; Hochheimer- Louwage, passim.

250

4. Kap. (A): Strafrecht

§ 178

Wir haben bisher die vernachlässigten irrationalen Beweggründe der Strafe ganz allgemein mit den Vergeltungstrieben der Gesellschaft identifiziert. Da diese Triebe im Bereich der Kriminologie als "moralisierte Aggressionen" erscheinen, wollen wir das folgende Kapitel der strafrechtlichen Nichtvernunft mit der Untersuchung des Ursprungs und der Funktion der Aggression selbst beginnen. (2) Nichtvernunft

§ 178. Prägenitale Aggression. Daß menschliche Tatverantwortlichkeit zu der frühen Funktion des über-Ichs in einem engen Verhältnis steht, wurde schon oft behauptet und auch bewiesen. In den vorangegangenen Abschnitten begegneten wir diesem Ober-Ich in seiner ursprünglichen Bedeutung als Freuds "Erbe des Ödipuskomplexes"7. Diese Umschreibung genügte uns als vorläufige Arbeitshypothese zur Klärung der Herkunft unseres Gerechtigkeitsgefühls. Für die gegenwärtige Fragestellung müssen wir uns aber auch nach-freudianischer Einsichten und Spekulationen bedienen, welche sich auf bestimmte vor-ödipale aggressive Reaktionen beziehen. Einige dieser Reaktionen wurden schon im Jahre 1916 von Abraham vorweggenommen8• Eingehendere Untersuchungen darüber müssen aber wegen der Unmöglichkeit, beschränkt oder gänzlich unansprechbare Kleinkinder einer Analyse zu unterziehenlI, immer widerspruchsvoll bleiben. In der Tat werden wir wohl nie über die Erforschung jener Urtradition der Menschheit hinausgelangen, die von Zoroaster und Empedokles an bis zum klassischen Griechenland und Israel Götter anbetete, deren aggressive Triebe jene ihrer Kreaturen überstiegenlo •

Vielleicht ist es die Verhaltensforschung (Ethologie), die uns neue Einsichten in den Ursprung prägenitaler Aggression verschaffen kann. Konrad Lorenz sieht das Tier "Diesseits von Gut und Böse" in gedankenreicher Paraphrase zu Nietzsches "Jenseits"u. In diesem Sinne hätte erst der Mensch in seine Rasse eine Aggression hineingebrütet, die auf die erste vorbedachte Rache des besiegten Kämpfers zurückginge, der sich durch die Distanzwaffe seines siegreichen Gegners der Möglichkeit der Flucht oder unmittelbarer Unterwerfung beraubt fandt!. So würde FreucL XXI 132. Siehe oben § 159. Abraham, Briefe 221-222. • Siehe Flugel, Kapitel IX; Glouer, Trends. Vgl. etwa auch Loch. 10 Ober Empedokles' (490-430?) ewigen Kreislauf zwischen Liebe und Kampf, siehe etwa Kirk und Rauen; Russell 55-56. Jahwes', Zeus' und Wotan's Rache und Zorn sind Gegenstand in aller Welt verbreiteter Volks7

8

sagen. 11 Oben § 150 Anm. 8.

l! Lorenz 143-145. Ober die menschlichen Werkzeuge als "künstliche Organe", siehe Hass, Kapitel 9. Siehe auch oben § 125 Anm. 41; unten Anm.

§ 178

Prägenitale Aggression

251

es zur schicksalsschweren Frage der Menschheit, ob wir imstande sein werden, noch rechtzeitig jene psychologischen Werkzeuge zu entwickeln, die es uns ermöglichen würden, vor unserer endgültigen Vernichtung einer solchen ziellosen Aggression zu entsagen. Nur solange wir uns nicht entschließen, diesem ungeheuren Problem näherzutreten, werden wir wohl in unserer existentialistischen Wunschillusion verharren, die jegliche Aggression so bequem einer der Geburt folgenden und daher reversiblen Erfahrung zuweistl3 • Aber es ist wohl kaum möglich, die instinktive Wesensart menschlicher Gewalttätigkeit anzuzweifeln "in spite of the occasional waves of pollyannaism and denial"14, gibt es doch allzuviele Anzeichen einer "nach innen gewendeten"IS Aggression, die bereits vor der Entwicklungsstufe des über-Ichs einsetzt. Wie könnten wir uns sonst jene aggressiven Triebe erklären, welche nach dem Verzicht des Ichs auf ödipale Befriedigung "auf die Zufügung positiven Leidens ohne Haß und ohne Rachedurst hinzielen"16? Es sind gerade diese Triebe, welche, wenn sie einmal nach außen in Erscheinung treten, die Vorfahren jener "moralisierten Gegenaggres21. Anläßlich unserer - in Anm. 8 bei § 150 erwähnten - Diskussion meinte Lorenz auch, daß animalische "Gerechtigkeit" auf das Attackieren eines aus der Reihe tanzenden Gruppenmitgliedes, auf die Akte eines überlegenen Führers und möglicherweise auf die Reaktionen gegen Parasiten (von denen noch wenig bekannt ist), sich zu beschränken scheint. Auch Psychoanalytiker haben begonnen, sich mit den Parallelen zwischen menschlicher und tierischer Aggression zu beschäftigen. "Gewalttätigkeit und Aggression in Tieren derselben Spezies ist ein eingeborener Schutzmechanismus, der gewöhnlich mit einem eingebauten Sicherheitssystem für deren Mitglieder ausgestattet ist. Im Menschen vermischt sich atavistische Bestialität mit jenem seltsamen menschlichen Computer, den man Gehirn und Geist nennt, und schließlich mit der vom Menschen erzeugten Maschinerie organisierter Brutalität und Kriegführung. Des Menschen atavistische Werwolfdelusionen werden immer wieder durch frenetische Fantasien vom Haß und Rache, von Schuld und Strafe, von Verachtung und Erniedrigung, verstärkt. Des Menschen Aggression ist nicht eingeboren und andauernd als solche. Sie ist das Ergebnis einer Desorganisation seiner Triebe, die durch mannigfaltige innere und äußere Faktoren und durch das Fehlen kultureller Umwandlung und Kontrolle hervorgerufen wird. Welche umgebungsgerichtete Fehler haben wir gemacht? Wo ist unsere Zähmung und die Ritualisierung unserer Triebe fehlgegangen?" Merloo 55. Wieviel lassen solche beiläufige Randbemerkungen zu tun und zu denken! 13 Montagu 409. Siehe auch Maslow, passim, und, ihm folgend, Montagu (25). Diese optimistische Anschauung über die Aggression als lediglich ein Ergebnis von Repression wurde "angesichts der vorliegenden Evidenz in höchstem Grade unverantwortlich" bezeichnet. Eibl-Eibesfeldt 100. Siehe dens., Kap. 2, 5; dens. 85-90, 97-100; und oben § 129 Anm. 87. Aber siehe auch Berkowitz; Hass 170, und allgemein Bitter (Hrsg.). über die Aggression allgemein Denker; Hacker, Aggression, insb. 99-135; Mitscherl1ch, (Hrsg.), Bis hieher und nicht weiter (1969). 14 Menninger 163. Siehe auch West; Schoenfeld, Aggression; MitscherHch 10; Storr I, Kap. 2, et passim. 11 Cain, passim. Vgl. auch Hacker, Aggression 80-90. 18 Menninger 143, Kap. XIX. Vgl. etwa Sorel48.

252

4. Kap. (A): Strafrecht

§179

sion" der Vergeltung darstellen, die zu allen Zeiten ein so wesentliches Element von Krieg und Strafe gewesen ist17 • § 179. Moralisierte Gegenaggression (Vergeltung.) Für die Allgegenwart der Vergeltung benötigen wir wohl kaum der Unterstützung von anthropologischer Seite her18 • "Menschen, ähnlich vielen anderen Tieren, werden zornig und schlagen zurück, wenn sie angegriffen und verletzt werden ... Derartige Vergeltung, wenn sie nicht unmittelbar und spontan erfolgt, sondern vielmehr durch ein gewisses Maß an überlegung gesteuert wird, ist das, was wir meist als Rache bezeichnen1'." Entgegen einer uralten Annahme!O ist das "Vieh", sind "Bestien" einer solchen Reaktion unfähig. Entweder fliehen sie vor dem siegreichen Feind oder sie unterwerfen sich. Es war der Mensch, der, wie wir gesehen haben, die Fähigkeit zur überlegten Rache entwickelt hat, seit seine erste Distanzwaffe es ihm möglich machte, seinen Gegner ungesehen zu treffen und seit er dadurch den besiegten Feind an der Flucht und Unterwerfung hindern konnte, sich damit selbst des Mitleids beraubend - so ganz anders als sein Bruder, der Wolf21 • Gemeinschaftliche überlegung und Beratung mag diese Einzelrache dann zunächst in die StammesfE:hdp. und später - auf entwickelterer Gesellschaftsstufe, in die Strafaktion des Gesamtstaates verwandelt haben. Wurde so der Fluch der Fehde und des Krieges mit der Drohung endgültiger Selbstvernichtung zum Privileg des Menschen, der, wie uns die Bibel berichtet, vor der Tötung von Geiseln, ja selbst vor der Rache an Kindern und Brüdern nie zurückgescheut hat? Obwohl wir in unserer Untersuchung es nur mit überlegten und legalisierten Vergeltungsmaßnahmen des Strafrechts zu tun haben, wollen wir doch hier im Einklang mit allgemeiner Übung auch von dieser Rache als Vergeltung, sprechen!l. 17 Freud XXII 203-215; Waelder, Conflicts; Schilder, Kap. 20; Coser; Franz Alexander, Kap. IX; unten § 189. 18 Siehe etwa Davitt 122-124. Flugel144-145. Siehe auch Kelsen, Vergeltung, Kap. IIl. 10 Siehe etwa Plato, Protagoras 324. U Siehe oben Anm. 12; Lorenz 207-208. Siehe auch Tinbergen; ders., War; CarTigan; D. MorTis; Marcic, Kritik 196; Portman, in Todesstrafe 65, 67; Meynell 299.

l'

21 Vgl aber Hegels Unterscheidung zwischen dieser Vergeltung und der Rache als der eigentlichen Negation des Rechtes. Grundlinien §§ 218, 220 bis 102. Dazu Marcic, Hegel 68. Eine solche Unterscheidung mag rationell wünschenswert sein, liegt aber außerhalb der irrationalen Wirklichkeit unserer unbewußten Reaktionen. Jeremia (XXX 29-30) warnte vor stellvertretender Bestrafung. Und in der Tat können wir darauf pochen, daß wir nicht mehr des Täters Kindeskinder strafen, nach dem Vorbild eines Gottes der an der Menschheit Adams Sünde sühnte. (Vgl. freilich etwa über angelsächsische Praktiken Pollock und Maitland I 56). Und wir wollen fortfahren, der Menschheit Schuldgefühl für ihr wirklich begangenes oder ein-

§ 180

Moralisierte Gegenaggression

258

Im Laufe der Zeit hat die Gegenaggression aber auch eine andere wichtige Aufgabe übernommen. "Moralisiert", wird sie zu einer Funktion des Über-Ichs. Wenn wir den Angreifer "bestrafen", "beweisen wir ihm nicht nur, daß er mit seiner Tat nicht ,so leicht davonkommen kann', sondern stellen ihn uns selbst, die wir auch gegen rebellierende Versuchungen zu kämpfen haben, als abschreckendes Beispiel hin"ZI. Die Anerkennung dieses Mechanismus eröffnet den Weg zur Hauptthese dieses Kapitels, dem Bedürfnis des Strafrechts nach einer grundsätzlichen Unterscheidung in Deliktstypen. Die "strafende", moralisierte Gegenaggression des über-Ichs verstärkt die Verdrängung des kriminellen Hanges eines potentiellen Täters. Aber die Intensität der Verdrängung, welche dieser überwinden müßte, um seinen kriminellen Gelüsten freien Lauf zu lassen, und somit der Bedarf des Über-Ichs an verstärkenden Impulsen für diese Verdrängung weisen nach Art und Beschaffenheit der zu verhindernden Tat große Unterschiede auf. Die Variationsbreite sowohl der Verdrängung als auch deren Verstärkungsfaktoren verbleibt wohl weitgehend unbewußt, doch es sind eben diese Variationen im unbewußten, irrationalen Mechanismus, welche eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Phänotypen der Delikte fordern. Diese Unterscheidung muß freilich genauso unbestimmt und zweifelhaft bleiben, wie die Beweggründe sowohl des Täters als auch der Gesellschaft. Aber um das Problem überhaupt freizulegen und den Weg zu neuen Lösungen aufzuzeigen, mag es sich als zweckmäßig erweisen, als Ausgangspunkt einer versuchsweisen ersten Analyse ein dramatisches Beispiel zu wählen, jenen frühkindlichen Komplex nämlich, den man, recht oder schlecht, nach der Tragödie des König Ödipus benannt hat, der seinen Vater erschlug und seine Mutter zur Frau nahm. (3) Ödipale und postödipale Vergehen § 180. Notwendige Unterscheidung. Freud, der sich selbst nie psychojuristischen Untersuchungen widmete, bemerkte: "Unendlich viele Kulturmenschen, die vor Mord oder Inzest zurückschrecken würden, versagen sich nicht die Befriedigung ihrer Habgier, ihrer Aggressionslust, gebildetes erstes Verbrechen, die Tötung des Gottessohnes, zu entrationalisieren. (Vgl. Freud XIII 140-146). Aber haben wir gesiegt? Werden wir je siegen? Familienfehden, Erbkriege und die Tötung von Geiseln lassen uns selbst an unseren kleinsten Fortschritten zweifeln. l3 Fluget 169. Um es anders auszudrücken: "Ein Mensch der bereit ist, instinktive Wünsche (durch Repression) mit nicht geringen psychischen Kosten aufzugeben, wird es wohl kaum tolerieren, daß ein anderer seinen antisozialen Impulsen nachgeben darf, ohne dafür auch bestraft zu werden." De Grazia 760. Siehe auch unten § 185. In diesem Sinne besteht zwischen Schuld und Angst ein gewisser Zusammenhang. Niesen 27.

254

4.

Kap. (A): Strafrecht

§ 180

ihrer sexuellen Gelüste, unterlassen es nicht, den Anderen durch Lüge, Betrug, Verleumdung zu schädigen, wenn sie dabei straflos bleiben können, und das war wohl seit vielen kulturellen Zeitaltern immer ebens02'." Diese zwei von Freud angedeuteten Typen von Verbrechen können, entsprechend der Entstehungsgeschichte des jeweils zugrunde liegenden Triebes, ganz grob in ödipale und postödipale Delikte unterschieden werden; je nachdem, ob die Bereitschaft zu diesen Delikten die Unterdrückung eines unserer ödipalen Entwicklungsstufe entstammenden Triebes voraussetzt oder nicht. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß die hier vorgeschlagene Terminologie so manche Angriffsfläche bietet und Kritik herausfordern muß, angefangen mit der völligen Ablehnung der Odipus-Theorie bis zu unzähligen "Grenzstreitigkeiten" bezüglich jeder vorzunehmenden Unterscheidung. Aber bis jetzt hat sich noch keine andere Terminologie angeboten, welche dem Zweck der gegenwärtigen Darstellung in so provozierender und zugleich bezeichnender Weise genügen könnte. Verfeinerungen werden späteren Untersuchungen dieser Materie vorbehalten bleiben müssen. Begeht in unserer Kulturwelt ein "normaler" Mensch einen Affektmord25 , so muß er jene frühesten und daher stärksten Hemmungen überwinden, welche gewöhnlich der ödipalen Entwicklungsphase zugeordnet werden. Somit kann ein derartiges Odipus-Delikt lediglich dann zur Ausführung gelangen, wenn entweder in "abnormaler" Weise jegliche Hemmungen fehlen oder ein unwiderstehlicher innerer Tatdrang vorliegt. In beiden Fällen wird die Furcht vor einer Bestrafung für den bereits entschlossenen oder potentiellen Täter kein rationales und wirksames Abschreckungsmoment darstellen. Die Angst vor dem Galgen oder Kerker ist sowohl zu schwach, um eine fehlende normale ödipale Verdrängung zu ersetzen, als auch um einem dieser Verdrängung gewachsenen Trieb zu begegnen. überdies bleibt der Verdrängungsvorgang, insoweit er unbewußt ist, einer bewußten Steuerung unerreichbar. Somit muß aber letztlich jegliche Bestrafung dieser Verbrechen wegen des Fehlens rationaler Strafzwecke in der Hauptsache als irrationale, unbewußte Reaktion der Gesellschaft aufgefaßt werden, es sei denn, wir begnügen uns mit der unzureichenden Annahme, daß solche Bestrafung lediglich als öffentliche Verdammung eines "Unrechtes" zu " F7'eud, Die Zukunft einer Illusion, Ges. Schr. XI 411, 419. 15 F7'eud schloß in dieser Gruppe vennutlich auf der Grundlage der OdipusdeIikte - auch den Inzest ein. Wenn wir dem Freud'schen Denkmodell an dieser Stelle nicht folgen, so ist das auf die vielen ganz unterschiedlichen Inzesttypen des täglichen Gerichtslebens zurückzuführen, Typen, die sich um die interfamiliären Verbrechen zwischen Nichtverwandten wie etwa dem Stiefvater und seinem "Kind" gruppieren.

§ 180

ödipale und postödipale Vergehen

255

dienen habe (§ 185). Versuche einer Strafrechtsänderung in diesem Deliktsbereich haben diese Erwägungen bisher allgemein vernachlässigt. Andere Delikte, wie etwa den Diebstahl oder schlichte übertretungen können wir vielleicht als postödipal charakterisieren, weil sie Begierden entspringen, deren Verdrängung in einer postödipalen Entwicklungsphase auftritt. Diese Vedrängung ist in ihrer Intensität wesentlich schwächer, als die der ödipalen Triebe. Deshalb und weil die Verdrängung hier bewußt oder zumindest teilweise bewußt geschieht, kann sie durch eine etwaige Strafdrohung unterstützt werden. In diesem Bereich ist daher eine rational begründbare Verbesserung von Strafgerichtsbarkeit und Strafvollzug mit Bezug auf Abschreckungs-, Besserungs- und Sicherungsmaßnahmen durchaus möglich.

Ausschluß von Gruppendelikten. Von dieser Untersuchung müssen wir freilich viele Sachverhalte ausschließen, die zwar als kriminelle Verletzungen geltender Gesetze anzusehen sind, aber im gegenwärtigen Zusammenhang trotz ihrer großen Bedeutung besonders in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Unruhe einer systematischen Einordnung und Analyse nicht leicht zugänglich sind. Mob-Handlungen aller Art einschließlich der Kriegführung körmen psychologische Probleme bieten, die sich von denen der Individualtaten grundsätzlich unterscheiden. Hier kann die überwindung ödipaler Hemmungen sich allzu leicht auf die Vatergestalt des Führers oder auf die "Familie" der Rotte oder gar der Gesamtnation beziehen. Darüber hinaus vermag das anfängliche oder letztliche Leugnen der Gültigkeit einer nationalen oder internationalen Apexnorm (§§ 13, 132) analytisch betrachtet, Angriffshandlungen gänzlich aus dem Bereich des Strafrechtes herauszutrennen und sie in Vorkommnisse eines "amoralischen" Bürger- oder Völkerkrieges zu verwandeln. Ferner mögen auf einer tieferen Ebene in gleicher Weise Bandendelikte oder, von historischer Warte gesehen, Sippenfehden und Duelle eine Andersbewertung von "Verbrechen" und "Strafe" erfordern. In solchen Fällen kann dann sowohl geringere Intensität als auch Bewußtheit von sonst übermächtigen und unbewußten Verdrängungen und Begierden eine Erfassung und Sichtbarmachung der Bestrafung als Mittel rationaler Abschreckung zulassen, einer Bestrafung, die sonst Ausdruck irrationaler Vergeltung geblieben wäre. Ein näheres Eingehen auf diese überaus wichtigen Problemkreise haben wir jenen zu überlassen, die hier durch ein Mehr an Erfahrung und Fachkenntnis ausgewiesen sind. Wir selbst wollen zum eigentlichen Thema der gegenwärtigen Untersuchung zurückkehren: nämlich zur Beziehung der Strafe zu den Begriffsbestimmungen der Verantwortlichkeit im Bereich des individuellen, typischen Verbrechens. Hier können wir mit Sicherheit annehmen, daß postödipale Delikte die überwiegende Mehrheit der Straftaten darstellen, welche durch die Gerichte oder andere Behörden

256

4. Kap. (A): Strafrecht

§ 181

verfolgt werden28 • Dieser Deliktsart wollen wir uns daher zuerst widmen, indem wir als am besten einleuchtendes Beispiel mit den "technischen" Gesetzesübertretungen und anderen Nichtvermögensvergehen beginnen. b) Rationale Abschreckung, Sicherung und Besserung

(postödipale Vergehen)

§ 181. Technische und andere Nichtvermögensvergehen. Nicht viele gibt es unter uns, die ohne das Vorliegen einer Strafdrohung zögern würden, einige der unzähligen "amoralischen" Gebote und Verbote rein technischer Art zu verletzen. Da in diesen Fällen der Tatmechanismus von der Versuchung bis zur Ausführungshandlung hin bewußt ausgelöst wird, kann eine Bestrafung als durchaus vernünftiges general- und spezialpräventives Druckmittel eingesetzt werden.

Vielleicht darf ein ehemaliger österreichischer Richter hier die Behandlung einer schwierigen Problematik unterbrechen und aus seiner Amtstätigkeit in einer überwiegend ländlichen Gemeinde zwei Fälle anführen, die seiner Meinung nach geeignete Beispiele wirksamer Bestrafung oder wirkungsvoller Strafandrohung mit Bezug auf die hier behandelten Straftaten darstellen. In dem einen seiner Fälle sah sich der Richter jeden Montag vor die undankbare Aufgabe gestellt, Geldbußen oder leichte Gefängnisstrafen über junge Raufbolde zu verhängen, die am vorangegangenen Samstag nach alter Sitte Wirtshausschlägereien veranstaltet hatten, die immer wieder, zumeist unabsichtlich, zu schweren Verletzungen der Beteiligten führten. Alle herkömmlichen Verdikte blieben erfolglos. Eines Tages ließ der Richter denn an der ZI Die kalüornischen Kriminalstatistiken veranschlagen das Verhältnis zwischen Delikten gegen Leib und Leben und Vermögensdelikten mit 3:20. Aber siehe auch Norval Morris und Gordon Hawkins, die betonen, daß das Verbrechen kein einheitliches Phänomen darstellt und daher eine Untersuchung von dessen "Ursachen" etwa genauso vernünftig ist, wie das Studium von "Krankheit" schlechtweg. - Nach polizeilicher Kriminalstatlstik für die Bundesrepublik Deutschland über das Jahr 1969 waren von 2217966 Verbrechen und Vergehen 61,9 Ofo allein Diebstahl und Raub, während nur 2,6 Ofo Sittlichkeitsdelikte, 1,6 Ofo gefährliche und schwere Körperverletzungen ausgewiesen sind. Mord und Totschlag einschließlich Versuch und Tötung neugeborener Kinder rangiert mit 0,1 %. Die Ziffern beziehen sich auf die der Polizei bekannt gewordenen Verbrechen (polizeiliche Kriminalstatistik für die BRD einschließlich Westberlin 1970, 4). - Im Vergleich dazu etwa eine Verurteilungsstatistik: Nach der schweizerischen Kriminalstatistik 1968 betrug der prozentuale Anteil an Vermögens delikten 54,4 %, dagegen der Anteil von Delikten gegen Leib und Leben 10,4 Ofo und der Sittlichkeitsdelikte 15,3 Ofo (Schweizerische Kriminalstatistik, Eidgenössisches Statistisches Amt 1969, 18). - In Österreich beträgt der Anteil der Vermögensdelikte aller verurteilten Verbrechen im Jahre 1965 ca. 70 %, der Sexualdelikte ca. 10 %, der Körperverletzungen und Tötungen ca. 7 Ofo (Kriminalstatistik für das Jahr 1965, österr. Statist. Zentralamt 1966, 26).

§ 181

Postödipale Vergehen

257

Gerichtstüre, vielleicht gesetzwidrig aber hoffnungsfroh, einen Anschlag mit dem Inhalt anbringen, daß er in Zukunft jeden Wirtshausraufer, der mit einem Messer angetroffen würde, ohne Rücksicht auf seine Kampferfolge mit der Höchststrafe von 6 Monaten ins Gefängnis schikken werde. Von diesem Zeitpunkt an wurden die wöchentlichen Keilereien zwar fortgesetzt, aber ohne die Zuhilfenahme von Messern erledigt. - In dem anderen Fall wurde von unserem Richter ein wohlhabender, völlig untauglicher Autofahrer anläßlich seines dritten (obgleich harmlosen) Unfalles tatsächlich mit derselben Höchststrafe belegt; und zwar nachdem er frühere Verwarnungen, das Autolenken lieber durch seinen Chauffeur besorgen zu lassen, in den Wind geschlagen hatte. Natürlich wurde die Strafe - wie zu erwarten war - durch das Berufungsgericht gemildert, aber unser gefährlicher Autofahrer setzte sich seither nie mehr an das Steuer. Bei dieserlei Straftaten postödipaler Herkunft sind wir durchaus in der Lage, die Härte der Strafe je nach ihrem Zweck zuzumessen und können somit auch aus gutem Grund und vor allem mit reinem Gewissen den Täter die volle Härte des Gesetzes spüren lassen27 • Für diese Annahme gibt es wohl keinen besseren Beweis als die Erfahrungen, welche man während des letzten Krieges im besetzten Dänemark machte, als dessen eigene Polizeitruppe abgeschafft worden war. Die Zahl postödipaler Vergehen stieg ganz ungeheuerlich, unzweifelhaft infolge des Fehlens der gewohnten Abschreckungsmaßnahmen und -drohungen. Andererseits aber ergab es sich, daß die Zahl der Verbrechen ödipalen Ursprungs im wesentlichen gleichblieb - eine einzigartige Bestätigung der hier vertretenen Ansicht, daß solche Verbrechen Abschreckungsstrafen weitgehend unzugänglich sind (§ 203)28. Leider wurde die relative Zwecklosigkeit von Abschreckungsmaßnahmen bei ödipalen Verbrechen aber schon von Fundamentalisten wie Pufendorf2u oder Utilitaristen wie Bentham30 nicht genügend in Betracht gezogen. Auch andere Führer der Strafrechtswissenschaft, wie Lisztst, beschränk27 Siehe etwa Schoenjeld, Symbolism 67-77. Jede Abschreckung muß gegen eine, mehrere oder alle Phasen der Entwicklung des über-Ichs gerichtet sein: Angst, Schamgefühl und verinnerlichte Schuldgefühle. Bernard Diamond, Ray Lectures, weist überzeugend nach, daß der Mißerfolg der meisten Versuche in Richtung einer Abschreckung auf das Unvermögen des Rechtes zurückzuführen ist, über die erste Stufe hinauszugelangen. Ders., bei Anm. 13. Einen der wenigen Versuche, die Verbrechen von diesem Standpunkt aus - wenngleich ohne psychologische Fundierung - zu unterscheiden unternimmt etwa Tidemann.

Andenaes 187-189. PujendoT! (oben § 121 Anm. 59), Liber VIII Caput III §§ 9, 11, 12. Siehe auch Krieger, passim. 30 Siehe oben § 33. 31 Siehe Liszt 1-3, 17--47. Vgl. aber auch dens. 7-17 für eine einsichts28 28

volle, vorpsychologische Geschichte der Bestrafung als Ergebnis von In17 EhreJlSWels

4. Kap. (A): Strafrecht

258

§ 182

ten sich in der Folge darauf, die Strafe für alle Arten von Verbrechen als ein Mittel der Abschreckung und Besserung zu betrachten. Diese noch weiter bestehende Ansicht mußte wiederum allzu verallgemei~ nernde Ablehnungen dieser Straffunktion herbeiführen3! und zu jener Verwirrung beitragenSS , die derzeit auf dem Gebiete der Vermögensdelikte besonders bedenklich geworden ist. § 182. Vermögensvergehen. Wie andere postödipale übertretungen bestrafen wir die meisten Vermögensvergehen zunächst zum Zwecke der AbschreckungI'. Denn hier macht die relative Schwäche einer postödipalen Verdrängung deren Stärkung gegen Versuchung möglich und oft ratsam. Freilich können wir hier nicht, wie bei anderen "technischen" Übertretungen den Vergeltungswunsch ganz außer acht lassen. So gab es denn Zeiten, in denen selbst ein geringfügiges Eigentumsdelikt den kleinen Mann an den Galgen brachte, während ein rücksichtsloses Klassenrecht den Gebildeten durch das "privilegium cleri" vor solch weltlicher Bestrafung schützte. In der Tat waren hier Vergeltungsstrafen ebenso verbreitet wie ihre Vermeidung durch gesetzliche, richterliche und verwaltungsbehördliche Kunstmittel35• Wie dem auch sei, auf dem Gebiet des Vermögensdeliktes hat seit langem eine von irrationalen Vergeltungsgelüsten relativ unbelastete Vernunft eingesehen, daß strenge Vergeltungsstrafen für geringe Vergehen gegenproduktiv wirken könnenS'; und der rationale Abschreckungsgedanke kann wohl heute als überwiegend angesehen werden. Hiebei werden freilich jene neuen Probleme zu lösen sein, die mit der Erweiterung des Strafsystems durch die Hinzufügung des ebenso rationalen Gedankens der Resozialisierung verbunden sind87 • Denn selbst die beiden rationalen stinkten. Über Franz von Liszt (1851-1919) siehe Symposium, Z. Ges. Strafrechtswiss. 81 (1969) 685-829. über die Auswirkung der kriminalpolitischen Konzeption Franz von Liszts auf die modernen deutschen Strafrechtsentwürfe vgI. Bockelmann; Roxin. 82 Für ein anschauliches Beispiel siehe Singer 409, 412, passim, der sich für diesen Zweck selbst auf den längst überholten Behaviorismus beruft. DerB., 413-415, 422-423. Siehe etwa Beutel 400. Ja Siehe allgemein PackeT 33-49; RawlB, Concepts. Als einen etwas leidenschaftlichen, aber gedankenvollen Angriff auf die Untersuchungsergebnisse Packers, siehe GTiffith, passim. Siehe auch Naegeli, Das Böse 19. U Für die gegenwärtige Untersuchung schließen diese Verbrechen aber nicht perverse Verhaltensweisen wie etwa Pyro- oder Kleptomanie ein. Siehe etwa Schoenfeld, Symbolism 67-77. 15 Siehe HaU, Theft 110-111; derB., Kap. 4. 8e

Packer 365.

Siehe etwa Menninger, Kap. IX; Packer 53-58; AndenaeB, Morality. Kraschutzki 49 erzählt von einem Mann, der in London wegen Diebstahls verurteilt und gehängt worden war. "Während er noch am Galgen hing, kam ein Bote mit der Begnadigung. Er wurde also abgeschnitten und lebte weiter, jetzt mit dem Beinamen ,der halbgehenkte Smith'. Er lebte aber nicht nur weiter, er stahl auch weiter. Nicht einmal die erlebte eigene Hinrichtung hatte ihn abzuschrecken vermocht." 87

ödipale Vergehen

§ 183

259

Strafzwecke erweisen sich als unvereinbar: "Wenn du einen Menschen zu bestrafen hast -, mußt du ihn verletzen. Wenn du ihn aber verbessern willst, so mußt du ihm Gutes tun38." Hier, in einer philosophischen und psychologischen Abhandlung, welche Bedeutung und Funktion strafrechtlicher Verantwortlichkeit bestimmen will, sollen uns aber diese Probleme, so wichtig sie dem Strafwissenschaftler auch sein mögen, nicht weiter beschäftigen. Noch müssen wir uns hier mit der Berufung auf mangelnde Zurechnungsfähigkeit befassen, da diese im Bereich der nicht-ödipalen Delikte kaum zum Tragen kommt; in den Vereinigten Staaten wurde ihr Vorkommen hier auf etwa 2 % geschätzt". Wenn wir ein umstrittenes "Niemandsland" (§ 203) vorläufig beiseite lassen, so kann sich die weitere Diskussion über die "Theorien" des Strafrechts auf jenen Komplex beschränken, den ich den der ödipalen oder Ödipus-Delikte genannt habe. c) Irrationale Vergeltung (ödipale Vergehen) (1)

Beweis: der Alltag

§ 183. Probe aufs Exempel: Wahnsinn in der Todeszelle. "Henry Ford McCracken, 34 Jahre alt, ein Sexualmörder im Gefängnis zu Santa Ana ... war mürrisch, schlampig und voll von Phantasievorstellungen. Er bildete sich ein, Ratten und Katzen in seiner Zelle zu haben, die er verschmutzte, indem er vorgab, diese Tiere zu füttern. Er wurde sechs Elektroschockbehandlungen von der Art unterzogen, wie sie gewöhnlicherweise für wahnsinnige Personen vorgeschrieben sind ... Nach Angabe des Gefängnisdirektors ist seit der Behandlung McCracken wieder ganz reinlich in seinem persönlichen Verhalten, er spielt nun auf der Gitarre und singt gelegentlich." Kurzum, der Gefangene war nun für die Gaskammer geeignet und der Richter entschied in diesem Sinne'o. Diese Erzählung ist keineswegs eine Parodie auf eine mittelalterliche Chronik, eine Beschreibung des Sadismus eines totalitären Systems oder Ausdruck einer abartigen Phantasie, sondern ein Ausschnitt aus dem San Franciso Chronicle, der mit "San Quentin Gefängnis, den 15. Januar 1953", datiert ist.

Zu allen Zeiten und in allen Ländern scheint man sich darüber einig gewesen zu sein, daß man einen geistesgestörten Delinquenten nicht hinrichten könne, selbst wenn er zur Zeit der Straftat und des Strafver38 Bernhard Shaw 10. Siehe etwa auch Diamond, Ray Lectures bei Anm. 8, der die Unvereinbarkeit aller Tests für Zurechnungsfähigkeit und Resozialisierung nachdrücklich betont.

39 40

Kalven und Zeisel, 330.

McCracken v. Teets, 262 P. 2d 561, 564 (Califomia 1953).

260

4. Kap. (A): Strafrecht

§ 184

fahrens gesund und voll verantwortlich wart!. Coke erachtete es als "grausam und unmenschlich (einen geisteskranken Menschen zu töten), denn nach der Absicht des Gesetzgebers soll die Hinrichtung des Missetäters als Beispiel dienen ... Das kann sie aber nicht, wenn man einen Verrückten hinrichtet"'!. Daß diese fromme Erklärung falsch ist, liegt auf der Hand; kein Wunder daher, daß sie bereits ein halbes Jahrhundert später aufgegeben wurde. Seither hat es geheißen, daß jeder Gefangene bis zu seinem Tode die Möglichkeit einer "gerechten Verteidigung" behalten müsse43 • Und noch im Jahre 1962 schlug eine Kommission in Kalifornien vor, jeden Häftling zu schützen, "der unfähig ist, sich (über seinen Fall) zu besprechen und Rat einzuholen ... oder Tatsachen mitzuteilen, die auf seine Schuld oder die Milderung seiner Strafe von Bedeutung sein könnten". Aber es ist doch offenbar, daß "man über die Möglichkeiten, welche einen Verurteilten vor der Hinrichtung bewahren würden, endlos grübeln kann, wenn nur diese lange genug hinausgeschoben wird"". Warum verschonen wir aber also den geisteskranken Kandidaten in der Todeszelle? Offizielle Theorien versagen hier45 • "Besserung" des Täters scheidet aus und Abschreckung anderer kann man auch durch die Hinrichtung Geisteskranker erreichen. Gerade deswegen haben wir den Todeskandidaten als Schulbeispiel für die Bedeutung des Vergeltungsgedankens im Strafrecht herangezogen. Denn nur dieser Gedanke kann die Schonung des Geisteskranken erklären, wie immer man diese Tatsache prozessual verkleidet". Ein Gerichtshof des Bundesstaates Mississippi hat mit entwaffnender Offenheit erklärt, daß er den Irrsinnigen deshalb von der Hinrichtung verschone, weil es "inmitten der finsteren Nebelschwaden seines geistigen Zusammenbruches kein Fleckchen Licht gibt, auf das die Schatten des Todes geworfen werden könnten. Auf dem Weg zum elektrischen Stuhl würde dieser Mann nicht erzittern41 ." § 184. Und Sonst? Das irrationale Vergeltungselement der Strafe tritt natürlich nirgends so klar in Erscheinung wie in unserem Fall mit der Todeszelle. Aber niemand kann leugnen, daß dieses Element auch in 41 Solesbee v. Balkcom, 339 U.S. 9, 26-32 (1950). Selbst der Vollzug der Freiheitsstrafe wird in allen Kulturstaaten bei Geisteskrankheit ausgesetzt. Vgl. dazu beispielsweise § 398 öStPO. n Coke, Third Institute, ch. 1, p. 6 (1817). 43 Hawles 476. U Phyle v. Duffy, 208 P. 2d 688, 676 (Cal. 1949). über die Todesstrafe im allgemeinen vgl. etwa Koestler; Grassberger, Todesstrafe; Malaniuk 85. Für die Sowjetunion vgl. etwa Valters. 45 Vgl. im allgemeinen Ehrenzweig, Insanity. 41 Bezüglich dieser, siehe Hazard und Louiseil. 47 Musselwhite v. State, 60 So. 2d 807,809 (Mississippi 1952).

§

184

Ödipale Vergehen

261

anderen Schichten des Bestrafungsprozesses zumindest zusammen mit den rationalen Strafmotiven von Abschreckung, Resozialisierung und Sicherheit auftritt. Es wird wohl kaum nötig sein, die erschreckende und so oft erzählte Geschichte von der "Unmenschlichkeit des Menschen" gegenüber seinesgleichen zu wiederholen. Nur wer dem Leben Augen und Ohren verschließt, kann leugnen, daß - bewußt oder unbewußt - bei der Behandlung von Ödipusdelikten stets der Vergeltungsgedanke im Vordergrund stand, ebenso wohl auch für manche postödipalen Delikte, wie politische Straftaten und gewisse Rauschgiftverbrechen4s • Selbst Stephen, dem großen Gelehrten des 19. Jahrhunderts, waren diese Zusammenhänge bekannt, als er die Funktion der Strafe in ihrem Verhältnis zur Rache mit der Ehe in ihrem Verhältnis zum sexuellen Trieb verglicheD. Und einem deutschen Autor desselben Jahrhunderts gar erschien der Tag, an dem das Bedürfnis nach Rache einer geläuterten, auf Nächstenliebe gegründeten Bestrafung weichen würde, als "Tag, an dem der Mensch aufhört, Mensch zu sein"5o. Es ist daher kaum zu glauben, daß noch im Jahre 1964 ein bedeutender amerikanischer Richter durch die Tatsache in "Erstaunen" versetzt werden konnte, daß "gewisse Strafrechtswissensc:haftler heute bereit sind, offen (die Vergeltungstheorie) zu vertreten"U; oder daß 1968 ein führendes deutsches Strafrechtssystem mit der Begründung, daß das Vergeltungsprinzip das Menschsein des Verbrechers verneine, auf der Ächtung dieses Prinzips bestehen willS!. Weniger erstaunlich, aber ebenso bezeichnend mutet es an, wenn das neue bedeutsame bulgarische Strafgesetzbuch in seinem Artikel 36 die offiziellen Strafzwecke auf General- und Spezialprävention beschränken zu können glaubt. Diese und andere Bemühungen, welche gegenwärtig die Rationalisierung und Humanisierung in der Handhabung postödipaler Delikte auf ödipale Verbrechen ausdehnen wollen, können aber nur Schaden anrichten, wenn sie die psychologische Realität vernachlässigen (§ 187). Wenn wir dies vermeiden 48 Norwegen hat nach dem 2. Weltkrieg die Todesstrafe für den speziellen Zweck eingeführt, um mit Kollaborateuren der Nazionalsozialisten abzurechnen (diesen Hinweis verdanke ich Professor Andenaes). Allgemeine Reaktion auf das politische Bombenwerfen der 70er Jahre in Amerika ist gleichermaßen bezeichnend. Die politischen Wirren der Zwischenkriegszeit führten zur Wiedereinführung der Todesstrafe in Österreich. "In Auswirkung dieser Maßnahme wurde als erster am l. Jänner 1934 in Graz ein Mann gehängt, der Feuer an einem Heuschuppen gelegt hatte, gewiß kein Fall, der die angebliche Unentbehrlichkeit der Todesstrafe deutlich machen konnte." Rittler II 304. U Stephen II 80. Siehe etwa auch M. AdleT, 437, 462. 50 MakaTewicz 272. Der Kaiser des Freisinns, Josef II, ließ, nach Abschaffung der Todesstrafe, seinen Kanzlisten Zahlheim auf die grausamste Weise hinrichten. 51

51

Bazelon 11. Baumann § 372.

