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German Pages [409] Year 2017
Welten der Philosophie 15
Murat Ates / James Garrison / Georg Stenger / Franz Martin Wimmer (Hg.)
Orte des Denkens – Places of Thinking
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817674
.
B
WELTEN DER PHILOSOPHIE
A
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Denken geschieht an einem Ort. Zugleich gilt es zu bedenken, was einen Ort zum ›Ort‹ werden lässt. Offenbar setzt also das Denken, wie auch jedes Sprechen und Handeln, einen Standort bzw. einen Standpunkt voraus, die selbst wiederum zum Thema philosophischer Betrachtung werden bzw. gemacht werden müssen. Dabei kann freilich »Ort« ein Mehrfaches bedeuten, etwa den Körper, die politische Schicht, den sozialen Status, das sozialisierte Geschlecht, die Sprache, kulturelle Geflechte, Lebenswelten und nicht zuletzt geographische Landschaften sowie geschichtliche Zeiträume. All dies sind – je nach Konstellation – Orte, die das Denken bedingen. Andererseits haben verschiedene Denkweisen in der Geschichte und Gegenwart immer wieder den Anspruch erhoben, universal zu agieren, d. h. in Unabhängigkeit von allen Milieus, Räumen, Zeiten, Sprachen, Geschlechtern usw. diese überschreiten zu können. Von dieser vielschichtigen Fragestellung ausgehend setzt der vorliegende Band diesseits inter- wie trans»kultureller« Selbstverständigungen an. Anstatt jedoch von einer antagonistischen Gegenüberstellung auszugehen, wonach man sich einer der beiden Diskurslandschaften – wie etwa Universalismus hier, Relativismus/ Partikularismus dort – anzuschließen hätte, wird hier vielmehr die Abhängigkeit und Reziprozität beider betont. In diesem Sinne, und dies wäre der Leitfaden dieses Buches, bedeutet »Ort/e des Denkens« zugleich »Denken des Ortes wie der Orte«.
Die Herausgeber Murat Ates ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes, Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Wien sowie Redaktionsmitglied der Zeitschrift Polylog. James Garrison ist Teaching Fellow am Department of Philosophy der University of Bristol und war zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Wien. Georg Stenger ist Inhaber der Professor für »Philosophie in einer globalen Welt« am Institut für Philosophie der Universität Wien und Präsident der »Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie« (GIP) mit Sitz in Köln/Deutschland. Franz Martin Wimmer ist Dozent für Philosophie an der Universität Wien und Professor im Ruhestand.
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Murat Ates / James Garrison / Georg Stenger / Franz Martin Wimmer (Hg.) Orte des Denkens – Places of Thinking
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Welten der Philosophie 15 Wissenschaftlicher Beirat: Claudia Bickmann, Rolf Elberfeld, Geert Hendrich, Heinz Kimmerle †, Kai Kresse, Ram Adhar Mall, Hans-Georg Moeller, Ryôsuke Ohashi, Heiner Roetz, Ulrich Rudolph, Hans Rainer Sepp, Georg Stenger, Franz Martin Wimmer, Günter Wohlfart und Ichirô Yamaguchi.
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Murat Ates / James Garrison / Georg Stenger / Franz Martin Wimmer (Hg.)
Orte des Denkens – Places of Thinking
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48767-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81767-4
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Inhalt
Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Teil I. Eröffnung 1. Georg Stenger Ort/e, Ortungen, Orientierungen – eine Einführung . . . . . .
21
2. Murat Ates Begrenzte Orte und bewegte Welten. Vorspiel im Hinblick auf das Potential einer inter- und transkulturellen Phänomenologie. .
48
3. James Garrison Intercultural and Interdisciplinary Work – A Statement on Method . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
Teil II. Zum Anspruch inter»kultureller« Philosophie 4. Britta Saal Der Ort des interkulturellen Denkens als Raum in Bewegung . .
101
5. Karin Kuchler A Genealogy of European Philosophy in the Context of the Darker Side of Enlightenment . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
6. Anke Graneß Interkulturelle Weisheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . .
124
7 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Inhalt
7. Bruce Janz Elements of Philosophy in Place: Learning from African Philosophy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
8. Pritika Nehra Located in the World by Default: Perspectives on Hannah Arendt and Indian Philosophical Thought on Temporality . . . . . . . .
