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German Pages [175] Year 2013
Orte des Denkens – mediale Räume Psychoanalytische Erkundungen herausgegeben von Insa Härtel /Lars Church-Lippmann / Christine Kirchhoff /Anna Tuschling / Sonja Witte
Band 33
Vandenhoeck & Ruprecht
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243
Herausgegeben von Susann Heenen-Wolff, Brüssel, und Jörg Wiesse, Nürnberg. Band 26: Der Fokus herausgegeben von Rolf Klüwer und Rudolf Lachauer Band 27: Verwicklungen herausgegeben von Elfriede Löchel und Insa Härtel Band 28: Psychoanalyse und Kindheit herausgegeben von Jörg Wiesse Band 29: Trauma und Wissenschaft herausgegeben von André Karger Band 30: Vergessen, vergelten, vergeben, versöhnen? herausgegeben von André Karger Band 31: Das Motiv der Kästchenwahl: Container in Psychoanalyse, Kunst, Kultur herausgegeben von Insa Härtel und Olaf Knellessen Band 32: Kino zwischen Tag und Traum Psychoanalytische Zugänge zu »Black Swan« herausgegeben von Dirk Blothner und Ralf Zwiebel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-46124-2 ISBN 978-3-647-46124-3 (E-Book) © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Tabula Gratulatoria
Isabel Bataller Bautista Karin Dahlke Angelika Ebrecht-Laermann Anna Gätjen-Rund Helga Gallas Thomas Ganser Lilli Gast Heiner Menzner Helmut Reichelt Christa Rohde-Dachser Roman Rudyk Brigitte Scherer und Matthias Waltz Peter Schneider Erhard Tietel Gerhard Vinnai Birgit Volmerg Rolf-Peter Warsitz
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Lilli Gast Das Subjekt in der Zeit. Einige psychoanalytische Überlegungen zur Ethik der Endlichkeit und der Generationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Anna Tuschling Begierde contra Begehren. Lacans Antwort auf Kojèves Anthropologisierung Hegels . . . . . . . . . . . . . . . 28 Gerhard Vinnai Räume des Wünschens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Christine Kirchhoff Stimme, Licht und Schatten des Objekts. Bemerkungen zur Erkenntnis mit der Psychoanalyse . . 52 Katharina Rothe Spannung halten im Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Angelika Ebrecht-Laermann Schreib das auf ! Über einige Schwierigkeiten, Gedanken in Worte zu fassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
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Inhalt
Sonja Witte Wohlwollende Analytiker und nonkonformistische Gesellschaftskritiker im Kino. Eine Interpretation zeitgenössischer Massenkulturtheorie . . . . . . . . . . . . . . 81 Helga Gallas Slavoj Žižek als Filmanalytiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Anna Gätjen-Rund Die Couch – ein Funkloch? Oder: Immer online … . . . 104 Sabine Offe Schuldig Sprechen. Eine Märchenlektüre . . . . . . . . . . . 116 Insa Härtel Ans Licht: Sally Manns „Venus after School“ . . . . . . . . 128 Isabel Bataller Bautista Experimentelle Psychologie und Psychoanalyse in ihrer Beziehung zur Universität. Ein geschichtlicher Exkurs über Grenzen und Chancen . . . . . . . . . . . . . . . 138 Brigitte Scherer und Matthias Waltz Subjektivierung in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
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Vorwort
M
it diesem Band möchten wir das Denken Elfriede Löchels würdigen, welches nicht zuletzt Orte des Denkens selbst betrifft – und zu diesem kontinuierlich anregt. Elfriede Löchels Arbeit kann man als ein Denken zwischen Räumen bezeichnen: Das betrifft das Denken zwischen klinischer Praxis und Wissenschaft an der Universität, aber auch die von ihr vertretene psychoanalytische Forschung selbst, der es – so lässt sich nicht zuletzt angesichts des Spektrums ihrer Arbeiten feststellen – um das Denken von Zwischenräumen geht, besonders auch um die Konfrontation mit dem Wunsch, diese zu übergehen oder zu umgehen. „Wünschen kann man immer …“ Gerade aber, dass immer etwas zu wünschen übrig bleibt, ist weder Anlass zur Resignation noch Aufforderung, die Wünsche schnell erfüllt sehen zu wollen und die Lücken zu schließen, sondern eine intellektuelle Herausforderung und ein Versprechen. Die Arbeiten Elfriede Löchels zeichnen sich auch durch die erbrachte Übersetzungsleistung aus: eingedenk der Differenz, die psychoanalytische Haltung in Forschung zu übersetzen. Dass es dabei darauf ankommt, zwischen gleichschwebender Aufmerksamkeit auch für die scheinbar nebensächlichen Details, dem Hören auf Affekte und Einfälle und dem klaren, fokussierten Denken und Formulieren hin- und herwechseln zu können, das zeigen ihre Arbeiten auf großartige Weise und machen die Lektüre zu einem Vergnügen.
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Vorwort
„Wissenschaftliche Texte werden normalerweise nicht wie Briefe gelesen“, schreibt Elfriede Löchel, doch wäre Lektüre in dieser Weise vielleicht „die höchste Würdigung, die man einem Text erweisen kann“ (Löchel, 2008, S. 40). Das bedeutet, mit einem Text nicht als einem stillgestellten Objekt zu verfahren, welches es zu erfassen, zu zitieren oder zu revidieren gilt, sondern Lesen als eine „Kreuzung“ des Begehrens zu verstehen, des eigenen mit dem Begehren des Texts. Nicht unähnlich der analytischen Situation wird so der Übertragung Raum gegeben und das heißt der damit verbundenen Frage des Subjekts nach dem Begehren eines Anderen: „Was will er mir?“ (Löchel, 2008, S. 39). Jeder Brief, jeder Text ist so mit Elfriede Löchel als ein Ort des anderen zu lesen, dessen Adressat „während des Schreibens und im Geschriebenen als Abwesender anwesend“ ist (S. 39), für den Schreibenden immer auch Platzhalter eines „größeren Anderen und einer nicht aufhebbaren Abwesenheit“ (S. 39). Sich nicht dazu verführen zu lassen, die an diesem Ort/dieser Kreuzung entstehende Ratlosigkeit, die Irritationen und Konflikte vorschnell mit Gewissheit zu kitten, sondern dazu, diese selbst als Antworten auf die letztlich nicht zu lösende Frage „Was will er mir?“ wiederum zu befragen ist etwas, was das Denken Elfriede Löchels so wertvoll macht – ein Fort-da-Spiel der Vergegenwärtigung der „Beziehung zu der grundsätzlichen Abwesenheit […], auf der die symbolisch vermittelte Welt beruht“ (S. 40): „Denkenkönnen dessen, was nicht ist“ (Löchel, 2000, S. 107). Der thematische Schwerpunkt, der sich für unseren Band ergeben hat, ist eine Reflexion der Arten und Weisen psychoanalytischen Erkennens sowie dessen – subjekt-intrusiven – Medialität. Subjekt-intrusiv: Diesen Begriff haben wir Löchels Aufsatz „Versuch über das Lesen und Schreiben. Zur Psychodynamik alter und neuer Medien“ (Löchel, 2006) entnommen. Dort heißt es u. a.: „Wenn Nietzsche im Zusammenhang mit der mechanischen Schreibmaschine sagte: ‚Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken‘ […], dann möchte ich
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Vorwort
hinzufügen: nicht nur an den Gedanken, es arbeitet auch mit an der Struktur und Verfassung von Subjektivität“ (Löchel, 2006, S. 113). Medien – von zum Beispiel der Buchstabenschrift bis zu den neuen Medien – verstricken das Subjekt nach Löchel „mit seinen Wünschen, Ängsten und Konflikten unauflöslich in ihrem Netz, weil sie mit Symbolgebrauch und Interaktion zu tun haben und weil Symbolgebrauch und Interaktion die Wege sind, auf denen Identität und Begehren, Selbst- und Weltbezug menschlicher Subjekte sich herstellen“ (Löchel, 2006, S. 114). Und so spannt dieses Zitat in seiner verdichteten Form selbst schon ein Netz zwischen Medium, Denken, Subjekt und seinen vermittelten Bezügen. Anliegen dieser Publikation ist es, ausgehend von einem psychoanalytischen Fokus ein in dieser Hinsicht breites inhaltliches interdisziplinäres Spektrum aufzufächern. Wir haben Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld Elfriede Löchels eingeladen, um – dem Selbstgewissen entgegen – über das Denken und Wünschen ebenso nachzudenken wie über das Verhältnis von Psychoanalyse und Medialität, welches so unterschiedliche Aspekte umfassen kann wie die Praxis des Lesens und Schreibens, die Bestimmtheit und Unbestimmtheit medialer Räume oder die mediale Verfasstheit des Subjekts in seinen differenten Weltbezügen. In ihrem Beitrag „Das Subjekt in der Zeit“ stellt Lilli Gast einige „psychoanalytische Überlegungen zur Ethik der Endlichkeit und der Generationalität“ vor: Die Spannung zwischen der Unendlichkeit des Wünschens und der Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit mache die Menschen, so Gast mit Rekurs auf Blumenberg, zu „trostbedürftigen Wesen“. Dies habe eingreifende Folgen für die psychische Repräsentation von Generationalität, da die zu betrauernde Endlichkeit im Generationenverhältnis kodifiziert werden müsse. Anna Tuschling untersucht am Beispiel des Begehrens die Spuren der anthropologischen Philosophie Alexandre Kojèves in der strukturalen Psychoanalyse. Diente der über Kojève vermittelte Hegel-Bezug Lacan auch zu einer Fundierung sei-
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Vorwort
ner Theorie und Herangehensweise, so finden sich insbesondere im Begriff des Mangels als Voraussetzung des Begehrens anthropologische Elemente, die es erneut zu befragen und zu problematisieren gilt. In seinem Beitrag „Räume des Wünschens“ fragt Gerhard Vinnai nach den Implikationen der von Freud festgestellten Unerfüllbarkeit des Wünschens für eine analytische Sozialpsychologie. Kritisches Denken, so Vinnai, dürfe sich nicht nur an die Realität binden, sondern müsse sich auf die Suche nach zu verwirklichenden Möglichkeiten begeben. Mit der Loslösung von Idealen und Träumen wachse die Fixierung an „im Prinzip veränderbare soziale Realitäten“. Für eine Psychologie, die auf Veränderungen aus sei, stelle sich daher die Frage, wie Wünsche sich mit einem entwickelten Realitätssinn verknüpfen ließen. In „Stimme, Licht und Schatten des Objekts“ macht Christine Kirchhoff „Bemerkungen zur Erkenntnis mit der Psychoanalyse“. Beginnend mit der von Freud geschilderten Episode, in der ein sich in der Dunkelheit ängstigender kleiner Junge sagt: „Wenn jemand spricht, wird es hell“, interpretiert sie Passagen von Hegel, Freud und Adorno und unternimmt dabei einen Streifzug, der von der Dämmerung in den Schatten des Objekts und schließlich zum Versuch führt, das Licht aus der Zukunft aufzufangen; ein Versuch, der vielleicht am besten gelingt, wenn man (auch) mit den Ohren denkt. Katharina Rothe expliziert in ihrem Beitrag „Spannung halten im Denken“ die Methode psychoanalytischen Forschens, wie sie auch von Elfriede Löchel vertreten wird. Beim psychoanalytischen Forschen und Interpretieren, so Rothe, gelte es gleich mehrfach, die Spannung zu halten, auch die zwischen Theorie und Methode. Dies könne lustvoll sein, bedeute aber auch, Angst auszuhalten und nicht der Versuchung nachzugeben, einfache Antworten zu finden. Der Beitrag „Schreib das auf!“ von Angelika Ebrecht-Laermann spricht „Über einige Schwierigkeiten, Gedanken in
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Vorwort
Worte zu fassen“. Ein Ausgangspunkt ist, dass das Geschriebene nicht unbedingt vorgehenden Intentionen entspricht. Dabei ist das Schreiben nicht nur an ein Gegenüber gerichtet, sondern entsteht wie das Denken erst mittels anderer. Auch steht der zu denkende Gedanke nie nur für sich, und das Schreiben kann kaum mehr als eine Annäherung sein an das, von dem man denkt, man hätte es gedacht. Genau das aufzuschreiben ist insofern unmöglich, „als es ein Das, was aufzuschreiben wäre, nicht geben kann“, so Ebrecht-Laermann. Sonja Witte interpretiert in ihrem Beitrag „Wohlwollende Analytiker und nonkonformistische Gesellschaftskritiker im Kino“ zeitgenössische Kulturtheorien, die sich auch mit der gegenwärtigen Bedeutung und Wirkung von Medien ausein andersetzen. Ausgehend von der Beobachtung, dass von theoretischen Annahmen einer „medialen Reizüberflutung“ das Kino häufig ausgenommen und gegenüber neueren Medien als „gutes Medium“ verhandelt wird, verfolgt die Autorin exemplarisch an zwei Texten die Frage: Welches Ideal vom Kino ist in diesen theoretischen Gegenüberstellungen wirksam? Auf welche Weise ist der Wunsch nach einem „idealen Bild“ im Kino auf spezifische Weise selbst virulent und konstitutiv für die Beziehung von Publikum und Film? Inwiefern also kehrt in den Theorien ein Wunsch aus dem Kinoraum wieder? In Ihrem Beitrag über den Kulturanalytiker, Philosophen und Filmtheoretiker Slavoj Žižek gewichtet Helga Gallas die Interpretation von David Lynchs Werk „Blue Velvet“ aus Sicht der psychoanalytisch orientierten Literaturforschung neu. Einerseits schätzt Gallas Žižeks Analyse des Kinos als große Phantasmenmaschinerie, der auch gesellschaftlich die wichtige Funktion zukommt, über das Begehren und Wünschen zu unterrichten. Andererseits stößt Gallas auf ihr eigenes Begehren als Literaturwissenschaftlerin, Žižeks eigenwilliger Methode, die Verflechtungen der Phantasmen in „Blue Velvet“ unsystematisch und eklektisch freizulegen, eine Resthermeneutik entgegenzusetzen, die auf die möglichst kohärente „Gesamtinterpretation eines Werkes“ zielt.
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Vorwort
Anna Gätjen-Rund geht in ihrem Beitrag „Die Couch – ein Funkloch? Oder: Immer online …“ von der Präsenz und Selbstverständlichkeit des Internets gerade für Kinder und Jugendliche aus und den psychischen Bedeutungen nach, wie sie sich zum Beispiel im adoleszenten Umgang mit dem iPhone zeigen. Anhand eines Fallbeispiels zeigt die Autorin, wie ein Modus des „Immer online“ Phantasien über Getrenntund Verbundensein in Szene setzen und zum Beispiel einen fusionären Beziehungsmodus potenziell unterstützen kann. Die neuen Techniken sind dabei ebenso in ihren verstörenden wie produktiven Bedeutungen für die Konstituierung der Subjekte auszuloten. In ihrem Beitrag „Schuldig Sprechen – eine Märchenlektüre“ liest Sabine Offe das Märchen „Marienkind“ aus der Sammlung der Brüder Grimm als Beispiel für die Verwicklung familienbiografischer und generationstypischer Erinnerungen an solche Leseerfahrung, der Frage folgend: Wie verknüpft sich im Lesen des Textes die Doppelsinnigkeit von „schuldig sprechen“ mit Erfahrungen und Wahrnehmungsweisen von Schuld im Nachkriegsdeutschland? Die Ungeheuerlichkeit des damals Nichterzählten assoziiert sich in der Lektüre nicht diskursiv, sondern ästhetisch mit der Verführung der Leserin zu einer „großen Lust zu wissen“. Während der Text explizit von Verbot und Strafe dieser Verführung handelt, führt, wie die Autorin zeigt, der Erzählverlauf über das im Text Erzählte hinaus und evoziert eine Ahnung von Furchtbarkeit und Blockierung dessen, was gewusst werden könnte. Eine Lektüre, die autobiografische Erinnerungen und deren vieldeutige Botschaften jenseits der individuellen Familiengeschichte erzählbar zu machen sucht. Insa Härtel widmet sich in ihrem Beitrag „Ans Licht: Sally Manns ‚Venus after School‘“ der gleichnamigen Fotoarbeit von Sally Mann aus dem Jahr 1992, die ihre Tochter nackt in Szene setzt. Manns Fotografien sind umstritten und innerhalb der Zeit zu verorten, die sie hervorgebracht hat. Härtels Ausführungen laufen darauf hinaus, dass hier nicht allein mit
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Vorwort
dem fotografischen Medium verschränkte Fragen von „verlorener“ Kindheit, Unschuld oder deren Kehrseiten auftauchen. Durch das Licht im Bildhintergrund kommt vielmehr ein Nicht-Repräsentationales zum Tragen – ein infantiles Sexuelles als Denkfigur, das im Bild wiederum gerahmt erscheint. Ausgangspunkte des Beitrags „Experimentelle Psychologie und Psychoanalyse in ihrer Beziehung zur Universität. Ein geschichtlicher Exkurs über Grenzen und Chancen“ von Isabel Bataller Bautista sind die Frage nach dem Platz der Psychoanalyse an der Universität und die Forderung, „die psychoanalytischen Verfahren mit naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen, um zu ‚evidenzbasierten‘ Ergebnissen zu gelangen“. Sie unternimmt einen geschichtlichen Exkurs, um diese beiden Themen ins rechte Licht zu rücken, und beginnt mit der Zeit der Etablierung der experimentellen Psychologie an der Universität. Anschließend formuliert die Autorin Bedingungen, unter denen die Psychoanalyse ihren Platz an der Universität finden könne. Brigitte Scherer und Matthias Waltz befassen sich in ihrem Beitrag „Subjektivierung in Organisationen“ mit den unbewussten Strukturen in Arbeitsumgebungen und vertiefen ihre Überlegungen anhand eines Fallbeispiels, das den Konflikt zwischen der Leiterin einer pädiatrischen Abteilung und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schildert. Scherer und Waltz begreifen den Arbeitskontext und den Sozialtyp Organisation dabei als „psychischen Raum“, in dem sich strukturelle und unbewusste Dynamiken überlagern. Erst eine Analyse unbewusster Widerstände kann für Scherer und Waltz die anders nicht erklärbaren Vernichtungsängste der von Änderungen der gewohnten Arbeitsbedingungen betroffenen Angestellten erklären helfen. Mit Elfriede Löchel weisen sie zudem auf die wichtige Möglichkeit der Symbolisierung unbewusster Ängste hin, die im dargestellten Arbeitskontext durch Desinformation der Angestellten nicht möglich war. Wir wünschen, in dieser Konstellation der verschiedenen Texte, die auf unterschiedliche Weise, in Form diver-
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Vorwort
genter Zugänge und anhand diverser Thematiken, explizit oder implizit an Elfriede Löchels Denken anknüpfen, unsere Wertschätzung ihrer theoretischen Arbeit zum Ausdruck zu bringen. Die Herausgeberinnen und der Herausgeber
Literatur Löchel, E. (2000). Symbolisierung und Verneinung. In E. Löchel (Hrsg.), Aggression, Symbolisierung, Geschlecht (S. 85–109). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Löchel, E. (2006). Versuch über das Lesen und Schreiben. Zur Psychodynamik alter und neuer Medien. Psychosozial, 29 (104), 113–124. Löchel (2008). Spuren lesen und schreiben – Zur „Sprache des Abwesenden“ bei Freud. In F. Dirkopf, I. Härtel, C. Kirchhoff, L. Lippmann, K. Rothe (Hrsg.), Aktualität der Anfänge. Freuds Brief an Fließ vom 6. 12. 1896 (S. 39–57). Bielefeld: Transcript.
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Lilli Gast
Das Subjekt in der Zeit Einige psychoanalytische Überlegungen zur Ethik der Endlichkeit und der Generationalität
D
er Generationenbegriff spielt im politischen Diskurs unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle, wobei „Generation“ als soziologisch-demografische Ordnungskategorie verhandelt wird, die Alterskohorten vor dem Hintergrund angenommener Reproduktionszyklen voneinander unterscheidet. Generationen sind gesellschaftlich konstruierte Gruppen, die in ein komplementäres Verhältnis zueinander gebracht werden, das – diskursiv und performativ – immer wieder reproduziert wird. Auch die Psychoanalyse handelt im Kern von Generationalität, und zwar vom Niederschlag dieser Ordnungskategorie im Subjekt selbst. Die Subjektseite der Generationalität ist auf der Grenzlinie zwischen innerer und äußerer, also zwischen psychischer und intersubjektiv teilbarer Realität situiert und muss einem hochkomplexen, dialektischen und folglich alles andere als konfliktfrei verlaufenden Prozess der inneren Verhandlung abgerungen werden. Das Unbewusste allerdings schert sich nicht um Ordnungskategorien, und schon gar nicht um soziologische. Vielmehr hat die in den Registern des Wunsches und des Triebanspruchs verankerte psychische Realität der Subjekte die Tendenz, zeitliche oder kategoriale Abfolgen und Ordnungsmuster zu unterlaufen und stattdessen dem Subtext des Unbewussten Geltung zu verschaffen. Chasseguet-Smirgel (1975) hat die Verleugnung der Geschlechter- und der Generationendifferenz als Realitätszer-
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Lilli Gast
störung bezeichnet. Die entdifferenzierende Aufhebung der Geschlechter- und Generationenunterschiede sei ein Mord an der Realität (Chasseguet-Smirgel, 1975, S. 811), insofern in diesen beiden Kardinaldifferenzen der „unantastbare Kern der Realität“ (S. 810) verankert sei. Der Antipode von Verleugnung ist Anerkennung, und es geht mir hier um jene Prozesse, die das Subjekt konstituieren, und darum, wie Verleugnung und Anerkennung der (inneren und äußeren) Realität in der Subjektwerdung und in der psychischen Verfasstheit der Subjekte ineinander verschränkt sind. Besonders deutlich wird diese spannungsvolle, konfliktreiche Verschränkung in der zeitlichen Dimension, die im Hinblick auf die Generationenfrage von besonderem Interesse ist. Das Eingelassenwerden in die Realität von Zeit und Raum bringt das Subjekt hervor und macht uns zu historischen, empirischen Subjekten. Die Temporalisierung, die Verzeitlichung eines Subjekts ist einem wechselvollen und schmerzlichen Prozess abgerungen – einem Prozess, in dem Trauer und Verlust die konvertible Währung der Subjektwerdung sind. Die Psychoanalyse Freuds verfügt über eine implizite Zeittheorie, deren zwei grundlegende Achsen, die Dialektik von Regression und Progression sowie die Nachträglichkeit, für die vorliegende Fragestellung von Bedeutung sind. Die dialektische Verschränkung dieser beiden psychischen Zeitdimensionen bewirkt, dass sich die innere und äußere Realität des Subjekts in konflikthafter Weise miteinander verknüpfen und eine eigentümliche Bewegung in der Zeit hervorbringen. Deren Charakteristikum besteht vor allem darin, dass sich auf dem linearen, progressiv nach vorn gerichteten Zeitvektor, dessen kränkende Endlichkeit betrauert werden muss, wie er sich zwischen den sogenannten Facts of Life – Geburt und Tod – aufspannt, zugleich kreisförmige rückläufige Schleifenbewegungen vollziehen, die man als die subjektive, psychische Zeit des Subjekts bezeichnen könnte. Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ (Benjamin, 1940/1991, 9. These) gleich bewegen wir uns auf dem Zeitvektor die Lebens-
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Das Subjekt in der Zeit
spanne durchmessend nach vorn in eine Zukunft hinein, die mit dem Tod endet; doch tun wir dies nicht etwa sehenden Auges, sondern mit zurückgewendetem, auf die Vergangenheit gerichtetem Blick, der uns erwartenden Zukunft den Rücken kehrend. Bei Benjamin fällt der Blick des Engels auf die stetig wachsenden Trümmerberge, wie sie die Katastrophen der Menschheitsgeschichte auftürmen. Freuds Blick hingegen ist in seiner Mehrdeutigkeit hochkomplex und in sich widersprüchlich, eine Art ständig changierender „VexierbildBlick“: Der Blick des Freud’schen Subjekts richtet sich auf die Trümmer, auf die Verwehungen und Spuren einer langen Verlustgeschichte (auf die ontogenetischen Katastrophen also) – einer Verlustgeschichte allerdings, die zugleich als Möglichkeitsbedingung des Subjekts firmiert. Erst durch Verluste bringt sich das Subjekt in Erscheinung, auch wenn es zugleich, aller errungenen und erzwungenen Realitätsanerkennung zum Trotz, deren Annullierung wünscht. Im rückwärtsgewandten Blick des Freud’schen Subjekts auf die Geschichte seiner Zerrissenheit und seiner Entzweiung nämlich liegt auch die Verheißung der Wiedererlangung jener längst verlorenen und de facto nie gehabten, sondern nunmehr imaginierten Unversehrtheit und Unsterblichkeit sowie das Versprechen der Wiederfindung der aufgegebenen Objekte – und zwar in eben jenem Register der narzisstischen Wunschökonomie, die die eben erwähnte Annullierung der Verluste beansprucht. Der verdoppelte Blick, der hier im Spiel ist, ist konflikthaft und folgenreich: Die Geschichte der Verluste, die sich in unsere Konstitutionsgeschichte als Subjekte eingeschrieben hat, birgt zwar die Anerkennung der Realität, etwa unserer Sterblichkeit und Endlichkeit, doch ist diese Anerkennung durch das libidinös-narzisstische Beharren auf der Unzerstörbarkeit und Unendlichkeit unserer Wünsche und unserer Existenz einer permanenten Erosion ausgesetzt. Freud (1911b) hat dies in seiner Schrift „Formulierungen über zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“ entfaltet, etwa wenn er das Realitätsprinzip als eine Ordnung versteht, die das Lustprin-
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Lilli Gast
zip mit anderen, nämlich realitätsgerechteren Mitteln sichert. Das heißt, der Lustanspruch wird nicht nur nicht überwunden, er erweist sich gar als unüberwindlich. Allenfalls wird er in ein anderes Register übertragen, in einem anderen Modus psychischen Funktionierens weiterverfolgt, in einem Modus nämlich, der Umwege und Aufschübe in Kauf zu nehmen in der Lage ist. Die Anerkennung der Realität schließt also deren Indienstnahme für die libidinösen Ansprüche nicht aus – im Gegenteil: Genau diese Verwendung der Realität verhilft ihr erst, gleichsam im Gegenzug, zur Anerkennung, und zwar deshalb, weil unsere Subjektwerdung im und mit dem Wunsch beginnt, sie den Wunsch durchqueren muss, ohne ihn je zu überwinden – „nichts anderes als ein Wunsch [vermag] unseren seelischen Apparat zur Arbeit anzutreiben“, heißt es bei Freud (1900a, S. 572). Zeit und Raum tragen sich über den Wunsch in das Subjekt ein. Seine Geschichte beginnt mit dem psychischen Akt des Wünschens: Der initiale, den psychischen Raum entfaltende Wunsch nämlich will die Umkehrung der Zeit und die Wiederherstellung eines vergangenen Moments. Damit hält bereits an der Basis der Subjektwerdung jener Konflikt Einzug, der das Subjekt als nie Ganzes und auf immer Zerrissenes, Entzweites markieren wird. An den Rändern dieses Risses wird es sein Leben lang balancieren, sich selbst verfehlend und seiner selbst nie ganz innewerdend – und doch ist eben dieser Balanceakt das, was wir Psyche nennen: „Realität – Wunscherfüllung, aus diesen Gegensätzen sprießt unser psychisches Leben“, schreibt Freud (1985c, S. 377) schon früh an seinen Berliner Freund Fließ.1 1 Brief vom 19. 2. 1899. Interessanterweise entsteht der Wunsch ja buchstäblich in der (maternellen) „matrix“ (sic!) einer generationellen Differenz: Es ist das Befriedigungserlebnis des Kindes an der/mit der/durch die Mutter, das den libidinösen Wunsch nach Wiederherstellung der Wahrnehmungsidentität lostritt – eben jenen unzerstörbaren Wunsch, der die Anerkennung der Realität und damit auch die Anerkennung der Realität der Generationendifferenz unterlaufen wird.
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Das Subjekt in der Zeit
So ist es dieser „wunderliche Bruch“, wie Nietzsche (1874/1966, S. 211) jene Entzweiung der innersten Struktur nennt, der uns Menschen zu historischen Subjekten macht. Die Tempi der Zeit laufen durch uns hindurch und verhindern ein Ankommen, geschweige denn ein Aufgehen in der Gegenwart – „der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch als Gespenst wieder und stört die Ruhe des nächsten Augenblicks“ (S. 211). Dieser „wunderliche Bruch“ ist der Preis unserer Subjektwerdung, die uns in ein Dasein einfügt, das Nietzsche als „ein nie zu vollendendes Imperfektum […], ein ununterbrochenes Gewesensein“ (S. 211) charakterisiert. In dieser Formulierung Nietzsches werden Anklänge an Lacans Wiederaufnahme des Freud’schen Konzepts der Nachträglichkeit ruchbar und an seine Umschreibung der Nachträglichkeit mithilfe des Futur II, demzufolge das Freud’sche Subjekt nie das ist, was es ist, sondern das, was es einmal gewesen sein wird. Wiederholung ist in diesem Kontext zu verstehen als ein Strukturelement der Subjektkonstitution und ist als dynamische Dimension einer Zeitlichkeit des Subjekts auf erkenntnistheoretischer Ebene verankert. Man trifft hier auf jenen Aspekt der Wiederholung, der Regression und Progression in einen dialektischen Zirkel einbindet, der nicht etwa Stillstellung, sondern im Gegenteil die Dynamisierung einer (Entwicklungs-)Bewegung bewirkt. Wiederholung erweist sich als zentrales strukturbildendes und konstitutives Agens der Ausfaltung des Psychischen, als Dimension der ontogenetischen (Entwicklungs-)Geschichte des Subjekts. Damit tritt, anders als in der erstarrten Bewegung des Wiederholungszwanges, der Wiederkehr des Immer-Gleichen, das Schöpferische der rekursiven Bewegung in den Vordergrund. Wie Freud anhand der Unerfüllbarkeit und zugleich Unzerstörbarkeit des Wunsches zeigt, gibt es keine Wiederholung, die sich in sich selbst erschöpfte, indem sie ihr Ziel fände. Es gibt kein Zurück zum Ersten, schlimmer noch: Es gibt weder ein Zurück noch gibt es ein Erstes – es gibt nur den Wunsch
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Lilli Gast
danach, und psychoanalytisch betrachtet ist es eben dieser regressive Wunsch, der uns nach vorn treibt. Dieser Gedanke verdichtet sich in der subjekttheoretischen Konstitutionsfigur, der zufolge sich das Subjekt insgesamt der Nachträglichkeit verdankt. Analog dazu verhält sich die Nachträglichkeit des Objekts: Auch jenes regressiv-narzisstisch ersehnte Erste, das paradigmatische Objekt des Wunsches, ist ebenso ein nachträglich Erschaffenes. Der Wunsch erzeugt sich sein Objekt nachträglich – ein Objekt, das er zwangsläufig verfehlen muss. Die repetitive Bewegung verläuft also an den Rändern jenes subjektkonstitutiven Risses, dem Wunsch folgend, die Wunde zu schließen, während dieselbe, zunächst restaurative Bewegung den Riss nur bestätigt, ihn offenhält und, indem sie die Nichtidentität zwischen Wunsch und Erfüllung vertieft, die Unmöglichkeit der wunscherfüllenden Wiederholung und die Unerreichbarkeit des Ursprungs wieder und wieder (sic!) in Szene setzt. In eben jener gegenläufigen Gleichzeitigkeit von (scheiternder) Restauration und (sich stets erneuernder) Entzweiung konstituiert sich die (Lebens-)Geschichte des Subjekts. Oder anders, nun in der Dimension der Zeitlichkeit, formuliert: Jedes Scheitern des Versuchs, durch Wiederholung und vollständige Wiederherstellung des Vergangenen die Zeit umzukehren oder doch zumindest stillzustellen, liefert uns der Zeitlichkeit und dem Verlust aus, verankert uns als Subjekte tiefer in Zeit und Realität, jedoch nicht ohne Rest. Das Scheitern des narzisstischen, regressiven Wunsches zieht uns in die Realität und just dieses Scheitern macht uns zugleich anfällig, jener Realitätsverankerung die vorbehaltlose Anerkennung zu versagen, und veranlasst uns, sie immer wieder – probehalber, aufbegehrend, phantasmatisch – zu unterlaufen. Scheitern jedoch birgt immerhin die Möglichkeit des Gelingens in sich, was bedeutet: Die Anerkennung des Scheiterns führt die Verleugnung der elementaren Unerfüllbarkeit unter der Hand, insgeheim und im Verborgenen mit sich. Die phantasmatische Möglichkeit des Gelingens der narzisstischen Wunscherfüllung, die Möglichkeit, über Tren-
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Das Subjekt in der Zeit
nung, Tod und Endlichkeit zu obsiegen, der Unsterblichkeit des Wunsches auch die Unsterblichkeit der eigenen Existenz anzutragen – all dies wird auf dem Zeitvektor nach vorn geworfen und zwingt zugleich in jene in sich zurücklaufenden anachronen Kreisbahnen, in jene Volten rückläufiger Schleifen, die sich eingangs mit Walter Benjamins Gedanken beim Betrachten des Angelus Novus Klees verbanden. „Die Phantasie ist […] das Medium des Unendlichmachenden; sie ist keine Fähigkeit wie die anderen Fähigkeiten – wenn man so will, ist sie die Fähigkeit instar omnium“, schreibt Kierkegaard (1849/2005, S. 52) in seiner großen Abhandlung über die Conditio humana. Die Phantasie gebiert jene Verzweiflung, die sich wie feine Wirkfäden in die Textur des Menschseins eingewoben hat, insofern „das Selbst aus Unendlichkeit und Endlichkeit gebildet“ (S. 50) und zwischen „Möglichkeit“ und „Notwendigkeit“ aufgespannt ist – zwei dialektische Zirkel also, die auszutarieren seine Freiheit ausmachen, aufgrund derer es zugleich auf immer wund und uneins bleibt. Psychische Zeit bewegt sich in der Dialektik von „Nicht mehr“ und „Noch nicht“. Dies ist zugleich das Feld, in dem sich das Subjekt der notwendigen Realitätsanerkennung stellt, zu der – im Kontext des Skandalons unserer Endlichkeit – eben auch die eigene Verortung in der Generationenabfolge gehört. Das Faktum der generationellen Getrenntheit, des unentrinnbaren Verfangenseins in der generationellen Verkettung von Geburt und Tod, fordert die Anerkennung der Unumkehrbarkeit der Zeit – eine Anerkennung, die ohne Trauer und tiefe Verlustgefühle wohl nicht zu haben ist. Die nicht nur intellektuelle, sondern affektive und emotionale Auseinandersetzung mit dem unerbittlichen Vergehen und der Unumkehrbarkeit der Zeit aber beinhaltet die zweifellos schwierigste und beunruhigendste Konfrontation mit der Ordnung des Realen, die mit unserer je eigenen unwiderruflichen Sterblichkeit.
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Kein Trost möglich? In seinem Buch „Lebenszeit und Weltzeit“ spricht Blumenberg (1986) von der unerträglichen Spannung zwischen zwei gegenläufigen Zeitregistern, die im Grunde nichts miteinander zu tun haben, aber dennoch die Conditio humana in konflikthafter Weise markieren. Ergiebig für psychoanalytisches Denken ist Blumenbergs Befund, das Verhängnisvolle am Menschsein liege in dem „Mißverhältnis […], daß ein Wesen mit endlicher Lebenszeit unendliche Wünsche hat“ (Blumenberg, 1986, S. 71 f.). Er stellt eine vom Menschen unabhängige fließende Weltzeit der verfließenden Lebenszeit des Subjekts gegenüber und beschreibt den Menschen der Moderne als Verlorenen in der Zeit – Anklänge an die Kierkegaard’sche dialektische Entgegensetzung von Unendlichkeit und Endlichkeit werden wach, allerdings kehrt dies bei Blumenberg als fast gewaltförmiges Kräfteverhältnis wieder. Die Gewalt, die hier wirkt, ist die unerbittliche Gleichgültigkeit einer „rücksichtslos“ fortschreitenden Weltzeit, die von den Subjekten jene Anerkennung einfordert, die sie ihnen selbst versagt. Wir werden genötigt, so Blumenberg, unsere Existenz als ephemere „Episode zwischen Natalität und Mortalität“ (S. 183) zu begreifen und uns der Kränkung zu stellen, dass die Welt nach unserem Tod fortdauert und wir keinen privilegierten Platz in ihr innehaben, dass wir also – und dies ist unsere einzige Gewissheit – irgendwann sehr wohl aus der Welt(-zeit) fallen werden. Die Divergenz von Weltzeit und Lebenszeit ist nicht nur eine narzisstische Kränkung, ihr wohnt auch ein Schrecken inne, der uns zu ebenso Trostbedürftigen wie Untröstlichen macht. Realität macht sich geltend durch die „Rücksichtslosigkeit der Welt gegen das Wunschsubjekt“ (S. 66). Nur vordergründig paradoxerweise ist genau dieses Auseinandertreten von Lebenszeit und Weltzeit jener Moment, an dem die Geschichte des Subjekts beginnt, das Scharnier, an dem es als historisches Subjekt in Zeit und Geschichtlichkeit eingelassen wird. Wir kennen diese Figur von Freud, vor allem
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Das Subjekt in der Zeit
im Zusammenhang mit seiner Narzissmus-Konzeption und seiner dialektischen Konzeptualisierung von Lust- und Realitätsprinzip. „Geschichte ist“, schreibt Blumenberg, „die Trennung von Erwartung und Erfahrung“ (S. 66). Unverkennbar: Auch Blumenberg spricht von jener „wildbewegten Einsamkeit des Schreckens“ (Schelling), die sich in den Bahnen einer ebenso ungebetenen wie unvermeidlichen Konfrontation mit dem frostigen, von unseren Wünschen und Ängsten gänzlich unbeeindruckten Absolutismus der Wirklichkeit als anthropologische Grunderfahrung gleichsam im Kern unserer Existenz eingenistet hat. Der Tod und das Wissen um unsere Sterblichkeit und Endlichkeit machen uns neben all den Kränkungen der Realität paradigmatisch zu trostbedürftigen und trostsuchenden Wesen. Fordert nun aber nicht gerade die Konfrontation mit der Generationalität die Anerkennung der Vergänglichkeit der Lebenszeit und der Endlichkeit der eigenen Existenz ein, ist nicht diese Anerkennungsleistung die Conditio sine qua non jeglicher psychischer Repräsentanz, die Grundbedingung einer symbolischen Repräsentierbarkeit der Generationendifferenz? Und würde das nicht bedeuten, dass diese Realitätsaspekte nicht erst zum Faktum brutum der Generationalität hinzutreten, um dieser dann ein konflikthaftes Gepräge zu verleihen, sondern dass vielmehr die schiere Tatsache der Generationalität gleichsam sui generis konflikthaft ist? Dass Generationalität in elementarer Weise bereits konstitutiv durchdrungen ist von eben jenen hochbrisanten Realitätsaspekten, jedes ein Skandalon für sich, die im Phänomen des Trostes und der Trostbedürftigkeit ihr hochspezifisches und hochambivalentes Echo finden? In einem erst posthum aus dem Nachlass veröffentlichten Entwurf einer philosophischen Anthropologie formuliert Blumenberg den Trost als „eine Kategorie, deren Eigentümlichkeiten aufs engste mit den Merkmalen der Spezies Mensch zusammenhängen“ (Blumenberg, 2006, S. 623), als anthropologisches Datum also. Dabei beruft er sich auf Georg Simmel,
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der den Menschen ebenfalls als trostsuchendes Wesen bezeichnete und dabei auf den Unterschied zwischen Trost und Hilfe hinwies. Hilfe suche auch das Tier, doch der Trost sei das „merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele“ (Simmel, zit. nach Blumenberg, 2006, S. 625). Hilfe also will die Realität verändern, Trost verzichtet darauf. Allerdings, so Blumenberg, ist dieser Verzicht nicht freiwillig, sondern beruht auf der durchaus schmerzlichen Anerkennung der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten. Trost und Trostbedürftigkeit scheinen hier als Korrelate der elementaren Hilflosigkeit des Menschen auf und verweisen auf die ebenso elementare Unmöglichkeit, ihm zu helfen. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit alles Lebenden, das Wissen um die Sterblichkeit auch der Nächsten, versieht den Menschen mit einer, wie Blumenberg schreibt, „Trostbedürftigkeit bis an den Grenzwert der Untröstlichkeit“ (2006, S. 626). Mit anderen Worten: Die Verlorenheit der Subjekte in der Zeit, jener „einsame Schrecken“ im Innersten der Conditio humana findet hier seinen Widerhall im Aufeinanderprallen von absoluter Trostbedürftigkeit und absoluter Untröstlichkeit. Doch, wie tröstend anzumerken bliebe, innerhalb dieser Begrenztheit entfaltet die Trostsuche ihre Wirksamkeit. Simmel nun maß dem Trost den erkenntnistheoretischen Rang einer Kategorie im Sinne einer grundlegenden Explikation der menschlichen Realität bei, und in dieser Funktion hat die Kategorie des Trostes, wie Blumenberg (vgl. 2006, S. 627) fortführt, eine zweifache Bedeutung: Zum einen dient der Trost einer Vermeidung der Auseinandersetzung mit der Realität und zum anderen stellt er die Möglichkeit bereit, die sich daraus ergebenden Folgen zumindest partiell abzuwälzen oder institutionell zu delegieren. Damit wird der Trost zu einer Form der Distanzierung von der Wirklichkeit – zu einer „actio per distans“, im Grenzfall gar zu einem Modus des Verlustes von Wirklichkeit (vgl. S. 627). Trost erweist sich so als
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Das Subjekt in der Zeit
eine illusionäre Überformung der Realität und ist auf jenen Umwegen anzutreffen, die das Lustprinzip unter dem Druck des Realitätsprinzips zur Sicherung seiner Ansprüche nimmt. Man könnte nun fragen, welche kollektive Absicherung dem Trostbedürfnis etwa in der Generationenfolge und im kollektiven Umgang mit der Generationendifferenz zuteil wird. Blumenberg folgt den Spuren eines vermuteten qualitativen und quantitativen Rückgangs dieser gesellschaftlichen Sicherungen und Vergewisserungen. Mehr und mehr seien der Trost und das Trostbedürfnis unter Verdacht geraten, eine schiere „Vermeidung von Bewusstsein“ (S. 629) zu sein, während das Selbstverständnis des Subjekts der Moderne doch gerade in der Erzeugung von Bewusstsein liege und darin, auf präformierte Daseinssituationen zu verzichten und stattdessen alle möglichen Daseinsrisiken einzugehen (vgl. S. 630) – eine Sichtweise, die aus subjekttheoretischer Perspektive zweifellos zu diskutieren wäre. Anders als die Psychoanalyse rechnet Blumenberg hier nicht mit der List der Vernunft: Nicht von Ungefähr befindet Freud im „Unbehagen in der Kultur“ ebenso lakonisch wie apodiktisch, „das Leben, wie es uns auferlegt ist, sei zu schwer für uns“ (Freud, 1930a, S. 433). Die Frage ist also, was an die Stelle der klassischen Formen der „Bewusstseinvermeidung“ getreten ist, wenn die kollektive Verlagerung in präformierte Rituale und institutionalisierte Schablonen nicht mehr greift. Haben wir es mit atomisierten, hochindividualisierten Ritualisierungen zu tun, die uns als neue Leiden der Seele imponieren? Was bedeutet es, wenn die Subjekte angesichts ihrer kränkenden Endlichkeit, ihres Verfangenseins in der Generationenfolge, ihres Verhaftetseins auf dem Zeitvektor von Geburt bis Tod auf sich selbst zurückverwiesen werden? Und muss dies nicht Konsequenzen für den Verkehr der Generationen haben? Das gemeinsame Dritte von Verlust und Trost ist die Trauer, die psychische Arbeit, die beides uns abverlangt. Gilt jene von jeglichem Trost unerreichbare Untröstlichkeit, die
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Blumenberg als wesentliches Element der Conditio humana beschreibt, jene profunde Einsamkeit im Innersten des Subjekts, die es zerreißt und konstituiert zugleich, nicht jenem Verlust des nie Gehabten, von dem die Psychoanalyse handelt – jenem Verlust des Wunschobjektes, unserer Unsterblichkeit, unserer Unversehrtheit, und ist es nicht das, was es zu betrauern gilt? Und weiter: Wenn das, was die psychoanalytische Einsicht in das Subjekt als Kernbestand des zu Betrauernden herausschält – Endlichkeit, Sterblichkeit, Unumkehrbarkeit der Zeit und die unendliche Unerreichbarkeit des Wunsches –, wenn also diese Konstanten zugleich die Matrix der Generationalität, gleichsam die Koordinaten unseres Eingelassenseins in die Generationenfolge ausmachen, dann stellt sich die Frage, wie diese Trauer im Generationenverhältnis kodifiziert ist. Rilke findet Worte für unser lebenslanges Ringen um Anerkennung und unser Taumeln in die Verleugnung, für unsere Zerriebenheit zwischen der Endlichkeit unserer Existenz und der Unendlichkeit unserer Wünsche, die uns zwar nicht, zumindest nicht während unserer Lebenszeit, aus der Welt, aber immer wieder aus der Zeit und damit aus der Generationenfolge fallen lässt: „Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das seltsam uns angeht. Uns, die Schwindensten. Ein Mal jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nichtmehr. Und wir auch ein Mal. Nie wieder. Aber dieses ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar. Und so drängen wir uns und wollen es leisten, wollens enthalten in unseren einfachen Händen, im überfüllteren Blick und im sprachlosen Herzen. Wollen es werden. – Wem es geben? Am liebsten alles behalten für immer …“ (Rilke, 9. Duineser Elegie)
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Das Subjekt in der Zeit
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Anna Tuschling
Begierde contra Begehren Lacans Antwort auf Kojèves Anthropologisierung Hegels
L
ange zählten die Psychoanalyse Sigmund Freuds und die strukturale Analyse Jacques Lacans mit Recht weder zur Anthropologie noch zur Psychologie im herkömmlichen Sinne. Gleichwohl finden sich anthropologische Elemente an verschiedenen Stellen des psychoanalytischen Diskurses, wie der Beitrag anhand des Begehrensbegriffs der strukturalen Analyse Lacans untersucht. Angesichts der aktuellen Rückkehr zur Anthropologie und anthropologischen Philosophie scheint es angezeigt, die anthropologischen Elemente auch in der Psychoanalyse nochmals zu lokalisieren und zu befragen. Die strukturale Psychoanalyse profitiert nicht nur von Kants Erkenntnistheorie und Ethik (David-Ménard, 1997), sondern sie steht darüber hinaus unter dem nicht geringen Einfluss der anthropologischen Philosophie Alexandre Kojèves. Kann hier auch nicht annähernd der vielfachen Wirkung Kojèves auf Lacan Rechnung getragen werden, so sollen doch zwei Punkte hervorgehoben werden, an denen sich das verwickelte Verhältnis von Lacans Begehren und der durch Kojève anthropologisch gewendeten Hegel’schen Begierde offenbart: erstens am Schicksal, das den Stufen der Begierde in der Psychoanalyse Lacans widerfährt, und zweitens anhand der Begriffe des Nichts und der Leere, die sich auf gewisse Weise in Lacans Theorie des Mangels fortsetzen. Um einen argumentativen Hintergrund für die These zu schaffen, durch Kojève würden trotz aller kritischen Bearbei-
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Begierde contra Begehren
tung Spuren einer anthropologischen Philosophie in der französischen Psychoanalyse fortwirken, soll mit einer kurzen Charakterisierung der Anthropologie Kojèves und ihrer Wirkung begonnen werden.