262

4. Kap. (A): Strafrecht

§ 185

wollen, müssen wir uns des Ursprungs, des Werdens und der Funktion der Aggressions- und Vergeltungstriebe bewußt werden. (2) Wurzeln: bewußt und unbewußt

§ 185. Bewußte Theorie. Man hat unzählige "dialektische" und moralische Erklärungen für unser Vergeltungsbedürfnis zu finden geglaubt53 • Theologische Andacht5' und uralte Sophisterei spiegeln sich noch in Hegels Vorstellung von der Strafe als lediglich der äußeren Manifestation, der zweiten Hälfte des Verbrechens55 , in Kants kategorischem Imperativ58 oder in Pius XII. "Wiederherstellung des Gleichgewichts"57 wider. Utilitaristisches Denken offenbart sich in Bierlings Satz von der "essentiellen Rechtfertigung staatlicher Autorität"58; etwas versteckter in Lord Dennings "nachdrücklicher Verurteilung durch die Gesellschaft"5D, und wohl am naivsten in der wiederbelebten Idee von einem 5$ Siehe etwa Hall, Kapitel IX; Sen 19; Pincoffs 2-16; Hildebrand 71; Kelsen, Ideologiekritik 217 ff. Es hat den Anschein, daß willkürliche Vergeltung oder Rache eine "Errungenschaft" des Menschen darstellt. Oben § 179.

In der Tat blieben die frühesten Todes-"Strafen" (wie bei den Tieren) auf unmittelbare Reaktion beschränkt. Schmidt, in Todesstrafe 26. Für Plato erschien die Todesstrafe lediglich als Methode um jene auszumerzen, die sich für ein Leben in der Gesellschaft nicht eigneten. Plato, Politikos 293 e, 30Se. Siehe auch dens., Gorgias 469; dens., Nomoi 854, 862, 934; Ancel 40ff. Vgl. etwa auch Nagler 557 ff. 64 Daube, Kap. IIl. as Hegel, Grundlinien § 99, der "triviale, psychologische Ideen" zurückweist. An anderer Stelle (bei § 100), meint Hegel sogar, der Töter empfinde Genugtuung darüber durch Bestrafung als rationales Wesen behandelt zu werden. Siehe Noll 5; Marcic, Kritik 195; ders., Hegel 70, 85; Reyburn. Siehe auch Boethius (unten § 189 Anm. 22) IV Prosa 3, § 34. Über Dante, speziell in seiner Beziehung zu der Lehre von Augustinus siehe Hugo Friedrich, Komödie 112-125. Selbst die existentialistischen Lehrmeinungen haben dieses fragwürdige "rationale" gebilligt. Scheler, Formalismus, 375-384. " Kant, Lectures 55. Siehe auch dens., Rechtslehre, Allg. Anm. E bei § 49, in offenbarer Reaktion auf Feuerbachs beginnenden Rationalismus (unten § 192 Anm. 21; Radbruch, Feuerbach; Preiser, in Todesstrafe 35, 42-44). Siehe auch Flechtheim; Morris, Cohen, Kap. 4; oben § 32. Für frühe Kritik siehe Naucke 30-34 in Blühdom 27. G7 Botschaft anläßlich der 6. Tagung der Vereinigung deutscher Strafrechtslehrer, Z. Ges. Strafrechtswiss. 66 (1954) 1, 13. Bezüglich ähnlicher Stimmen aus dem evangelischen Lager siehe Bimmer 262 ff. Siehe aber auch Barth 499 ff., 507. Die Diskussion behandelt im wesentlichen die umstrittenen Römerbriefe (13,4) des Apostel Paulus. Siehe allgemein Rich; Althaus; auch Süsterhenn, in Todesstrafe 120 ("Wiederherstellung der Rechtspflege"). M Bierling 26, 36-52. 5g Siehe Hart, Punishment 2. Siehe auch Ewing 152. Diese Brandmarkung trage gemeiniglich dazu bei, um unser Gefühl für das Verwerfliche zu bewahren und zu stärken. Goodhart, Moral Law. Aber dies gemahnt uns allzu sehr an das nationalsozialistische Rationale vom sogenannten "gesunden VolkSEmpfinden". Die zugrundeliegende Theorie ist allerdings mit Durkheims viel früherem Vertrauen in "soziale Solidarität" eng verwandt. Oben § 50 Anm. 8.

§ 186

Ödipale Vergehen

268

"gerechten Lohn"80. Selbst ein so wichtiges Dokument wie der deutsche Strafgesetzentwurf von 1962 gibt sich mit ähnlichen Gemeinplätzen zufrieden". Lord Longford schließlich begnügt sich damit, das in Verruf geratene aristotelische Vergeltungsprinzip in der Metapher der Eintreibung einer "Bezahlung" zurückzubringenI!. Jene aber, welche solche Ausflüchte vermeiden, sehen keine andere Alternative, als das Vergeltungsdenken aus der Diskussion einfach zu verbannen". Es soll hier nicht versucht werden, noch einmal die Masse aller jener frömmelnden Formeln zu entwirren, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben. Eine analytische Untersuchung müßte die Oberfläche bewußter Selbsttäuschung durchdringen, um die unbewußten Inhalte dieser Formeln an ihren Wurzeln im Vergeltungstrieb freizulegen. Eine solche Untersuchung steht noch aus, aber einige der unbewußten Wirklichkeiten sind einstweilen offenbar geworden. § 186. Unbewußte WiTklichkeit. ",Strafträume' sind die Wunscherfüllung des auf den verworfenen Trieb reagierenden Schuldbewußtseins" des Tätersu . Da Verdrängung der Aggression Angstgefühle erzeugt, "bleibt unbewußtes Schuldgefühl ein heimliches Motiv für den Wunsch nach dem Sündenbock"8s. Somit bietet Vergeltung dem dankbaren Vollzieher der Bestrafung die Gelegenheit, "dieselbe Gewalttätigkeit (wie die des Angreifers) unter dem Vorwand eines Sühneaktes zu begehen". "Man braucht nicht mehr zu morden, nachdem [der Verbrecher] bereits gemordet hat 88 ." In diesem Sinn identüizierte sich der Chor im griechischen Tragödienspiel sowohl mit dem Täter, als auch mit 80 Lewis 224. Diese Idee wird manchmal dahin verstanden, daß Gesellschaft und Täter anteilige Verantwortung tragen. NoH 14-30, in Bezugnahme auf Scheler (oben Anm. 48) und Nicolat Hartmann. 81 Siehe etwa Hochheimer 36. Siehe unten § 188 Anm. 84. Vgl. den Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB E 1962 mit Begründung 96 ff., Bundestagsvorlage Bonn 1962). 8! Longford 62. Vgl. Aristoteles, Ethik Bk. V 112. Ähnliche Formeln können in solchen kaum glaublichen straffreudigen Verkündungen gefunden werden, wie der von Maurach, in Todesstrafe 9-19, der sich selbst dessen rühmt, "rein wissenschaftliche Argumentation überwunden zu haben". Ders.

19.

83 Siehe etwa Coing 243; Honderich. Vgl. Hentig. Siehe auch Weihofen, Kap. 6; Baumann, Schuldgedanke; Hacker 21-22, passim; ders., Aggression

237-248. U Freud, Jenseits des Lustprinzips, Ges. Schr. VI 220. Wir finden diesen Gedanken sogar schon bei Boethius 112. Siehe unten § 189 Anm. 22; allgemein siehe auch Reik, Myth. 85 Money-Kyrle 102, 110-111. Siehe auch Reiwald 149-153; unten § 186. über unseren Wunsch, .. die Rache der Geister" zu bannen, siehe B. Diamond, Ray Lectures, bei Anm. 27. ee Freud, Dostojewski und die Vatertötung, Ges. Sehr. XII 7, 22; Menninger Kap. 8.

264

4. Kap. (A): Strafrecht

§ 187

dem Opfers7• Gewiß, die Gesellschaft akzeptiert in diesem Vorgang die Rolle, die das grausame überich des Verbrechers in ihr Verhalten projiziert hat68 • Aber jener fast unheimliche Mechanismus wird oft durch Mitleidou und Dankbarkeit begl-eitet. Ja, dieser Mechanismus mag das Talionsprinzip erklären, das ungezügelt-e Rache eher beschränkte als legalisierte70 , aber auch die weniger erfreuliche Feierlichkeit, die seit altersher vergeltendes Bestrafen begleitete71 ; als Bußzeremonie zeigt so die Todesstrafe ihre V-erwandtschaft mit den Sakralopferungen von Tieren7!. Vielleicht ist es aber besonders wichtig zu erkennen, daß wir Vergeltung auch unbewußt dazu benutzen, um unseren eigenen ebenso unbewußten Versuchungen zu begegnen. "Der Sühnedrang ist also eine Schutzreaktion des Ichs gegen die eigenen Triebe im Dienste ihrer Verdrängung71 •ce (3) Der Preis: Der Gesellschaft Schuld und Dankbarkeit

§ 187. Befriedigung durch Aggression wird immer durch Schuldgefühle bezahlt. Dadurch, daß der Täter solche Gefühle durch Begehung der Tat verringert, mag er sie auf die strafende Gesellschaft übertragen. Denn tatsächlich spiegelt sich in unserem Strafprozeß vielfach unser Wunsch nach Verzeihen wider. Jeder, der irgendwann einmal in einer Voruntersuchung, einer Strafverhandlung oder auch nur in einem zivilgerichtlichen Verfahren mitgewirkt hat, kennt das Gefühl der Erleichterung, das er empfand, wenn ein Beschuldigter die ihm angelastete Straftat eingestand oder sogar wenn jemand nur in einem Zivilprozeß ein wichtiges Faktum zugab. Bewußt wird er diese Erleichterung dem Umstand zuschreiben, daß er dadurch in seinen eigenen Ansichten bestärkt wurde. Aber im Unterbewußtsein wurde er von der Last und Lust eigener Schuld befreit. Das Opfer war sein Verbündeter, sein Mitrichter geworden. In der Tat, so stark kann uns-ere Erleichterung und Dankbarkeit sein, daß wir für den Täter geradezu Zuneigung verspüren. Beginnend mit Freud, Totem und Tabu, Ges. Schr. X 187-188. Anton Ehrenzweig II 248 f. et Biblische Belege bei Stockhammer, ARSP 55 (1969) 109. 70 Menninger 520-522; Reiwald 261-265; Stone I 18-20; Reik, Myth 263-268. über ein verwandtes Problem siehe Daube, Tyranny. 71 Siehe etwa Nietzsehe II 846-848, 852-853. Dazu auch Heinze 190. 7Z Siehe Reiwald 208-213. Selbst Tiere wurden als Täter bestraft. Siehe dazu etwa Berkenhoff; Vargha; Ostermeyer; unten § 190 Anm. 5-7. Vgl. aber auch Mechler. 73 Alexander und Staub (deutsch) 119. Siehe oben §§ 178, 179. Dieser Me87

88

chanismus mochte der Begründung unserer "Willensfreiheit" Pate gestanden haben. Fritz Bauer 48-49. Siehe auch allgemein Weihojen, Urge 136-138.

§ 187

Ödipale Vergehen

265

der Erpressung eines Geständnisses - der regina probationum - durch die Häscher der Inquisition bis zum heutigen Tage ist die Gesellschaft bereit gewesen, Strafen "hilfsbereiter" Angeklagter zu mildern. Natürlich ist man um "rationale" Erklärungen keineswegs verlegen. Da ist das angebliche Vertrauen auf das Versprechen des Täters, sich in Zukunft zu bessern, die Beförderung einer schnelleren und billigeren Strafjustiz unter dem Schlagwort der "Strafökonomie" und der Wunsch nach Vermeidung einer "überdosis" an Strafmitteln. Aber wahrscheinlich müssen solche Rationalisierungen hinter dem Verlangen der Gesellschaft, durch Belohnung des Täters für eigene Schuld und Aggression zu sühnen, zurücktreten. Beschämende Kuhhändel, wie etwa der zwischen dem Mörder von Martin Luther King und seinem Ankläger, sind in den Vereinigten Staaten durchaus geläufig und entsprechen sogar dem bestehenden Recht7'. Ja, sie wurden in etwas frömmelnder Formulierung zum Teile selbst vom Obersten Bundesgericht gebilligt75. Aber das Versprechen einer milderen Behandlung als Entgelt für das Bekenntnis zu einer geringeren Straftat stellt lediglich ein verabscheuungswürdiges Beispiel einer allgemein gehandhabten übung dar. So verleiht Art. 38, Abs. 9 des russischen Strafgesetzbuches von 11:165 "der aufrichtigen Reue oder Selbststellung" ganz offiziell einen strafmildernden Effekt7 6 ; und auch die Gesetzbücher vieler anderer Länder römischer und kanonischer Rechtstradition sehen Strafmilderungen im Austausch für ein gerichtliches Schuldbekenntnis vor. Ja, Verteidiger des amerikanischen Strafverfahrens pochen stolz auf die Tatsache, daß 9/10 aller Verurteilungen auf derartigen Bekenntnissen beruhen77 , die von manchen gar ob ihrer läuternden Funktion gepriesen werden. War dies das "Irrationale" der Weigerung alt-japanischen Feudalrechts, eine Hinrichtung ohne vorangegangenes Geständnis zu vollziehen78 ? Der Preis, den die Gesellschaft für Vergeltung und Rache zu zahlen hat, wiegt schwer. Aber das Heil in deren gänzlichen Abschaffung zu suchen, hieße nichts anderes, als ein unwiderstehliches Bedürfnis kurzweg zu verneinen (§ 199). 74 KarZen 155; AltschuZer; Griffiths 396-399. Vgl. Comment, The Unconstitutionality of Plea Bargaining, 83 Harvard L. Rev. 1387 (1970); Tigar. Schließlich hat das amerikanische Höchstgericht das "plea bargain" sogar für bindend und durchsetzbar erklärt. Santobello v. New York, 92 S. Ct. 495

(Dez. 1971).

75 La Fave 548. Bezüglich der Rechtsanwaltschaft und für Analogien zum kontinentalen Recht ders. 545, 513. Bezüglich des Commenwealth siehe Reg. v. Turner [1970] 2 W.L.R. 1093. 78 Berman 162. Für einen repräsentativen Überblick über das russische Strafrechtsschrifttum des letzten halben Jahrhunderts siehe Zile. Wir erinnern uns an Dante. Siehe Hugo Friedrich, Komödie, Kap. IV. 77 D. Newman 3. 78 Grassberger 157-190; Nakamura 5; Lohsing; Reik, Geständniszwang.

266

4. Kap. (A): Strafrecht

1188

(4) Das Bedürfnis: Sicherheitsventil § 188. Sogar im ödipalen Verbrechensbereich werden viele Strafrechtsreformen mit Recht als Ausdruck einer fortschreitenden Humanisierung unseres Kriminalrechtes gepriesen78 • So wurde die Todesstrafe, die früher am augenfälligsten dazu diente, aggressiven Instinkten der Gesellschaft freien Lauf zu lassen, entweder weitgehend abgeschafft oder zumindest so "schmerzlos" wie möglich gestaltet. Einige Strafanstalten, früher Stätten von offenem Sadismus, wurden in "Anhaltezentren" verwandelt, die nach den Intentionen ihrer Schöpfer angeblich der Resozialisierung ihrer "Insassen" zu dienen haben. Jüngst wurde sogar die Strafverhängung selbst, wenn auch mit wenig Erfolg, als erzieherische Maßnahme verkleidet. Freilich, im Bereich der postödipalen Delikte könnten manche solcher Reformen tatsächlich mehr bedeuten als zeitweilige Moden und vielleicht unsere gegenwärtige Strafrechtsordnung zumindest teilweise in ein System rationaler Abschreckung und Rehabilitation zu verwandeln trachten (§ 182). Gefährlich dagegen werden solche Reformen in den Bereichen, in denen die Vergeltung vorherrscht, wie bei ödipalen und gewissen postödipalen Delikten. Hier könnte es leicht geschehen, daß scheinbar verdrängte Aggression verdoppelt wiederkehrt80 • Natürlich mögen auch hier viele unserer humanisierenden Strafrechtsreformen Generationen überdauern, obwohl sich in ihnen nur die Schuldreaktion einer mit Jahrhunderten offener Grausamkeit überfütterten Gesellschaft widerspiege}t81. Aber wo irrationale Kräfte lauern, bedeuten sie eine beständige Gefahr und bei genauerer Prüfung wird so mancher scheinbar von Vernunft und Nächstenliebe geleitete Schritt sich als nichts anderes erweisen als die Verschiebung eines zumindest unbewußten gesellschaftlichen Aggressionstriebes. So gesehen könnte zum Beispiel der vielgepriesene "unbestimmte" Strafausspruch, der Belohnung für "Wohlverhalten" zu versprechen vorgibt, durch die Ungewißheit des endgültigen Schicksals in ein modernes Folterinstrument sowohl ödipaler als auch postödipaler Bestrafung verwandelt werden. Dies hat sich selbst für die weltberühmte California Adult Authority 82 ergeben. Aber auch die Rückkehr des russischen Strafrechtes zu vorrevolutionären Denkmodellen, besonders im Menninger Kap. 9; Jescheck 499; kritisch Schmidhiiuser, Strafrecht 43 f. Siehe etwa Reiwald 206, 246-261; Flugel 169; Ostermeyer. Versuche, die Vergeltung "zu rechtfertigen", sind hier nicht relevant. Siehe Shuman, 71

80

ResponsibUity 54-58. 81 Siehe Batt 1027-1029. 81 Siehe Pfersich; auch Silving. Die Erfahrungen, die man mit "progressiven" Jugendgerichten gemacht hat, bringen ähnliche Beispiele. Siehe etwa Polier, passim, aber auch etwa Rudorf. - Eine Berechtigung findet die unbestimmte Verurteilung Jugendlicher nur dann, wenn der Vollzug ein echtes aliud gegenüber der Freiheitsstrafe darstellt, wie sie an Erwachsenen vollzogen wird, was freilich selten der Fall ist. Siehe dazu SeIge.

§ 189

Willensfreiheit

267

Bereich der Sexualverbrechen, sollte uns zu denken geben83 • Wir sollten daher nicht zu sehr darauf vertrauen, daß solche Reformen wie etwa die des neuen deutschen Strafgesetzbuches8 ' den nächsten Pendelschwung der Entwicklung überleben werden. Weit davon entfernt, Abschaffung der Bestrafung ödipaler Verbrechen zu befürworten, fordert der Beweis der irrationalen Herkunft und Funktion dieser Bestrafung nur, daß wir deren irrationale Elemente als integrierende Bestandteile unseres Prozesses anerkennen. Denn diese Elemente sind natürlich ebenso wirklich wie rationale Erwägungen. Alles, was wir uns bemühen sollten zu tun, alles was wir überhaupt tun können, ist, wie ich glaube, die Entlarvung des Wirkens dieser irrationalen Elemente in unseren pseudovernünftigen Behelfen und die Schwächung dieser Elemente in vollem Bewußtsein ihrer Allgegenwart im ödipalen Verbrechensbereich85 • Nur auf diesem Wege können wir hoffen, Antworten auf die Frage zu finden, wen wir denn überhaupt bestrafen sollen (§§ 198-203), und insbesondere wie man auf dem Gebiet der unzähligen postödipalen Übertretungen zu einer wesentlich vernunftorientierten Strafverfolgung gelangen könnte. Nur insoweit können wir auch hoffen, die Berufung auf Zurechnungsunfähigkeit, diese "bewußte Anomalie" des Strafrechtssystems (§§ 194-197), auf rationaler Grundlage aufzubauen; eine Anomalie, welche die Frage "warum wir strafen" im Bereiche des Ödipus-Deliktes als Frage nach dem "wen wir strafen" erscheinen läßt. Diese Frage aber kann nur auf der Grundlage einer bewußten Hypothese menschlicher Willensfreiheit (§ 189) und einer unbewußten Realität unterstellter Schuld beantwortet werden (§§ 190-193). 2. Wen wir strafen

a) Willensfreiheit: Bewußte Anomalie § 189. Solange wir uns selbst und andere bestrafen, müssen wir die Möglichkeit von Schuld und damit die Freiheit unseres Willens voraussetzen1 • Diese Möglichkeit und Freiheit zu begreifen, fällt uns aber kaum leichter als das Verständnis des Gegenteils. Selbst die größten

Siehe etwa Jescheck, passim; Foldesi; oben Anm. 75; unten § 199 Anm.15. Siehe etwa Lee und Robertson; unten § 195 Anm. 48. Vgl. die Neufassung der Sexualdelikte in Deutschland durch das Strafrechtsreformgesetz vom 25. 6. 1969, BGBI. Nr. I S. 645. Kritisch etwa Bacia. 81 Siehe Schoenfeld, Defense; Silving, Elements. 1 Die deutsche Lehre rechtfertigt die Wiedergeburt dieses Konzeptes in gegenwärtiger "Strafrechtsreform" auf der Grundlage des "Gerechtigkeitsgefühls". Siehe etwa Zippelius 92, 106. Für einen der wenigen "Fluchtversuche" siehe Chorafas' Theorie einer schuldlosen "Zurechnung". Androu83

84

lakis.

268

4. Kap. (A): Strafrecht

§ 189

Geister haben nicht mehr tun können als leere Worte in ein Vakuum zu füllen, sei es daß sie als Deterministen die unausweichliche Kausalität aller menschlichen Handlungen oder als Indeterministen die Freiheit des Willens zu beweisen trachteten. Zumindest seit Demokrit2 sind menschliche Handlungen anderen natürlichen Ereignissen darin gleichgesetzt worden, daß auch sie den unerbittlichen Gesetzen der Kausalität unterworfen sind. Zwei Jahrtausende später war es dann eine neue Naturwissenschaft, die Descartes den Menschen durch die Allgegenwart natürlicher Gesetze "determiniert" sehen' und Goethe den offenbar der Kausalität unterworfenen Tieren und Pflanzen vergleichen ließ', die Comte jede Unterscheidung zwischen Ethik und Physik zu negieren zwangS und die Durkheim veranlaßte, alle sozialen Phänomene dem Kausalitätsgesetz zu unterstellen'. Determinismus.

Das große Dilemma ist uns aber allgegenwärtig geblieben. Hilflos flüchtete Hobbes sich in die Annahme einer "wahrhaften Freiheit der Notwendigkeit"7, während für Spinoza Willensfreiheit ein Aberglaube war, der Gottes unergründliches Wesen in Abrede zu stellen wagte8 • Kant verstand seine "theoretische Vernunft" im Rahmen des Kausalgesetzes8 • Pavlov lieferte mit seiner "Reaktionstheorie" dem ambivalenten sozialistischen Determinismus unwissentlich seine Grundlage 10 • Und ein zeitgenössischer Biologe findet seine Weltordnung in dem "selbstgemünzten Aphorismus, daß es nichts gibt, was nicht vererbt werde" 11. So werden wir denn kaum über Freuds resignierte Schlußfolgerung hinauskommen: "Solange wir die Entwicklung von ihrem Endergebnis aus nach rückwärts verfolgen, stellt sich uns ein lückenloser Zusammenhang her, und wir halten unsere Einsicht für vollkommen über Demokrit (470-3801) siehe etwa Russell246; VZastos. über Descartes siehe oben § 136 Anm. 61; Russelt 568. über Descartes' ambivalente Ansicht vgl. M. Adler 474-475. , Goethe, Dichtung IV 216-217. 5 über Comte (1798-1857) siehe Cassirer 246; M. Adler 385, 390 (.. kollektive Freiheit"). 8 Durkhetm (1858-1917) 141. Siehe oben § 176 Anm. 59; M. Adler 382; Kurt H. Wolff, passim. 7 Hobbes (oben § 31 Anm. 70) V, Nr. X. Siehe etwa auch M. Adler 113. B Spinoza II 48. über Spinoza (1632-1677) siehe etwa Russell 571-572; Hampshire 150; M. Adler 258-259; N. O. Brown, Life 47; oben § 31 Anm. 70. 8 über die Zweideutigkeit in Kant's Grundposition (oben § 31), siehe etwa M. Adler 480-483; Holzhauer 36-47. Siehe auch unten Anm. 27. 10 über Pavlov (1849-1936) siehe etwa Rubinstein 190-192, 628-630; Rodingen 224-225. über Pavlovs "behavioristische" Nachfolger vgl. etwa H. K. WeHs. t

3

11

Trincas 10.

§ 189

Willensfreiheit

269

befriedigend, vielleicht für erschöpfend"12, während wir vor dem Ereignis anders denken13. Der Determinismus war immer gezwungen, die Möglichkeit menschlicher Schuld zu bestreiten oder wenigstens zu bezweifeln14. Dieselben Tendenzen finden sich in der Geschichte der Theologie. Sieht man von der Verwerfung des manichäischen Determinismus15 ab, so ergibt sich die Theorie einer Schuldnegation bereits in Augustinus' Lehre von der Erbsünde und diese Negation kulminiert in Calvins und auch in Luthers Glauben an die göttliche Vorherbestimmbarkeit menschlichen Wesens, HandeIns und Schicksals16. Der Versuch der Phänomenologen, "Sein" mit "Handeln", Willkürschuld mit "Lebensführungs- und Statusschuld" zu versöhnen, bedeutet so nichts anderes als die Einführung eines neuen Vokabulariums für alte Begriffe17 • Auch Bonhoeffers rührender Glaube an das Paradoxon göttlichen Befehls zur Freiheit vermochte nur dieselbe Gedankennot auszudrücken wie Sartres Kategorien "vom gezwungenen freien Willen"18. All dies ist wohl kaum mehr als eine Rückkehr zu stoischer Resignation1t.

Indeterminismus - Freiheit. Kein Wunder, daß dieselbe Ambivalenz sich in den Gedanken jener zeigen muß, die an dem Bilde der Freiheit hängen. Plato hätte trotz Zuerkennung mangelnden Willens selbst von Wahnsinnigen, Kindern und Senilen zumindest vollen Schadenersatz für Verbrechen verlangt. Ja, im Falle einer Tötung hätte er sie sogar zu Exil und Gefängnis verurteilt20 . Epikur verwarf wohl "den Determinismus der Physiker", mußte sich aber damit begnügen, daß die Freiheit des Menschen in seiner Wahl bestände, die Gnade der Götter durch ihnen bezeugte Ehren zu erlangen21 . 11 Freud, über die Psychogenesis eines Falles von weiblicher Homosexualität, Ges. Schr. V 312, 337. Siehe Walker, Offenders. 13 Siehe unten Anm. 35. über die französische Lehre, siehe etwa Levasseur, Droit Compare nos. 8-14. Für zahlreiche Anthologien über dieses NichtProblem, siehe etwa Gerald Dworkin (Hrsg.) 215. Vgl. auch Louwage 30. U Siehe etwa Nietzsehe II 161-163; Ferri 288-307. über Fichte, Stammler (§ 39), Nicolai Hartmann (§ 41), und allgemein siehe etwa Bodenheimer § 15; Cairns 390-463; Friedrich 5; Holzhauer 10, 74-75, 145; Amand, passim; Julian, passim. Für einen Kompromißversuch siehe Radzinowicz 110. 15 Augustinus, Buch V, Kapitel 9, 10. Siehe RusseH 365; M. Adler 414-415. 18 Erasmus-Luther, 2. Teil. Vgl. auch M. Luther, Vom unfreien Willen; dagegen Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen. 17 Siehe etwa Silber, passim; Fritz Baur 60-62. 18 Bonhoeffer 189. über Sartre siehe Jolivet. Für eine andere Interpretation oder eher Auswahl, siehe M. Adler 489-490. U Siehe Russell 266-268. !O Plato, Gesetze, Buch IX, 866-867. Für Aristoteles' Ansichten siehe dessen Nikomachische Ethik 1107 a, 111 a-6; allgemein Hamburger; Loenning. tI Epikur (341-270), Briefe an Menoceus § 134. Siehe Geer 58; und allgemein De Witt; oben § 31 Anm. 68.

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4. Kap. (A): Strafrecht

§ 189

Die Theologie war nie imstande, das Rätsel zu lösen, wie denn der Mensch frei und für seine Handlungen verantwortlich sein könne, wenn ein allwissender Gott diese Handlungen vorhersieht und ein allmächtiger Gott sie ändern kann. Der heilige Thomas suchte die Antwort in einer anderen Dimension der Zeit22 , Duns Scotus in Gottes Allgüte2S , und ein Rechtsphilosoph des 20. Jahrhunderts in Gottes Unfähigkeit, "den Menschen zu einem bloßen Werkzeug zu machen, nachdem er ihm vorher seine Freiheit gegeben hatte"!'. Großen Philosophen ist es nicht besser ergangen. Leibniz fand einen "zureichenden Grund", der zwar "inkliniert" aber nicht "nezessitiert"25. Hegel setzte seinen Zentralbegriff des Wollens mit freiem Willen gleich, obwohl seine Dialektik die Dichotomie zwischen Freiheit und Notwendigkeit wohl ausschließt21 • Kant, der seine "theoretische Vernunft" dem Kausalgesetz reservierte, gab seiner "praktischen Vernunft" Wahlfreiheit und legte damit den Grundstein für Kelsens Unterscheidung zwischen Verursachung und Zurechnung27 • Schopenhauer sah den Willen als "das Ding an sich, den Gehalt aller Erscheinung"28. Bergson holte sich vom tierischen Instinkt seine Überzeugung von einem intuitiven "elan vital"2' und manche andere haben sich mit ähnlichen I! Thomas von Aquin, Summa Theologica pt. I, Q. XXIII, Art. 1, Obj. 1; Art. 2, Obj. 41. Über Erasmus siehe Anm. 16. Die Aussagen des Aquinaten

sind mit Boethius' bewegenden und doch ebenso hilflosen Schlüssen eng verwandt. Boethius, Buch V 100-118, 158-162 (deutsche Ausgabe 19, 145, 162); oben § 58 Anm. 62; § 186 Anm. 64. Aber Boethius fand Trost in dem Gedanken, daß "der menschlichen Denkfähigkeit die Einheit von Gottes Vorherwissen verschlossen bleibt". Ders. 151; siehe auch dens. 146-150; im Allgemeinen M. Adler, Kap. 22. !3 über Duns Scotus (1265-1308) siehe etwa Friedmann 112-113; Auer

286,288. u Messner 122. Lernen wir wirklich mehr vom Konzept eines "Pseudo-

problems eines Vorauswissens, dessen Qualität durch sich selbst und unsere Einstellung geändert werden kann"? C. I. Lewis 206-209. Siehe allgemein auch H. D. Lewis; ders., Guilt. 15 Über Leibniz (1646-1716) siehe etwa Russell 584, 589; Holzhauer 23-25; M. Adler 549. Schiedermair. Über Pufendorfs (§ 31 Anm. 70) "Willensfreiheit" siehe Krieger 83. II Über Hegel (1770-1831) siehe etwa Holzhauer, Kap. V; Hellmuth Mayer 74-79; Riedel, Hegel § 2; besonders Larenz, Zurechnungslehre. Vielleicht können die gleichen Ergebnisse auch aus M. Adlers Dialektik abgeleitet werden, M. Adler, Buch I. Über Hegels Auseinandersetzung mit Feuerbach (unten § 192 Anm. 21) und über des Letzteren Schwanken, siehe Kipper 182-189. - Vgl. auch Marcic, Hegel; Piontowski 87. Z7 Über Kant siehe etwa Hellmuth Mayer 57; Zippelius 162; oben Anm. 9. Siehe auch Kelsen § 18; oben Anm. 1. Zu den "Vernunft"-theorien vgl. etwa Baumann 79. Vgl. auch Engisch, Willensfreiheit. 28 Schopenhauer II, 4 § 55. Siehe auch dens. VI 242-253; Dokumente 325 ("Verantwortungsgefühl"). U Siehe Russell 793; White 67; Sayag 19-20; oben § 121 Anm. 59, 85; § 138 Anm. 11. Siehe auch M. Adler 511-512; Coing, Willensfreiheit 5-8 ("Ich-Bewußtsein", die Lehren von Bergson und Simmel artikulierend); Ofstad, passim.

§ 189

Willensfreiheit

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gequälten Formeln begnügt3o • Ihren vorläufigen Tiefpunkt mögen diese Formeln in Frankls nichtssagendem "meaning"31 gefunden haben; vergleichbar lediglich noch Simons thomistischer Segnung32, die kein Geringerer als Mortimer Adler erstaunlicherweise als einziges wichtiges Werk gelobt hat, das in diesem Jahrhundert über Willensfreiheit geschrieben wurde'3. Kein Wunder also, daß so mancher Philosoph, der den Determinismus "durch Argumente außerhalb der Ethik weder bewiesen noch widerlegt sieht, sich das Recht zuspricht, ihn abzulehnen, wenn wir zur Ansicht gelangen, daß er wirklich den fundamentalen Grundsätzen der Ethik widerstreitet", die ja zumindest einen gewissen Grad menschlicher Willensfreiheit voraussetzt·'. Die Psychoanalyse hat niemals auch nur den Versuch unternommen, dieser Sackgasse zu entkommen. Alles was Freud zu unserem Problem zu sagen hatte war, daß, wenn wir vorwärts statt rückwärts schauen36 , "so kommt uns der Eindruck einer notwendigen und auf keine andere Weise zu bestimmenden Verkettung ganz abhanden. Wir merken sofort, es hätte sich auch etwas anderes begeben können, und dies andere Ergebnis hätten wir ebensogut verstanden und aufklären könnens8 ." Sicherlich ist es darum falsch, die Psychoanalyse eines - die Verneinung krimineller Schuld fördernden - Determinismus zu beschuldigen, wenn auch etwa Mitscherlich in einer Radiosendung (1971) dessen Gegensatz als "eine Erfindung unserer infantilen Selbstidealisierung" verwerfen mußte 37 • Diese Beschuldigung ist schon durch Freuds Lehre von der "überdetermination" widerlegt, die verschiedene Ursachen für die gleiche geistige Begebenheit einräumt und daher den Gebrauch der Strafe als eines dieser Bestimmungsfaktoren ohne weiteres zulassen kannl8 • So haben denn auch manche führende Psychoanalytiker dem Ego ausdrücklich "Wahlmöglichkeiten" zugestanden30 • Und Max Weber (§ 52), 30 Siehe etwa Branden, passim; Nicolai Hartmann, Diesseits; ders., Ethik, Kap. 75-80; Vivas 341; Kraft, Problem; Hartshorne; Sitverman; Hawkins; Zippelius, Kap. 27; Welzel, Gedanken 91; Danner, 97; M. Adler 529-531.

31

Frankl 21.

Yves Simon, S. IX. 33 M. Adler 318-320, 345-346, 365-369, 428-429, 457-458, passim. 14 Ewing 133; ders., Kap. 8; Roubiczek. 35 Oben Anm. 13. Ie Freud oben Anm. 12. 37 In diesem Sinn La Piere 157-160, 165, 170. Siehe auch Rieff 116; Homheimer 49; Leites 13-14; Gerald Dworkin 10. Aber vgl. auch etwa Gimbemat 388-389; und Vergote 47, der den "freudianischen" Determinismus richtigerweise auf das Rückwärtsschauen oder besser Nachvollziehen beschränkt. 88 Alexander und Staub 81. Siehe speziell Freud XI 38; Waelder, Overdetermination; Sutherland, Kap. XVIII; Geiger 22. über Psychoanalyse und Strafrecht vgl. allgemein Louwage 60-80. 88 Siehe etwa Brierly 288; aber auch Zilboorg, Misconceptions 549 ("grundlegender menschlicher, megalomanischer Aberglaube"); und Hospers, der Außenseiter. 8!

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4. Kap. (A): Strafrecht

§ 189

der Freud so nahe kam, schloß, daß wir das höchste Maß an einem empirischen "Freiheitsgefühl" mit jenen Handlungen verknüpfen, die wir natürlich auszuführen meinen4o . Zeitgenössischer "phänomenologischer Indeterminismus" hat dann dieser Beobachtung gesunden Menschenverstandes die Würde einer neuen Schulrichtung verliehenCl. Resignation. Die Logik scheint zu lehren, daß wir uns zwischen den Alternativen von Freiheit und Zwang entscheiden müssen. Dennoch müssen wir uns damit zufrieden geben, daß es "sowohl unmöglich ist, ein in sich geschlossenes Weltbild auf der Grundlage eines vollkommenen Determinismus wie auf der eines vollkommenen Indeterminismus zu erstellen; beide Annahmen führen zu unhaltbaren oder zumindest undenkbaren Konsequenzen"4!. Wieder einmal müssen wir uns vor derselben Hilflosigkeit beugen, wie sie dem menschlichen Denken begegnet, wenn es sich an Fragen heranwagt wie jene nach Endlichkeit oder Unendlichkeit von Raum und Zeit oder nach den unerforschlichen Rätseln der Gerechtigkeit 43 • Vielleicht hat Heidegger für unser Zeitalter die Folgerung am schönsten gezogen: "überlegenes Wissen, und jedes Wissen ist überlegenheit, wird nur dem geschenkt, der den beflügelnden Sturm auf dem Wege des Seins erfahren hat, dem der Schrecken des zweiten Weges zum Abgrund des Nichts nicht fremd geblieben ist, der jedoch den dritten Weg, den des Scheins, als ständige Not übernommen

hat"."

Wenige werden zu dieser Resignation bereit sein. Noch werden viele Camus' Vertrauen in das Absurde teilen, das jenem Appetit nach dem unerreichbar Absoluten Beifall spendet, der die wichtigste Triebkraft des menschlichen Traumes ist45 ; oder dem Preis des "Humanisten" für den "gesunden Menschen" zustimmen, "der sowohl in einer Welt der Freiheit als auch in einer Welt leben kann, in der diese Freiheit fehlt"48. 40 Siehe S. Hughes 305. Bezüglich Schopenhauer siehe auch oben Anm. 28. So wie Schopenhauer näherte sich auch Croce dem Standpunkt Freuds. Siehe etwa Croce 236. Und hier, wie so oft, hatte Hume dies alles schon gewußt. Dieser, Understanding, S. 8. 41 Siehe etwa Holzhauer, Kap. X, XI. Siehe auch Erik Wolf 212. 42 Waelder, Determinism 23. Siehe auch Jung, Soul 192; Carr, passim. 4a Siehe etwa W. D. Ross 251; T. Lessing 35, 206, 228; Von Mises, Kap. 5; Auer 300 ("Rätsel für den menschlichen Geist"); ganz besonders aber Goethe ("ein Problem wofür ich gewöhnlich wenig Schlaf opfere", Badelt 130); oben § 2. Für ein anderes Beispiel bezüglich der fortgesetzten Diskussion, siehe die Kontroverse zwischen Bockelmann und Schorcher, Z. f. d. Ges. Strafrechtswiss. 75 (1963) 372; 77 (1965) 240; 77 (1965) 253. Siehe etwa auch Thornton; Hymann 35, 51, 62. 44 Heidegger, Metaphysik 86. Siehe Troller 81 Anm. 102. 45 Camus 17. Bezüglich des Vertrauens anderer Existentialisten in das "Selbst-Sein" des Menschen siehe Keller 209-215. 48 Maslow 193, 202. "Freiheit ist die transzendentale Beziehung ohne das Wissen wohin wir gehen." Jaspers II 228; ders. auch I 239. Siehe etwa auch Ehrhardt 327. Für Buber (Du 65) sind "Schicksal und Freiheit ... einander angelobt". Siehe auch dens. 51-61.