164
9. Madeleine Elfenbein Trees of Liberty and Asiatic Germs: Rethinking Metaphors of Transmission in European and Ottoman Political Thought . . .
180
10. Jessica Dömötör Dominanz als Kategorie in der interkulturellen Philosophie . . .
195
Teil III. Phänomenologien 11. Giuseppe Menditto Nishidas bashō im Gespräch mit dem griechischen und phänomenologischen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . .
213
12. Hannah Holme Orte des Denkens im Werk von Michel Foucault . . . . . . . .
225
13. Annika Schlitte Brücke, Tür und Tempelschwelle – Denkorte bei Simmel, Cassirer und Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
246
14. Tsutomu Ben Yagi »Exiled in the Mother Tongue« – Gadamer’s Contribution to the Question of Heimat and Fremde . . . . . . . . . . . . . . . .
264
15. Choong-Su Han Phänomenologie des Ortes – Heideggersche Beiträge zur interkulturellen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
16. Eveline Cioflec ›Weltentwurf‹ und die Verortung des Denkens . . . . . . . . .
288
8 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Inhalt
Teil IV. Das Politische 17. Christoph Dittrich Exteriorität und Grenze. Der locus enunciationis bei Enrique Dussel und Walter Mignolo . . . . . . . . . . . . . .
305
18. Sophie Vögele & Karin Hostettler Gender and Sexuality. Place/s of Imperialism? Thinking Europe as Post_colonial . . . . . . . . . . . . . . .
321
19. Takashi Ikeda Das Zuhause als übersehener Ort des Denkens: Eine feministisch-phänomenologische Perspektive . . . . . . .
336
20. Christoph Hubatschke Territorien des Widerstandes. Von Verortung und Entgrenzung der Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345
21. Fabian Steinschaden Das Denken der Nicht-Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
361
22. Oliver Bruns Der politische Raum als verborgener Grund des metaphysischen Denkens. Hannah Arendts Deutung des ursprünglichen Verhältnisses von Politik und Philosophie bei den Griechen . . .
370
23. Lukas Kaelin Die politische Öffentlichkeit als Ort des Denkens
. . . . . . . 393
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
406
9 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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Vorwort
Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind im Zuge einer Konferenz entstanden, die im September 2013 an der Universität Wien unter dem Titel »Ort/e des Denkens – Zum Anspruch inter›kultureller‹ Philosophie« stattgefunden hat. An der Konferenz haben Vortragende aus unterschiedlichsten Orten teilgenommen. Es waren, um allein geographisch zu sprechen, Teilnehmende aus vier Kontinenten und aus über fünfzehn Ländern präsent. Die inhaltliche Ausrichtung der Tagung wie des vorliegenden Bandes war durch einen Call for Papers vorgezeichnet, den wir bereits Ende 2012 über diverse Kanäle ausgeschickt hatten. Darin hieß es: »Denken geschieht an einem Ort. Offensichtlich bedarf es stets eines Standortes bzw. eines Standpunktes, an dem sich Denken ereignen, an dem ein Gedanke ankommen, sich wandeln und neue Wege gehen kann. Diese Aussage hört sich zunächst trivial und selbstverständlich an. Natürlich setzt jedes Denken, wie auch jedes Sprechen, jede Handlung, jede Empfindung usw. einen Ort voraus. Ein Denken ohne Ort, an dem es stattfinden, eine Stätte finden kann, wäre geradezu eine Unmöglichkeit, hätte schlichtweg keinen Ein- und Ausdruck. Dabei kann freilich ›Ort‹ ein Mehrfaches bedeuten, etwa den Körper (Leib), die politische Schicht, den sozialen Status, das (sozialisierte) Geschlecht, die Sprache, kulturelle Geflechte, Lebenswelten und nicht zuletzt (geographische) Landschaften sowie (geschichtliche) Zeiträume. All dies sind – je nach Konstellation – nicht nur Orte, die das Denken bedingen, sondern je nach Ort(schaft) scheinen sie geradezu nur ein bestimmtes, begrenztes, beschränktes Denken zuzulassen. Und doch haben tiefgehende Denkerfahrungen in der Geschichte und Gegenwart immer wieder den Anspruch erhoben, universal und in diesem Sinne inter- bzw. trans›kulturell‹ zu sein, d. h. immer zwischen den Körpern und über die Körper hinaus, zwischen und über den Schichten und Milieus, den Geographien, den Zeiten, Sprachen, Geschlechtern, Hautfarben usw. 11 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Vorwort