Kojève und die Anthropologisierung Hegels Alexandre Kojèves Hegel-Lektüre entspricht einem Wendepunkt in der französischen Diskursgeschichte des 20. Jahrhunderts, auf den zahllose Traditionslinien zurückgehen. Kojève prägte neben Jean Hyppolite gleich mehrere Generationen vor allem französischer Theoretiker und ihre angloamerikanischen Schülerinnen und Schüler, die anschließend wieder nach Europa zurückwirkten (Butler, 1987, S. 61 f., 175 f.; Bürger, 2008; Weber, 2002). Durch ihre Schwerpunktsetzung und Herangehensweise hat Kojèves Hegel-Lektüre aber auch eine Kluft innerhalb der kontinentalen Philosophie selbst hinterlassen. Bleiben die Unterschiede zwischen der ursprünglich frankofonen Kojève’schen Hegel-Diskussion und vor allem der philosophischen Werkexegese einerseits bis heute deutlich, so ist diese Trennung in verschiedene Welten der Hegel-Auslegung sicherlich weit stärker der wissenschaftskulturellen Herkunft geschuldet als der geografischen. Kojève erschließt der nicht ausschließlich philosophischen Theorie des 20. Jahrhunderts nämlich einen Hegel, der weder allein durch den Systemgedanken noch primär über die herkömmliche Philosophiegeschichtsschreibung bestimmt ist. Rückblickend betrachtet können speziell seine umstrittene Gewichtsverlagerung auf Herr und Knecht (vgl. neben den kritischen Arbeiten Judith Butlers für eine rezente medientheoretische Bearbeitung: Krajewski, 2010), aber auch die anschauliche und – im nichthegelschen Sinne – konkrete Vorgehensweise als eine erste kulturwissenschaftliche Öffnung Hegels bezeichnet werden. Diesem kulturtheoretischen Zugang ist es zu verdanken, dass ein kritisch bearbeiteter Hegel gerade
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Anna Tuschling
über Kojève in sprachwissenschaftliche, psychoanalytische und weitere Denkprojekte einfügbar, ja überhaupt mit zeitgenössischen Vorhaben amalgamierbar oder doch wenigstens mit ihnen kontrastierbar wurde. Für Kojève ist Hegel zwar auch der „Vollender der klassischen, aristotelischen Philosophie“ und somit unerreicht, aber dennoch verhält er sich ihm gegenüber anders, als die Philosophie es nach dem deutschen Idealismus in weiten Teilen getan hat (Kojève, 1975, S. 351). Kojève bewahrt Hegel nicht als unüberwindlichen Höhepunkt abendländischer Logik in seiner ganzen monolithischen Gestalt, sondern er „vergegenwärtigt“ ihn mit seinem Lesen, so Iring Fetscher, wenn dies auch um den Preis der Fragmentierung systematischer Zusammenhänge geschieht (Kojève, 1975). Ähnlich konstatiert Judith Butler in ihrer frühen Studie über die französische Reflexion Hegels im 20. Jahrhundert, dass Kojève Hegel nicht als isolierte historische Figur behandle (Butler, 1987, S. 63). Wie auch immer man darüber urteilt: Mit Sicherheit zählen die von Kojève in den 1930er Jahren gehaltenen Einführungsvorlesungen in die „Phänomenologie des Geistes“ (Hegel, 1807/1986) zu den Wendepunkten der Hegel-Wirkung (vgl. z. B. seine Wirkung auf die Soziologie: Moebius, 2006), die man zumindest, was die außerphilosophische Wirkung angeht, vielleicht ohnehin als Geschichte großer Vorlesungen zu begreifen hat. Auch Ferdinand de Saussures Vorlesungen zur Einführung in die Wissenschaft der Sprache, die später von anderen Autoren zum „Cours linguistique générale“ (de Saussure, 2001) popularisiert wurden ( Jäger, 2010), sind nichts anderes als eine, wenn auch nur implizite und noch zu erforschende Auseinandersetzung mit Hegel im Kontrast zur Hirnphysiologie eines Wernicke (vgl. für den weiteren Einfluss Hegels auf die Sprachforschung des 20. Jahrhunderts auch Charles Sanders Peirces Philosophie). Kojèves wahrscheinlich größte „Sünde“ bedeutet jedoch die Überzeichnung der Anthropologie in den Hegel’schen Reflexionen, die
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Begierde contra Begehren
für ihn fast notwendig aus den politischen Absichten seiner Lektüre resultiert.
Begierde und Begehren Anhand des Begriffspaares Begierde/Begehren lassen sich diese Vorüberlegungen nun veranschaulichen und vertiefen: Wie verhält es sich mit der Hegel’schen Begierde, wenn sie u. a. über den Botschafter Kojève vermittelt an zentraler Stelle als Begehren im Denken des Psychoanalytikers Jacques Lacan wieder auftritt? Zunächst einmal betätigt Kojève sich ganz konkret als einer der Übersetzer und Stichwortgeber und nennt die Begierde bekanntermaßen französisch désir. Sprachlich besteht im Französischen also kein Unterschied zwischen der Hegel’schen Begierde bei Kojève und dem freilich in erster Linie auf Freud zurückgehenden Begehren oder eben Désir bei Lacan. Begrifflich besteht dagegen sehr wohl ein Unterschied, wenn auch eine große Wirkung der Begierde auf das Begehren ausgeht. Lacans Antwort auf Kojèves Anthropologisierung Hegels fällt aber nicht nur zustimmend, sondern insgesamt kritisch aus. Allerdings geht diese Kritik bezogen auf die Begierde nicht weit genug, denn es ist eher Lacans Gesamtprojekt, das sich ganz und gar nicht einer Anthropologie oder anthropologischen Philosophie subsumieren lässt, wie sie Kojève anstrebt (vgl. Auffret, 1990 in Cremonini, 2010, S. 44). Andreas Cremoninis Urteil, Lacan biete eine Kritik an den „humanistisch-emanzipativen Tendenzen“ Kojèves, die sich gar in Form eines programmatischen „Anthropologie-Verzichts“ manifestiere, kann deswegen vor dem Hintergrund der hier entwickelten These nicht ohne Weiteres zugestimmt werden (Cremonini, 2010, S. 49). Kojèves Einfluss auf Lacan lässt sich natürlich nicht auf die sprachlich-theoretische Prägung des Begehrensbegriffs beschränken und allein diese kann hier nicht umfassend gewürdigt werden. Lacan selbst äußert in einem Vortrag,
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den er 1960 vor einem philosophischen Publikum in Royaumont auf einem internationalen Kolloquium zum Thema Dialektik hält, dass Hegel – und das ist bei ihm vor allem Kojèves und Hyppolites Hegel – ganz allgemein einen Mangel an Theorie behebe (Lacan, 1975, S. 168). Gemeint ist dies vor allem bezogen auf die Klinik und hier lässt sich neben der Begierde tatsächlich eine weitere Übertragung ausmachen: Lacan geht so weit, die klinische Situation in gewissen Aspekten mit der Herr-Knecht-Situation zu vergleichen, in der der Analysand-Knecht dem Analytiker-Herren begegnet. Noch in der klinisch einflussreichen Figur des Sujet supposé savoir, als welches sich das Begehren des Analysanden in der Lacan’schen Psychoanalyse zunächst artikuliert, klingt nicht zufällig die Idee des absoluten Wissens an, wird hier aber gerade durch die Einführung ins Klinische gewendet, weil das Sujet supposé savoir ja eine notwendige Fiktion bleiben solle (vgl. für aktuelle Diskussionen: Widmer u. Schmid, 2007; Mayer, Crommelin u. Zahn, 2010). Eine weitere, dabei ganz anders geartete Wirkung Kojèves auf Lacan hat Peter Bürger entdeckt. Lacan, der die unabschließbare Rede zu seinem Hauptinstrument macht und Publikationen als „pubellication“ (poubelle = Mülleimer) verhöhnt, verdanke Kojève ein Modell wirkmächtiger Rede und nicht nur die Kenntnis wesentlicher Denkmotive Hegels (Herr und Knecht, das unglückliche Bewusstsein, die schöne Seele) (Bürger, 2008, S. 132).
Begierde am Übergang vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein Kojèves Kommentar der Phänomenologie des Geistes setzt nicht zufällig am Übergang vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein, das heißt bei der Begierde an. Für Andreas Cremonini ergibt die Begierde in Kojèves Projekt einer dialektischen Anthropologie den Schlüsselbegriff – den Schlüs-
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Begierde contra Begehren
selbegriff deshalb, weil die Begierde das verbindende Moment der zwei für Kojève wichtigsten Motive in Hegels Philosophie sei, also die Dialektik von Herr und Knecht und das Ende der Geschichte. Kojèves Anthropologisierung Hegels wird ganz besonders daran deutlich, wie der Begriff der Begierde die beiden Motivbereiche (Herr und Knecht und Ende der Geschichte) neu verbindet, denn an der Begierde verdeutlicht Kojève, das betont Cremonini zu Recht, sowohl den „Übergang von Natur zu Kultur“ als auch eine fundamentale Spannung im menschlichen Wesen, die es als geistiges Wesen auszeichne (Cremonini, 2010, S. 45). Der Mensch stelle in Kojèves Anthropologie der Begierde die fragile und je vorläufige Verbindung zweier voneinander getrennter Seinsbereiche dar, den Spagat, könnte man sagen, zwischen entwicklungs losem Natürlichsein und kulturellem Werden (S. 45). Zum einen ist der Mensch in gleichsam animalischen Bedürfnissen verstrickt und unterliegt der Begierde zu essen, zu atmen, seine sexuellen Gelüste zu befriedigen; zum anderen vermag er – als Selbstbewusstsein – über das „daseiende Wirkliche“ hinauszugehen (Kojève, 1975, S. 22); dieses Verlassen des Zustands einfachen Daseins und der schlichten Reproduktion seiner Selbst bedeutet jedoch kein Abstreifen der Begierde und auch keine einfache Kulturierung oder Zähmung derselben, sondern die Richtung der Begierde auf sich selbst; das Selbstbewusstsein entsteht, indem sich die Begierde auf andere Begierde richtet. Begierde wird Begierde des anderen – und dies klingt nicht zufällig schon wie Jacques Lacans Formel, das Begehren sei Begehren des anderen (Lacan, 1991, 1996). Doch bereits die Begierde, zum Beispiel etwas zu essen, so meint Kojève, könne einen Menschen „zu sich selbst bringen“, was hier noch heißt, zu Bewusstsein bringen. Denn die Begierde offenbart sich immer als meine Begierde. Der Mensch möge noch so sehr von der Betrachtung eines Dings „absorbiert“ werden, bei Entstehen der Begierde müsse er sich dann „seiner selbst“ gewahr werden (Kojève, 1975, S. 54). Begierde setze somit
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das (menschliche) Ich, so Kojève in seinem Hegel-Kommentar (1975, S. 21), aber zunächst als bloßes Bewusstsein, noch nicht als Selbstbewusstsein. Kojève sieht die Begierde – anders als die Erkenntnis – in die Tat münden. Die „Negation“ des begehrten Objekts muss deshalb die Zerstörung oder wenigstens Verwandlung sein. Augenfällig ist dies am Beispiel des Hungers, um den zu stillen die Nahrung auf alle Fälle eben verwertet, verwandelt, wenn nicht zerstört werden muss (S. 21). Im Übergang zum Selbstbewusstsein muss die Begierde sich nun auf etwas anderes als die Nahrung oder Atemluft richten, nämlich auf etwas, das über die in Kojèves Worten daseiende Wirklichkeit hinausgehe. Das Einzige aber, was die Begierde zum Objekt nehmen kann, das nicht natürliches Objekt ist und somit dieses daseinde Wirkliche übersteigt, das ist die Begierde selbst (S. 22). Gemäß dem McLuhan-Schüler Richard Cavell drücke das Begehren bei Kojève darum die Negativität des Seins aus (Cavell, 2008, S. 278). Die als nicht natürliches Objekt zu qualifizierende Begierde zeichnet sich dadurch aus, dass sie stets neu entsteht; sie ist damit – und das scheint der wesentliche Punkt – in gewissem Sinne unvertilgbar (Kojève, 1975, S. 22). Durch die Richtung der Begierde auf die Begierde und ihre Wandlung zur Begierde des anderen wird die einfache „Erhaltungs-Begierde“ überwunden (S. 24). Da die Begierde wesentlich „unwirkliche Leere“ sei (S. 22), muss die Begierde, um sich über das Bewusstsein hinauszubewegen und sich auf eine andere Begierde zu richten, zugleich sich auf „Nichtseiendes“ beziehen (S. 57). Bei Kojève stellt dies auch den Übergang von der animalischen zur „anthropogenen“ Begierde dar: „Die Begierde muß, um anthropogen zu sein, sich auf ein Nichtseiendes beziehen, d. h. auf eine andere Begierde, auf ein anderes lechzendes Leeres, auf ein anderes Selbst“ (S. 57). So weit sei auf Kojève eingegangen, der hier nicht nur wie eine Hauptquelle und Stichwortgeber Lacans erscheint, sondern als komplexeres Vorbild für René Girards sehr anschauliches mimetisches Begehren (Girard, 1999), das dieser anhand
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Begierde contra Begehren
zahlloser Fälle aus Literatur und Kunst in diesem Sinne als trianguläres aufzeigt. Für die weiteren Überlegungen wird nun grundlegend sein, dass bei Kojève durch seine Anthropologisierung Hegels die in Bedürfnissen ankernde Begierde des Bewusstseins und die Selbstbewusstsein schaffende Begierde des anderen im Grunde für zwei verschiedene Seinsbereiche stehen. Jacques Lacan, aber unabhängig davon auch schon Freud, nehmen an dieser Stelle eine ganz entscheidende Verschiebung vor. Der, wie man sagen könnte, erste Zustand – also die animalische Begierde und die Stufe des Bewusstseins – ist bei ihm nur noch notwendige Fiktion im zweiten Geschehen, dem Begehren des Begehrens oder dem Begehren als solchen. Anders gesagt wird die vermeintliche Natürlichkeit des Menschen, die Kojève noch anzunehmen scheint, in der Psychoanalyse – und dies macht gerade der Begriff des Begehrens deutlich – in einem durchaus medialen Sinne als Entwurf des Menschen selbst verstanden. Die Begierden der verschiedenen Stufen, Bewusstsein und Selbstbewusstsein, werden in der Psychoanalyse gleichsam zusammengefaltet. Es ist an dieser Stelle nicht falsch, daran zu erinnern, dass Freud sich vor der Einführung des Todestriebes stets dagegen verwahrt hat, mehrere Triebe anzunehmen. Grund dafür besteht in derselben Problematik wie bei Kojève, denn die Psychoanalyse findet Sexualität und Begehren immer schon angeheftet an die großen Bedürfnisse des Lebens – also an das, was bei Kojève die Begierde auf der Stufe des Bewusstseins ausmacht. Ist die Begierde bei Kojève auch durch eine Veränderung gekennzeichnet, so bleibt sie dennoch als dualistische Ontologie zweier getrennter Seinsbereiche bestehen. Es handelt sich dabei um eine Veränderung, die den Übergang vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein ausmacht und die das Begehren bei Lacan schon von Beginn an aufgenommen zu haben scheint. Es muss kaum gesagt werden, dass Begehren bei Lacan ganz anders als bei Kojève außerdem immer unbewusst und auch immer sexuell ist (Butler, 1987, S. 189, 192). Nun, was
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Anna Tuschling
heißt das? Es sollte bekannt sein, dass Sexualität hier nicht im Sinne eines Handlungsbegriffs gemeint ist, dass sich Begehren gleichwohl natürlich auch immer in den unerwarteten, unheimlichen Spielarten realisierter Sexualität formuliert. Das Begehren benenne eine Grundspannung im Menschen, hatte Cremonini bemerkt. Ist dies auch als Bestimmung nicht falsch, so bleibt diese für sich genommen aber noch zu vage. Begehren erhält nicht als geflügeltes Wort einen zentralen Stellenwert in den psychoanalytischen Entwürfen der Psyche, sondern weil es darin das Movens des Menschen selbst darstellt – und bei Lacan ist dieses Movens im Unterschied zu Freud linguistisch aufgeladen worden. Vor allem deshalb stellt die Psychoanalyse etwa der Medienanthropologie immer noch eines ihrer unschätzbaren Denkwerkzeuge bereit. Wenn nun festgestellt wurde, das psychoanalytische Begehren habe die Veränderung, für welche die Begierde bei Kojève stehe, schon aufgenommen, so wird dies besonders bei der Rekonstruktion des Begehrens aus der Trias Bedürfnis – Anspruch – Begehren in „Die Bedeutung des Phallus“ deutlich: „Was also in den Bedürfnissen sich entfremdet findet, bildet eine Urverdrängung, weil es, per Hypothese, sich nicht im Anspruch zu artikulieren vermag: was aber dennoch erscheint in einem Abkömmling, der das darstellt, was sich beim Menschen als Begehren zeigt, die Phänomenologie, die sich aus der analytischen Erfahrung herausschält, ist sehr wohl geeignet, den paradoxen, abweichenden, erratischen, exzentrischen, ja sogar skandalösen Charakter des Begehrens zu demonstrieren, wodurch dieses sich vom Bedürfnis unterscheidet“ (Lacan, 1991, S. 126). Der letzte Punkt und Abschluss der Besprechung von Begierde und Begehren beziehen sich auf Kojèves Identifizierung des Menschen mit dem Nichts. Bestimmungen des Menschen als ein Leeres, ein Nichts, das nicht reines Nichts ist, sondern ein Etwas, das Dasein vernichte (Kojève, 1975, S. 56), stellen das Moment an Anthropologie dar, das Lacan weit stärker u. a.
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Begierde contra Begehren
von Kojève als von Freud erhält und als Mangel in seine Terminologie übernimmt. Lacan unterfüttert dieses anthropologische Erbe noch mit einer anthropologisierenden Lesart der Lebensnot bei Freud und seiner Lesart der Semiologie de Saussures. Ebenfalls von Kojève auf Lacan geht die Idee über, die Begierde müsse etwas sein, das sich selbst unablässig erhalte und aufrechterhalte. Auch dies ist Teil der nun psychoanalytischen Bestimmung des Begehrens als das Begehren des anderen, zum Beispiel wenn die Angst entsteht, das Begehren könne erfüllt werden und somit enden (Lacan, 2010). Kojèves Wirkung lässt sich mit Bürger insgesamt in drei Punkten zusammenfassen: Zugleich mit Heidegger lese Kojève das Herr-Knecht-Kapitel als Urgeschichte des Menschen (Angst und existenzielles Verständnis des Todes würden eine intensive Lektüre von Sein und Zeit verraten) und mit Marx als Urgeschichte der modernen Gesellschaft und bündele damit nachhaltig die prägenden Denkansätze der Zeit (Bürger, 2008, S. 10). Er habe seinen Zuhörern den Gedanken vermittelt, dass Hegel die Moderne auf den Begriff gebracht hat, wodurch die Hegel-Lektüre für seine modernekritischen Hörer unausweichlich wurde (S. 10). Kojève zeichnet nicht allein für die Prägung einer Theorieepoche verantwortlich, sondern auch für die „dunkle Seite des Surrealismus“ (S. 10). Am Beispiel von Begierde und Begehren wurde sichtbar, dass Lacan Kojèves Anthropologisierung Hegels zwar sehr beeinflusst hat, er sie aber nicht gezielt in Richtung einer psychoanalytischen Anthropologie weiterführt. Es handelt sich aber nicht so sehr um eine Frage von Begierde contra Begehren, denn eigentlich radikalisiert das Begehren die bei Kojève formulierte Begierde noch. Kojève schaltet sich neben anderen jedoch aufs nachdrücklichste in Lacans Rückwendung zu Freud ein. Hierdurch vermittelt macht dennoch ein anthropologisches, in aktuellen Diskussionen verstärkt geltend gemachtes, problematisches Erbe in Gestalt der zum Mangel gewendeten Leere auch in der strukturalen Psychoanalyse auf sich aufmerksam.
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Anna Tuschling
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Gerhard Vinnai
Räume des Wünschens
S
igmund Freud hat den Menschen als wünschendes Wesen erkennbar gemacht. Alle Lebensäußerungen der Psyche sind für ihn auf irgendeine Weise mit dem Wünschen verknüpft. Auf das, was das für die analytische Sozialpsychologie bedeuten könnte, soll im Folgenden, angelehnt an Freuds Theoriekonstruktionen, hingewiesen werden. Das komplizierte Verhältnis von Trieb und Wunsch im Freud’schen Denken wird dabei nicht thematisiert (hierzu Löchel u. Menzner, 2011), eine Kritik Freuds mithilfe der nachfreudschen Psychoanalyse soll nicht erfolgen. Mit diesem Text kann nur ein Zugang zu einem Raum des Nachdenkens eröffnet werden (Genaueres zur Macht des Wünschens: Vinnai, 2011).
Zur Psychoanalyse des Wünschens Die Macht des Wünschens ist für Freud darin begründet, dass das Unbewusste eine Art Wunschmaschine ist, die nichts anderes kann als wünschen. Für das Unbewusste gilt ihm zufolge, dass es „kein anderes Ziel seiner Arbeit als Wunscherfüllung kennt und über keine Kräfte als Wunschregungen verfügt“ (Freud, 1900a, S. 573). Den Einfluss des vom Unbewussten ausgehenden Wünschens hat Freud auf vielfältige Art vorgeführt. In seiner „Traumdeutung“ hat Freud aufgezeigt, dass Träume Wunscherfüllungen sind, dass also das Seelen-
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Räume des Wünschens
leben während des Schlafes vom Wunsch bestimmt wird. Tagträume, die im Wachleben Entlastung von der Realität gewähren, leben nach Freud von egoistischen Wünschen. In seiner „Neurosenlehre“ zeigt Freud, dass in den Symptomen seelischer Erkrankungen nicht nur vergangene schmerzliche Erfahrungen einen Niederschlag gefunden haben, sondern dass diese in den Symptomen immer als vom Wunsch korrigierte wiederkehren. Für Freud „gipfelt die Theorie aller psychoneurotischen Symptome in dem einen Satz, dass auch sie als Wunscherfüllungen des Unbewussten aufgefasst werden müssen“ (Freud, 1900a, S. 575). In der Welt der Religion sieht Freud ein illusionäres Wünschen am Werk, die Kunst ist ihm Ausdruck einer Wunschwelt. Da das Unbewusste alles Denken und Tun immer mitbestimmt, kann man dem Wünschen nie gänzlich entkommen – es lebt uns, ob wir wollen oder nicht. Freud hat die Macht des Wünschens erkannt, aber sie ist ihm wenig sympathisch. Gegen diese Macht setzt er auf Ernüchterung, auf Desillusionierung. Freud ist besonders bestrebt, das Wünschen aus der Wissenschaft auszuschalten – sie soll der „Erziehung zur Realität“ (Freud, 1927c, S. 372) dienen. Die von der Wissenschaft gewonnenen nüchternen Einsichten sollen allenfalls der Erfüllung von Wünschen in der Wirklichkeit außerhalb der Wissenschaft dienen. In einer extremen Formulierung stellt Freud fest: „Es ist unsere beste Zukunftshoffnung, dass der Intellekt – der wissenschaftliche Geist, die Vernunft, mit der Zeit die Diktatur im menschlichen Seelenleben erringen wird“ (Freud, 1933a, S. 186). Die Wünsche sollen, auch wenn ihre Bedeutung etwa für die Kunst akzeptiert wird, dabei nicht im Wege stehen. Der Wunsch, das Wünschen aus der Wissenschaft zu vertreiben, ist aber kaum zu erfüllen und man kann diesem Bemühen mit Adorno entgegentreten, bei dem es in „Minima Moralia“ heißt: „Der Gedanke, der den Wunsch, seinen Vater, tötet, wird von der Rache der Dummheit ereilt“ (Adorno, 1962, S. 158). Die Suche nach Wahrheit ist für Adorno damit verbunden, dass sich etwas von der mit Wünschen verbundenen
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Gerhard Vinnai
Hoffnung verwirklichen lässt, die über die bestehenden Verhältnisse hinausweist. Er formuliert: „Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint. Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken, und es ist eine kardinale Unwahrheit, das als schlecht erkannte Dasein für die Wahrheit auszugeben, nur weil es einmal erkannt ward“ (Adorno, 1962, S. 123). Kritisches Denken darf sich nicht nur an die Realität binden, wie sie ist, sondern auch – von Wünschen angetrieben – das suchen, was sie sein könnte und sollte. Es hat sich nicht nur für Wirklichkeiten, sondern auch für Möglichkeiten zu interessieren. Zum Bestehenden gehören immer auch die psychischen und sozialen Möglichkeitsräume, die es in sich trägt. Mit seiner Suche nach Möglichkeiten, deren Verwirklichung nie oder zumindest nie ganz gesichert ist, überschreitet kritisches Denken die Grenzen einer sich als exakt verstehenden Wissenschaft, deren Exaktheit freilich auch immer nur methodisch produzierter Schein ist (hierzu Vinnai, 1993). Das „Nochnicht“ einer tendenziell offenen Zukunft entzieht sich der präzisen Erfassung. Kritisches Denken sollte von Wünschen angetriebene offene Suchbewegungen hin zum Besseren ermöglichen, es muss freilich zugleich auch versuchen, nüchtern zu erkennen, welche Kräfte es ermöglichen könnten und wer oder was seiner Verwirklichung entgegensteht. Es hat den „Wirklichkeitssinn“ und zugleich auch den „Möglichkeitssinn“ (Musil, Mann ohne Eigenschaften) zu fördern. Was kennzeichnet nach Freud den Wunsch? An Freuds Aussagen zum Wesen des Wünschens lassen sich zwei verschiedenartige Tendenzen ausmachen. Zuerst soll hier die von ihm am deutlichsten formulierte Tendenz skizziert werden, um danach von der anderen relativiert zu werden. Freud hat festgestellt, dass die Wünsche von Erwachsenen immer in Kinderwünschen wurzeln, dass sie immer eine Art
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Räume des Wünschens
Ersatz für frühe Kinderwünsche darstellen. Das Kleinkind erlebt, der „Traumdeutung“ zufolge, unter dem Einfluss der pflegenden Eltern grundlegende Befriedigungserfahrungen, die innere Reize aufheben. Diese Befriedigungserfahrungen verbindet es mit bestimmten Bildern, die als Gedächtnisspuren in der Psyche ihren Niederschlag finden. Der Wunsch zielt nun darauf, diese mit Befriedigungserfahrungen verknüpften Bilder wieder hervorzurufen, eine „Wahrnehmungsidentität“ mit ihnen zu erleben. Der Wunsch zielt damit, wie Freud meint, „eigentlich“ darauf, „die Situation der ersten Befriedigung wiederherzustellen“ (Freud, 1900a, S. 571). Das Kind versucht zu Beginn seines Lebens, diese Erfahrungen halluzinatorisch, also durch seine Phantasietätigkeit, zu erzeugen. Diese erzeugt einen von körperlichen Bedürfnissen und versorgenden Eltern ein Stück weit abgelösten psychischen Raum, in dem sich Anfänge von gestaltender eigener Subjektivität bilden können. Der seelische Raum, der mithilfe eines imaginierten Erinnerungsbildes gesucht wird, erlaubt es, sich wenigstens einige Zeit von der Realität zu lösen, bis diese sich wieder, vermittelt durch Erfahrungen des Mangels, Geltung verschafft. Halluzinierte Wunscherfüllung und die Suche nach einer Triebbefriedigung, die Lebensnotwendigkeiten zur Geltung bringt, sind hier nicht in Einklang zu bringen, sie wirken gegeneinander (hierzu Löchel u. Menzner, 2011, S. 1185 f.). Das Kind muss aufgrund dieses Konflikts ein Ich entwickeln, das das Wünschen zum Denken und zur Realitätsprüfung in Beziehung setzen kann. Die von Wünschen und Triebregungen ausgehende Erregung kann schließlich, in einer späteren Entwicklungsphase, darauf drängen, die Realität mithilfe des Denkens und Handelns so zu verändern, „dass die reale Wahrnehmung des Befriedigungsobjekts“ (Freud, 1900, S. 604) gesucht werden kann. Das bedeutet aber keineswegs, dass ursprüngliche Wünsche, die ohne Berücksichtigung der Realität Erfüllung suchen, ganz verschwinden, sie werden vielmehr ins Unbewusste verbannt und haben von dort aus weiterhin Einfluss. „Diese unbewussten Wünsche stellen für
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Gerhard Vinnai
alle späteren seelischen Bestrebungen einen Zwang dar, dem sie sich zu fügen haben, den etwa abzuleiten und auf höher stehende Ziele zu lenken, sie sich bemühen dürfen“ (Freud, 1900a, S. 609). Das Wünschen, das üblicherweise mit Erwartung und Hoffnung verbunden wird, das Distanz zur Realität schafft und eine andere Realität sucht, ist ein hochentwickeltes, von einer frühen Wunschmechanik abgezweigtes Vermögen, das seiner primären Struktur aber nie ganz entkommen kann. Das ans Bildliche gebundene Wünschen des Primarprozesses wird in der psychischen Entwicklung erst verspätet von sekundären psychischen Vorgängen erreicht, die, verbunden mit Sprache und Realitätsprüfung, dem Wünschen eine andere Qualität verleihen: Sie können dieses deshalb nie völlig domestizieren. „Infolge dieses verspäteten Eintreffens der sekundären Vorgänge bleibt der Kern unseres Wesens, aus unbewussten Wunschregungen bestehend, unfassbar und unhemmbar“ (Freud, 1900a, S. 609). Weil es ursprüngliche Befriedigungserlebnisse in der Lebenspraxis nicht herstellen kann, muss alles spätere Wünschen – und das ist entscheidend – seine Erfüllung notwendig tendenziell verfehlen. Freud weist deshalb darauf hin, dass das sexuelle Begehren, das unbewusst immer mit Wünschen aus der Kindheit verknüpft ist, nie eine vollständige Befriedigung finden kann. Er formuliert auf dieses bezogen: „Wenn das ursprüngliche Objekt einer Wunschregung infolge einer Verdrängung verloren gegangen ist, so wird es häufig durch eine unendliche Reihe von Ersatzobjekten vertreten, von denen doch keines voll genügt“ (Freud, 1912d, S. 90). Weil das ursprüngliche Wünschen in der Realität nicht erfüllt werden kann und zugleich unsterblich im Unbewussten fortwirkt, entwickelt sich ein späteres Wünschen, das dem Mangel nie ganz entkommen kann, das sich immer erneut auf die Suche nach Erfüllung machen muss. Der ursprüngliche Verlust mündet in eine unabschließbare Kette von Ersatzbildungen.
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Räume des Wünschens
Eine andere von Freud ausgehende Interpretation will im Gegensatz hierzu deutlich machen, dass es ein ursprüngliches Wünschen, wie es eben thematisiert wurde, in der Psyche nicht gibt. Für diese stellen Wünsche, die als ursprünglich erscheinen, immer bereits eine nachträgliche psychische Produktion dar. Der Wunsch zielt, wie wir vernommen haben, nach Freud auf das Wiedererscheinen der Wahrnehmung, welche mit der Situation der Befriedigung eines ersten Bedürfnisses verknüpft war. Dieses Wiedererscheinen, als eine Wiederholung, unterscheidet sich aber vom ursprünglich Erfahrenen: Zur Wiederholung gehört immer auch die Differenz zu diesem. Das Ursprüngliche gibt es deshalb immer nur als unfassbares: Das erste Objekt des Wunsches ist deshalb ein konstitutiv verlorenes. Das bedeutet, dass das Psychische sich zuallererst in einer Suchbewegung manifestiert, die auf Wiederholung zielt, und damit dem, was geschehen ist, immer erst nachträglich Bedeutung und Sinn verleiht (hierzu Löchel, 1996; Gast, 2006; Kirchhoff, 2007). An eine erste Wiederholung im Bereich des Wunsches schließen sich spätere an, die sie variieren und dabei zugleich dem Früheren, durch Umschriften, neue Bedeutungen verleihen können. Unter dem Einfluss späteren Wünschens werden so die „großen Kinderwünsche“ gewissermaßen mithilfe von Rückprojektionen der Erwachsenen nachträglich immer wieder neu erzeugt und bestimmen dann umgekehrt wieder das gegenwärtige Wünschen. Das Wünschen trägt so den Charakter einer endlosen Produktion, die nie ein letztes Ziel und damit seine volle Erfüllung finden kann. Beide an Freud orientierte theoretische Interpretationslinien, die hier vorgeführt wurden, machen trotz ihrer Unterschiede deutlich, dass das Wünschen einen nicht zu beendenden Prozess darstellt. Aus der Unfähigkeit des Wünschens, seine Ziele jemals zur Gänze in der Realität zu verwirklichen, wurzelt das Leiden am Ungenügen der Realität. Dieses Leiden kann zur Flucht in das innere Kloster der Neurose führen, wo unbe-
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wusst zwanghaft auf der Erfüllung unerfüllbarer Wünsche beharrt wird. Es kann zur Fixierung an eine Erfüllung versprechende Ersatzwelt führen, wie sie etwa die Werbung zur Verfügung stellt, die mit jeder neuer Warengattung die endliche Erfüllung verspricht. Es kann dazu drängen, Realitäten, die dem Wünschen widersprechen, zu verleugnen und sie durch illusionäre Wunschwelten zu ersetzen. Das Wünschen kann so auf fatale Art individuelle und gesellschaftliche Missstände verfestigen. Aber die Dynamik des Wünschens kann sich unter günstigen Umständen auch mit einem gereiften Ich verbinden, das sie zu nutzen versteht. Ein solches Ich hat es gelernt, Umwege bei der Suche nach der Erfüllung von Wünschen zu ertragen, indem es ihm gelungen ist, Versagungen und Niederlagen ebenso wie Erfahrungen von Glück und Erfolg produktiv zu verarbeiten. Es kann sich deshalb, wo sich die äußere Realität der Erfüllung von Wüschen sperrt, darum bemühen, sie gemäß eigenen, vom Intellekt bearbeiteten Wünschen zu verändern. Das nie ganz erfüllbare Wünschen liefert, wenn es sich mit entsprechenden Strukturen des Ichs und gelingenden sozialen Beziehungen zu verbinden vermag, einen Motor für intellektuelle und ästhetische Kreativität, für die Suche nach sozialen Veränderungen, für die Weigerung, menschenfeindliche Realitäten zu akzeptieren. In der Dynamik des Wünschens ist enthalten, dass die Menschen nie das Paradies auf Erden erleben können. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sich Wunsch und Wirklichkeit und damit verbunden Wünschen und Denken sowie Wünschen und Handeln so zueinander in Beziehung setzen lassen, dass die zerstörerischen Komponenten des Wünschens gehemmt werden und daraus eine Veränderung der sozialen Realität entspringt, die zwar nicht alle Wünsche erfüllt, aber manche von ihnen ihrer Erfüllung näher bringen kann. Dies gilt für die individuell und die kollektiv veränderbare soziale Realität.