§ 189

Willensfreiheit

278

Oder soll uns das Vertrauen des Biologen auf eine "kulturelle Evolution"47 genügen oder die Versicherung des Atomphysikers, daß selbst Naturgeschehnisse "frei" sein können48 ? Es bleibt wohl dabei, daß, wie Goethe gesagt hat, das Wort Freiheit so schön klingt, "daß man es nicht entbehren könnte, und wenn es einen Irrtum bezeichnete"4u. "Als ob". Haben uns aber einmal sowohl des Lustprinzips Suche nach Wunscherfüllung als auch des Realitätsprinzips Verwerfung des Wunsches im Stiche gelassen, so "müssen wir einen dritten magischen Grundsatz als wahr voraussetzen, der die Außenwelt so behandelt, als ob sie durch unsere Wünsche, Triebe oder Gefühle beherrscht wäre. (Dies) ist der einzige Weg, auf dem wir etwas in der Wirklichkeit erreichen50 ." Wir müssen uns endlich mit der Tatsache zufrieden geben, daß wir so entscheiden und auch so handeln, als ob wir um die Freiheit wüßten51 • Nur in diesem Sinn bedeutet "die erste Handlung freien Willens, an den freien Willen zu glauben", und ist es wahr, daß "ein Wesen, das sich für frei zu halten imstande ist, auch frei ist"52. Oder wie Martin Buber es wollte: "Das einzige, was dem Menschen zum Verhängnis werden kann, ist der Glaube an das Verhängnis 53 ." Im Strafrecht werden wir fortfahren wie einst Zeno von Kition zu handeln. Dem Angeklagten, der seine Unschuld beteuert, weil sein Diebstahl vorherbestimmt gewesen sei, werden wir antworten, das gleiche gelte für seine Strafe64 • Ambivalenz. Diese bewußte Arbeitshypothese von der Willensfreiheit des Menschen kann aber das ambivalente Verhalten der Gesellschaft und der Psychiater - bei der Behandlung von Verbrechen nicht beseitigen55 • Woher kommt es, daß wir dem Psychiater in dem einen Fall gestatten, uns zu erklären, daß die Tat des Angeklagten durch Geisteskrankheit unabwendbar bedingt war (§ 195), während wir im anderen Falle auf sein Gutachten verzichten und auf des Angeklagten Willensn Dobzhansky 132-135. Vgl. Forssmann und Hambert. Siehe etwa Andenaes, Determinism 407; Northrop, Issues 50-51; Reichenbach 183; Diamond, Method 197; Jeans 216; Julian 378-380; Heisenberg 326-327. Siehe aber Brecht 520. 4g Goethe, Bd. 22 (Dichtung und Wahrheit, 3. Teil) 52. 50 R6heim, Magie 82-83. 51 Packer 132. Siehe auch FulZer, Fietions 102; R. Knight; Al! Ross, Punishment, S. 3; Maiho!er, Menschenbild 5; Nowakowski, Strafrecht 66. Vgl. auch Jaspers, Psychologie 327; und allgemein Vaihingers Werk. 52 William James 47; Saydah 61, zitiert aus C. 1. Lewis. Siehe auch Geiger 22; Gimbernat 382-405. über die Dialektik in diesem Bereich siehe M. Adler, 2. Teil. 53 Buber, Du 57. 54 über Zeno (336-264) siehe etwa Diogenes Laertius, in T. V. Smith I Kap. Irr; Pohlenz; Friedmann, Recht 185. 55 Siehe etwa HalZeck 209; über die Psychiater Haddenbrock, DJZ 1969, 121. 48

18 EbreDn'eig

4. Kap.

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(A):

Strafrecht

§ 190

freiheit bestehen? Was im besonderen Fall zu zählen scheint, ist allein die Frage, ob das Vergeltungsbedürfnis der Gesellschaft überwiegt oder die "Exkulpationsphilosophie"68. Die Antwort auf diese Frage wiederum bestimmt die Entscheidung, ob wir der Vermutung folgen, aufgrund deren wir dem Täter, ungeachtet unserer bewußten Freiheitshypothese, unbewußt eine Schuldgesinnung, eine mens rea, unterstellen; oder ob wir ihm bewußt die Möglichkeit zuzugestehen, daß er unfähig war, sein Vergehen zu vermeiden. Diese Entscheidung aber ist weitgehend vom Deliktstypus abhängig. b) VeTmutung von mens Tea: Unbewußte WiTkZichkeit

§ 190. VeTmutete Absicht. Strafe nur dem Schuldigen! Nur der schuldige Schadensstifter kann zum Schadensersatz herangezogen werden! Diese Grundsätze modernen Straf- und Schadensersatzrechts werden als sittlich gepriesenl und deshalb über das Prinzip einer allgemein als archaisch - primitiv angesehenen "strengen" oder "absoluten" Erfolgshaftung gestellt2 • Meiner Meinung nach ist eine derartige Auffassung der Rechtsgeschichte in heiden Bereichen irreführend. Ein Kind, welches nach dem Tisch schlägt, an dem es sich selbst verletzt hat, zeigt offenbar nicht nur seinen Zorn gegenüber dem Tisch, sondern glaubt, daß der Tisch für seine Blessur Schuld trägt und Strafe verdient. Ja, auch ein Erwachsener mag "die Türe treten, die seinen Finger eingeklemmt hat"'. Auf die gleiche Weise hat das alte Recht den "unschuldigen" Angreifer und Schädiger bestraft oder mit Geldbußen belegt, und zwar nicht etwa deshalb, weil man auch unschuldiges Handeln sühnen wollte, sondern deswegen, weil man dem Täter seine Unschuld einfach nicht glaubte'. Die Bestrafung von unbelebten Sachen (so wie etwa die Auspeitschung des Meeres durch den Perserkönig Darius) oder die Bestrafung von Tieren im Mittelalter, mag ähnliche Wurzeln haben. Das zweite Buch Moses forderte Steinigung des schuldigen Ochsen6 , das spätere Recht Herausgabe des schädigenden Gegenstandes', und manche Gesetze von heute Beschlagnarune des "schuldigen" Kraftwagens 7 • 58

KTutch 38-39.

Siehe allgemein Perkins, Kap. 7; A. Kaufmann; Schuldprinzip; ders., Aspekte, 56-58; Bemman 12; Petrocelli; Baumann, Schuldgedanke, 59-73. Bezüglich des Schadenersatzrechtes siehe unten § 205. 2 Es ist aber gerade dieser trügerische Irrglaube "an den steten Fortschritt, der uns in die Lage versetzt auf jene kindlichen Kreaturen der Urzeit herabzublicken". Daube 172. a Holmes 3, 4. 4 Siehe etwa R6heim 136; unten § 206. Für faszinierende Beispiele aus alten Zeiten in Exodus über den Talmud bis Plato und Philo, siehe Daube 157-163. Vgl. auch Gluckman (1972) 206-13 über die Nuer in Afrika. 5 Exodus XXI. 28. Unten §§ 205, 206. Vgl. auch Daube 168 über athenische Maßnahmen gegen die tödliche Waffe. S Siehe allgemein Holmes 7-11. I

§ 190

Mens rea

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Wendell Holmes, Höchstrichter und Rechtsphilosoph, war geneigt, derartige Schuldvermutungen beiseitezuschieben und bestand darauf, daß sogar der Hund "unterscheiden könne, ob man zufällig über ihn gestolpert oder ihn (mit Absicht) getreten habe"8. Dies mag nun für den Hund wahr sein oder nicht. Aber es scheint wahrscheinlich, daß der Mensch, längst mit "zivilisierter" Irrationalität belastet, sein schuldiges Gewissen unbewußt in den Angreifer projiziert, und daß es die unbewußte Unterdrückung unbewußter Schuld ist, die uns so den Glauben an die Unschuld unserer Mitmenschen genommen hat9 • Gewiß, der Inzest des Ödipus schien frei von Schuld zu sein. Und dennoch betrachtete das Publikum der sophokleischen Tragödie seine Blendung als gerecht. Es wäre zu einfach, dieses Urteil einer frühen und bewußten Annahme der Vorbestimmtheit von Verbrechen und Strafe zuzuschreiben. Wir haben es hier mit einer unbewußten Schuldvermutung zu tun, die des Angeklagten Bestrafung rechtfertigt. Können doch, wie Freud wußte, ödipale Schuldgefühle auch dort auftreten, wo "die übertretung unwissentlich geschah"10. Zweifelsohne haben allmählich - dank einem wachsenden Verständnis geistiger Prozesse - Schuldpräsumptionen wenigstens teilweise ihre bewußte Wirkung verloren. Angefangen mit der griechischen und hebräischen Philosophie, ließ man den Beweis des Zufalls als Strafmilderungs- oder selbst als Strafausschließungsgrund geltenl l • Und die mens rea ist seither die bewußte Grundlage strafrechtlicher Verantwortung geworden. Aber die überlebenden, unbewußten und irrationalen Elemente dieser Regel haben sie zum Tummelplatz semantischer Verwirrung gemacht. Seit Blackstones "vicious will"1! wurde die mens rea mit 7 Ehrenzweig, Full Aid Insurance 14. Für europäische Beispiele siehe Steinlin und Schreiber, Schweiz. Juristenzeitung 49 (1953) 254, 307. Siehe auch oben § 186 Anm. 72. 8 Holmes 3. Siehe auch etwa Daube 172. 8 Siehe Jung 413, 450. 10 Freud, Totem und Tabu, Ges. Schr. 5, 85 Anm. 1. Siehe auch dens. XXI 188; Latte 19. Die Unterscheidung zwischen ödipalem und postödipalem De-

likt mag neue Gesichtspunkte für die Klärung der Frage abgeben, warum Haftung für Brandverursachung mit deren ödipalen Indikationen (Freud, Zur Gewinnung des Feuers, Ges. Schr. XII, 141-147; oben Anm. 4) soviel strenger war als die des biblischen Schafhirten und Verwahrers (Daube 158-163). Die Tatsache, daß offenbar unabsichtlich aber präsumptiv vorsätzlich verursachte Verbrechen tatsächlich nie mit der Todesstrafe (ders. 165, 169-170) geahndet wurden, mag durch Schuldgefühle der Richter erklärbar sein. 11 Siehe etwa Daube 129-175; auch Latte 25-35. Für älteres Recht siehe dens. 6. Daß König Hrethel seinen Sohn, der "zufälligerweise" seinen Bruder tötete, jeglicher Bestrafung entrinnen ließ (Beowult 2435 ff.), mag daraus erklärt werden, daß der König Vergeltung gegen sich selbst vermied. Aber vgl. Daube 173. 12 Blackstone, Band 11, Buch IV Kap. 11 § 20. IS·

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4. Kap. (A): Strafrecht

§ 192

den schillerndsten Synonymen bedacht. So nannte man sie etwa verbrecherische, betrügerische oder böse Absicht, heimtückischen Vorbedacht, schuldhaftes Wissen, Vorsätzlichkeit, schuldige Gesinnung oder scienter13 . Man kann auch wenig Klarheit aus der Diagnose von Urteilsbegrundungen und wenig mehr durch die Chirurgie an ihrer Sprache gewinnen14 • So ist zwar die mens rea ein unerläßlicher Bestandteil des geltenden Strafrechts geworden, aber in unseren Bemühungen, sie zu definieren, sind wir kaum über den mittelalterlichen Glauben an den "bösen Geist" hinausgelangt. Und das gilt auch für die jahrhundertealte Annahme einer "Fahrlässigkeit", welche selbst in Fällen erkanntermaßen ungewollter übertretung als zureichende Schuld behandelt wird. § 191. Der böse Geist. Ein Totschläger wird nun wohl überall auf der Welt mit seiner Behauptung gehört, daß er ohne Tötungsabsicht gehandelt hat. Aber dies hat für ihn niemals notwendig Straflosigkeit bedeutet. Manche afrikanischen Stämme finden es auch heute richtig, ihn, auch wenn sie bewußt an seine "Unschuld" zu glauben vorgeben, zu töten, um seinen bösen Geist zu vertreiben15 . Und auch in unserem Teil der Welt verhängte noch im Jahre 1484 Innozenz VIII. die Todesstrafe über Schuldlose, als er - anläßlich der Verkündung des "Hexenhammers", eines Werkes seiner Inquisitoren Kramer und Sprenger -, "Teufel, Incubi und Succubi"18 für so "abscheuliche Taten" wie Abtreibung bei Menschen und Tieren und Empfängnisverhütung verantwortlich machte. Denn wenn deswegen der Täter auch ein Wahnsinniger war, mußte er doch bestraft werden, weil er sich dem Teufel "ergeben hatte". Die Geschichte der Hexenaustreibung17 fand gestern erst ihr Ende - für wie lange? § 192. "FahrZässigkeit". Schon immer hat es für zugestandenermaßen nichtabsichtliche Delikte eine strafrechtliche Haftung gegeben. So erklärt das Gesetzbuch Hammurabi: "Wenn jemand einen anderen Menschen im Streit geschlagen und dabei verletzt hat, so soll er schwören ,ich habe ihn nicht wissentlich geschlagen' und er soll [nur] für den Arzt bezahlen18 ." Im mittelalterlichen England verzichtete der König bei Zu-

Siehe Morissette v. United States, 342 U.S. 246, 251-263 (1952). Siehe aber Hart, Punishment, Kap. 111, IV; Hall, Kap. 111; Hughes und Gross. Vgl. Packer 104-108. IS Post, Band 2, 29. 18 Malleus Maleficarum (übersetzung Summers 1951). Die Bulle trug den Titel Summis desiderantes affectibus (1484). Siehe etwa Bromberg 49-50. 17 Siehe allgemein etwa Zilboorg und Henry: Danforth; ferner besonders Spee; Stanley; Thomas Klaus; Sigmund v. Riezler; für die Entwicklungsländer Ostafrikas, Tanner. 18 Hammurabi § 206. Siehe oben § 93. Für hethitisches Recht, siehe oben § 93 Anm. 5. 13

14

§ 192

Mensrea

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fallstötungen ("misadventure") auf den ihm vorbehaltenen Teil der Buße (wite), und der Täter konnte frei seiner Wege ziehen ("pardon of course"). Aber die Privatbuße (bot) blieb zahlbar. "Wenn jemand auf seiner Schulter einen Speer trägt und sich irgendjemand daran aufspießt, so hat er statt der wite die wer zu zahlen19 ." Und lange Zeit fuhr sogar die Kirche fort, das homicidium casuale zu bestrafen 20 • Wohl wurde die Absicht des Täters nicht mehr bewußt vorausgesetzt oder dem bösen Geiste zugeschrieben. Warum dann aber noch Bestrafung eines Schuldlosen? Die Antwort ist einfach. Selbst wo bewußte Absicht nicht mehr bewußt unterstellt wird, wird dem Täter zumindest noch unbewußte Schuld unbewußt zur Last gelegt. Wenn seine Tat schon nicht böswillig war, so war sie doch immerhin "fahrlässig". Für das Ödipusdelikt ist diese Schlußfolgerung fast die Regel geblieben. Noch im Jahre 1813 stellte das auf Anselm von Feuerbachs Lehren21 gegründete Bayerische Strafgesetzbuch die Vermutung auf, daß jede rechtswidrige Handlung mit Absicht geschehe 22 • Und auch heute noch stellen manche Gesetze mit einer tödlichen Waffe, wenn auch unabsichtlich, zugefügte Tötungen und Körperbeschädigungen unter Strafe23 • Der Model Penal Code des American Law Institute würde in solchen Fällen den Angeklagten, der es versäumt hat, nach dem "Standard der Vorsicht zu handeln, den ein vernünftiger Mensch beachtet hätte", schon darum der Fahrlässigkeit schuldig finden24 • Aber warum soll auch derjenige in solcher Weise schuldig sein, der gar nicht imstande war, den verlangten Standard einzuhalten? Es ist wohl kaum zureichend, solche Vorschrüten mit dem Argument zu rechtLaws of Alfred, Kap. 36. Siehe oben § 95 Anm. 9; auch unten Text bei 205 Anm. 9. Für die Entwicklungsgeschichte des königlichen "pardon", siehe Hurnard. 10 Siehe allgemein Kuttner, Kap. 4, besonders zur fortschreitenden Strafmilderung (im Gegensatz zum Straferlaß) bei unbeabsichtigten Tötungshandlungen, ders. 186-187. U über Feuerbach (1775-1833) und dessen Bezugsnahme auf ältere Quellen, siehe etwa Grobe; oben § 185 Anm. 66; ferner Döring; Naucke; Julius Glaser 19-61; Kipper; R. Hartmann. 22 Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern (1813) Artikel 43. Noch 1853 wurde dieselbe Bestimmung in die ältere, reaktiönäre Strafprozeßordnung österreichs aufgenommen (§ 260 Absatz 2 StPO aus 1853). Dazu

§

11

Schick 538.

U Bezüglich des spanischen Strafgesetzbuches, siehe Cordoba Roda. Zum verwandten Problem des "dolus generalis" siehe etwa Maiwald; besonders v. Weber 549. U Model Penal Code §§ 202 (2) lit. d, 210.4, 211 (1) !ib. b. Aristoteles fand mit leichter Feder den Grund darin, daß "die Menschen dafür selbst verantwortlich sind, wenn sie durch nachlässige Lebenshaltung nachlässig werden." Nikomachische Ethik 1114 a. Vgl. aber auch noch § 8 des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für österreich 1968; ferner Eser.

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4. Kap. (A): Strafrecht

§ 193

fertigen, daß sie oft zur Verurteilung eines wirklich Schuldigen nötig sind, dessen Absicht nicht bewiesen werden kann!5. Ein solches Argument legt es nahe, daß diesen Bestimmungen zumindest eine unbewußte Schuldvermutung zugrundeliegt28 • In solchen Fällen, in denen die Strafe nicht einmal vorgibt, zumindest leichteste Schuld vorauszusetzen, handelt es sich also um jenes wahrhaft "Irrationale" unseres Strafrechts, das in der "Erfolgs"- oder "Gefährdungshaftung" immer stärkerer Ablehnung begegnet, obwohl sich doch diese Haftung so wenig von anderen Fällen der Schuldvermutung unterscheidet. Aber vielleicht wird es uns möglich sein, durch die hier so oft betonte Unterscheidung verschiedener Typen von Delikten jene Fälle zu isolieren, in denen eine solche Ablehnung eben wegen Fehlens einer solchen Schuldvermutung tatsächlich gerechtfertigt erscheint. § 193. Erjolgshajtung? Ein führender amerikanischer Kriminalist meint, daß mens rea unerläßlich und Erfolgshaftung unzulässig sei, wo immer es sich um "mala per se" handle, also um Taten, die "selbst dann als verwerflich zu gelten hätten, wenn das Gesetz sie nicht unter Strafe stellte"!7. Vielleicht erklärt der Mangel jeder psychologischen Analyse in dieser (angeblich "naturrechtlichen") These die merkwürdige Aggressivität, mit der diese vorgetragen wurde. Soll doch die gegenteilige (angeblich "positivistische") Meinung in den Lehren eines gewissen "ausländischen Philosophen" verkörpert sein, dem die wahre Erkenntnis wegen seiner Unkenntnis des common law verschlossen bleiben müsse28 • Dieser Angriff richtet sich gegen keinen geringeren als Hans Kelsen in völliger Verkennung seiner Lehre.

Diebstahl ist malum per se, denn er wäre wohl "verwerflich, selbst wenn nicht unter Strafe gestellt". Dennoch lassen sich Situationen denken, in denen auch ein "schuldloser" Dieb um der Generalprävention oder Sicherung willen bestraft werden muß, wo also Erfolgshaftung Siehe etwa Lauri; auch unten Anm. 34. Siehe etwa WiUiams 1-2, 1~15; dens., Mental Element; Hall, Negligence. Vgl. Hart, Negligence; dens., Punishment 136; auch Rittler I, 196 (2. Aufl.). 17 Perkins, Alignment 334. Für die Entwicklungsgeschichte dieser Theorie über Blackstone und Coke hinaus, siehe Hall 337-342. Siehe auch Hart, Punishment 176-178. Bezüglich anderer früherer Unterscheidungsversuche, siehe etwa Bergk 118-280; Hugo Meyer 14~153, 161-183; Helmuth Maye1 62 (über Kant). Vgl. aber A. Kaufmann, Irrtumsregelung; Tidow 150 ("law written in the heart"); Lange 52-55. U Perkins, Alignment 333-334. Hans Kelsen, der solcherweise in einigermaßen ungewöhnlicher Art angegriffen wurde, hat in der Tat argumentiert: "Es gibt keine mala in se, sondern nur mala prohibita. oe Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960) 118. Er hat aber damit natürlich nicht ausschließen wollen, daß es auch Verbote auf Grund nicht ausdrücklich gesetzten Rechtes gibt, etwa auf Grund des common law. Siehe allgemein oben §§ 22-25. %5

Z8

§ 193

Mens rea

279

gilt!'. So ist denn auch hier, im postödipalen Bereich, durch weitgehenden Ausschluß sowohl des Rechts-30 wie des Tatsachenirrtums31 eine solche Haftung weitgehend anerkannt worden. Diese muß nur für ödipale Verbrechen abgelehnt werden, deren Sanktion ja, wie wir gesehen haben, zumindest eine Vermutung der mens rea voraussetzt. Hier, aber nur hier, sind jene theoretischen Einwände und verfassungsmäßigen Angriffe gegen die Erfolgshaftung gerechtfertigt, die jetzt, mangels der notwendigen Unterscheidung zwischen Vergehenstypen32 , in bedenklicher Weise als das gesamte Strafrecht betreffende Postulate erhoben worden33 • Hier wie in diesem ganzen Kapitel, müssen wir freilich wieder mit der Schwierigkeit rechnen, daß klare Linien zwischen Vergehenstypen nicht zu ziehen sind. Denn zwischen dem extremen und daher leichtesten Beispiel der postödipalen übertretung und dem anderen extremen Fall des ödipalen Affektmordes liegt ja ein weites Grenzland von der größten praktischen Bedeutung. So ist es denn auch verständlich, daß die Erfolgshaftung selbst in Fällen unbeabsichtigter Tötung hingenommen worden ist wie in denen des Totschlages oder des "felony murder" , der schon vorliegt, wenn irgendein Verbrechen zufällig zum Tode führt. Aber vielleicht kann dies auch praktisch daraus erklärt werden, daß sich die Strafe hier hauptsächlich gegen den der Tötung vorausgehenden Akt richtet. Auch scheint es ja in der Praxis so zu sein, daß in den meisten Fällen der Erfolgshaftung eine Verurteilung deswegen gesucht und ausgesprochen wird, weil man zwar in Wirklichkeit Schuld annimmt, diese aber nicht vollauf zu beweisen vermag34 • Der dunkle Begriff der mens rea, welche bewußt oder unbewußt für die meisten Verbrechen verlangt wird, wird häufig an der Berufung auf Zurechnungsunfähigkeit gemessen. Diese aber wirft unvermeidlich dieselben Probleme wie jener Begriff auf, den sie zu messen bestimmt ist: wer ein Odipusverbrechen begangen hat, kann rational nicht bestraft werden, denn er ist ja ex definitione "zurechnungsunfähig" , während auf der anderen Seite das postödipale Verbrechen auch ohne Rücksicht auf des Angeklagten Geisteszustand rationalen Abschreckungsstrafen !~ Vgl. WUliams 30. Siehe auch oben §§ 181, 182. Der erste wichtige Präzedenzfall scheint Regina v. Woodrow zu sein (1846) M & W 404, 153 Eng. Rep. 907. Siehe allgemein Haddad.30 Siehe etwa Hall 383; Perkins 92(}-938; Mayer-Maly, passim; Ehrenzweig, Irrtum; ferner Pratt 150. a1 Siehe etwa Perkins 939-948. U Siehe etwa Hart, Punishment 31-32, 37-40, 132. 3S Siehe etwa Hall, Ignorance; Perkins, Alignment 331-333, 384-388; Nokes 63; Horst Schröder; Kneale 22. U Siehe auch oben Anm. 25. Vgl. Hall 342-343. Siehe auch dens. 343-351 wo er sich allgemein gegen strict liability ausspricht; Kneale; Nokes.

280

4. Kap.

(A):

Strafrecht

§ 195

unterworfen werden kann. Nichtsdestoweniger hat das Recht diese "bewußte Anomalie" hingenommen, um eine rationale Korrektur der irrationalen Arbeitshypothese der Willensfreiheit vorzunehmen, einer Hypothese, die ja ihre Verwendbarkeit in so großem Umfang jener irrationalen Wirklichkeit der Schuldvermutung verdankt (§§ 189, 190). c) Zurechnungsunfähigkeit als Schuldausschließungsgrund: Bewußte Anomalie

§ 194. Ambivalenz des Rechts. Sirhan Sirhan wurde wegen Tötung von Robert Kennedy des Mordes angeklagt. Eine solche Anklage setzte natürlich die Annahme voraus, daß die Freiheit seines Willens ihm erlaubt hätte, auch anders zu handeln. Dennoch gestattete ihm das Recht in seiner Ambivalenz, diese Freiheit durch Beweise einer Geisteskrankheit oder einer psychopathischen Veranlagung ganz oder zum Teil zu widerlegen. Kein Wunder: denn abgesehen von den Fällen, welche reflexartigen Handlungen nahekommen35 , können wir uns des "Wahnsinnigen" gänzliche und des "Psychopathen" teilweise Vorherbestimmtheit genauso wenig vorstellen, wie die Wahlfreiheit eines geistig "gesunden" Menschen. Diese, möglicherweise unvermeidliche Ambivalenz des Rechts stellt die Hauptursache jener weltweiten, argen Verwirrung dar, von der sowohl die anerkannte Zurechnungslehre als auch die Praxis beherrscht wird. Es existieren zwei ausgezeichnete Monographien38 , welche die 1500 Jahre alte Geschichte aller Versuche, jene Verwirrung zu verbergen, zurückverfolgt haben. Wir wollen uns daher auf eine Beschreibung der gegenwärtigen Lage beschränken.

§ 195. Von M'Naghten zum Model Code: Hohle Worte. In den Vereinigten Staaten galt die sogenannte M'Naghten-Regel über 100 Jahre lang als die einzige Bestimmungsmethode mangelnder Zurechnungsfähigkeit. Der Angeklagte wurde dann für zurechnungsunfähig erklärt, wenn er, "bedingt durch seine Geisteskrankheit, unter einem solchen Mangel seiner Verstandeskraft litt, daß er die Art und Beschaffenheit seiner Handlung nicht erkennen konnte, oder sollte er sie erkannt haben, nicht wußte, daß das, was er tat, ein Unrecht (,wrong') war"37. Dieser Satz gibt die herrschende Problematik des Strafrechts derart naiv und prägnant wieder, daß er nicht nur in modernen Gesetzgebungswerken und selbst in fortschrittlichen Monographien38 erhalten geblieben ist, sondern manchmal sogar in die gleichermaßen verworrenen 35 Siehe etwa Perkins 749-750; Bresser und Fotakis. 3e Platt und Diamond, Wild Beast; dies., Right and Wrong. 37 M'Naghten's Case, (1843) 10 Clark & Fin 200, 8 Eng. Rep. 718. 38 Siehe etwa Mueller 259 mit weiteren Hinweisen; auch Fingarette.

§ 195

Zurechnungsunfähigkeit

281

Schuldtheorien des Zivilrechtes Eingang gefunden hatSt • Aber durch die rapide Entwicklung psychologischer Erkenntnisse während der letzten Jahrzehnte wurde der Boden für eine Wende reif gemacht. Schon vor Jahren begannen die psychiatrischen Experten damit, vor Gericht Gutachten bezüglich der "wrongness" einer Tat abzulehnen, und zwar deswegen, weil ein solches Gutachten mit den neuesten Errungenschaften ihrer Wissenschaft nicht mehr zu vereinbaren war40 . Um diesem Widerstand zu begegnen und dem Berufsstand der Psychiater die Möglichkeit zu geben, vor Gericht ihre eigene Fachsprache zu verwenden, wurden neue Formeln entwickelVI. Danach sollte etwa der Angeklagte als zurechnungsunfähig gelten, wenn er (1) unter einem "unwiderstehlichen Zwang"42 gehandelt hatte; (2) wenn seine "Handlung das Ergebnis einer Geisteskrankheit oder eines anderen geistigen Defektes war"43; (3) wenn "ihm infolge Geisteskrankheit oder eines anderen geistigen Defekts weitgehend die Fähigkeit ermangelte", sich seiner Handlung zu enthalten'4; (4) wenn er weder die "wesentliche Fähigkeit besaß, die Strafbarkeit seines Verhaltens einzusehen, noch imstande war, sein Verhalten mit den Erfordernissen des Rechts in Einklang zu bringen"45. Zusätzliche Vorschläge haben sich diesem unerfreulichen Wettbewerb eingefügt46 , emd viele Gesetze haben hier mit ähnlich untauglichen Mitteln sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im Bereich des Commenwealth versucht, Kompromißlösungen zu finden 47 . Selbst größere Gesetzgebungswerke waren nicht imstande, neue Wege zu gehen48 • 3D Siehe etwa das indische Strafgesetzbuch § 6; Zivilgesetzbuch von Quebec § 1053, in Goldman v. Baudry, 170 A. 2 d 636 (Vermont 1961). 40 Siehe Ehrenzweig, Insanity 425 Anm. 12 für weitere Hinweise; besonders Zilboorg, Kap. 1,7; HaH 520-522; Gotdstein, Kap. 4; Ptatt und Diamond. Aber vgl. Livermore und Meeht 300. Für eine biologische Analyse siehe auch Oliver Schroeder 634-640.

41

42

Siehe oben Anm. 36; auch Diamond, M'Naghten.

HaH, Kap. 5.

43 Durham v. United States, 214 F. 2d 862 (D. C. Cir. 1954). über das Versagen dieses Tests, siehe etwa MacDonatd 42; Arens, passim. 44 United States v. Currens, 290 F. 2d 751 (3d Cir. 1961). 45 Blake v. United States, 407 F. 2d 908 (5th Cir. 1969) auf Grund des Model Penal Code § 4.01 (1). Siehe Hatt 472-528; Dain. 48 Für einen "integrative functioning"-Test, siehe SHving, passim. 47 Für gerichtliche Anwendung und Diskussion, siehe etwa Stapleton v. R. (1952) 86 C.L.R. 358 (Oberster Gerichtshof von Australien) ; Regina v. Borg [1968] S.C.R. 551, (1969) 6 D.L.R. (3d) 1 (Kanada). Für Israel, vgl. State of Israel v. Rohan (1969) 68 P.M. 344, Israel L. Rev. 6 (1971) 245. 48 Siehe etwa California Report 48-67. Zur Kontroverse um § 51 des deutschen Strafgesetzentwurfes bezüglich strafrechtlicher Verantwortlichkeit, und zum privat erstellten Alternativentwurf, der sich gleichermaßen in traditionellen Bahnen bewegt, siehe Alternativentwurf; ferner etwa GaUas; Roxin; Schwarz-WiUe, NJW 1971, 1064; oben § 188 Anm. 83.

282

4. Kap. CA): Strafrecht

§ 195

In diesem Zusammenhang will ich meine früheren Versuche nicht wiederholen, diese Bemühungen zu analysierenc9 , zumal diese im Begriffe sind, ihren kurzen Elan und ihre ebenso kurzlebige Bedeutung zu verlieren. Denn schon seit geraumer Zeit nun sind Juristen und Psychiater, dank und trotz der ihnen gebotenen Formeln, in einem unwürdigen Ping-Pong-Spiel verstrickt, in dem sie einander wechselseitig die Verantwortung aufzubürden suchen50 • So haben denn die neuen Formeln, die bestimmt waren, medizinischen Erkenntnissen und Erfordernissen gerecht zu werden - letztlich nur das Recht verraten! Was das Recht zu wissen erheischt, ist, ob bestraft werden soll oder nicht. Aber diese Frage kann durch keine medizinische Prüfung beantwortet werden. Wann immer die Gesellschaft vorgibt, die "Zurechnungsfähigkeit" des Täters als Kriterium zu benützen, will sie in Wirklichkeit nichts anderes, als ihre irrationalen Reaktionen auf Aggression und Schuld rational erscheinen zu lassen51 • Wir müssen lernen, uns einzugestehen, daß der Erfolg der "Einrede" mangelnder Zurechnungsfähigkeit - öfter als man denken möchte - letztlich nichts anderes bedeutet, als daß die Gesellschaft einen Wunsch nach Vergeltung entweder nicht empfindet oder ihn preiszugeben bereit ist. Ungeachtet der Heranziehung von Sachverständigengutachten wird diese Preisgabe zwneist entweder mitleidiger Identifizierung mit dem Täter oder einer Abnahme des gesellschaftlichen Vergeltungsbedürfnisses zuzuschreiben sein, deren Grad von dem jeweiligen Täter- oder Deliktstypus abhängen wird. Eine derartige Entwicklung in Perioden wachsender "Humanisierung" (Verbot von Todesstrafe, Tolerierung sexueller Perversionen) wird oft zyklisch von Perioden abgelöst, in denen man sich umgekehrt gegen die "Verwöhnung des Verbrechers" auflehnt. Diese a-rationalen Motivationen sind es, die, wie ich glaube, die Zulassung oder Verwerfung des ebenso a-rationalen Schuldausschließungsgrundes mangelnder Zurechnungsfähigkeit bestimmen. Und es sind diese Motivationen, die die einzige aber zwingende Rechtfertigung dafür bieten, daß man Geschworene oder Schöffen als Sprachrohr und prozessuales Werkzeug der Öffentlichkeit beibehält, da sie ja weder fähig noch genötigt sind, wie der Richter oder Sachverständige pseudo-rationale Argumente für irrationale Reaktionen zu formulieren. Und dieselben a-rationalen Motivationen müssen uns helfen, das Anwachsen ebenso a-rationaler Kompromisse zu erklären. ce Siehe Ehrenzweig, Insanity 8-10. Siehe auch Silving 48, 56-74, 79-101,

113-120.

Siehe statt vieler Stovenko 395; unten § 197. Siehe allgemein HaH, Kap. 7, 8. Vgl. Gotdstein, Insanity 11. Aber wir müssen uns natürlich bewußt sein, daß jeder Rationalisierungsversuch eine Stärkung des einen oder anderen dagegenarbeitenden irrationalen Faktors nach sich ziehen kann. 10 51

§ 196

Zurechnungsunfähigkeit

288

§ 196. "Verminderte Verantwortlichkeit": Hilfloser Kompromiß. Wir konnten sehen, wie sich die ambivalente Haltung der Gesellschaft darin offenbart, daß bei der strafrechtlichen Behandlung ödipalen Verbrechens die Anomalie eines Schuld ausschließungs grundes mangelnder Zurechnungsfähigkeit bewußt zugelassen wird, obwohl solche Verbrechen begriffsmäßig Zurechnungsunfähigkeit voraussetzen und dennoch grundsätzlich dank einer Schuldvermutung und der Fiktion eines freien Willens strafbar sind. Trotz dieser Ambivalenz kann aber die Gesellschaft doch nicht umhin, zwischen dem Alles oder Nichts, zwischen Freispruch und Verurteilung, ihre Wahl zu treffen. Kein Wunder daher, daß man immer wieder den Versuch angestellt hat, außer den hybriden Fahrlässigkeits- (§ 190) und Erfolgshaftungen (§ 191) noch andere Kompromißlösungen zu finden. In Anlehnung an schottische Rechtstradition und im Wettstreit mit englischer Gesetzgebung und kontinentaler Rechtsauffassung, sind die amerikanischen Gerichte bemüht, eine Formel zu erarbeiten, mit deren Hilfe einem kraft der Vermutungen von mens rea und Willensfreiheit als "geistig gesund" schuldig befundenen Täter eine nur partielle Geistesgesundheit, nur partielle Willensfreiheit und mens rea in einer "partiellen" oder "geminderten" Verantwortlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit zugebilligt werden kann52 •

Sirhans Rechtsberater und Sachverständige, mochten sie ihn nun als geistesgestört ansehen oder nicht, hielten es in Anbetracht der öffentlichen Empörung über sein Attentat offenbar für untunlich, vor den Geschworenen auf Zurechnungsunfähigkeit zu plädieren. Sie konnten es sich aber nicht versagen, durch einen Griff in den "Abfallkübel" ihrer Diagnosen53 , wenigstens auf einen Befund "geminderter Verantwortlichkeit" hinzuzielen. Muß man wirklich wiederholen, daß derlei Methoden nichts anderes sind als "Kunstgriffe"54? Aber manchmal erweisen sich solche Kunstgriffe als zu grob. Sirhan wurde zum Tode verurteilt. Nicht selten werden die Richter und Geschworenen durch sie eher abgestoßen als verführt. Ja, die Erfahrungen eines Jahrzehntes "geminderter Zurechnungsfähigkeit" in der englischen Rechtspraxis 52 Siehe allgemein etwa Goldstein, Insanity 194, 202; Silving 125-130. Bezüglich der Vorläufer, siehe für Schottland T. B. Smith, Responsibility; für England den Homicide Act von 1957 (Goldstein, Insanity 195); für den Kontinent §§ 51 II, 55 des deutschen Strafgesetzbuches (Jescheck § 40 IV). In diesem Zusammenhang müssen wir auch die gesamte Entwicklung der Behandlung jugendlicher Straftaten sehen. Einen guten überblick verschafft In re Winship, 90 S.Ct. 106B (1970) mit aufschlußreichen Separat- und Gegenvoten der Richter Harlan und Black. n Bromberg, Personality 641. Siehe People v. Nicolaus, 423 P. 2d 787 (Cal. 1967), als Beispiel für die totale Verwirrung im Bereich der medizinischen Gutachtertätigkeit und richterlicher Rechtsfindung. über den SirhanFall siehe Kaiser. s. Packer 135; vgl. auch R. Lange 274-283.