Die Breite dieser Problemstellung öffnet ein Spannungsfeld, das folgende Fragen in den Raum stellt: Mit Hilfe welcher theoretischen Ansätze können wir die scheinbare Selbstverständlichkeit eines ortsgebundenen Denkens verständlich machen? Wie können wir die Orte fassen, die das Denken voraussetzt – oder bestimmen gar die Orte zuallererst das Denken? Kann man überhaupt von ›reinen‹, in sich abgeschlossenen Orten sprechen? Kann es auf der anderen Seite ein Denken geben, das nicht an einen Ort gebunden ist? Wäre ein ›universales‹ Denken möglich, das zwischen und über den Orten bzw. das stets von woanders her denkt? Verändert oder verlagert eine Pluralität der Orte das offenkundige Spannungsgemenge zwischen Denken und Ort?« Auf diese tief liegenden Fragen haben die damaligen Vorträge, auf je unterschiedliche Weise, versucht auf hohem Niveau zu antworten und mussten dabei unweigerlich mit anderen Standpunkten und Denktraditionen in eine Diskussion – wenn man so möchte in einen Polylog – eintreten. Die Artikel des vorliegenden Bandes stellen somit nicht nur eine Überarbeitung der damaligen Reden dar, sondern durchaus auch den Versuch einer Übersetzung der Diskussionen, die sich als Revidierungen und Erweiterungen der eignen Haltung in den Text mit-eingeschrieben haben. Doch wir möchten an dieser Stelle nicht allzu viel vorwegnehmen. Unser Band beginnt ohnehin mit drei einleitenden Artikeln, welche die Thematik »Ort/e des Denkens« nochmals facettenreich und ausführlich einführen werden. Im Anschluss daran finden sich schließlich in den drei Bereichen »Zum Anspruch interkultureller Philosophie«, »Phänomenologien« und »Das Politische« die Beiträge unserer AutorInnen. Die Verortung der Artikel in gewissen Themenbereichen soll jedoch keineswegs eine Etikettierung bezwecken oder gar vorwegnehmen wollen, unter welchem Gesichtspunkt der jeweilige Artikel zu lesen ist, sondern möchte lediglich den LeserInnen eine minimale Orientierung und Strukturierungen anbieten. Die Texte sprechen ohnehin für sich – und ermöglichen im Gesamten eine weitestmögliche Pluralität im Zugang zur Fragestellung des Ortes bzw. eines »ortsgebundenen« Denkens. Zumindest der Etymologie nach stehen sich bekanntlich Denken und Danken nahe. So möchten wir uns als Herausgeber bei dieser Gelegenheit nochmals herzlichst bei allen AutorInnen für ihre Denkbemühungen und ihr mannigfaltiges Engagement in diesem Projekt bedanken. Nicht zuletzt danken wir ihnen auch dafür, dass sie sich 12 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Vorwort
bereit erklärt haben, jeweils den Text einer anderen AutorIn nochmals gegenzulesen. Unser Dank gilt ferner unseren KooperationspartnerInnen: dem Institut für Philosophie an der Universität Wien (insbesondere dem Forschungsbereich »Philosophie in einer globalen Welt«), der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (WiGiP), der Zeitschrift »Polylog«, dem Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK, insbesondere Thomas Hübel für seine stets hilfsbereite Unterstützung) sowie der Abteilung für Wissenschaftsförderung der Stadt Wien (MA 7) für die großzügige Subventionierung. Danken möchten wir auch Fabian Gabelberger, Ali-Haydar Gündoğdu, Ersin Gülsen, Christoph Hubatschke, Rafaela Siegenthaler, Joe Simon und Barbara Reisinger für die tatkräftige Mitarbeit und mannigfaltige Unterstützung bei der Realisierung der Tagung, sowie Atalay Melike und Christopher Williams für die musikalische und künstlerische Begleitung. Nicht zuletzt wünschen wir schließlich den LeserInnen, auch im Namen aller beteiligten AutorInnen, eine erkenntnisreiche und bewegende Lektüre. Die Herausgeber
Wien, Mai 2016
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Foreword
The contributions in this collection were conceived as part of a conference held in September 2013 at the University of Vienna titled »Place/s of Thinking – On the Claims of inter›cultural‹ Philosophy«. The participating conference speakers themselves came from many different places. Only speaking geographically, there were participants from four continents and from more than fifteen countries present. The thematic focus of the meeting as well as of the present volume was set forth in a Call for Papers that we made available through various channels at the end of 2012. To wit: »Thinking happens at/in a place. Obviously, there always needs to be a site or a point of view where thinking occurs – a place at which a thought manifests, arrives, changes itself and proceeds along in new ways. At first, this statement sounds trivial and obvious. Of course, thinking in any manner presumes a place, just as every statement, every action, every sensation, and so forth does. It appears then that it would be nearly impossible for thinking to take place without actually taking place; thinking would simply have no impression or expression. Certainly, ›place‹ can refer to a manifold of things – the body (lived and