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Räume des Wünschens
Wunschwelten und Utopisches Heute wird allerorten der „Abschied von der Utopie“ konstatiert und meist als Ausdruck einer gewachsenen Realitätstüchtigkeit begrüßt – aber gibt es das Ende des Utopischen überhaupt? Ist der Mensch als wünschendes Wesen, als Wesen, das vor versagenden Realitäten ständig in Wunschwelten ausweichen kann, überhaupt in der Lage, sich von Utopien zu verabschieden? Hat die Psychoanalyse mit ihrer Wunschtheorie nicht aufgezeigt, dass das Utopische zur menschlichen Grundausstattung zu rechnen ist? Hat sie mit ihr nicht, wie der Psychoanalytiker Robert Heim feststellt, „die Unentrinnbarkeit der utopischen Funktion“ (Heim, 1999, S. 390) aufgezeigt? Verkennen diejenigen, die auf ihre illusionslose Nüchternheit stolz sind und glauben, utopisches Denken überwunden zu haben, nicht auf illusionäre Art die Macht des Wünschens? Trotz des weitgehenden Fehlens von grundlegenden sozialen Alternativen in der westlichen Welt hat in ihr das Leiden an der Verdinglichung von Lebensäußerungen, an der Kommerzialisierung des Sozialen, an Ungerechtigkeit, Vereinsamung und Naturferne keineswegs aufgehört und gerät damit in Konflikt mit Wünschen, die eine andere Realität wollen. Diese Wünsche wollen dies auch dann, wenn sie existierende Verhältnisse nicht offen in Frage stellen und nur fragwürdige psychische Schonräume suchen. Sie können vielerlei, natürlich auch sehr problematische Gestalt annehmen. Sie können vorwärts oder rückwärts gerichtet sein, sie können sich privat oder öffentlich äußern, sie können einen offenen oder latenten Charakter haben. Sie können in alltäglichen Erzählungen, den Sendungen des Fernsehens, der Welt der Religion ebenso wie in Werken der Kunst oder der Wissenschaft einen Ausdruck finden. In solchen Wunschproduktionen steckt immer, selbst wenn sie der bestehenden Realität nur einen illusionären Schleier überstreifen, zumindest indirekt eine Weigerung, sie zu akzeptieren. Diese Wunschproduktionen können sich deshalb unter Umständen, wenn sich intellektuelle Kritik und
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Gerhard Vinnai
soziale Interessen mit ihnen verknüpfen lassen, in auf sinnvolle Veränderungen drängende Utopien verwandeln. Wer sich bei der Analyse existierender Verhältnisse von mit Wünschen verbundenen Utopien verabschieden möchte, befreit sich damit keineswegs von fragwürdigen Bindungen seines Bewusstseins. Mit dem Versuch der Loslösung von Idealen und Träumen wächst die Fixierung an im Prinzip veränderbare soziale Realitäten, die durch dieses Bestreben zu Tatsachen verklärt werden, die man als unabänderlich zu akzeptieren hat. Der Glaube an sie kann dann nahezu religiöse Züge tragen, die sogenannten Realisten ähneln deshalb meist Frommen: Sie verleihen dem Vorhandenen eine Art Gottgegebenheit, der man sich gläubig zu fügen hat. Wer völlig auf jeden utopischen Horizont seines Denkens verzichten will, landet unweigerlich bei der Vergötzung von Bestehendem. Wo sich das Denken einen utopischen Horizont versagen soll, der Distanz zum Bestehenden schafft, ist es weder in der Lage, sich seinen Schattenseiten und Abgründen wirklich zu stellen, noch die in ihm enthaltenen Möglichkeitsräume zu entdecken. Kritisches Denken verlangt die schwierige Verbindung von Wünschen und Utopien, die über die bestehende Realität hinauswollen, mit der nüchternen Auseinandersetzung mit dieser Realität. Vor einer versagenden Realität kann die Psyche in einer Wunschwelt Zuflucht suchen, welche eine verfälschte Wahrnehmung begünstigt und so notwendige soziale Veränderungen blockiert. Zur falschen Anpassung an fragwürdige Verhältnisse gehört immer das Vermögen, diese unter dem Einfluss von Wünschen verzerrt wahrzunehmen und sich dadurch psychisch zu entlasten. Das falsche Ja-Sagen kann durch die von Wünschen bewirkte Idealisierung von sozialen Verhältnissen und des eigenen Selbst erleichtert werden, die der Kompensation von aus der Erfahrung von Ohmacht resultierenden narzisstischen Kränkungen dient. Das Existierende, das kritiklos bejaht wird, hat immer auch eine verborgene Unterseite, die aus unbewussten individuellen und
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Räume des Wünschens
kollektiven Phantasmen besteht, welche verborgene Wünsche auf sich ziehen (siehe hierzu Vinnai, 2011, S. 36 ff.). Die Orientierung bloß am Vorhandenen, mit der das Bewusstsein Gewissheit und festen Halt sucht, ist ein Ausdruck der Schwäche eines Ichs, das an der Oberfläche der Realität kleben bleibt und zugleich der Fesselung an ein blindes Wünschen nicht entkommen kann. Aber die Ausweichbewegung in die Welt des Wünschens, die Entlastung vom Realitätsdruck gewährt, kann auch die Kraft verleihen, Distanz zur Realität zu gewinnen, und so dabei helfen, neue Möglichkeitsräume zu entdecken. Regressionen in das Reich des Wünschens, die die Fesselung des Ichs an die Realität lockern, können durchaus sinnvoll sein, wenn sie Entlastung von der Realität so gewähren, dass man dieser anschließend mit einem gewandelten Realitätssinn entgegentreten kann. Für Freud gilt: „Wir wissen, dass wir die Aufgabe haben, das Hervortreten einer Wunschphantasie mit einer Versagung, einer Entbehrung im realen Leben in Zusammenhang zu bringen“ (Freud, 1911c, S. 293). Die Wunschphantasie ist also an eine versagende Realität gebunden und will sich zugleich von ihr lösen. Dieser Versuch der Loslösung kann dazu führen, dass einer versagenden Realität bloß ein illusionärer Kitt verschafft wird. Er kann aber auch dazu drängen, die Realität so zu verändern, dass sie dem Wunsch angenähert wird und so mit der Realität verbundene überflüssige Entbehrungen hinfällig werden. Wunsch und Wirklichkeit sind kaum in Einklang zu bringen. Alle Menschen tragen auf irgendeine Weise Wünsche von einem anderen Leben in sich, mit der bestehenden Welt ist kaum jemand ganz zufrieden. Für eine Psychologie, die auf Veränderung aus ist, stellt sich die Frage, wie diese Wünsche einen anderen Ausdruck finden können, indem sie, so weit als möglich, mit einem entwickelten Realitätssinn verknüpft werden. Wie und unter welchen Umständen können die unendlich vielen Niederschläge lebensgeschichtlicher Erfahrungen, die in das Seelenleben eingegangen sind, verbunden
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Gerhard Vinnai
mit der Kraft des Wünschens anders und produktiver als jetzt verknüpft werden? Wo sind „Übergangsräume“ (Winnicott, 1974) vorhanden, in denen das Denken reifen kann? Wie können „Verwandlungsobjekte“ (Bollas, 1997) aussehen, zu denen so intensive Beziehungen hergestellt werden können, dass seelische Veränderungen möglich werden? Die Entdeckung und Entwicklung eines Möglichkeitssinns, der auf vernünftige Art über das Bestehende hinauswill, kann einem Ich nicht gelingen, das sich von der realen oder scheinbaren Übermacht der Verhältnisse blind und dumm machen lässt. Seine Unfähigkeit hat ihre entscheidende Ursache nicht in einem intellektuellen Unvermögen, sondern in sehr tief sitzenden Ängsten vor der Abweichung von geltenden Regeln und der drohenden Ausgrenzung aus dem sozialen Verband, Ängste, die mit traumatisierenden lebensgeschichtlichen Ohnmachtserfahrungen verbunden sind. Es stellt sich die Frage, welche Veränderungen und Erweiterungen von sozialen Beziehungen solchen Ängsten entgegenwirken könnten. Die psychoanalytische Neurosenlehre zeigt, dass verfestigte Blockaden der seelischen Entwicklung in tief sitzenden Ängsten wurzeln, die oft nur in langwierigen therapeutischen Prozessen überwunden werden können, welche in einem geschützten Raum veränderte Beziehungserfahrungen zulassen. Das kann die Frage aufwerfen, welche geschützten sozialen Räume und welche veränderten Beziehungserfahrungen die Aufklärung außerhalb der Therapie benötigt, damit sie mehr Einfluss gewinnen kann. Ein wirklicher Fortschritt von Aufklärung der verschiedensten Art ist ohne eine Erzeugung von sozialen Feldern, die neue Erfahrungen zulassen und damit das Wünschen verändern und ihm neue Kraft verleihen können, kaum zu erreichen.
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Räume des Wünschens
Literatur Adorno, T. W. (1962). Minima Moralia. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bollas, C. (1997). Das Verwandlungsobjekt. In C. Bollas, Der Schatten des Objekts. Stuttgart: Klett-Cotta. Freud, S. (1900a). Die Traumdeutung. Gesammelte Werke, Bd. II/III. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1911c). Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch berichteten Fall von Paranoia. Gesammelte Werke, Bd. VIII. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1912d). Beiträge zur Pathologie des Liebeslebens. Gesammelte Werke, Bd. VIII. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1927c). Die Zukunft einer Illusion. Gesammelte Werke, Bd. XIV. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1933a). Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke, Bd. XV. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Gast, L. (2006). Ein gewisses Maß an Unbestimmtheit. Anmerkungen zum freudschen Erkenntnisprozess. In E. Löchel, I. Härtel (Hrsg.), Verwicklungen. Psychoanalyse und Wissenschaft (S. 12–29). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Heim, R. (1999). Utopie und Melancholie der vaterlosen Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag. Kirchhoff, C. (2007). Zeit und Bedeutung. Zur Aufschlusskraft des psychoanalytischen Konzepts der Nachträglichkeit. Dissertation Universität Bremen. Löchel, E. (1996). Zur Genese des Symbols in der kindlichen Entwicklung. Kinderanalyse, 3, 254–286. Löchel, E., Menzner, H. (2011). Wunsch und Trieb. Psyche – Z. Psychoanal., 12, 1179–1201. Vinnai, G. (1993). Die Austreibung der Kritik aus der Wissenschaft. Psychologie im Universitätsbetrieb. Frankfurt a. M.: Campus. Onlineausgabe: http//psydok.sulb.uni-saarland.de/volltext/2005/547. Vinnai, G. (2011). Wunschwelten und Opferzusammenhänge. Zur analytischen Sozialpsychologie der westlichen Kultur. Münster: Westfälisches Dampfboot. Winnicott, D. W. (1974). Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. Vom Spiel zu Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta.
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Christine Kirchhoff
Stimme, Licht und Schatten des Objekts Bemerkungen zur Erkenntnis mit der Psychoanalyse Wenn jemand spricht, wird es hell
I
n den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ erwähnt Sigmund Freud in einer Fußnote die folgende Episode:
„Die Aufklärung über die Herkunft der kindlichen Angst verdanke ich einem dreijährigen Knaben, den ich einmal aus einem dunklen Zimmer bitten hörte: ‚Tante, sprich mit mir, ich fürchte mich, weil es so dunkel ist.‘ Die Tante rief ihn an: ‚Was hast du denn davon? Du siehst mich ja nicht.‘ ‚Das macht nichts‘, antwortete das Kind, ‚wenn jemand spricht, wird es hell.‘ – Er fürchtete sich also nicht vor der Dunkelheit, sondern weil er eine geliebte Person vermisste, und konnte versprechen, sich zu beruhigen, sobald er einen Beweis von deren Anwesenheit empfangen hatte“ (Freud 1905d/1999, S. 127). Was bedeutet es hier, dass es hell wird, wenn jemand spricht? Der kleine Junge, der sich in der Dunkelheit fürchtet, sagt, dass es hell wird, wenn er die geliebte Person, die abwesend und damit unsichtbar ist, hören kann, genauer gesagt, wenn sie zu ihm spricht. Die Stimme des vermissten Objekts verjagt die ängstigende Dunkelheit. Das Hören des Klangs der vertrauten Stimme mit den Ohren ermöglicht es, das in der Außenwelt nicht sichtbare Objekt gewissermaßen vor dem „inneren Auge“ zu sehen.
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Stimme, Licht und Schatten des Objekts
Bei dem Raum, der hier durch die Stimme des unsichtbaren Objekts erhellt wird, handelt es sich, so ließe sich sagen, um einen inneren Raum: Die Stimme der Tante erlöst den Jungen insofern aus der ihn ängstigenden Dunkelheit, indem sie ein Licht wirft und so einen Raum schafft für die innere Repräsentanz des Objekts. Der Klang der Stimme baut eine Brücke, man könnte fast sagen, er funktioniert als eine Art Übergangsphänomen (vgl. Winnicott, 1969).1 Der kleine Junge muss die Stimme hören, um sich des geliebten Objekts zu versichern, auch wenn er es nicht sieht. Das Hören kann den Wunsch zu sehen vertreten; es markiert den Übergang von der sichtbaren Präsenz zur sprachvermittelten psychischen Repräsentation, die des Klangs der Stimme nicht mehr bedarf. Etwas Abwesendes, Unsichtbares kann als anwesend vorgestellt werden: Es kann entlang der Stimme gedacht werden. Sollte man sich nun diesen Raum als schlagartig grell ausgeleuchtet vorstellen? Oder dämmert es langsam? Bleibt das Licht diffus? Bei Freud heißt es, dass der kleine Junge sagt: „Wenn jemand spricht, wird es hell.“ Das mag ein Detail sein, aber es ist wichtig, dass es sich hier um einen Prozess handelt. Es wird hell: hell genug, dass etwas zu erkennen ist; vielleicht aber sind die Gegenstände ein bisschen verwaschen, vielleicht ist ihre genaue Gestalt auch nicht so einfach auszumachen. Sie stehen im Schatten, und sie werfen selbst Schatten. Es dämmert. Die Dämmerung markiert eine Schwelle, einen Übergang, und ist zugleich nur als Prozess zu fassen: Selbst wenn man sagte: „Es ist Dämmerung“, wäre damit angesprochen, dass es entweder bald heller oder bald dunkler gewor1 Ein Übergangsobjekt, so Winnicott, verliere seine Bedeutung in dem Maß, „als sich Übergangsphänomene über den gesamten psychischen Bereich auszubreiten beginnen, der zwischen innerer psychischer Realität und der äußeren Welt liegt, wie sie von zwei Personen in gleicher Weise wahrgenommen werden kann – d. h. über den gesamten Bereich dessen, was wir als Kultur bezeichnen“ (1969, S. 672).
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den sein wird. Dem diffusen Licht der Dämmerung allein ist keine Richtung anzusehen, allein die Verortung im Raum oder das Verstreichen der Zeit ermöglichen es, zu sagen, ob es heller oder dunkler wird.
Der Aufgang der inneren Sonne Die Figur des Hellwerdens, des Dämmerns, ist als Figur im Kontext der Aufklärung wohlbekannt. Am deutlichsten auf den Punkt kommt dies im englischen „enlightenment“, was Aufklärung und Erleuchtung zugleich bedeutet. Es ist geradezu banal, festzustellen, dass Helligkeit bzw. Licht zu den wichtigsten Bildern der Aufklärung gehören. Mit der Aufklärung, so lässt sich das Versprechen formulieren, wird die Dunkelheit vertrieben, man wird der Objekte habhaft, man kann sie sehen: Sie werden nun wissenschaftlich bewältigt, angeschaut, untersucht, vermessen. Selbst das Spekulieren, die gerne verleugnete Seite der aufgeklärten Erkenntnis, verweist der Herkunft nach noch auf das Sehen (speculare). Theodor W. Adorno lässt in der Einleitung zur „Negativen Dialektik“ den „introvertierten Gedankenarchitekten“ hinter dem von „extrovertierten Techniker[n]“ beschlagnahmten Mond wohnen (Adorno, 1966/1997, S. 16). Der Redewendung nach wohnt hinterm Mond der, der etwas Entscheidendes, Selbstverständliches nicht mitbekommen hat, nicht sehen kann – nimmt man das Bild wörtlich: die ganze Erde nicht. Bei Adorno, der die Spekulation durch das, was er „geistige Erfahrung“ nannte, vor dem Abheben bewahrte, fasst das Bild als Polemik die Spannung zwischen selbstbezüglichem Denken und reiner Empirie als Gegensatz zwischen Licht und Schatten. Georg Wilhelm Friedrich Hegel konstatierte in der Vorrede zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ die Verspätung, das Unzeitgemäße der Philosophie, zumindest, wenn diese sagen wolle, wie die Welt zu sein habe:
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Stimme, Licht und Schatten des Objekts
„Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. […] Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ (Hegel, 1820/1986, S. 27 f.). Philosophie, glaubt man Hegel hier, kommt immer zu spät, um in den Lauf der Welt einzugreifen. Sie kann nur das erkennen, das schon lange da, voll entfaltet, alt geworden ist. Sie kann es nicht verjüngen, sondern nur angesichts des kommenden Untergangs erkennen. Die Doppeldeutigkeit der Eule in der Antike – Vogel von Minerva, der Göttin der Weisheit, einer leibhaftigen Kopfgeburt, und zugleich Todesbote – wird von Hegel fortgeführt. „Grau in Grau“ malt die Philosophie: Hier scheint das Licht schon so schwach, dass Farben nicht mehr zu erkennen sind. In dieser Hinsicht ist es konsequent, dass Hegel zufolge die „innere Sonne des Selbstbewusstseins“ im Westen aufgeht (Hegel, 1830/31/1986, S. 133 f.). Er stellt dieses Bild in den zeitlichen Kontext der „Weltgeschichte“, dem „großen Tagwerk des Geistes“: „Da geht der Mensch dann aus tatlosem Beschauen zur Tätigkeit heraus und hat am Abend ein Gebäude erbaut, das er aus seiner inneren Sonne bildete“ (S. 133 f.). Zugleich spricht er den räumlichen Kontext an: Geografisch betrachtet er als den Westen Europa, „schlechthin das Ende der Weltgeschichte“ (S. 133 f.). Nimmt man die Metapher räumlich, dann geht die innere Sonne des Selbstbewusstseins dort auf, wo die äußere Sonne untergeht. Diese räumliche Ausdeutung lässt sich weitertreiben: Hegel soll zumindest in jungen Jahren Sympathien für die Französische Revolution gehegt haben, die von ihm aus gesehen im Westen stattfand. Und das war, folgt man dem Relektürevorschlag von Susan Buck-Morss, die eine Neuinter-
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pretation des Herr-Knecht-Kapitels vor dem Hintergrund des Sklavenaufstandes in Haiti vornimmt, nicht der einzige Aufstand, den er trotz allen systematisch ausgeführten Pessimismus mit Sympathie verfolgte und der einen Weg in sein Werk gefunden hat (vgl. Buck-Morss, 2011). Nimmt man die Metapher zeitlich, dann erübrigt sich die hier an Hegel herangetragene Uneindeutigkeit: Die innere Sonne geht dann auf, wenn die äußere Sonne untergeht. Erst angesichts des Untergangs, des bevorstehenden Verlustes des Lichts, ist der Philosophie Erkenntnis möglich.
Der Schatten des Objekts Sigmund Freud (1917e) entwirft sein Konzept der Melancholie in Abgrenzung von der Trauer, eines als normal angesehenen Prozesses nach dem Verlust eines geliebten Objekts. Bei der Trauer sei „die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst“ (1917e, S. 430). Wie eine „melancholische Zerknirschung“ entsteht, beschreibt Freud folgendermaßen: „Es hat dann keine Schwierigkeit, diesen Vorgang zu rekonstruieren. Es hatte eine Objektwahl, eine Bindung der Libido an eine bestimmte Person bestanden; durch den Einfluß einer realen Kränkung oder Enttäuschung von Seiten der geliebten Person trat eine Erschütterung dieser Objektbeziehung ein. Der Erfolg war nicht der Normale einer Abziehung der Libido von diesem Objekt und Verschiebung derselben auf ein neues, sondern ein anderer, der mehrere Bedingungen für sein Zustandekommen zu erfordern scheint. Die Objektbesetzung erwies sich als wenig resistent, sie wurde aufgehoben, aber die freie Libido nicht auf ein anderes Objekt verschoben, sondern ins Ich zurückgezogen. Dort fand sie aber nicht eine beliebige Verwendung, sondern diente dazu, eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen. Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt,
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Stimme, Licht und Schatten des Objekts
beurteilt werden konnte. Auf diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich“ (Freud, 1917e, S. 435, Hervorh. Ch. K.). Die Ablösung einer Objektbesetzung durch eine Identifizierung, die Freud hier als charakteristisch für die Melancholie beschreibt, greift er später in „Das Ich und das Es“ als allgemeines Moment der Subjektkonstitution wieder auf: „Damals“, also in „Trauer und Melancholie“, „erkannten wir noch nicht die ganze Bedeutung dieses Vorganges und wussten nicht, wie häufig und typisch er ist. Wir haben seitdem verstanden, dass solche Ersetzung einen großen Anteil an der Gestaltung des Ichs hat“ (Freud, 1923b, S. 256). Freud verdeutlicht hier, dass der Objektverlust und die Verarbeitung desselben, sei es durch Einverleibung der oralen Phase entsprechend (S. 259) oder durch Identifizierungen in der ödipalen Phase, der Phase der Entstehung von Über-Ich und Ich-Ideal, konstitutiv für die Ichbildung sind. Der „Charakter des Ichs“, so Freud, sei „ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen“, er enthalte die „Geschichte dieser aufgegebenen Objektwahlen“ (S. 259). Dieser Faden ließe sich zurück zu den Anfängen des Psychischen verfolgen, ist doch auch die erste Fassung des Ichs aus dem „Entwurf einer Psychologie“, die „konstant besetzte Neuronengruppe“, als erste auf Wiederholung gestellte Hemmung einem – in diesem Falle überlebensnotwendigen – Verlust geschuldet, nämlich dem des als anwesend halluzinierten Objekts der Befriedigung (Freud 1950c, S. 416). Was bezogen auf die Melancholie als Verarmung des Ichs imponiert, bedeutet, wechselt man zur subjektkonstitutiven Perspektive, eine Bereicherung, wenn mit der Identifizierung das verlorene Objekt im Ich wieder aufgerichtet wird. Aus dem Fall wird der Normalfall. Woher aber, lässt sich an dieser Stelle fragen, kommt das Licht? Woher kommt das Licht, das es ermöglicht, dass das
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Objekt einen Schatten werfen kann? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst daran erinnert werden, dass Freud neben der pathologischen und der subjektkonstitutiven Melancholie mit der Trauer auch noch einen Prozess beschreibt, den er – ein Ich, das seinen Namen verdient, ist hier vorausgesetzt – als einen normalen Prozess ansieht. Die Normalität ist hier darin begründet, dass dieser Prozess endlich ist und nicht zu psychischer Strukturbildung führt. Auch wenn hier einzuwenden ist, dass Freud ein Ideal beschreibt, der Übergang von der Trauer zur Melancholie fließend ist und es schwerfallen mag, Trauer ohne ein melancholisches Moment vorzustellen, ist es doch entscheidend, dass die Trauer das Subjekt nicht strukturell verändert und dem Konzept zufolge eine Zukunft eröffnen soll, in der neue Objekte gefunden werden können. Die Frage nach dem Ort, von dem aus das Licht scheint, führt hier zur Zeit, denn es ist das Vergehen der Zeit, das die Trauer von der Melancholie scheidet: Ist bei aller niederschmetternden Trauer, zumindest vom Ergebnis her betrachtet, die Zeit nicht stehengeblieben, ist der Verlust der Zukunft kennzeichnend für die Melancholie, insofern mit der Rücknahme von Besetzung (und – nicht zu vergessen – der Energie) der gegenwärtige Zustand zeitlos wird, er wird auf Dauer gestellt. Das Licht, so ist anzunehmen, welches das Objekt einen Schatten werfen lässt, scheint demzufolge aus der Zukunft. Und auch hier entsteht wieder eine Spannung: Mit jedem Objekt, das verlorengeht und nicht betrauert werden kann, geht auch ein wenig Licht verloren. Gleichzeitig aber entsteht auf diese Weise eine überdauernde psychische Instanz, ohne die weder Trauer noch Zukunft zu denken ist.
Das Licht aus der Zukunft Max Horkheimer und Theodor W. Adorno beginnen die „Dialektik der Aufklärung“ mit einem Satz, in dem das Motiv der Angst vom Anfang meiner Überlegungen wieder auf-
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Stimme, Licht und Schatten des Objekts
taucht. Hier wird es allerdings nicht hell, es ist hell. Beschrieben wird eine Welt, die, gnadenlos überbelichtet, von unmittelbarer Präsenz beherrscht zu werden scheint: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (Horkheimer u. Adorno, 1947, S. 25). Hier bleibt kein Schatten, in dem sich etwas verbergen könnte, der es erfordern und erlauben würde, genau hinzuschauen, auch nicht, um zu sehen, woher das Licht kommt. In einem anderen Kontext lässt auch Adorno ein Licht aus der Zukunft scheinen, nämlich von der Utopie her: „Das Licht des Unzerstörbaren an den großen Kunstwerken und philosophischen Texten ist weniger das Alte und vermeintlich Ewige, das selber der Zerstörung verschworen bleibt, als das der Zukunft. Ein jedes Geistiges hat seine Wahrheit an der Kraft der Utopie, die durch es hindurchleuchtet. Nur wenn die Menschheit, um zu überleben, die Utopie sich nicht länger mehr verbietet, sondern dessen inne wird, daß Überleben selber heute mit der Verwirklichung der Utopie eines Sinnes ward, dann wird auch die Starre des Geistes sich lösen – nicht etwa durch seine bloße Anstrengung oder die Verfeinerung seiner Mittel“ (Adorno, 1949b/1997, S. 462 f., Hervorh. Ch. K.). Das Geistige wird hier nicht mit dem Licht identifiziert, es wird zu einem Dritten, durch das etwas hindurchleuchten kann: Die „Kraft der Utopie“, das Eingedenken der Möglichkeit, dass die Zukunft, wenn auch zunächst nur in Gedanken, wenn auch nur an einem Unort, auch ganz anders sein könnte, leuchtet als „Licht des Unzerstörbaren“ durch die großen Kunstwerke und philosophischen Texte. Im letzten Absatz der Einleitung der „Negativen Dialektik“ heißt es dementsprechend:
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„Erkenntnis, die den Inhalt will, will die Utopie. […] Die unauslöschliche Farbe kommt aus dem Nichtseienden. Ihm dient Denken, ein Stück Dasein, das, wie immer negativ, ans Nichtseiende heranreicht. Allein erst äußerste Ferne wäre die Nähe; Philosophie ist das Prisma, das deren Farbe auffängt“ (Adorno, 1966/1997, S. 66).2 Philosophie ist hier nicht das, was selbst leuchtet und Licht wirft, sondern etwas, das aus der Zukunft kommendes Licht aufzufangen in der Lage ist. Hier lässt sich das Motiv des Hörens wieder aufgreifen: Nicht nur beginnt die erste Arbeit aus der „Prismen“ genannten Aufsatzsammlung „Kulturkritik und Gesellschaft“ mit den Worten „Wer gewohnt ist, mit den Ohren zu denken, der muß am Klang des Wortes Kulturkritik sich ärgern“ (Adorno 1949a/1997, S. 11).3 „Mit den Ohren denken“ bezieht sich bei Adorno zuerst auf die Musik, auf das „musikalisch sein“ (Adorno 1963, S. 184). Dieses sei „ein Werden, ein erst sich Bildendes, prinzipiell Offenes“ (S. 184). Das wiederum schreibt er auch über die Dialektik, die, so Adorno, sich „dem Inhalt zu[neigt] als dem Offenen, nicht vom Gerüst Vorentschiedenen“ (Adorno, 1966/1997, S. 166). Es gehe, hier jetzt wieder bezogen auf Musik, nicht darum, „das Vernommene unter seinem Oberbegriff zu subsumieren; nicht bloß anzugeben 2 Um diese beiden Sätze zu interpretieren, müsste auf den gesamten Absatz (S. 65 f.) eingegangen werden. Da dies hier nicht möglich ist, sei Adornos Verteidigung der „Sprache im Denken“ gegen das „Ressentiment derer, denen Lebensnot die Freiheit, sich zu erheben, verschlägt, und denen der Leib der Sprache für sündhaft gilt“ (S. 66) hier wärmstens zur Lektüre empfohlen. 3 Zum Titel „Prismen“ merkt Adorno an, „dass das Wort wenigstens in handfestem Sinn das Gemeinsame der Teile richtig charakterisiert“; alle bis auf den ersten Essay handelten von „bereits vorgeformten geistigen Phänomenen“, „durch jeden Text, jeden Autor hindurch soll etwas von der Gesellschaft schärfer erkannt werden; die behandelten Werke sind Prismen, durch die man auf Wirkliches hindurchblickt“ (Adorno, 1962/1997, S. 328).
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Stimme, Licht und Schatten des Objekts
[zu] vermögen, welchen Ort Details in dem logisch übergeordneten Schema haben“, sondern darum, „die Entfaltung des Erklingenden in ihrer Notwendigkeit mit den Ohren [zu] denken“ (Adorno, 1963/1997, S. 184). Später heißt es, dass sich etwas mit den Ohren „einsehen“ lässt (S. 253). Wenn jemand spricht, wird es hell …?
Literatur Adorno, Th. W. (1949a/1997). Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften, Bd. 10.1 (S. 11–30). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Th. W. (1949b/1997). Die auferstandene Kultur. Gesammelte Schriften, Bd. 20.2 (S. 453–464). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Th. W. (1962/1997). Titel. In Th. Adorno, Noten zur Literatur III. Gesammelte Schriften, Bd. 11 (S. 325–334). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Th. W. (1963/1997). Der getreue Korrepetitor. Gesammelte Schriften, Bd. 15 (S. 157–402). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Th. W. (1966/1997). Negative Dialektik (9. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Buck-Morss, S. (2011). Hegel und Haiti. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (1905d/1999). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Gesammelte Werke, Bd. V (S. 33–144). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1917e/1999). Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke, Bd. X (S. 428–446). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1923b). Das Ich und das Es. Gesammelte Werke, Bd. XIII (S. 235–289). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1950c). Entwurf einer Psychologie. Gesammelte Werke, Nachtragsband (S. 387–477). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Hegel, G. W. F. (1820/1986). Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke, Bd. 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hegel, G. W. F. (1830/31/1986). Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke, Bd. 12. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Horkheimer, M., Adorno, Th. W. (1947). Dialektik der Aufklärung. Gesammelte Schriften, Bd. 3 (S. 13–290). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Winnicott, D. W. (1969). Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. Psyche – Z. Psychoanal., 23 (9), 666–682.
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Katharina Rothe
Spannung halten im Denken
E
lfriede Löchel hat mich nicht nur inspiriert; ihr psychoanalytisches Denken hat mich die Psychoanalyse erst entdecken lassen und mich gelehrt, Freud zu lesen und wieder zu lesen, ja, sie hat mich überhaupt das Lesen und Denken gelehrt. Ich möchte daher an dieser Stelle einige Aspekte ihrer Methode des Lesens, Schreibens und Forschens skizzieren. Als Kernstück betrachte ich dabei, die Spannung zu halten im Denken, dem Impuls zu widerstehen, Widersprüche aufzulösen, und überhaupt dem Drang zu widerstehen, einfache Antworten zu finden. Nun, könnte man sich an dieser Stelle fragen, warum nicht einfache Antworten finden? Wäre das nicht wunderbar, egal in welchem Feld? Löchels Antwort wäre vielleicht: Ja, wenn es denn welche gäbe. Doch genau das ist das Problem, wenn es darum geht, die Verfasstheit des Subjekts zu denken – ein Subjekt, das sowohl gesellschaftlich als auch biologisch konstituiert ist. Löchels Lesart Freud’scher Psychoanalyse betont deren Potenzial, diese Verwobenheit zu denken und sie nicht einseitig aufzulösen. Sie vermag das Subjekt als immer schon eingebunden in ein Symbolsystem zu denken, das uns sowohl bestimmt, sich in unsere Leiblichkeit einschreibt, doch das zugleich nie die Kluft zwischen Leib, körperlicher Erfahrung und dem sprachlichen Symbol aufzulösen vermag. Eine Spannung zu halten gilt es auch, wenn es darum geht, Differenz(en) zu fassen, ohne sie festzuklopfen,
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Spannung halten im Denken
wie Löchel (1990, 1997, 2000, 2009) es in ihren Arbeiten zur Geschlechterdifferenz gezeigt hat. Schließlich stellt das Halten von Spannung ein methodisches Kernstück beim Interpretieren von Narrativen und von Texten in der psychoanalytischen Sozialforschung dar, mit deren Hilfe Löchel und – unter ihrer Supervision viele Studierende und Doktorierende – zahlreiche themenzentrierte Interviews und Gruppendiskussionen erhoben und ausgewertet haben. Löchel unterscheidet dabei immer zwischen psychoanalytischer Methode und Theoriebildung – eine ebenso nützliche wie schwierige Unterscheidung, der ich im Folgenden nachgehen möchte, indem ich in wenigen Worten die psychoanalytische Methode in der Sozialforschung nach Löchel skizziere. Beim Erheben der Interviews gilt es, die Interviewten zum Erzählen aufzufordern zu dem Thema, das erforscht werden soll. Indem wir dem individuellen Sprechen folgen, Nachfragen stellen und mitunter zum ausführlichen Beschreiben auffordern, ko-konstruieren wir das Narrativ. Löchel hat dies ausführlich in ihrer Habilitationsschrift „Inszenierungen einer Technik: Psychodynamik und Geschlechterdifferenz in der Beziehung zum Computer“ (Löchel, 1997) gezeigt. Ihr Gegenstand waren subjektive und unbewusste Bedeutungsdimensionen unserer Beziehung zum Computer, damals noch vor dem Zeitalter des World Wide Web. Wenn das auf Tonband Aufgezeichnete transkribiert ist und wir uns interpretierend dem Text zuwenden, gilt es wiederum, Spannung zu halten, den vermeintlichen Sinn der Rede nicht festzuklopfen. Um sich unbewussten Bedeutungsebenen zu nähern – dem Gegenstand psychoanalytischer Forschung –, gilt es im Gegenteil, zunächst einmal keinen „Sinn zu machen“, sondern sich dem zuzuwenden, das sich dem Verstehen entzieht. Denn der mit logischem und psychologischem Verstehen „erschließbare Bedeutungshorizont enthält notwendig auch ‚blinde Flecken‘, Selbsttäuschungen, unbewusste Bedeutungen, die sich entgegen der
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Katharina Rothe
Intention der Sprechenden dort zeigen, wo die subjektive Sinnkonstruktion nicht (ganz) gelingt. Auf diese Bedeutungen richtet sich nun das szenische Verstehen. Es soll Aufschluss über den Bedeutungsüberschuss geben“ (Löchel, 1997, S. 67). Löchel hat in der Tradition von Lorenzer (1970), Leithäuser und Volmerg (1988) die psychoanalytische Methode in der Sozialforschung außerordentlich fruchtbar gemacht, indem sie das Begriffspaar von Übertragung und Gegenübertragung in die Forschung übersetzte. Eine Erhebungssituation lässt sich so als Ensemble von Szenen begreifen, in die sich die Teilnehmenden gemeinsam mit den Forschenden involvieren und die auch von unbewussten Konflikt- und Abwehrformen motiviert sind, welche sich in der Situation (re)inszenieren. Indem wir nun unsere eigene Subjektivität einsetzen, insbesondere die Analyse der eigenen Affekte in Auseinandersetzung mit dem Text, suchen wir uns der Subjektivität anderer verstehend zu nähern und dabei auch Unbewusstes aufzuspüren. Affekte, Assoziationen und Irritationen in Bezug auf das Erhebungsmaterial sind dabei erste Anhaltspunkte, um einen Zugang zu den (unbewussten) Konflikt- und Abwehrformen, die sich während der Erhebungssituation (re)inszenieren, zu erhalten. Der Orientierung dienen dabei Brüche und Widersprüche im (Transkript-)Text. Denn, so Löchel: „Das Sprechen ‚weiß‘ und vermittelt mehr als das bewusste Erleben und mehr als die bewussten Intentionen des Sprechers. Für den Sprecher aber folgt gerade auch aus dieser Erfahrung der Fragmentierung und Dezentrierung, die das Sprechen mit sich bringt, die Notwendigkeit, daraus ‚Sinn‘ zu machen. Der Sinn, den die Beteiligten für sich bilden, dient immer auch dazu, Konflikte und Widersprüche zu binden und zu bewältigen. Der subjektive Sinn ist demnach ein Produkt des Ich – das nach Freuds Formulierung nicht Herr im eigenen Hause ist. Zum Sprechen gehören immer auch Versprecher, in denen etwas den Sinn der Rede Störendes, Entstellendes sich zu Wort meldet. Solche häufig
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Spannung halten im Denken
auch für den Interaktionspartner irritierende, unverständliche, brüchige oder widersprüchliche Stellen sind der ‚Königsweg‘ der Interpretation. Von ihnen ausgehend, kann man auf eine andere Rede stoßen. Das Sprechen aber umfasst in einer Doppelstruktur beides, die an das Ich gebundene Binnenperspektive ebenso wie das ‚andere‘. Unbewusstes ist nie etwas an sich selbst. Sein nie zu identifizierender Ort ist der verdichtend-verschiebende Prozess, in dem ein Subjekt sich ausdrückt“ (Löchel, 1997, S. 51). Die Psychoanalyse zielt mit ihrem Gegenstand des Unbewussten also auf „etwas“, das sich permanent entzieht, nicht dingfest zu machen ist und sich doch unablässig Ausdruck verschafft. So setzt die Interpretation an den Textstellen an, deren Sinn sich (zunächst) nicht erschließt – doch lässt sich nach der Freud’schen Analyse der beiden zentralen Funktionsweisen des Unbewussten, der Verdichtung und Verschiebung, fassen, dass es dabei nicht um „das Fehlen einer Bedeutung“ geht, sondern vielmehr um „deren unaufhörliches Gleiten“ (Laplanche u. Pontalis, 1999, S. 397). „Alles intentionale Sprechen knüpft demnach auch an nichtintendierte primärprozesshafte sprachliche Verdichtungen und Verschiebungen an, in denen sich Triebkonflikte und Verdrängtes auch unter der Kontrolle des Bewusstseins und der Zensur in Vorstellungen Ausdruck zu verschaffen suchen. Die situative Manifestation unbewusster Konfliktkonfigurationen lässt sich als Produkt unbewusster Anspielungs-, Verdichtungs- und Verschiebungsprozesse betrachten, die beim Sprechen sich mitteilen, vermitteln. Eine Interpretation, die der Dynamik des Gesagten folgt und szenisches Verstehen miteinbezieht, folgt den Verdichtungen und Verschiebungen im Sprechen. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass sich jegliches Sprechen immer auch am sozialen Interaktionspartner vorbei an einen imaginären Anderen wendet“ (Löchel, 1997, S. 50). Psychoanalytisches Interpretieren ist so in erster Linie intensive Textarbeit, doch geht diese weit über andere Interpretationsmethoden hinaus: zunächst, da wir Assoziationsräume
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des Gesagten ausleuchten und uns an Irritationen, Brüchen, Widersprüchen orientieren. Darüber hinaus stellt die Analyse der (eigenen) Affekte ein Kernstück dar, um die (Gegen-) Übertragungsprozesse aufzuspüren. Während einige Autoren, Löchel zitiert hier Horn, Beier und Wolf (1983) sowie Heim (1989), die Differenz zwischen Szene und Text hervorheben, betont Löchel ihre Nähe zueinander – nicht nur, da auch „Texte immer […] Szenen und Beziehungsangebote beinhalten“ (Löchel, 1997, S. 49), sondern ebenfalls, da letztlich die einholende Interpretation darauf angewiesen ist, auch Nichtsprachliches in Worte zu fassen. Wichtiger als die Differenz zwischen Text und Szene erscheint ihr „der Unterschied zwischen dem Akt des Sprechens und dem Gesprochenen, dem Akt des Aussagens und dem Ausgesagten“ (S. 50), da im Prozess psychoanalytischer Sozialforschung das Erleben der Erhebungssituation selbst und das Hören des Gesprochenen schnell dem Lesen und Wiederlesen des einmal auf Tonband Aufgezeichneten weiche. Doch beinhalte nach Ricoeur auch das „konservierte Gesagte einen Appell an die Deutung“ (S. 50). Es stelle „ein vielschichtiges Gewebe aus Assoziationen und Anspielungen dar und [halte] eine dynamische Verlaufsgestalt fest, in der sich eine spezifische Konfliktkonstellation verdichte […]“ (S. 50). Löchel hat nicht nur das szenische Verstehen nach Lorenzer angewandt, hat nicht nur die psychoanalytische Sozialforschung nach Leithäuser und Volmerg weiterentwickelt. Vielmehr hat sie mit der psychoanalytischen Methode in Verknüpfung mit psychoanalytischem Theoretisieren im Hinblick auf ihren Forschungsgegenstand – ob nun die Geschlechterdifferenz oder die Neuen Medien im Zeitalter des Computers und schließlich des Internets – tatsächlich unbewusste Dimensionen erschlossen. Meine These ist, dass dies erst möglich wird durch einen „Sprung“ zu psychoanalytischem Theoretisieren. Löchel führt diesen beispielsweise vor in ihrer Interpretation eines „Sog[s]“ (S. 193), der von Männern beschrieben wurde, die zu ihrer Computerbeziehung interviewt wurden.