284

4. Kap. (A): Strafrecht

§ 197

haben wenig an der Statistik geändertS5 • Noch sollten wir höhere Erwartungen an die Einführung anderer neuer "medizinischer Kategorien" knüpfen58 • Ja, es könnte wohl sein, daß der Richter oder Geschworene, seiner allzugroßen Macht eingedenk, seines Vergeltungswunsches halb bewußt und ihn bekämpfend, so manches Mal mit einem Freispuch vorginge, hätte ihm der ambivalente Gesetzeskom~ promiß nicht die letzte Verantwortung genommen. Die Psychiatrie hat dem Recht die Antwort verweigert. Aber haben wir nicht am Ende zuviel bewiesen? Sollen wir, ja, können wir, allein um dieses Beweises willen dem Kampf der Experten Einhalt gebieten? § 197. Kampf der Experten: Brot und Spiele. Nachdem die Psychiatrie ihren Pyrrhussieg über das Recht erfochten hatte (§ 195), hoffte sie, daß man nun psychiatrischer Fertigkeit die Möglichkeit geben würde, Heilung statt Strafe zu vermitteln. Indes, sie hatte sich getäuscht. Nach wie vor fordern die Geschworenen Strafe statt Heilung, wo immer sie bewußt oder unbewußt einer Abneigung der Allgemeinheit Rechnung tragen, auf Rache zu verzichten. Dabei, so können wir annehmen, werden die Geschworenen häufig nicht nur die Anweisungen des Richters, sondern auch die Aussagen der psychiatrischen Gutachter in den Wind schlagen. Denn allzu oft hören sie in den Richterworten nichts als einen alten, geheimnisvollen Fluch des Rechtes und in dem Fachgesimpel der Psychiater nichts anderes als Beschwörungsformeln von Medizinmännern57 oder doch eine Bestätigung ihres Verdachtes, daß der Arzt sich ja mehr um seinen "Patienten" als um die Gerechtigkeit kümmert. Wenn für diese Behauptungen irgendein Beweis notwendig sein sollte, so sei an das Theaterstück der ,,12 Geschworenen" erinnert, mit dem es der Intuition des Dramatikers besser als dem künstlichen Experiment des Soziologen58 gelang, die Wirklichkeit des Beratungszimmers nachzuzeichnen. Sollten wir also dem grausamen Spiel in der Arena des Gerichtssaales ein Ende bereiten59 ? In der Tat hat man vorgeschlagen, "die Abschaffung der Zurechnungsunfähigkeitseinrede in Erwägung zu ziehen", um Zweck und Mängel strafrechtlicher Verantwortlichkeit bloßzustellen". Dabei wurde Siehe Hart, Punishment 246. Vgl. Walker, Kap. 13. Hart, Responsibility 361. 57 Siehe Bromberg, Psychiatrists 1344; Menninger 1091. Der deutsche Richter und die kommunistische Lehre gelangen hier zu ähnlichen Ergebnissen. Siehe Blau; Roehl. 58 Simon 177; Comish. Aber siehe etwa auch Arval Morris 633-637. 61 Diese Aussage ist der Gegenstand der meisten umfangreichen Schriften Szasz's. Siehe etwa Szasz, Justice 71-82; auch etwa Friedmann 39-40. Vgl. aber auch MacDonald 319. M Katz, Goldstein und Dershowitz 872. Siehe auch Zilboorg, Kap. 7; John Frank 168-169; Bernard Diamond. 55

50

§ 198

Zurechnungsunfähigkeit

285

aber zugegeben, daß derartige Maßnahmen einer "ungeheuren Haßliebe gegenüber dem ,Kranken'" gewärtig sein müssen, einer Haßliebe, "die sich in dem widersprüchlichen Begehren ausdrückt, zu verzeihen und zu tadeln, zu strafen und nicht zu strafen, zu erniedrigen und zu erhöhen, zu brandmarken und es nicht zu tun, zu helfen und zu verwerfen, zu behandeln und zu mißhandeln, zu schützen und zu zerstören"01. Der römische Kaiser verhieß seiner ungebärdigen Plebs "panem et circenses" . Als Spiel gab er ihr den Todeskampf der Gladiatoren im Kollosseum. Fast scheint es so, als müßten wir im Gerichtssaal ein ähnlich tragisches Spiel weiterführen, um dem Vergeltungstrieb der Gesellschaft zu genügen, wo die Vernunft versagt. Aber wenn dem so ist, sollten wir doch wenigstens versuchen, den Spielern beizustehen8!. Vielleicht könnten wir ihre undankbare Aufgabe erleichtern, ohne unser Recht und ihre Wissenschaft, über Willensfreiheit und Schuld den Stab zu brechen82 • Und vielleicht könnten wir dies sogar im Rahmen eines "adversary system" tun, wenn wir dem Kampf der Anwälte und Experten zumindest den Anschein von Fairneß und Ordnung geben 8s • Darüber aber müssen wir wachen, daß des Kaisers richtende Gäste ihre Daumen nicht heben und senken allein aus Bewunderung oder Verachtung für die Kunst und Kraft der Gladiatoren. Und wenn wir selbst darin fehlen sollten, dann müssen wir zumindest dieses Eine fordern. Richter, Verteidiger und Experten und schließlich wir selbst müssen uns immer der Tatsache bewußt bleiben, daß die Frage der Schuld oder Unschuld nur allzuoft durch Schwankungen irrationaler Reaktionen der Gesel1~ schaft beeinflußt wird, und daß deshalb der "Sachverständige" meist nicht mehr und nicht weniger ist als ein dreizehnter Geschworener", dem die Antwort auf die Frage obliegt, wen wir strafen sollen. 3. Wen wir strafen sollen

a) Stand der Diskussion § 198. Gestern und heute: Freispruch des "Zurechnungsunfähigen" . Bevor wir daran gehen, einige der unzähligen Maßnahmen zu analysie~ ren, welche gegenwärtig zur Reform strafrechtlicher VerantwortlichKatz, Goldstein und Dershowitz 868-869. Siehe etwa auch Murphy. Das Problem ist natürlich keineswegs auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Für ein bedenkliches Beispiel aus einem Land des civil law, siehe das Urteil des deutschen BGH vom 21. Nov. 1969, NJW 23 (1970) 523. ea Siehe etwa Goldstein, Insanity 64, 93, 122, 135-136. über den "Adversar"-Prozeß im allgemeinen, siehe unten § 223. " Siehe etwa Szasz, Psychiatry 194; HaU 464-466; unten § 201. Treffend auch Tilmann Moser, passim. 81

el

4. Kap. (A): Strafrecht

286

§ 198

keit vorgeschlagen werden, haben wir die augenfälligsten Unzulänglichkeiten unseres bestehenden Systems zusammenzufassen: (1) Dieses System ist philosophisch in sich darin widerspruchsvoll, daß sein Hauptelement - die mens rea - zwar auf der Annahme der Willensfreiheit beruht, aber immer wieder als Korrektiv auf die diesem Begriff völlig fremden Formulierungen mangelnder Zurechnungsfähigkeit zurückgreifen muß (§ 195). (2) Allen diesen Formulierungen fehlt die unerläßliche Bezugnahme auf die verschiedenen Strafzwecke (§§ 177-187). (3) Sowohl die Zubilligung völliger wie die verminderter Verantwortlichkeit (§§ 194-197) leidet zumindest an der peinlichen Öffentlichkeit ihrer Diskussion, schlimmer noch an der dahinterstehenden Drohung der Unterbringung des Angeklagten in einer "Heilanstalt" auf unbestimmte Dauer1 • (4) Jede solche "Behandlung" stellt trotz ihres Auftretens als medizinische Maßnahme eine strenge Sanktion für ein als schuldlos erklärtes Verhalten dar. Dabei entbehrt diese Sanktion der richterlichen Kontrolle und damit zumindest potentieller Fairneß des Verfahrens 2 • Der letzte Punkt der Kritik bedarf der Ausführung.

Als der Geisteskranke begann, dem Scheiterhaufen zu entgehen und statt dessen des "Asyls" einer Heilanstalt teilhaftig zu werden, wurde diese Art von Barmherzigkeit oft zu einem neuen Folterwerkzeug3 • Selbst in unserer Zeit wird die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit immer mehr darauf gelenkt, daß oft "terrors of bedlam exceed those of prison"·. Und immer häufiger können wir feststellen, daß mancher geistig abnormale Täter oder sein Verteidiger es vorziehen, auf das "beneficium der Zurechnungsunfähigkeit" zu verzichten. Denn eine zeitlich begrenzte kriminelle Strafe, umgeben von allen Garantien eines gesetzmäßigen Verfahrens, mag ihnen weniger drohend erscheinen als die "Vergünstigung" einer unbestimmten Anhaltung unter der nahezu unumschränkten Gewalt der Ärzte. "Wie immer man ein gerichtliches Verfahren benennen will, keine subtile Unterscheidung vermag die Tatsache zu beseitigen, daß Leute einzusperren, eine kriminelle Sanktion ist. Die Dinge anders zu sehen, ist nichts anderes als Selbsttäuschung. Gerichte sollten ihre Köpfe nicht straußengleich in den Sand steckenS." Das Vergeltungsstrafrecht bleibt bestehen, mag der Täter "schuldig" oder "zurechnungsunfähig" sein. 1

Siehe etwa Goldstein, Insanity 20, 155, 225; Heinitz 16; Debuyst; Nowa-

kowski 15-17.

2 Siehe unten Anm. 14, 17. über die "Verfahrensverweigerung" (denegatio iuris") siehe etwa Szasz, Justice 53; auch Stato, passim. 3 Siehe Bromberg 77, 96; Jeffrey; Slovenko, History. Vgl. Dressler 3. t Hazard und LouiseU 382. Siehe auch LouiseU und Diamond, Detente 224-225. 5 Canon City v. Merris, 323 P. 2d 614, 617 (Colorado 1958).

§ 199

Reform?

287

§ 199. Morgen: Abschaffung der Strafe? Wie wir gesehen haben, hat die Psychiatrie der simplen, schwarz-weißmalenden M'Naghten-Formel vorgeworfen, daß sie das Wesen und die Tragweite geistiger Abnormalität in ihrer neuen medizinisch-wissenschaftlichen Bedeutung glattweg ignoriere. "Fortschrittliche" Gesetzgebungswerke, Gerichte und Rechtswissenschaft haben diesem Vorwurf durch neue psychiatrische Leitsätze zu begegnen versucht - um nahezu auf der ganzen Linie zu versagen (§ 193)! Müssen wir also mit einem bekannten amerikanischen Richter darin übereinstimmen, daß, wenn das Recht unter Anwendung dieser Leitsätze "bereit ist, Regungen des Unterbewußtseins als Entschuldigung für Fehlverhalten in der Sphäre des Bewußtseins zu akzeptieren, kein Mensch irgendeiner Straftat überführt werden könnte"'? In der Tat gibt es manche, die bereit wären, diese Folgerung zu ziehen. Alexander und Staub nahmen noch an, daß, "wird die Wirksamkeit unbewußter Motive anerkannt, ... in vielen Fällen an die Stelle der Strafe die Heilung und Erziehung treten wird"7. Karl Menninger aber hat, mit zweifelhafter Berufung auf Protagoras und Plato, das "Verbrechen der Strafe" als solches verurteilt8 • Lady Wootton schließlich hat ihren tapferen Kampf um die Ersetzung allen Strafrechts durch Maßnahmen der Erziehung und Sicherung geführte, die man manchmal unter dem Begriff der "defense sociale"lo verstanden und vertreten hat. Andere wollen zwar den Mechanismus der Strafe beibehalten, sie aber zur "Sühne" umbewerten, weil "Strafe entehrt und Sühne befreit"ll. So haben sogar die Gesetzgebungen einiger Länder einschließlich derer Mexikos und Griechenlands, zumindest dem Buchstaben nach die Strafe weitgehend durch "Zwangs- und Sicherungsmaßnahmen " ersetzt12 • State v. Sikora, 210 A. 2d 193 (New Jersey 1965), per Weintraub, C. J. Alexander und Staub 266 (deutsch zitiert). 8 Menninger, passim; Kraschutzki 17-57. 9 Wootton, Kap. 2, 3. Siehe auch Reiwald, Kap. X; Weihofen 435-443; Al Katz 11-16; Flugel170. Vgl. aber etwa Longford 57; Leonard Kaplan 190. Bezüglich eines "Familienmodells" des Strafrechtes, Gnffiths. 10 Siehe etwa Grammatica; Ferri; DeI Vecchio, Essays 65; Mergen; Noll 13. Vgl. aber auch Lange 63-98. Über die neue "defense sociale", siehe etwa Ancel; Beristain, passim; Melzer 70-76; auch Moberly; Shuman, Responsibility 29-33; Melzer; J. Baumann, Problemes; Rebhan. 11 Kretschmer, in Todesstrafe 79, 89. 12 über Schweden, wo man zur traditionellen Terminologie zurückgekehrt zu sein scheint, siehe etwa Strahl, passim. über den schwedischen "Protective Code" von 1957, siehe SeZZin; Agges. über den italienischen Entwurf von 1921, siehe Fern; Ebermayer; über Mexiko, Mendoza. Rußland gibt ehrlicher zu, daß die "Züchtigung" zumindest einen der sozialistischen Strafzwecke darstellt. Russisches Strafgesetzbuch (1960-1965), Art. 20. Siehe Berman 151. Seit Stalins "Reform" scheint die russische Rechtsübung von der ihrer "kapitalistischen" Gegenstücke ununterscheidbar geworden zu sein. Siehe etwa Hazard, Kap. 16; ZiZe. 8 7

288

4. Kap. (A): Strafrecht

§ 200

Es sprechen aber zahlreiche Argumente gegen derlei Vorschläge: Es klingt zwar wenig überzeugend, wenn man auf dem Recht jedes Menschen bestehen will, "nicht behandelt, sondern bestraft zu werden"lS. Hingegen kann man wohl getrost behaupten, daß der Determinist, der, jegliche Schuld verneinend, Abschaffung der Strafe fordert (§ 202), so wie Zenos Sklave (§ 189) den determinierenden Effekt der Strafe selbst außer Acht läßt. Auch würde die Abschaffung der Strafe oft schwierige Probleme verfassungsrechtlicher und praktischer Natur aufwerfen, da sie den richterlichen Strafmechanismus durch administrative Maßnahmen ersetzen müßte14 • Am entscheidendsten ist es aber, daß zumindest im ödipalen Verbrechensbereich Strafverzicht die Gesellschaft dazu zwingen würde, ihr Vergeltungsbedürfnis auf Umwegen zu befriedigen15. So könnte denn Unterdrückung des kompulsiven Verhaltens der Gesellschaft durch "vorschnelle Reformen den labilen Zusammenhalt unseres sozialen Gefüges ernstlich gefährden"10. § 200. Abschaffung oder Absonderung der Berufung auf Zurechnungsunfähigkeit. Wir haben einige der Vorschläge erwähnt, die den Schuld-

ausschließungsgrund der Zurechnungsunfähigkeit gänzlich im Begriff der mens rea aufgehen lassen wollen. Dies würde bedeuten, daß ein Schuld- oder Freispruch sich auf das äußere Verhalten des Täters beschränken müßte, wobei nur Unwissenheit und Irrtum beachtlich blieben. Eine solche Regelung wäre aber, zumindest in den Vereinigten Staaten, wohl wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des "due process" und das Verbot von "cruel and unusual punishment" verfassungswidrig, ebenso wie die zeitlich unbestimmte Anhaltung des verurteilten oder freigesprochenen Täters zum Zweck medizinischer Behandlung17 . Ähnliche Bedenken bestehen gegen das zweispurige in Kalifornien geltende Verfahren, nach dem erst nach der Verurteilung über den Geisteszustand des Täters verhandelt werden kann - dies obwohl doch 13 Herbert Morris 485. über Fichtes und Hegels ähnliche "Argumente", siehe Liszt 23. Siehe auch oben Anm. 2. 14 Siehe etwa Goldstein 19, 95-96, 154, 161, 215, 217; Szasz 196; ders., Law, 4. Teil; Murphy 115; Pincotts, Kap. 7; Katz, Right; HaUeck 218; Grant Morris; B. Diamond, Ray Lectures, bei Anm. 1819; unten Anm. 17. 16 Siehe oben § 188 Anm. 82, 83. Siehe etwa auch Hawkins, Punishment; Bazelon et al. Wir könnten darüber spekulieren, ob nicht die grausame griechische Gesetzgebung des 5. vorchristlichen Jahrhunderts eine Reaktion auf Solons Aufgabe des staatlichen Strafanspruches darstellte. Siehe Rauschen-

busch 13. 18 Anton Ehrenzweig II 227. Für eine allgemeine, wenngleich nicht-psychologische, überzeugende Ablehnung der "Abolitionstheorie", siehe Alt Ross,

Punishment. 17 Siehe oben Anm. 2, 14. Siehe auch Greenwald, passim. Vgl. aber auch Guttmacher 56-65.

§ 201

Reform?

289

die für die Verurteilung notwendige mens rea des Täters geistige Gesundheit schon voraussetzt l8 • b) Die notwendige Unterscheidung

§ 201. Nach allem kann die immanente Widersprüchlichkeit des Strafrechts weder durch allgemeine Aufrechterhaltung noch durch allgemeine Abschaffung des Erfordernisses einer mens rea beseitigt werden. Noch weniger geht es an, den Status quo allgemein mit der Behauptung aufrechtzuerhalten, daß unsere "demokratischen Werte der menschlichen Würde und Selbstbestimmung von der Sicht des Menschen als eines verantwortlich Handelnden getragen werden, der für sein frei gewähltes Verhalten gelobt oder getadelt sein will" 1'. Diese Behauptung läßt, zumindest was die ödipalen Delikte betrifft, außer acht, daß die Gesellschaft weit davon entfernt bleibt, diesem Ideal zu folgen und immer darauf bestehen wird, ohne Rücksicht auf Verantwortlichkeit "zu brandmarken, zu bestrafen und zu zerstören"20. Reformen können sich daher nicht damit begnügen, rationale Maßnahmen bezüglich der Person des verurteilten Täters vorzusehen21 • Denn Begründung dieser Maßnahmen auf solche Gesichtspunkte wie Gefährlichkeit, Abschreckbarkeit und Behandlungsnotwendigkeit allein vernachlässigt, wie erwähnt, die fundamentale Bedeutung der Vergeltung für die Behandlung ödipaler Delikte, die die Beibehaltung der Strafe um ihrer selbst willen und damit auch der Zurechnungsunfähigkeits"einrede" als ihres wichtigsten Korrektivs erfordert. Mit der Anerkennung dieser Funktion der "Einrede" fällt aber ihre Einheitlichkeit im Strafrecht, so wie sie längst in anderen Rechtsgebieten aufgegeben worden ist. Man hat 31 Rechtsbereiche (einschließlich des Scheidungs-, Vertrags-, Schadensersatz- und Testamentsrechts) gezählt, in denen mangelnde Zurechnungsfähigkeit von Bedeutung sein kann22 • Müßig zu betonen, daß deren Begriffsinhalt je nach dem zugrundeliegenden Rechtszweck beträchtlichen Variationen ausgesetzt sein muß. Und es sollte daher nicht befremdlich sein, wenn man findet, daß auch das Strafrecht Unterscheidungen benötigt, die vom jeweiligen Rechtszweck bestimmt sind. Wenn wir einmal übereingekommen sind, daß Strafe verschiedenen Zwecken dienen muß (§§ 177-178), sollten 18 Siehe Hazard und LouiselZ; Goldstein, Insanity 222-223. Vgl. auch Römer. 18 Kadish 289. 20 Siehe Goldstein, Katz und Dershowitz 871. U Siehe etwa Slovenko 408; Silving 134; Waelder, Psychiatry 300. über die defense sociale nouvelle siehe oben Anm. 10. 22 Siehe Mezer und Rheingold, passim.

19 EhreDzwel,

290

4. Kap. (A): Strafrecht

§ 202

wir ebenso damit einverstanden sein, ebenso viele Begriffsbestimmungen strafrechtlicher Zurechnungsunfähigkeit anzuerkennen als zur Erfüllung dieser Zwecke benötigt werden. Nur eine derartige Differenzierung kann uns in die Lage versetzen, einerseits wenigstens einige jener vermeidbaren Merkmale auszumerzen, welche dem notwendig irrationalen Bestrafungs- und Exkulpationskomplex ödipaler Tathandlungen ihren Stempel aufdrücken, andererseits aber auch rationale Zwangsund Behandlungsmöglichkeiten für postödipale Vergehen zu fördern. § 202. Postödipale Vergehen. Diese Strafhandlungen sind durch irrationale Wurzeln und Reaktionen relativ unbelastet 23 • Angefangen von den reinen übertretungen bis zu den meisten Vermögens delikten, harren diese Straftaten einer rationalen Reform (§§ 181-182), die es sich zur Aufgabe wird stellen müssen, zwischen zwei rationalen, wenn auch nicht unbedingt übereinstimmenden "Gerechtheiten" - nämlich dem Schutzbedürfnis der Gesellschaft und der Hilfereichung für den Täter - die Wage zu halten. Bei Verfolgung des ersten Zieles müssen wir in Rechnung stellen, daß in bezug auf die genannten Delikte "fast jeder von uns einen potentiellen Kriminellen darstellt" 24. Die Strafe muß deshalb vor allem, selbst um den Preis teilweiser Mißachtung täterorientierter "Gerechtheiten"25, als wirksames Abschreckungsmittel ausgebaut werden. Wenn solche Strafdrohung die Funktion eines generellen Abschreckungsmittels zu erfüllen vermag, müssen wir sie hier selbst in jenen Fällen beibehalten, in denen sie sich für einen Täter wegen seiner individuellen Besonderheiten als nutzlos oder wegen seiner entschuldbaren Tatmotive als unbillig erweisen sollte. Es überrascht darum kaum, daß die Einrede der Zurechnungsunfähigkeit im postödipalen Deliktsbereich meist in Leere geht oder vermieden wird", obwohl ihr Ziel manchmal dadurch erreicht wird, daß ein mitleidiger und gewissenhafter Staatsanwalt es richtig findet, von der Verfolgung ta Hier könnten wir gewisse vor- und postnarkotische Tatinklinationen ausnehmen, die eine separate Untersuchung erfordern. u Andenaes 182; siehe auch oben § 180 Anm. 24. Zur "potentiellen Kriminalität" aller Menschen siehe die Untersuchung von Sveri (Stockholm) über die er bei der 15. Tagung der Gesellschaft für die gesamte Kriminologie, Saarbrücken vom 2.-5. Okt. 1969 berichtete: In Skandinavien wurden Fragebogen an 125 Studenten in Norwegen, sowie an Rekrutenjahrgänge anderer nordischer Staaten ausgegeben; alle männlichen Skandinavier hatten strafbare Handlungen begangen, und zwar zu 3/, auf dem Gebiete der Eigentumskriminalität. Vgl. dazu den Bericht von Günther Bauer. 25 Siehe etwa Germann 208; Fritz Bauer; Mergen; NoU 21; Liszt 34. über die Abschreckung im Allgemeinen, siehe etwa Oppenheim 28-31; Singer, passim; Müller-Dietz 30-33; Friedman und Macauley 280-30l. Siehe auch die Entscheidungen des norwegischen Obersten Gerichtshofes, die sich ausdrücklich auf die Generalprävention berufen. Andenaes, Morality 657-660; Bruns, passim. 28 Koestler 70.

§ 203

Reform?

291

eines willigen, anscheinend geistig beeinträchtigten Täters abzusehen, um seine Behandlung ohne Bestrafung zu ermöglichen27 . So hat man denn wohl mit Recht gesagt, daß Geisteskrankheit als Verteidigungsmittel, mit Ausnahme von Mordfällen, eine Seltenheit darstellt. Dort aber, wo die Gesellschaft sich nicht bedroht fühlt, soll und kann das Recht auch in Fällen postödipaler Vergehen sich nicht nur mit der Tat, sondern auch mit dem Täter auseinandersetzen. Hier, wo der Psychiater seiner unerfüllbaren Aufgabe enthoben ist, über Schuld und Unschuld zu entscheiden, ist er fähig und berufen, seine Fachkenntnisse anzuwenden, wo wir ihrer nothaben, nämlich mit Bezug auf die möglichst schonende Anwendung nötig befundener Zwangsmittel oder ihre Ersetzung durch Behandlung und Heilung. Hier und nur hier benötigen wir denn den Psychiater nach wie vor, hier im postödipalen Deliktsbereich, in dem es möglich ist, "Fortschritt durch die Stärkung des Ego zu erzielen"28. Bezüglich jener Delikte freilich, die wir ihres frühen Ursprungs wegen als ödipal bezeichnet haben, werden wir zu anderen Ergebnissen gelangen. § 203. Ödipale Vergehen. Bevor wir hier daran gehen, Prognosen zu stellen und Lösungsvorschläge anzubieten, haben wir unsere Diagnose zu wiederholen, welche in Gegenüberstellung zur postödipalen Straftat ungefähr folgendermaßen zusammengefaßt werden kann: Die Begehung einer ödipalen Straftat offenbart die geistige Abnormität des Täters, und zwar in einem Maß, welches direkt proportional zu dem Aufwand steht, den eine - medizinisch gesehen - geistig gesunde Person benötigt, um die normale Verdrängung jenes Triebes zu überwinden, dem der Täter bei Begehung der Straftat nachgibt. Oder, um es anders auszudrücken, jeder Straftäter ist in dem Grade geistig abnormal, welcher in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dem Erfolg steht, den sich die Gesellschaft von der Bestrafung für die Unterdrückung des vorgenannten Triebes erhofft. Bei den meisten postödipalen Gesetzesverletzungen führt, wie wir sehen konnten, die Anwendung dieser Tests gewöhnlicherweise zur Verneinung der Zurechnungsunfähigkeit. Denn in derartigen Fällen fehlt entweder der Abwehrmechanismus der Verdrängung gänzlich oder ist so oberflächlich, daß der Täter ihn mit geringer Anstrengung überwinden kann. Und dementsprechend ist zu erwarten, daß eine Strafandrohung der Versuchung des Täters, diesen Repressionsmechanismus zu überwinden, 27 über die "Verfolgungsniederschlagung" siehe allgemein La Fave 533 bis 539. über das Ermessen, das dE:m Staatsanwalt innerhalb des "Legalitätsprinzips" in anderen Ländern eingeräumt wird, und über seine Position als quasi-richterliches Organ, siehe Jescheck, Power; Vouin; Seiler (mit weiteren Nachweisen). 28 Anton Ehrenzweig II 249.

lD-

292

4. Kap. CA): Strafrecht

§203

zumeist effektiv entgegenzuwirken vermag. Ganz anders stellt sich das Problem bezüglich der meisten Tötungsverbrechen und anderer ödipaler Straftaten28• Tötung ist deswegen als ödipal bezeichnet worden, weil sie "immer in der Familie bleibt"so. Dieser Aphorismus mag etwas zu allgemein gefaßt sein. Dennoch, früheste und deshalb stärkste Verdrängung erfolgt in unserer Kultur gegen des Kleinkindes Ödipuswunsch, einen Elternteil zu töten und mit dem anderen Blutschande zu betreiben. So stark wirkt diese Verdrängung, daß Trieb und Versuchung normalerweise vollkommen unbewußt und machtlos werden, und wir daher zu Recht geneigt sind, in jenen Fällen eine zumindest zeitliche Abnormität vorauszusetzen, in denen Trieb und Versuchung dennoch imstande geblieben sind, einen Affektmord herbeizuführen (§§ 185-187). Hier sind wir darum am ehesten bereit, auf Strafe zu verzichten. Denn hier bedürfen wir nicht der Bestrafung anderer, um uns selbst von der überwindung unseres Triebverzichtes und damit von der Straftat abzuhalten. Und jeder, der diesen Triebverzicht überwinden kann, um eine solche Straftat zu begehen. wird kaum jemals durch eine Strafandrohung davon abgehalten wE'rden können. Der Affektmörder ist ex definitione zurechnungsunfähig31 • Aber wie wir gesehen haben, sind die Vergeltungstriebe der Gesellschaft nicht nur irrational, sondern stehen auch zu unserem unbewußten Bedürfnis nach Unterstützung gegen unsere Versuchungen nicht notwendig in Beziehung. Solange wir auf der "wissenschaftlichen" Rationalisierung dieses irrationalen Mechanismus bestehen, werden wir demnach das peinliche Duell zwischen den Psychiatern nicht nur zu tolerieren haben, sondern werden darauf auch weiterhin schwerlich verzichten können (§ 195). Nur müssen wir uns ihrer zweifelhaften Rolle bewußt bleiben. Die Psychiater "zu beschuldigen, daß ihre Aussage erkauft werden kann"32, stellt natürlich eine übelmeinende Übertreibung dar. Wo aber - wie dies typischerweise in den Fällen ödipaler Verbrechen der Fall ist - das Gutachten des Sachverständigen mit seiner professionellen Kenntnis kaum in Beziehung steht, folgt er wie ein Geschworener weitgehend seinen persönlichen Reaktionen als irgendein Mitglied der Gesellschaft. Wenn er in seiner Fachsprache seinen Spruch auf "zurechnungsfähig" oder "zurechnungsunfähig" , auf "schulZg Aber siehe etwa Huth, in Todesstrafe 91, 99. Vgl. Bockelmann, daselbst 135, 138. 80 N. O. BTown 163. 11 Vgl. aber etwa ATzt N. 7-10. über den Ausschluß der Inzestdelikte aus unserer Diskussion, siehe oben § 180 Anm. 25. 3! BlumbeTg 148. Zur generellen Problematik der Sachverständigen und der in diesem Bereich auftretenden Unzulänglichkeiten siehe etwa Lange 274-277; HiTschbeTg 54-70; Amau; JessnitzeT 98,99.

§203

Reform?

298

dig" oder "nicht schuldig" verkündet, entspricht er im Grunde unausgesprochenen und unaussprechbaren Impulsen, die den Angeklagten bestraft oder freigesprochen sehen lassen wollen. Fachkenntnis könnte hier nur dabei helfen, die wichtige und doch stets unerörterte Frage bewußt zu formulieren, ob die Allgemeinheit im konkreten Fall bereit wäre, des Sühneprozesses zu entraten, ohne von dem Täter anderswo und zu anderer Zeit noch schlimmeren Tribut zu fordern. Grenzland. Je nach dem Maß an Repression, das ein "normaler" Täter bei Begehung seines Verbrechens überwinden muß, haben wir zwei Arten von Delikten unterscheiden können. An dem einen Ende der Skala fanden wir die postödipalen Delikte (von den reinen übertretungen bis zu den Vermögens- und Bandendelikten) ; Delikte nämlich, bei denen wegen der schwachen, oberflächlichen und vor allem bewußten Repression eine Bestrafung (regelmäßig in Nichtbeachtung angeblich mangelnder Zurechnungsfähigkeit) rational gerechtfertigt erscheint. An dem anderen Ende des Deliktsspektrums sahen wir das ödipale Verbrechen, wie etwa den Affektmord, der die früheste und daher nachhaltige und unbewußte Triebverdrängung überkommen muß. Obwohl eine Bestrafung des daher definitionsmäßig Zurechnungsunfähigen in diesem Bereich zumeist jeglicher rationalen Begründung entbehrt, wird sie doch regelmäßig von einem irrationalen Vergeltungsdrang erzwungen, wenn nicht ebenso irrationales "Mitleid" gegenüber dem geistig defekten Täter darauf verzichtet. - Aber neben diesen beiden Deliktsbereichen verbleibt noch eine Grenzzone, die Verdrängungen entspricht, welche verschiedensten Stufen der postödipalen Kindheit zuzuordnen sind. Dies können wir etwa an dem Beispiel so mancher "a-sozialer" sexueller Triebe sehen, deren Verdrängung später erfolgt als etwa die Verdrängung des Tötungstriebes und uns darum infolge ihrer unvergleichlich geringeren Wirksamkeit das ganze Leben hindurch Versuchungen überläßt. Insoweit diese Versuchungen im Unterbewußtsein verharren, wie es etwa bei den meisten Perversionen der Fall ist, wird das Bestrafungsverlangen fast ebenso leicht wie bei Mord einer Einrede mangelnder oder doch geminderter Zurechnungsunfähigkeit nachgeben. Aber solche Versuchungen können auch, dank einem weniger starken Verdrängungsmechanismus, an die Oberfläche unseres Bewußtseins gelangen; so etwa verbotene aber normale Sexualwünsche. Dann fordern wir Strafe für denjenigen, der solcher Versuchung unterlegen ist und sind zumeist abgeneigt, eine Verantwortungslosigkeit einzuräumen, die wir vielleicht selbst in Anspruch genommen hätten. In dieser Dämmerzone zwischen ödipalem und postödipalem Delikt wird der Psychiater eher bereit sein, seine berufliche Neigung zur Diagnose von "Krankheit" und "Impuls" beiseite zu lassen und wird, wie er es etwa bei den meisten übertretungen und Vermögens-

294

4. Kap.

(A):

Strafrecht

§ 203

delikten hält, zumeist ohne viel Beachtung für den Täter die abstrakte Notwendigkeit reiner Abschreckungsmaßnahmen akzeptieren. In anderen Grenzfällen wiederum mag er umgekehrt es ablehnen, einen solchen "soziologischen" Wahrspruch als dreizehnter Geschworener zu fällen und auf seiner Aufgabe als Arzt bestehen, die Richter davon zu überzeugen, daß der Täter, um seine Tat begehen zu können, einen normalerweise unüberwindbaren Verdrängungs apparat überwinden mußte und deshalb geistig nicht zurechnungsfähig gewesen sei. So werden ratio und irratio ständig um des Gutachters Gewissen wetteifern. Das Recht und die Psychiatrie werden fortfahren, Schuld und Schande zu teilen - bis einmal sowohl der Glaube an die Strafe wie ihre Notwendigkeit vergessen sein werden - in Utopia.

Im nächsten Kapitel werden wir sehen, daß die Institutionen der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit von psychologischen Problemen bedrängt werden, die denen gleichen, die unser Strafrecht so sehr in Unruhe versetzen. Auch in diesem Rechtsbereich finden wir ein "Schuld"-Recht, welches vorgibt, rationalen Zwecken wie Abschrekkung, Prävention und Reform zu dienen, während im Hintergrund der irrationale Wunsch nach Vergeltung verborgen bleibt. Aber dieses Recht der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit - obgleich älter als das Strafrecht - ist in geringerem Umfang durch primitive Triebe und Gefühle belastet. Hier können wir daher mit einiger Berechtigung hoffen, daß vorwiegend rationale Lösungen eher erreichbar sind. Auch ist das Schadensersatzrecht, obwohl es jener emotional bedingten Anziehungskraft entbehrt, welche die öffentliche Diskussion stets auf das Verbrechen und den Verbrecher lenkt, unserem täglichen Leben ungleich näher als die Gespenster des Henkers und Kerkermeisters. Ohne das Brandmal sozialer - dem Strafrecht immanenter - Verdammung reagiert das Schadensersatzrecht jeden Tag in vielen tausend Fällen auf übergriffe in geschützte Rechtsgüter der Personen- und Vermögenssphäre. Verletzungen im Straßenverkehr, durch schadhafte Produkte oder einen schlüpfrigen Gehsteg haben das Recht, wenn es auch immer noch behauptet, den Schadensersatz lediglich auf Schuld zu gründen, längst bewogen, risikenreiche aber gewinnbringende Unternehmen unabhängig von der Frage des Verschuldens in die Schadensersatzpflicht einzubeziehen. Gerade hier ist das Recht uns am nächsten. Gerade hier hat sich die Gesellschaft in psychologischer Reifung am weitesten von ziel- und grenzloser Rache entfernt, von dem Aug für Aug, dem Zahn für Zahn ihres Beginns. Durch einen langen und schmerzhaften Prozeß haben wir gelernt, Gerechtheiten zu wägen, ohne freilich endgültige Lösungen zu finden. Dieser Entwicklungsgang hat aber, wie ich glaube, jetzt ein kritisches Stadium erreicht, in dem wir auf die Kenntnis psychologischer Zusammenhänge nicht mehr verzich-

Reform?

§204

295

ten können, wenn wir einen weiteren Fortschritt nicht ernstlich gefährden wollen. B. Gerechtheiten des Srhadensersatzrechtes: Unternehmenshaftung und Srhadensausgleich 1. Haftung für Verschulden: Nichtvernunft von Heute

a) Die Krise § 204. Vor vielen Jahren habe ich ein kleines Buch über unser Thema mit der Wiedergabe eines Streitfalles begonnen, der durch ein amerikanisches Gericht letzter Instanz entschieden wurdet. Die melancholische Botschaft dieses Falles gilt noch heute und hat sich in tausenden von ähnlichen anderen Fällen wiederholt. In einem gefrorenen Weiher ertranken vier Kinder, die damit beschäftigt waren, einem Drachen nachzujagen. Der Teich hatte sich aus Abwässern von angrenzenden Eisenbahngeleisen gebildet. Das Gericht fand, daß ein Vorarbeiter der Eisenbahngesellschaft den Unfall fahrlässig durch Nichtabdämmung des Wassers verursacht hatte. In dem Verfahren der Eltern gegen die Eisenbahn als die nach amerikanischem Recht verantwortliche Dienstgeberin des Vorarbeiters waren für die erkennenden Richter zwei Fragen von entscheidender Bedeutung, nämlich erstens, ob eine umsichtige Eisenbahn "dies unselige Ereignis hätte voraussehen können" und zweitens, ob eine Pflichtverletzung gegenüber den Kindern vorlag2 •

Dann besprach ich auch den Fall mit dem Eisenbahnzug, welcher, nachdem kurz vorher ein anderer Zug die Unfallstelle unbeschädigt passieren konnte, in einen Erdrutsch hineingefahren war, der wenige Minuten zuvor die Gleise verlegt hatte. Die aus Öl bestehende Fracht wurde durch den Aufprall entzündet und durch einen nahen, plötzlich angeschwollenen Bach mitgerissen. Etliche 100 Fuß von dem Unglücksort entfernt setzte das noch immer brennende Öl ein Haus in Brand. Die Jury entschied zugunsten der Eisenbahngesellschaft, da der Lokomotivführer den Brand des Hauses nicht voraussehen konnte!; bei nahezu gleicher Sachlage wurde aber in einem späteren Fall zugunsten des Klägers entschieden4 ! Wir wollen die Kasuistik mit der Geschichte eines Automobiles beschließen, welches infolge eines Zusammenstoßes in ein nahestehendes Gebäude prallte. Die Wucht des Anpralles lok1

I

Ehrenzweig, NegIigence.

Irwin Savings and Trust Co. v. Pa. R R, 37 A. 2d 432 (Pennsylvania

1944). a Hoag v. Lake Shore and M. S. R R, 27 Am. Rep. 653 (Pennsylvania 1877). f Kuhn v. Jewett, 32 N. J. Equ. (5 Stew.) 647 (New Jersey 1880).