physical), political class, social status, (socialized) gender, language, cultural networks, lifeworlds, and last but not least (geographical) landscapes as well as (historical) time periods. All of these are, within each constellation, not only the places that condition thought, rather each appears to allow only a determined, bordered, and restricted type of thinking according to each sense of place. And yet, deeply penetrating experiences of thinking in both the past and present always again raise the claim of being universal and in this sense of being interand/or trans-cultural, which always means between bodies and beyond the body, between and beyond the strata and settings of geography, time, language, gender, skin color, and so on. The breadth of this problem prompts a question, namely, what are the theoretical approaches that can help us explore and under15 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Foreword
stand the complexities of where thinking takes place? How can we comprehend this unfathomable concept of ›a place‹, and why does it seem that thinking presupposes it—or rather, if anything, does place shape thinking? Can one speak at all of a ›pure‹ place, unaffected by thinking, without running into problems? Or, on the contrary, does thinking have to be bound to a certain place? Might ›universal‹ thinking be possible, in a way that thinks between and beyond places and that occurs always from elsewhere? Does a plurality of places change or resituate the apparent tension between thinking and place?« The speeches given at the time attempted to respond at a high level to these deep questions, in their different ways, and thereby they inevitably entered into a discussion with other viewpoints and traditions of thought, entering into a Polylog as it were. The articles in this volume thus represent not only a further working out of these speeches, but they also most certainly represent an attempt to translate into text the discussions that have emerged into revisions and extensions of this stance. But we would like to avoid anticipating too much on this point in advance. As it stands though, our volume starts with three preliminary articles introducing the subject »Place/s of Thinking«, this time in a more multifaceted and detailed manner. Following this, there are then finally the contributions from our authors in the three areas titled »On the Claim to Intercultural Philosophy«, »Phenomenologies«, and »The Political«. However, the placement of these articles within certain subject areas should in no way be thought of as aiming to label or anticipate in advance the perspective from which each article is to be read, but these labels instead reflect the desire to offer the reader a minimal level of orientation and structure. The texts speak for themselves – and, as a whole, they allow for the widest possible pluralism in approaches to the question of place and »place-bound« thinking. There is, at the very least, an established etymology that closely links thinking and thanking. So as the publishers of this volume we would like to take this occasion to give sincere thanks to all of the authors for their efforts in thinking through these issues and for their manifold engagement with this project. Last but not least, we thank the parties that agreed to each »counter-read« the text of the other authors as part of our editorial process. Our thanks also go to our project-partners: the Institute of Philosophy at the University of Vienna (in particular the Research Area »Philosophy in a Global World«), the Viennese Society for Intercultural Philosophy (WiGiP), 16 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Foreword
the journal Polylog, the Institute of Science and Art (IWK, in particular Thomas Hübel for his consistent support), and the City of Vienna’s Municipal Department for Cultural Affairs (MA 7) for their generous subsidies. We also wish to thank Fabian Gabelberger, Ali Haydar Gündoğdu, Ersin Gülsen, Christoph Hubatschke, Rafaela Siegenthaler, Joe Simon, and Barbara Reisinger for their active participation and support in helping to bring the conference to realization, as well as Atalay Melike and Christopher Williams for providing musical and artistic accompaniment. Finally, on behalf of all of the participating authors, we wish you an insightful and moving experience in reading these essays. The Publishers
Vienna, May 2016
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Teil I. Eröffnung
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Georg Stenger
Ort/e – Ortungen – Orientierungen. Einleitende Bemerkungen
I.