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Spannung halten im Denken
Erst mit psychoanalytischen Konzepten, in diesem Falle unter Rekurs auf „die archaische Matrix des Ödipuskomplexes“ nach Chasseguet-Smirgel (1988, S. 112), holt Löchel ein, auf welche individualpsychologisch und überindividuell bedeutsamen unbewussten Wurzeln die in den Interviews sich (re) inszenierenden Beziehungserfahrungen zurückgehen mögen (Löchel, 1997, S. 200 f.). Meines Erachtens können wir erst mit psychoanalytischem Theoretisieren (wie auch mit Ausdrucksformen der Musik, Kunst und Literatur) uns dem vorerst nicht Symbolisierbaren nähern. So möchte ich argumentieren, dass sich Löchels Forschungsarbeiten letztlich dadurch auszeichnen, dass Methode und Theoretisieren wieder aufeinandertreffen oder in Spannung aufeinander bezogen werden. Die Spannung liegt darin, dass auch im Versuch des Theoretisierens die Bedeutung nie ein für allemal festgeschrieben werden kann. Im Aushalten dieser Spannung aber liegt Erkenntnis, im Halten dieser Position ist ein Drittes enthalten; hier liegt das Potenzial von (psychoanalytischer) Symbolisierung. Denken und Theoretisieren in diesem Sinne heißt einerseits, Versuchungen zu widerstehen, schnell und ein für alle Mal Antworten zu finden. Doch birgt dieses Widerstehen nicht andererseits auch eine Lust? In Löchels Arbeiten zum unbewussten Wunsch und zur unbewussten Phantasie ist diese Seite eines solchen Denkens angesprochen und hier lässt sich nicht zufällig eine sexuelle Analogie bemühen. Man denke etwa an die Steigerung sexueller Lust, wenn wir nicht auf schnelle Befriedigung abzielen, sondern diese hinauszögern. Neben dem lustvollen Aspekt des Haltens der Spannung im Denken bedeutet dies aber auch, eine immense Angst auszuhalten, die Angst vor dem Unauflösbaren, vor dem NichtSymbolisierbaren, vor dem Nicht-Verbalisierbaren, vor dem, was Autoren verschiedenster psychoanalytischer Schulen auf unterschiedliche Weise zu fassen suchten als „the unthought known“ (Bollas, 1987), „unformulable experience“ (Stern,
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Katharina Rothe
2012, S. 38), „the prototaxic“ (Sullivan, 1953, S. 36) oder „le réel“ (Lacan, 2005). Einer der wichtigsten Gedanken von Löchels Beitrag „Von der Unzerstörbarkeit des Wunsches und der Endlichkeit des Geschlechts“ (Löchel, 2000) birgt beide Seiten. Auf der einen Seite sind wir, solange wir leben, Getriebene, getrieben als wünschende Subjekte, getrieben durch den unbewussten Wunsch, sind wir ständig dabei, unbewusste Phantasien in Szene zu setzen, sei es als Inszenierende von Interaktionen oder als Interpretierende bzw. als beides zugleich. Der unbewusste Wunsch ist dabei das, was das Psychische konstituiert, und es kommt in die Welt, indem wir in den ersten Interaktionen etwas anderes erleben als die bloße Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses. Der Säugling erlebt Lust und damit wird das Psychische ins Leben gerufen und das Subjekt als Lustsuchendes konstituiert (Löchel, 2000). Dieser Wunsch ist unzerstörbar, solange wir leben. Die Endlichkeit des Geschlechts verweist auf die Endlichkeit unseres individuellen Lebens, auf die Endlichkeit des menschlichen Geschlechts, der Menschheit. Zugleich verweist sie auf die Begrenzungen, denen wir durch unsere Körperlichkeit, unsere Leiblichkeit, ausgesetzt sind. Wir sind Mangelwesen im Lacan’schen Sinne, Mangelwesen, die auf die/den andere/n angewiesen sind, um zu überleben, und die im Lauf der Zivilisation auf immer ausgefeiltere Prothesen zurückgreifen (Freud, 1930a; Decker, 2003, 2011). Löchels Methode, die Spannung zu halten im Denken, birgt das Potenzial, Worte zu finden, die sich dem Unsagbaren nähern. Was bedeutet das über die Psychoanalyse, über psychoanalytische Praxis wie auch psychoanalytische Forschung hinaus? Nun, es ist ein widerständiges Denken gegenüber einem Wissenschaftsbetrieb in den Natur- wie auch den Humanwissenschaften, in dem lineares Denken, das Auflösen von Widersprüchen gefordert ist. Ein solches widerständiges Denken ist politisch, wenngleich oder gerade weil es dem politischen Geschäft entgegensteht, dem Finden
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Spannung halten im Denken
von einfachen „Lösungen“, von Parolen, von Demagogie. Es bedeutet, den Impulsen, Widersprüche aufzulösen, zu widerstehen; letzten Endes kann es auch bedeuten, Popularität zu widerstehen. Ich habe dies einen Tag nach der ersten TV-Debatte zwischen Obama und Romney 2012 geschrieben, die mir einmal mehr vor Augen geführt hat, wie sehr mediale und politische Popularität gebunden ist an Einfachheit, an die Reduktion von Komplexität und an den angeblichen Gegensatz von Theorie und Praxis. „Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat“ (Freud, 1927c, S. 377). Nun, mit Löchel möchte man Freud hier beinahe als optimistisch bezeichnen. Denn sowohl aufs Individuum wie auf die Menschheit bezogen, selbst wenn die Ruhelosigkeit besteht, scheint doch das Gehör minimal zu sein.
Literatur Bollas, C. (1987). The shadow of the object: Psychoanalysis of the unthought known. New York: Columbia University Press. Chasseguet-Smirgel, J. (1988). Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. Psychoanalytische Studien. München: Verlag Internationale Psychoanalyse. Decker, O. (2003). Der Prothesengott. Gießen: Psychosozial-Verlag. Decker, O. (2011). Der Warenkörper. Springe: zu Klampen. Freud, S. (1927c). Die Zukunft einer Illusion. Gesammelte Werke, Bd. XI (S. 411–466). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. Gesammelte Werke, Bd. XIV (S. 421–561). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Heim, R. (1989). Das Subjekt im Text. Zur Methodologie psychoanalytischer Sozialforschung. In Psychoanalytisches Seminar Zürich (Hrsg.), Die Gesellschaft auf der Couch. Frankfurt a. M.: Athenäum. Horn, K., Beier, C., Wolf, M. (1983). Krankheit, Konflikt und soziale Kontrolle: eine empirische Untersuchung subjektiver Sinnstrukturen. Opladen: Westdeutscher Verlag.
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Katharina Rothe Lacan, J. (2005). Le Séminaire, Livre XXIII, Le sinthome [1975– 1976]. Paris: Seuil. Laplanche, J., Pontalis, J.-B. (1999). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Leithäuser, T., Volmerg, B. (1988). Psychoanalyse in der Sozialforschung. Eine Einführung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Löchel, E. (1990). Umgehen (mit) der Differenz. Psyche – Z Psychoanal, 44, 826–847. Löchel, E. (1997). Inszenierungen einer Technik: Psychodynamik und Geschlechterdifferenz in der Beziehung zum Computer. Frankfurt a. M.: Campus. Löchel, E. (2000). Von der Unzerstörbarkeit des Wunsches und der Endlichkeit des Geschlechts. Unveröffentlichtes Manuskript. Vortrag, gehalten am 26. 0 6. 2000 an der FU Berlin. Löchel, E. (2009). Lässt sich Differenz denken? Vortrag im Forschungskolloquium Gender Studies am 26. 01. 2009 an der Universität Hannover. Semesterthema „Repräsentationen von Differenz“. Lorenzer, A. (1970). Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stern, D. B. (2012). Implicit theories of technique and the values that inspire them. Psychoanalytic Inquiry, 32 (1), 33–49 (17). Sullivan, H. S. (1953). The interpersonal theory of psychiatry. New York: Norton.
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Angelika Ebrecht-Laermann
Schreib das auf ! Über einige Schwierigkeiten, Gedanken in Worte zu fassen
W
er von den jetzt Fünfzig- bis Sechzigjährigen kennt nicht noch folgende Situation: Man sitzt vor einem schrecklich leeren weißen Blatt, den Kopf voller Gedanken, ist aber unfähig, sie aufzuschreiben. Und während man noch fürchtet, nie wieder eine Zeile zu Papier bringen zu können, fügen sich plötzlich die Gedanken zu Worten und das Schreibgerät gräbt sie wie im Fluge in den Untergrund. Nur zu oft zeigt sich dann aber, dass es doch nicht so einfach ist, Gedanken in Worte zu fassen. Denn nicht immer entspricht das Aufgeschriebene dem, was man zuvor hatte sagen wollen. Während man zunächst vielleicht noch glaubte, genau das aufgeschrieben zu haben, was man im Sinn hatte, erscheint das Geschriebene plötzlich unpassend und unzutreffend. Nun beginnt das Umarbeiten: Entweder das ganze Blatt wird zerrissen oder einzelne Sätze oder Worte werden gestrichen, umformuliert und umgeschrieben. Erst allmählich wird beim Schreiben deutlich, was man sagen will. Mit den Worten werden auch die Gedanken umgeschrieben. Es lässt sich daher vermuten, dass für das Schreiben ebenfalls gilt, was Kleist (1805, S. 1032) „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ sagte, nämlich „ l’idée vient en parlant “ – die Idee entsteht beim Schreiben. Oder sollte man vielmehr sagen: Gedanken entstehen beim Schreiben? Im Zeitalter der Computer und Diktierprogramme freilich scheint all das der Vergangenheit anzugehören. Nun
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Angelika Ebrecht-Laermann
hat es den Anschein, als gehe der Schrecken des Schreibens weniger von der Leere als von der unabsehbaren Datenfülle im Netz aus. Jetzt stellt sich nicht mehr das Problem, ein leeres Blatt zu füllen, sondern die Frage, wie es gelingen kann, aus der schier unendlichen Masse der im Netz verfügbaren Informationen die für ein Thema wichtigen herauszufiltern. Angesichts eines solchen Wandels könnte man meinen, dass die Schwierigkeiten, etwas Bestimmtes aufzuschreiben, der Vergangenheit angehören. Und doch ist es wohl kein Zufall, dass der Computerbildschirm in ein weißes Blatt verwandelt werden kann. Das leere Blatt bietet eine Projektionsfläche, die hilft, eigene Gedanken zu klären und in eine Form zu bringen, damit sie aufgeschrieben werden können. Doch im Zeitalter der Computer ist alles nur scheinbar leichter. Zwar gelingt es durchaus schneller, das virtuelle leere weiße Blatt auf dem Bildschirm zu füllen, aber deshalb sind die Gedanken noch lange nicht klarer, die Worte nicht treffender. „Am Nebenmenschen“, sagt Freud (1895/1970, S. 415), „lernt darum der Mensch erkennen“. Und, so könnte man hinzufügen, am Nebenmenschen lernt er auch schreiben. Denn wir richten unser Geschriebenes stets an einen oder gar mehrere Menschen, an jemanden, der es liest, versteht und verarbeitet. Freilich kann man für das Schreiben nicht umstandslos behaupten, es liege „ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht“ (Kleist, 1805, S. 1033). Denn kaum einer würde wohl meinen, ein leeres Blatt Papier könnte die gleiche Funktion erfüllen wie ein menschliches Gesicht. Braucht man also zum Schreiben ein Gegenüber und wenn ja, wofür? Zumindest braucht man jemanden, der einem sagt: Schreib das auf! Denn sonst täte man es nicht. Dieser Jemand kann eine äußere Instanz sein, ein anderer oder auch ein Teil des eigenen Über-Ichs. In jedem Fall muss er aber in uns repräsentiert sein und uns anhalten, das zu tun, worauf wir ansonsten nicht kämen: einen Gedanken aufzuschreiben.
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Schreib das auf !
Für wen man dann schreibt und wem die innere Zwiesprache gilt, die dem schriftlichen Ausdruck vorausgeht, ist ganz unterschiedlich. Sie richtet sich nicht zwangsläufig an dasselbe innere Objekt, das ein Publikum vertritt. Wo beim Reden ein einzelnes Antlitz genügt, stellen wir uns beim Schreiben in der Regel viele vor. Selbst wenn wir wissen, dass kaum jemand das Geschriebene je zur Kenntnis nehmen wird, ordnen wir unsere Gedanken so, als müsste eine größere Menge von Menschen sie aufnehmen. Wer dabei gemeint ist, das kann ganz unterschiedlich sein. In der Wissenschaft ist es die Scientific Community, also die Gemeinschaft derer, von denen man vermutet oder bloß wünscht, dass sie das Geschriebene zur Kenntnis nehmen. Computer suggerieren, dass diese Gemeinschaft omnipräsent ist, und zwar so sehr, dass der notierte Gedanke von jedem anderen auch hätte gedacht werden können. Als wäre das Denken im Schreiben aufgehoben und untergegangen. Dies wird bis hin zur Fälschung getrieben bei jener Methode, die euphemistisch als „copy and paste“ bezeichnet wird, aber im Grunde die Grenze zum Diebstahl „geistigen Eigentums“ markiert. Hier zeigt die Differenz zwischen Schreiben und Schrift, Denken und Gedanken, dass die universale Verfügbarkeit des Niedergeschriebenen eine Illusion bleibt: Nicht jeder hätte genau das wirklich denken und in genau diese Worte fassen können. In kaum einem Bereich klafft inzwischen wohl eine derartige Lücke zwischen Gebildeten und Ungebildeten, den „normalen“ Computernutzern und jenen, die den Computer zur Beschleunigung und quantitativen Steigerung ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit verwenden, wie im Bereich des Schreibens und der Schrift. Selbst zu schreiben und zugleich zu denken erscheint als immer schwierigeres Unterfangen. Insofern kann man sich der Auffassung Christoph Türckes (2005, S. 11) anschließen, Schrift sei zu einem „Gradmesser für den Stand menschlicher Entwicklung geworden“. So entindividualisiert ein Text im Netz häufig erscheint, so individuell ist das Geschriebene, das (auf der
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Angelika Ebrecht-Laermann
Basis des bereits Gesagten) originär verfasst und gedacht worden ist, im Moment des Schreibens. Trotz der schieren Ubiquität des am Computer Geschriebenen bleibt das Schreiben selbst etwas Einzigartiges, geradezu Intimes. Sherry Turkles Konzept des Computers als „Evokatorisches Objekt“, in das „unbewusste Erinnerungsreste, Wünsche, Phantasien“ verlegt werden können, lässt nicht nur auf verschiedene Programmierstile schließen (Löchel, 1991, S. 207 ff.), sondern es ließe sich auch zur Bestimmung unterschiedlicher Schreibstile verwenden. Denn Menschen richten sich beim Schreiben an ihnen meist unbekannte Leser. Dass ihr Gegenüber stets eine Projektionsfläche bleibt, rückt das Schreiben in die Nähe psychoanalytischer Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse. So sehr es sich um Distanz und Objektivität bemüht, stets verweist das Geschriebene auch „auf die psychische Befindlichkeit“ des Autors (Wittmann, 2009, S. 10). Mehr noch als dem gesprochenen Wort haftet dem geschriebenen etwas von seinem Ursprung an; stets trägt es „Spuren“ seiner Herkunft aus unbewussten Konflikten in sich (Türcke, 2005, S. 236). Sein Ursprung verliert sich allerdings im Geschriebenen durch die Einschreibung in eine überindividuelle Textur, was auch die Illusion mit sich bringen kann, dass es keinen „Ursprung“ der Gedanken in einem konkreten Unbewussten gibt und dass in der Schrift bestimmte Gedanken aus ihrem konflikthaften Kontext gelöst, symbolisch festgeschrieben und dadurch dauerhaft mitteilbar gemacht werden können. Damit bleibt es dem Unbewussten des Lesers überlassen, welche der im Geschriebenen verfestigten Gedanken in ihm selbst zu verflüssigen und weiterzudenken sind. Freud (1910e, S. 218) zufolge dient Sprache dem „Ausdruck“ und der „Mitteilung“ von Gedanken; sie ist also an andere gerichtet. Fatalerweise sind wir jedoch beim Schreiben zunächst – manchmal furchtbar – allein. Mindestens so lange, bis wir das Geschriebene einer ausgewählten Person zum Lesen geben, die dann jeweils als kritische Instanz stellvertretend für die Gruppe der adressierten Leser steht. Zunächst
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Schreib das auf !
aber muss dieser Kritiker in uns jene Gedanken auswählen, die geeignet erscheinen, um genau das und nur das, was wir sagen wollen, in Worte zu fassen. Dafür muss er streng, aber nicht zu streng aus dem Sturm der Gedanken die passenden auswählen. Mit dem Schreibenden, dem Gedanken und dem Wort bzw. der Sprache konstituiert auch das Schreiben einen symbolischen Raum. „Symbolisierung ist Triangulierung, und Triangulierung ist Symbolisierung“ (Löchel, 1996, S. 280). Bion (1962a/1990, S. 138) behauptet, dass sich im Laufe der Entwicklung ein „Apparat“ herausbildet, der es möglich macht, „bereits existierende Gedanken zu denken“. Wenn aber dieser „Apparat zum Denken der Gedanken“ (1962b/1990, S. 228) tatsächlich aus projektiven Identifizierungen im Sinne Melanie Kleins entsteht, wie Bion (1962a/1990, S. 76; 1961/2001, S. 230 f.) meint, dann brauchen wir andere Menschen zum Denken wie zum Schreiben. Worte verallgemeinern die gedachten Gedanken, übertragen beides in eine allgemein verständliche Form. Bevor er aufgeschrieben werden kann (oder auch währenddessen), muss der Gedanke also gedacht, hervorgebracht und in Worte gefasst werden. Schreiben ist der Versuch, die in Worten gedachten Gedanken festzuhalten. Während der Gedanke sich im gesprochenen Wort verflüchtigt und in der Innenwelt eines anderen ablagert, wird er im geschriebenen Wort so festgehalten und verallgemeinert, dass er jederzeit abrufbar erscheint. Damit steht er prinzipiell jedem anderen, der zum Geschriebenen Zugang hat, zur Verfügung. Dem Schreiben vorgängig ist jedoch nicht so sehr ein Gedanke, der gedacht und weiterentwickelt werden will, sondern zunächst eine mehr oder weniger vage Idee. Beim Schreiben erst verwandelt sich diese Idee in Gedanken. Die Idee drängt dazu, aufgeschrieben zu werden. Scheint sie vor dem Schreiben klar und eindeutig, so ist sie es nicht mehr, wenn es darum geht, sie in konkrete Gedanken und anschließend in Worte und Sätze zu fassen. Dabei erweist sie sich als „eine dunkle Vorstellung“, „die mit dem, was ich suche“, nur
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entfernt „in einiger Verbindung steht“ (Kleist, 1805, S. 1033). Vieles erscheint beim Schreiben lange verworren und dunkel. In der Regel trifft das Geschriebene nicht das, was man glaubte, schreiben zu wollen. Genau oder auch nur annähernd das aufzuschreiben, was man gedacht hat, scheint schier unmöglich. Mitunter wird der Gedanke dann wieder verworfen, der Gedankengang durcheinandergebracht und in einem neuen Ansatz anders zusammengesetzt, und zwar so lange, bis sich ein Evidenzgefühl einstellt. Das „Nein, das ist noch nicht so ganz richtig“ zwingt zum Weiterdenken. Das Evidenzgefühl „Ja, das könnte stimmen“ ermöglicht es hingegen, den Schreibprozess abzuschließen – oder sollte man nicht besser sagen: zu unterbrechen? Wie das Denken, so kann auch das Schreiben stets nur eine Annäherung sein an das, was ich denke oder von dem ich denke, dass ich es gedacht habe. Dergestalt prägt sich beim Schreiben eine „verworrene Vorstellung“ ähnlich wie beim gesprochenen Wort zwar nicht zur „völligen“, aber doch zur leidlichen „Deutlichkeit aus“ (Kleist, 1805, S. 1033). Der Prozess der Annäherung ist jedoch mühsam und umweghaft. Wenn Kleist (1805, S. 1033) erklärt, er „mische“ seiner Rede „unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche auch wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre“, und bediene sich „anderer, die Rede ausdehnender Kunstgriffe“, um die für die Fabrikation der Gedanken erforderliche Zeit zu gewinnen, so wird der Schreibprozess durch ein Agieren von Umwegen, also etwa durch Gänge zum Kühlschrank, Blumengießen oder Telefonieren unterbrochen. Und wenn Kleist (S. 1036) eine „gewisse Erregung des Gemüts“ für notwendig erachtet, „um Vorstellungen, die wir schon gehabt haben, wieder zu erzeugen“ und die im Inneren verworrenen Vorstellungen in der Rede zu einem klaren Gedanken zusammenzufassen, so lässt sich das für den Schreibvorgang ebenfalls feststellen. Damit ein Gedankenfluss klar und eine Idee angemessen erscheinen, sollten sie tunlichst zusammenhängen oder miteinander in Verbindung stehen.
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Schreib das auf !
Um etwas aufzuschreiben, braucht es nicht nur einen, sondern mehrere Gedanken und unterschiedliche Vorstellungen sowie die Fähigkeit, sie auszudrücken und eine Verbindung zwischen ihnen zu schaffen. Dass das nicht immer leicht ist, weiß jeder, der einmal einen längeren Text geschrieben hat. Nicht selten meint man, den Zipfel eines Gedankens erwischt zu haben und ihn daran aus dem Durcheinander des Gedankenstroms ziehen zu können, und muss dann doch die frustrierende Erfahrung machen, dass das nicht geht. Entweder man muss entnervt feststellen, dass er wieder entschwindet oder dass er, einmal niedergeschrieben, doch nicht so klar ist, wie er zuvor im Kopf erschien. Aber woher wissen wir eigentlich, dass eine Ableitung passend ist für den und gerade den Gedanken, den wir ausdrücken wollen? Das Gefühl, nie die richtigen Worte zu finden, mag daher rühren, dass ein Gedanke nie nur ein Gedanke ist und auch nie nur der Gedanke, sondern dass er immer auch andere Gedanken mit sich führt. Freud (1911b, S. 233) geht davon aus, dass Denkprozesse in ihrem Ursprung unbewusst sind und durch die „Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten unter geringer Verausgabung (Abfuhr) derselben“ entstehen. Wenn Spannungen beim Denken im psychischen Raum verschoben werden, so verbraucht das demnach kleinere Energiebeträge, als wenn sie sich ins Motorische umsetzen und in den äußeren Raum abgeführt werden. Aus diesen energetischen Verschiebungen bilden sich die psychischen Relationen zwischen den einzelnen Vorstellungen, die den prozesshaften, synthetisierenden Charakter des Denkens ausmachen und die durch logische Kategorien wie Relation, Kausalität etc. bezeichnet werden. Folgt man Freud hierin, so ergeben die kontinuierlichen Verschiebungen von Repräsentanzen eine Bewegung im psychischen Raum, die alte Vorstellungskomplexe ständig zu neuen umbaut. Diese Umbauprozesse müssen sowohl bewusst als auch unbewusst verlaufen. Denn würde es sich um einen rein kognitiven Versuch handeln, wäre das Denken affektleer sowie beziehungslos und würde
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Angelika Ebrecht-Laermann
als fremdgesteuert empfunden, weil ihm die Verbindung zur Innenwelt verloren ginge. Bliebe es hingegen rein im Unbewussten verfangen, würde eine zusammenhanglose, chaotische Vielfalt aus dem Inneren die inneren Repräsentanzen der Außenwelt überfluten. Denken würde dann im psychotischen Modus funktionieren und als omnipotent empfunden. Zeigt das Denken indes ein ständiges Auf-, Aus- und Umbauen äußerer Eindrücke und innerer Empfindungen in Gedanken, so versucht das Schreiben, etwas an der Grenze von innen und außen, von mir zu anderen festzuhalten. Denken heißt Beziehungen herstellen zwischen einem Gedanken, dem Denken der Gedanken (im Sinne Bions) und dem gesprochenen oder geschriebenen Wort. Beim Schreiben werden Beziehungen, die zuvor zerteilt, getrennt und zerspalten wurden, neu und anders zusammengefügt. Aufeinander bezogen und ineinander gefügt werden die Gedanken, die ansonsten disparat und chaotisch in paranoid-schizoider Manier umherpurzeln. Man könnte das Schreiben auch als Kampf mit der je eigenen Art der Symbolisierungsstörung bezeichnen. Jede verständliche, schöne oder tiefsinnige Zeile ist der Angst vor der Zusammenhanglosigkeit und dem Zerfall, der Dissoziation abgerungen. Wer beim Schreiben an der Oberfläche bleibt, gibt diesen Zerfallstendenzen nach oder gibt sich ihnen hin. Allerdings muss man sich dem Zerfall von Sinn zunächst überlassen, manchmal bis hin zum Unsinn, um später dann neuen Sinn und neue Bedeutung erstehen zu sehen. Konzipiert man den Apparat zum Denken der Gedanken mit Freud und Derrida (1967) als eine Art Wunderblock, so ist davon auszugehen, dass vielfältige Umschichtungen, Verschiebungen und Verformungen des Materials stattfinden, dass es also den einen, reinen Gedanken im Sinne einer ursprünglichen Idee gar nicht gibt. Existieren auch die Gedanken nicht in einfacher, sondern in vielfacher Form, so sind sie in mehrfacher Umschrift vorhanden. Der Aufforderung, genau das aufzuschreiben, kann man also insofern
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Schreib das auf !
nicht nachkommen, als es ein Das, was aufzuschreiben wäre, nicht geben kann. Das, was dann geschrieben steht, ist auch nicht der in Erz gegossene Gedanke, sondern etwas, was sich trotz seiner Verfestigung immer weiter verschiebt. Denn spätestens, sobald Gedanken niedergeschrieben sind, entfremden sie sich vom Autor und gewinnen ein Eigenleben. Nicht selten versteht man sogar seine eigenen Notizen nach einiger Zeit nicht mehr. In der Regel versucht man beim Schreiben, einen Gedankengang festzuhalten. Doch so sehr dieser einen lückenlosen inneren Zusammenhang suggeriert, so flüchtig und lückenhaft bleibt er. Das leere Blatt scheint geradezu die Lücke als solche darzustellen. Doch in die Lücken eigener Gedanken treten beim Lesen die Vorstellungen anderer ein. Ein Fazit könnte sein, dass wir keinen Gedanken voll und ganz aufschreiben können, zumindest nicht das, was wir gedacht haben. Und letzten Endes kann wohl außer Christoph Türcke (2005, S. 8 f.) manch einer von uns Schreibwütigen jenes ironische Bekenntnis von Villem Flusser (1992, S. 7) unteroder abschreiben: „Es gibt Leute (ich zähle mich zu ihnen), die glauben, ohne Schreiben nicht leben zu können […] weil sich ihr Dasein in der Geste des Schreibens und nur darin äußert. Darin können sie sich freilich irren.“
Literatur Bion, W. R. (1961/2001). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Aus dem Engl. v. H. O. Rieble (3. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Bion, W. R. (1962a/1990). Lernen durch Erfahrung. Übers. u. eingel. von E. Krejci. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bion, W. R. (1962b/1990). Eine Theorie des Denkens. In E. Bott Spillius (Hrsg.), Melanie Klein heute. Entwicklungen in Theorie und Praxis, Bd. 1 (S. 225–235). Übers. von H. A. Thorner. München u. Wien: Internationale Psychoanalyse. Breuer, J., Freud, S. (1895/1970). Studien über Hysterie. Frankfurt a. M.: Fischer-Bücherei.
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Wohlwollende Analytiker und nonkonformistische Gesellschaftskritiker im Kino Eine Interpretation zeitgenössischer Massenkulturtheorie1
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eo Löwenthals „Standortbestimmung der Massenkultur“ (1964) zufolge sind die Geister dieser gegenüber seit dem 16. Jahrhundert geschieden. Zwei Positionen ziehen sich seither seiner Beobachtung nach wie ein roter Faden durch Schriften zur Massenkultur: die positive Haltung gegenüber dem Potenzial der Massenkultur seitens „wohlwollender Analytiker“ einerseits und andererseits die Überzeugung „nonkonformistischer Gesellschaftskritiker“, institutionalisierte Freizeitgestaltung wirke in negativer Weise auf die geistige und moralische Verfassung (vgl. Löwenthal, 1964/1990, S. 10 ff.).2 Löwenthal bemerkt, gemeinsam sei beiden Positionen in Schriften zur Massenkultur, dass die Frage 1 Vielen Dank an Timm Obendorfer und Lars Lippmann für kritische Diskussionen. 2 Löwenthal zitiert Montaigne und Pascal als Väter der Gedanken dieser beiden Positionen. Erschüttert von der Einsamkeit des Menschen in der nachfeudalen, vom Glauben verlassenen Welt sieht Montaigne im 16. Jahrhundert in der Zerstreuung einen Ausweg aus den daraus entstehenden „gewaltigen Spannungen“, Pascal hingegen bemerkt hundert Jahre später eine „selbstzerstörerische Rastlosigkeit“ und sieht in der Zerstreuung – die er als Unfähigkeit des Menschen, „in Ruhe zu Hause zu bleiben“, auffasst – die Quelle allen Unglücks (Löwenthal, 1964/1990, S. 11 f.).
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„Was bedeuten Vorlieben und Abneigungen gesellschaftlich wirklich?“ (S. 24) einen blinden Fleck bilde. Aus den Betrachtungen der Sozialforschung falle oft heraus, dass „die Beziehung zwischen Reiz und Antwort“ – also die Vorlieben und Abneigungen der Konsumenten und Konsumentinnen gegenüber massenkulturellen Phänomenen – „durch das geschichtliche und gesellschaftliche Schicksal des Reizes und des Antwortenden schon vorgeformt und vorstrukturiert“ (S. 25) ist. Nicht nur Konsumentinnen und Konsumenten neigen demnach, wie Löwenthal schreibt, dazu, „fanatisch für oder gegen eine bestimmte Gestalt der Massenkultur Partei zu ergreifen“ (S. 24), sondern ebenso Theoretiker und Theoretikerinnen. Auch Zustimmung und Ablehnung in Theorien können, so mein Ausgangspunkt, als Teil der Beziehung von Reiz und Antwort in der Massenkultur interpretiert werden.3 Denken, mithin theoretisches, ist Freud zufolge ein Umweg zur Wunscherfüllung. Die Wiederkehr des Gegensatzes von Ablehnung und Lob der Massenkultur in Theorien lässt sich auf einen in diesem Gegensatz wirksamen Wunsch hin befragen, auf eine „Suchbewegung als Fixierung an etwas […], das Spuren hinterlassen hat, aber weg ist: ein durch das Befriedigungserlebnis bedeutungsvoll gewordenes, in der Wiederholungsbewegung zugleich festgehaltenes als auch verschwindendes Objekt“ (Löchel u. Menzner, 2011, S. 1185). Diesen Versuch werde ich im Folgenden in einem Vergleich zweier theoretischer Texte von Christoph Türcke (2011) und Rainer Stollmann (2010) unternehmen, angeregt durch einen kritischen Kommentar von Elfriede Löchel (2011) zu Türckes Ansatz. Beide Autoren versuchen auf sehr unterschiedliche Weise, psychoanalytische Begriffe mit medientheoretischen Erwägungen zu verknüpfen und auf den Boden einer Ursprungs3 Das heißt Lesen von Theorien auf einer Metaebene, auf der die Frage nach der Bedeutung von Widersprüchen, Lücken, Setzungen in den Theorien leitend ist und nicht die Antwort auf die Frage, ob die die getroffenen Aussagen falsch oder richtig sind.
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Wohlwollende Analytiker und nonkonformistische Gesellschaftskritiker
geschichte menschlicher Kultur zu stellen. Meiner Lesart zufolge ergreifen die Autoren nicht entweder lobende oder ablehnende Partei, sondern Zustimmung und Kritik stehen in beiden Texten jeweils nebeneinander und betreffen verschiedene Gegenstandsbereiche. Türcke und Stollmann erweisen sich als „wohlwollende Analytiker“ des Kinos, während sie gegenüber anderen, neueren Medien die von Löwenthal sogenannte Haltung des „nonkonformistischen Gesellschaftskritikers“ einnehmen. Ich werde die Texte vom Kino aus lesen und fragen: Welcher an das Kino gerichtete Wunsch zieht hier den roten Faden des Auseinanderfallens von Lob und Kritik der Massenmedien? Inwiefern stellen die in den Texten eingenommene positive Haltung gegenüber dem Kino und die negative Haltung gegenüber neueren Medien Antworten auf den Reiz eines vom Kino gegebenen Versprechens dar?
Am Anfang: Töten und Kitzeln als Naturbeherrschung Türcke begreift Kultur als Niederschlag der Bändigung und zugleich des Fortwirkens des traumatischen Wiederholungszwangs. In den ersten Opferritualen töteten die Menschen ihm zufolge das ihnen Liebste, um in der Wiederholung des von übermächtigen Naturgewalten ausgelösten Schreckens diesen zu bewältigen. Die Logik des Opfers, so Türcke, ist die physiologische des Wiederholungszwangs, das heißt der Versuch, Nervenbahnen anzulegen zur Kanalisierung und Abfuhr von Erregungsmengen. Seither habe die Wiederholung des Schreckens diesen in etwas Rettendes verwandelt, Schockhaftes in Vertrautes, Ungewöhnliches in Gewohnheiten und erschuf, so Türcke, letztlich eine Kultur mit erhebenden Ritualen und vertrauten Gewohnheiten als Voraussetzung jeglicher „freien, individuellen Entfaltung“ (Türcke, 2011, S. 16). Doch warum und wie begeht man den Mord gerade am „Teuersten, was man hat“ (S. 15), wenn allein Schrecken und nicht auch zugleich libidinöse Bindung Wiederholung antreibt? In
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Türckes Herleitung der Kultur aus dem monokausalen Prinzip des – physiologisch verstandenen – Wiederholungszwangs wird dieser Frage nicht nachgegangen, sondern unter Berufung auf den späten Freud das Lustprinzip als Sekundäres verortet. Löchel weist aus, inwiefern diese Lesart vielmehr dem Freud’schen Denken in dem entscheidenden Punkt widerspricht, stets vom „Konflikt als Movens“ auszugehen, davon, dass „weder das Eine (Eros) noch das Andere (Todestrieb) je in Reinform aufzufinden sei – es sei denn als Verfallsprodukt in der Auslöschung des Lebens“ (Löchel, 2011, S. 36). Türcke formuliert hier meines Erachtens ein Ideal der Kultur als gelungener Naturbeherrschung: Vorläufiger Höhepunkt der Geschichte seien erhebende Rituale und vertraute Gewohnheiten als Resultat erfolgreicher Bändigung traumatischer Reizmengen. An diesem Ideal ist, wie ich im Weiteren zeigen werde, seine weitere Darstellung ausgerichtet: Das Kino verkörpert dieses Ideal, die Wirkung neuerer Medien – Fernsehen, Handys und Computer – hingegen steht für ein Scheitern dieses Ideals. Auch Stollmann schreibt der Reaktion auf eine äußere Reizeinwirkung kulturbegründende Funktion zu: Lachen in Reaktion auf Kitzeln. In seiner Darstellung hat – im Unterschied zu der Türckes – der Lustgewinn Priorität. Das erste Lachen wurde Stollmann zufolge vor etwa acht Millionen Jahren „erfunden“, „als eine Primatenmutter bei der Fellpflege entdeckte, dass ihr Kind beim Berühren bestimmter, wenig behaarter Stellen Geräusche ausstieß und in einen körperlichen Rhythmus verfiel, die bisher unbekannt waren“ (Stollmann, 2010, S. 3). „Aus Gründen der Entwöhnung“ habe sich seither das Kitzeln als „Muster einer schmerzvermeidenden Trennungsstrategie zwischen Mutter und Kind“ etabliert (S. 3). Dieses stimuliere die „Angstwurzeln“ (S. 6), jage dem Kind Schrecken oder Verblüffung ein, da die Mutter ein bisher unbekanntes Verhalten zeige: weder Kuscheln und Streicheln noch Aggression oder Gleichgültigkeit. Kitzeln sei vielmehr die Botschaft an das Kind: „Ich liebe dich,
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aber lass mich jetzt mal in Ruhe“ (S. 3). Lachen biete – „so krampfartig-gewaltsam es erscheint“ (S. 3) – einen Ausweg „aus Gewalt“, aus „dem Zwangszusammenhang der Mutter-Kind-Symbiose“ (S. 4). Der „Archetyp“ jedes Kitzelns und Lachens ist laut Stollmann die „Mutterliebe“, ihre kitzelnde Hand enthalte deren „hochkulturellen Keim“ (S. 4). Stollmann sieht in einem harmonisierenden Aspekt von Kitzeln und Lachen deren Eignung als Movens von Kulturgeschichte begründet: „Kitzeln ist Hochkultur: nicht zu fest (dann kann es schmerzhaft werden), nicht zu sanft (dann ist es Streicheln), an den richtigen Stellen und in der richtigen Dosierung, im richtigen Rhythmus und im Wechsel der Stellen“ (S. 3). Auch Stollmanns Zugang zur Massenkultur liegt das Ideal einer schrittweisen Emanzipation von der „Gewalt blinder, verstockter Natur“ (S. 3), von Kultur als gelungener Naturbeherrschung zugrunde: Das Kino erfülle dieses Ideal, das Fernsehen nicht. Ein offensichtlicher Unterschied beider Auffassungen liegt in der Benennung der schreckenauslösenden Instanz: namenlose Naturgewalt oder die sich abwenden wollende liebende Mutter. Türcke schließt, wie Löchel festhält, mit seiner Setzung des Primats des traumatischen Wiederholungszwangs aus, „dass es nicht nur Schreck-, sondern auch Befriedigungserlebnisse gegeben haben mag, die nach Wiederholung drängen“ (Löchel, 2011, S. 36) – in Stollmanns Darstellung hingegen haben, obgleich von Gewalt die Rede ist, aggressiv-destruktive Impulse der Subjekte für das kulturstiftende Moment im Kitzeln und Lachen keine konstitutive Bedeutung. Der alleinige Fokus von Türckes und Stollmanns Darstellungen auf die Beherrschung der den Subjekten äußeren Natur als „Hauptaufgabe der Kultur“ schließt einen „Konflikt als Movens“ (Löchel, 2011, S. 36) aus – und damit die Frage: Wie zeigen kulturelle Phänomene uns ihre Bedeutung als Ausdruck von Konflikthaftem?
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Die Illusion der Wahrnehmungsbeherrschung im Kino Die Bestimmung, die Entstehung von Kultur lasse sich aus einer Reaktion, einer Antwort auf einen äußeren Reiz4 als einer aktiven Wendung gegen den von diesem ausgelösten Schrecken zum Zwecke seiner Bewältigung verstehen, setzt ein von dem wahrgenommenen Reiz unterschiedenes Subjekt der Wahrnehmung voraus. Diese Setzung einer dem Subjekt äußerlichen Reizquelle erinnert mich an folgenden Aspekt von Christian Metz’ Darstellung der Beziehung von Zuschauer und Leinwand im Kino. Metz vergleicht die Leinwand mit einem Spiegel, der sich in einem entscheidenden Moment vom Lacan’schen Spiegelstadium unterscheidet: Während hier der Spiegel Mutter und Kind zeigt, zeigt das Bild auf der Spiegel-Leinwand nicht die Zuschauer und Zuschauerinnen (und auch nicht die eigene Mutter). Nicht mit sich selbst als Wahrgenommenem, sondern „mit sich selbst, mit sich als reinem Wahrnehmungsakt“ (Metz, 2000, S. 49) identifiziert sich der oder die Zuschauende. Das Subjekt als reine Wahrnehmungsinstanz ist auf der einen Seite verortet, demgegenüber das Wahrgenommene „voll und ganz auf seiten des Objekts“ (S. 48). Im Kino, schreibt Metz, bin ich „allwahrnehmend […], weil ich völlig auf seiten der wahrnehmenden Instanz bin: abwesend von der Leinwand, doch sehr wohl anwesend im Saal, ganz Auge und ganz Ohr, ohne die niemand das Wahrgenommene wahrnehmen würde“ (S. 48). Die Trennung von Bild- und Publikumsraum ist, so Metz, eine objektive Bedingung des Kinos und weist dem Zuschau4 Die Darstellungen unterstellen der Ursituation, was diese erklären soll: Entstehung von Differenz als Bedingung von Entwicklung, Geschichte. Es handelt sich um ein Dilemma, welches die Frage nach dem Ursprung selbst aufwirft: Jedes Denken bedingt die Unterscheidbarkeit von Denken und Gedachtem – wie also möglich, das Davor zu denken? Keine Wissenschaft, kein Denken, so Löchel, kommt ohne Setzungen und Axiome aus, sie „lassen sich aber befragen: Was decken sie auf, was verhüllen sie?“ (Löchel, 2011, S. 37).
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enden die Position eines transzendentalen Subjekts zu, „das jeglichem Es gibt vorausgeht“ (S. 49).5 Auf der Identifizierung mit sich als reinem Wahrnehmungsakt ist Metz zufolge die im Kino wirksame „Illusion der Wahrnehmungsbeherrschung“ (S. 53) begründet. Ebenso wie im Kino angesichts der Trennung der Räume scheint auch in Türckes und Stollmanns kulturtheoretischen Darstellungen außer Frage zu stehen, dass die Reize von außen her einwirken. Insofern der Betrachter im Kino im Bereich des Wahrgenommenen nicht, als Wahrnehmender hingegen zugleich anwesend ist, ähnelt – so also meine These – diese grundlegende Bedingung des Kinos der in Stollmanns und Türckes Konzeptionen der Ursituation gesetzten Äußerlichkeit von Reiz und Antwort: Das Subjekt als Wahrgenommenes ist abwesend (die Reizquelle wird als äußere theoretisch gesetzt) und zugleich als Wahrnehmendes anwesend (als Empfänger und Bewältiger des Reizes). Während die theoretischen Beschreibungen der Ursituation diese Konstellation als eine gleichsam vorgeschichtliche, objektive Bedingung setzen (vgl. Fußnote 4), ist im Kino der Zuschauer laut Metz in dessen (und seine eigenen6) Bedingungen verstrickt. Sobald sich, so Metz, der Zuschauer im Kino mit sich als Blick identifiziert, identifiziert er sich mit der Kamera. Im Falle von Kameraschwenks zum Beispiel dreht der Kinozuschauer seinen eigenen Kopf nicht mit, „weil er ihn als All-Sehender dreht, der sich mit der Kamerabewegung identifiziert, als ein transzendentales und nicht als ein empirisches Subjekt“ (Metz, 2000, S. 50). Die Kamera, ein Teil des kinematografischen Apparates, verkörpert die „Illusion der 5 „Der Film ist, was ich empfange und auch was ich auslöse, da er vor dem Betreten des Saals nicht existiert und man durch einfaches Augenschließen den Film außer Kraft setzen kann“ (Metz, 2000, S. 51). 6 Bedingung der Wirkmächtigkeit der Leinwand als Spiegel ist das Spiegelstadium im Lacan’schen Sinne, in gewissem Sinne also der Spiegel als Leinwand.
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Wahrnehmungsbeherrschung“: Sie erfasst die Objekte vor ihrer Linse und nimmt sie zugleich auf. Jedes Sehen besteht, so betont Metz, in dieser doppelten Bewegung: projektiv (der auf Objekte geworfene Blick) und introjektiv (das Bewusstsein, welches aufnimmt). Diese doppelte Bewegung verdoppelt sich im Kino in der Identifizierung mit verschiedenen technischen Elementen: Hier bin ich „als Auslöser der Projektor“, „als Empfänger die Leinwand; in beiden Figuren zugleich bin ich die Kamera, die anpeilt und dennoch aufnimmt“ (Metz, 2000, S. 51). Damit sind „die mit dem Blick verbundenen libidinösaggressiven Phantasien der Einverleibung und Ausstoßung“ angesprochen (Löchel u. Rövekamp, 2000, S. 55). Es ist nicht, schreibt Metz, auf eine „wundersame Ähnlichkeit zwischen dem Kino und den natürlichen Eigenschaften der Wahrnehmung“ (Metz, 2000, S. 52) zurückzuführen, dass das Subjekt als Auslöser (Projektion) und Empfänger (Introjektion) zugleich im Kinoraum platziert ist. Im Gegenteil: Die Stellung des Ichs „ist von der Institution (der Apparatur, der Saalanordnung, dem geistigen Dispositiv und dessen Verinnerlichung) sowie von allgemeineren Eigenschaften des psychischen Apparates (wie der Projektion, der Spiegelstruktur etc.) vorgesehen und gekennzeichnet“ (S. 52). In Löwen thals Worten: Die Beziehung zwischen Reiz und Antwort ist bereits vorgeformt und vorstrukturiert. Und die Identifizierung mit den institutionellen Bedingungen des Films und des Kinos ist – so meine These – in den dargestellten Erzählungen des Ursprungs von Türcke und Stollmann wirksam, in denen das Subjekt aus dem Bereich des Wahrgenommenen ausgeschlossen wird und sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht wiedererkennt. Ich werde nun zeigen, inwiefern die für das Kino spezifische Illusion der Wahrnehmungsbeherrschung im weiteren Verlauf der Texte meines Erachtens die Gegenüberstellung von gutem Kino versus kritisierte andere Medien leitet.