296

4. Kap.

(B):

Schadenersatzrecht

§204

kerte einen Ziegel, der im Zuge der Freilegung des Fahrzeuges ausbrach und einen vorbeigehenden fußgänger tötete. Die zusammengestoßenen Autofahrer wurden zum Schadensersatz verurteilt - mit der Begründung, daß sie die Kette der Ereignisse hätten voraussehen könnens. So wird denn die Haftung eines Unternehmers stets, auch wenn man zu offenkundigen Fiktionen greifen muß, auf eine "Schuld" gegründet, die darin bestehen soll, daß er das schadenstiftende Ereignis habe voraussehen können und nicht vermieden habe. Obwohl eine solche Haftungsbegründung archaisch, wirklichkeitsfremd und irrational ist, bildet sie dennoch die ausschließliche Grundlage jener unzähligen Rechtsbelehrungen, die bei solchen Fällen in den Vereinigten Staaten tagtäglich an die Zivilgeschworenen ergehen. Und andere Rechtssysteme machen es mit der Hilfe oder besser gesagt dem Hemmschuh anscheinend verschiedener, im Grunde genommen jedoch ganz ähnlichen Konzeptionen kaum viel besser, obwohl sie des Schutzschildes und Alibis einer Laienrichterbank im Zivilprozeß meist entbehren6 • So stellt dieses tragische und lächerliche Spiel überall einen sehr wesentlichen Bestandteil schadensersatzrechtlicher Streitfälle dar. Dem auf der falschen Seite von einem Kraftfahrzeug Angefahrenem ist es natürlich gleichgültig, ob der Fahrer angetrunken war, ob er das Steuer in der "Agonie" eines drohenden Zusammenstoßes verrissen hatte, oder ob er infolge eines Herzinfarktes die Herrschaft über den Wagen verlor. Weder der Konsument verdorbener Büchsennahrung noch das Opfer von Fließbandoperationen in überfüllten Krankenhäusern sollte gezwungen werden, irgendeine kausale "Fahrlässigkeit" aufzuspüren oder zu konstruieren, derer sich irgendjemand, irgendwie, irgendwo und irgendwann einmal schuldig gemacht haben soll. Ebenso wenig sollten diese Unfallopfer wegen irgend eines geringfügigen bei der Massenproduktion moderner Unternehmungen unvermeidbaren mechanischen Versagens eine Million Dollar an Schadensersatz fordern dürfen. Das gesamte Recht der Betriebs- und Unternehmerhaftung steht in einer schweren Krise! Allein im Bereich der Autounfälle hat diese Krise ungeheuere Ausmaße erreicht. 1969 wurden bloß auf den Straßen der Vereinigten Staaten nicht weniger als 4.6 Millionen Personen verletzt, während 56000 Personen den Tod fanden1 • Um das hier geltende, dem gesunden Menschenverstand spottende SchadensersatzsyIn re Guardian Casualty Co., 2 N.Y.S.2d 232 (New York Appell. 1938). Siehe etwa Lawson 152-156; Ehrenzweig, Full Aid 12-13; Eike von Hippel 9-17; Tune, passim. Die Zivilistik bedient sich hier der Beweislastumkehr. Siehe auch unten Anm. 63. 1 Calabresi. Siehe auch dens., Accidents; Dollars, passim; Ison, passim. Für vergleichende europäiSche Statistiken siehe Eike von Hippell. 5

6

§ 205

Schuldhaftung

297

stem zu verbessern, muß vorerst die Frage geklärt werden, wie es zu seiner gegenwärtigen Krise kommen konnte. b) Wie es dazu kam (1) Die Erbsünde: Verschuldensprinzip

§ 205. Schadensersatzrecht als Strafrecht. Der Zweck jeder frühen Rechtsordnung bestand in dem Verlangen des Herrschers oder der Gemeinschaft, Selbsthilfe, Fehde und Rache durch autoritäre oder gemeinschaftliche Sanktion abzulösen8 • Dies wurde zum Teil dadurch erreicht, daß man dem Schadensstifter eine Geldbuße auferlegte, die in heutiger Terminologie gesprochen - eine teils strafrechtliche, teils zivilrechtliche war. Strafrechtlicher Natur war sie insofern, als sie von der Obrigkeit auferlegt wurde und ihr zumindest teilweise zufloß. Zivilrechtlich war die Buße insoweit als ihre Eintreibung vom Verletzten abhing und seiner Entschädigung diente. Von dieser Art waren die Bußen Hammurabis, der Angelsachsen und der Germanen, welche für die Verletzung von Personen oder Tieren auferlegt wurden, während sowohl die Sanktionen der 12 Tafe}n als auch die der Lex Aquilia die sich übrigens bis ins moderne Recht erhalten haben - rein zivilrechtlich waren'.

Uneinigkeit besteht unter den Historikern darüber, ob die frühesten Rechtsordnungen ihre Zwangsmaßnahmen lediglich vom Erfolg oder auch vom Verschulden des Schädigers abhängig machten10. Und die Psychologen sind sich darüber uneinig, ob bei dererlei Zwangsmaßnahmen der Wunsch nach Restitution dem Vergeltungsdrang voranging oder folgtell. Beide Streitfragen können wir hier dahingestellt sein lassen. Ebensowenig wollen wir uns um die Klärung der Frage bemühen, seit wann man von einem vom Strafrecht getrennten zivilrechtlichen Deliktsrecht sprechen kann. Die Trennungslinie wird hier gewöhnlich mit dem Auftauchen einer eigenen Kategorie zivilrechtlicher "Fahrlässigkeit"1! gezogen. Was in unserem gegenwärtigen Zusammenhang allein wichtig ist, ist die Tatsache, daß die zivilrechtliche Haftung, ob nun mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit verbunden oder von ihr getrennt, psychologisch betrachtet stets auf die bewußte oder 8 Siehe Holmes. Für eine geschichtliche Studie, siehe Jergensen, Decline; dens., Ersatz 194. Vgl. ferner Hübner 555-556; Kaser 124,191. • Siehe etwa Radin §§ 48, 49; Pugsley, passim; Kaser 195-196. 10 Vergleiche etwa Winfield, passim, mit Wigmore 475. Siehe auch oben § 190; ferner Marton 4; A. M. MUlner, Kap.!. über die spätere naturrechtliche Spaltung vgl. Jergensen, Ersatz 196. 11 Siehe etwa Flugel147; Klein und Riviere. IZ Siehe etwa Ehrenzweig, Negligence § 2; Fleming, Kap. 6.

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4. Kap. (B): Schadenersatzrecht

§ 206

unbewußte Annahme einer bewußt oder unbewußt "absichtlichen" Schadenszufügung gestützt wurde13 • Rational gesehen hätte das Recht der "unerlaubten Handlungen", nachdem es sich schließlich vom Strafrecht gelöst hatte, dieser Schuldvermutung leicht entraten können. Denn es war ja geradezu die raison d'etre, der eigentliche Zweck dieser Ablösung vom Strafrecht, ein Werkzeug zu schaffen, das Schaden ausgleichen konnte, ohne Unrecht zu bestrafen. Stattdessen aber bestand das Schadensersatzrecht auf seiner pönalen Funktion und hielt dabei sowohl an dem Erfordernis des Schuldvorwurfes als auch an seiner Vermutung fest. Es wird sich zeigen, daß diese irrationale Entwicklung als die Erbsünde des Schadensersatzrechts für seine Maladie und Malaise der Folgezeit verantwortlich ist. § 206. Schuldvermutung. Diese Vermutung haben wir schon etwas genauer im Strafrecht (§§ 190-193) kennengelernt. - Die fortgesetzte Abhängigkeit zivilrechtlicher Haftungsnormen vom Element des Verschuldens erscheint schon in ihrer Bezeichnung als Recht des "Unrechts" ("tort"), der "unerlaubten Handlungen" oder der Delikte. In diesem Zusammenhang mögen wir auch an die etymologische Verwandtschaft zwischen dem englischen "guilt" (Schuld) und "gold", und zwischen dem deutschen Geld und Vergeltung denken oder an den Gebrauch des deutschen Wortes "Schuld" sowohl für einen moralischen Vorwurf als auch für eine geldliche Verpflichtung14. Dem primitiven Menschen war nicht einmal die Natur schuldlos1s. Eines Gottes Blitz setzte sein Haus in Brand. Nicht nur das Tier, selbst das unbelebte Ding wurde für seine "Missetaten" bestraft (§ 190)1'. So stark ist das unbewußte Verlangen, hinter jeder Verursachung einen Wunsch und Willen zu entdecken, daß dem Schädiger selbst dann noch Verschulden unterstellt wurde, als man schon längst die Möglichkeit bloßen Zufalles erkannt und darum das Verschulden des Schädigers ausdrücklich zur Grundlage zivilrechtlicher Haftung gemacht hatte. Um der Haftung zu entgehen, mußte der Schädiger danach beweisen, daß er "völlig schuldlos" war; so etwa "wie wenn ein Dritter seine Hand geführt und damit geschlagen hätte"17. Ja, selbst heute noch wird die Verursachung eines Zufalles gelegentlich als ein Akt Gottes ("Act of God")18 bezeichnet. Es ist dieser animistische, irrationale Glaube in die Allgegenwart einer Schuld, den wir für manche Mißstände in unserem gegenwärtigen Recht der Unternehmungshaftung verantwortlich zu 13

14 15 18

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Siehe oben § 190. Siehe Wertham, passim. Siehe etwa Durkheim, Forms 287. Siehe oben § 190. Anm. 4-7. Weaver v. Ward (1616) Hob. 134, 80 Eng. Rep. 289. Siehe Eibl-Eibesjeld 42.

§ 207

Schuldhaftung

299

machen haben. Diese These soll noch weiter ausgeführt werden, um damit den Weg zu einer zweckmäßigen Reform bereiten zu helfen. Vorerst müssen wir aber jene Bereiche des Schadensersatzrechtes aus unserer Diskussion ausschalten, in denen, wohl wegen ihrer "moralischen" Färbung auf dieselbe Weise und aus den gleichen Gründen wie im Strafrecht, ein irrationales, retaliatorisches Erfordernis eines wirklichen oder vermuteten Verschuldens wahrscheinlich allen rationalen Bemühungen der Jurisprudenz trotzen wird und darf (§ 188). § 207. Sühne und Ersatz. Das Schadensersatzrecht erhebt überall den Anspruch, dem scheinbar nur-rationalen Wunsch nach Schadensausgleich entgegenzukommen. Aber sogar dieser Wunsch selbst ist teilweise auf dasselbe irrationale Bedürfnis nach aggressiver Genugtuung gegründet, wie das scheinbar nur-rationale Verlangen nach Bestrafung zum Zwecke der Abschreckung und Reform (§ 179). Ja, es existieren ganze Gruppen von schadensersatzrechtlichen Klagen, welche fast ausschließlich dem Vergeltungsbedürfnis des Klägers dienen. Gewiß, manche dieser Klagen wie etwa jene für Bruch des Eheversprechens oder Beraubung ehelicher Zuneigung werden wohl immer seltener18 • Aber andere ähnliche Klagen für absichtlich zugefügten Schaden, wie jene für Verleumdung, Ehrenbeleidigung oder tätliche Angriffe werden gewiß jede Reform überdauern. Hier wie überall im Schadensersatzrecht, ist natürlich der Wiedergutmachung zumindest dort nicht gedient, wo der Schädiger unbemittelt ist. Ein Schadensausgleich würde weit effektiver durch ein allgemeines staatliches System selbst beschränkter Entschädigungsleistungen sich'ergestellt werden20 • Im amerikanischen Recht könnte man den Geschädigten zumindest durch die allgemeine Einführung jenes dem Strafprozeß eingefügten "Adhäsionsverfahrens" helfen, das anderen Rechten selbstverständlich ist. Damit würde dem Kläger wenigstens die Länge, Kostspieligkeit und das Risiko eines Schadensersatzverfahrens vor dem Zivilrichter erspart bleiben 21 • Aber derartige rationale Maßnahmen im Bereich des Absichtsdeliktsrechts würden das bestehende irrationale Sühnebedürfnis kaum befriedigen. Diesem Bedürf18 Vgl. das österr. Strafrechtsänderungsgesetz 1971, das nunmehr die berühmt-berüchtigte Ehestörung des § 525 STG. straffrei stellte. - Siehe aber etwa noch Dube v. Rochette, 262 A. 2d 290 (New Hampshire 1970); Payne 8 J. Family L. 41 (1968). 20 Bezüglich der Entschädigung von Verbrechensopfern siehe unten Anm. 105. Das österr. Bundesministerium für soziale Verwaltung hat derzeit einen diesbezüglichen Gesetzesentwurf in Ausarbeitung. U Siehe etwa GTimaldi, passim; Jescheck, Entschädigung. Dieses Verfahren ist zumindest so alt wie der Urentwurf des ABGB, Teil IH, § 418. Siehe etwa §§ 365-379 der österr. StPO; für die DDR, Pompoes und Schindler, N. J. 26 (1972) 10.

800

4. Kap. (B): Schadenersatzrecht

§207

nis könnte nun freilich viel wirksamer durch strafrechtliche Sanktionen entsprochen werden, die sich nach dem Schuldgrade und nicht, wie Schadensersatz nachAem weitgehend zufälligen Ausmaß des Schadens richten. Dennoch wird wohl eine unbesiegbare irratio uns weiterhin zwingen, uns zumindest bei vorsätzlicher Schädigung mit dem Weiterbestehen gegenwärtiger Praktiken zufriedenzugeben. Ähnliche Folgerungen ergeben sich für den Bereich der "moralischen" Fahrlässigkeit. Das materiell begüterte Opfer eines sorglosen oder angetrunkenen Autofahrers könnte für unheilbare körperliche Schäden durch keine Zahlung, sei es auch einer noch so hoch bemessenen Summe Geldes, "Restitution" erhalten. Andererseits könnte der Erlag einer wie gering auch immer bemessenen Summe Geldes für den unbemittelten Schädiger eine arge Härte bedeuten. Dennoch wird der verletzte Millionär auf seinem Ersatzanspruch bestehen, um seinem Groll gegenüber dem Verletzer Luft zu machen, dem er unbewußt zumindest unbewußte Absicht zumutet (§ 192). Somit wird wohl das Verschuldensprinzip - zumindest in Fällen wirklicher oder zugesinnter "moralischer" Schuld - selbst im Bereiche tatsächlich unbeabsichtigter Unfallschäden seine dubiose Lebenskraft weiterhin beibehalten, obwohl das Strafrecht dem zugrundeliegenden Vergeltungswunsch soviel wirksamer und besser dienen könnte. Das Überleben dieses Prinzips mag nun allerdings dort weniger Schwierigkeiten bereiten, wo solche Unfallschäden nicht ausschließlich dem Deliktsrecht überlassen bleiben. So hat etwa in Skandinavien, in den Ländern des Commonwealth und im sozialistischen Rechtskreis das Institut der Sozialversicherung weitgehend die Funktion einer allgemeinen, wenn auch begrenzten Wiedergutmachung übernommen!!. Es hat so das Schadensersatzrecht jener Funktion enthoben, die in anderen Ländern zur nahezu unbegrenzten Erweiterung der Schuldhaftung geführt hat, und es andererseits dem zivilen Deliktsrecht ermöglicht, seine alte, ursprünglich vergeltende Aufgabe auf dem Gebiete moralischen Verschuldens wieder zu übernehmen!'. In den Vereinigten Staaten wird andererseits infolge mangelnden Sozialversicherungsschutzes die Fahrlässigkeitshaftung allenthalben leider noch immer dazu benötigt, um den Opfern moderner Technik wenigstens ein Minimum ihres Anspruches zu gewährleisten. Diese Fahrlässigkeitshaftung muß daher auch fürderhin selbst offenbar unschuldiges Verhalten mit einschließen, was mich dazu veranlaßt hat, sie, mit einem paradoxen 2! Siehe etwa Hazard 384-385; Fleming, Negligence 825-835. Für eine rechtsvergleichende Studie, siehe Stoll 6-19. Über die Probleme die bei konkurrierendem Schadenersatz auftreten, siehe Fleming, Collateral Source; Hellner, Damages; Eike von Hippel 35 ff. 23 Siehe etwa Fleming 836-846.

§208

Unternehmenshaftung

SOl

Namen für eine paradoxe Sache, als Haftung für "negligence without fault" ("schuldfreie Fahrlässigkeit")2' zu bezeichnen. So hat hier das Deliktsrecht seine Erbsünde, das Verschuldensprinzip für Aufgaben reinen Schadensausgleiches (§ 206) zu verwenden, noch dadurch weiter belastet, daß es den Verschuldensgrundsatz durch Einverleibung der Ahndung selbst unvermeidbarer Schadensverursachung verzerrt hat. Lediglich eine psychologisch-orientierte Untersuchung wird erklären können, warum sich dieses gewiß irrationale Hybrid gegenüber rationalen Reformbestrebungen so lange behaupten konnte. Dieser psychologischen Untersuchung soll ein kurzer geschichtlicher überblick vorangestellt werden. (2) Belastung der Erbsünde: Unternehmenshaftung

§ 208. Frühe Rationalisierung. In der Mitte des letzten Jahrhunderts wurde die Gesellschaft durch die industrielle Revolution plötzlich mit Schäden konfrontiert, welche durch gefährliche Unternehmungen unausweichbar verursacht wurden. Da dem Recht nicht Zeit blieb, sich dieser neuen Situation anzupassen, gelang es der Gesetzgebung nur in sehr wenigen Fällen, die nötigen Initiativen zu ergreifen. So blieb das deutsche Reichshaftpflichtgesetz von 1871 lange Zeit hindurch das einzige Gesetz, das bedingungslose Entschädigung von Unfallopfern vorsaht5 • Sonst und anderswo mußten sich die Gerichte mit dem überkommenen Instrumentarium des Deliktsrechts zufriedengeben und die Fahrlässigkeitsregel wurde und blieb so auch weiterhin das Hauptwerkzeug für die Verteilung unvermeidlicher Schäden. Rationalisierungsversuche für dieses gänzlich unzulängliche Verfahren blieben selten und erfolglos.

Als in Bayern zum ersten Mal eine Eisenbahngesellschaft auf Schadensersatz geklagt wurde, entschied das Gericht zu Gunsten des Klägers mit der Begründung, daß lIder Betrieb einer Eisenbahn notwendig eine culpose Handlungsweise voraussetzt"!'; und als der erste "reiche Strolch" sein Automobil auf eine amerikanische Straße setzte, wußte das Recht darauf keine andere Antwort, als ihn für seinen "Teufelswagen", der einem wilden Tier gleichzuhalten sei, verantwortlich zu machen27 • Der diesen Fällen zugrundeliegende Leitgedanke, daß bewußtes Ingangsetzen einer gefährlichen Tätigkeit selbst schon Fahrlässigkeit darstelle, hat sich bis in unsere heutigen Tage erhalten28 • U

15 IS !7

18

Ehrenzweig, Negligence; unten § 206. Gesetz vom 7. Juni 1871, RGBl. Nr. 25, § 4. Siehe allgemein Sieg. Siehe Esser, Grundlagen 15 (daraus zitiert). Lewis v. Amorous, 59 S.E. 338, 340 (Georgia 1907). Siehe Esser, Grundlagen 15 ff.; dagegen vgl. aber schon Randa 141.

4. Kap. (B): Schadenersatzrecht

302

§208

Wo Unternehmenshaftung so als Haftung für "moralische" Fahrlässigkeit gewertet wird, muß sie aber auch deren zweifelhaften Daseinsgrund teilen. - So hat etwa noch im Jahre 1898 ein englischer Richter versucht, die Verschuldenshaftung als ein Mittel der Abschreckung zu rechtfertigen29 • Man hat diesen Versuch mit Recht als eine Bemühung verurteilt, "den Anschein moderner Verfeinerung einem rohen Instinkt zu verleihen, der aber nichtsdestoweniger in allen Stufen der Gesellschaft eine der Hauptquellen meru:chlicher Handlung darsteIIt"so. Denn hier wie im Strafrecht und im Bereich vorsätzlicher Zivildelikte liegen dem Verschuldensprinzip nicht nur eine rationale Abschrekkungstheorie sondern auch irrationale Vergeltungsmotive zugrunde (§§ 206-207). Ein Warenhersteller wird heute in Amerika aufgrund dieses Prinzips gegenüber dem Letztverbraucher seiner schadhaften Ware für ersatzpflichtig erklärt. Dies kann aber gewiß nicht einfach damit begründet werden, daß damit sowohl der Beklagte als auch andere Warenproduzenten von gefährlichen Unternehmungen abgeschreckt werden. Denn derartige Unternehmungen werden von der Gesellschaft nicht nur nicht mißbilligt, sondern weitgehend gefördert. Noch kann man realistisch von der Auferlegung einer Produzentenhaftung eine gesteigerte Sorgfalt des Unternehmers erwarten. Denn der Unternehmer ist haftpflichtversichert, und selbst die Drohung einer höheren Versicherungsprämie wird ihn kaum je zu einer Änderung von Betriebsprozessen veranlassen, die ja in der Regel ohnehin derart geplant sind, daß sie Gefahren soweit wie irgend möglich in Grenzen halten31 • Wenn somit die Beschränkung der Unternehmenshaftung als Schuldhaftung rational nicht zur Gänze begründet werden kann, so trifft dies um so mehr zu für die Verneinung der Wiedergutmachung bei Fehlen eines Verschuldens. Gewiß, "im 19. Jahrhundert erschien es im Interesse des Wirtschaftsfortschritts wünschenswert, die Fürsorge für die zufälligen Opfer des Maschinenzeitalters dem Schutz des Unternehmens gegen die Kosten unvermeidlicher Unfälle unterzuordnen"32. Diese Unterordnung kann aber schwerlich durch das Argument gerechtfertigt werden, daß sie "schöpferische Initiative" und "kühnen UnternehmungsI1 Allen v. Flood [1898] A.C. 1, 131 (House of Lords, per Lord Herschell). Für ein interessantes Diktum siehe Lord Devlin, in Rooker v. Barnard [1964] A.C. 1129, 1227. 30 1 Street 478. Diese Rationalisierung hat natürlich durch die Ausbreitung der Haftpflichtversicherung viel an Bedeutung verloren; unten § 211. Allgemein siehe oben §§ 177, 181. 31 Siehe allgemein Ehrenzweig, Fun Aid 32-34. Vgl. etwa Fteming, Negligence 837-840. I!

Fteming 8.

§ 209

Unternehmenshaftung

808

geist" zu fördern geeignet seisa. Selbst jene Vorteile, die dem Unternehmen aus seiner Haftungsbeschränkung auf schuldhaft zugefügten Schaden erwachsen mögen, werden zum Teil zumindest durch die Möglichkeit von "strike suits" (Erpressungs klagen) zunichtegemacht, die jetzt für irgendein fingiertes Verschulden auf unbegrenzten Schadensersatz gerichtet werden können. Der schöpferische Chirurg wird in steigendem Maße abgeneigt sein, seinen Ruf und sein finanzielles Fortkommen aufs Spiel zu setzen, wenn er für jede Fehlleistung im Rahmen seiner von Teamwork und "Massenproduktion" weitgehend abhängigen Tätigkeit verantwortlich gemacht werden kann. Seine "schöpferische Initiative" würde unvergleichlich weniger beeinträchtigt, wenn sein Betrieb lediglich eine Erstversicherung seiner Patienten für eine zwar allgemeine aber beschränkte Schadenswiedergutmachung zu tragen hätte anstelle einer Drittversicherung mit zwar schuldbedingter aber unbeschränkter Haftungs•. Hier wie überall hat die Schuldregel sowohl den Schädiger als den Geschädigten im Stich gelassen. § 209. Das Paradox: "Schuldfreie Fahrlässigkeit". Dennoch ist eine grundlegende und umfassende Reform des Schadensersatzrechts in absehbarer Zukunft kaum zu erwarten. Denn sowohl Gerichte als auch Gesetzgeber verharren nach wie vor in der Begriffswelt des ominösen Fahrlässigkeitsdenkens, und zwar selbst dort, wo es offenbar wurde, daß sie schon längst auf einer "objektiven" Haftungsgrundlage operieren. Dieser Vorgang der "Objektivierung" der Haftung ist schon oft beschrieben worden. Schuld wird nunmehr a.usdrücklich vermutet und in Amerika heißt es in gewissen Fällen, die Verursachung allein "spreche für sich selbst" (res ipsa loquitur). Mag der vorgebliche "Übeltäter" in Wirklichkeit noch so unschuldig sein, sein Verhalten wird schon dann als schuldhaft erachtet, wenn sich ein "vernünftiger Mensch" (der "reasonable man") in der gleichen Situation vermutlicherweise anders verhalten hätte. Und unter dem Prinzip von respondeat superior wurde sogar das Verschulden eines Dritten zu einer gesonderten Haftungsgrundlage ausgebaut3'. Dieses Recht einer "verstümmelten", lediglich "gesetzlichen" oder "objektiven" Schuld läßt den "unreasonable man" denn "auf seine eigene Gefahr hin" handeins,. Europäische Theorien von "Adäquanz" und "Rechtswidrigkeitszusammenhang" sagen mit anderen Worten dasselbe. Dieser Objektivierungsprozeß war natürlich unentbehrlich, um die Verteilung unvermeidbarer, durch ein an sich rechtmäßiges Unterneh81

Pound, Service State.

Ehrenzweig, Hospital; ders., Ersatzrecht; und allgemein Roady Andersen (Hrsg). 35 Ehrenzweig, Negligence §§ 3, 4, 9, 17; Fleming, Kap. 17. se Holmes 51; Unger. 34

und

804

4. Kap. (B): Schadenersatzrecht

§ 209

menshandeln verursachter Schäden im Rahmen des Verschuldensprinzips wenigstens auf eine einigermaßen vertretbare Grundlage zu stellen. Aber es ist zu bedauern, daß diese Haftungsgrundlage auf moralisierenden (ermahnenden) Begriffen, welche stets ein Unwerturteil beinhalten und so tadelnswertes Verhalten unterstellen, gestützt werden mußte. Der sich daraus ergebende Haftungsbegriff der "Schuldfreien Fahrlässigkeit" hat arge Verwirrung gestiftet81 • Verwirrung. Die moralisierende Ausdrucksweise hat einerseits dazu beigetragen, den Fremdkörper der quasi-strafrechtlichen Institution einer pönalen Entschädigung des Unfallsopfers zu bewahren38 • Andererseits aber hat dieselbe Ausdrucksweise diejenigen Rechtsregeln, die sich zum Schutz des Unternehmers gegen wirtschaftlich unerträgliche Lasten als unumgänglich erwiesen haben, verzerrt und ihres ursprünglichen Sinngehaltes beraubt. Erinnern wir uns an die Doktrinen der Vorhersehbarkeit und Pflichtverletzung, deren Auswüchse schon früher veranschaulicht wurden (§ 204), oder an die anderen Rechtssystemen unbekannte amerikanische Regel, daß der Kläger seinen Anspruch dadurch zur Gänze verwirkt, daß ihm ein "mitwirkendes Verschulden" nachgewiesen wird". Eine solche "strafende" Anspruchsverwirkung ist mit einer gerechten und billigen Schadensverteilung nicht zu vereinbaren. Aber ebenso ungerecht erscheint es an die Stelle der Verwirkung die Gewährung des vollen Anspruchs zu setzen, nur weil dem Mitschädiger mit Erfolg vorgeworfen wird, daß er die "letzte sichere Chance" versäumt, eine "absolute nuisance" erzeugt oder sich eines "mutwilligen Verhaltens" schuldig gemacht habe40 • Das veraltete Haftungsrationale hat auch der Ablehnung jener Haftbarmachung von Kindern und unzurechnungsfähigen Personen, die bis auf frühes Naturrecht zurückgeht, neuen Impetus verliehen41 • Zugleich hat es durch die Zulassung von Rückgriff und Beitragsleistung zwischen Schadensersatzpflichtigen untereinander zu einer wirtschaftlich unverantwortlichen Neuverteilung von bereits verteilten Schäden geführt42 • Wenn

Oben Anm. 24. Siehe allgemein Prosser 9-14; Stoll, passim. av Butterfield v. Forrester (K.B. 1809) 11 East 60, 103 Eng. Rep. 926. Siehe allgemein Fleming 216. über die Verminderung des Schadenersatzes des mit-fahrlässigen Klägers in den Ländern des Civil Law, siehe Eike von HippeI65-71; zu ParallelIen im Common Law, Fleming 219-222. 40 über diese drei Theorien siehe etwa Davies v. Mann (Exch. 1842) 10 M & W 546, 152 Eng. Rep. 588; Beckwith v. Stratford, 29 A. 2d 775 (Connecticut 1942); Karanovich v. George, 34 A. 2d 523 (Pennsylvania 1943). 41 "Nec iniustum est imputare damni illationem etiam ei, qui casu damnum dedit." Thomasius I 7, § 46. Der österr. Urentwurf des ABGB leitete die Haftung der Geisteskranken und Kinder vom Recht der Selbsthilfe diesen gegenüber ab. Teil III § 456. 42 Siehe etwa Fleming James, Accident Liability 377; Fleming, Negligence 835-836. über neue Gesichtspunkte vgl. besonders Selb, passim. 37

38

§210

Unternehmenshaftung

805

einmal ein Schaden, der durch eine gefährliche Tätigkeit verursacht wurde, einem Unternehmen als geeignetem Verteilungsmedium auferlegt worden ist, dann ist es gewiß kaum zu rechtfertigen, wenn dieses Unternehmen mit viel Geld- und Zeitaufwand Rückgriff gegen ein anderes Medium nehmen darf43 • Schließlich hat die Fiktion, daß das Schadensersatzrecht in erster Linie Sanktion tadelnswerten Verhaltens bezwecke, die Grundlage für die Bemessung des Schadensersatzes nach Schuldgraden geliefert44 • So hat denn selbst ein auf eine fiktive "schuldfreie Fahrlässigkeit" gegründetes Haftungsregime weder dem Unternehmen noch seinem Opfer Genüge getan. Flickwerk hat kaum mehr geleistet als wirkliche Reformen zu verzögern. Die psychologischen Gründe für diese Verzögerung werden wir im Auge behalten müssen, wenn wir endlich an eine solche Reform herangehen. (3) Flickwerk

§ 210. Vermögen als Ersatzmaß. Was etwa für den armen Mann eine Katastrophe bedeuten könnte, mag für den Industriemagnaten eine Kleinigkeit darstellen. So könnte denn begriffsmäßig der zwischen gleichermaßen "unschuldigen" Beteiligten entstandene Schaden dadurch verringert werden, daß er nach deren Wohlstand verteilt wird. Ein derartiges Schadensersatzsystem ist aber offenbar undurchführbar. Es würde uns vor unübersteigbare Probleme der Beweisführung stellen und zudem die lebenswichtige Einrichtung der Versicherung außer acht lassen, welche sowohl dem Verletzten als auch dem Beschädiger zur Verfügung steht. Auch könnte ein solches System nur allzu leicht von einem mittellosen Opfer mißbraucht werden. Hauptsächlich aber würde es, wie schon Unger sagte, die irrationale Behandlung des unschuldigen Beschädigers fortsetzen, der nur darum herangezogen wird, weil er als irgendwie "weniger unschuldig" gilt als der Beschädigte. Daher ist es verständlich, daß der der Schadensverteilung nach Wohlstand zugrundeliegende Gedanke, obwohl er bereits im 18. Jahrhundert befürwortetU wurde, nur in vereinzelten Fällen und nur in wenigen Gesetzbüchern Eingang gefunden hat. Wir können hier die Bestimmungen des österreichischen und deutschen Rechtes erwähnen, welches die Haftung von Kindern und Unzurechnungsfähigen einem zum Teil wirtschaftlich bestimmten richterlichen Ermessen unterstellen". Weiterreichend sind die Gesetze einiger anderer Länder, wie etwa Argenti-

Siehe etwa Ehrenzweig, Full Aid 18-19. Siehe etwa Ehrenzweig, Negligence § 2. Vgl. auch Mayer-Maly, Culpa levissima. 45 Für das österr. Recht siehe etwa Zeiller § 179. Siehe auch Ehrenzweig, Schuldhaftung § 22; ders., Versicherung (mit Nachweisen). 41 Siehe österr. ABGB §§ 1306 a, 1310; Deutsches BGB § 829. Für einen Vorläufer siehe preußisches ALR §§ 41 ff. vgl. etwa Weyers 91-92. 41

U

ao Ehro...woia

806

4. Kap. (B): Schadenersatzrecht

§211

niens und der Niederlande47 wie auch, trotz des "kapitalistischen" Ursprungs dieses Gedankens, das Recht Sowjetrußlands48 • In den Vereinigten Staaten wird derselbe Gedanke sicher weitgehend in der tatsächlichen Bedachtnahme auf die relativen Vermögensverhältnisse der Parteien durch Gericht oder Jury verwirklicht. Seinen wichtigsten Ausdruck hat er aber in der Einrichtung der Haftpflichtversicherung gefunden, da diese im Ergebnis sowohl den Schädiger wie dem Geschädigten zugute kommt. § 211. Haftpflichtversicherung. Auf sich selbst gestellt hätte die Unternehmerhaftung für schuldfreie Fahrlässigkeit trotz aller ihrer richterlichen, gesetzlichen und vertraglichen Erweiterungen zumindest aus zwei Gründen versagen müssen. Einerseits hätte sie für sich allein die Schadloshaltung des durch einen zahlungsunfähigen Betrieb Geschädigten nicht gewährleisten können; andererseits hätte sie selbst sozial adäquate, ja von der Gesellschaft geförderte Betriebe mit einer potentiell katastrophalen Haftungsverpflichtung bedroht. So bot sich denn sowohl für das Unternehmen wie auch für dessen Opfer die Einrichtung der Haftpflichtversicherung als Heilmittel an. Da sie aber "in Sünde" gezeugt war, im Mißbrauch der Schuldhaftung für Nichtschuld, hat sie vom Beginn an "kongenitalen" Mängeln gelitten.

Die Haftpflichtversicherung schützt freilich nicht nur das "unschuldige" Unternehmen. Sie gestattet vielmehr auch potentiellen "Übeltätern", sich gegen die Folgen ihrer Fehlhandlungen zu versichern und zerstört so selbst rationale überreste des "admonitorischen", tadelnden Elementes des Verschuldensprinzips. Dies erklärt frühe Versuche, die Institution der Haftpflichtversicherung allgemein als rechtswidrig zu beseitigen4D • Solche Versuche aber mußten sehr bald dem dringenden Bedürfnis sowohl des Unternehmens als seiner Opfer weichen. War so die neue Institution einmal gesetzlich gebilligt, wurde sie zu einem integrierenden Bestandteil des Schadensersatzrechts. Ja, wenn auch einem allgemeinen Prinzip des "richesse oblige", der Zugrundelegung der Vermögensverhältnisse der Parteien, die Anerkennung versagt blieb (§ 210), so konnte es doch gelegentlich dazu kommen, daß ein "assurance oblige" die Grundlage von Schadensersatzansprüchen wurde. So haben in den Vereinigten Staaten manche Gerichte die Haftungsimmunität von Regierungsbetrieben oder gewissen Privatparteien dann 47 Niederländisches Zivilgesetzbuch §§ 1406, 1407 (Ermessen des Richters, den relativen Wohlstand der Parteien mitzuberücksichtigen); Argentinisches Zivilgesetzbuch Art. 1609, in der Fassung der Novelle vom 24. April 1968 (Ermessen der Richter, Schadenersatz nach Maßgabe der Mittel des Beklagten zu reduzieren). Siehe Dominguez Aguila; unten § 214. 48 Vgl. ZGB art. 450-453, 458. Dazu etwa Hazard 383-384. Für andere ähnliche Rechtsregeln, vgl. Ehrenzweig, Assurance Oblige 448. 4' Siehe Ehrenzweig, Negligence 43; McNeely, passim.

Haftpflichtversicherung

§ 211

807

als durch "Verzicht" beseitigt erklärt, wenn diese haftpflichtversichert waren50 • Es wäre daher kaum zu verwundern, wenn nun umgekehrt das V-ersäumnis, eine solche Versicherung einzugehen, zur Haftungsgrundlage würde51 • Zumindest kann es nur eine Frage der Zeit sein, ehe das lächerliche und oft geradezu gefährliche "Versteckspiel", das vor amerikanischen Gerichten noch immer den Beweis einer bestehenden Versicherung des Beklagten untersagt52 , beseitigt wird und endlich "direkte Klagen" des Opfers gegen den Versicherer d-es Beschädigers allgemein als selbstverständlich zugelassen werden 5!. Dennoch wird die Haftpflichtversicherung sowohl für die beiden Parteien als für das allgemeine Publikum immer unzureichend bleiben54 , da sie ja nichts anderes ist als ein Ausfluchtmittel, um manche der ärgsten Konsequenzen eines grundsätzlich ungeeigneten Verteilungssystems unvermeidlicher Schäden zu mildern. Denn auf der einen Seite bleibt der Unternehmer nach wie vor unkalkulierbaren, oft über die Versicherungssumme hinausgehenden Schadensersatzleistungen ausgesetzt; auf der anderen Seite aber bleibt sein Opfer sowohl gegenüber zahlungsschwachen Unternehmen als auch dann ohne Schutz, wenn es ihm nicht gelingt, eine wie auch inuner ausgreifend angelegte "Fahrlässigkeit" zu beweisen. Schließlich kann diese Versicherung überall dort, wo sie rechtswidriges Verhalten deckt, wie das in allen Ländern außerhalb der Sowjetunion geschieht55 , die öffentliche Sicherheit durch Ermutigung wirklich fahrlässigen Verhaltens gefährden. Die Zwangshaftpflichtversicherung hat nur die eine Lücke im Schutz des Opfers gefüllt, nämlich jene, die durch die Zahlungsunfähigkeit des Schädigers entsteht. Aber selbst diese paradoxe Neuerung war nichts als kümmerliches Flickw-erk am wankenden Gebäude unseres Deliktsrechts. Denn, während sie gleichzeitig auch dem Unternehmen eine ungerechte Bürde auferlegte (§ 212), ließ sie das Opfer in vielen kritischen Situationen ungeschützt. Die Entwicklung des Kraftfahrzeughaftpflichtrechtes, die wohl als Wegweiser für andere Bereiche der Betriebshaftung gelten kann, soll in der folgenden Analyse als wohl weitest bekanntes Beispiel di-enen. 60

61 52

Siehe Ehrenzweig, Assuranee Oblige 452-453. Siehe etwa Monk v. Warbey [1935] 1 K.B. 75; Ehrenzweig, Full Aid 17. EhTenzweig, Negligenee §§ 11, 19. Für Variationen im Commonwealth,

Fleming 275.

53 Siehe etwa EhTenzweig, Treatise § 202; deTs., Reeueil § 113; PfennigstoTf. Für weitere Nachweise im Bereich des Verkehrsschadensrechtes vgl. Män-

hardt; Weyers.

Siehe etwa Allen Smith, passim; Fleming 11-13. Siehe HazaTd 392; Fleming, Negligenee 824, 826. Vgl. aber Chr. SchToeder 55; Fleming, Criminal, in Beziehung zu Fire & All Risks Ins. v. Powell [1966] Vietoria Reports 513 (F.C.). 54

65

20-

308

4. Kap. (B): Schadenersatzrecht

§ 212

§ 212. HaftpftichtzwangsveTsicheTung. Im Jahre 1925 unternahm es die Gesetzgebung des Bundesstaates Massachusetts (im Einklang mit der internationalen Entwicklung) durch die Verpflichtung jedes Kraftfahrers, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen, eine Situation zu bereinigen, die selbst schon damals als unhaltbar erkannt worden war. Die Widerstände von Seiten der Versicherer gegen dieses angeblich "sozialistische" Experiment waren von Anfang an außerordentlich heftig und erfolgreich56 • Erst in den 6Der Jahren hat die sogenannte "Versicherungsindustrie" , die längst ihre sozialpolitische Aufgabe als die eines halb-öffentlichen Versorgungsbetriebes ("public utility") hätte anerkennen sollen, in ihrer Opposition ein wenig nachgelassen, wenn auch nur unter der Drohung noch größerer "Ubel"57. Im Jahre 1971 haben vier amerikanische Bundesstaaten - einschließlich des Staates New York - die obligatorische Haftpflichtversicherung eingeführt, welche in anderen Ländern schon längst als unabdingbares Minimum einer schadensersatzrechtlichen Reform behandelt worden war58 • Die meisten übrigen Staaten der Union fahren dagegen fort, sich mit irgendeiner Lesart der sogenannten Finance oder Safety Responsability Laws zu begnügen, die allen Autofahrern einen versicherungsfreien "Erstbiß" genehmigen58 • Die sogenannten Unsatisfied Judgment Funds sowie die Assigned Risk Plans sind auch nichts anderes als bloßes Flickwerk an einem hoffnungslos zerrissenen Rechtsgefüge 60 • Aber selbst die allgemeine Einführung einer Zwangsversicherung für Schuldhaftung wäre nur ein neuer Versuch symptomatischer Behandlung von Fällen, die der Heilung so dringend bedürfen. - Der ursprüngliche Zweck jeder Haftpflichtversicherung war es, die Last des versicherten Schädigers zu erleichtern. Aber dieser Zweck ist mit einem Rechtssatz unvereinbar, der den Kraftfahrer zwingt, sich dieser Erleichterung zu bedienen. Eine solche Zwangsnorm steht mit des Bürgers wirtschaftlicher Freiheit in einer freien Gesellschaft im Widerspruch und könnte daher nur als Schutzmaßnahme für Dritte gerecht58

Siehe allgemein Josephine King 1140-1147.