Ort/e
1)
Zuschreibungen und Bestimmungen
Das Wort »Ort« stammt aus dem Althochdeutschen und bedeutet so viel wie »Spitze«, »Platz«, im weiteren Sinne auch »Raum«, wenn man so will »zugespitzter Raum«, fokussierter Raum, »getroffener Raum«. Paul Klee wird eines seiner Bilder »betroffener Ort« nennen und er zeigt darin, dass der Ort als Ort immer »betroffen« ist, insoweit man den Ort nicht schon voraussetzt, sondern den Weg dorthin, seine Genese, also wie der Ort zum Ort wird, aufzeigt. 1 Zugleich findet er Anwendung in Kontexten, die unterschiedliche Ebenen ansprechen, beschreiben und umschreiben, die nicht ohne Weiteres ineinander übersetzbar sind. »Geometrisch« betrachtet markiert der Ort eine Stelle, einen Punkt oder eine Fläche, die von einer Anzahl oder Menge von Punkten definiert sind, die wiederum durch bestimmte geometrische Eigenschaften gekennzeichnet werden. Des Weiteren spielt der Bestimmungsfaktor eine große Rolle, weshalb man auch von einer »Ortsbestimmung« spricht, durchaus zu verstehen im Sinne einer »Bestimmung des Ortes« wie auch einem »Ort der Bestimmung«, wie man ihn mit einer »Positionierung« oder »Position« umschreiben könnte. Position meint eigentlich immer Positionsbestimmung, sei dies eine geographische, eine wissenschaftliche, eine politische, eine philosophische oder welche Position auch immer. »Bestimmung« in diesem Sinne schafft und erschafft Orte, bringt sie hervor. Man spricht von »Ortschaft« und meint damit zunächst Orte, die entstehen, die entstanden sind, gewachsen sind und weiter wachsen, seien dies Siedlungen, Dörfer, Städte, Institutionen und dergleichen P. Klee, Betroffener Ort, 1922. Feder, Bleistift und Aquarell auf Papier, auf Karton, 30,7 x 23,1 cm. Zentrum Paul Klee, Bern.