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Die Beziehung zum Kino als gutem Objekt Die Erfindung der „Bildmaschine“ gab in den Anfangsjahren des Kinos Türcke zufolge Filmschaffenden und Konsumenten „einen Schub nach dem anderen“, neue „Ausdrucks- und Wahrnehmungsweisen eröffneten sich“ (Türcke, 2011, S. 17). Kinobesuche seien damals seltenes, feierliches Ereignis gewesen, die schockhaft wirkenden bewegten Bilder in homöopathischen Dosen konsumiert worden. So sei der Zugang dieser „idealen Rezipienten“ nicht „am Film selbst“ gewonnen worden, sondern vielmehr durch „Verhaltensweisen“, die bei „kindlichen Bastelarbeiten und Geschicklichkeitsspielen, beim Betrachten und Malen von Bildern, beim Lesen und Schreiben von Texten“ etc. erlernt worden seien (S. 17), durch eine von „Brief, Zeitung, Buch; Volksfest, Konzert, Theater“ geformte Einbildungskraft (S. 17). Diese erlitt gemäß Türcke massive Einbuße, seit das Kinoerlebnis vom „Highlight zur Alltäglichkeit“ absank (S. 18), er konstatiert einen Verlust der deeskalierenden und reizbewältigenden Wirkung der Wiederholung (spätestens) seit der Erfindung von Bildmaschinen. In heutigen Zeiten der Omnipräsenz der Bildmaschinen suchen nicht länger die Zuschauer, so beschreibt Türcke die von ihm diagnostizierte Wende, die Bilder im Kino auf, sondern die Bilder uns heim. Ergebnis sei ein Zustand der Dauererregung, eine Desedimentierung unseres mentalen Sitzfleisches unter der Penetration allgegenwärtiger Adrenalinstöße, ausgesendet von Bildern, die allerorten unsere Aufmerksamkeit magnetisch anziehen, um sie zu zermürben (vgl. S. 18). Während der physiologische Wiederholungszwang Türcke zufolge kulturstiftend wirkte, so dessen künstliche Variante, der technische Wiederholungszwang, kulturzerstörend. Türckes These einer technischen Reizüberflutung gerät, wie Löchel herausstellt, in die Nähe technikdeterministischen Denkens: Die „Technik wird zur Ursache, die Menschen reagieren“, was in Widerspruch zu der gleichzeitig von Türcke vertretenen
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These steht, dass „Technik Produkt von Menschen, Externalisierung von Aspekten ihrer Verfasstheit ist“ (Löchel, 2011, S. 43). Dieser Widerspruch zeigt sich meines Erachtens auch in Stollmanns Konzeption. Auch er verortet das Kino in einer scheinbar guten alten Zeit, als die Bilder außerhalb des Hauses aufgesucht wurden.7 Ganz ähnlich wie Türcke konstatiert Stollmann, die (Lach-)Erfolge im Kino seien nicht „vom Kino oder Film her“ (Stollmann, 2010, S. 5) zu verstehen. Während im Kino die „Empirie“ Herkunft des Lachens sei und nicht Komisches erfunden werde (S. 5), welches „das Publikum von seiner Lebenswelt entfernt“ (S. 6), produziere das Fernsehen hingegen künstlich ein Pseudolachen, welches nicht aus einer Erschütterung der Angstwurzeln herrühre. Die TV-Kultur sei somit keine Kitzelkultur, sondern eine faule, nachlässige Streichel- und Kuschelkultur – wenn gekitzelt werde, dann nicht, um unabhängig, sondern um abhängig zu machen. Bezüglich der kritisierten Medien wird von beiden Autoren die tendenzielle Ersetzung authentischer, menschlicher Realität durch die Realität technisch erzeugter Bilder und eine damit einhergehende manipulative, Abhängigkeit induzierende Wirkung konstatiert. Türcke beschreibt das Phänomen als Übererregung, Stollmann als ein Zuviel an Streicheleinheiten – beides scheint unmöglich zu machen, was von den Autoren als Initial menschlicher Kultur beschrieben wurde: Reize zu bewältigen. In beiden Darstellungen spielt das Einwandern der bewegten Bilder in den privaten Raum eine wesentliche Rolle und es ist auffällig, dass in diesem Zusammenhang jeweils das Bild einer lieblosen Mutter auftaucht: In Stollmanns Beschreibung verwandelt sich der Archetyp der 7 Das Kino, so betont Stollmann, ist „Teil der klassischen Öffentlichkeit“ – „Man muss das Haus verlassen“, um das Kino zu besuchen als einen „Intimeres“ einschließenden Ort, an welchem (gemäß dem Archetypen, dem Kitzeln aus Mutterliebe) ein befreiendes Gelächter entstehe (Stollmann, 2010, S. 5 f.).
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liebevollen, kitzelnden Mutter im Kino in ein mieses Kitzeln dieser faulen Mutter Fernsehen (vgl. Stollmann, 2010, S. 7); Türcke zufolge erleben in einem häuslichen Umfeld, in dem Mütter beim Stillen telefonieren oder Eltern Mails abrufen, Kinder, noch ehe sie „Bildmaschinen als Objekte, den Bildschirm als Ding wahrnehmen konnten […] die aufmerksamkeitsabsorbierende Kraft ihres Flimmerns […] als Entzug“, um dann später „ihr Verlangen dort zu stillen, wo es begann“: bei den Maschinen (Türcke, 2011, S. 21). Die medialen Reize erscheinen als Unheimliches, Fremdes, als Eindringlinge in einen familiären Raum, in dem eine liebevolle Mutter abwesend ist. Das Kino erscheint demgegenüber in nostalgischem Rückblick als Raum fruchtbar zu machender Reize. Mit Metz kann diese Gegenüberstellung meines Erachtens als eine Antwort auf eine vom Kino übertragene Botschaft verstanden werden: Es handelt sich hier um Theorien, die „dem stummen Schrei des Films ‚Liebt mich!‘“ Ausdruck verleihen – „ein ideologisches Spiegelbild, auf dem der Film an sich beruht und das bereits der Blickidentifizierung des Zuschauers mit der Kamera zu Grunde liegt“ (Metz, 2000, S. 22). Mag auch dieser Film ge-, ein anderer missfallen: Es einigt Konsumenten, Produzenten und Theoretiker, „in jedem Fall zum Kino als solchem eine gute Objektbeziehung zu bewahren“ (S. 18). Eine Idealisierung, auf der der Zweck der gesamten kinematografischen Institution beruht: Man schaut, macht, zeigt Filme in der Hoffnung, dass sie gefallen. Die Liebe zum Film führt zur Identifizierung mit der Kamera und ist somit konstitutiv für die Illusion der Wahrnehmungsbeherrschung, die sich in der Abwesenheit des Zuschauers im Bereich des Wahrgenommenen und seiner Anwesenheit als All-Wahrnehmendem begründet. Es ist hier die Liebe zu etwas fundamental Abwesendem, welches die Beziehung zum Film stiftet: ein Mangel, der nicht nur die Abwesenheit der Zuschauer bzw. Zuschauerinnen und der Kamera im Bereich des Wahrgenommenen betrifft, sondern auch die wahrgenommenen Objekte. Die Präsenz
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des sinnlichen Reichtums auf der Leinwand ist Anwesenheit von Abwesendem – die Schauspieler, Landschaften, Dinge waren vor der Kamera anwesend, im Kino auf der Leinwand präsent, jedoch nur „in effigie vorhanden, von vornherein unerreichbar, an einem grundlegend anderen Ort, unendlich begehrenswert“ auf „dem Schauplatz der Abwesenheit, die aber das Abwesende bis ins Detail veranschaulicht und es dadurch, jedoch über andere Wege anwesend werden läßt“ (Metz, 2000, S. 59). Nimmt der Zuschauer diesem gegenüber Platz als All-Wahrnehmender, handelt es sich um einen Platz des Ichs, das „dennoch grundsätzlich ein getäuschtes ist, da die Institution, ja sogar die Apparatur ihm diesen Platz zuweisen“ (S. 51). Im Lob des Kinos und in der Ablehnung anderer Medien in den Darstellungen von Türcke und Stollmann artikuliert sich meines Erachtens ein Wunsch nach diesem Platz, den das Kino verspricht. Vom vertrauten Sitz gegenüber der Leinwand aus gesehen, kommen die Bilder anderer Medien von woanders, kitzeln nicht dort und derart, wie vom Kino gewünscht wird, und überfallen einen da, wo man es möglicherweise nicht erwartet. Aber psychoanalytisch betrachtet, so hält Löchel fest, „sind in die Technikentwicklung immer schon unbewußte Phantasien eingeflossen, so daß wir als Techniknutzer ihr nicht nur fremd und anders gegenüberstehen, sondern sie auch in uns selbst suchen könnten, selbst in gewisser Weise in ihre Voraussetzungen verstrickt sind“ (Löchel, 2011, S. 43). Diese Einsicht ermöglicht, das Unheimliche, Bedrohliche, Fremde an medialer Wirkung zu befragen als Ausdruck von Wünschen, die auch das Kino nicht letztgültig zu erfüllen vermag.
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Literatur Löchel, E. (2011). Aufmerksamkeitstechnik Psychoanalyse. Kommentar zu Christoph Türckes „Konzentrierte Zerstreuung“. Jahrbuch der Psychoanalyse – Beiträge zur Theorie, Praxis und Geschichte, 62, 31–50. Löchel, E., Menzner, H. (2011). Wunsch und Trieb. Versuch einer Differenzierung. Psyche – Z. Psychoanal., 65 (12), 1170–1201. Löchel, E., Rövekamp, E. (2000). Animalisch versus artifiziell – Deutungen des Destruktiven in einer Diskussion über den Film Nikita. Querelles – Jahrbuch für Frauenforschung (hrsg. v. E. Bettinger, A. Ebrecht), 50–74. Löwenthal, L. (1964/1990). Standortbestimmung der Massenkultur. In L. Löwenthal, Literatur und Massenkultur. Schriften, Bd. I (S. 9–25). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Metz, C. (2000). Der imaginäre Signifikant – Psychoanalyse und Kino. Münster: Nodus Publikationen. Stollmann, R. (2010). Aspekte einer Kritischen Theorie des Lachens und der Medien – Lachen: „revolutionärer Affekt“ oder „bürgerlicher Sadismus“?. Nach dem Film, 12. Zugriff am 15. 11. 2012 unter http://www.nachdemfilm.de/content/aspekte-einer-kritischentheorie-des-lachens-und-der-medien Türcke, C. (2011). Konzentrierte Zerstreuung. Zur mikroelektronischen Aufmerksamkeitsdefizit-Kultur. Jahrbuch der Psychoanalyse – Beiträge zur Theorie, Praxis und Geschichte, 62, 13–30.
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Helga Gallas
Slavoj Žižek als Filmanalytiker
„The problem for us is not, are our desires satisfied or not? The problem is, how do we know what we desire? There is nothing spontaneous, nothing natural about human desires. Our desires are artificial. We have to be taught to desire. Cinema is the ultimate pervert art. It doesn’t give you what you desire, it tells you how to desire“ (Žižek, 2006). Slavoj Žižeks Arbeiten sind für mich als Literaturwissenschaftlerin eine wirkliche Herausforderung. Fasziniert verfolge ich, was Žižek zu literarischen Werken oder Filmen zu sagen hat – und bin zunehmend verärgert. Was mich fasziniert und was mich ärgert, dem will ich am Beispiel von David Lynchs Film „Blue Velvet“ nachgehen. Žižek betont immer wieder, dass unsere Sehnsüchte künstlich, unsere Wünsche nicht natürlich, sondern gemacht seien. Wir müssen lernen zu begehren. Das Kino ist für ihn ein privilegierter Ort dieses Lernens, weil wir hier mit etwas konfrontiert werden, dem wir normalerweise ausweichen: dem Realen. Im Zentrum der symbolischen Ordnung gibt es Lücken, Abgründe, an denen alle Sinnzuweisung versagt – dort zeigen sich die Reste des Realen. Diese Reste machen sich in unserer postmodernen Welt immer deutlicher als traumatische Erfahrungen bemerkbar, als Gewaltphantasien, groteske Vorstellungen und paranoide Visionen. Sie sind abstoßend, angsterregend und anziehend zugleich. Für Žižek sind diese Phantasmen Inszenierungen, in denen die Konfrontation des
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Slavoj Žižek als Filmanalytiker
Subjekts mit dem amorphen Realen stattfinden kann – ein Schauplatz, auf dem das (bewusste oder unbewusste) Begehren inszeniert wird: die gesuchte jouissance als das unmögliche Reale, als der grauenhafte Abgrund des Dings (Žižek, 2001, S. 70). Bei Lacan bezeichnet la chose, das Ding, den Weltbezug des vorsprachlichen Wesens, die Einheit und Ununterschiedenheit von Kind- und Mutterkörper. Es ist ein nie zu erreichendes Objekt, das aber immer gesucht wird. Wenn das Subjekt dem Ding zu nahe kommt, wenn es sich dem großen Genießen überlassen will, ist das nicht auszuhalten: Das Ding entpuppt sich als Böses schlechthin. Das Subjekt überfällt Angst vor Auflösung, das Vergehen im Ungeordneten. Um der Auflösung zu entgehen, muss eine Trennung eingeführt werden, in den Worten des frühen Lacan: Es bedarf eines symbolischen Vaters. Ein Beispiel dieser Konfrontation der Realität mit dem amorphen Realen ist für Žižek David Lynchs Film „Blue Velvet“. In die heile amerikanische Kleinstadtwelt von Jeffrey, einem jungen Studenten, dringt das Reale in Gestalt der Sängerin Dorothy ein, die einen Prototyp des Lacan’schen traumatischen Dings verkörpert: die Frau als Fremdkörper in der symbolischen Ordnung, „als unauslotbare[s] Element, das die Regeln des ‚Realitätsprinzips‘ zersetzt“ (Žižek, 1993, S. 157). Man weiß nie, ob Dorothy die mit ihr im Film veranstalteten sadomasochistischen Sexspiele genießt oder ob sie um Hilfe fleht, ob sie Opfer oder Mittäterin ist. Dorothy (gespielt von Isabella Rossellini) wird offenbar sexuell erpresst. Und zwar wird sie von Frank (Dennis Hopper) unter Druck gesetzt, der ihr Kind entführt und ihren Mann in der Gewalt hat. Jeffrey (Kyle MacLachlan), versteckt in einem Schrank mit Jalousietüren, beobachtet das Sadomaso-Spiel zwischen Dorothy und Frank. In dem Film „The Pervert’s Guide to Cinema“ interpretiert Žižek diese berühmte Szene aus drei verschiedenen Blickwinkeln. Aus Jeffreys Perspektive handele es sich um das Phantasma der Urszene – die Beobachtung des elterli-
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chen Koitus durch ein kleines Kind, das nicht weiß, was die Eltern machen, und das versucht, sich vorzustellen, was passiert. Deshalb keuche Frank durch eine Maske, denn das ist es, was ein Kind wahrnimmt. Da der Akt zwischen Dorothy und Frank etwas sehr Theatralisches, Übertriebenes habe, wirke er wie aufgeführt für einen Augenzeugen, einen „third gaze“, beide, Frank und Dorothy, führen sich auf, als ob sie beobachtet würden. Aus Franks Perspektive gehe es darum, die eigene Impotenz zu verbergen: Der Vater versuche verzweifelt, „to convince the son of his power, his overpotency“ (Žižek, 2006). Von der Erzähllogik her ist das nicht überzeugend, denn wieso sollte Frank seinen „Sohn“ verzweifelt von seiner Potenz überzeugen wollen, da er Jeffrey zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kennt? Offensichtlich ist allerdings, dass der Wüstling Frank impotent ist und die Gesten und Geräusche des Sexualaktes nur imitiert. Der dritte Interpretationsvorschlag vermischt die Perspektiven von Frank und Dorothy: Die sadomasochistische Gewalt Franks sei eine Art Therapie, um die passive Dorothy aus ihrer Lethargie zurück zum Leben zu bringen. In einem anderen Text formuliert Žižek noch deutlicher: „What if depression comes first, and all subsequent activity – i. e., Frank’s terrorizing of Dorothy – far from being its cause, is rather a desperate ‚therapeutic‘ attempt to prevent her from sliding into the abyss of absolute depression, a kind of ‚electroshock‘ therapy which endeavours to attract her attention? The crudeness of his ‚treatment‘ (the kidnapping of husband and son; the cutting off the husband’s ear; the required participation in the sadistic sexual game) simply corresponds to the depths of her depression; only such rude shocks can keep her active“ (Žižek, 2012, S. 8). Aus der Perspektive Dorothys stelle sich die Szene als ihr Phantasma dar, da sie dieses perverse Spiel und Franks Schläge zu genießen scheint. Als Zuschauer bzw. Interpret ist man eher erstaunt, dass alle Ereignisse – Entführung, Ohr-
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abschneiden, sexuelle Gewalt – als Dorothys Phantasmen verstanden werden können, denn diese Ereignisse erscheinen als integrale und folgerichtige Teile der Kriminalgeschichte, die der Film neben der Liebesgeschichte erzählt. Es geht um Drogengeschäfte und, so könnte man sagen, ein Beispiel für die Inkonsistenz der symbolischen Ordnung, nämlich die Verwicklung des Gesetzes in diese Machenschaften: Der „gelbe Mann“, der diese Geschäfte überhaupt möglich macht, sitzt als Polizeibeamter mitten im Polizeirevier. Jeffrey ist es, der diese Zusammenhänge aufdeckt und das Kartell schließlich zu Fall bringt. Dorothy macht zudem weder einen depressiven noch einen passiven oder lethargischen Eindruck. Als sie nach Hause kommt und ein Geräusch in ihrem Wandschrank hört, greift sie ein Küchenmesser und reißt beherzt die Schranktür auf. Sie fordert Jeffrey, der sie beim Ausziehen beobachtet hat, kategorisch auf, sich seinerseits nackt auszuziehen. Als Frank an der Tür klingelt und sie Jeffrey wieder im Schrank versteckt hat, wirft sie einen äußerst aufmerksamen Blick im Zimmer umher, ob auch keine Spuren seiner Anwesenheit zurückgeblieben seien, die Frank entdecken könnte. Und sie beschwört später Jeffrey, den sie in gemeinsame Sexakte hineingezogen hat, er möge sie nicht für verrückt halten, sie wisse, was gut und was böse sei. Was Dorothy in dem simulierten Akt mit Frank zu genießen scheint, ist zudem nicht eindeutig. Die Kamera fängt die „Sadomaso“-Szene aus Jeffreys Perspektive ein, wir sehen Frank von vorn und Dorothy nur von hinten. Als sie einmal den Kopf zur Seite neigt, fast als wende sie sich in Richtung des Wandschranks, erscheint ihr lächelndes, fast verklärtes Gesicht. Sie weiß, dass Jeffrey die Szene aus dem Jalousieschrank beobachtet. Wenn sie sich etwas vorstellt bei dem vorgetäuschten „Gerammle“ von Frank, dann könnte es auch Jeffrey in der Rolle des Liebhabers sein, denn sie wurde durch die plötzliche Ankunft Franks in einer Aktszene mit Jeffrey unterbrochen.
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Die drei Interpretationsvorschläge können nicht alle gleichzeitig „wahr“ sein. Vor allem die Rolle Franks als Quasitherapeut widerspricht dem Handlungsverlauf völlig. Frank ist der bedenkenlose Killer (ob Dorothys Ehemann auch in seine Drogengeschäfte verwickelt ist, bleibt offen), er hat jedenfalls keine therapeutischen Absichten. Aus Franks Perspektive wäre die Sadomaso-Szene eher als Inzest-Phantasma zu interpretieren; es fällt mehrmals der Satz: „Baby wants to fuck“, und Dorothy muss immer wieder sagen: „Mommy loves you.“ Das hieße, diese Szene wäre Franks Konfrontation mit dem Realen – mit dem Ding, das er sich als höchst begehrenswert vorstellt, als einen Ort, an dem ein exzessives Genießen möglich ist –, aber es ist der unmögliche Genuss: Mit wegwerfenden Handbewegungen wendet er sich ab, impotent, die Erregung ist nur gespielt. Was allerdings ausbleibt, das ist die Angst, die sich einstellen müsste, wenn man dem Ding zu nahe kommt – ohne Angst genießt Frank, so zu sein, wie er ist. Er fühlt auf sich keinen „third gaze“; er ist der Blick selbst, angst- und emotionslos. Er untersteht keinem Gesetz, er ist das Gesetz. Hinter dem Namen des Vaters als Träger des symbolischen Gesetzes verberge sich der verrückte Analvater, so Žižek an anderer Stelle, es ist der ekelerregende, bedrohliche und doch lächerlich impotente Wüstling (1993, S. 165) – das würde auf Frank passen, der sich selbst abwechselnd als Baby und Daddy apostrophiert und trotz seiner angsteinflößenden Maske, seinen drastischen Sprüchen und seinen brutalen Gesten keine wirklich sexuellen Handlungen an Dorothy vornimmt. Was bleibt, ist eine sentimentale Sehnsucht nach dem normalen Leben, die Eifersucht auf Leute, die Angst zeigen und Gefühle haben. Als sein Lieblingssong zum ersten Mal ertönt, schaltet Frank bei den Worten „In dreams, you are mine“ abrupt den Ton aus. Beide Songs, die seine Welt begleiten, „In Dreams“ und „Blue Velvet“, erzählen von einer verlorenen Liebe, die immer noch in Träumen weiterlebt. Jeffrey ist kein unbeteiligter heimlicher Augenzeuge, er ist unmittelbar in die beobachtete Sadomaso-Szene invol-
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viert. Die Begegnung mit dem Realen erzeugt eine verstörende Faszination, der sich Jeffrey nicht entziehen kann, es ist seine Konfrontation mit dem inzestuösen Ding. Er lässt sich auf ein Liebesspiel mit Dorothy ein und schlägt sie, wie sie es von ihm fordert. Dieses Erlebnis beschert ihm einen grauenhaften Albtraum. Jeffrey muss sich wie ein Doppelgänger Franks fühlen, so als sehe er sich von außen. Der Doppelgänger sei dasselbe wie ich und doch mir völlig fremd, er verkörpere dieses unmögliche Genießen in mir, so Žižek an anderer Stelle (1993, S. 164). Das scheint nun in der Tat die Beziehung zwischen Frank und Jeffrey zu treffen, denn der gewalttätige Erpresser Frank sagt dem freundlichen, aber doch von dem perversen Gewaltund Sexspiel faszinierten Jeffrey: „Du bist wie ich.“ (Ich habe gelesen, dieser Satz gehe auf einen Versprecher von Dennis Hopper zurück. Er sollte sagen: „You like me.“ David Lynch habe erst am Schneidetisch das „You’re like me“ entdeckt und entschieden, dass es so bleibt.) Er küsst ihn (beschmiert ihn dabei rot, mit seinem rot bemalten Mund, als wolle er ihn markieren) und singt ihn an: „In dreams I walk with you / In dreams I talk with you / In dreams you’re mine / All of the time we’re together …“; er ergänzt den Liedtext durch ein geflüstertes „for ever“. Diese Worte klingen wie eine Liebeserklärung, aber sie sind auch eine Drohung, sie machen Jeffrey quasi zu seinem Geschöpf. Wenig später schlägt Frank Jeffrey brutal zusammen und lässt ihn in der Nacht irgendwo auf einem Fabrikgelände liegen. Der Film bietet eine dauernde Verflechtung der normalen, heilen Welt, aus der Jeffrey und seine Freundin Sandy (Laura Dern) kommen, mit der gespenstischen Welt der Gangster und Drogendealer. Unheimliche Details – vor allem Licht, Farben und Musik – verketten die beiden Realitäten. Frank braucht für seine Attacken Dunkelheit, „es ist dunkel“, stellt er fest, bevor er sich seine Maske aufsetzt. Aber auch Sandy taucht für Jeffrey unerwartet im Garten ihres Elternhauses aus der totalen Dunkelheit auf. Nicht Frank, der Killer, ist es, der Jeff-
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rey und Sandy verfolgt und brutal ihr Auto rammt, wie Jeffrey glaubt, sondern Mike, der nette, eifersüchtige Exfreund Sandys. Der Text des Songs „In dreams“, den Frank mitsingt, lautet: „I close my eyes / Then I drift away / into the magic night.“ Frank träumt von „magic night“, Jeffrey und Sandy träumen von den „mysteries of love“, die im Dunkeln liegen. Als Jeffrey und Sandy sich beim Tanzen das entscheidende „I love you“ sagen, ertönt der Song: „And you and I float in love / And kiss forever in a darkness / And the mysteries of love come clear / And dance in light.“ Im Song mündet die Liebe „in light“. Bei seinem ersten Liebesgeständnis an Sandy hatte Jeffrey bereits zwei Nächte in den Armen Dorothys verbracht und er eilt nach seinem Geständnis wieder dorthin zurück. Ob sein fundamentales unbewusstes Phantasma ein Liebesakt mit oder ohne Gewalt ist, ist schwer zu entscheiden. Man kann aber von einem Durchqueren des Phantasmas sprechen, denn das Erlebnis mit Dorothy verändert seine Art zu begehren. Vor den phantasmatischen Erfahrungen Jeffreys existierte ein Begehren nach Geheimnissen. „You’re not going down by Lincoln“, wird Jeffrey von der Tante vor der verrufenen Straße gewarnt, wo die Sängerin Dorothy wohnt. Und genau dorthin zieht es Jeffrey. Zu Sandy sagt er: „I’m seeing something that was always hidden. I’m involved in a mystery.“ Und er liebe Geheimnisse. Dann folgt unvermittelt der Satz: „You are a mystery. I like you – very much.“ Was die beiden Neugierigen zu sehen bekommen, ist „a strange world“ voller Gewalt, Obszönität und unverständlicher Schmerz-Lust, gefährlich, angsterregend und doch faszinierend. Es unterminiert ihre Vorstellungen von Leben, Liebe und Sexualität. Das Reale als Grenzbereich menschlicher Erfahrung ist nicht länger verdrängt, sondern als notwendiges Supplement, als Korrelat zum symbolischen Gesetz integriert. Anfangs ist keiner von beiden, weder Sandy noch Jeffrey, an Sexualität interessiert. Sie sind wie Kumpel in einem
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Abenteuer. Am Ende des Films sind sie ein Liebespaar. Aber es hat sich für sie bis dahin etwas Entscheidendes verändert: Jeffrey sah sich mit unerwarteten Gewaltanteilen in sich konfrontiert, und auch Sandy musste sich von ihrem Traum einer Liebe „clear, in light“ verabschieden. Als sie sieht, wie die nackte und verwirrte Dorothy – Frank hat sie offenbar vor Jeffreys Haus ausgesetzt oder sie hat sich dorthin geflüchtet – Jeffrey umarmt und ihn ihren heimlichen Geliebten nennt, bricht ihre naive Vorstellung von Liebe zusammen und sie schlägt Jeffrey ins Gesicht. Obwohl sie nicht genau weiß, was Jeffrey in Dorothys Wohnung gemacht hat, hat er für sie durch diese Erfahrungen eine sexuelle Attraktivität bekommen, mit der Mike nicht konkurrieren kann. Sandy schwärmte naiv von einer Welt in gleißendem Licht, von einem Rotkehlchen, das die Liebe wiederbringen würde, für sie das Wichtigste im Leben. Zum Schluss erscheint tatsächlich ein Rotkehlchen vor dem Fenster. Aber es ist nicht einfach Zeichen der Liebe und Harmonie, sondern nun auch der Gewalt und des Todes. Der Vogel hat einen schwarzen Riesenkäfer im Schnabel und wird ihn verschlingen. Während die Tante sich angeekelt abwendet, sehen Sandy und Jeffrey sich lächelnd und wissend an. Die Initiation in den geheimnisvollen Bereich der Sexualität scheint gelungen. In Lynchs Ontologie, so Žižek, sei das Universum „eine zitternde Gallertmasse, die den festgesetzten Rahmen der Realität unentwegt zu sprengen droht“ (1993, S. 169). Diese Metapher widerspricht der Anlage des Films diametral. In Lynchs Film findet die Inszenierung alles Gewalttätigen und Grauenhaften innerhalb des Rahmens der scheinbar intakten amerikanischen Kleinfamilien- und Vorgartenidylle statt, und es gibt zudem den doppelten narrativen Rahmen der Kriminal- und der Liebesgeschichte. Zum Schluss sind alle wieder in der Realität von Familie und Vorgarten angekommen – außer Frank: Jeffrey erschießt ihn. Wenn Žižek fordert, dass wir uns im Kino mit unseren unmoralischsten Sehnsüchten, die wir uns nicht eingeste-
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hen, konfrontieren sollen, dann wäre das die Perspektive von Jeffrey und Sandy, denn sie lernen nach ihrem Kontakt mit Gewalt, Obszönität und Perversion tatsächlich etwas. Allerdings müsste man dazu die diegetische Ebene des Films einbeziehen, was Žižek nie tut. Mein Unbehagen bei Žižeks Vorgehensweise hat eine methodische Basis. Hier stoßen zwei Lektüremöglichkeiten aufeinander, die unvereinbar zu sein scheinen: eine spezielle psychoanalytische Methode, die sich der Assoziation überlässt, für die Widerspruchsfreiheit kein notwendiges Kriterium ist, und eine hermeneutische, die bestimmten Regeln folgt. Žižek präsentiert immer nur Teile von Interpretation, er zieht verstreut in verschiedenen Veröffentlichungen einzelne Szenen zur Illustration seiner Thesen oder zur Erklärung eines Lacan’schen Begriffes heran. Nie aber liefert er die Gesamtinterpretation eines Werkes. Die Teile passen oft nicht zusammen oder widersprechen sich. Für Žižek geht es in „Blue Velvet“ um die „Verflechtung von Phantasmen“ – so als gäbe es in dem Film keine Handlungslogik. Es ist gleichgültig, ob diese Einfälle nur zum interpretierenden Subjekt oder auch zum Text gehören. Sie werden jedenfalls nicht zum Filmoder Textganzen in Beziehung gesetzt. Mein Unbehagen ist das einer Literaturwissenschaftlerin, für die die Interpretation eines Textes oder eines Films im Idealfall eine kohärente Einheit ergeben muss. Ein hermeneutischer Zugang unterstellt, dass das Werk ein sinnvolles Ganzes ist. Allerdings assoziiert Žižek nicht völlig frei, er projiziert vielmehr Theorieteile auf Textausschnitte oder Filmszenen – er ist ein besessener und dabei faszinierender Erklärer der Lacan’schen Psychoanalyse. Offenbar muss man nehmen, was man brauchen kann, dann schwindet der Ärger und die Inspiration überwiegt.
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Literatur Žižek, S. (1993). Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Žižek, S. (2001). Die gnadenlose Liebe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Žižek, S. (2006). The Pervert’s Guide to Cinema. DVD. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins. Žižek, S. (2012). Slavoj Žižek on David Lynch. Zugriff am 22. 10. 2012 unter http://www.lacan.com/thesymptom/?page_id=1955
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as Internet und im Besonderen das „Social Web 2.0“ mit seinen Netzwerkplattformen wie Facebook, Myspace, StudiVZ, SchülerVZ u. a. ist in den letzten Jahren wohl zu einem der wichtigsten Kommunikationsmedien der Zukunft geworden. 500 Millionen User in 207 Ländern sind bei Facebook angemeldet (Fincher, 2010). Insbesondere Jugendliche gehören zu den Nutzern. Laut JIM-Studie 2009 steigt die regelmäßige Nutzungsfrequenz des Internets pro Jahr. Sie wird von den Jugendlichen auf durchschnittlich 134 Minuten pro Tag geschätzt (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2009). 3.417 Textnachrichten erhalten Teenager im Durchschnitt pro Monat, also sieben bis acht pro Stunde. Für die heutigen Kinder und Jugendlichen ist die ständige Präsenz des Internets eine Selbstverständlichkeit, was sich in der von Marc Prensky (2001) geschaffenen Bezeichnung „Digital Natives“ ausdrückt. Im Juli 2012 titelt der Spiegel: „iPhone – also bin ich“ und spricht davon, dass kein Produkt die Menschheit so radikal verändert hat. Die Vielfalt an neuen Möglichkeiten ist kaum noch überschaubar und zeigt sich u. a. in dem Gebrauch vom iPhone/Smartphone.1 Ein persönlicher Computer wird zum ständigen Begleiter. 1 Ich beziehe mich in meinen Ausführungen, wenn ich von Vernetzung und „Immer online“ spreche, auf den Gebrauch von
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Es lassen sich keine generellen Aussagen finden, mit welcher psychischen Bedeutung jeweiliges vom Subjekt aufgeladen wird, und eine Betrachtung dieser Phänomene aus psychoanalytischer Sicht wird rasch ergeben, dass es sich hinsichtlich der bewussten und unbewussten dynamischen Vorgänge um recht komplexe und vielfältige Prozesse handelt. Psychoanalytiker, die mit Jugendlichen arbeiten, haben einen täglichen Einblick in den eher pathologischen Umgang mit diesen Entwicklungen. Noch, scheint mir, stehen wir von psychoanalytischer Seite erst am Anfang der Erforschung dieser Phänomene (Günter, 2010). Ich möchte mich aus der Position der Zuhörerin, im Sinne des psychoanalytischen Junktims von Forschen und Heilen, diesen Fragen nähern. Anhand einer klinischen Vignette werde ich über die Bedeutung des iPhones in der analytischen Behandlung nachdenken: Die Couch – ein Funkloch? Oder: Immer online? Ich möchte vorausschicken, dass ich über die neuen Techniken in ihrem wechselseitigem – verstörendem wie befruchtendem, regressiv-pathologischem wie potenziell progressiv-schöpferischem – Beitrag zur adoleszenten Entwicklung nachdenke. „An der Neu-Interpretation der krisenhaften Themen der Alten schärft sich die Adoleszenzkrise – und wird sie gelöst“ (Reiche, 2011, S. 1109). In der adoleszenten Ablösung von den Eltern sind ja mindestens zwei Generationen beteiligt. Sind es nicht oft die Mütter, die sagen: „Nimm dein Handy mit!“, und sich dann in den Elterngesprächen darüber beschweren, dass bis spät in die Nacht mit den Freunden geschwatzt wird? Auch hätten heutige Eltern an dem Verlust der sich über den Globus verteilenden Kinder ohne Skype u. a. sicher schwerer zu tragen. Ich möchte mich aber im Folgenden auf die Perspektive der Jugendlichen selbst konzentrieren, wohl wissend, dass ich die Wechselwirkungen generativer Beziehungen nun anaSmartphones aller Hersteller, werde aber aufgrund meiner erlebten und reflektierten Erfahrungen mit dem Apple-Produkt von „iPhone“ sprechen.
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lytisch in Einzelteile zerlege. Meine jugendlichen Patienten sind es, die mich mit dem Umgang neuer Techniken vertraut machen und im therapeutischen Raum eine Positionierung dazu einfordern. Sie sind es, die telefonierend hereinkommen, die ganz selbstverständlich nach einer Steckdose zum Aufladen fragen, die ihr Handy auch mal auf der Couch oder im Sessel liegen lassen und gar nicht auf die Idee kommen, es auszuschalten. Der adoleszente Umgang mit dem iPhone führt auch zu Fragen nach neuen „Regeln“ im analytischen Setting: Die Couch – handyfreie Zone?! ȤȤ Hat es im Hinblick auf Rahmen und Setting in der analytischen Situation Sinn, darüber nachzudenken, ob man auf einem ausgeschalteten Handy besteht? ȤȤ Welche psychische Bedeutung geben die Jugendlichen in ihren verschiedenen Entwicklungsphasen dem iPhone? ȤȤ Was ist dazu aus dem Kontext unserer analytischen Stunden zu erfahren? ȤȤ Was verändert sich, wenn das iPhone konkret in unseren Raum drängt? ȤȤ Welche Art Objektbeziehung entfaltet sich zum iPhone? ȤȤ Was für eine Art „äußeres Objekt“, durch das hindurch sich der Jugendliche entwirft, ist das iPhone für den jeweiligen Jugendlichen? Das iPhone scheint mir ein Bestandteil neuer kollektiver Rituale, in die ich eingebunden werde: aufgeladen mit Wünschen, Ängsten und Phantasien und voller Bedeutungszuschreibungen durch die Jugendlichen und ihre Peergroup. Freud bezeichnete in seiner Arbeit „Das Unbehagen in der Kultur“ den Menschen als „eine Art Prothesengott“ (1930a, S. 451), der sich mithilfe seiner Werkzeuge zur omnipotent-mächtigen und heute nun auch zur omnipräsent-mächtigen Spezies entwickeln konnte. Wird das iPhone zur Prothese unserer Wunschvorstellungen, oder werden wir zur Prothese des iPhones? Wie beschrieben nutzen die heutigen Jugendlichen das Internet mit größter Selbstverständlichkeit. Die globale Ver-
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netzung ist ein nicht mehr wegzudenkender soziokultureller Tatbestand ihrer heutigen Umgebungsrealität. Aus psychoanalytischer Perspektive ließe sich fragen: Ist es ein Raum zum Ausagieren oder Durcharbeiten? Welche adoleszenten Entwicklungsanforderungen werden durch die total anmutende Vernetzung begünstigt, auf welche wirkt sich das „Immer online“ ungünstig aus? Zwei wesentliche Entwicklungsanforderungen in dieser Zeit stehen im Zentrum meiner Exploration: ȤȤ die Fähigkeit, Trennung auszuhalten und allein zu sein; ȤȤ die regressiv-pathologischen oder progressiv-entwicklungsfördernden Auswirkungen auf Identitätsbildung oder Identitätsdiffusion.
Ungetrennt sein wollen und nicht zusammen sein können: Ein Fallbeispiel Ich möchte nun aus einer Stunde mit einer 14-jährigen Patientin erzählen. Sie kam wegen depressiver Einbrüche, Leistungsabfall und Mobbing-Konflikten in der Schule bzw. Cyberbullying.2 Sie hatte zwei Schulwechsel hinter sich, weil sie schnell in die Position des Opfers geriet. Mit SMS gemeinster Art wurde sie von den anderen Mädchen traktiert, im sozialen Netzwerk SchülerVZ beschimpften ihre Mitschülerinnen sie so heftig mit entwürdigenden Schimpfworten, dass sie sich nicht mehr in die Schule traute. Marei ist ein ausgesprochen hübsches Mädchen, welches in mir Bilder von Claudia Schiffer wachrief, altersgemäß entwickelt und wie von einer seltsam anmutenden Lethargie befallen. Sie wirkt 2 „So gilt Cyberbullying als (wiederholtes) intentional aggressives Verhalten einer oder mehrerer Personen verstanden, dass sich gezielt gegen eine Person richtet. Dieses Verhalten wird mittels moderner Kommunikationsmedien ausgeübt, um anderen zu schaden“ (Schultze-Krumbholz u. Scheithauer, 2010, S. 80).
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langsam – entwicklungsverzögert – bei guten gymnasialen Leistungen. Jeder zweite Satz lautet: „Ich weiß nicht.“ Sie schweigt überwiegend in den Stunden. Wenn sie mal ein Thema eingebracht hat und wir etwas mehr verstehen, scheint sie sehr zufrieden, um dann wieder in eine Art Schweigen, ihr eigenes „Funkloch“, zu fallen. Zu ihrer Geschichte: Die Mutter, eine gut aussehende, jugendlich auftretende Akademikerin, beschreibt, während der Schwangerschaft mit Marei eigentlich in einen anderen Mann als den Vater verliebt gewesen zu sein, diesen dann aufgrund der Schwangerschaft aber aufgegeben zu haben. Marei sei ihr „Ein und Alles“ gewesen. Dabei schwanken ihre Beschreibungen zwischen idealisierten Schilderungen und Entwertungen Mareis, die schon immer ein Opfer gewesen sei: beispielsweise „Opfer“ der älteren Schwester, die sich viel besser durchsetzen könne. Marei habe sich schon früh Freundschaften mit Bonbons „erkauft“. Manchmal wisse sie nicht, ob Marei lüge oder selbst ihre Ausreden glaube, zum Beispiel bei nicht gemachten Hausaufgaben. Der Vater, deutlich älter als die Mutter, wirkt hilflos und depressiv, hat finanzielle Probleme in seinem selbstständig geführten Büro. Beide sind besorgt über die schulischen Probleme und die massiven Ängste von Marei vor den anderen Schülern. Im Einzelgespräch mit den Eltern werden gegenseitige Unterstellungen und Schuldzuschreibungen von Opfer und Täter in Bezug auf die Trennung der Eltern deutlich, sodass ich nicht mehr unterscheiden kann, wer lügt und wer nun Opfer oder Täter zu sein meint. Beide hielten bis zum 12. Lebensjahr der Patientin den familiären Rahmen aufrecht, trotz anderer Beziehungen. Marei hat vom ersten Kontakt an ihr iPhone immer dabei, manchmal packt sie es in die Tasche, aus der es dann piept und anzeigt, dass eine neue Nachricht im Chat eingetroffen ist. Manchmal umklammert sie es fast die ganze Stunde. Mit ihrem umklammernden Griff erschien es mir oft wie der Griff eines Kleinkindes am Nuckeltuch. Die anfängliche Assozia-
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tion eines Übergangsobjekts führte bei mir zu einem zunächst sehr gewährenden Stil im Umgang mit dem Gebrauch ihres iPhones. Manchmal war ich fast dankbar, weil „es“ Themen einbrachte und ihr endloses Schweigen unterbrach. So sorgte das Piepen dafür, das Thema einer neuen Chat-Nachricht aufzunehmen, die sie vorlas und in der zum Beispiel ein Konflikt mit einer Freundin zum Thema wurde. Eine Weile schien es etwas Drittes zu repräsentieren, ein Spielzeug auf unserem „Spielplatz“, welches auch unsere Nähe und Distanz regulierte. Ich schien aber mehr und mehr das Einbrechen von realer Außenwelt mit freien Einfällen zu verwechseln. Kam ich zu Beginn der Behandlung gar nicht auf die Idee, an ein Ausschalten oder zumindest Stummschalten des iPhones zu denken (ich würde auch keinem Kind verbieten, sein Kuscheltier mitzubringen), kam mir dieser Gedanke im weiteren Verlauf öfter. Das Einbrechen der realen anderen schien mir mehr und mehr das Nachdenken über Inneres zu ersetzen. Das klinische Material: Ich erzähle nun aus einer Stunde, aus der heraus vielleicht weiterführende Fragen zu der Art der Objektbeziehung, die Marei mit ihrem iPhone unterhält, entwickelt werden können. Bin ich mit meiner Analytikerin allein im Behandlungsraum, mit dem iPhone zu dritt, oder wie viele meiner „Freunde“ sind zeitgleich auch noch hier? 44. Stunde Marei kommt wie meist müde und lethargisch in die Stunde, nimmt langsam Platz und guckt mich stumm und leer an, wie oft, fast abwesend. A: Hallo, Marei. M: Hallo. Schweigen. Sie hält ihr iPhone in beiden Händen, schaut immer mal wieder darauf und dann wieder zu mir, ohne Fragen oder Intention.