57 In den Vereinigten Staaten wurde diese Entwicklung -

abgesehen von ernsten finanziellen Sorgen - hauptsächlich durch das Unbehagen der "Versicherungsindustrie" gegenüber einer etwaigen bundesgesetzlichen Regelung genährt, seit in 1944 der Oberste Gerichtshof eine derartige Regelung auf Bundesebene für zulässig erachtete. United States v. South-Eastern Underwriters Ass'n, 322 U.S. 533 (1944). 58 Vgl. etwa Eike von Hippel 19-21; Sieg; Ussing; Weyers; JliJrgensen, Ersatz 196, 199, 205. 5V Siehe Ehrenzweig, Full Aid 13-14. Vgl. die Neigung mancher Richter, Hundehaftung (siehe z. B. ABGB § 1320) erst mit einem Frei- oder Erstbiß beginnen zu lassen. 80 Ders. 11-12.

§ 213

Haftpflichtversicherung

809

fertigt werden61 . Eine solche Rechtfertigung versagt a~r solange jene Dritten ungeschützt bleiben, die des Schutzes am meisten bedürfen, nämlich jene Verkehrsopfer, die dem versicherten Beklagten ein Verschulden nicht nachweisen können. Und dieser Mangel kann, wie gezeigt werden soll, auch nur teilweise dadurch beseitigt werden, daß man die Zwangshaftpflichtversicherung durch die Einführung einer Gefährdungshaftung ergänzt. § 213. Erfolgshaftung. Seit der Erlassung des österreichischen "Gesetzes über die Haftung für Schäden aus dem Betriebe von Kraftfahrzeugen" im Jahr 1908 haben auch andere Länder eine solche strikte Haftung für den Bereich der Autounfälle vorgesehen. Mexiko hat eine solche Haftung darüber hinaus sogar im Rahmen einer allgemeinen Betriebshaftung für "gefährliche Mechanismen und Substanzen (aparatos 0 substancias peligrosos per si mismos)"6! eingeführt. Anderswo, wie etwa in Frankreich, Deutschland, Japan, den skandinavischen Ländern und dem Commonwealth hat die Rechtsprechung der Gerichte zu ähnlichen Ergebnissen geführt8s . Auch in den Vereinigten Staaten behauptet man, daß die Gerichte zumindest in manchen von jenen Fällen, in denen Schäden unvermeidlich durch "abnormal gefährliche Tätigkeiten"64 verursacht werden, Erfolgshaftung auferlegen.

Aber selbst die Einführung solcher Haftungen ohne Verschulden reicht nicht an die Wurzel des Problems heran. Man muß auch in ihnen zum Teil noch einen Ausdruck jenes frühen Animismus sehen, der hinter jedem Kausalverlauf irgendein Verschulden vermutet. Wenn man den Schädiger wirklich für unschuldig ansieht, warum soll dann gerade er und nicht der Verletzte oder irgendeine gleichermaßen unschuldige dritte Partei den Schaden tragen? Was sich hierbei im Unterbewußtsein der Gesellschaft zuträgt, ist, daß paradoxerweise derjenige, der zugegebenermaßen "schuldlos" einen Schaden verursacht hat, doch noch als "weniger unschuldig" als der unschuldige Verletzte behandelt wird65 • Vielleicht verdankt der unglückliche Ausdruck "Quasi-Delikt" seine Existenz demselben Rationale oder richtiger "Irrationale" vermuSiehe etwa AUen Smith 667-68l. Mexikanisches Zivilgesetzbuch Art. 1913. Siehe Butte. 83 Oben Anm. 6. über die ambivalenten Entwicklungen im Commonwealth, siehe Fleming, Kap. 14. Aus der deutschen Judikatur, vgl. bezüglich des berühmten "Hühnerpestfalles" aus dem zahlreichen Schrifttum etwa Eckard Rehbinder. "Eine alte Methode, die vorwiegend von der Praxis als Kunstgriff heimlicher Gesetzesuntreue verwendet wird, stützt sich auf Vermutungen des Verschuldens." Wilburg. über die skandinavische Entwicklung vgl. Jergensen, Ersatz 197. " Restatement Second, Torts, Tent. Draft Nr. 10, § 520 (1964). 85 Unger 5. Siehe auch Ehrenzweig, Neglfgence § 13; dens., Schuldhaftung §§ 9, 27, 63, et passim; oben §§ 192-193. 81

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4. Kap. (B); Schadenersatzrecht

§ 214

teter Schuld, ebenso wie jener spätrömische Versuch, Gefährdungshaftung als Einstehen für "leichtestes Verschulden" (culpa levissima)66 zu verkleiden. An anderer Stelle habe ich diesen Gedanken in einer "Psychoanalyse der Fahrlässigkeit" näher ausgeführt87 . Eine Haftung für schuldlose Verursachung kann rational nur mit der Annahme begründet werden, daß der Schädiger leichter imstande ist, den Schaden zu verteilen als der Geschädigte. In der Tat wird manchmal eine derartige Schadensverteilung durch Preiserstellung oder häufiger durch Versicherung erfolgen. Soll diese Versicherung aber dem erwähnten Gedanken möglichst wirksam und billig entsprechen, muß sie als "Erstversicherung" geplant sein, die den Beschädigten selbst und nicht als Haftpflichtversicherung, die den Beschädiger versichert. Den allgemeinen Widerstand gegen eine derartige Planung trotz ihrer unmittelbar einleuchtenden Notwendigkeit, pflegt man auf die übermacht der sich gefährdet fühlenden Interessen zurückzuführen. Aber man wird wohl tiefer schürfen müssen und finden, daß hier, wie im Strafrecht, tiefenpsychologische Gründe die entscheidende Rolle spielen. 2. Schadensverteilung ohne Haftung: Vernunft von morgen

a) Widerstände gegen Reform

§ 2.14. Wann und wo immer die moderne Psychologie uns dazu drängt, alte Vorurteile zu überprüfen, stoßen wir auf erbitterten und offenbar irrationalen Widerstand68 . In einem berühmten Rechtsfall rechtfertigte Justice (später Chief Justice) Traynor des kalifornischen Obersten Gerichtshofs die Entschädigung einer Kellnerin für Verletzungen, die sie durch das Zersplittern einer Coca-Cola-Flasche erlitten hatte, damit, daß "das Risiko einer Verletzung durch den Warenhersteller versichert und somit als Betriebskosten auf die Allgemeinheit verteilt werden kann"88. Diese rationale Begründung, die mit der noch allgemein verbreiteten irrationalen Verschuldensregel aufgeräumt hätte, wurde von keinem geringeren als Roscoe Pound als "sozialistisch" und als "Variante eines marxistischen Axioms"7o auf das heftigste angegriffen. Auf ähnliche Weise lehnten in Deutschland bei Einsetzen des Industrie88 Siehe allgemein Ehrenzweig, Schuldhaftung 28, mit weiteren Hinweisen; Mayer-Maly, Culpa levissima. 87 EhTenzweig, Psychoanalysis; den., Psychoanalyse. Siehe auch oben § 206. 88 Siehe auch oben § 131. 88 Escola v. Coca-Cola Bottling Co., 150 P. 2d 436, 441 (CaIifomia 1946). Zum Problem der Produzentenhaftung generell etwa DiedeTichsen; Simitis, Gutachten; treffend Eckard RehbindeT, 212, 213. 70 Pound, Service State 981, 1050.

§ 214

Erstversicherung

811

zeitalters die Väter des neuen Zivilgesetzbuches einen Vorschlag ab, der auf ein Haftungssystem unter Zugrundelegung der jeweiligen Vermögenslage der Parteien (§ 210) abzielte. Man meinte, daß solche Vorschläge "den Boden des Rechts verlassen haben und sich auf einem Gebiete bewegen, auf dem nicht mehr die festen Begriffe des Rechtes, sondern die mehr oder minder wechselnden Grundsätze von Moral und Anstand ausschlaggebend seien"71. Für einen Autor war das Verschuldensprinzip gar "dem 19. Jahrhundert in Fleisch und Blut übergegangen"72, während ein anderer so weit ging, zu behaupten, daß dieses Prinzip "jedem entwickelten Recht eigen"73 sei. Allgemein bekannt ist schließlich auch Jherings berühmter Ausspruch, daß "nicht der Schaden, sondern die Schuld zum Schadensersatz verpflichtet ebenso wie nicht das Licht brennt, sondern der Sauerstoff der Luft"u. Auch in Frankreich pries man den Verschuldensgrundsatz als "das Echo menschlicher Freiheit", als "Triumph des Geistes über die Materie". Kein Wunder daher, daß sich dort fundamentalistische Advokaten dieses Grundsatzes fanden, die sich gegen jenes "Zeichen moralischer Dekadenz", jene "neue Moral" wandten, "welche Mitleid mit Gerechtigkeit zu verwechseln scheine"75. Die gleiche Einstellung konnten wir in der Schweiz beobachten, wo die Wiederbelebung der absoluten Haftung vor dem Inkrafttreten des schweizerischen Obligationsrechtes als "eine gefährliche Neuerung"76 abgelehnt wurde. Diese und ähnliche Ansichten werden noch immer zur Unterstützung politischer und ökonomischer Ziele oder einfach zur Verteidigung "wohlerworbener Rechte" vertreten. So erklärte noch im Jahre 1968 ein führendes Mitglied der amerikanischen "Versicherungsindustrie" allen Ernstes, daß "innerhalb der freien Gesellschaftsordnung, auf die wir so stolz sind", ein Aufgeben des Verschuldensgrundsatzes "die Würde des Menschen und die unparteiische Gerechtigkeit des Common Law untergraben würde"77. Kaum zu glauben ist es auch, daß ein anderes leitendes Mitglied jener Versicherungsindustrie, der für sich 71 Protokolle II 585. Vgl. Gierke 260, mit Motive 2, 734. Siehe auch oben § 210. Zur Entwicklungsgeschichte dieses "fatalen" Axioms in neuerer Zeit vgl. etwa Edlbacher 81 ff.; Esser, Grundfragen; ders., Zweispurigkeit; Rinck;

besonders auch Wilburg. 7Z 73

74 75

76

Mataja 13. Flesch 25. Jhering, Schuldmoment 40 (= Vermischte Schriften 199). Savatier 354, 327; Ripert 163, 182. Siehe auch ders. in Savatier S. VIII. Bluntschli 662, wenngleich besonders das Wirken Oftingers diesen

Schuldfetischismus allmählich auch in der Schweiz verblassen läßt. 77 Kuhn 19, 21. Siehe auch denselben, Protection 14: " ... der menschlichen Natur fremd, unvereinbar mit der Entwicklung des anglo-amerikanischen Rechtssystems, ein Fremdkörper in den traditionellen Wertanschauungen unserer Gesellschaft."

312

4. Kap. (B): Schadenersatzrecht

§214

in Anspruch nahm, "sicherlich mit mehr luftfahrtrechtlichen Schadensersatzstreitigkeiten als irgendjemand anderer in der westlichen Hemisphäre befaßt gewesen zu sein", frank und frei behaupten konnte, daß bei derartigen Haftungsfällen die Einführung der Gefährdungshaftung "sozialistische Vorstellungen Europas nachäffen würde, Vorstellungen, deren reaktionärer ,Liberalismus' schließlich die Welt an den Rand des Abgrundes geführt hat"78. Die Ironie der Geschichte brachte es allerdings mit sich, daß "sozialistische" Reformer, welche die Erfolgshaftung ursprünglich als Errungenschaft des Sozialismus gepriesen hatten78 , nunmehr in gleicher Weise darauf bestehen, das Verschuldensprinzip als "moralischen" Schutzwall gegen die "kapitalistische" Erfolgshaftung zu verteidigen8o • So sind es denn, außer erschreckender Ignoranz und parteigängerischen Interessen, hauptsächlich politische Argumente, die für die Mißstände in den Ländern beider Rechtskreise verantwortlich gemacht werden müssen. Aber darüber hinaus mag es für die Heftigkeit und Beharrlichkeit, mit der das geltende System verteidigt wird, auch tiefere psychologische Erklärungen geben. So mag die Verschuldensregel dazu beitragen, jene Schuldgefüäle der Gesellschaft, welche mit jeder Zwangsmaßnahme einhergehen, zu erleichtern (§§ 185-187). Und vielleicht spielt hier außerdem ein noch subtilerer, wenn auch seltsam erscheinender Mechanismus eine gewisse Rolle. Die Psychoanalyse hat gezeigt, wie scheinbar besorgte Eltern in einem masochistischen Mechanismus der Selbstpeinigung unbewußt auf die Verwahrlosung ihrer Kinder geradezu hinarbeiten81 • Diesem Vorgang ähnlich mag auch die Gesellschaft "ihre" Zivilbeklagten benötigen wie "ihre" Verbrecher82 • Wenige unter uns werden die unheilvollen und eindeutig irrationalen Ergebnisse der Entwicklung in dem hier besprochenen Bereich des Schadensersatzrechtes leugnen wollen. Ist es dann so weit hergeholt, aus der Duldung - geschweige denn der aktiven Befürwortung - des "Verschuldenschaos" eine Tendenz der unbewußten Selbstbestrafung abzuleiten, die ja durchaus imstande ist, jene Autorität zu untergraben, auf der alles Recht beruht? Man hat gesagt, "Tradition sei genauso neurotisch wie ein Patient"83. Eine gesündere Gesellschaft wird das Verschuldensprinzip durch ein anderes zu ersetzen haben, das, weniger 78 OrT 56. 7. Siehe etwa Tay, Principles; Hazard 382-384; allgemein Weyers II 40. 80 Siehe etwa Hazard 385-392; Apostolov; Eörsi; Fleming, Negligence 825-830. Zur sogenannten materiellen Verantwortlichkeit vgl. BTatus 338,

und etwa auch Horsters, passim. 81 Siehe EissleT 288. 8! Dieser Gedanke erscheint eindrucksvoll schon im Titel von Reiwalds großem, vergessenen Werk. 83

Benedict 282.

§215

Erstversicherung

SIS

mit pseudomoralischen überlegungen belastet, rationalen Erfordernissen genügen kann. An anderer Stelle habe ich ein System der "loss insurance" (Schadenserstversicherung) angeregt, das, wie ich meine, einem solchen Bedürfnis entsprechen könnte (§ 215). Ja, es scheint, daß die Siebzigerjahre unseres Jahrhunderts eine Verwirklichung solcher Schemata bringen könnten, gewiß hauptsächlich aus rein wirtschaftlicher Notwendigkeit, aber - vielleicht auch, weil der Vater müde geworden ist, sich selbst zu strafen. b) Allgemeine Schadenserstversicherung?

§ 215. Die folgende Diskussion wird sich auf Personenschäden beschränken, da diese ja in erster Linie die hier besprochenen virulenten rechtlichen, philosophischen und wirtschaftlichen Probleme aufwerfen8'. Ein völlig rationales Schema für die Verteilung der durch die unvermeidlichen Gefahren moderner Technik verursachten Personenschäden müßte von folgenden Grundsätzen bestimmt werden: (1) Alle Deliktsklagen, sei es nun, daß diese auf Verschulden oder bloße Verursachung begründet werden, wären abzuschaffen. (2) Jedes Unternehmen hätte jeden Dritten gegen jeden durch den Betrieb entstehenden Schaden zu versichern. (3) Die Schadensersatzbeträge wären durch Gesetzgebung festzusetzen und schiedsgerichtlichem Zuspruch zu unterwerfen. (4) Diese Beträge hätten, möglicherweise unter Ausschluß von Schmerzensgeld, die Mindestbedürfnisse des Schadensopfers und seiner Familie zu befriedigen, wobei darüber hinausgehender Schutz der freiwilligen Selbstversicherung des potentiellen Unfallopfers überlassen bliebe. (5) Ein derartiges Haftungssystem hätte mit Transportschäden den Anfang zu machen (Kraftfahrzeuge, Luftverkehr, Eisenbahn), wobei die nächste Etappe den Ersatz derjenigen Schäden zu erfassen hätte, welche durch Massenproduktion, Spitalbetrieb, professionelle Fehlhandlungen oder Verbrechen entstehen. Am Ende der Entwicklung stände der Ersatz aller wie immer gearteten Schäden betrieblichen Ursprungs. Kein bestehendes oder zur Diskussion gestelltes Haftungsschema hat bisher versucht, der Gesamtheit dieses Reformkataloges zu genügen. Außer psychologischen Widerstandsquellen (§ 214) folgt diese Zurückhaltung wohl allen oder einigen der folgenden, mehr oder weniger überzeugenden Gegenargumenten: (1) "Deliktsklagen sind unerläßlich, um die öffentliche Sicherheit zu fördern und über den Normalersatz N Aus der rasch anwachsenden Literatur, siehe etwa Fteming 278-279; dens., Liability; Tune, Limitation; Eike von Hippet §§ 27, 28; Atiyah; Calabresi; Elliott und Street. Siehe auch Ehrenzweig, Ersatzrecht-Versicherung; FTiedmann, Principtes; Pieard; Weyer8.

814

4. Kap. (B): Schadenersatzrecht

§ 216

hinausgehende Entschädigungen zu ermöglichen85." (2) "Jede Zwangsversicherung widerspricht einer freien Gesellschaftsordnung und fördert staatliche Einmischung88 ." 3) "Ein zwingendes schiedsgerichtliches Verfahren beseitigt das ordentliche Verfahren und ist darum undemokratisch, in den Vereinigten Staaten sogar verfassungswidrig" (§ 225). (4) "Vorher festgesetzte Beträge garantieren niemals jenen vollen Ersatz, zu dem der Beschädigte berechtigt ist, da er immer ,noch unschuldiger' ist als selbst der unschuldigste Schädiger87 ." (5) "Jede Auswahl einzelner Betriebsschäden für ein neues System ist notwendig willkürlich, weil sie andere Arten gleichermaßen schädlicher Unfälle vernachlässigen würde" (das sogenannte Badewannenargument)88; während der Einschluß aller solcher Unfälle "sozialistisch" oder zumindest protektionistisch wäre s9 • Seien nun diese Argumente rational oder irrational, richtig oder falsch, sie kehren immer wieder90 und haben bisher alle Reformvorschläge mit Einschluß meiner eigenen auf Teillösungen beschränkt91 • c) Teillösungen

§ 216. Auf eInIgen Gebieten ist das Deliktsrecht schon lange einer verschuldensunabhängigen Erstversicherung gewichen. So verliert nach vielen Gesetzen ein verletzter Arbeitnehmer seinen Deliktsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber, wenn seine Schadloshaltung durch ATbeitersoziaZversicherung ("workmen's compensation") gewährleistet ist'2. Ferner haben die Beweis- und Rechtsprobleme, welche immer wieder bei der Feststellung von Verschulden und Verursachung nach FZugabstÜTzen aufgeworfen werden, manche Gesetzgeber dazu veranlaßt, auch für diesen Bereich ähnliche Mechanismen zu entwiclreln. So haben

Siehe etwa Keeton, Kap. 8; Keeton und O'ConneH 17; Cramton. VgI. Keeton und O'Connell, Kap. 9. 87 Oben Anm. 65. 88 Siehe etwa Ison. Bezüglich der Probleme bei mehrfachem Schadenersatz, siehe oben Anm. 23. 88 Oben Anm. 70--80. 80 Siehe etwa Blum und Kalven, passim. U Siehe etwa Roakes; John Frank 80-84; Ussing; oben §§ 216,217. VI Ähnlich anderen Eingriffen in das vergeltende Schadenersatzsystem, mußte sich diese Neuerung anfänglich mit heftigsten Widerständen auseinandersetzen. Siehe etwa Ives v. South Buffalo Ry., 92 N.E. 431, 440 (New York 1911), wo eine derartige Gesetzgebung für verfassungswidrig erklärt wurde, "weil sie in offenem Gegensatz zum System unseres Rechtsdenkens stehe". Siehe allgemein etwa Eike von Hippel § 8; Fleming 276-277. Dieser Widerstand mußte natürlich angesichts der wirtschaftlichen Notwendigkeiten bald zusammenbrechen. Dennoch können wir nicht mit Sicherheit auf einen ähnlichen Entwicklungsgang für andere Bereiche des Schadenersatzrechtes rechnen. Denn Dienstnehmerschadenersatzansprüche müssen vielleicht von anderen Schadenersatzansprüchen dadurch unterschieden werden, daß sie gewissermaßen "in der Familie" bleiben. 85 81

§217

Erstversicherung

815

sowohl das Lufthaftungsabkommen von 1933 und 1952 betreffend durch Flugzeuge am Boden verursachter Schäden, als auch das Warschauer Abkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr von 1929 (mit den Zusatzabkommen von Montreal 1966 und Guatemala 1971) bezüglich Verletzungen von Passagieren internationaler Flüge, eine begrenzte Gefährdungshaftung vorgesehen. Zahlreiche Staaten haben sich im Laufe der Zeit für inländische Unfälle diesen Regeln angepaßt93 • Noch bedeutsamer als Pionier künftiger Entwicklung ist die Bestimmung des deutschen Luftverkehrsgesetzes (in der Fassung von 1943), die den Beförderer verpflichtet, seine Passagiere gegen Unfälle zu versichern, ihn aber von seiner Schadenersatzpflicht befreit. Ähnliche Bestimmungen sind seit dem Jahre 1932 in den Standardverträgen der deutschen Spediteure bezüglich jener Schäden vorgesehen, die Güter in transitu erleiden94 • Dabei bleiben aber die Kraftfahrzeuge mit ihrem erschreckenden, alljährlich von einer rastlosen und fortschrittshungrigen Welt abgeforderten Tribut noch immer der entscheidende Kampfgrund rechtlicher überlegungen und Auseinandersetzungen (§ 217). Unter den wenigen staatlichen Erstversicherungsplänen95 seien das ursprünglicl:1 aus dem Jahre 1946 stammende Automobilversicherungsgesetz von Saskatchewan von 1964 und der ähnlich gestaltete "Sozialschutzplan" Puerto Rieos aus dem Jahre 1969 erwähnt, die in ihren Grundzügen auf den sogenannten Columbia Plan von 1932 zurückgehen und im Begriff sind, Nachfolger in einer rasch wechselnden Zahl von Einzelstaaten zu finden'tI. d) Rejortnvorschläge

§ 217. Die Bewegung zur Erstversicherung befindet sich in vielen Ländern in vollem Schwunge, stößt aber aus den von Amerika berichteten ähnlichen Gründen auf nachhaltigen Widerstand. Die skandinavischen Länder, Frankreich und Neuseeland stehen oder standen an der Frontlinie von Fortschritt und Niederlage, während Deutschland sich mühsam und schrittweise vorangetastet hat97 • Wird Kanada, wird New York erfolgreicher sein'S? Siehe Fleming 277-278. Siehe Ehrenzweig, Full Aid 25-29. 85 über die finnischen, norwegischen und polnischen Gesetze siehe etwa Eike von Hippel 57-60; Güllemann, passim. 88 Siehe etwa Keeton und O'Connell 140-145. Bezüglich des (aufgegebenen) kalifomischen Planes, siehe dies. 148-150; bezüglich Ontario (unten Anm. 98), dies. 152-159; über Leon Green's Vorschläge, dies. 159-165; über Ehrenzweigs "Full Aid", dies. 165-180; bezüglich Morris und Paul, dies. 180-189; bezüglich anderer Länder, dies. 189-219; allgemein vergleichend auch Güllemann; Weyers. 97 Siehe etwa Tune; deTS., France; GUllemann, Z. Rvgl. 72 (1971) 207, 217 bis 224; Hellner; ders., Tort; Fleming, Kap. 13; Szakats; Zweigert und Kötz 98 U

816

4. Kap. (B): Schadenersatzrecht

§ 217

In den Vereinigten Staaten war vielleicht der wichtigste Vorläufer der Reform jene Klausel in Haftpflichtversicherungsverträgen, unter welcher sich der Versicherer dazu verpflichtet, bestimmte Ersatzbeträge ohne Verschuldensermittlung unmittelbar an das Schadens opfer auszuzahlen. Nach dem Muster dieser ursprünglich sogenannten "Erst-Hilfeklausel" habe ich 1954 meinen "Voll-Hilfe"-Plan unterbreitet, welcher darauf abzielte, die erwähnte Klausel unter Ausschluß etwaiger Deliktsklagen auf den Ersatz des gesamten Schadens auszudehnent9 • Im darauffolgenden Jahr hat dann Feldman100 diesen Plan in das beinahe ebenso beunruhigte und mittlerweile in aller Welt rapide an Bedeutung gewinnende Gebiet der "Produzentenhaftung" übertragen101 • 1962 wurde von Sand eine verwandte Lösung für das Luftfahrrecht vorgeschlagen, in dessen Bereich das Ungenügen herkömmlicher Schadenersatzpraktiken wohl am deutlichsten ist'°2. Von Deutschland her können wir überdies Schulunfälle auf die Liste der Reformvorschläge setzen103 ; ich selbst habe darüber hinaus vorgeschlagen, daß die gleichen Grundsätze auch gegenüber der anwachsenden Krisensituation befolgt werden, welche in Amerika durch Monsterklagen gegenüber Spitälern und Ärzten wegen angeblicher Kunstfehler entstanden ist t04 • Schließlich ist die Schadloshaltung der Opfer von Verbrechen im Begriff, solchen Ersatzsystemen angeschlossen zu werdentOI • Ja, es scheint die Tendenz zu bestehen, selbst eine "Generalklausel" für eine absolute Unternehmerhaftung und -versicherung zu befürworten10e• Vorläufig aber bleibt das Kraftverkehrsrecht nach wie vor im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses t07 • Für die Vereinigten Staaten ist besonders bedeutsam der Basic Protection Plan von Keaton und O'Connell, die das Problem dadurch 376-384; Eike von Hippel, passim; Von Caemmerer; EhTenzweig, Japan. Siehe auch Yadin, Israel. Für Italien, siehe Castellano, Assicurazioni 38 (197l) 349. 98 Linden, passim; ders., Ontario. Siehe auch über andere kanadische Vorhaben, etwa New York Report 28; Linden, Studies. über das New York Projekt siehe Symposium, 7l Columbia L. Rev. 189-273 (1971). Für das sozialistische Tanzania vgl. Kanywawyi, 4 East. Afr. L. Rev. 35 (1971). 88 Ehrenzweig, Full Aid, passim. vgl. auch Weyers 202, 273. 100 Feldman, passim. Siehe auch Fleming, Insurance 193-196; McKean; auch etwa Gustavo Ghidini. lot Siehe etwa Kessler, Products Liability. Siehe auch W. Lorenz (rechts-

vergleichend).

Sand 43--51. Siehe Kötz. Vgl. allg. Weyers II. 104 Ehrenzweig, Hospital. 105 Siehe etwa Eremko; Symposium, Compensation; Hurwitz. 108 Kötz, Haftung 41. über den gleichgerichteten neuseeländischen "Woodhouse Report", siehe etwa Mathieson, 18 ICLQ 191 (1968). In Neuseeland ist 1972 ein auf diesen Report gegründetes Gesetz in Kraft getreten. 107 Siehe etwa Conard; Shapo, Frontiers; oben Anm. 97, 98. 101

103

Erstversicherung

§217

817

zu lösen trachten, daß "erstens bis zu einer angemessenen Höchstgrenze Schadensersatz ohne Rücksichtnahme auf etwaiges Verschulden gezahlt wird, zweitens kleinere, auf Fahrlässigkeit gestützte Schadensersatzansprüche wegen Verkehrsunfallschäden ausgeschlossen bleiben"lo8. Dieser Plan hat, obwohl er von allen Seiten heftigst angegriffen wurde, die "Versicherungsindustrie" schließlich veranlaßt, eigene Schadensverteilungssysteme zu entwickeln. So entstand etwa das "Guaranteed Benefits Experiment" vom März 1968, welches im wesentlichen an die Gedanken anknüpft, welche ich in meiner "Voll-Hilfe"-Versicherung von 1954 ausgearbeitet hatte; der "Stop-Gap-Plan" von Blum und Kalven, die eine zusätzliche "schuldfreie Schadens deckung" aus Steuermitteln vorsahen; und schließlich der obligatorische "Complete Personal Protection Automobile Insurance Plan" (Automobil-Vollversicherung zur Abdeckung von Personenschäden) vom Oktober 1968, der zum ersten Male das Verschuldensprinzip gänzlich über Bord werfen würde t09 • Trotz dieses anscheinend fortdauernden Interesses an einer echten Reform, besteht zumindest für die nahe Zukunft wenig Aussicht auf einen grundlegenden Wandel. Dies ist um so befremdlicher als wachsende übereinstimmung darüber besteht, daß die durch den Verschuldensgrundsatz geschaffenen übel weit über das vom Verkehrsopfer selbst erlittene Unrecht hinausgehen. Denn dieser Grundsatz ist im Begriff, die wachsende Mißachtung gegenüber dem amerikanischen Justizapparat ernsthaft zu verschlimmern. Ist doch die Anwendung dieses Grundsatzes geeignet, abwegige Praktiken in der Beeinflussung von Zeugen und Laienrichtern zu fördern und durch "fast lächerlich falsche" Tatsachenfeststellungen110 Gerichtsverhandlungen zu Glücksspielen zu pervertieren. Außerdem hindert die Schwerfälligkeit und Langwierigkeit des auf diesem Grundsatz aufgebauten Verfahrens den Richterstand, sich anderen wichtigeren Aufgaben zu widmen. Wenn wir die Streitparteien zwingen, in "Fahrlässigkeitsfällen", welche ja in Wirklichkeit zumeist nichts anderes sind als unvermeidbare Begebenheiten unserer gefahrvollen Umwelt, Schuld und Unschuld zu beweisen oder zu verneinen, dulden und befördern wir nicht nur die Ablegung von Meineiden, sondern beobachten ein Verfahren, welches kaum höher zu bewerten ist, als Prozesse, die durch Zweikampf oder Wasser- und Feuerprobe entschieden wurden! Dennoch wird uns die Einsicht in diese Mißstände allein nicht gestatten, sie durch ein bloßes Fiat zu beseitigen. Es ist einer der Leitgedanken dieses Buches, daß dort, wo Zentralfiguren unseres Rechts auf tiefverwurzelten irrationalen Anfängen gegründet sind, Re108 109 110

und O'Connell 408. Siehe allgemein Josephine King 1152-1164.

Keeton

Prosser 580.

4. Kap. (B): Schadenersatzrecht

818

§ 218

formen in der Regel nur durch Kompromisse zu erreichen sind. Wenn wir versuchen wollen, einem irrationalen Veto gegenüber allen Reformen zu begegnen, müssen wir uns daher damit bescheiden, das Wirkungsgebiet rationalen Denkens dadurch zu erweitern, daß wir zunächst jene Problemkreise zu erfassen suchen, in denen aus psychologischen Gründen auf die irrationalen Wünsche nach wie vor mit ebenso irrationalen Mitteln Bedacht genommen werden muß. e) Notwendiger Kompromiß

§ 218. Wir mußten feststellen, daß die Widerstände gegen die Beseitigung des Verschuldensprinzips groß, verschiedenartig und emotionsbeladen sind. Abgesehen von nur allzu rational bedingten Interessen und rein politischen Ambitionen ist dieser Widerstand wohl hauptsächlich dem Umstand zuzuschreiben, daß alle bestehenden und zur Diskussion gestellten Reformkonzepte es versäumen, zwischen durch (wie ich es nannte) schuldfreie Fahrlässigkeit verursachten Unternehmensunfällen und jenen zahlenmäßig viel selteneren Verletzungen zu unterscheiden, welche durch moralisch verwerfliches Verhalten wie etwa durch Trunkenheit am Steuer oder durch eine leichtsinnige chirurgische Behandlung entstanden sind111 • Hinsichtlich der "reinen" Unfälle würde eine rational begriffene Reform, welche das Verschuldensdogma mit allen seinen Konsequenzen beseitigt, wohl kaum auf nennenswerten Widerstand stoßen. In diesen Fällen wäre nämlich das Opfer, welches hier über seine Verletzung weniger Groll verspürt, mit einer begrenzten Schadloshaltung, falls sie freiwillig, schnell und auf ökonomischste Weise erfolgt, zumeist zufrieden. Und der beklagte Unternehmer wäre meist bereit, für eine begrenzte Schadenshaftung des in der Regel recht zweifelhaften Schutzes der Verschuldensregel zu entraten. Denn er würde so instandgesetzt, Preiserstellung und Versicherungsprogramm aufgrund von Unfallstatistiken zu kalkulieren, ohne kostspielige, langwierige und in ihrem Ausgang ungewisse Erpressungsklagen in Betracht ziehen und finanzieren zu müssen. Ja, so würde es ihm möglich gemacht, vernünftig zu entscheiden, ob er "sich mit einer gewissen Tätigkeit überhaupt befassen will oder nicht"11!. Aber eine derartige Reform wäre, wie gesagt, nur dann möglich und erfolgreich, wenn sie sämtliche, durch "echt" moralisches Verschulden entstehenden Schadensfälle von ihrem Grundkonzept ausschlösse. Denn solche Fälle müssen wir, ob wir wollen oder nicht, nach wie vor aus psychologischen Gründen dem die Deliktsklage fordernden Vergeltungsdrang des Unfallopfers überlassen1l3 ; und zwar aus dem gleichen Grund, 111 Siehe etwa FLeming, Negligence 840-845; oben §§ 205-207. Für beginnende Unterscheidungen in diesem Bereich, siehe Eike von Hippet.

111

HeZLner 173.

§ 218

Erstversicherung

819

aus dem eine Reform des Strafrechts nur dann Erfolg haben kann, wenn sie die Rationalisierung und teilweise Abschaffung der Strafe auf postödipale übertretungen beschränkt und ödipale Delikte ihrem unabänderlich irrationalen, vergeltungsbestimmten Schicksal überläßt (§ 188). Freilich würde die vorgeschlagene Beibehaltung der Deliktsklagen für Schadensfälle moralisch gefärbter Schuld zu einer Diskriminierung zwischen den Opfern solcher Schadensfälle und jenen moralisch schuldfreier Unfälle führen. Diese unvermeidliche Diskriminierung könnte aber durch die in Skandinavien vorgeschlagene Einführung von sogenannten Deliktsbußen ("tort fines") zumindest gemildert werden114 • Danach würde es dem Opfer moralisch vorwerfbaren Verschuldens weiterhin möglich sein, seinem Vergeltungswunsch durch Einbringung einer Deliktsklage zu genügen. Der Kläger würde aber als bloßer "lnformer" auf einen Anteil am Ersatzbetrage beschränkt, während der Hauptteil einem Fond der Risikogemeinschaft zugunsten jener zuflösse, die sonst durch Fahrerflucht oder mangelnde Versicherungs deckung des Beschädigers ihrer gesetzlichen Ersatzanspruche beraubt wären. Das polnische Recht hat tatsächlich in diesem Sinne für gewisse Delikte eine Zahlung an das Rote Kreuz vorgesehen115 • Ein solches - wenn auch noch so beschränktes - Sicherheitsventil für die Befriedigung irrationaler Bedürfnisse würde es vielleicht leichter machen, rationalen Versuchen einer gerechten Verteilung der durch moderne Technologie unvermeidbar verursachten Schäden zum Erfolge verhelfen.

113 Es wird aber kaum angehen, diesen Vergeltungs effekt auf die Zessionsansprüche (der Versicherer gegen den Beschädiger) zu beschränken. Eike 'Von Rippel § 17. Vgl. allg. Werber. 114 Von Eyben 129; Kruse, Erstatningsretten § 12; ders., Samspillet 520 bis 52l. Siehe auch Stall 13-16; Keeton und O'Connell 169-170, 178-179. Dieses Prinzip wurde, soweit ich es überblicken kann, das erste Mal in dem New York Report (94, Anm. 156) gutgeheißen. Bezüglich Skandinavien siehe auch allgemein, Gomard; Anders V. Kruse; Selmer. über die äußerst komplexe geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses zwischen den ermahnenden Schadenersatzregeln und den ausgleichenden Bußen, speziell in Bezugnahme auf die offenbar einzigartigen Lösungen in der hispanischen Rechtswelt, vgl. Stoll, Torts. 115 Siehe Rudzinski 60. über das polnische Schadenersatzrecht im allgemeinen siehe Stoll 18; Szpunar; ders., Responsabilite. über die "sozialistische Theorie der Abschreckung", die in den sozialistischen Staaten das "kapitalistische" Individualdenken überwinden soll, siehe etwa Fleming, Negligence

825-830.

820

4. Kap. (C): Prozeßrecht

§219

C. Gerechtheiten des Prozeßrechts: Fairness und Wahrheit 1. Partei- und Gerichtsbetrieb (.. adversary" und ..inquisitorial")

§ 219. Das Vertrauen des Volkes in das Recht ist wohl der wichtigste Faktor in der Erhaltung einer starken und gesicherten Gesellschaft. Mit wachsendem Unbehagen sehen wird dieses Vertrauen in diesem letzten Drittel unseres Jahrhunderts einem Tiefpunkt zustreben. Die Grunde dieses Vertrauensschwundes sind mannigfaltig, einige davon konnten wir schon in vorangegangenen Kapiteln bloßlegen. So beobachteten wir die zunehmende Enttäuschung gegenüber den Vorstellungen und Gestaltungen sowohl eines wiedererweckten "Naturrechtes" als auch eines denaturierten "positiven" Rechtes und die wachsende Abneigung gegen irrationale Faktoren in der Behandlung von Verbrechens- und Schadensfällen, die wohl dem Normalbürger in seiner täglichen Berührung mit dem Recht am nächsten steht. Die entscheidende Ursache des gärenden Unbehagens aber, zumindest in den Vereinigten Staaten - obwohl jetzt noch weitgehend im Verborgenen liegend - wird wahrscheinlich immer stärker zutage treten: gemeint ist die arge Unzulänglichkeit des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens. Wir konnten feststellen, daß sinnvolle Rechtsvergleichung geeignet ist, Reformbewegungen in wichtigen Bereichen des materiellen Rechtes zu fördern, wie etwa im Schadensersatzrecht, wo noch immer eine nach Vergeltung heischende irrationale Verschuldensregel als ein rationales Werkzeug für die Verteilung unvermeidbarer Schäden auftritt; oder im Strafrecht, in dem oft Vergeltung als wohlmeinende "erzieherische" Maßnahme verkleidet ist. Ehe wir uns nun mit ähnlichen Forschungszielen einer Untersuchung der Tatsachenfeststellung im Sanktionsprozeß zuwenden, müssen wir wiederum versuchen, das Untersuchungsgebiet zu umgrenzen, um die Diskussion von fruchtloser Aggressivität und Sprachverwirrung freihalten zu können. Zunächst sollen Probleme des Strafprozesses von der weiteren Diskussion ausgeschlossen bleiben. Denn hier würde der emotionale Charakter der Problematik jede objektive rechtsvergleichende Analyse von vornherein in Frage stellen. Auch ist es politischer Dialektik und nicht akademischer Analyse 1 vorbehalten, schließlich in diesem Rechtsbereich der Realität zum Durchbruch zu helfen. So wird nur öffentlicher Druck imstande sein, in den Vereinigten Staaten solche skandalösen Praktiken zu beseitigen wie jene, die es privaten Unternehmern gestatten, durch gewerbsmäßige, gewinnträchtige Kautionsdarlehen ge1 Für primitive Rechtsordnungen siehe etwa Llewenyn, Anthropology 107-111; für französisches Recht Pugh 11; für sowjetisches Recht Berman; ferner allgemein etwa Coutts (Hrsg.).