1
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Georg Stenger
mehr. In der Bezeichnung selbst stecken schon bestimmte und zugleich bestimmende Züge, die über ihre geometrische, landeskundliche Bezeichnung hinaus auch soziale, gesellschaftliche, kulturelle und weitere Zuschreibungen haben. Man will ja auch immer wissen, um welche Ortschaft es sich handelt, und die Gründe dafür mögen ganz unterschiedlich sein, aber das dahinter stehende Ansinnen, um einen Ort wissen zu wollen, scheint nach einer Art Ortszuschreibung zu fragen, die wiederum Positionierung und dergleichen abverlangt. Ein solcher Positionsgewinn besagt Klärung, Aufklärung über den jeweiligen Abstand, die jeweilige Distanz, die wiederum für die Ortszuschreibung wie für die Position, wenn man so will den eigenen Ort, die eigene Position verantwortlich zeichnen. Es scheint sich hier ein erster Hinweis anzukündigen, den man mit dem Topos der »Pluralität« umschreiben könnte, der sich durchziehen wird, der sich verlagert, der auffordert, herausfordert, und der darin nie verlassen wird, vielleicht auch nie verlassen werden kann. Wird »Ort« gesagt, dann ist nicht allein der »Ort selbst« gemeint, es ist darin stets ein anderer Ort zumindest implizit mitangesprochen, ohne dass diese Konstellation sogleich mit der logischen Anwendung des »Satzes vom Widerspruch«, wonach es unmöglich sei, dass etwas zugleich sei und nicht sei, Ort also nur aufgrund von Nicht-Ort möglich sei, hinreichend beantwortet werden könnte. Darauf scheinen jedenfalls die erwähnten Bereichszuschreibungen des Topos »Ort« hinzuweisen – ja »Topos« selbst meint schon die sprachlich-begriffliche Verortung eines Terminus –, weshalb darin schon ein vorgängiges sich Vervielfältigen angelegt zu sein scheint, sodass man die These vertreten könnte: »Topoi« ist beinahe der ursprünglichere Begriff als »Topos«, weshalb man auch von einer Art »Pluraletantum« sprechen könnte. Klassische Beispiele für ein Pluraletantum wie etwa »Leute« oder »Tropen« sind gleichwohl etwas anders gelagert, und doch beginnt es auch hier schon zu oszillieren. So nannten die Pyrrhoniker Trope nach einem Begriff der Rhetorik jene Gründe, die sich für die Unmöglichkeit der Erkenntnis der Wirklichkeit und der Wahrheit anführen ließen. 2 Anders und doch auch ein wenig verwandt zeigen sich Claude LéviStrauss’ »Traurige Tropen« 3, jene »Sonnenwendgebiete« im brasiliaVgl. hierzu D. Heidemann, Der Begriff des Skeptizismus: Seine Systematischen Formen, Die Pyrrhonische Skepsis und Hegels Herausforderung, Berlin/New York 2007. 3 C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt 1978. 2
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Ort/e – Ortungen – Orientierungen
nischen Urwald, die den Blick des »französischen Strukturalismus« auf die Topoi des Eigenen und Fremden wenden sollte. Gleich wie man es wenden mag, hier geht etwas auseinander und zugleich aufeinander zu, mit der Tendenz zu »pluralen« Verfasstheiten.
2)
Interdisziplinäre Anschlüsse
An dieser Stelle möchte ich in aller Kürze auf die in den letzten Jahren vehement zunehmenden Forschungen zum »Raum«, denen stets Ort- und Ordnungsfigurationen eingeschrieben sind, hinweisen. Dieses Forschungsinteresse durchzieht nahezu alle Wissenschaftskulturen, vornehmlich die Kultur- und Medienwissenschaften, aber auch die Geschichts- und Literaturwissenschaften, Mathematik, Physik und Topologie, Ethnologie und Sozialanthropologie, Soziologie, Postcolonial Studies und -Theorie, und nicht zuletzt die Philosophie. »Ort und Raum«, »Ort und Zeit« – Zeit vor allem als vierte Raumkategorie – feiern fröhliche Urständ grundbegrifflicher Selbstverständigungen. 4 So sprechen etwa auch schon Peter Pörtner und Jens Heise bezüglich der japanischen Philosophie (vor allem seit der Meiji-Periode) von einer »Topischen Philosophie«, anhand derer sie Sinn und Funktion der Orte im östlichen Denken und damit verbunden deren »Brüche« nachzeichnen. 5
3)
Philosophische Vorklärung