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A: Du schaust mich an oder dein iPhone, fast als seien wir heute zu dritt? M: (zögerlich) … Weiß nicht, na ja, will ich ja auch nicht, ach, alles ist so schwer. A: Was ist denn so schwer? Schweigen, wieder sehr abwesend. A: Du weißt noch nicht, ob du hier oder woanders sein magst? M: Wenn ich es ausschalte. Dann, ach … was soll es. A: Ich habe nicht ganz verstanden, vielleicht können wir gemeinsam nachdenken, was passieren könnte, wenn du es ausschaltest? M: Aaron könnte eine Message schicken. Schweigen. A: Ja, und dann könnte er dir etwas Wichtiges sagen wollen? M: Weiß nicht, er wäre sauer, wenn das Handy aus ist, ich wüsste auch nicht … ich möchte ja auch, dass er immer online ist, immer erreichbar. A: Ihr wollt beide immer füreinander da sein. M: Ja, wir haben uns versprochen, immer füreinander da zu sein. A: Dann musst du jetzt bei mir aushalten, nicht mit ihm zusammen zu sein, aber ein bisschen bist du es dann doch, wenn du online bleibst? M: Ja, er hat mir heute schon zehn SMS geschickt, und obwohl er weiß, dass ich hier bin, soll ich online bleiben. (Nun ist etwas Ärger spürbar.) Er hat zu Hause so viel Ärger. A: Ja? M: Er hat immer Ärger mit seiner Mutter, die kommt ja aus X und dort ist alles anders. Schweigen. A: Jetzt machen wir uns Gedanken über Aaron … (Es piept, sie liest, vorsichtig zu mir:) Er schreibt, was wir später machen wollen, er weiß ja, dass ich hier bin, ob wir schwimmen oder Eis essen gehen. A: (schmunzelnd) … da habt ihr was Schönes vor. Irgendwie bist du nicht mit ihm, aber auch nicht mit mir hier, nicht getrennt und nicht zusammen … eigentlich schon mit Aaron unterwegs. Marei schmunzelt und meint: Ich mache jetzt mal lautlos. Sie knistert in der Tasche, holt das iPhone wieder heraus, packt es in die Jackentasche, packt es in die Handtasche, rutscht nervös auf dem Stuhl hin und her, Schweigen, Warten.
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Die Couch – ein Funkloch? Oder: Immer online …
(Ich bin beschäftigt damit, zu verfolgen, wo das iPhone nun landet.) M: Nächste Woche habe ich ein Schulpraktikum, hoffentlich kann ich da mein iPhone anlassen, was soll ich sonst da tun. Sie wirkt wirklich ratlos. A: Wir könnten ja mal genauer nachdenken, was du tun könntest und was so schlimm ist, wenn du es da oder hier ausschaltest. Du sagtest, Aaron wäre sauer, wenn du es ausschaltest; ja, warum eigentlich? M: Wenn ich mit Aaron zusammen bin, dann habe ich das iPhone immer an, er auch, wir machen sie nie aus … A: Ja, wenn es aus ist, seid ihr dann nicht mehr füreinander da? M: Ja eben. Aber er wird auch sauer, wenn ich es anlasse, wenn wir zusammen sind, weil er denkt, ich chatte mit einem anderen … A: Dann wäre es besser, ihr würdet es ausschalten, wenn ihr zu zweit seid, ohne Störung? M: Dann könnten doch die anderen denken, wir sind gegen sie, weil wir nicht mehr online sind, und dann schreiben sie wieder gemeine Sachen! A: Also verstehe ich das richtig, wenn du es jetzt ausschalten würdest, machst du dir Sorgen, Aaron wäre nicht mehr für dich da und du nicht für ihn? Und auch alle anderen Freunde würden denken, du willst nichts mehr von ihnen, und sie würden dich dann vielleicht wieder mobben? Das scheint mir echt ein Dilemma – offline heißt, die anderen zu verärgern, online heißt, Aaron zu verärgern, aber gleichzeitig wollt ihr auch real und online immer zusammen sein. M: Schweigen, sie nestelt … ja, irgendwie schon … Stundenende.
Diskussion Das Dilemma von meiner Patientin ist, dass sie die Wut ihrer Freundinnen riskieren könnte, wenn sie offline geht, sprich: Die Mädchen werden schlimme Sachen über sie schreiben. Dies ist nicht nur eine Phantasie, weil sie die Verfolgung im SchülerVZ ja erlebt hat. Sie kommt aber auch in Konflikt mit ihrem Freund, der immer online ist und von ihr eine stän-
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Anna Gätjen-Rund
dige Verfügbarkeit einfordert: Wir sind immer füreinander da! Gleichzeitig aber heißt das, die ständige Anwesenheit von Rivalen zu fürchten, da sie im „Immer online“ auch immer für alle anderen da ist. Die Wechselwirkung von Phantasien über Getrennt- oder Verbundensein wird mit dem iPhone in Szene gesetzt. Die neue Technologie macht diese omnipräsente und omnipotente Anwesenheit anscheinend möglich, das heißt nicht, dass sie sie verursacht. Letzteres ist subjektiver Bedeutungszuschreibung unterworfen. Der Weg zum Therapeuten scheint dank iPhone ohne Trennung von anderen möglich. In der Stunde von Marei wird deutlich, wie es zu einer unlösbaren, konflikthaften Verschränkung von „immer in Verbindung sein können“ zu „immer in Verbindung sein müssen“ gekommen ist. Die grenzenlose Verbundenheit einer „Immer online“-Phantasie dürfte mit einer unbewussten fusionären Objektbeziehung in Zusammenhang stehen. Gleichzeitig erscheint das iPhone phasenweise wie ein „Pseudo-Drittes“, wie eine Art Beziehungsersatz, welches die Übertragungsbeziehung reguliert. Zugleich wird deutlich, wie die grenzenlose Anwesenheit einer fusionären Objektbeziehung ebenso deren andere Seite aufscheinen lässt: verfolgende und vernichtende Teilobjektphantasien, eine Ablösung und Individuation verhindernde Seite. Marei phantasiert die Ausstoßung und Verfolgung durch die Freunde im Netz, wenn sie sich traut, sich aus der „Immer-online-Beziehung“ zu lösen. Aus einem klinischen Blickwinkel ergibt sich daraus, dass der „Immer online“-Modus bei dieser Patientin eine Gefahr unterstützt, fusionäre, ungetrennte Beziehungsmodi zu erhalten. Marei sieht sich als Opfer dieser Dynamik, der Täter ist die „Netzgemeinschaft“ oder Aaron oder die Analytikerin. Mit dieser Täter-Opfer-Dynamik kann sie einen ungetrennten Zustand aufrechterhalten und bleibt in der idealisierten Dyade mit Aaron. Die Spuren zur frühen Mutter-Kind-Dyade in der Genese Mareis werden dabei im Laufe des analytischen Prozesses immer deutlicher.
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Die Couch – ein Funkloch? Oder: Immer online …
Aus dieser unlösbaren Verbindung heraus ist eine Auszeit, im Sinne eines Moratoriums im adoleszenten Entwicklungsprozess, kaum noch möglich. Marei kann keine Erfahrung von Einsamkeit, Stille und Getrenntheit machen. Stattdessen hat sie sich an einen Ort seelischen Rückzugs begeben, an dem sie kaum noch erreichbar ist. Zunächst schien mir das iPhone tatsächlich einen dünnen Kontaktfaden zu ihr zu spinnen. Mit der Zeit wird aber immer deutlicher, dass es sich um einen Beziehungsersatz handelt, um ein Spinnennetz, das meine Patientin wie ein Kokon umgibt; um einen Beziehungsersatz, der auf der Introjektion einer Nicht-Beziehung beruht. Ich vermute, dass sich durch die Umstände der Schwangerschaft von Marei die elterliche Beziehung entfremdete und von ihr als eine Nicht-Beziehung erlebt wurde, und so könnte man fragen, ob das Spinnennetz die fehlende Verbindung der elterlichen Dyade repräsentiert. In diesem Sinne wäre das iPhone dann auch kein Übergangsobjekt, sondern ein „Tröster“ (Winnicott, 1974/1997, S. 17), der nicht als Vorläufer einer Symbolisierung in Erscheinung tritt, sondern im Sinne eines sich entwickelnden Fetischs fungiert. Mit diesem Blick wäre die Frage nach Rahmen und Setting wiederum anders zu betrachten. Am Anfang der Behandlung schien das iPhone im Sinne eines Dritten, welches überhaupt einen Kontakt möglich werden ließ, förderlich zu sein, da die Patientin an ihrem inneren seelischen Rückzugsort (Steiner, 1989) wie in einer abgeschlossenen Kapsel verharrte. Zunehmend zeigte sich aber die Funktion als Tröster, der einen Raum zum Phantasieren und Assoziieren zu zerstören schien. Oft wurde in den Sitzungen deutlich, dass Marei den Spannungsbogen, sich mit mir auf ein Assoziieren und Phantasieren einzulassen, nicht halten konnte. Wir mussten erst Schritt für Schritt Regulationsmöglichkeiten und Affektdifferenzierungen erarbeiten. Sie musste mit dem iPhone sofort antworten und konnte so keinen analytischen Raum zum Nachdenken und In-sich-Hineinhören entstehen lassen.
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Anna Gätjen-Rund
Sie schien über diesen Spannungsbogen schlicht nicht zu verfügen. Ihr kamen stattdessen die sofortige Wunscherfüllungsmöglichkeit und die Spannungsabfuhr, in Form sofortiger Antwort via SMS, sehr entgegen. Erst mit der Zeit war es ihr möglich, die Spannung mehr und mehr auszuhalten, die in ihr entstand, wenn es piepte. Sie begann, die verfolgenden Phantasien, die anderen würden sie nicht mehr mögen, wenn sie nicht sofort antwortete, mehr zu verstehen. In dieser Stunde tauchte ja sogar ein leichter Affekt des Ärgers auf. Gerade ihre Handlungsbereitschaft, immer sofort zu reagieren, gab aber den anderen die reale Möglichkeit, sie immer mehr zu kontrollieren oder mit Cyberbullying zu traktieren. Wir arbeiteten in diesem Behandlungsabschnitt an dem illusionären Charakter des „Immer online“ und ich versuche, ihre Phantasien der Verfolgung mit ihr als Phantasien zu identifizieren. Zum jetzigen Zeitpunkt der Behandlung (Marei ist inzwischen ganz gut in ihrer neuen Klasse integriert) halte ich ein Ausschalten des iPhones für den nächsten möglichen Schritt. Es scheint mir wichtig, ihr deutlich zu machen, dass sie dieses Wagnis eingehen kann. Aber auch, dass sie es entscheiden muss. Allerdings wird sie, solange sie nicht wirklich zwischen ihren verfolgenden Phantasien und der Realität unterscheiden kann, diesen Schritt auch noch nicht gehen. An dieser Stelle stehen wir in der Behandlung und so werden neue Fragen auftauchen, in welche Richtung auch immer sie sich entscheiden wird. So bleibt in meinen Ausführungen mehr offen, als beantwortet wird. Aber im Sinne Maurice Blanchots (1969) ist ja die Antwort das Unglück der Frage („La réponse est le malheur de la question“).
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Die Couch – ein Funkloch? Oder: Immer online …
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Sabine Offe
Schuldig Sprechen Eine Märchenlektüre
eder Text, ob literarisch oder akademisch, trägt SpuJren von Autobiografischem, von Erinnerungen, auch
wenn sie nicht benannt oder wenn sie getilgt werden. Meine hier folgende Lektüre eines Märchens aus der Sammlung der Brüder Grimm versucht, solche Spuren im Gelesenen, im von mir zu Schreibenden und im Geschriebenen zu erkennen und, auch wo sie sich nicht benennen lassen, sie anzuerkennen als nachwirkende Folgen nicht zugelassenen oder verschütteten Wissens von Geschichte und Familiengeschichten einer, meiner, Kindheit im Spät- und Nachkrieg. An Literatur aller Genres zu Kriegs- und Nachkriegskind heiten mangelt es nicht, was neben Medien- und Marktkonjunkturen von Erinnerungen auch zeigt, dass hier anhaltend virulente Erfahrungen und Affekte nach Ausdruck suchen. Das hier verhandelte Märchen geht zurück auf Kindheitslektüren, es handelt von Schuld und Strafe, und auch anderweitig finden sich Hinweise auf eine generationstypische Wirkungsgeschichte. Schuldgefühle der Kinder und Enkel gelten als Teil des psychischen Erbes der NS-Geschichte, sie sind nicht notwendig wahrgenommene Gefühle von Schuld, sondern oft stellvertretend für andere übernommene unklare, verleugnete und abgespaltene Gefühle und können sich in vielfältig verstellter und entstellter Weise äußern. Ihnen entsprechen Erscheinungsformen auch des öffentlichen Umgangs in der frühen Bundesrepublik mit der Geschichte der NS- und
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Schuldig Sprechen
Kriegsverbrechen, die Schuldanerkenntnis und die Entwicklung von Gefühlen der Trauer verhindert haben. Angesichts der inzwischen sehr weitgehenden Überführung privater und öffentlicher Erinnerungen in beruhigte Denkmäler erscheint heute kaum mehr vermittelbar, wie selbst physisch erhaltene Orte der NS-Geschichte bis in die 1980er Jahre unkenntlich gemacht und durch Nichtbenennung sozial und psychisch zum Verschwinden gebracht wurden. Mein Schulweg führte mich vorbei am ehemaligen KZ Fuhlsbüttel, wo die Leiterin meiner Hamburger Schule als politisch Verfolgte inhaftiert gewesen war. Darüber wurde nicht gesprochen, aber wir Schüler wussten es, irgendwie, nie jedoch brachte ich das Backsteingebäude hinter hohen Mauern, nach dem Krieg Zuchthaus und heute Gefängnis, oder Fotos anderer Lager, die ich gesehen hatte, damit in Zusammenhang. Noch als demonstrierende Studenten in den 1960er Jahren sahen wir weder die Trümmerreste der Bornplatzsynagoge noch den Sammelplatz für die Deportationen am Dammtorbahnhof, beide in unmittelbarer Nachbarschaft der Hamburger Universität. Die Entwirklichung von Orten und Zeiten, die diffuse Anonymität von Tatbeteiligten und Opfern in der Öffentlichkeit, nicht erzählte Familiengeschichten und eigene lebensgeschichtliche Erfahrungen verknäulen sich in den Erinnerungen meiner Generation bis heute. Was wir nicht wissen sollten, was versperrt schien durch Verbote und Verweigerung, aber was wir wohl auch nicht wissen wollten oder wollen konnten, blieb als mangelndes Wahrnehmungsund Unterscheidungsvermögen erhalten, als verbreitetes und anhaltendes Gefühl von Benommenheit. Ich lese den Text „Marienkind“ idiosynkratisch, als in die Knäuel des Erinnerten Verwickelte, methodisch unbekümmert und als Angebot zur Identifikation ebenso wie zu Einspruch und Ablehnung. Ich lese den Text von heute aus mit der Frage, wie er auf der Ebene des Erzählten und des Erzählens zu Wahrnehmungsweisen von Schuld beigetragen haben mag. Das Märchen steht genealogisch in keinerlei
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Sabine Offe
Zusammenhang mit solchen Fragen. Eher ein Zwitter zwischen Märchen und Legende und älteren Datums, ist es im Vergleich mit den vielen weltberühmten grimmschen Märchen ein randständiger Text, nimmt aber die immerhin prominente dritte Stelle in der Reihenfolge der Sammlung ein. Es beginnt mit einer Marienerscheinung, die einem Holzhacker, der kein Brot mehr hat, um sein dreijähriges Töchterchen zu ernähren, im Wald begegnet. Sie trägt eine „Krone von leuchtenden Sternen“ und bietet ihm an, sie würde das Mädchen mit sich in den Himmel nehmen und „seine Mutter sein und für es sorgen“. Der Holzhacker „gehorchte“, und im Himmel ging es dem Kind wohl, „es aß Zuckerbrot und trank süße Milch, und seine Kleider waren von Gold, und die Englein spielten mit ihm“. So weit, so gut, oder auch nicht. Als das ansonsten namenlos bleibende Marienkind 14 Jahre alt ist, hat Maria „eine große Reise“ vor und übergibt ihm ein Bund mit 13 Schlüsseln zu den 13 „Türen des Himmelreichs“ mit den Worten: „Zwölf davon darfst du aufschließen und die Herrlichkeiten darin betrachten, aber die dreizehnte, wozu dieser kleine Schlüssel gehört, die ist dir verboten: hüte dich, daß du sie nicht aufschließest, sonst wirst du unglücklich.“ Das Mädchen verspricht, „gehorsam“ zu sein, schließt jeden Tag eine der zwölf Türen auf, hinter jeder „saß ein Apostel und war von großem Glanz umgeben, und es freute sich über all die Pracht und Herrlichkeit“. Dann kommt es, wie es kommen muss, es „empfand eine große Lust zu wissen, was [hinter der 13. Tür] verborgen wäre“, und beschließt gegen den furchtsamen Rat der Englein, jedenfalls einen Blick zu riskieren. Und so erreicht das Märchen seinen Höhe- und Wendepunkt: „Es suchte den Schlüssel heraus, und als es ihn in der Hand hielt, steckte es ihn auch in das Schloß, und als es ihn hineingesteckt hatte, drehte es auch um. Da sprang die Türe auf, und es sah da die Dreieinigkeit im Feuer und Glanz sitzen. Es blieb ein Weilchen stehen und betrachtete alles mit Erstaunen, dann rührte es ein wenig mit dem Finger an den Glanz, da ward der Finger ganz golden. Alsbald empfand es
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eine gewaltige Angst, schlug die Türe heftig zu und lief fort.“ Die Angst, so zeigt der weitere Verlauf, erweist sich als nur allzu begründet. Maria kommt zurück, durchschaut sofort, was geschehen ist, zumal das Fingerlein, vergoldet, alles verrät, aber das Mädchen leugnet hartnäckig. Zur Strafe wird sie verstoßen, findet sich wieder in einer „Einöde“, nackt und bloß in einem Dickicht von Dornen gefangen. Damit nicht genug, kann sie nicht mehr sprechen, sie ist stumm. „So saß es ein Jahr nach dem andern und fühlte den Jammer und das Elend der Welt.“ Da kommt eines Tages zufällig der König vorbei, zerteilt das Dornengestrüpp um sie her mit dem Schwert, hebt sie auf sein Pferd und führt sie auf sein Schloss. Zwar ist sie stumm, aber so schön, dass er sie binnen eines Jahres zu seiner Frau und zur Mutter eines ersten Sohnes macht. In der Nacht nach dessen Geburt erscheint ihr Maria, löst ihr die Zunge, damit sie ihre Lüge gesteht, und droht, sie werde ihr andernfalls ihr Kind nehmen. Marienkind aber bleibt „verstockt“, und Maria nimmt das Kind mit sich. Das wiederholt sich ein zweites und drittes Mal, bis schließlich nach dem Verschwinden auch des dritten Kindes – eines Mädchens – der König nicht mehr verhindern kann, dass die Königin unter dem Vorwurf der Menschenfresserei zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wird. Verteidigen kann sie sich nicht, denn sie ist ja stumm. Erst als das Feuer zu brennen anfängt, „schmolz das harte Eis des Stolzes und ihr Herz ward von Reue bewegt“, sie erhält die Stimme zurück und ruft laut aus: „Ja, Maria, ich habe es getan.“ Da löscht Regen das Feuer, Maria erscheint mit den drei Kindern und „sprach freundlich zu ihr: wer seine Sünde bereut und eingesteht, dem ist sie vergeben“, und gibt ihr „Glück für das ganze Leben“. Die Frage, die sich mir bei heutiger Lektüre ebenso aufdrängt wie dem von mir erinnerten Kind und, so vermute ich, auch anderen Lesern, frommen ebenso wie unfrommen, kindlichen ebenso wie erwachsenen, lautet: Was hat dieses Marienkind so maßlos schuldig werden lassen, wie es bestraft wird?
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Sabine Offe
Als Antrieb für die Übertretung des Verbots, die 13. Tür zu öffnen, wird die „große Lust zu wissen“ genannt, die das Mädchen überkommt. „Wißtrieb“ hat Freud solche lustgetriebene Kinderneugier genannt und fasst darin sexuelle Neugier und intellektuelle Wissbegier zusammen (Härtel, 2003). Im Unterschied zu Interpretationen von „Marienkind“, die die sexuelle Dimension des Textes privilegieren und den expliziten Text gegenüber einem vermeintlich gemeinten zum Vehikel einer eindeutig sexualfeindlichen Aussage reduzieren, macht diese Verknüpfung von erotischer und intellektueller Neugierde im Wisstrieb aufmerksam auf die Mehrdeutigkeit des Textes. Zunächst lässt sich damit die kleine Erzählung in einen größeren Zusammenhang rücken, nämlich keinen geringeren als den der Schöpfungsgeschichte. Bereits in der Begierde Evas, vom Baum der Erkenntnis zu essen, verschränkt und durchkreuzt sich die Erkenntnis dessen, was gut und böse sei, mit der Erkenntnis der sexuellen Differenz. Ihr Wisstrieb ist Ursprung der wechselseitigen Wahrnehmung der Andersheit und jeweiligen Unvollständigkeit der Körper. Von allem Anfang an, könnte man sagen, erscheint der „Wißtrieb“ oder die „Lust zu wissen“ als faszinierend ebenso wie schuldhaft und wird begleitet von der Androhung und Exekution härtester Strafen, der Verbannung aus dem Paradies in der Bibel und in der Märchenlegende. Das Paradies im Märchen ist ein seltsamer Ort, trotz Englein und Zuckerbrot ein trostloser und wohl auch ein gottloser. Der Herrscher des Himmels und seine Apostel erscheinen in ihren Zellen, die Marienkind nacheinander öffnet, nicht nur ein-, sondern auch ausgeschlossen, stumme Gefangene (?) einer institutionellen Hierarchie, in der Maria über die Schlüsselgewalt verfügt. Die Erzeugung von suspense bei der nur zögernd vollzogenen Öffnung der 13. Tür ist zweifellos eine besondere Leistung der Autoren oder Redaktoren, in der erzählte Zeit und Erzählzeit in eins gesetzt erscheinen und die Leser auf diese Weise die Erfahrung von Versuchung und Zaudern mit vollziehen und deren konstitutiver Ambivalenz
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ausgesetzt sind. Denn es geht hier ja nicht um ein eindeutiges Verbot, das übertreten wird, sondern um eine Übertretung, die nicht nur ermöglicht, sondern zu der Marienkind mit Aushändigung des Schlüssels sogar ermutigt wird. Das Unbehagen an der Rolle Marias in diesem Text wird andernorts erklärt mit Verweis auf die Gemengelage motivischer Traditionen – eine „schwarze“ Jungfrau oder Hexe tritt auf in verwandten Texten – oder entschärft mit Versuchen theologisch-therapeutischer Umbesetzungen, die ihre Aufgabe darin sehen, die böse in eine gute Maria umzudeuten (Drewermann u. Neuhaus, 1984). Mir erscheint hingegen diese Maria als Handlangerin der Himmelsmacht für den Erzählverlauf ebenso plausibel wie übertragbar auf meine Nachkriegslektüre, wenn ich die Schlüsselszene – im doppelten Sinne – in solcher Ambivalenz lese als Ausschluss und Einschluss eines angstbesetzten, bedrängenden Wissens von Geschichten im Nachkrieg, deren Spuren unübersehbar und bedrohlich in jeden Alltag hineinreichten und die, wie der 13. Schlüssel, zu Nachfragen und Nachforschungen ebenso aufzufordern wie sie ihnen zugleich entzogen schienen. Wenn Maria dem ihr anvertrauten Marienkind den Schlüssel gibt und seinen Gebrauch verbietet, reizt sie dessen Wissbegierde, um es daraufhin dieser Begierde zu zeihen. Es gibt, legt die Szene nahe, ein Wissen, über das es nichts wissen soll, ein verbotenes, das ungenannt bleibt und sanktioniert wird. Im Verbot Marias ebenso wie in der Lüge Marienkinds bleibt jedoch im Erzählverlauf dieses Wissen erhalten: als Ahnung von Versagung und Blockierung solchen Wissens. Aber nach der Logik von Märchen braucht auch in „Marienkind“ eine Frau nicht Wissen, sondern einen Mann, und der König würde die Geschichte wie in vielen anderen zu einem frühen Abschluss bringen, wären da nicht die Wiederkehr Marias und das hartnäckige Insistieren von Marienkind, die nun längst kein Kind mehr ist, auf ihrer Lüge, sie habe die Tür nicht geöffnet. Diese Lüge und nicht, was sie gesehen haben mag, rückt ins Zentrum des Vergehens, scheint
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ihre „Schuld“ auszumachen, aber in der sehr gerafften Darstellung der Ereignisse bis hin zur Gerichtsverhandlung werden Anklage und Schuld noch einmal verschoben hin zum Vorwurf der Menschenfresserei, der der Kinderentführung durch Maria geschuldet ist, den das Volk erhebt und das Gericht übernimmt. Die Formulierung „schuldig sprechen“, der Titel meines Textes, ist transitiv und intransitiv lesbar und nimmt die Ambivalenz oder eher Undeutlichkeit von Schuld in der Erzählung auf. Zunächst ist „jemanden schuldig sprechen“ vor Gericht ein auf Eindeutigkeit zielendes Sprechen, das im Vollzug die beabsichtigte Wirkung zeitigt, sofern die institutionellen Bedingungen solcher Wirkung sichergestellt sind. Diese Bedingungen gelten in der Erzählung jedoch nicht. Da Marienkind stumm ist, wird sie durch Sprechen nicht wahrnehmbar, sie ist außerstande, sich in eigener Sache zu verteidigen. Sie wird nicht nach den Regeln der Rechtsprechung, sondern der Inquisition verurteilt, die die Schuld im Sinne der Anklage keiner Überprüfung unterzieht und deren Ziel und Ergebnis das Geständnis der schuldig Gesprochenen zu sein hat, das Marienkind auf dem Scheiterhaufen ablegt, der, wie wir wissen, religions- und rechtsgeschichtlich ein in nicht nur metaphorischen Varianten erprobtes Mittel der Wahrheitsfindung darstellt. Das „Ja, Maria, ich habe es getan“ taugt daher zwar als Geständnis denen, die die Protagonistin schuldig sprechen, und es taugt vielleicht Gott; sie ist gerettet wie Gretchen im Faust, durch Gnade. Aber Gnade ist eben nicht Recht und Marienkind weder schuld- noch rechtsfähiges Subjekt und an der Urteilsfindung nicht beteiligt. „Schuldig“ im intransitiven Sinn bleibt jedes Sprechen, weil die Wahrheit nicht zur Sprache kommen kann, weil sich im Sprechen ein bereits immer schon vorgängig artikuliertes Wissen äußert, das über das Wissen und das Sprechen des Subjekts von sich selbst hinausgeht, nach Ausdruck drängt und scheitert zugleich, etwas schuldig bleibt. Aber diese abs-
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Schuldig Sprechen
trakte Einsicht enthebt uns nicht der Nachfrage nach der Schuld der schuldig Sprechenden in dieser Erzählung. Was an Schuld sie erst leugnet, dann unter Folter preisgibt, ist lediglich, dass sie Marias Verbot übertreten, den Schlüssel benutzt, die Tür geöffnet hat. Damit bleibt sie ihre Schuld schuldig noch auf dem Scheiterhaufen, denn sie gesteht nur diese Regelverletzung, die mit dem, was sie an „Lust zu wissen“ einmal dazu bewogen haben mag, kaum noch in Verbindung zu bringen ist oder gebracht wird. Mit der „Begnadigung“ wird denn auch diese Verbindung zwischen dem, was sie wissen wollte, der Tat, der Strafe und schließlich der Rettung gekappt: Nicht Wahrheit, nicht Recht, nicht Unschuld oder vielleicht eher Nichtschuld, sondern ein Akt der Willkür, wenngleich höchster Instanz, gewährt ihr, weiterzuleben. Wie es sich für ein Märchen gehört, scheint auch hier zunächst alles gut, wenn das Ende gut ist. Aber jenseits dieses Endes, um es etwas paradox zu fassen, bleibt Marienkind auch im Akt der Gnade schuldig. Diese Gnade nämlich verhindert, dass sie das, was sie gesehen hat, sagen oder erzählen könnte, als sei die „Schuld“ nicht in dem begründet, was sie gesehen haben mag, sondern darin, dass sie die Autorität der Verbotsinstanz missachtet und damit verstoßen hat gegen die Regeln der Institution. Was also ist ihre Schuld? Die Lüge? Das Öffnen der Tür? Der Blick auf die Dreieinigkeit? Menschenfresserei? Oder was? Diese Frage und meine erinnerte und aktuelle Irritation über die von der Unmäßigkeit der Strafen indizierte Unmäßigkeit der Schuld haben mich bewogen, aus der Erzählung und damit auch zunächst aus der Logik des Märchens auszuscheren. Eine vielleicht nicht zureichend begründete, aber doch begründbare Vermutung über eine Schuld, die den Strafen entspricht, verdankt sich einem Umweg über einen ganz anderen Text: Rückblickend auf seine Schulzeit erzählt Hans Blumenberg von einem aufschlussreichen Missverständnis des in der Aula seines Lübecker Gymnasiums angebrachten
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Bibelspruchs „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“. Er habe diesen Spruch als Genetivus subiectivus statt obiectivus gelesen und interpretiert als Furcht Gottes vor den Menschen, nicht umgekehrt, und habe entgegen der grammatischen Belehrung von dieser seiner Interpretation auch später nicht abrücken wollen, sie vielmehr zur Grundlage seines theologischen Denkens gemacht. Denn was sei angesichts der Folgen für die Schöpfung und für die Geschichte der Menschheit einleuchtender, als solche Furcht vor denen, die Gott zu seinem Ebenbild und damit zum „gefährlichen Mitwisser der Erkenntnis von Gut und Böse“ gemacht hatte? Dieser Gott musste „auch als ‚Herr‘ auf Furcht vor seiner Kreatur gefaßt sein und das Instrument der Weisheit zu gebrauchen sich abfinden“ (Blumenberg, 1988, S. 30). Es ist hier nicht der Ort, die Weiterungen dieser Auslegung für Blumenbergs „Theologie“ zu erörtern, wohl aber deren Übertragbarkeit auf „Marienkind“. Gleich zu Beginn des Erzählten verschwindet, was zunächst als Begründung von Verbot, Schuld und Strafe herhalten muss, das, was sie gesehen hat – „die Dreieinigkeit im Feuer und Glanz“ hinter der 13. Tür wird nicht mehr erwähnt. Wäre nicht denkbar, dass sie ganz anderes oder mehr gesehen hat, nämlich: die „Furcht des Herrn“? War sie, wie Eva im Paradies, dem Schock der Erkenntnis von Gut und Böse und der Furcht, ihrer eigenen und der Gottes vor der Furchtbarkeit seines Ebenbilds, ausgesetzt? Ist es diese Erkenntnis, die die Strafen begründet, deren Bekenntnis es jedoch aus Sicht der Institutionen von Recht und Religion mit dem Verfahren des „Schuldigsprechens“ ebenso wie mit der Begnadigung unbedingt zu verhindern gilt? Das Märchen erzählt dieses nicht, mir aber erscheint diese Deutung oder Projektion für das Verständnis von „Marienkind“ im Horizont meiner heutigen Lektüre geradezu zwingend. Entgegen der frömmelnd-moralisierenden Absicht des Erzählten nämlich wird diese Deutung im Prozess des Erzählens durchaus nahegelegt. Zunächst wird die Leserin
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verstrickt in die Verführung des inkriminierten Verbotenen, der „Lust zu wissen“. In deren Folge agiert – nicht argumentiert – der Text die sich steigernde Maßlosigkeit und Unverhältnismäßigkeit dessen, was Marienkind gedroht und angetan wird, mit dem rhetorischen Mittel der Reihung von katastrophischen Ereignissen. Jeder Schicksalsschlag ebenso wie jede Strafe sind bereits für sich genommen furchtbar: Das Kind hungert, wird von seinen Eltern getrennt, kommt in den Himmel – ist also tot? –, wird zum Lügen verleitet und dafür verstoßen und zum Verstummen gebracht, nackt in Dornen gefangen gehalten, ob Marienkind König und Kinder will, kann sie nicht äußern, ihre Kinder werden von Maria entführt, um sie zum Geständnis zu zwingen, auch diese Kinder sind zwischenzeitlich „im Himmel“, sie wird öffentlich verleumdet und entehrt, zum Tod durch Verbrennen verurteilt, es sind erst die bereits nach ihr züngelnden Flammen, Instrument der Folterer, die ihr ein Geständnis abringen. Selbst bei noch so ausschweifenden Vorstellungen von ihrer Schuld erscheinen diese Strafen unverhältnismäßig, ihre Maßlosigkeit drängt sich dem Leser auf, nicht in Worten, sondern als ästhetische Erfahrung. Sie strapazieren sein Verständnis, überfordern sein Mitgefühl, provozieren Abwehr und Ablehnung, um sie sich vom Leib zu halten. So gelesen, erscheinen diese Strafen nicht, wie das Märchen behauptet und erzählt, gerecht oder rechtmäßig. Jede für sich und alle zusammen genommen verweisen im Erzählen, so meine Behauptung, auf ganz anderes, als erzählt wird. Sie verweisen auf die Furchtbarkeit dessen, was im Namen von Religion, Recht und Macht Menschen angetan wird und Menschen möglich ist. Diese Furchtbarkeit offenbart sich der Protagonistin in der Furcht des Herrn vor seinem Ebenbild. Dass sie dieses gesehen hat und weiß und dass sie es nicht sagt oder sagen kann, ihre Komplizenschaft im Wissen ebenso wie im Verschweigen, das ist – vielleicht – ihre Schuld. Diese Schuld entzieht sich dem, was Marienkind im Märchen oder was das Märchen erzählen könnte. Sie wird bald
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Sabine Offe
nicht mehr gewusst haben, was es gewesen war, das sie hatte sehen wollen, und was sie gesehen hatte. Aber die Spur des Verbotenen und Vergessenen bleibt erhalten im Glanz des goldenen Fingers: eine Spur der Ungeheuerlichkeit des Nichterzählten. Das inzwischen sehr brüchige Exemplar des Buches, aus dem mir vorgelesen wurde und in dem ich dieses Märchen jetzt wieder gelesen habe, ist der erste Band der dreibändigen Ausgabe von Grimms Märchen, die 1936 erschienen ist. Das Buch möge, so das Vorwort des Verlags in einer zeitgemäß beflissenen Formulierung, „in die weitesten Kreise dringen und Allgemeingut unseres hoffentlich bald wieder erstarkten deutschen Volkes werden“. Auf der ersten Seite eine Widmung: „Eva Sophia Barbara zum 23. August 1936“. Das Mädchen mit den schönen und hoffnungsvollen Namen starb 1938, noch nicht zwei Jahre alt, da war ihr Vater, der die Widmung geschrieben hatte, bereits seit einem halben Jahr tot. Beide starben an schweren Krankheiten, aus der Nachkriegsperspektive vielleicht gnädige und gleichsam natürliche Todesarten. Sie waren Tochter und Mann der Frau, die später meine Mutter wurde. Deren Schwester war bereits mit ihrem Mann, einem jüdischen Kommunisten, in die Niederlande emigriert, wo sie sich sicher glaubten. Erst während ich diese abschließenden Sätze schreibe, ist mir aufgegangen, dass dieses Buch zu den wenigen und also ihr wichtigsten Dingen gehörte, die meine Mutter beim Luftangriff im Juli 1943 aus ihrer Hamburger Wohnung im Zentrum der „Operation Gomorrha“ retten konnte. Ich habe dieses Märchen nicht gewählt, es ist mir zugestoßen. Wie andere muss es mir vorgelesen worden sein, aber ich kann seine Wirkung auf das Kind, das ich war, nur erschließen aus seiner nachträglichen Wirkung auf mich viele Jahre später, bei der Suche nach Wissens- und Wahrnehmungsweisen von Schuld und Schuldgefühlen, nach Erinnerungen, zu denen kein Weg zurückführt und die doch danach drängen,
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Schuldig Sprechen
erzählt zu werden. Meine Lektüre von „Marienkind“ ist ein Versuch, Erinnerungen an Nachkriegskindheit erzählbar zu machen, sie jenseits der individuellen Familiengeschichten zu verdichten und zu verallgemeinern. Lektüren, Geschichte und Familiengeschichten verknäulen sich in Erinnerungen zu vieldeutigen Botschaften von Schuld und Strafe, von Gefahr und Unglück, und flüchtige Einsichten wechseln mit wiederkehrender Benommenheit.
Literatur Blumenberg, H. (1988). Matthäuspassion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Drewermann, E., Neuhaus, I. (1984). Marienkind. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet. Olten: Walter. Grimm, J., Grimm, W. (1819/1936). Marienkind. In Kinder und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Gesamtausgabe mit 447 Zeichnungen von Otto Ubbelohde (S. 10–17). Marburg: N. G. Elwert’sche Verlagsbuchhandlung. Härtel, I. (2003). Überlegungen zum Drang nach Erkenntnis. Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse, 18 (57/58), 59–77.
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Insa Härtel
Ans Licht: Sally Manns „Venus after School“
A
nhand der Fotoarbeit „Venus after School“ (1992)1 von Sally Mann möchte ich ernst machen mit einem von Elfriede Löchel und mir an anderer Stelle formulierten Anliegen: in Forschungsprozessen gerade auch „der Konfrontation mit dem Nicht-Verstehbaren, Nicht-Wissbaren“ Rechnung zu tragen und Denk-Platz einzuräumen (Härtel u. Löchel, 2006, S. 9). Zunächst ist festzuhalten, dass Manns Anfang der 1990er Jahre veröffentlichten Fotografien ihrer eigenen vorpubertären, teils nackt gezeigten Kinder Emmett, Jessie und Virginia – so in der Serie „Immediate Family“ (1984–1991, veröff. 1992) – umstritten waren und sind. „Venus after School“ gehört nicht direkt in diese Reihe, stammt aber aus einer ähnlichen Zeit. Die von Mann verfertigten Fotografien sind ebenso als wahrhaftige Bilder, als Zeugnisse kindlicher Vulnerabilität, (A-)Sexualität wie auch als Ausbeutung, Missbrauch gelesen bzw. in den Kontext von Kinderpornografie gerückt worden: „The reception of Mann’s photographs plays out the whole spectrum of fantasies about the child and childhood“ (Blum, 1995, S. 19 f.). Mann selbst beschreibt viele der Bilder aus „Immediate Family“ als intim oder vertraut; „some are fictions and some are fantastic, but most are of ordinary 1 Siehe etwa unter: http://www.artnet.de/artwork/426188868/ 357/sally-mann-venus-after-school.html (Zugriff am 26. 8. 2012).
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Ans Licht: Sally Manns „Venus after School“
things every mother has seen – a wet bed, a bloody nose, candy cigarettes […]“ (Mann, 1992/2010, o. S.). Sexuelle Bezüge werden hingegen eher verneint: „I don’t think of my children, and I don’t think anyone else should think of them, with any sexual thoughts“ (Mann, in Woodward, 1992). Und „jede Verneinung läßt das von ihr Verneinte sprachlich aufscheinen“ (Löchel, 2000, S. 91). Natürlich sind die Fotoarbeiten innerhalb der Zeit zu verorten, die sie hervorgebracht hat. Für die USA des späten 20. Jahrhunderts bedeutet das nicht nur eine starke Sichtbarkeit fotografischer Körperdarstellungen in ihrer Bandbreite (vgl. Henning, 2001, S. 220), sondern auch verstärkte Kinderpornografie- und Missbrauchsdebatten – ebenso wie ein „contest between the New Right and liberalism to win hegemonic control of the family“ (Edge u. Baylis, 2004, S. 81). Vor diesem Hintergrund sollen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen nun die in „Venus after School“ mitthematisierten medialen Aspekte und die in ihr liegenden Potenziale und Absicherungsmanöver stehen.