§ 220

"Adversar"-verfahren und "Inquisition"

321

gen niemals rückzahlbare Prämien die Verhängung der gerichtlichen Untersuchungshaft zu bestimmen!. Ebensowenig sollen hier die Probleme des Verwaltungsverfahrens, deren psychologischer Gehalt in den Vereinigten Staaten die wissenschaftliche und öffentliche Aufmerksamkeit' eben erst zu gewinnen beginnt, untersucht werden. Wir wollen uns vielmehr auf die Gegenüberstellung der in den beiden Rechtskreisen vorherrschenden zivilgerichtlichen Verfahrensweisen beschränken'. Aber selbst innerhalb dieses beschränkten Rechtsvergleiches haben wir beim Gebrauch der gleichsam aus einem internationalen Schlagwortwettbewerb hervorgegangenen Fachsprache äußerst sorgsam umzugehen. a) Schlagworte

§ 220. Der amerikanische Jurist, so werden wir belehrt, "ist der Meinung, daß es mehr als einen Zufall bedeutet, wenn Freiheit in jenem Teil der Erde am besten gediehen ist, wo das gerichtliche Verfahren ,litigious and contentious' ist und nicht ,officious and inquisitorial"'5. Die in diesem Zitat verwendeten Ausdrücke und ähnliche in diesem Zusammenhang immer wiederkehrende Erklärungen - welche letztlich für die Sprachverwirrung in diesem Rechtsbereich verantwortlich zu machen sind - werden einer genaueren Begriffsbestimmung bedürfen. Aber der gefühlsbedingte Sinngehalt der üblichen Terminologie ist sofort klar und der Kritik zugänglich. Jemandem, der amerikanischen Freiheitsidealen nicht weniger verdankt als sein Leben, mag es wohl gestattet werden, eine solche Kritik aufgrund eigener persönlicher Erfahrung vorzubringen. Der Verfasser hat zwar, nachdem er als Richter seines Heimatlandes Österreich ein Jahrzehnt lang ein "offizioses und inquitorisches" Gerichtsverfahren besorgt hatte, die längere Zeit seines Lebens in der Freiheit Amerikas verbracht. Aber er kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß diese Freiheit in jenem Teil der Erde nicht wegen, sondern trotz dessen "litigious and contentious" Gerichtsverfahrens gediehen ist. Denn dieses vielgepriesene Verfahren hat sich ja aus Rechtsinstituten entwickelt, die recht wenig freiheitsbetonten PeZ Siehe Foote (Hrsg.), 18-19, 32-39, 111-112; Comment, 70 Yale L.J. 967 (1961) (Geschichte). Uberraschenderweise erwartet sich bisweilen die kontinentale Lehre aus der übernahme gewisser Elemente des amerikanischen Parteienbetriebs eine Bereicherung ihres eigenen Prozeßrechtes. Siehe Jescheck, Principles 248 (Kreuzverhör unten Anm. 33). • Davis, Justice. • In diesem begrenzten Rahmen wollen wir auch die Behandlung des wichtigen Problems der "Mündlichkeit" ausschließen. Hier haben sich die erheblichen Unterschiede der Vergangenheit der beiden Rechtskreise nahezu aufgehoben. Siehe CappeHetti, Procedure orale; Ekelöf 1971. 5 LouiselZ and Williams 403-404. Vgl. Derham; auch (ohne Kritik) Schmitthoff, JZ 27 (1972) 38, 41.

21 EbreDn'ell

322

4. Kap. (e): Prozeßrecht

§220

rioden der Geschichte entstammen, während sich umgekehrt sein beargwöhntes Gegenstück, der "inquisitorische" Prozeß des kontinentaleuropäischen Rechtes, vieler Orten gerade unter dem Banner der Freiheit voll entwickeln konnte. Erinnern wir uns nur an die Blüte des "Parteibetriebs-Prozesses" zur Zeit des voll entfalteten Absolutismus im spätklassischen Rom und im Europa des 18. Jahrhunderts' einerseits, und andererseits an die Wiedereinsetzung des "inquisitorischen" Verfahrens während der "aufgeklärten" Herrschaftsperiode Friedrichs des Großen7 • Kein Wunder daher, daß der Rechtsvergleicher mit seiner Skepsis gegenüber den demokratischen Vorzügen der gegenwärtigen angloamerikanischen Gerichtspraxis nicht allein steht. So hat man die Eigenheiten dieser Praxis oft als ein zufälliges Erzeugnis der für das 17. Jahrhundert bezeichnenden Illusion naturwissenschaftlicher "Gewißheit" gewertet, die man durch Gleichheit der Parteien vor dem Gericht zu erreichen hoffte 8 • Die meisten Rechtshistoriker sind aber geneigt, weiter zurückzugreifen und den Charakter der englischen und amerikanischen Parteibetriebsverfahren im wesentlichen dem heute obsoleten Verlangen zuzuschreiben, die Jury vor richterlicher Bevormundung zu schützen'. Da die Jury längst ihre vorherrschende Bedeutung im Zivilprozeß verloren hat, versagt diese Erklärung als Rechtfertigung heutiger Praxis. Richter Kents uneingeschränktes Lob des amerikanischen Zivilprozesses als "rational, bündig, transparent und bewunderungswürdig geeignet, die Wahrheit zu erforschen"lo, müssen wir daher mit Vorsicht aufnehmen. Die gleiche Vorsicht ist auch angebracht bezüglich der eineinhalb Jahrhunderte später von Justice Jackson aufgestellten Behauptung, daß "ein Prozeß des Common Law ein Adversar-Verfahren sei und dies auch immer bleiben sollte"ll. Wir sind eher geneigt, uns den Meinungen der beiden größten amerikanischen Rechtsphilosophen und Komparatisten anzuschließen, Roscoe Pound und Karl Llewellyn, die solchen etwas billigen Lobpreisungen mehr als skeptisch gegenüberstanden. Schon im Jahre 1906 griff Pound, der damals auf der Höhe seines jugendlichen Genius stand, den amerikanischen Proe Über Rom siehe etwa Latte, Kap. 18; Ferguson; Engelmann, Zivilprozeß 104; Wenger, Institutionen. Für den Strafprozeß, siehe Geib 97-114. Über frühe deutsche und französische Entwicklungen, siehe H. Nagel 183-187, 192-195; allgemein Peterson. 7 Siehe etwa Pound V 573; MiHar, Principles 15-16; Holzhammer 7,105. S Siehe allgemein Barbara Shapiro. David Daube erwägt hier den mög-

lichen Einfluß parlamentarischer Diskussion. g Siehe etwa Millar 31; James, Kap. VII. 10 Obwohl ich dieses Zitat nicht nachprüfen konnte, habe ich es seiner großen Bedeutung wegen dennoch beibehalten. 11 Hickman v. Taylor, 329 U.S. 495, 516 (1946), per Jackson, J.

§ 220

"Adversar"-verfahren und "Inquisition"

328

zeß mutig in seinem eigentlichsten Zentrum an, nämlich anläßlich eines Kongresses der höchst konservativen American Bar Association. Er nannte damals diesen Prozeß ein ,,spiel", dessen Spieler "es als selbstverständlich hinnehmen, daß der Richter nichts ist als ein Schiedsmann .. , und daß die Parteien ihr Spiel allein in der ihnen eigenen Weise spielen sollen ohne richterliche Dazwischenkunft, so daß Zeugen, und besonders sachverständige Zeugen, ganz einfach Partisanen werden und sensationelle Kreuzverhöre im Mittelpunkt zu stehen kommen ... Die Frage ist nicht, was Recht und Gerechtigkeit verlangen, sondern die Frage ist, ob die Spielregeln streng eingehalten wurden 1!." Diese heute berühmt gewordene Ansprache Pounds wurde sofort heftig als ein Versuch angegriffen, die römische "dem Partei betrieb feindliche Idee" einzuführen13 , "die Grundlage angel-sächsischer Freiheit, angel-sächsischen Rechts und angel-sächsischer Rechtswissenschaft zu beseitigen" und damit "das feinste und wissenschaftlichste je vom Menschengeist erfundene verfahrensrechtliche System" zu zerstören14. Bezeichnenderweise wurde die Verteilung der Ansprache an die Mitglieder abgelehnt und selbst der Gebrauch ihres Titels für andere Zwecke verboten, weil er "auf eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Rechtspflege hinweisen würde"15. Wahrlich ein etwas seltsamer Ausdruck der von den hierfür verantwortlich handelnden Führern der Anwaltschaft soviel gerühmten Freiheit des Rechtswesens! Pounds Aufruf zur Reform blieb ungehört lO • So war noch im Jahre 1950 für Karl Llewellyn der amerikanische Prozeß gebrandmarkt von "Hinterlist und Betrug, die einem Zerrbild der Gerechtigkeit nahekommen; im besten Fall ein schleppender, unbeholfener und unverläßlicher, andernfalls ein manipulierbarer Mechanismus". Trotz ihres hohen Ideals des "fair play" meinte Llewellyn, daß "es keinen Bestandteil dieser Maschinerie gebe, dem - außer von Juristen - von irgendjemand im Lande auch nur die geringste Unterstützung zuteil werden könnte"11. Und im Jahre 1968 sah Judge Burger, der nachmalige Chief 12

Pound, Causes 405--406.

29 Reports of the American Bar Association, Part One (1906) 57. Aber vgl. unten § 223 Anm. 4. 14 Ders. 57, 56. 15 Siehe dens. 12, 61. le Er wurde in. 8 Baylor L. Rev. 1 (1956) abgedruckt, in den fünf Bänden von Pounds Junsprudence aber nicht eingeschlossen. Eine vereinzelte Erwähnung findet sich in der Schrift Irving Kaufmans. 1937 sprach Wigmore in hoffnungsfroher, obgleich irriger Prophetie von Pound's Schriften als "dem Funken, der die helle Flamme des Fortschrittes entzündete". 20 J. Am. Judicature Socy. 176 (1937). 17 Uewellyn, Anthropology 108. Bedauerlicher Weise entbehren selbst die besten und ernstlichsten Versuche, das amerikanische Prozeßrecht zu reformieren, jeglicher Bezugnahme auf die Rechtsvergleichung. Siehe etwa 13

Semmel.

21*

324:

4. Kap. (C): Prozeßrecht

§ 221

Justice der Vereinigten Staaten von Amerika, aus Anlaß einer Diskussion über die Unmöglichkeit, den amerikanischen Zivilprozeß kontinentaleuropäischen Juristen gegenüber zu rechtfertigen, sich genötigt, zuzugeben, daß "wenn wir schon gelehrten Leuten unser System nicht plausibel machen können, wir doch vielleicht einige seiner Grundlagen einer Nachprüfung unterziehen sollten"l8. Aber noch immer sucht die amerikanische Juristenschaft trotz all solcher Ermahnungen und Warnungen ihrer Führer, Besserung in kümmerlichem Flickwerk. Es scheint, daß der Rechtsvergleicher, der die tiefen Wurzeln dieses Widerstandes verstehen will, zum Psychologen werden muß. b) Problemstellung

§ 221. Plan. Es ist gebräuchlich geworden, den Parteibetriebs-Prozeß des Common Law den "inquisitorischen" Systemen des Civil Law gegenüberzustellen. Diese Formulierung kann aber ohne sorgfältige Begriffsbestimmung zu argen Mißverständnissen führen. Das Parteibetriebs-System wurde als System der Streitschlichtung definiert, "in dem widerstreitende Interessen durch sich gegenüberstehende Parteien vertreten werden, von denen jede die Bürde trägt, ihren Standpunkt und ihre Argumente dem Gericht zu unterbreiten"l'. Diese Definition ist derart inhaltslos, daß sie jeder kontinentaleuropäische Jurist genau so gut für sein eigenes System beanspruchen kann, ja, daß sie ihn in die Lage versetzt, Teile des amerikanischen Zivilprozesses als im höchsten Maße "inquisitorisch" zu charakterisieren!o. Wenn wir uns vom Gebrauch bloßer Schlagworte befreien wollen, müssen wir uns darauf beschränken, jene Merkmale herauszuarbeiten, welche für die zivilgerichtlichen Verfahren beider Rechtskreise heutzutage am charakteristischsten angesehen werden. In dieser Bemühung müssen wir zweitausend Jahre europäischer Geschichte beiseite lassen, von ihrem römischen Beginn durch ihre mittelalterlichen kirchlichen und kaiserlichen Neuerungen hindurch, wie sie von den "doctores" in Bologna und anderen Universitäten wie auch durch die städtische und fürstliche Gesetzgebung entwickelt wurden, bis zur "Rezeption" des römischen Erbgutes auf dem Kontinent2l . Ebenso müssen wir die heutigen Rechte des romanischen Kreises vernachlässigen, die trotz des großen Traumes der französischen Revolution2!, Burg er, Center Report 7l. Louisell and Williams 403-404. 10 Cappelletti 333 Anm. 110. Für eine spanische Beurteilung, siehe Daniel Murray. 21 Cappelletti, Reforms 841--850 erwähnt als die wesentlichen Merk18 18

male jener frühen Verfahren ihre Schriftlichkeit, ihren Mangel an "unmittelbarer" Beziehung zwischen Richter und Parteien, ihre "mathematischen" Beweisregeln und schließlich ihre Bruchstückhaftigkeit und Langwierigkeit.

§ 221

"Adversar"-verfahren und "Inquisition"

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trotz mancher Verwirklichungen dieses Traums im 19. Jahrhundert!3 und trotz der fortschrittsträchtigen französischen Reform von 1958 im Wesen jenen grundlegenden Entwicklungen in den germanischen Ländern!4 ferngeblieben sind, die allein die rechtsvergleichende Bemühung im gegenwärtigen Rahmen rechtfertigen.

Gericht und Parteien. Dem amerikanischen Juristen gilt an erster Stelle der Umstand als essentieller Bestandteil seines Systems, daß dieses auf das Tatsachenvorbringen der Parteien beschränkt bleibt. Dieses Prinzip der "Parteiautonomie"t5 wird aber auch in allen Ländern des Civil Law - ausgenommen vielleicht jene des Ostblocks28 - befolgt und überall bezüglich aller Streitfälle, in denen keine besonderen Interessen der Allgemeinheit berührt werden, als adäquat angesehen27 • Der behauptete Widerspruch zwischen den heiden Rechtssystemen ist daher auf jenen Aspekt des Parteibetriebs-Verfahrens beschränkt, den man als den der "party prosecution" bezeichnet hat. Damit wird ausgedrückt, daß den Parteien nicht nur die Verfügung über die zu verhandelnden Tatsachen, sondern auch über den Gang des Verfahrens ("going forward") im Rahmen ihrer eigenen Anträge eingeräumt bleibt28 • Die!! Siehe Cappelletti, Reforms 851-855. Die Ziele der französischen Revolution waren ambivalent: Freiheit der Beweiswürdigung und gleichzeitig Schutz vor richterlicher Willkür. Jean Philippe Levy 31, 59. 23 Siehe H. Nagel 46---49. Z4 Eine langanhaltende Reformbewegung begann sich im österreichischen summarischen Verfahren für kleinere Ansprüche vom Jahre 1845 (Bagatellverfahren, jetzt §§ 448---453 österr. ZPO) und in der deutschen Zivilprozeßordnung des Jahres 1877 herauszukristallisieren. Diese Bewegung erreichte ihren Höhepunkt in Franz Klein's großartigem Zivilprozeßwerk des Jahres 1895, setzte sich ebenso fort in der ungarischen (1911), norwegischen (1915), dänischen (1916), jugoslawischen (1929) und polnischen (1933) Gesetzgebung, wie in den jüngsten Kodifikationen Schwedens (1942), der Schweizerischen Eidgenossenschaft (1947) und Griechenlands (1958). Siehe die deutsche übersetzung (Baumgärtel-Ramos 1969) der griechischen Kodifikation. Für das polnische Recht siehe Wengerek. !5 Millar, Principles § 3. Dieser Ausdruck wurde von Millar geprägt und wird trotz seiner Vieldeutigkeit mangels besserer Alternativen beibehalten. Der deutsche Terminus "Verhandlungsmaxime" ist noch weniger befriedigend. Der im anglo-amerikanischen Bereich gebräuchlichere Ausdruck "party presentation" wird deshalb vermieden, weil - wie wir sehen werden - das richterliche Sammeln von Prozeßmaterial, welches nicht von den Parteien vorgebracht wurde, keineswegs deren Autonomie beeinträchtigt. Millar's verwandtes "Prinzip der dispositiven Auswahl" (Dispositionsmaxime) gestattet es den Parteien, ihre Prozeßmittel zu wählen. Bezüglich der Maximen siehe anschaulich Novak 1-2; Holzhammer 103-105. Siehe auch James 3---4; Brüggemann 19, 332; H. Nagel 27-39; Merz. über die Weiterentwicklung des Programms der französischen Revolution, siehe etwa Wieacker 465---468. !I Siehe etwa H. Nagel, Das Revolutionäre 184-192. 27 Ein derartiges Interesse mag etwa im Ehescheidungs-, Arbeitsrechtsund Verwaltungsverfahren bestehen. Siehe dens. 185. Für das Eheverfahren vgl. Novak, passim. !B Siehe MiHar, Principles 19-20; Kaplan et al. 1230-1237, 1471-1472. Für das römische Recht siehe Wenger 202; andererseits für den sowjetischen

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4. Kap. (C): Prozeßrecht

§ 221

ses Verfügungsrecht der Parteien ist nun tatsächlich in Ländern des Civil Law durch den Richter beschränkt, wird aber zu Unrecht dem Common Law-Richter abgesprochen, in der ebenso irrigen Annahme, daß dieses Recht mit Parteiautonomie unvereinbar sei29 • In Wirklichkeit haben Common Law-Richter ein solches Recht immer besessen3o , so daß dessen Nichtausübung nur ein anachronistisches Ergebnis der "demokratischen" Laissez-Faire-Einstellung des 19. Jahrhunderts und nicht das eines prozessualen Glaubensbekenntnisses zu sein scheint. Sobald einmal das angeblich dem Parteibetrieb angehörige Prinzip der party prosecution von dem allgemeinen Grundsatz der Parteiautonomie richtig unterschieden wird, wird man endlich das Wesen des ersteren einer Neuprüfung unterziehen können. Vielleicht wird es dann Common Law courts leichter fallen, ähnliche Techniken zu entwickeln wie sie fortschrittlichen "inquisitorischen" kontinentalen Rechtsordnungen schon lange eigen sind. Denn es wird sich dann ergeben, daß, wie dies von einem führenden amerikanisechn Autor gesagt worden ist, "die moralische Annehmbarkeit einer Entscheidung durch die aktive Teilnahme des Richters während des Verfahrens zur Erforschung der Wahrheit" im Sinne einer amtswegigen Stoffsammlung und Sachverhaltsermittlung - "keineswegs verringert oder kompromittiert wird"31 -, freilich immer unter der Voraussetzung, daß diese Funktion einem fähigen und gewissenhaften Personal anvertraut wird. Damit wird dann der zweite angebliche Unterschied zwischen "Adversity" und "Inquisition" gefallen sein. Beweisrecht. In unserem Versuch, die wesentlichen "kompromißunfähigen" Unterschiede zwischen den beiden Systemen herauszuarbeiten, sind wir denn schließlich bei dem wichtigen Problem der Beweisausschlußregeln angelangt32. Hier geht es nun nicht an, wie dies so oft ge-

Rechtskreis H. Nagel, Das Revolutionäre. Hier wird richterliche Einwilligung für die Klagsrücknahme, das gerichtliche Anerkenntnis und den gerichtlichen Vergleich benötigt. Selbst das Gericht oder andere Amtspersonen können die gefällte Entscheidung anfechten. Den., 189, 191; auch allgemein Cerroni, Pensiero, Kap. VI. 19 Siehe etwa Fleming James § 1.2. 30 Siehe Wigmore § 2484, mit zahlreichen Beispielen aus der englischen und amerikanischen Praxis. Vgl. etwa United States v. Browne, 313 F. 2d 197 (2d Cir. 1963); auch Wyzanski 12; Comment, 51 Northwestern L. Rev. 761 (1957). Die Selbstbescheidung des Richters wird oft daraus erklärt, daß es ihm nicht mehr möglich ist, das Beweismaterial der Jury zu erläutern. McCormick § 8. Siehe allgemein Homburger 37-38. 31 Fleming, James 5-6. Im Gegensatz zum österreichischen Recht sind die deutschen und schwedischen Gerichte - abgesehen von den Fällen, wo das öffentliche Interesse überwiegt - noch immer daran gehindert, Zeugen aus eigenem Antrieb zu laden. H. Nagel 44, 46; Baur, Zeit 447. Aber siehe bezüglich Frankreich, Sicard 251. - Vgl. hier auch Jauernig. 32 Für eine Analyse vom kontinentaleuropäischen Standpunkt, siehe etwa Lenhojj; Schwering. Siehe auch L. Oppenheim; unten Anm. 33.

§ 221

"Adversar"-verfahren und "Inquisition"

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schieht, sowohl die Entstehung als auch die Bewahrung derartiger Regeln einfach dem Jury-System des Common Law zuzuschreiben. Denn eine solche Erklärung würde nicht nur die Tatsache vernachlässigen, daß diese Regeln nach wie vor ein angeblich en~cheidendes Charakteristikum aller Common Law Prozesse - einschließlich der dem Einzelrichter zugewiesenen Streitfälle - darstellen, sondern wäre vielmehr auch von historischer und rechtsvergleichender Warte aus gesehen, ernstlich anzuzweifeln. Erinnern wir uns einerseits daran, daß die ursprüngliche englische Jury gerade für das "Fehlen jeglicher ,Theorien rechtlich zulässigen Beweises' (mit denen sich Englands jurylose Nachbarn herumschlagen mußten)" bekannt war3 ; und daß gerade die Einführung der Jury in der französischen Revolution Beweisregeln nicht nur nicht hervorgerufen, sondern beseitigt hatSt • Andererseits scheint die englische Chancery trotz Fehlens der Jury viele Beweisregeln des Common Law von Anfang an befolgt zu haben35 • Wo sich diese Regeln heute als unhaltbar erwiesen haben, könnten sie daher selbst ohne Abschaffung der Jury beseitigt oder auf das Maß des Civil Law zurückgeführt werden. In der Tat bestehen in den Vereinigten Staaten starke Anzeichen dafür, daß ihr Recht im Sinne einer solchen Beseitigung in nicht allzu ferner Zukunft dem des Commonwealth folgen wird38 • Wird diese Entwicklung dann die letzte Füllung der Kluft zwischen den beiden großen Systemen des Verfahrensrechts bedeuten? Richter und Zweikampf. Trotz des Niedergangs der Jury und der Geringfügigkeit ihres Einflusses auf Parteiautonomie und Beweisrecht, sieht es so aus, als ob sie noch immer das Erscheinungsbild und die Aufgabe des amerikanischen und wohl auch des englischen Richters als eines bloßen Umpire im Turnier bestimmen würdes7 • In der Tat hat sich dieses Erscheinungsbild so fest eingeprägt, daß selbst die Verschmelzung von Recht und equity, das wachsende überwiegen jury-loser Verfahren und die Kodifikation bundes- und gliedstaatlichen Rechts zugunsten einer Stärkung der Richterfunktion letztlich die scheinbar doU Pollock and Maitland 11 657. Siehe auch Ekelöf, Evidence; Morgan 112; Millar 23; oben Anm. 32. U Siehe etwa Millar, Principles 101; Herzog 305-306.

35 Glynn v. Bank von England, 2 Ves. 38 (eh. 1750): "... es wäre schädlich, beim Verfahren nach equity und beim Verfahren at law unterschiedliche Beweisregeln zugrunde zu legen. Die Beweisnormen sind vor bei den Instanzen in Wirklichkeit im allgemeinen gleichartig." Aber siehe auch unten § 230 Anm. 40. as Siehe Cornish 9; R. B. Schtesinger 309-310; und allgemein Rupert Cross, Evidence. Für die Vereinigten Staaten, siehe etwa James Moore, Band 5, § 43.02 (3) (mit kritischer Bibliographie), der mit einigem Zögern feststellt, daß "die die einzig universalen Normen des Beweisrechtes jene der Relevanz und der Materialität sind". a7 Siehe Fteming James, Kap. VII, speziell § 7.2. Siehe auch Morgan 116.

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minierende Figur des amerikanischen Richters (und mit ihm die Parteien) in Wahrheit der Herrschaft und Gnade berufsmäßiger Kombattanten überlassen haben38 • Angesichts dieses Ergebnisses bleibt denn die Stellung des Richters wichtigster Einzelgegenstand jeder rechtsvergleichenden Untersuchung der beiden verfahrensrechtlichen Prototypen. Hier ist aber die Behandlung des Civil Law als eines einheitlichen Rechtssystems noch weniger vertretbar als auf dem Gebiete des materiellen Rechts. Wir haben ja gesehen, daß im Prozeßrecht der romanische Rechtskreis (vielleicht mit der Ausnahme von Frankreich seit 1958) dem Common Law wohl näher geblieben ist (oder besser dem kontinentalen, der Kodifikation vorausgehenden Gemeinrecht) als den heutigen Rechten der zentral- und nordgermanischen Länder des Kontinents 3D • Es wird daher zu vermeiden sein, eine not38 Siehe etwa Weinstein; Lacy; Wigmore, Band 7, 241-247. Die Macht der Kombatanten wird durch das Spektakel des Kreuzverhörs dramatisch offenbar, einer Einrichtung, die von vielen auch heute noch als große Errungenschaft einer eommon law-Faimeß angesehen wird. Die Equity wurde deshalb verdammt, weil sie dem kontinentalen Recht in der Verurteilung dieser Institution gefolgt sei, (was Equity freilich nie getan hat, Anm. 48). People v. Cole, 43 N.Y. 508 (New Yc,rk 1871). Roseoe Pound vertrat hier einen pessimistischeren Standpunkt. Oben Anm. 12. Siehe auch Cappettetti, Reforms 879-880. Manche ausländische Betrachter empfinden· das amerikanische Kreuzverhör schlechthin als Schande. Siehe allgemein Homburger 35-38. Es erscheint unbegreiflich, daß die amerikanischen Gesetzgeber es nicht einmal versucht haben, wenigstens die Nicht-Jury Streitigkeiten von den Jury-orientierten Elementen zu befreien. Aber die Trägheit des Rechtes in Angelegenheiten des Prozesses scheint allgegenwärtig zu sein. Selbst bezüglich Frankreich wurde ja behauptet, daß es dort trotz seiner legislativen Anstrengungen seit 1958, nach dem "Code Louis" von 1667 keine tiefgreifende Reform mehr gegeben habe; ja man ging sogar so weit, den gegenwärtigen "inquisitorischen" Charakter des französischen Prozeßrechtes zu leugnen. Herzog §§ 1.21-29, 7.5~2. Für ähnliche Aussagen über das italienische Recht (einschließlich des Gesetzbuches von 1942 mit den Novellen aus 1950) vgl. CappeHetti and PeriHo 176, 153; §§ 1.35-40; 1.02-04 (dazu rechtsvergleichend aufschlußreich Matscher, Osterr. Z. f. Off. Recht 20 (1970) 157). Wir erinnern uns an Daumiers Karikatur des Richters, der sich ungestört von den "adversary" Anwälten, auf dem Richterstuhl dem Schlafe hingibt. Vielleicht sind Gesetzgeber sich der Tatsache bewußt, daß Prozeßreformen meist durch eine konservative Richterschaft torpediert werden. Vielleicht ist der einzigartige Erfolg von Franz Klein (unten Anm. 40) auf den Umstand zurückzuführen, daß er - Richter und Gelehrter - als Justizminister fähig war, fast eine gesamte Generation älterer Richter in den Ruhestand zu setzen und andere Richter zu ernennen, die darauf geschult waren, seiner Reform zum Durchbruch zu verhelfen. Dem österr. Justizminister Dr. Christian Broda habe ich für einen Brief vom 4. Nov.1970 zu danken, in dem er mir folgende Daten zur Verfügung stellte: Die Unabsetzbarkeit der Richter wurde von Gesetzes wegen für 18 Monate aufgehoben, und zwar beginnend mit dem Tag der Inkraftsetzung der neuen ZPO; ferner wurden "im Verlaufe der Reform" 1300 neue Richter eingestellt. - Für eine treffliche Würdigung des Gesetzgebungswerkes von Franz Klein vgl. etwa Baur, Zeit 445-453. 38 Oben Anm. 38. Vgl. auch für Jugoslawien Lacy.

§ 222

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wendig abstrakte und so irreführende Darstellung der in den einzelnen Ländern vorherrschenden "Theorien" zu versuchen. Stattdessen wird es vielleicht am leichtesten und wirksamsten sein, die Richtigkeit und Relevanz der hier vorgetragenen Ansichten durch die Beschreibung der tatsächlichen Arbeitsweise eines einzelnen Civil Law Systems auf die Probe zu stellen. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, diejenigen Merkmale des Zivilprozesses im Bereich des Common Law herauszuschälen, welche einer auf ausländischer Erfahrung basierenden Reform bedürfen und dieser auch zugänglich sind. Wir wollen daher eines der die Reformbestrebungen führenden Länder des germanischen Rechtskreises heranziehen, und zwar jenes Land, dessen Gesetzeswerk als Prototyp der Reform in die Rechtsgeschichte Eingang gefunden hatFranz Kleins österreichische Zivilprozeßordnung von 18964°. In der folgenden kurzen Beschreibung dieses Werkes wird, so hofft der Verfasser, seine persönliche Erfahrung als österreichischer Richter es ihm möglich machen, über bloßes Bücherwissen hinauszugehen, das gerade in einer prozessualen Studie so besonders unbefriedigend ist. c) Österreichi.sches Modell

§ 222. Wir befinden uns in einem Bezirksgericht. Unser Richter hat, in Erwartung des bevorstehenden Prozesses, nach einer formlosen "Ersten Tagsatzung", die als Prozeßsieb bestimmt istU , die vorbereitenden Schriftsätze eingehend studiert4!. Sohin mit den Rechts- und Tatsachenfragen sowie mit den Beweisanträgen der Parteien allgemein vertraut, ist er nun nicht nur imstande, sondern auch verpflichtet, "sich unbeschadet etwaiger Versehen der Parteienvertreter um die richtige '0 Siehe oben Anm. 24; Franz Klein 110-138. Zur österr. ZPO siehe etwa Petschek-Stagel; Holzhammer; Hagen, Verfahrenslehre 12-53 (mit weiteren

Literaturhinweisen). über die Denaturierung dieser noch heute unvergleichlichen Gesetzgebung durch die Praxis, siehe Hagen 122-125. Das schwedische Gesetzbuch von 1942 kommt diesem Prototyp einer Zivilprozeßordnung wahrscheinlich am nächsten. Ginsburg und Barzelius § 1.21. Bezüglich der Versuche zum klassischen österr. Modell zurückzukehren, siehe Baur; Bender, Deutsche Richterzeitung 46 (1968) 163. Für eine, im Vergleich zu der hier gebrachten -, vielleicht weniger emotionelle Auswertung, vgl. Homburger, passim. ,t Diese sehr kurze "Tagsatzung" verfolgt - neben der Erledigung etwaiger Zuständigkeitsfragen - vornehmlich den Zweck, den Richter in die Lage zu versetzen, die Dauer der ersten Streitverhandlung abzuschätzen und dementsprechend seine Verhandlungstermine anzuberaumen. Bezüglich deutscher Versuche, die österr. erste Tagsatzung als "Sieb des Zivilverfahrens" einzuführen, siehe Baur 19. Allgemein siehe Homburger 20--21. f! Siehe Homburger 21-22; Kaplan und andere 1211-1221; Lenhott 323. Für Schweden siehe Ginsburg und Barzelius § 7.19. Die deutschen Reformprojekte lehnen das gegenteilige englische Prinzip ausdrücklich ab. Baur 13, sich mit Mann (8) auseinandersetzend.

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Lösung des vorliegenden Rechtsstreites zu bemühen"43. Während er im allgemeinen nach dem Grundsatz der Parteiautonomie an das Tatsachenvorbringen der Parteien gebunden ist44, kann er - im Gegensatz zur amerikanischen (von der Verhandlungsmaxime - party prosecution - völlig beherrschten) Praxis (§ 221)46 - selbständig Beweise und einschlägige Informationen sammeln und darüber hinaus sogar die Parteien dazu auffordern, das bereits vorgelegte Tatsachenmaterial zu ergänzen46 . Nach solchen einleitenden Prozeßhandlungen einschließlich formloser mündlicher Erörterung der Parteivorbringen, gelangt der österreichische Richter zu einem überaus wichtigen und entscheidenden Verfahrensabschnitt, der selbst in den meisten anderen kontinentaleuropäischen Prozeßsystemen nicht vorgesehen ist. Der Richter faßt den sogenannten Beweisbeschluß. In dieser prozeßleitenden Verfügung führt er die Parteienbehauptungen an, die er im Hinblick auf die anzuwendenden Normen des materiellen Rechts für erheblich erachtet und erklärt die Zulassung der zur Stützung jeder einzelnen Behauptung geeignet erscheinenden Beweise'7. Dieser Beschluß ist aus verschiedenen Gründen von höchster Bedeutung: zum ersten eröffnet er den Parteien die Möglichkeit, die wenngleich vorläufig und stillschweigend erklärten Rechtsansichten des Richters kennen zu lernen und wird somit diejenige Partei, die in diesem Stadium weder darauf vorbereitet noch in der Lage ist, für sie nachteilige richterliche Rechtsansichten durch ein Rechtsmittel zu bekämpfen, in vielen Fällen dazu bewegen, eine vergleichsweise Bereinigung des Rechtsstreites herbeizuführen. Zum anderen aber - und das ist entscheidend - wird der Richter, indem er die Prüfung seiner rechtlichen Erwägungen dem Rechtsmittelgericht überläßt, nun in die Lage versetzt, vom weiteren Verfahren alle jene 43 B. Kaplan 411. Siehe auch Lenhoff 319. Für eine ausgezeichnete Analyse der österreichischen "Gesprächsverhandlungen" siehe Homburger 24-32. 44

Siehe oben Anm. 25.

45

Siehe oben Anm. 28-31.

Ebenda. Siehe auch BriLggemann; Lenhoff 324. Die deutsche Praxis scheint weniger effektiv zu sein, als jene, die durch § 182 der österr. ZPO vorgeschrieben wird (materielle Prozeßleitung). Ob der Richter auch Tatsachen berücksichtigen kann, welche zwar während des Verfahrens offenkundig, von den Parteien aber nicht behauptet wurden, mag dahingestellt bleiben. Schima 278. Wie dem auch sei, zugestandene Tatsachen müssen als wahr angenommen werden. Osterr. ZPO § 266; deutsche ZPO §§ 139,288. Aber siehe bezüglich der sozialistischen These von einer unbeschränkten Suche nach materieller Wahrheit, Niethammer 384; Ginsburg, passim; Szdszy 96; unten Anm. 50. 48

47 In diesem Sinne wurden die Beweislastregeln das "Rückgrat des Zivilprozesses" genannt. Rosenberg 514. Siehe auch Kasparek, passim; Von Bar 5, 22; Kunert; Lenhoff 327; Herzog 373 (über die französische Reform); allgemein Schwering.

§ 222

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Beweise auszuschließen, welche sich auf im Beweisbeschluß nicht enthaltene Behauptungen beziehen; dies bewirkt unter anderem eine unschätzbare Verkürzung des gesamten Prozesses. Wir haben nun das Verfahrensstadium der Beweisaufnahme selbst erreicht. Der Richter wird in der von ihm bestimmten Reihenfolge die anwaltlich nicht indoktrinierten Zeugen aufrufen und über den Beweisgegenstand befragen. Alle Zeugen sind die des Gerichtes und nicht, wie im amerikanischen Prozeß, die einer Partei und legen ihr Zeugnis gewöhnlich in einfacher, ungezwungener Erzählung ab statt durch die in Amerika übliche und oft so irreführende Beantwortung von Fragen mit "Ja" und "Nein"48. Entgegen einer in Amerika weit verbreiteten Meinung steht dann, freilich immer nur im Rahmen des Beweisbeschlusses, den Parteien selbst ein Fragerecht zu, das aber nichts mit dem tragikomischen Ritual des amerikanischen "direkten", "kreuzweisen" und "redirekten" Verhörs zu tun hat. Schließlich faßt der Richter (gegebenenfalls unter Mithilfe der Parteien) die Ergebnisse der Beweisaufnahme und anderer prozeßerheblichen Vorgänge in einem von ihm öffentlich diktierten, aber Einwänden der Parteien unterworfenen "Protokoll" zusammen49 . Erst wenn der Beweis durch alle anderen vorgesehenen Beweismittel (Urkunden, Zeugen, Sachverständige, Augenschein) erhoben worden ist, wird der Richter entscheiden, ob er auch die Parteien selbst zu Beweiszwecken vernehmen will. Um das tagtägliche Spektakel des Common-Law-Verfahrens zu vermeiden, das die Parteien als beeidete Zeugen routinemäßig Meineide schwören läßt, ist im österreichischen Prozeßrecht grundsätzlich eine zunächst formlose Befragung der Parteien über das Beweisthema vorgesehen. Am Ende des Beweisverfahrens mag dann die nochmalige Vernehmung und Beeidigung jener Partei angeordnet werden, die der Richter aufgrund dieses Verfahrens für die verläßlichere hält50• 48 Vgl. oben Anm. 38. Siehe auch Homburger 33-34. Für eine seltsame Verteidigung des "coaching" (Trainierens) der Zeugen mit dem Hinweis darauf, daß dies allgemein so üblich sei, durch keinen Geringeren als Richter Learned Hand, siehe Becker v. Webster, 171 F.2d 762, 765 (2d Cir. 1949). 49 über den Unterschied zwischen diesem Protokoll und dem amerikanischen "record", siehe Lenhoff 317. Bezüglich des französischen "proces verbal", siehe Millar, Principles 114. Der Einsatz von Tonbandaufnahmen wurde bislang nicht untersucht. Siehe aber Hagen, Schallträger. Für eine " kritische Bestandsaufnahme, siehe Weyrauch 251-257. 50 Österr. ZPO § 371 (subsidiäres Beweismittel!). Siehe Schima 278; Lenhoff 341-342; für Schweden Ginsburg und Barzelius § 7.38; H. Nagel 307 bis 310. Siehe etwa auch die Art. 299-304 der polnischen Zivilprozeßordnung. Selbst in Europa hatte die Parteienvernehmung eine sehr kurze Geschichte, und ist jetzt noch in einigen Ländern, wie etwa Spanien und Italien unbekannt. Cappelletti, Testimonianza; Cappelletti und Perillo §§ 8.46-47. über die französische "comparution personnelle", siehe Herzog §§ 1.27, 7.52. Das sowjetische Recht, das offenbar wie Ostdeutschland den Beweisbeschluß als

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4. Kap. (C): Prozeßrecht

§ 222

Darüber hinaus bestehen aber - abgesehen von den in allen Rechtssystemen vorgesehenen Ausnahmen, wie etwa der Schutzvorschrift gegen selbstbelastende AussagenS1 - keine Regeln, die des Richters "freie Würdigung des Beweises"G2 zu hindern geeignet wären. Der österreichisehe Richter wäre in der Tat höchst erstaunt, wenn sein amerikanischer Kollge ihm erzählen würde, wie er sich durch derartige Regeln gegen unverläßliche Beweismittel schützen solle. Denn für ihn sind oft freie Erzählung, "Hörensagen" (hearsay), Zeugenmeinung (opinion) oder urkundenergänzende mündliche Äußerungen die besten Quellen der WahrheitsfindungS3 , während ihm die "reine" Ja-Nein-Aussage des von einer Partei vorbereiteten amerikanischen Zeugen als höchst bedenklich erscheinen wird. Infolge des Fehlens der Jury kann das Verfahren leicht unterbrochen und in so vielen Verhandlungen abgehalten werden, wie es dem Richter in Rücksicht auf seine, der Anwälte und der Zeugen Zeiteinteilung geeignet erscheintS4 • Bis auf die Fälle absoluten Anwaltszwanges kann sich jede Partei vor Gericht selbst vertreten55, was in Amerika zwar kapitalistisches Relikt ablehnt (Niethammer 1961, 383), unterscheidet nicht mehr zwischen informeller und beweismäßiger Vernehmung der Prozeßparteien. H. Nagel 310-312. Bezüglich der Suche nach "objektiver Wahrheit" im sowjetischen Recht siehe allgemein Ginsburgs, passim; für Ungarn Nevai 85,87,94; oben Anm. 46. 61 Siehe aber bezüglich Art. 61 I des sowjetischen Zivilprozeßgesetzbuches, Roggemann 273.