Verloren Das „Time Magazine“ hat Sally Mann als „America’s Best Photographer“ bezeichnet (2001). Der potenziell anstößige Inhalt wird sozusagen „in prints of extraordinary formal beauty and technical expertise“ transportiert (Weinberg, 2001, S. 68). Betont wird u. a. Manns meisterhafte Fertigkeit hinsichtlich der seit Mitte der 1980er Jahre von ihr verwendeten 100 Jahre alten Großbildkamera: „Her technical skill – in composition, exposure, and printing technique – is […] masterful, allowing the 8 x 10-inch view camera to render its object in precise detail with an exquisite richness of tone“ (Ehrhart, 1994, S. 64). Und ist nach Sontag der „Verzicht auf raffinierte Ausrüstung“ für Fotografen nicht selten fast schon „zur Ehrensache“ geworden, so scheint sich neben dem „Kult
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Insa Härtel
der Zukunft“ auch ein „Wunsch nach Rückkehr in eine stärker vom handwerklichen Können bestimmte, reinere Vergangenheit“ zu zeigen – „in eine Zeit, da die Bilder noch etwas Handgemachtes, eine Aura hatten“ (Sontag, 1977/2011, S. 120): Spur des Lichts, Spur einer Wahrheit … „wie ein kostbares Fossil der Mediengeschichte“ (Geimer, 2011, z. T. mit Bezug auf Wyss, S. 111). Die scheinbar rückwärtsgewandte Machart befördert Nostalgien und ent-fernt das Skandalöse des Bildes mit der Zeit. Die Fotografie selbst – als elegische und „von Untergangsstimmung überschattete Kunst“ – kann nach Sontag als nostalgiefördernd gelten (2011, S. 21). Der fotografisch erwirkte Kompromiss aus Tod und Bewahrung bzw. der – in einer sich verändernden Welt – unveränderte Erhalt eines abgeschnittenen Stücks Raum und Zeit (vgl. Metz, 1985, S. 85) trifft in „Venus after School“ genau auf die verlorene Zeit der Kindheit. Nicht zufällig hat gerade die Fotografie als prägendes Vehikel für die Vision kindlicher Unschuld fungiert (vgl. Friedlander, 2008, S. 94), indem sie das im 18. Jahrhundert entstehende romantische Kindheitsideal verbreitet und naturalisiert,2 demgemäß das Kind in gewisser Weise selbst als Verneinung fungiert: als das, was der rational-aufgeklärte und kultivierte Erwachsene nicht ist, frei von, noch nicht belastet mit etc. (Kincaid, 1998, S. 15). Dem Medium Fotografie haftet der Mythos authentischer Wiedergabe an, und genau die Aussicht auf einen wahren und unverfälscht-„unschuldigen“ Zugang (vgl. Friedlander, 2008, S. 94) trägt dann zur fotografischen Wirkmacht bei. Nichtsdestoweniger steht das Fotografieren gleich schon in einer Spannung: Mit Sontag gedacht, deutet gerade der Umstand, dass Fotografien oftmals für ihre Unvoreingenommenheit gepriesen werden, darauf, dass sie genau dies 2 „Paintings and illustrations of children allowed us to really see perfect innocence; commercial photographs do the same thing one degree more convincingly“ (Higonnet, 1998, S. 86).
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Ans Licht: Sally Manns „Venus after School“
meist natürlich nicht sind (vgl. Sontag, 1977/2011, S. 85). Der modernen Vorstellung „kindlicher Unschuld“ ist wiederum eine vergleichbare Dynamik eigen: Wie die Fotografie ihre Unschuld (etwa durch Vorstellungen von Arrangement und täuschender Manipulation) vielversprechend unterläuft, so „lauert“ hinter der Vorstellung des unschuldigen Kindes gleichsam ein impliziter Glaube an dessen sexuelle Wirkmächtigkeit (Friedlander, 2008, S. 94 f.). Und wenn die Sonderung kindlicher und erwachsener Sphären historisch gerade auch über die „Linie des Sexuellen“ (vgl. Friedlander, 2008, S. 97) verläuft, dann hat die Beteuerung, Kindheit und Sexualität seien einander gegensätzlich, faktisch ihre Verflechtung garantiert (Blaine, nach Friedlander, 2008, S. 97). Dabei wird kindliche Unschuld bzw. Reinheit – auf verleugnende Weise – längstens selbst erotisiert (vgl. Kincaid, z. B. 1998). Solches scheint im Bild zulässig, solange es vorzugsweise nicht als sexuelle Darbietung verstanden wird. Wie dies offenbar auch Sally Mann angesichts ihrer Bilder probiert.
Bildlich Der auf einer Chaiselongue lang gestreckte, leicht in sich gedrehte nackte Körper eines jungen Mädchens bestimmt die Innenräumlichkeit von „Venus after School“. Das Mädchen mit seitlich gescheitelten dunkeln Haaren hat ein Kissen im Nacken, die rechte Schulter ist hochgezogen, die Unterschenkel überschlagen, es blickt den Betrachtenden direkt an: Als wäre nicht nur dieses Kind als reizvolles Objekt, sondern auch der Betrachtende als Subjekt dieser Begehrlichkeit adressiert. Die rechte Hand liegt neben dem Oberkörper auf der hellen Decke, auf der der Körper ruht; die linke, noch auffälliger beringte Hand, oberhalb deren Gelenks sich etwa der Bildmittelpunkt befindet, ist auf dem linken oberen Schenkel drapiert und bedeckt in Andeutung einer PudicaGeste das Geschlecht bzw. zeigt darauf; ein Gestus, der nicht
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Insa Härtel
nur den Eindruck des wie „hingegossen“ wirkenden Körpers irritiert, sondern auch eine „Zielgerichtetheit“, eine Ausrichtung initiiert. Man kann wissen: Das Foto gibt Manns zu diesem Zeitpunkt etwa zehnjährige Tochter Jessie im familiär-häuslichen Ambiente zu sehen, stilvoll und weiträumig, in harmonischausgewogener Komposition. Links im Bildvordergrund finden sich einige Früchte und ein Stapel aus mehreren Büchern bzw. Magazinen. Den Übergang zum Bildhintergrund bildet links u. a. eine Art Sprossen-Tür. Vor dieser ist auf einem runden Tischchen ein Krug mit einem herabhängenden Blütenzweig platziert, der gemeinsam mit dem Obst einen knospenden bzw. bereits reifen Status des Mädchenkörpers suggeriert. Im Bild rechts ergibt sich ein „Fensterblick“: Der Bild-Raum öffnet sich auf einen – durch Zargen wie zu einem Bild im Bild gerahmten – angrenzenden Wohnbereich, der durch eine weiter zu erahnende Öffnung von hinten mit Licht durchströmt wird. Auf der Schwelle zwischen den beiden Räumen hockt ein kleineres Mädchen mit langgelockten Haaren in hellem Kleid auf dem Boden (wohl die 1984 geborene Virginia) – eine „Schwellenfigur“, die nicht nur potenziell die familiäre Einbettung der Szene, sondern in ihrer Abgewandtheit auch die Trennung der räumlichen Bereiche akzentuiert: eine Abgewandtheit vom Betrachtenden und auch zwischen den Mädchen, die jeweils – wie verbindungslos – nicht zu wissen scheinen, was sich hinter ihrem Rücken abspielt. Was wiederum die damit wie unbeobachtete „Intimität“ zwischen Nachschul-Venus und Betrachtendem imaginär verstärkt. Das Vordergrundgeschehen wird wie ein Zwischenraum zwischen diesem und der Hintergrundszene (als Bild) installiert. In dem hinten sichtbar werdenden Wohnbereich ist ein von einer Reihe leerer Stühle umgebener länglicher Tisch angeordnet, hinter dem sich an der Wand eine Anrichte findet, oberhalb derer – wie ein Bild innerhalb des „Fensterblicks“ – ein Landschaftsgemälde hängt. Es ergibt sich insgesamt eine
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Ans Licht: Sally Manns „Venus after School“
Art Stafflung von Bildhaftigkeit, ein System aus Einfassungen, Rahmungen und Rasterungen, und auch „Natur“ ist dabei nicht anders als bildhaft zu haben. Die unbesetzten Stühle stehen eher unregelmäßig herum, als ob zuvor etwas stattgefunden hat; sie werden wie zu Spuren einer vergangenen Anwesenheit. Der Betrachtende wirkt wie „der verspätete Gast, der von all dem, was da einst vorging, nichts weiß und nichts versteht“, wie Morgenthaler über den Analytiker schreibt (1978/2005, S. 90). Er wird in eine rätselhafte Geschichte gezogen, die das Foto zu erzählen verheißt. Deutlich wird auch: „[T]he photo may not tell the whole truth“ (O’Toole, 1998, S. 243 f.). Denn es selbst liefert grundsätzlich keinen Beweis für das, was vor seinem oder für sein Zustandekommen passiert. Wenn hier das Foto angedeutet zeigt, dass es etwas nicht zeigt, dann verweist dies als „Spur“ wiederum auf eine wesentliche Bewegung der Fotografie; es ist ein Gespür für das, was abgelaufen oder abwesend ist, das „Venus after School“ hier selbst ins Bild zu setzen scheint: „a general sense of absence“ (O’Toole, 1998, S. 244). „Venus after School“ gibt sich nicht nur durch Motivik bzw. inhärente Rahmungen und zeitwidrige Technik als Bild zu sehen, sondern auch durch die sich aufdrängenden kunsthistorischen „Vorbilder“: Denn ein weiteres Charakteristikum von „Venus after School“ ist dessen Zitathaftigkeit. Das Foto stellt deutliche Bezüge zu Tizians „Venus von Urbino“ (1538) und Manets „Olympia“ (1863) her (worauf ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann). Der Zeigegestus der Hand wird dann auch zu einem Hinweis darauf, dass das Foto auf andere Bilder der „Venus“ zeigt. Die Bezugnahme auf kunstgeschichtliche Traditionen – von der die abgelichtete Tochter kaum wissen kann3 – lässt sich dabei nicht nur als Einschreibung der Fotografin in die Geschichte der Kunst, sondern auch als Versuch der Übertragung von etwas Gesichertem lesen. 3 Auf die Frage von Tochter- und Mutterschaft kann ich an dieser Stelle leider nicht eingehen.
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Insa Härtel
Die fotografierte nackte Gestalt erhält quasi „eine ‚kultivierte‘ Pose“, als werde ein „durch Tradition gesicherter ‚Wert‘“ auf sie übertragen (in anderem Kontext Peters, 1997, S. 43 f.). So vermag die angespielte „göttliche Zeitlosigkeit“ oder „klassische Haltung“ das Motiv zunächst ent-skandalisierend zu legitimieren. Zugleich sind die Vor-Bilder, auf die „Venus after School“ rekurriert, keineswegs „unschuldig“ – und die Vorstellung der Göttin der Liebe und Schönheit (bei Manet auch die Prostituierte) ist hier prekär einmal mehr auf ein Kind übertragen: after school.
Licht Substanziell bleibt das Licht im Bildhintergrundausschnitt hinter der anwesenden Venus und noch hinter der mit den Stühlen angezeigten Abwesenheit. Öffnet Letztere das Foto auf das, was in ihm nicht sichtbar erscheint, so führt dieses Licht nicht mehr zu „etwas“ bildräumlich Repräsentationalem, vielmehr zieht es den Blick in das, was flächig-formlos, bildungewiss und als Licht zugleich „Rohstoff“ der Fotografie als Licht-Schrift ist. Gerade dort, wo das Foto also zu Licht wird und sich das Sichtbare geradezu aufzulösen scheint, entsteht eine Art geheimnisvolle Undurchschaubarkeit: erregend rätselhaft diesseits aller Anstößigkeit. Das Foto „Venus after School“ gewährt dann durch seine immer wieder mitthematisierte Bildhaftigkeit hindurch Zugang zu einem Genießen diesseits präsentierter Inhalte und Bedeutungen: durch eine Öffnung, die in eine gewisse Blindheit führt und gerade dadurch über sich als Bild hinausweist. „Venus after School“ berührt dann nicht nur die mit dem fotografischen Medium verschränkte „verlorene“ Kindheit und auch nicht allein die Frage von ausgestellter kindlicher Nacktheit als Unschuld oder als Spur eines potenziellen Missbrauchs. Quasi im Rücken dieser Figur kommt, so die These, potenziell die Dichte eines infantilen Sexuellen zum Tragen: mit
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Ans Licht: Sally Manns „Venus after School“
Laplanche das „Herz des Unbewussten“ (2004, S. 29). Im Sinne allgemeiner Verführungstheorie führt der Versuch, die mit der unbewussten kindlichen Sexualität transportierte rätselhafte Botschaft zu übersetzen, notwendig auch zu Misslingen und Verdrängung. Schließlich wird „the primordial unconscious, and thus sexuality, in the child“ (Angelides, 2003, S. 93) konstituiert, und die Abwehr wird geradezu zu einem Charakteristikum kindlicher Sexualität: „die Tatsache nämlich, dass der Erwachsenen [sic] sie nicht sehen will, vielleicht […] gerade, weil sie von ihm stammt“ (Laplanche, 2004, S. 20). Mit Angelides lässt sich sagen, dass sich in Zeiten, welche Kinder vornehmlich als unschuldig figurieren, die angenommene intrapsychische Verdrängung kindlicher Sexualität durch eine kulturelle Verdrängung gleichsam verdoppelt (vgl. Angelides, 2003, S. 100). So ließe sich „Venus after School“ in der Betrachtung potenziell von hinten auf ein abgewehrtes infantiles Sexuelles hin öffnen – als Denkfigur. Umgekehrt wäre das Foto seinerseits wie eine schichtweise „Übersetzung“ dieses rätselhaft Nicht-Repräsentierten lesbar: Übersetzung in eine im Hintergrund angezeigte Abwesenheit als „Vorgeschichte“ des nackten Geschehens im Vordergrund, Übersetzung in Rahmung und arrangierte Bildhaftigkeit. Oder anders formuliert: Der lichte Überschuss „übersetzt“ sich dann quasi in die Vorstellung von etwas Vergangen-Verlorenem, um schließlich bei der vordergründig angezeigten Dichotomie von Sexualisierung oder Unschuld zu landen. Es kommt auch auf die – in der Lektüre erneut erzeugten – „Leerstellen“, das Nichtgeschriebene, Stumme an, so Löchel (2008, S. 52). Das Anliegen, auch genau das, was in dem „Gesamtzusammenhang“ nicht aufgeht, (an)zuerkennen (vgl. Härtel u. Löchel, 2006, S. 9), stellt sich am Ende wie eine nachträgliche Richtschnur meiner Bildlektüre heraus: als Anstrengung eines zweiten Blicks auf dieses Foto, das auf den ersten, wie gesehen, potenziell abstoßend erscheint. Und: Vermag jener zweite Blick etwas anderes ans Licht zu befördern, so setzt er den ers-
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Insa Härtel
ten keineswegs einfach aus. Die blickundurchdringliche Öffnung bestimmt das Foto nicht: Sie wird nicht nur durch die „Übersetzungen“, ja vor-eingenommene Absicherungen, traditionelle „Einbettungen“, Auratisierungen und Aufladungen dominiert, sondern das Licht erscheint im Bild selbst wieder gerahmt, von den Einfassungen bildlich umschlossen.4 Eine erneute Schließung, auf die die Foto-Venus so nachdrücklich zeigt: Die bedeckende Hand verkörpert dann selbst das Foto in seiner Tendenz zum hergebrachten Verschluss dessen, was in ihm potenziell an Erregung aufscheint.
Literatur Angelides, St. (2003). Historicizing affect, psychoanalyzing history: Pedophilia and the discourse of child sexuality. Journal of Homosexuality, 46 (1/2), 79–109. Blum, V. L. (1995). Hide and seek: The child between psychoanalysis and fiction. Urbana and Chicago: University of Illinois Press. Edge, S., Baylis, G. (2004). Photographing Children: the Works of Tierney Gearon and Sally Mann. Zit. n. http://beloitphoto.files. wordpress.com/2009/04/050075.pdf (Zugriff am 23. 8. 2012). Ehrhart, S. (1994). Sally Mann’s Looking-Glass House. In P. Jones (Ed.), Tracing cultures: Art history, criticism, critical fiction (pp. 53–69). New York: Whitney Museum of American Art. Friedlander, J. (2008). Feminine look: Sexuation, spectatorship, subversion. Albany, NY: State University of New York Press. Geimer, P. (2011). Theorien der Fotografie zur Einführung (3., verb. Aufl.). Hamburg: Junius. Härtel, I., Löchel, E. (2006). Vorwort. In E. Löchel, I. Härtel (Hrsg.), Verwicklungen. Psychoanalyse und Wissenschaft (S. 5–11). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Henning, M. (2001). The subject as object: Photography and the human body. In L. Wells (Ed.), Photography: A critical introduction (2nd ed., pp. 217–250). London, New York: Routledge. Higonnet, A. (1998). Pictures of innocence: The history and crisis of ideal childhood. London: Thames and Hudson. 4
Und dadurch letztlich wiederum konstituiert.
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Ans Licht: Sally Manns „Venus after School“ Higonnet, A. (2009). Pretty babies. Zugriff am 24. 8. 2012 unter http:// www.eurozine.com/pdf/2009–03–24-higonnet-en.pdf Kincaid, J. R. (1998). Erotic innocence. The culture of child molesting. Durham, London: Duke University Press. Laplanche, J. (2004). Ausgehend von der anthropologischen Grundsituation … In L. Bayer, I. Quindeau (Hrsg.), Die unbewusste Botschaft der Verführung. Interdisziplinäre Studien zur Verführungstheorie Jean Laplanches (S. 17–30). Gießen: Psychosozial-Verlag. Löchel, E. (2000). Symbolisierung und Verneinung. In E. Löchel (Hrsg.), Aggression, Symbolisierung, Geschlecht (S. 85–109). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Löchel, E. (2008). Spuren lesen und schreiben – Zur „Sprache des Abwesenden“ bei Freud. In F. Dirkopf, I. Härtel, Ch. Kirchhoff, L. Lippmann, K. Rothe (Hrsg.), Aktualität der Anfänge: Freuds Briefe an Fließ vom 6.12.1896. Bielefeld: Transcript. Mann, S. (1992/2010). Immediate family (Reprint). London: Phaidon. Metz, Ch. (1985). Photography and fetish. October, 34, 81–90. Mohr, R. D. (2004). The Pedophilia of Everyday Life. In St. Bruhm, N. Hurkley (Ed.), Curiouser: On the queerness of children (pp. 17–30). Minneapolis: University of Minnesota Press. Morgenthaler, F. (1978/2005). Technik. Zur Dialektik der psychoanalytischen Praxis. Gießen: Psychosozial-Verlag. O’Toole, L. (1998). Pornocopia. Porn, sex, technology and desire. London: Serpent’s Tail. Peters, U. (1997). Glückliche Haut – leidende Haut. Themen der Aktdarstellung seit der Renaissance. In M. Köhler, G. Barche (Hrsg.), Das Aktfoto. Ansichten vom Körper im fotografischen Zeitalter. Ästhetik, Geschichte, Ideologie Ästhetik, Geschichte, Ideologie (S. 33–55). München: Bucher. Sontag, S. (1977/2011). Über Fotografie (20. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag. Weinberg, J. (2001). Ambition & love in modern American art. New Haven: Yale University Press. Woodward, R. B. (1992). The disturbing photography of Sally Mann, The New York Times, 27. 9. 1992. Zugriff am 24. 8. 2012 unter http:// www.nytimes.com/1992/09/27/magazine/the-disturbing-photography-of-sally-mann.html?src=pm
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Isabel Bataller Bautista
Experimentelle Psychologie und Psychoanalyse in ihrer Beziehung zur Universität Ein geschichtlicher Exkurs über Grenzen und Chancen
G
egenwärtig findet eine breite Diskussion über zwei wichtige Themen statt, die meines Erachtens mit einem geschichtlichen Rückblick ins rechte Licht gerückt werden können. Ich meine zunächst die Diskussion darüber, welchen Platz die psychoanalytische Psychotherapie als Teilwissens- und Anwendungsgebiet der Psychoanalyse an der Universität haben kann. Das zweite Thema ist die gegenwärtige Forderung des Gesundheitssystems, die psychoanalytischen Verfahren nur mit naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden zu untersuchen, um die vom Gesundheitssystem verlangten „evidenzbasierten“ Ergebnisse abgeben zu können. Wir sollten in dieser Gegenwartsdiskussion lieber einen Umweg durch die Geschichte (auch wenn diese kurz ist) unternehmen, um etwas mehr über die Gründe zu erfahren, die die Psychologie und die Psychoanalyse unterschiedliche Wege haben gehen lassen, sowie über die Entstehung der jeweiligen Forschungsmethoden. Am Ende des 19. Jahrhunderts schlug die Geburtsstunde der Psychologie (siehe Eckardt, 1979; Ash, 1980; Stäuble, 1985; Lüer, 1987).1 Diese Geburt war von Anfang an gekenn1 1879, das Jahr der Gründung des experimentellen psychologischen Labors W. Wundts in Leipzig, wird als Geburtsdatum der wissenschaftlichen Psychologie benannt.
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Experimentelle Psychologie und Psychoanalyse
zeichnet durch einen Bruch zwischen der naturwissenschaftlichen Forschung und den tatsächlich angewandten Heilmethoden. Mit diesem Bruch, dieser Aufspaltung, haben wir es heute noch zu tun. Die naturwissenschaftliche Revolution im 17. Jahrhundert richtete sich gegen den christlich-mittelalterlichen Glauben. Die feudale und christliche, bis dahin nicht hinterfragte Autorität konnte durch Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit und dank der Vernunft infrage gestellt werden. Es wurde eine Säkularisierung des Wissens erreicht – ermöglicht durch Appelle an die Fähigkeit des eigenständigen, rationalen Denkens. Der naturwissenschaftliche und der technische Fortschritt gingen mit dieser Entwicklung einher. Der Aberglaube, die Magie, die Vorurteile gegen Andersdenkende sollten überwunden und stattdessen ein eigener, vernunftgemäßer Zugang zum Wissen gewonnen werden. Wissen gebührte nicht mehr ausschließlich Gott oder der Kirche. Gymnasien und Universitäten, bis dahin in religiöser Hand, wurden zunehmend säkularisiert. Diesen Säkularisierungsprozess ermöglichte die Identifikation mit der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode.2 Seit der naturwissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert hat sich bis heute eine Weltsicht etabliert, die von einem naturwissenschaftlichen Blickwinkel geleitet ist. Für die Entwicklung der Sozial- und Geisteswissenschaften hatte dies schwerwiegende Folgen. Dass es neben der Vernunft anderes von Gewicht für das Leben und das Wissen gibt, wurde sehr bald deutlich. Schon Rousseau stellte sich früh gegen die neue absolute Herrschaft der Vernunft (1755). Kant machte auch in seinem Werk „Kritik der reinen Ver2 Die Universität in Köln, gegründet 1388 von Papst Urban VI., wurde 1794 durch die Franzosen geschlossen und erst 1919 wieder geöffnet. Die Universität in Reims, von Papst Paul III. 1548 gegründet, wurde 1793 aufgelöst. Ähnliches ereignete sich in Salzburg, Osnabrück, Kiew, Bamberg, Duisburg etc. In der ganzen Welt erfuhren die Universitäten die Säkularisierung. Bei der Neugründung verpflichteten sie sich dem naturwissenschaftlichen Ideal.
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Isabel Bataller Bautista
nunft“ auf die Begrenzung der Vernunft aufmerksam (1781).3 Eine Methode, um „dieses andere“, das jenseits der Vernunft liegt, zu durchleuchten, konnte nicht unter der Herrschaft der Naturwissenschaft4 gefunden werden. Die Experimentelle Psychologie hat sich zunächst bei ihrer wissenschaftlichen Etablierung an der Universität von dem Glauben treiben lassen, dass die Physik und die Naturwissenschaft die Basis für ein vollkommenes Wissen seien (siehe auch Mackenzie u. Mackenzie, 1974; Lüer, 1987). Dadurch wurde der bis dahin vorherrschende Parallelismus zwischen Körper und Seele als Parallelismus zwischen Ratio, Vernunft, Logik einerseits und Irrationalem, Unlogischem, Triebhaftem, Emotionalem anderseits5 fortgeführt. Zarncke, Dekan der Leipziger Universität, schrieb an Wilhelm Wundt, der 1879 in Leipzig Gründer des ersten Labors für Psychologie und Experimentelle Psychologie wurde, er wolle ihn benennen, weil er ein Philosoph und ein Experte im „Studium auf einer naturwissenschaftlichen Basis der psychologischen Probleme sei, damit diese aus der Hand der Dilettanten entfernt werden“ (Thiermann, 1980, S. 135; Bataller, 1991; Meischner u. Metge, 1985). – Erscheint dieses Denken nicht gerade jetzt wieder sehr gegenwärtig? 3 Siehe auch Hannah Arendts Analyse des kantischen Denkens (1979, S. 66 ff.). 4 Die naturwissenschaftliche Methode verlangt die genaue Messung, die klare Unterscheidung, eine logische Abfolge der Elemente und Prozesse und die Wiederholbarkeit der Ergebnisse, so wie es in der Physik üblich ist. Die Physik wurde als Idealmodell der wissenschaftlichen Forschung angesehen. 5 Statt Körper und Seele, die durch das Volk einerseits und die Geistlichen bzw. Adeligen andererseits sozial repräsentiert waren, verändert sich gesellschaftlich die Aufteilung: Jetzt sind die Rationalen und Vernünftigen die Männer und die Überlegenheit der Gebildeten, während Frauen und fremde Völker eher das Irrationale und Triebhafte übernehmen werden (siehe auch Erdheim, 1988). Das ist ein Erbe, das uns heute noch belastet.
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Die Beschränkung auf das Messbare stellt ein Wissen in Vordergrund, das unsere Sinne und nicht das Denken als Mittelpunkt hat. Hannah Arendt schieb dazu passend: „Daß der natürliche und unvermeidliche Schein untrennbar zu einer Welt der Erscheinungen gehört, der wir niemals entfliehen können, das ist vielleicht das stärkste, gewiss aber das einleuchtendste Argument gegen den naiven Positivismus, der da glaubt, einen unerschütterlichen Grund der Gewissheit gefunden zu haben, wenn er nur alle geistigen Vorgänge von der Betrachtung ausschließe und sich an die beobachtbaren Tatsachen halte, die Alltagswirklichkeit, die unseren Sinnen gegeben ist“ (1979, S. 48). Dass aber das Psychische nicht ausschließlich mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erkunden ist, war schon den frühen Experimentalpsychologen klar. Wundt hielt nur einen Bruchteil der psychischen Phänomene für experimentell erfassbar und beschäftigte sich sein Leben lang mit anderen psychologischen und philosophischen Problemen. Er schrieb neben den Arbeiten über Experimentelle Psychologie über Völkerpsychologie. Für Wundt war das Geistige eine kreative, dynamische und zielgerichtete Aktivität, die niemals nur durch die Identifikation der Elemente und Teile oder mittels einer statischen Struktur verstanden werden kann. Das ist eine ziemlich moderne Auffassung. So meinte er, dass die Psyche durch die Analyse ihrer Aktivitäten und Prozesse zu verstehen sei. Auch wenn er nur an bewusste Phänomene dachte – man nannte diese Denkrichtung „Bewusstseinspsychologie“ –, hatte er schon damals die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die psychischen Bewegungen und die sich ständig verändernden Prozesse ein sehr wichtiger Teil der Psyche seien. Es gab noch ein anderes Problem für die ersten Psychologen: die Überwindung einer naiven Vorstellung von Erkenntnis. Die reine Beobachtung und Wahrnehmung des Forschungsobjekts kann ohne Reflexion des Forschungssubjekts
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nur naiv sein. Auch wenn viele der heutigen jungen Experimentalpsychologen das vergessen haben und statistische Daten in einer Weise interpretieren, als gebe es eine direkte Verbindung zwischen Daten und deren Interpretation – ohne ihre eigenen „Vor-Urteile“, ihr „Vor-Wissen“ oder ihr „NichtWissen“ zu reflektieren. Den damaligen Experimentalpsychologen war sehr viel deutlicher als den heutigen bewusst, dass es zwischen Forschungsgegenstand und Forschungssubjekt eine gegenseitige Beeinflussung gibt. G. F. Lipps schrieb 1903 (S. 8 ff.) in seinem Buch „Grundriss der Psychophysik“ Folgendes: „Der fortschreitenden Erkenntnis ist aber ein Verweilen auf diesem naiven Standpunkte nicht möglich […] So kommt es, dass eine durch das Denken konstruierte Welt an die Stelle der unmittelbar beobachteten tritt […]. Die Vorbedingung für die Psychologie ist die Überwindung des naiven Standpunktes, der über der unvermittelten Hingabe an die wahrgenommenen Objekte das wahrnehmende Subjekt unbeachtet lässt.“ Diese Aussage könnte von einem modernen Konstruktiv isten stammen und trifft den Kern der psychologischen Forschung und auch der therapeutischen Beziehung. Damals wie heute gilt: Die psychologische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt der Forschung konnte und kann nicht Gegenstand der experimentalpsychologischen und positivistischen Forschung sein. Gerade diese Verbindung musste von der naturwissenschaftlichen und positivistischen Forschung außer Acht gelassen werden. Damals war aber den Experimentalpsychologen mit ihrer weitaus größeren philosophischen Bildung, als sie heute üblich ist, sehr bewusst, dass sie dieses Moment außer Acht ließen, denn ihnen fehlten die Methoden, um diesen Teil des Erkenntnisprozesses wissenschaftlich zu begründen. Die darauf folgenden Generationen von Experimentalpsychologen versuchten sich mit dem Wissen, das dieses Problem existierte, zu begnügen. Auf diesem Boden entstanden viel
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später sowohl die Verhaltenstherapie als auch die Kognitive Psychologie. So blieben einerseits die irrationalen psychischen Prozesse außerhalb der Sicht der Psychologie an den Universitäten, und andererseits wurden in der Forschung über viele Jahre die Subjektivität des Forschers und die psychischen, interaktiven Prozesse zwischen Forscher/Arzt/Psychologe und Objekt der Forschung/Patient außer Acht gelassen. Durch diese frühe Begrenzung der universitären Psychologie lief sie Gefahr, nur der lange Arm der Ökonomie zu sein: Die Psychotechnik und die funktionale Psychologie sollten, wie Politzer früh sagte, „die Menschen in die Massenproduktion zurückgeben“ (Politzer, 1929/1974, siehe auch Bruns, 2007). Wundt selbst war dagegen, dass sich die Psychologie von der Philosophie ablöst, weil er dabei die Gefahr sah, es könne sich eine funktionale Wissenschaft entwickeln.6 Nach der Befreiung des Denkens aus der Macht des Christentums und der Kirche taucht nach der Aufklärung zunehmend deutlich die Frage nach der Subjektivität des Menschen und deren Abhängigkeit von der Art des Lebens und der Arbeit auf. Obwohl den damaligen Psychophysikern und Experimentalpsychologen wohl klar war, dass es dieses Problem gab, wird an der Universität die Subjektivität zwischen Forscher und Objekt der Forschung übergangen. Die Suche nach allgemeinen Gesetzen führt zu seiner Loslösung von sozialen Abhängigkeiten, zu einer Dekontextualisierung. Die psychologischen Probleme werden durch diesen Filter nur als individuelle oder partiale Probleme dargestellt (siehe auch Stäuble, 1985, S. 21 und Arendt, 1979, S. 59) – eine Gefahr, die heute mit der Fragmentierung der verschiedenen Wissenschaften, der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, der Technifizierung und der 6 Man kann darüber nachdenken, ob Wundt mit seiner Meinung recht hatte und ebenso ob heute, mit dem Versuch, die Psychotherapie von der Psychologie abzutrennen, nicht eine größere Gefahr besteht.
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Informatikrevolution noch zugenommen hat.7 Die Spezialisierung der Fachbereiche und damit die extreme Partialisierung des Wissens ist eine der Erklärungen dafür, warum heute eine Zunahme an funktionalen Themen und funktionaler Forschung in den deutschen Universitäten stattfindet und gefördert wird. Die Psychoanalyse und ihre Forschungsmethode stellen sich gegen diesen Trend zum Schnellen und Technischen. Während die Experimentelle Psychologie ihren Platz an den Universitäten fand, fing Freud außerhalb der Universität an, sich mit der Irrationalität der Hysterie zu beschäftigen. Er wandte sich jenen Themen zu, die durch die Aufklärung und durch die neue Macht der Naturwissenschaften exkommuniziert wurden. Die Macht des Triebhaften und Sexuellen, die Tötungswünsche, die Verdrängung ins Unbewusste oder die Grenzen des Bewussten wurden von Freud zum Thema gemacht. Die Psychoanalyse zeigt, dass wir nicht „Herr im eigenen Haus“ sind, dass Prozesse in uns geschehen, die wir rational und auf der bewussten Ebene nicht erklären können und die uns manchmal wundern, krank, verrückt oder auch kreativ und schöpferisch machen. Nach der Dezentrierung der Welt durch Kopernikus und dem Nachweis der Evolution der Spezies durch Darwin ist Freuds Entdeckung des Unbewussten und der unbewussten Prozesse eine weitere Erkenntnis (siehe Laplanche, 2005), die diejenigen, welche an die Allmacht des Rationalismus, der Naturwissenschaft und des Positivismus glauben, kränkt. Die zirkulären Prozesse des Unbewussten, die Irrationalität, die Macht der Phantasien, der Träume können zwar von den 7 Der moderne Mensch erlebt ständige Veränderungen, muss, wie Sennett (1998) sagt, flexibel auf diese Veränderungen reagieren und hat individuell die Aufgabe, alle diese geteilten Aspekte oder Veränderungen zu integrieren. Ein Therapeut für jede kleine Störung wäre für diese Art der Gesellschaft vielleicht sehr passend, aber würde gerade die Fähigkeit des Integrierens, Zusammenhaltens, Sinnstiftens etc. außer Acht lassen und noch mehr Verrücktheit verbreiten.
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positivistischen oder funktionalen Theorien und Methoden „aus der Welt geschafft werden“, aber nur um dem Preis der Einschränkung von Erkenntnis und Heilung. Freud, der eine naturwissenschaftliche Ausbildung absolviert hatte, benutzte zunächst eine empirische naturwissenschaftliche Sicht, um die Krankheit seiner Patientinnen zu verstehen (Schülein, 1999, S. 18). Aber er konnte alles, was die Universität mit der empirischen naturwissenschaftlichen Methode als Kenntnisgegenstand herausgeworfen hatte, aufnehmen. So nutzte er die Selbstanalyse seiner Träume (1900a/1989), die Selbstreflexion durch die Briefe an Fließ (1985c) und die Analyse der Beziehung zwischen seinen Patienten und sich selbst (1904a/1989, 1912b/1989, 1915a/1989), um auf diese Weise bewusste und unbewusste Phänomene zu erfassen, die sowohl innerpsychisch als auch interpersonell, in der Beziehung zum Arzt, entstehen. Die Schwierigkeit, mit naturwissenschaftlichem Denken und naturwissenschaftlichen Methoden diese selbstreflexiven Prozesse zu erforschen, wurde ihm früh deutlich. Freud holte die Themen und Prozesse, die die Aufklärung aus dem wissenschaftlichen Diskurs herausgenommen hatte, wieder hinein, und er fand nach und nach eine Methode, um die wissenschaftliche Betrachtung des Erkenntnisprozesses auf der Basis der Beziehung zum Objekt, von der schon bei Lipps die Rede war, zu erfassen. Die Psychoanalyse stellt durch die Analyse der unbe wussten Prozesse und der Übertragungsbeziehung zwischen Subjekt und Objekt eine wissenschaftliche Möglichkeit dar, diese Aspekte mit anderen Methoden als denen der Experimentellen Psychologie zu untersuchen. Verschiedene Autoren haben gezeigt, wie die Psychoanalyse eine Wissenschaftlichkeit geschaffen hat, die weder Naturwissenschaft noch Geisteswissenschaft ist (Stuhr, 1997; Leuzinger-Bohleber, 1995; Warsitz, 1997, 2006). Gast macht darauf aufmerksam, dass sich aus den Erkenntnissen der Psychoanalyse „kein kategoriales Regelwerk, keine kontextunabhängigen Gesetzmäßigkeiten“ extrahieren
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lassen, sondern stattdessen „Sinnbedingungen formulierbar“ würden: „Psychoanalyse ist keine operationelle, kategorisierende und regelgenerierende Wissenschaft im positivistischen Sinn, sondern eine Erkenntnismethode“ (2006, S. 13). Die Psychoanalyse fand eine Methode der Selbstreflexion und nahm sowohl alle Prozesse und Eigenschaften der Psyche als auch jene zwischen Subjekt und Objekt in den Blick. Das ist ihre große Stärke. Freud erkannte, dass die Analyse der Beziehung zwischen dem Arzt und dem Patienten nicht nur ein Mittel der Erkenntnis, sondern Bedingung für die Heilung sei: „als ob eine solche Einwirkung des Arztes die Bedingung sei, unter welcher die Lösung des Problems allein gestattet ist“ (1895, S. 60). Die Reflexion der Analytiker-Patient-Beziehung kann nach und nach jene Anteile aufdecken, die aus der frühen Mutter-Kind-Beziehung, aus den triadischen oder familiären Konstellationen sowie aus den sozialen Erfahrungen entstanden und Teil des Subjekts geworden sind. Gerade weil die Psychoanalyse die subjektiven Aspekte ins Zentrum stellte, musste sie außerhalb der Universitäten ihre Geburt und Entwicklung erfahren. Ihr Gegenstand und ihre Methoden können nur einen Platz an der Universität finden, wenn die Fundamente der Universität nicht nur auf einem naturwissenschaftlichen Empirismus gründen, wenn die künstlich geschaffene Trennung zwischen Subjekt und Objekt ebenfalls Teil der Forschung wird und wenn eine Funktionalisierung der Erkenntnisse nicht erwartet wird oder Vorbedingung ist. Denn die Psychoanalyse hat per se zwei Seiten: Die Aufdeckung und die neue Bindung des Unbewussten bringen zwar Heilung, brechen aber gleichzeitig auch gesellschaftliche Tabus. Die Psychoanalyse als eine Verzahnung von Therapie und Wissenschaft drückte Freud in dem „Junktim zwischen Heilen und Forschen“ aus: Man „konnte nicht behandeln, ohne etwas Neues zu erfahren, man gewann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wirkung zu erleben“ (1927a/1989, S. 347).
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Experimentelle Psychologie und Psychoanalyse
Der Umweg bis zu den Ursprüngen der Experimentellen Psychologie und der Psychoanalyse war wichtig, um besser verstehen zu können, unter welchen Bedingungen die Psychoanalyse einen Platz an den modernen Universitäten haben soll oder kann. Ebenfalls wird, so hoffe ich, deutlich, dass es unterschiedliche Forschungsmethoden für die empirische Psychologie und für die Psychoanalyse (und deren Anwendungsgebiete) schon zu Zeiten ihrer Entstehung gegeben hat. Im Folgenden fasse ich meine Schlussfolgerungen zusammen: ȤȤ Der Ursprung der Psychoanalyse als Psychotherapiemethode – die erste Psychotherapie überhaupt – gründet auf der klinischen Erfahrung von Freud und der Weiterentwicklung seiner Ansätze von Ärzten, Psychologen, Pädagogen und Philosophen. Dieses psychotherapeutische Wissen hat sich außerhalb der Universitäten entwickelt und sich in Ausbildungsinstituten etabliert. ȤȤ Ein zweiter Ursprung der Psychotherapie ist begründet in der akademischen Psychologie an den Universitäten. Hier seien Verhaltenstherapien und kognitive Psychotherapien genannt, die sich hauptsächlich ab den 1950er Jahren aus dem amerikanischen Behaviorismus (Pawlow, Watson, Thorndike, Skinner u. a.) entwickelten. ȤȤ Die Psychologie hat sich auf der Basis der naturwissenschaftlichen Forschungsmethode entwickelt, die die subjektiven Prozesse zwischen Objekt und Subjekt der Forschung von Anfang an bewusst außer Acht lässt. Die Psychoanalyse kann unmöglich nur mit naturwissenschaftlichen Methoden arbeiten, weil sie die unbewussten Phänomene und die subjektiven Prozesse zwischen Objekt und Subjekt (der Forschung oder der Psychotherapie) zu verstehen und analysieren versucht. Von der psychoanalytischen Psychotherapie nur evidenzbasierte Ergebnisse zu verlangen wäre vergleichbar mit der unmöglichen Erwartung, dass die Physik Träume, Wünsche oder Ängste erklärt. ȤȤ Die gegenwärtige Abspaltung der Psychoanalyse von der Universität und der Kooperationsmangel zwischen den
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Psychoanalytischen Instituten und der Universität haben mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Auffassungen zu tun. Diese Unterschiede sollten nicht wie bisher dazu führen, dass die Kommunikation und die Kooperation zwischen den Psychoanalytischen Instituten und der Universität vermieden oder sogar verhindert werden. ȤȤ Die Universitäten würden in Zeiten einer enormen gesellschaftlichen Veränderung und Technifizierung der Gesellschaft gut daran tun, die Möglichkeiten der Psychoanalyse zu nutzen, um die unbewusst gemachten Prozesse aus den verschiedensten Bereichen des modernen Lebens zu erhellen und zu untersuchen. Die Universitäten würden erneut eine Chance verlieren, wenn sie die von der Psychoanalyse entwickelten selbstreflexiven Methoden zur Erkenntnis der Subjektivität in der Erforschung von psychologischen, sozialen und kulturellen Wissensgebieten nicht nutzten.
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Subjektivierung in Organisationen
I
n diesem Beitrag gibt zunächst ein historisch-theore tischer Teil eine Skizze der unbewussten Strukturen, die den Sozialtyp Organisation tragen, und zwar bis zu den tiefen Veränderungen, die ab den 1970er Jahren einsetzen. Ein zweiter Teil beschreibt die Problematik dieser Strukturen und ihre psychodynamischen Wirkungen anhand einer Fallgeschichte.