Iit Siehe etwa Ekelöf; Kaplan et a1. 1244-1246; Millar, Principles § 6; Lenhoff 334; Cappelletti and Penllo § 8.05 (Italien); Ginsburg und Barzelius §§ 1.21, 7.36 (Schweden). Bezüglich frühester Funde im vorklassischen Griechenland siehe Kohler and Liebarth 82, 127 (Gortyn). Vgl. unten Anm. 53. Für das klassische Rom, siehe Wenger 21. Die sowjetische ZPO gibt in

Art. 56 (2) vor, jeglichen Beweis seines formellen Charakters dadurch zu entkleiden, daß der Richter genötigt wird, das sozialistische Rechtsgefühl gegen sein eigenes zu stellen. Ob diese "Regel" in Wirklichkeit das civil law Prinzip der freien Beweiswürdigung bestätigt, mag bezweifelt werden. Siehe etwa H. Nagel 82; Niethammer 383-384; Ginsburgs, passim. Eine wichtige Ergänzung dieses Prinzips ist die - dem common law unbekannte - Verpflichtung des Richters, "die Umstände und Erwägungen, welche für (seine) Überzeugung maßgebend waren, in der Begründung der Entscheidung anzugeben" (österr. ZPO § 272 [3]). Vgl. deutsche ZPO § 417 (2); Schima 279. Siehe auch sowjetische ZPO Art. 56 11. Für das schwedische Recht siehe Ekelöf 18. Über römische Vorbilder Kaser 278. GB Für amerikanische Entwicklungen, die in dieselbe Richtung weisen, siehe etwa Davis, Hearsay; Delta Dynamies Inc. v. Arioto, 446 P. 2d 785 (California 1968), per Traynor, C. J. Vgl. den bezeichnenden Dreirichterdissent, der die fortschreitende "Aufweichung" des Grundsatzes der parol evidence rule im common law geißelt. Aber siehe auch Sweet. U Für Schweden siehe auch Ginsburg und Barzelius § 7.31. Diese Maßnahme allein würde zur bedeutenden Milderung des in den Vereinigten Staaten allgemein als höchst ernst angesehenen Problems der Prozeßhäufung und Verzögerung beitragen. Siehe Zeisel, Kalven und Buchholz. 55 Bezüglich Schweden siehe auch Ginsburg und Barzelius § 2.05. Vgl. aber für Italien, Cappelletti and PenIlo § 5.01. Die Verfügbarkeit eines Anwaltes für die Minderbegüterten durch die Einrichtung des "Armenrechtes", der

§ 223

"Adversar"-verfahren und "Inquisition"

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theoretisch zumeist erlaubt, aber kaum je gewagt wird. Und doch werden auf dem Kontinent viel mehr Rechtsanwälte viel häufiger mit geringfügigeren Streitfällen befaßt als vor den Gerichten des Common Law. In Österreich ist die große Beliebtheit des "kleinen" Zivilprozesses (vor dem Einzelrichter im bezirksgerichtlichen Verfahren) nicht nur seiner Einfachheit und Schnelligkeit, sondern hauptsächlich den Gerichtskostennormen zuzuschreiben, welche der obsiegenden Partei den Ersatz der Anwaltskosten versprechen, so daß sich ein Anwalt den Einsatz für den berechtigten Anspruch auch einer bedürftigen Partei ohne besonderes Risiko leisten kann (§ 227). Das Ergebnis ist leichterer Zugang zu den Gerichten und der Rechtsschutzgewährung auch für den kleinen Mann. Auch diese Prozeßformen, dies sei zugegeben, können "absolute Gerechtigkeit" nicht garantieren. Aber daß die wahren Tatsachen kaum je gefunden werden können, unter welchem Verfahren auch immer, ist Binsenweisheit58 • Selbst unter der Annahme (arguendo), daß der amerikanische Zivilprozeß sich besser für das Streben nach "verfeinerten Ausdrucksformen der Wahrheit"57 eignet, sollte es hier (im Gegensatz zum Strafverfahren) keine Zweifel darüber geben, daß Vermeidung von Prozeßverzögerungen und Kosten weit höher zu veranschlagen sind als jenes löbliche Streben nach "verfeinerter" Wahrheit58 • d) Warum der Unterschied? § 223. Falsche Rationalisierung. Die meisten kontinentaleuropäischen Länder fahren fort, nach immer besseren Prozeßmechanismen zu suchen. Zwar sind dabei etwa Frankreich und Italien noch immer in Jahrhunderte alter, obsoleter Tradition verfangen, obgleich selbst hier stückweise Verbesserungen letztlich zu einer echten Reform führen mögen. Aber von der jüngsten erfolgreichen Kodifikation Schwedens sollte man wohl endlich den Beginn einer weltweiten Reformbewegung erwarten können!. Tatsächlich haben auch einige Länder, einschließlich assistance judiciaire, des gratuito patrocinio, läßt noch immer viele Probleme ungelöst. Siehe etwa StohT (Deutschland); Cappelletti, Reforms 870--874 (romanische Länder). 68 Siehe FulleT, Fictions 134. Siehe etwa auch James MaTshall, Kap. 1. Bezüglich des russischen Konzeptes der Wahrheitsfindung, siehe oben Anm. 46,50. 57 B. Kaplan 421. 58 österreichische Zivilprozesse dauern in erster Instanz zwischen drei und sechs Monaten. Gemäß § 414 (1) der österr. ZPO hat der Richter "das Urteil auf Grund der mündlichen Verhandlung, und zwar wenn möglich, sogleich nach Schluß derselben zu fällen und zu verkünden". Für eine Vergleichung der österreichischen mit der (ungünstigeren) deutschen Statistik, vgl. Baur, Zeit 449-450. Was sagt der zentraleuropäische Jurist zu den jahrelangen Produktionen des amerikanischen "Parteienbetriebs"? 1 Siehe oben § 220 Anm. 24.

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4. Kap. (e): Prozeßrecht

§ 223

einzelner Kantone der Schweiz!, ihre Anstrengungen von neuem aufgenommen. Somit sind wir denn vor die verwirrende Frage gestellt, warum es gerade die Vereinigten Staaten sind, wo zivilprozessuale Reformversuche offensichtlich zum Scheitern verurteilt sind. Diese Frage kann nur zum Teil mit dem Hinweis auf die Spaltung des amerikanischen Zivilprozesses in den des Bundes einerseits und den der 50 Bundesstaaten andererseits, oder auf deren beschränkte legislative Erfahrung und politische Präokkupation beantwortet werden (§ 101). Noch konnten wir jene Argumente ernstnehmen, welche die Bewahrung des Parteibetriebs-Verfahrens darauf zurückführen wollen, daß das anglo-amerikanische Recht größeren Wert auf die persönliche Freiheit legt (§ 220). Vollends unhaltbar erscheint jene Begründung, die im angeblichen Widerwillen des Common Law gegenüber dem "zur Gänze kodifizierten materiellen Rechtssystem" des Civil Law die Antwort findet3 • Noch kann schließlich das Versagen amerikanischer Verfahrenspraktiken auf eine tiefverwurzelte geschichtliche überlieferung zurückgeführt werden. Denn institutionelle Entwicklungen haben in beiden Rechtskreisen streckenweise einen sehr ähnlichen Verlauf genommen; in der Tat haben Prozeßtypen des Parteien- und Gerichtsbetriebes häufig die Fronten gewechselt. So hat das römische Verfahren viele jener Eigenheiten vorweggenommen, die heute als dem Parteibetrieb angehörig bezeichnet werden. Hat doch der Prätor ebenso wie der Richter des Common Law sein Amt mit Laienrichtern geteilt (dem Judex und der Jury), und die Aktionenformeln des Prätors sind oft mit den richterlichen Anweisungen an die Jury verglichen worden. Auch war der römische Zivilprozeß - ähnlich dem englischen Verfahren - von den Maximen der Mündlichkeit, Konzentration, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit beherrscht4 • Ja, die Jury selbst, die man als die wichtigste Quelle der großen Systemverschiedenheit zu betrachten pflegt, wurde erst von den normannischen Eroberern vom Kontinent nach England gebracht5 • Andererseits können in allen Phasen der Rechtsgeschichte Englands Merkmale der dem Civil Law angeblich eigenen Offizialmaxime nachgewiesen werden. So mag - unter direktem oder indirektem Einfluß der Kirche - die nachklassische römische Extra Ordinaria Cognitio, welche sowohl die Öffentlichkeit und die Dichotomie des Verfahrens als auch die Prozeßformel abgeschafft und den Richter zu einem Z Schaad, passim; oben § 220 Anm. 24. Für Luzern, vgl. Alois Trollers Gesetzentwurf. 3 B. Kaplan 421. Siehe oben § 96-101. • Siehe etwa Cappelletti 289-300. 5 Millar 16, 20.

§ 224

"Adversar"-verfahren und "Inquisition"

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öffentlichen Beamten gemacht hatteS, das Modell für manche Phasen der Equity Justice des Kanzlers von England gewesen sein7 • § 224. Wahre Gründe. Angebliche geschichtliche Notwendigkeit und offizielle Ideologie beiseite lassend, werden wir wohl tiefer suchen müssen, um den eigentlichen Ursprung der fortbestehenden Spaltung der beiden Rechtssysteme zu finden. Wir werden feststellen und akzeptieren müssen, daß es Erscheinungsformen amerikanischer Rechtsinstitutionen gibt, die tief in sozial-psychologischen Phänomenen verwurzelt, nicht wirksam bekämpft werden können, ohne zugleich jegliche Hoffnung auf Reform aufs Spiel zu setzen. Wiederum ist hier, weit über seine zufällige Stellung im Sozialgefüge hinaus, die historische Funktion und Gestalt des Richters im anglo-amerikanischen Bereich von entscheidender Bedeutung. Es ist nicht ganz richtig, den Gegensatz zwischen dieser Position des anglo-amerikanischen Richters und jener des kontinentalen beamteten Richters mit dessen bescheidener gesellschaftlicher und finanzieller Stellung zu erklären. Diese Stellung hat natürlich die Bestellung jener der Common Law-Justiz so weit überlegenen Personenzahl erleichtert, die für den Arbeitsanfall eines auf den Richterbetrieb aufgebauten Zivilverfahrenssystems benötigt wird8 • Aber zum einen wird - wie das enttäuschende Beispiel der romanischen Entwicklung bewiesen hat richterliche Effizienz weder durch die Zahl noch durch den gesellschaftlichen und finanziellen Status des Richterpersonals allein bestimmt. Zum anderen müßte weder das Fehlen eines richterlichen Beamtenstandes noch das zum Teil dadurch verursachte Bestreben, Vergrößerung des Arbeitsanfalles zu vermeiden, die Länder des Common Law davon abhalten, zumindest einige der fortschrittlichen Maßnahmen des germanischen Rechtskreises zu rezipieren. Versuchen wir also, ein wenig tiefer zu schürfen. Da fällt uns wohl zunächst die recht bescheidene Rolle des erhabenen Common LawRichters als die eines fast untätigen Schiedsrichters auf, eine Rolle, die sich in so eigenartiger Weise von jener des kontinentaleuropäischen Richters unterscheidet, dessen geringe soziale und wirtschaftliche Stellung mit einer solchen Machtfülle im Gerichtssaal verbunden ist. Die den beiden Sozialstrukturen in bezug auf die Vaterfigur des Richtersll Engelmann 316-323. Millar 30; Engelmann 448---451, 494--497. 8 Siehe B. Kaplan 417; Cappelletti 301; Ginsburg und Barzelius §§ 3.10-12; oben § 106. Seltsamerweise konnte ein Mann vom Range eines Calamandrei 8

7

(83) die "Hinlänglichkeit" der geringen Anzahl der englischen Richter aus deren enger Zusammenarbeit mit der Anwaltschaft (bar) erklären, statt die geringe Zahl der vor Gericht gelangenden Fälle zu betonen, die der Unzugänglichkeit der Gerichte zu danken ist. • J erome Frank, passim.

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4. Kap. (e): Prozeßrecht

§225

innewohnende Ambivalenz mag uns die seltsame Analogie der Stellung der Frau nahelegen, die, obwohl (oder weil?) sie in Europa eines Postamentes entbehrt, dort schon seit langem so viel mehr Freiheit und Einfluß hat als ihre amerikanische Schwester. Ist diese ein Matriarch, so ist der amerikanische Richter ein Patriarch - sowohl mit seinem Anspruch auf Verehrung als auch in seiner latenten Hilflosigkeit. Es mag wohl sein, daß es diese Verehrung und Hilflosigkeit waren, die das Erscheinungsbild des amerikanischen Richters geprägt und bewahrt haben als das eines fast mehr als menschlichen Streitzeugen hoch über dem allzu menschlichen Spielfeld des Gerichtssaales. Offenbar ist dem amerikanischen Juristen diese seltsame Rollenverteilung erwünscht. Nur so ist es zu erklären, daß er bisher das offenbare Fehlschlagen solcher, auf halbem Wege steckengebliebener Reformversuche in Kauf genommen hat wie die Vorverhandlungskonferenz ("pretrial"), die den Richter wenigstens außerhalb des eigentlichen Verfahrens am Rechtsstreit "beteiligen" solllO. Wenn so tatsächlich die irrationale Rolle des Richters als eines entfernten Idols bewahrt werden soll, so müßte man aber wohl Bemühungen erwarten, den unvermeidlich hohen Preis für diese Institution wenigstens dadurch zu verringern, daß man soviele ihrer Angriffsflächen beseitigt wie möglich, ohne das Idol zu zerstören. In einer solchen Bemühung wäre die Annäherung zwischen den Verfahrenstechniken des sogenannten Partei- und Richterbetriebs die wichtigste Aufgabe. e) Annäherung?

§ 225. Eine Annäherung zwischen den beiden einander gegenüberstehenden Systemen kann gewiß nicht durch ein politisches Fiat erfolgen, wie dies in Japan versucht worden istl l . Vielmehr muß eine solche Entwicklung langsam und vorsichtig vorbereitet werden. Hierher gehören gewisse Einbrüche in das Parteibetriebs-System, die ein entscheidendes Zurückweichen der "party prosecution" ankündigen1!. Lügendetektoren, Blutuntersuchungen und vor allem die wechselseitige Erzwingung der Bekanntgabe von für den Rechtsstreit bedeutsamen Tatsachen und Urkunden ("discovery")13 haben die "inquisitorische " Suche nach tatsächlicher "Wahrheit" ebenso gefördert wie etwa die Zulassung sogenannter "Freunde des Gerichtes" (amici curiae) oder der langsame NiederSiehe etwa MiUaT, Kap. V; RosenbeTg, Kap. 1, 2. Siehe etwa Tanabe, passim. über europäische Refonnversuche, vgl. etwa Wassermann. 11 Siehe statt vieler MiHar, Law; oben § 220 Anm. 28. 13 Siehe etwa Wigmore, Band 6 §§ 1856 ff.; LouiseU, Discovery; GlaseT; MittaT, Kap. XIV (auch eine römisch-kanonische Rechtsgeschichte); Homburger 13-19. 10

11

§ 226

"Adversar"-verfahren und "Inquisition"

BB7

gang juristischer Parteienargumentation den Wunsch nach objektiver Rechtsfindung unterstützt hat, der wohl schließlich auch in Amerika zur Annahme des uralten Theorems führen wird, daß das Gericht das Recht selbst kennt (iura novit curia). Andere wichtige "inquisitorische" Entwicklungen im Bereich des Common Law haben sich im Verwaltungsverfahren ereignet14 und können auch in Vorschlägen für eine zumindest begrenzte Einführung eines beamteten Richterstandes und in solchen kleineren Modifikationen des Parteibetreibssystems gefunden werden15 , wie in den bereits erwähnten "pretrial" Experimenten18 • Aber mehr, viel mehr wird geschehen müssen, um des "kleinen Mannes" Zugang zu seinem Richter zu gewährleisten. Auch wird man ganz allgemein das Prinzip der party prosecution aufgeben müssen. Dieser Vorgang kann dadurch beschleunigt werden, daß man wie in England die Jury aus bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gänzlich verdrängt und außerstreitige Verfahrensarten einführt, deren Fehlen im amerikanischen Recht derzeit eine geradezu katastrophale Lücke darstellt. Nach kurzer Besprechung dieser und anderer Einzelmaßnahmen wird dieses Kapitel mit einem Plädoyer dafür schließen, daß in beiden Rechtskreisen das Prozeßverfahren als Ganzes dringend einer Ergänzung bedarf, diE.' freilich weitere psychologische Erkenntnis voraussetzt und vor allem den Verzicht in jedem Verfahren - sei es nun kontradiktorisch oder inquisitorisch - auf die Illusion der Allwissenheit und Allmacht eines Richtervaters. 2. Neue Lösungen

a) Der "kleine Mann" § 226. Ein Recht "für die Armen"? Von sozialen Revolutionen unberührt, hat das anglo-amerikanische Privatrecht seine mittelalterliche Klassenstruktur weitgehend bewahrt17 • Es ist freilich wahr, daß schon die junge Republik diesen Umstand schmerzlich empfand18 • Auch ist nun das "Recht der Armen" im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einer neuen Disziplin des Rechtsunterrichts und die Reform dieses Rechtes zu einem Projekt der Bundesregierung geworden19 • Aber das ist nicht genug und zuviel. Denn gerade stückweise Neuerungen sind dazu angetan, den alten Zwiespalt weiter zu vertiefen. Gewiß, es ist unzutreffend, von einem eigenen materiellen "Recht der Armen" zu 14 1&

18 17

18 U

Siehe etwa Davis, passim; Nonet, passim. Siehe John Frank 53-54, 128. Oben § 222 Anm. 42. Siehe Carlin and Howard. Für ein einzigartiges Dokument, siehe Honestus. Siehe etwa Pye; Poor; Shapo, Poor Man; Carlin et al.

22 Ehronsweig

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4. Kap. (C): Prozeßrecht

§227

sprechen. Aber vom praktischen Standpunkt ist es nur zu wahr, daß in den Vereinigten Staaten der typische kaufmännische Rechtsstreit sich kunstreicher und kostspieliger akademischer "Rechtsforschung" (research) zu bedienen pflegt, während die Beurteilung der rechtlichen Belange des kl~inen Mannes sich mit einer Mischung von Rätselraten und rascher Orientierung aus Produkten eines viertklassigen kommerziellen Dilettantismus begnügen muß. Selbst jene Entscheidungen des amerikanischen Obersten Gerichtshofes, die jedem R~chtssuchenden einen Rechtsbeistand garantieren, bieten lediglich einen Notbehelf innerhalb eines Systems, welches sein Heil ausschließlich in der V~rvoll­ kommnung der auf den Parteienbetrieb aufgebauter Prozeßtechniken sucht. Die Zukunft des Zivilprozesses wird sich des "kleinen Mannes" annehmen müssen, dem heute mit seinen alltäglichen Sorgen und Geschäften der Zugang zu den Gerichten allzu oft verschlossen bleibt. Zur Begründung dieser Kritik soll hier nur auf einen, allerdings entscheidenden Mangel des amerikanischen Verfahrensrechtes hingewiesen werden. § 227. Anwaltskosten. Die ReC'.htspraxis der Vereinigten Staaten ist fast die einzige, die der im Prozeß obsiegenden Partei den Ersatz d~r ihr erwachsenen Anwaltskosten vorenthält. Dies hat zur Folge, daß Millionen von Rechtsschutzbegehren, die, wenn auch objektiv gering, für den von einem mächtigen Gegn~r geschädigten kleinen Mann von großer Bedeutung sein können, undurchsetzbar bleiben. Eine derartige, jeder Gerechtigkeit ins Gesicht schlagende Praxis dem Gebot einer Fairness zuzuschreiben, welch~ Rechtsstreitigkeiten verhindern SOlllO und "Schlagen des bereits am Boden liegenden Gegners" unterbinden soll, erscheint geradezu grotesk! Beide Begründungen unterstellen, daß Gerichte öfter falsch als richtig ~ntscheiden. Denn nur unter dieser zynischen Annahme wäre es in der Tat fairer, Rechtsstreitigkeiten abzuschrecken als die unterliegende Partei mit den Prozeßkosten zu belasten. Tatsächlich entspringt denn, wie ich an anderer Stell~ dargelegt habe, diese erstaunliche Praxis keineswegs einer Forderung der Fairness, sondern reinem Zufall: eine im 19. Jahrhundert erfolgte Abwertung des Dollars hatte aus englischen Gesetzen übernommene Bestimmungen, die der im Rechtsstreit obsiegenden Partei fixe Anwaltskosten zusprachen, zur Erfüllung ihres Zweckes unfähig gemacht und die amerikanischen Gerichte veranlaßt, anstatt diese Kostensätze zu erhöhen deren Zuspruch als Ersatz der Gerichtskosten umzudeuten und so 20 Siehe B. Kaplan, Cooley Lectures. Einen ähnlichen, völlig unhaltbaren Angriff gegen "gewisse Rechtssysteme" findet man in einer oberstgerichtlichen EntScheidung, die diesen Systemen vorwirft, sie seien "bereit, ja begierig, Prozeßkosten in einer Höhe zuzusprechen, die selbst vollberechtigte, gutgläubige Rechtsansprüche an ihrer Verfolgung hindert". Farmer v. Arabi an American Oil Co., 379 U.S. 227, 235 (1964).

§ 228

Prozeßkosten und Bagatellgerichte

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die Tragung der Anwaltskosten demjenigen zu überlassen, auf den sie gefallen waren!1. § 228. Flickwerk. Gelegentliche Kompromißvorschläge und Maßnahmen zur Hilfe für den kleinen Mann sind als unzulänglich anzusehen22 • Und die Lobpreisung der sogenannten BagateUgerichte ("small claims courts"), die um ihres leichten Zuganges willen als Lösung des Problems angeboten werden, heißt dem Schaden noch den Spott zuzugesellen. Im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Bestimmung21 haben nämlich derartige Gerichte, welche nicht nur Rechtsanwälte, sondern auch alles formulierte Recht ausschalten, längst fast jede andere Funktion verloren als die von Inkassobüros24 • Schließlich ist auch die Institution der unentgeltlichen Rechtshilfe (legal aid), insoweit sie weiterhin als Wohltätigkeit und nicht als Erfüllung eines Anspruches aufgefaßt wird, nichts weiter als das Zerrbild einer demokratischen Einrichtung 25 • Aber selbst eine Rechtshilfe, auf die, wie etwa im Bereich des Commonwealth, auf dem Kontinent oder in den skandinavischen Ländern ein Anspruch bestände, könnte im Rahmen des amerikanischen Parteiprozesses mit seiner Betonung der Allwichtigkeit der Rechtsvertretung nur zu einer weiteren Festigung der bestehenden Ideologie führen!l.

Garantien richterlicher, nicht anwaltlicher Hilfe müssen, nach dem Beispiel zentraleuropäischer Praktiken zum wichtigsten Bestandteil einer Reform des amerikanischen Prozeßrechtes werden. Man könnte hoffen, daß eine solche Reform, die mit einer wesentlichen Erhöhung der Zahl von Richtern und Rechtshelfern verbunden sein müßte, weitgehend ohne Störung der psychologischen und daher sakrosankten Eigenarten des amerikanischen Systems möglich wäre, zumal dann, wenn sie auch von der Abschaffung der Jury im Bereiche privatrechtlicher Streitigkeiten begleitet würde. 21 Ehrenzweig, Great Society; ders., Counsel Fees. Für Schweden, siehe Ginsburg und Barzelius, Kap. 10, S. 62; für Frankreich, Herzog § 12.08. Die

Bestrafung der verlierenden Partei geht bis auf die Zeiten Platos zurück. Erik Wolf IV/2, 296. über die amerikanische Ersatzinstitution der .. contingent fees", der prozentuellen Beteiligung des Anwalts, die anderwärts als strafbar angesehen wird, vgl. etwa Louisell und Williams, Parenchyma, Kap. 14; Schwartz und Mitchell. 22 Siehe etwa John Frank 135-136. 23 Siehe Herbert Smith, passim. 24 Siehe etwa Moulton. Siehe auch Friedman and Macaulell 497; Comment, 42 U. Southern California L.Rev. 493 (1969). über andere Mißbräuche im Bereich dieser Eintreibungsverfahren, siehe Semmel, Teil 11. Die Einführung von Mandatsverfahren wäre für diese Zwecke ungleich geeigneter. Siehe etwa Vigoriti. 25 Siehe etwa Jackson 338-350. 21 Siehe allgemein Semmel, Teil I; Geoffrey Hazard, passim. Siehe auch Abel-Smith and Stevens, Kap. 8; Utton (Commonwealth); Herzog § 12.1 (Frankreich); Cappelletti and Perillo § 2.07 (Italien); Ginsburg and Barzelius § 2.10 (Schweden).

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4. Kap. (C): Prozeßrecht

§ 229

b) Die Jury

§ 229. Justitia ist blind - nicht nur gegenüber Rangunterschieden, sondern auch gegenüber dem Traum von absoluter Gerechtigkeit. Es ist ihre Aufgabe, mit ihrer Waage für die gewichtigere Gerechtheit das Urteil zu sprechen. Genaue Gewichte sind es, die wir von ihr erwarten, gutes Recht, weder absolute Gerechtigkeit noch absolute Wahrheit. Wenn aber die Gewichte trügen, wo das Recht versagt, da ist ihr Amt zu Ende. Eine Richterbank des Volkes tritt für sie ein - in "historischer Beschränkung sowohl von exekutiver wie von judizieller Gewalt"27. So ist es denn der Jury wichtigste Funktion2B , das Recht zu korrigieren, wo es der Korrektur bedarf28 • Und das wird immer dort so sein, wo irrationale Faktoren das Recht behindern, wie dies im Vergeltungsstrafrecht allerorten der Fall ist und wohl immer sein wird (§ 203). Ähnlich wird das amerikanische Schadensersatzrecht unfähig bleiben, ohne die Jury auszukommen, solange die Irrationalität seiner Schuldformel nicht durch rationale Systeme allgemeiner Schadensverteilung ersetzt worden ist (§ 214)10. Sonst aber ist die Abschaffung der Ziviljury (allenfalls nach vorheriger Aushöhlung innerhalb der von der Verfassung gezogenen Grenzen)31 auch in den Vereinigten Staaten in unmittelbare Reichweite geruckt32• Zumindest das Erfordernis der Sprucheinhellig27 United States v. Reynolds, 90 S.Ct. 803, 809 (United States 1970). Douglas, J., Dissent. Seine Berufung auf Bushell's Case, 6 How. State Trials 999 (1670) ist irrig, da dieser Fall der Jury bessere Kenntnis der Fakten betont. Ebenda

1010-1011.

28 Siehe etwa Kalven and Zeisel; Comish; Erlanger, passim; Devlin, Jury. Für historische Kritik, siehe etwa A. E. D. Howard 340-344. 2t Siehe auch Schoenfeld, Childhood 153; Comish 115-125; Henry, passim; Kalven and Zeisel, Kap. 17, 19, passim. Vgl. etwa Louisell and WUliams

§ 11.14.

Oben §§ 203, 214. Das 7. Amendment der amerikanischen Verfassung garantiert bei sämtlichen Bundesgerichten ein Recht auf die Jury, und die Verfassungen der meisten Bundesstaaten haben diese Garantie übernommen. Nachdem sich diese auf den Stand des Jury-Verfahrens zur Zeit ihres Inkrafttretens bezieht, schließt sie aber weder equity noch andere seither geschaffene Verfahrensarten ein. Auch können die Parteien auf den Jury-Prozeß verzichten, und ein solcher Verzicht kann in gewissen Fällen selbst durch Richterspruch oder Gesetz vermutet werden. Der gängige "historische Test" (Versteinerungstheorie) bietet sich somit selbst als Mittel für eine fortschreitende Beiseiteschiebung der Jury an. Selbst in Strafprozessen ist es denn auch zu einer Verminderung der zeithonorierten Zwölfzahl der Geschworenen und der für ihre Entscheidung notwendigen Stimmenzahl gekommen. Siehe Johnson v. Louisiana, 406 U.S. 356 (1972). Um so eher müßte es gelingen, weitere entscheidende Schritte in dem unaufhaltbaren Prozeß der allmählichen Aushöhlung des Jury-Systems im Bereich der Zivilverfahren zu tun. Siehe James § 8; Joiner 82, 220-22l. Für die Entwicklungsgeschichte und frühe Kritik an der "Einstimmigkeitsregel", siehe Forsyth, Kap. X, XI. 32 Siehe etwa B. Kaplan 428. 80

81

§ 230

Jury und Freiwillige Gerichtsbarkeit

841

keit sollte nur in Straffällen beibehalten werden, wo es durch die Vermutung der Unschuld des Täters einigermaßen gerechtfertigt wird. In Zivilstreitigkeiten kann dieses Erfordernis nur zu oft zu Rechtsverweigerung führen 93 • Die Abschaffung der Jury würde durch Prozeßvereinfachung dem kleinen Mann zugutekommen. Denn ein Richter, der allein für die Beurteilung der Tatsachen verantwortlich ist, wird wohl kaum fortfahren, sich selbst durch verwickelte Beweisregeln vor "ungehörigen" Beweisversuchen zu schützen34 • Genausowenig wird wohl ein "Parteieneigentum" an Zeugen und Sachverständigen die Institution der Jury überleben35 • Sollte die amerikanische Justiz auch dann noch das kontinentale diktierte Protokoll verwerfen96 , so wird sie doch wohl zumindest anstelle des teuren und umfangreichen "Transskript" das Tonband als genügende Grundlage für das Rechtsmittelverfahren anzunehmen lernen. Und der Richter wird endlich bereit sein, allein den Gang des Verfahrens zu bestimmen. Sowohl der "Zuschauer-Richter" als auch der "Diktator-Richter" wird so schließlich dem "Richter-Direktor" gewichen sein97 • c) Freiwillige Gerichtsbarkeit

§ 230. Ein amerikanischer Richter, selbst wenn er Tatsachen ohne die Hilfe oder den Hemmschuh von party prosecution und Beweisausschlußregeln feststellen dürfte, so sollte er (wie schon früher bemerkt) vielleicht doch nicht seines traditionellen Erscheinungsbildes als eines bloßen Umpire zur Gänze beraubt werden38 • Aber es gibt gewisse Verfahren, in denen dieses geläuterte Bild jedenfalls hinter einem Allgemeininteresse zurückzustehen hat. Noch heute werden in den Vereinigten Staaten solche Angelegenheiten mit Offentlichkeitsbezug, wie etwa Vaterschaftssachen, die "Obhut" über ein Kind aus zerrütteter Ehe, der Schutz eines Entmündigten oder die Sicherheit des Liegenschaftsverkehrs fast ausschließlich in die Hände streitender Parteien gelegt. Daß aber der Richter in derartigen und ähnlichen Situationen als ein 33 über das Mehrheitsverdikt, siehe allgemein Cornish 69, 182, 258-260 (Strafrechtsfälle im Vereinigten Königreich); ders. 77 (Zivilrechtsfälle mit Einwilligung der Prozeßparteien); Downie. U Siehe oben § 221 Anm. 32. Siehe auch Wigmore, Law; Lou.isell and

Williams 464. 35 Oben § 222 Anm. 49. 81 Oben § 222 Anm. 49. 37 Akala-Zamora 599. Das weltweite Anrennen gegen das "Establishment"

scheint ironischerweise am Kontinent eine gegenläufige Bewegung in Richtung einer erneuten Belebung der Parteienmaxime hervorgerufen zu haben. Bau.r, Zeit 446--447; Calamandrei, Relazioni. 38 Siehe oben Anm. 9; Wenger § 4.

4. Kap. (C): Prozeßrecht

342

§231

parens patriae zu fungieren hat, war selbst schon den 12 Tafeln von 2500 Jahren bekanntS8 , ebenso wie dem englischen Kanzler 2000 Jahre darauf40 und den meisten geltenden Rechtssystemen41 • Es ist hoch an der Zeit, für den amerikanischen Richter eine neue Funktion zu schaffen, in welcher er, "extra litigium", von seinen "inquisitorischen" Kollegen in anderen Teilen der Welt nicht mehr zu unterscheiden sein wird'!. Darüber hinaus aber dürfen wir hoffen, daß in nicht zu ferner Zukunft, Richter überall in jedem Prozeß, sei er nun streitig oder nicht, immer deutlicher der Grenzen menschlicher Wahrheits- und Gerechtigkeitssuche bewußt, lieber Frieden suchen werden in resignierendem Kompromiß als willkürlichen Orakelspruch. 3. Und die Wahrheit? a) Non

liquet

§ 231. Der kontinentaleuropäische Jurist vermeint, daß richterliche Machtfülle und Weisheit der Wahrheit näherkommen könne als die dem Parteibetrieb eigentümlichen Prozeßregeln und Fertigkeiten seiner amerikanischen Kollegen; und, noch gläubiger, hofft der Jurist des kommunistischen Rechtsbereiches selbst kontinentale Prozeßmethoden durch das Aufsuchen "objektiver Wahrheiten" mittels des "sozialistischen Bewußtseins" vervollkommnen zu können (§ 222). Der Jurist des Common Law dagegen ist skeptischer bezüglich solcher Wahrheit "von oben" und begnügt sich mit seinem Glauben an die einzigartigen Vorzüge seiner eigenen Werkzeuge. In diesem Buch habe ich den Standpunkt vertreten, daß wir am Ende die letzten Rätsel der Philosophie als ungelöst hinzunehmen haben, daß wir den Wunschtraum nach einer absoluten "Gerechtigkeit" aufge3D

Engelmann 260.

Des Königs "Gnade" und später sein "Gewissen" gaben dem Kanzler die Grundlage seiner "equitable" Gerichtsbarkeit. Siehe etwa Jenks 31-36; Holdswoth, Band 5, 215-218. 41 Bezüglich der "wards of court" im englischen Recht, siehe etwa Jenks 241. Für das kontinentale Recht, siehe etwa Neitzel (Deutschland); Cappelletti and PeTillo 352-359 (Italien); HeTzog 494-499 (französische "juridiction gracieuse"); allgemein Alcdla-ZamoTa, Eficacia, der Japan, Skandinavien und die arabische Welt zu den Ländern zählt, die ein solches Verfahren entbehren. 4Z Matter of Lincoln v. Lincoln, 247 N.E. 2d 659, 660 (New York 1969): "Es wird notwendig sein, begrenzte Modifikationen am Gefüge des traditionellen ,adversary'-Systems vorzunehmen", wo immer der Richter im öffentlichen Interesse handelt. Siehe etwa auch Hawaii v. Standard Oil Co., 301 F. Supp. 982 (Hawaii 1969), wo Fälle angeführt werden, in denen "parens-patriae" Klagen durch bundesstaatliche Gerichte angenommen oder zurückgewiesen wurden. 40

§ 232

Non Liquet Ius

ben und uns in die Wirklichkeit einer sich immer verändernden Wahlentscheidung zwischen widerstreitenden Gerechtheiten fügen müssen. In ähnlicher Weise müssen wir auf jeden Versuch verzichten, im Gerichtssaal absolute "Wahrheit" zu finden, Wahrheit des Rechts oder der Tat, und uns damit bescheiden, das was nur Spiel sein kann, so fair wie möglich zu spielen oder, rationaler, Sieg und Niederlage zu teilen. In solcher Bescheidung hat konfuzianische und buddhistische Weisheit den Rechtsstreit verpönt und Vergleich gesucht 43 • Nur selten hat der Westen diese Weisheit geteilt44 . Alle abendländischen Prozeßordnungen, jene des Common Law ebenso wie jene des Civil Law, jene der kapitalistischen ebenso wie die der sozialistischen Welt bestehen darauf, daß der Richter berechtigt und verpflichtet sei, sowohl das wahre Recht wie die wahren Tatsachen zu kennen, und daß er so zu entscheiden habe, als ob er beide gefunden hätte und dann schließlich "alles oder nichts" zu geben. Ja, der abendländische Richter muß so entscheiden selbst dann, wenn er weiß, daß er die Wahrheit nicht gefunden hat und sie nicht finden kann. Ein "non liquet" steht ihm nicht zu, weder mit Bezug auf das ius noch mit Bezug auf das factum. § 232. Non liquet ius. Zumindest seit Napoleons Verbot45 hat man in allen Rechtssystemen die Möglichkeit von "Lücken" verneint (§§ 60-62) und so den Richter gezwungen, das beantragte Rechtsmittel entweder zu gewähren oder zu verweigern. Oft geschah dies mit Hilfe der uralten, allgegenwärtigen und unausrottbaren Fiktion. Mit ihrer Hilfe hat der Richter vorgegeben, "das richtige Recht zu finden und wie ein Orakel die in diesem Recht verborgene Lösung zu verkünden"48. Nur im Niemandsland des Völkerrechts wird stattdessen gelegentlich Abweisung der Klage ohne Präjudiz darum befürwortet, weil man so hofft, Erbitterung zu vermeiden, die sonst durch eine als willkürlich erscheinende Neuschaffung von Rechtsregeln verursacht werden könnte47 . Vielleicht hat auch die seltsame im Privatrecht Kaliforniens geltende Regel, wonach eine solche Abweisung möglich ist, wo eine "anwendbare" fremde Norm nicht bewiesen worden ist, ein ähnliches Ratio43 Siehe etwa Northrop 185-186; Wigmore 150; Jerome Cohen, Mediation; Henderson. Für afrikanische Analogien, siehe etwa GuUiver; Gluckmann

(1972) 10-12. 44 Richter Bridlegoose zog es vor, seine Entscheidungen "durch das Würfellos" zu begründen. Rabelats 441. 45 Code Civil Art. 5. Im Bereich der internationalen Gerichtstätigkeit ist dieses Problem noch nicht ausdiskutiert, nachdem eine Entscheidung wo "Wissen und Erfahrung" fehlen, gerechte Streitbeilegung auszuschließen vermag. Stone, Non liquet 152. 48 Siehe etwa Ross, Fictions 232. 47 Siehe allgemein Stone, Non Liquet, der in solchen Fällen eine Streitaussöhnung anstatt einer Entscheidung empfiehlt.

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4. Kap. (C): Prozeßrecht

§ 233

nale48 • Wo aber das Rechtssystem als ein "geschlossenes" betrachtet wird, was nun ganz allgemein für alle nationalen Rechtsordnungen gilt, steht der Spruch "non liquet ius" nicht mehr in der Macht des Richters. § 233. Non liquet factum. Das erwähnte Verbot eines non liquet mit Bezug auf das geltende Recht kann wenigstens mit der theoretischen Erwägung gerechtfertigt werden, daß das Recht dort, wo es keine Abhilfe vorsieht, es im allgemeinen entweder tatsächlich oder vermutlich beabsichtigt hat, eine solche Abhilfe zu verweigern. Bedeutsamer ist es, daß der Richter sich selten durch ein solches Verbot gezwungen sehen wird, gegen sein Gewissen zu entscheiden, weil alle Rechtsordnungen, sei es durch "Equity" oder eine "Generalformel", ihm gewöhnlich die Möglichkeit geben, das ihm richtig erscheinende Rechtsmittel zu gewähren, selbst dort, wo weder geschriebenes noch ungeschriebenes Recht ihn ausdrücklich dazu ermächtigen 48 • All dies ist anders, wenn es dem Richter nicht möglich war, die ihm für seine Entscheidung nötigen Tatsachen festzustellen. Wir wollen das Strafverfahren beiseitelassen, in dem es ihm erspart bleibt, die unbeweisbare Wahrheit finden zu müssen, weil es zum Freispru