Die Gefährdung der Innen-außen-Beziehung in Organisationen Gegen Ende der 1980er Jahre setzte sich in der US-amerikanischen Wirtschaft die Überzeugung durch, dass ein Unternehmen sich an den Anforderungen der Eigner nach Steigerung des Aktienwerts orientieren müsse und dass man diesen Anforderungen nur durch eine umfangreiche Reduktion des Personals entsprechen könne (vgl. Weiss u. Udris, 2001). So kann man die 1990er Jahre als Jahrzehnt des Downsizings betrachten. In der organisationswissenschaftlichen Literatur hat diese Entwicklung einen neuen Begriff geschaffen, den Begriff des psychologischen Kontrakts (Anderson u. Schalk, 1998). Er besagt, dass hinter allen explizit artikulierten Verträgen, die die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Mitarbeitern regeln, ein unausgesprochener Vertrag liegt:
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Brigitte Scherer und Matthias Waltz
Die Angestellten verpflichten sich, im Sinn des Betriebs gute Arbeit zu leisten, im Gegenzug verpflichtet sich das Unternehmen, ihnen den Arbeitsplatz zu sichern. Entlassungen, die nicht durch mangelhafte Arbeit oder durch fassbare betriebliche Notlagen begründet sind, bedeuten einen Bruch dieses Vertrags. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass solche Entlassungen in der Regel als tief greifende Katastrophen erlebt werden, und zwar auch von den nicht direkt betroffenen Mitarbeitern (Weiss u. Udris, 2001). Häufig wird die problematische Metapher des Holocaust verwendet, die Übriggebliebenen werden als Überlebende (Survivors) bezeichnet (vgl. Stein, 2003). Die Form der Traumatisierung, die damit angesprochen werden soll, bewirkt, dass die Identifikation mit der Tätigkeit im gesamten Unternehmen erheblich sinkt und die Mobbing- und Krankheitsrate steigt (Berner, 1999; Weiss u. Udris, 2001). Der psychologische Kontrakt oder die Form der Identifikation, auf die er verweist, hat natürlich schon vorher existiert, erst im Moment des Bruchs wird diese vormals unbewusst eingegangene Bindung bewusst und darauf folgend thematisiert und konzeptualisiert als psychologischer Kontrakt. Es gibt also ein Unbewusstes, das einerseits als Wissen in den Subjekten wirkt, andererseits dem sozialen Raum eine reale Artikulation gibt. In dieser Artikulation wird die Organisation gelebt als eine Beziehung zwischen der durch die Leitung vertretenen Organisation als ganzer und den einzelnen Mitarbeitern. Diese Beziehung hat offenbar nicht – wie der Begriff psychologischer Kontrakts es nahelegt – den Charakter eines Vertrags zwischen autonomen Individuen. Es handelt sich um die Beziehung der verpflichtenden Gabe, die wir aus einem der Grundtexte der Anthropologie kennen, aus dem „Essay über die Gabe“ von Marcel Mauss (1968): Man bindet das Gegenüber, indem man etwas Wesentliches von sich gibt. Auf dieser Innen-außen-Beziehung, für die das Konstrukt des psychologischen Kontrakts ein Beispiel ist, liegt der Fokus
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Subjektivierung in Organisationen
der Aufmerksamkeit eines wichtigen Bereiches der aktuellen Soziologie, die gewöhnlich mit dem Begriff des Cultural Turn bezeichnet wird (Reckwitz, 2000). Deren bekanntester Vertreter ist Pierre Bourdieu. Die zentralen Aussagen besagen: Die soziale Wirklichkeit hat eine Seite, nach der sie eine Ordnung von Differenzen, eine symbolische Ordnung darstellt, die internalisierbar ist. Der symbolischen Ordnung entspricht eine bestimmte psychische und körperliche Formung des Subjekts, mit dem bekannten Ausdruck Bourdieus: ein Habitus; diese Formung erlaubt den Subjekten, die Ordnung zu verstehen und sich in ihr einzurichten. Das Soziale und das Subjektive bilden in dieser Sicht eine Einheit; der soziale Raum in seinem eigentlichen Sinn existiert nur für Subjekte, die ihn in seinen Bedeutungen verstehen, und Menschen werden nur dadurch Subjekte, dass sie sich in diesem Raum einrichten. Diese Einheit möchten wir Sinnwelt oder einfach Welt nennen. Bourdieu (1987) beschreibt soziale Felder, denen jeweils eine Habitusformation zugeordnet ist, in ihrem inneren Funktionieren und in ihrer Abgrenzung gegeneinander, so z. B. in den „feinen Unterschieden“. Er geht immer von dem unproblematischen Vorhandensein der Beziehung von Habitus und sozialem Feld aus.1 Daher interessiert er sich auch nur für die beiden Seiten der Beziehung zwischen dem Innen und dem Außen, nie für die Beziehung selbst, für das, was das Innen und Außen zusammenhält. Die Beziehung ist recht schematisch als einsozialisierte Gewohnheit gedacht. In der oben beschriebenen durch das Downsizing produ zierten Katastrophe geht es aber gerade um den Bruch der Innen-außen-Beziehung. Das ist der Bereich, der uns interessiert und der im Feld der Organisation wichtig ist: der Bereich der Gefährdung einer Innen-außen-Beziehung und der Versuch, diese immer wieder neu herzustellen. 1 ben.
Es gibt Ausnahmen, die aber im Gesamtwerk marginal blei-
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In dieser Perspektive, das heißt als eine Form der Strukturierung der Innen-außen-Beziehung, beschreiben wir im Folgenden den Vergesellschaftungstyp Organisation. Für die Bestimmung dessen, was das Wesen des Sozialtyps Organisation ausmacht, werden wir uns an die beiden Autoren halten, die das Denken über Organisation grundlegend bestimmt haben, Max Weber und Niklas Luhmann. Für Max Weber (1956) ist der Idealtyp Organisation – in der Auswahl, die in unserem Zusammenhang wichtig ist – durch folgende Merkmale charakterisiert: Der Organisationsangehörige gehorcht nur sachlichen Pflichten, persönliche Bindungen und Interessen spielen keine Rolle. Er arbeitet in völliger Trennung von den Verwaltungsmitteln und ohne Appropriation der Amtsstelle. Die Leitung setzt die Zwecke fest und bestimmt, welche Mittel geeignet sind. Hierarchie ist das Mittel der Einheitsbildung unter der Herrschaft des Zwecks. Indem Luhmann (2000) die psychischen Systeme als Umwelt der Organisation bestimmt, gibt er für den schon bei Max Weber fundamentalen Gesichtspunkt der Unpersönlichkeit des Organisationshandelns eine radikale Formulierung. In seiner Beschreibung der Organisation als autopoietisches System erscheint dieses als soziales Gefüge, das allein in der Fähigkeit besteht, zu bestimmen, wie ein Zustand an den nächsten anschließt, wie es seinen Bestand erhalten kann, ohne auf die in irgendeiner Weise vorgeformte Beteiligung der Mitglieder angewiesen zu sein. Organisation ist die „Erfindung […] der Beschaffung von flexibler, zugleich spezifizierbarer und änderbarer Motivation gegen ein Geldgehalt“ (Luhmann, 2000, S. 464). Für Max Weber und noch radikaler für Luhmann sind Organisationen soziale Gefüge, die ihrem Wesen nach gerade keine symbolischen Ordnungen darstellen, denn ihr Bestand und ihre Funktionsfähigkeit sind unabhängig davon, ob es eine bestimmte Innen-außen-Beziehung, ein internalisiertes Wissen, bestimmte Identifikationen gibt. Aus unserer Perspek-
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Subjektivierung in Organisationen
tive ist das eine unmögliche Aussage. Wo Menschen zusammen arbeiten und leben, gibt es Innen-außen-Beziehungen. Unsere Frage ist: Welche Form hat diese Beziehung in der Organisation? Um diese Frage zu beantworten, muss man den Kontext berücksichtigen, in dem dieser Sozialtyp entstanden ist. Seine historisch bedeutsame Entwicklung setzt zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Man kann seine Entstehung als Antwort auf die Auflösung der vormodernen symbolischen Ordnung verstehen. Deren Grundstrukturen muss man sich vergegenwärtigen, wenn man erfassen will, was das Besondere an Organisation ist. Max Weber hebt an der Organisation die fehlende Appropriation der Amtsstelle hervor. Es geht um Eigentum. Das verweist darauf, dass in diesem Kontext nicht die religiöse Dimension der alten Ordnung wichtig ist, sondern die Eigentumsdimension.2 Die Feudalordnung bindet die Subjekte an ihre genealogischen Familien, die Familien an Eigentumspositionen. Diese Positionen sind durch Rechte und Pflichten untereinander verbunden. Die Form der Bindung ist das von Marcel Mauss dargestellte Prinzip der verpflichtenden Gabe. Die Bindung an die Familie als Knotenpunkt von Beziehungen, die fundamentale symbolische Identifikation, ist Effekt der Gabe der Position von dem Vater an den Sohn.3 Alle Beziehungen zwischen Familienpositionen sind entweder als Gabe entstanden oder durch die Beziehung zu einem gemeinschaftlichen Eigentum. Folgende Züge sind für uns wichtig: Die alte Ordnung beruht auf einem vorgegebenen Gesetz. Sie kann weder abgeschafft noch durch irgendetwas bedroht werden. Die Zugehörigkeit ist mit der Geburt gegeben4 und man kann sie nicht 2 Das Folgende ist eine Zusammenfassung von Waltz (1993). 3 In Waltz (2006) habe ich dargestellt, wie Lacan im Seminar IV in dem Versuch, die Identifikation im Abschluss des Ödipus darzustellen, das Prinzip der verpflichtenden Gabe immer umkreist. 4 Es gibt häufig einen symbolischen Akt, der die Aufnahme bestätigt.
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verlieren. Und jedes Subjekt ist durch die Gabe der sozialen Position ein Teil der Ordnung und hat Rechte in ihr, ist ihr nicht ausgeliefert. Die großen Enteignungswellen seit dem 16. Jahrhundert schaffen eigentumslose Massen, die aus der Ordnung herausfallen. Gleichzeitig verliert die Eigentumsordnung ihre „Heiligkeit“. Damit ist Folgendes gemeint: Die Macht, die die Menschen zu dem macht, was sie sind, die die Beziehung zwischen innen und außen herstellt, hat die Aura des Heiligen. Die basalen identifizierenden Bindungen existieren auf zwei Ebenen. Zum einen schaffen sie unbewusste Strukturen, darüber hinaus gelten sie auf der bewussten Ebene als legitim und eben als heilig, solange das Tauschgesetz die Grundlage des wirklichen gesellschaftlichen Zusammenhalts ist. Die neu entstehende Gesellschaft schafft sich einen anderen Zusammenhalt. Die Heiligkeit geht verloren. Die Subjekte haben wohl noch innere Bindungen, die aus dem Weiterleben des Prinzips der genealogischen Familie ihre Kraft ziehen, aber ihnen entspricht keine oder nur noch eine sehr unbestimmte und fragwürdige Wirklichkeit im Sozialen. So wird das ständische Bewusstsein von den eigenen Rechten und Pflichten zum Standesdünkel. Die Organisation zieht gewissermaßen die Konsequenzen aus diesem Zustand. Sie schafft eine Ordnung, die nicht auf dem vorgegebenen Gesetz, sondern auf von der Organisation nach ihrem Willen gesetzten Regeln beruht. Sie schafft Subjekte, denen nichts zu eigen ist, die keine anderen Rechte haben als die, die die Organisation ihnen zuspricht und immer auch nehmen kann. Wie funktioniert ein solches Gebilde als unbewusste Wirklichkeit? Die Organisation5 nimmt die Personen aus den unsicher gewordenen, aber immer noch existierenden Bindungen an die Welt, aus den Familien heraus und schenkt ihnen in dieser Welt eine ökono5 Wir denken hier an die großen staatlichen Organisationen des 19. Jahrhunderts.
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misch gesicherte und sozial angesehene Position. Dafür liefert sich das Subjekt der Organisation aus, verzichtet darauf, ein Eigenes zu haben, Rechte, Pflichten und Wünsche, mit denen es verbunden ist. Der Subjektstatus der in der Organisation Tätigen ist die in der Moderne entstandene absolute Angst, aus der symbolischen Ordnung herauszufallen. Die unbewusste Bindungsstruktur, die die Organisation trägt, ist die Hingabe an eine Allmachtsinstanz, deren prinzipieller Güte man vertraut, das heißt vor allem, man vertraut darauf, dass sie dem Angestellten die Position im Sozialen gibt, durch die er von der Angst befreit ist und ein soziales Leben hat. Das ist die schematische Beschreibung der fundierenden unbewussten Beziehung. Erlebt wird sie nur in Krisensituationen. Normalerweise erfüllt die Organisation die ihr unbewusst zugeschriebene Funktion hinlänglich gut, sie trägt ein organisationales Leben, das man in ganz anderen Kategorien beschreiben muss.
Der Blick auf die Bedingungen Wir haben die Sozialform Organisation als eine produktive Antwort auf die Auflösung der alten symbolischen Ordnung beschrieben. Um den Erfolg dieser Erfindung zu verstehen, muss man eine zweite Dimension ins Auge fassen. Bindende Identifikationen in einer symbolischen Ordnung erzeugen einen zirkulären Wahrheitseffekt. Im Außen findet man sich und in sich das soziale Außen. Wenn sich die Verbindung zwischen dem Innen und dem Außen löst, dann führt die Suche nach der Gewissheit zum kartesianischen Zweifel. Aber gleichzeitig entsteht die Möglichkeit, die eigene Gesellschaft von außen zu sehen, und damit taucht eine Bedeutungsdimension auf, die es früher nicht gegeben hat. Die Gesellschaft, in der ich selbstverständlich lebe, kann wachsen, blühen, sich entwickeln, sie kann aber auch untergehen. Damit öffnet sich der Blick auf die Bedingungen, die für das Blühen oder Schwach-
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werden verantwortlich sind, eine Dimension, für die die bindenden Sinnwelten blind sein mussten. Und das führt zu der Erkenntnis der Möglichkeit, an diesen Bedingungen zu arbeiten, und zu der Aufforderung, das auch zu tun. Besonders dringlich wird diese Aufforderung, wenn man den Wettstreit mit den Nachbarstaaten im Blick hat. Die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege und die damit einhergehenden Umwälzungen des Grundverständnisses von sozialer und politischer Ordnung einerseits und des europäischen Machtgefüges andererseits geben dieser Dimension einer fundamentalen Bedrohung eine ungeheure Kraft. Besonders massiv betroffen war der Staat Preußen, dort entwickelte sich dann das moderne Organisationsdenken am intensivsten. Die Entstehung des Blicks auf die Bedingung der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens ist der Raum, in dem die Form Organisation entsteht; wir müssen die verschiedenen Dimensionen dieses Raums kurz darstellen: ȤȤ Im Vordergrund steht immer die Dimension der Macht im politischen Gefüge. ȤȤ Die Dimension der Ordnung hat Zygmunt Bauman (1995) eindringlich dargestellt. ȤȤ Andererseits wird auch sehr schnell das Leblose der rationalen Wirklichkeiten deutlich, wie wenig Bezug sie zu dem Innern der Menschen haben. Auf der Rückseite der rationalen Moderne entstehen der moderne Begriff der Kultur, die romantische Sehnsucht nach der Vergangenheit und vieles anderes mehr. ȤȤ Es entsteht eine radikale Zweiteilung der Gesellschaft. Die alten Sinnwelten hatten wohl die starken ständischen Differenzen gekannt. Trotzdem war es eine einheitliche Welt, in dem Sinn, dass jeder ihre Grundprinzipien verstehen konnte. Jetzt gibt es auf der einen Seite die, die den Blick auf die Bedingungen, das heißt auf die eigentliche Wirklichkeit haben, und die, die ihn nicht haben, die, die ordnen, und die, die in die Ordnung eingepasst werden. Das ist eine Spaltung, die viel tiefer geht als die Spaltungen
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in den traditionellen Kulturen. Damit entsteht auch eine neue Form von Macht, die der Wissenden über die Unwissenden, die Form von Macht, die Foucault (1981, 1983) in seinen Arbeiten zur Disziplinar- und Biomacht beschreibt. Es gibt kein soziales Leben, das nicht als eine Sinnwelt organisiert wäre. Man muss also fragen: In welcher Sinnwelt organisiert sich die moderne Rationalität? Was ist die Grundidentifikation derer, die den Blick auf die Bedingungen haben und die die Wirklichkeit entsprechend ordnen wollen? Diese Grundidentifikation hat zwei Seiten: Es ist die Identifikation mit der Grundbedrohung, die jetzt über jeder sozialen Ordnung liegt, und damit die Identifikation mit der Verantwortung für das Bedrohte (vgl. Scherer, 2009). Auf der Seite der Steigerung und der Konkurrenz ist es die Identifikation mit der Macht. Die Problematik des Verhältnisses der Sozialform Organisation und der Sozialform Sinnwelt können wir jetzt folgendermaßen zusammenfassen: ȤȤ Organisation kann die Bedingungen des Überlebens von Sinnwelten in den Blick nehmen. Das begründet ihre fundamentale Überlegenheit und bewirkt, dass eine soziale Welt ohne Organisationen heute nicht vorstellbar ist. ȤȤ Die einzige Innen-außen-Beziehung, die zu ihrem Wesen gehört, entspricht der Beziehung, die früher die symbolische Ordnung als Ganze zu den ihr Angehörenden hatte, Voraussetzung jedes vorstellbaren Lebens zu sein. Es gefährdet aber die Existenz der Organisationen, wenn diese Abhängigkeit erlebt wird. ȤȤ Organisationen sind von Sinnwelten unabhängig, nicht in dem Sinn, dass sie sie nicht brauchen, sondern in dem Sinn, dass sie nicht mit bestimmten Sinnwelten verbunden sind, sondern alles aufnehmen können, was irgendwie mit den Organisationszielen vereinbar gemacht werden kann. Das heißt, Organisationen haben in sich kein Gesetz, keine Ethik. Ethik müssen sie von außen importieren, aber sie können es auch.
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ȤȤ Organisationen sind grundsätzlich auf die Mitwirkung von Sinnwelten angewiesen, aber sie können keine schaffen. Sie können Sinnwelten zerstören, sie können sie ermöglichen. Aktuell am drängendsten ist sicher der Druck, der durch die Verschärfung des Kampfs um das Überleben entsteht. Der Blick auf das äußere Überleben verstellt den Blick auf die Bedingungen, die Sinnwelten innerlich zum Überleben brauchen.
Die Angst, vernichtet zu werden – eine Fallgeschichte Anhand einer Fallgeschichte möchten wir nun verdeutlichen, welche psychodynamischen Wirkungen mit der Infragestellung der Identifikation in Sinnwelten einhergehen. Uns geht es darum, wie Identifikationen, die auf der sinnstiftenden Kraft der Primary Task6 beruhen, prekär werden und dennoch zugleich für die Subjektivierung herhalten müssen. Und es geht uns um den fundamentalen Widerspruch, der daraus entsteht, dass der Blick auf die Bedingungen der Erhaltung der Organisation, der schließlich auch dem Schutz der Primary Task dienen soll, sich zugleich als ihre Gefährdung auswirkt. Es handelt sich um ein Fallbeispiel, in dem es auf dem Hintergrund einer organisationalen Veränderung zu existenziellen Ängsten von Mitarbeiterinnen kommt. Wir werden uns auf drei Phänomene konzentrieren: erstens auf die Angst, vernichtet zu werden, zweitens auf den Widerstand, der sich auf die Identifikation mit der Primary Task beruft und so aus Opfern handelnde Subjekte macht, und drittens auf den Widerstreit zwischen ökonomischen und organisationalen Rahmenbedingungen, dem Blick auf die Erhaltungs6 Die Primary Task ist die Aufgabe der Organisation, derentwegen die Organisation besteht. Sie bezeichnet den zentralen Zweck einer Organisation (vgl. Obholzer u. Roberts, 1994).
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bedingungen auf der einen und dem psychosozialen Erleben, der Gefährdung der Sinnwelt auf der anderen Seite. In einem Akutkrankenhaus einer ländlichen Region blieb die Auslastung im Bereich der Pädiatrie über Jahre unter 80 Prozent und war somit aus wirtschaftlicher Sicht prekär geworden. Die Geschäftsführung sah sich vor die Alternative gestellt, die pädiatrische Station zu schließen oder nach neuen Lösungen zu suchen. Zugleich dachte seit einiger Zeit der Vorstand über mögliche Erweiterungen der Klinik nach. Unter anderem war die Neueröffnung einer HNO-Hauptabteilung im Gespräch. Die Kosten-Aufwand-Kalkulationen wiesen auf eine wirtschaftlich positive Entwicklung hin. Nun entstand die Idee, die neue HNO-Abteilung und die von Schließung bedrohte pädiatrische Station in einer neu zu schaffenden Einheit zusammenzuführen. HNO-Patienten im Kinder- und Jugendalter könnten auf der pädiatrischen Station mit versorgt und dort auch verbucht werden. So wäre eine erhöhte Auslastung der pädiatrischen Station gewährleistet. Dieser Plan erforderte einen Neubau. Die Eröffnung der HNO-Abteilung sollte aus wirtschaftlichen Gründen allerdings zeitnah geschehen. Das bedeutete, dass für eine Übergangszeit auch erwachsene HNO-Patienten auf der pädiatrischen Station untergebracht werden müssten. Die Stationsleiterin der betroffenen pädiatrischen Station wurde frühzeitig über die Planung informiert, aber darum gebeten, ihren Mitarbeiterinnen bis zur endgültigen Beschlussfassung nichts zu sagen. Sie hielt sich daran. Die Beschlussfassung im Aufsichtsrat erfolgte. Bevor nun die Mitarbeiterinnen ganz offiziell informiert werden konnten, war die Information über das Vorhaben durch ein Mitglied des Aufsichtsrates auf privatem Wege blitzschnell auf der pädiatrischen Station angelangt. Hinzu kam, dass genau zu diesem Zeitpunkt die Pflegedirektorin altersbedingt die Klinik verließ und die Nachfolgerin erst drei Monate später ihre Stelle antrat. Das dringend notwendige Informationsgespräch wurde so lange aufgeschoben.
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Die informelle Mitteilung über die anstehenden Veränderungen löste auf der Station sofort heftige Reaktionen aus. Sie wirkte wie ein Schock. Die Mitarbeiterinnen fühlten sich von ihrer Pflegedirektorin verraten und im Stich gelassen. Ohne gefragt zu werden, ohne dass mit ihnen gesprochen worden wäre, waren hinter ihrem Rücken Pläne geschmiedet worden, die sich aus ihrer Sicht gegen sie richteten. Ihre Interessen und Belange, ja sie selbst, wurden negiert. Die Mitarbeiterinnen der Pädiatrie machten sich sofort via Internet kundig. Sie fanden erschreckende Dinge heraus: HNO bedeutete nun für sie zuallererst entstellende onkologische Tumore und Tracheotomien. Für eine entsprechende fachspezifische Pflege sahen sie sich nicht ausgebildet. Die Vorstellung, zukünftig HNO-Patienten versorgen zu sollen, wo sie doch mit Leib und Seele Kinderkrankenpflegerinnen waren, evozierte existenzielle Ängste. Die Mitarbeiterinnen konnten in den hinter ihrem Rücken geschmiedeten Plänen nur einen Angriff auf ihre fachliche Kompetenz erkennen. Sie, die in diesen Beruf und in dieses Klinikum gegangen waren, um Kinder und Jugendliche zu pflegen, sollten ihr angestammtes Arbeitsgebiet, mit dem sie sich verbunden fühlten, verlieren. Nur so konnten sie diese Pläne zunächst verstehen. Emotional reagierten die Mitarbeiterinnen mit Enttäuschung, Wut und Verzweiflung, immer wieder brachen sie in Tränen aus und wandten sich Unterstützung suchend an die Stationsärzte. Einzelne Mitarbeiterinnen kündigten oder baten um Versetzung. Als dann das erste Informationsgespräch mit der neuen Pflegedirektorin stattfand, bemühte sich diese, Informationen zum geplanten Ablauf, zu den potenziellen zukünftigen Patienten und auch zur geplanten Einstellung von zusätzlichen HNO-Pflegekräften und zu fachspezifischen Qualifikationsmaßnahmen zu vermitteln. Die Informationen blieben ungehört. Die Mitarbeiterinnen reagierten kaum auf das, was ihnen gesagt wurde, und sie stellten keine Fragen. Die Enttäuschung und das Gefühl, verraten worden zu sein, sowie
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die Wut auf die Leitungskräfte dominierten das Gespräch. Trotz der Zusicherung, dass keine onkologischen Patienten auf die pädiatrische Station verlegt werden sollten, hielten die Mitarbeiterinnen an ihrem Angstbild fest. Den Aussagen der Führungskraft wurde kein Glauben geschenkt. Es waren zwei Fronten entstanden. Die Mitarbeiterinnen verbündeten sich mit dem Betriebsrat und mit großer Energie konzentrierten sie sich nun auf die Verhinderung der geplanten Maßnahme. Bei all den nun folgenden Aktivitäten spielte die Stationsleiterin kaum eine Rolle. Sie verhielt sich passiv und wurde von den Mitarbeiterinnen nicht in Anspruch genommen. In der Konfrontation mit dem engagierten Widerstand gewannen die Pflegedirektorin und der Geschäftsführer mehr und mehr den Eindruck, dass die Mitarbeiterinnen nur noch ihre ganz eigenen Interessen verfolgten und der ökonomische Druck, das Interesse am Gesamtklinikum völlig aus dem Blick geraten seien. Es fiel ihnen zunehmend schwer, sich verständnisvoll gegenüber den Mitarbeiterinnen zu zeigen, die aus ihrer Sicht heraus in egoistischer Weise nur ihr eigenes Ziel verfolgten. In einem zweiten Gespräch, an dem neben der Pflegedirektorin auch der Geschäftsführer und die beiden ärztlichen Direktoren teilnahmen, wurde die Eröffnung einer HNOAbteilung heftig kritisiert und diskutiert. Die pädiatrischen Mitarbeiterinnen äußerten ihre Bedenken und Ängste und verharrten zunächst in ihrer Ablehnung. Erst als der neue ärztliche HNO-Direktor gegenüber den Mitarbeiterinnen sein Verständnis ihren Sorgen und Bedenken gegenüber zum Ausdruck brachte und ihnen versicherte, er wolle als Erstes den Kinder-HNO-Bereich ausweiten, entspannte sich die Atmosphäre. Die Stationsmitarbeiterinnen fühlten sich verstanden und konnten nun wieder zuhören und Fragen stellen. So konnte erstmals wieder ein gemeinsames Gespräch geführt werden.
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Die Organisation als psychischer Raum Im Folgenden möchten wir anhand dieser Fallgeschichte die strukturellen und psychodynamischen Wechselwirkungen herausarbeiten. Uns wird es hierbei – wie schon erwähnt – um drei Aspekte gehen: erstens um die existenzielle Bedrohung, zweitens um die Frage, in welcher Weise Widerstand und Subjektsein fundamental zusammengehören, und drittens um den unauflösbaren Grundkonflikt zwischen dem Blick auf die Organisationserhaltung, repräsentiert durch die Führungskräfte auf der einen Seite, und dem emotionalen Erleben, der Gefährdung der sinnstiftenden Identifikation auf der anderen Seite. Folgt man der gängigen Change-Management-Literatur, so sind Ängste und Widerstände in einem solchen Veränderungsprozess ganz normale Begleiterscheinungen. Doppler und Lauterburg (2008) verweisen in ihrem zum Klassiker gewordenen Buch „Change Management“ darauf, dass nicht das Auftreten von Widerständen beunruhigen sollte, sondern deren Ausbleiben. Nach ihnen liegen Widerstände dann vor, wenn trotz Nachvollziehbarkeit und Dringlichkeit eines Vorhabens sich diffuse Ablehnungen, Verzögerungen, Unruhen und Lustlosigkeit einstellen. Pragmatisch schlagen sie vor, die dahinterliegenden Gründe zu explorieren. Diese Gründe seien in der Regel in menschlichen Grundbedürfnissen zu suchen, wie etwa das Bedürfnis nach Sicherheit, Kontakt, Anerkennung und Entwicklung. Wenn es gelänge, diese Gründe zu klären, so könnten Aushandlungsprozesse eingeleitet und Widerstände aufgelöst werden. Auch wenn Doppler und Lauterburg (2008) darauf verweisen, dass die Gründe für Widerstände nicht sofort auf der Hand liegen und in der Regel mit Befürchtungen und Ängsten zu tun haben, so gehen sie doch davon aus, dass die Erkundung möglich sei und bewusstseinsnah erfolgen könne – ein vernunftbetontes Konzept. Uns geht es hier hingegen darum, das Unvernünftige, das heißt die unbewusste Dynamik zu explorieren. Es reicht also nicht, die Ängste der
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Mitarbeiterinnen gewissermaßen als ein der Situation angemessenes Begleitphänomen zu betrachten. Was uns gleich beim ersten Mal an diesem Fall beeindruckte, war die Heftigkeit der emotionalen Reaktion. Sie geht weit über die als normal geltenden Verunsicherungen und Ängste hinaus: Mitarbeiterinnen brechen in Tränen aus, sind verzweifelt und sehen ihre pädiatrische Qualifikation einer vernichtenden Attacke ausgesetzt. Diese Qualifikation ist ein Teil von ihnen selbst, nichts Äußerliches. Die Mitarbeiterinnen sind zugleich nicht über Informationen, die die irrigen Vorstellungen korrigieren sollen, zu erreichen. Sie beharren darauf, dass ihre Zukunft durch entstellende Tumore und Tracheotomien gekennzeichnet sei. Der existenzielle Schrecken spricht aus diesen Bildern. Für einen Moment scheint es so, als wären Angstphantasie und äußere Realität ununterscheidbar geworden. Elfriede Löchel (2000) zeigt, dass Denken der Unterscheidung bedarf und ein entwicklungspsychologischer Prozess ist, der durch Akte der Symbolisierung die innere und äußere Realität allmählich zu differenzieren ermöglicht. In unserem Fall wirkt die informelle Mitteilung wie ein Schock, ein Schock, der für einen kurzen Zeitraum genau diese Differenzierung zum Verschwinden bringt. Für die Mitarbeiterinnen ist eine existenziell bedrohliche Phantasie Wirklichkeit geworden. Für sie ist die Angst, vernichtet zu werden, real. Die Organisation, repräsentiert durch die Führungskräfte, verwandelt sich jäh. Der von der Organisation vormals evozierte Wunsch nach Beheimatung, der mit Identifizierung und Sinnkonstituierung einherging, entpuppt sich als Trug. Den Subjekten bleibt kaum ein anderer Ausweg, als Führungskräfte und Organisation als zerstörerische Macht zu erleben. Mit welchen organisationalen und strukturellen Bedin gungen geht das einher? Wie in Organisationen bei solch großen Vorhaben durchaus üblich, werden die Pläne zunächst den Betroffenen selbst nicht mitgeteilt. Sie sollen nicht unnötig und vorzeitig beunruhigt werden. Dieser Versuch, eine ver-
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meintlich unnötige Beunruhigung zu vermeiden, trägt selbst zur extremen Beunruhigung bei. Als die Information des Veränderungsvorhabens über informelle Wege einer Bombe gleich im Team einschlägt, steht niemand zur Verfügung, der die Ängste containen, also aufnehmen und beruhigend wirken könnte. Die unmittelbare Vorgesetzte, die Stationsleiterin, war durch die Verpflichtung zum Schweigen in ihrer Rolle und Funktion als Vermittlerin strukturell ausgehebelt worden. In der gesamten Auseinandersetzung wird zu keinem Zeitpunkt angesprochen, dass sie die Information bereits früh mitgeteilt bekommen hatte. So als wüssten die Mitarbeiterinnen dies dennoch, wenden sie sich nicht an sie, bitten sie nicht um ihre Unterstützung. Die Funktion, die eine solche Führungsposition erfüllen könnte, wird so von zwei Seiten unterlaufen. Die pädiatrischen Mitarbeiterinnen fühlen sich verraten und verkauft und sind es gewissermaßen auch. Sie werden gerade in jenem Moment verlassen, in dem sie eine emotional stützende Haltung, die Bion (1959, 1992) als Containment konzipiert, am stärksten benötigen würden. Organisationen fördern Regression, sind aber zugleich nicht in der Lage, adäquat auf regressive Phänomene zu reagieren. Unseres Erachtens hat das etwas mit dem in Organisationen vorherrschenden Fokus auf die Funktionalität und Rationalität zu tun. Die durch die strukturellen Bedingungen induzierte Psychodynamik wird negiert, muss negiert werden, denn sie widerspricht jeder funktionalen Rationalität. Und gerade dadurch wird sie in ihrer Wirkung verstärkt. Der Widerstand, den die Mitarbeiterinnen mit großer Energie entfalten, ist nicht nur ein Widerstand, der der Verhinderung des Vorhabens dienen soll – das auch. Er bietet vor allem die Möglichkeit, aus einer hilflosen und ohnmächtigen Position heraus wieder zu handelnden, ihre Realität selbst beeinflussenden Subjekten zu werden. Unter den gegebenen Bedingungen bilden sich zwei Fronten. Die Mitarbeiterinnen schließen sich mit dem Betriebsrat zusammen. Sie berufen sich auf ihre Grundqualifikation, auf
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ihre Primary Task – und damit auf einen wichtigen Teil ihrer Identität. Die Pflegedirektorin und der Geschäftsführer werden so nur noch als eine böse, verfolgende und zerstörerische Macht wahrgenommen. Die Leitungskräfte erleben ihrerseits die Mitarbeiterinnen zunehmend so, als wären diese nur auf ihre eigenen Vorteile bedacht, als würde es ihnen vor allem darum gehen, ihre pädiatrische Station rein zu erhalten. Sie, die die Gesamtinteressen der Organisation und ihre Erhaltung im Blick haben, erleben die Aktionen als massive Behinderung ihres Engagements. Der Kampf um eine Sache geht nicht selten damit einher, dass die gegnerischen Positionen sich wechselseitig verstärken und blind füreinander machen. Identifikationen, die jeweils Sinn und Welt erzeugend sind, geraten hier in einen scheinbar unvereinbaren Widerspruch. Das Nein in einer Situation der äußeren Strukturauflösung ist ein Widerstand, der einerseits auf eine bedrohte Identität verweist und andererseits eine absichtsvolle Verweigerung darstellt. Das Nein ist die Voraussetzung, die drohende Zerstörung der eigenen Identität abzuwenden. Auch wenn dies zunächst nur über den Rückgriff auf das Bisherige – die Identifikation mit der Primary Task – möglich ist, ist der Widerstand in diesem Sinne zugleich subjektivierend und kann als Ausgangspunkt eines Lernprozesses aufgefasst werden. Das, was zunächst der Zerstörung ausgesetzt schien – die Verbindung zur Primary Task –, wird zum Identifikationspunkt, an dem festgehalten werden muss. Unter der Hand verändert sich die Qualität dieser Identifizierung aber. Vom Status der beheimatenden Bindung mutiert sie zu einer Form der imaginären Identifikation, die die eigene Kampfposition stärken soll (vgl. Scherer, 2009). Ein erster Wendepunkt kann sich in der Gesprächssituation ereignen, an der der neue ärztliche HNO-Direktor teilnimmt. Er war bisher nicht involviert und ist daher nicht belastet. Er zeigt Verständnis für die Ängste und Bedenken der pädiatrischen Mitarbeiterinnen, ohne ihre Position teilen zu müssen. Hier findet eine Art Containment statt. In die-
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sem Moment kann ein Raum entstehen, in dem die Ängste gehalten werden können, in dem wieder Denken, im Sinne einer Unterscheidung zwischen Angstphantasie und äußerer Realität, möglich wird.
Schlussbemerkung Wenn Organisationen, wie oben ausgeführt, die neuen Orte der Beheimatung, der Subjektivierung, also der Unterwerfung im doppelten Sinne, sind, so sehen wir anhand unseres Beispiels, wie Organisationen die Funktion der beheimatenden Subjektivierung unter der Bedingung des permanenten Veränderungsdrucks verlieren und wie dadurch massive existenzielle Ängste freigesetzt werden. Der permanente Veränderungsdruck in Organisationen benötigt den Blick auf die Bedingungen zur Erhaltung der Organisation. Die Erhaltung soll schließlich auch der Primary Task zugutekommen. Dennoch wirken organisationale Veränderungen auf der psychodynamischen Ebene wie Attacken auf die Bindung an die Primary Task, wie Attacken auf die Identifizierung. Das strukturelle Aushebeln der haltenden und vermittelnden Funktion der unmittelbaren Vorgesetztenposition verschärft die existenzielle Angst und verstärkt dadurch den Widerstand. Der Widerstand übernimmt unter diesen Bedingungen für die Mitarbeiter vor allem die Funktion, sich wieder als handelnde Subjekte zu erleben. Der Widerstand ist so gesehen nicht gegen das Lernen gerichtet, sondern ein erster Schritt im Lernprozess selbst. Erst durch eine Form des Containments können die überbordenden Ängste gehalten werden und kann die Differenz zwischen Angstphantasie und Realität wieder Raum gewinnen. Der Grundkonflikt zwischen der ökonomischen Absicherung der Gesamtorganisation und der erlebten Bedrohung der Mitarbeiterinnen lässt sich nicht auflösen. Die Organisation fördert Regression und induziert damit psychosoziale Dynamiken. Sie wird zwangsläufig unter
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den gegenwärtigen Bedingungen zum Ort der Enttäuschung und des Verrats. Während auf der bewussten Ebene Commitment gefordert und erwartet wird, werden durch die unbewussten Dynamiken Verbindungen, Bindungen immer wieder angegriffen und zerstört.
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Die Autorinnen und Autoren
Dr. Dipl.-Psych. Isabel Bataller Bautista (Univ. Valencia). Studium der Psychologie und Promotion in Valencia. Seit 1999 als Psychoanalytikerin (DPV) und Psychotherapeutin in Bremen tätig. Veröffentlichungen und Vorträge zu Migration, Kultur und weibliche Adoleszenzentwicklung, Fremdheit und Geschichte der Psychologie. Lars Church-Lippmann ist Diplom-Psychologe beim Kinderund Jugendpsychiatrischen Dienst Spandau. Forschungstätigkeit im Bereich psychoanalytische Computerspielforschung, Zeittheorie und Kritische Theorie. Prof. Dr. phil. Angelika Ebrecht-Laermann, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Germanistin und habilitierte Politikwissenschaftlerin, ist Psychoanalytikerin (DPV, IPA) in eigener Praxis in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalytische Emotionsforschung, Sozialpsychologie und Literaturinterpretation, politische Psychologie, kulturelle Anthropologie, Genderforschung, Philosophie. Prof. Dr. Helga Gallas war bis 2005 Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Literaturtheorie und Interpretationsmethoden. Zahlreiche Veröffentlichungen.
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Die Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. phil. habil. Lilli Gast, Dipl.-Psych., ist Vizepräsi dentin der International Psychoanalytic University Berlin (IPU) und vertritt dort als Professorin den Studienbereich Reflexive Psychologie: Theoretische Psychoanalyse, Erkenntnis- und Subjekttheorie. Forschung, Lehre und Veröffentlichungen im Bereich der psychoanalytischen (Erkenntnis-) Theorie und Metapsychologie, der Ideen- und Theoriegeschichte der Psychoanalyse sowie der psychoanalytischen Subjekt- und Geschlechtertheorie. Aktueller Forschungsschwerpunkt: ethische Dimensionen der Psychoanalyse und ihre Verbindung zur philosophischen Anthropologie. Anna Gätjen-Rund ist Psychoanalytikerin (IPA) für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Veröffentlichungen zur Kinderanalyse. Dr. phil. habil. Insa Härtel ist Professorin für Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Kulturtheorie und Psychoanalyse an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU). Schwerpunkte in den Bereichen Konzeptionen kultureller Produktion, Raum/Phantasmen, psychoanalytische Kunstund Kulturtheorie, Geschlechter- und Sexualitätsforschung (http://www.ipu.berlin.de/hochschule/wissenschaftler/profinsa-haertel.html). Dr. phil. Christine Kirchhoff ist Juniorprofessorin für Psychologie mit Schwerpunkt psychoanalytische Kulturwissenschaften an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU). Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalytische Subjekt- und Kulturtheorie, Psychoanalyse und Neurowissenschaften, Kritische Theorie. Dr. Sabine Offe war bis 2010 am Institut für Religionswissenschaft der Universität Bremen tätig. Forschung, Lehre und Veröffentlichungen zu den Themenbereichen Jüdische Studien, Jüdische Museen, Gedächtnisgeschichte, Trauma.
172 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243
Die Autorinnen und Autoren
Dr. phil. Katharina Rothe, Psychologin, Sozialforscherin und Kandidatin in psychoanalytischer Ausbildung am William Alanson White Institute in New York. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig von 2007 bis 2012. Lehre, Forschung und Veröffentlichungen in psychoanalytischer Sozialforschung, qualitativen Methoden, zu den Folgen des Nationalsozialismus, in der Rechtsextremismus-, Antisemitismus- und Genderforschung. Dr. Brigitte Scherer ist Professorin für Leitung und Kommunikation an der Katholischen Hochschule Freiburg, Leiterin des BA-Studiengangs Management im Gesundheitswesen und des MA-Studiengangs Management und Führungskompetenz. Arbeitschwerpunkte: Change Management und Widerstand, Führungskompetenz, Kommunikation, psychodynamisches Organisationsverstehen. Anna Tuschling ist Juniorprofessorin für Medien und anthropologisches Wissen am Institut für Medienwissenschaft der Universität Bochum und in der Mercator-Forschergruppe „Räume anthropologischen Wissens“. Arbeitsschwerpunkte: Medialitätstheorien, Lerntechniken und Lernregimes, Kulturtheorien der Angst. Gerhard Vinnai war bis 2005 Professor für analytische Sozialpsychologie an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Gewalt, Religion, Geschlechterverhältnisse, Wissenschaftskritik, Sozialpsychologie der westlichen Kultur. Dr. Matthias Waltz ist em. Professor für Geschichte der französischen Literatur und Kulturwissenschaft der Universität Bremen. Sonja Witte ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU) im Forschungsprojekt „‚Übergriffe‘ und ‚Objekte‘. Bilder und Dis-
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Die Autorinnen und Autoren
kurse kindlich-jugendlicher Sexualität“ unter der Leitung von Prof. Dr. Härtel. Schwerpunkte in den Bereichen psychoanalytische Film- und Kulturtheorie, Kritische Theorie, Geschlechterverhältnis und Sexualität (im postnazistischen Deutschland).
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