Mit den Hinweisen auf Position, Positionierung wird schon deutlich, dass wir in allem, was wir theoretisch wie praktisch tun, dies von einem Ort, näherhin von einem Standpunkt aus tun. Und wie begann die Philosophie, die wir die klassische – und wer sollte darüber verwundert sein? – gewohnt sind zu nennen, anders als dass sie sich genau über diese Verortung Klarheit verschaffen wollte: Nichts geht Vgl. auszugsweise D. Bachmann-Medick, Spatial Turn. In: Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 5. Auflage mit neuem Nachwort. Reinbek bei Hamburg 2014; M. Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001; J. Dünne, S. Günzel (Hg.) Raumtheorie – Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006. 5 P. Pörtner, J. Heise, Die Philosophie Japans: von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1995. 4
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Georg Stenger
ohne Standort, ohne Standpunkt, ja wenn wir Philosophie treiben (wollen), dann bedienen wir uns genau dessen: den Standpunkt, der immer ein jeweiliger sein mag, zu eruieren, zu klären, gelingendenfalls auch auf seine ungeprüften Voraussetzungen hin aufzuklären, was wiederum einfordert, gute Gründe geben und diese argumentativ vorbringen zu können. Ein Denken ohne Ort, ohne Verortung, welcher näheren Zuschreibungen auch immer, es wäre so wenig möglich wie ein Ort ohne Denken. »Philosophie« – und man mag diese Schattenrisszeichnung an dieser Stelle, an diesem Ort hinnehmen – weiß nicht nur um diese Ortsgebundenheit, sie möchte auch den »Ort der Orte«, ja aller Orte ausfindig machen. 6 Dabei fand sie sich, und sie tut dies bis heute, an jenem Ort – oder sagen wir besser gleich – an jenen Orten wieder, die da sagen: Die Idee, das Wesen, das Allgemeine, das Formale, die Kategorien usf. So die guten alten Griechen, mit denen sich die abendländische Philosophie auf den Weg machte, auf einen Weg allerdings, der zunehmend das Denken vom »Ort« abzog, abstrahierte, wodurch die Orte selbst immer mehr verblassten und nur noch als Abschussrampen des hochfliegenden Geistes ihre Berechtigung fanden. Heute indes wissen wir um die Einseitigkeit dieses Unterfangens, und es war kein Geringerer als Karl Jaspers, der vor dem Hintergrund vielerlei Vorläufer in den Denkgeschichten der globalen Welt, die hier schon, gewiss in unterschiedlicher Deutlichkeit, auf dem Weg waren, in seinem sogenannten »Achsenzeittheorem« diese Problemstellung besonders prägnant auf den Punkt gebracht hat: Worum geht es? Jaspers führt – darf man das so sagen? – die gesamte Menschheit, Fotografen und Philosophen inklusive, an einen »Ort«, der selbst schon um mehrere »Orte«, zumindest aber um drei wusste, an dem dasjenige anhob, was man in der Sprache der Philosophie »das Eine« (τὸ ἓν) nennt. Dieser »Ort« hatte seinen Raum, besser seine Räume, hatte seine Zeit, besser seine Zeiten; denn unabhängig voneinander ist, so Jaspers, der Menschheit »ein gemeinsamer Rahmen geschichtlichen Selbstverständnisses erwachsen«, der in Zukunft »für alle Völker« verbindlich sein sollte. China, Indien und Griechenland (das Abendland) entwickeln, ohne voneinander zu wissen, »GrundVgl. hierzu H. Rombach, Die Gegenwart der Philosophie. Die Grundprobleme der abendländischen Philosophie und der gegenwärtige Stand des philosophischen Fragens, Freiburg/München 1988. Rombach unterscheidet hier zwischen einem »Standpunkt« und »Standort« der Philosophie und schreibt dem griechischen Denken ein »biographisches Denken«, dem mittelalterlichen ein »doxographisches Denken und der Neuzeit ein »topographisches Denken« zu. Siehe ebd. 45–94.
6
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Ort/e – Ortungen – Orientierungen
kategorien, aus denen die Menschen bis heute leben. In jedem Schritt wurde der Schritt ins Universale getan.« 7 Ein neues »Heureka« ist man erneut auszurufen geneigt! Indes, was war damit gewonnen? Vielleicht dies, dass schon »das Eine« mindestens dreimal startete, also von Anfang an plural aufgestellt war. Andererseits bleibt zu fragen, ob dabei die »Orte« selbst auch hinsichtlich ihrer intrinsischen Implikatur des Denkens mitberücksichtigt sind, und nicht allein auf geografische Räume und historische Zeiten reduziert werden? »Orte«, so haben wir mehrmals auf unserer Tagung gehört, bedürfen nicht nur dieser und jener Zuschreibungen, etwa sozialer, sprachlicher, lebensweltlicher, ästhetischer, körperlich-leiblicher, geschlechtlicher und anderer Natur – man würde diese wohl meist als bloßes Kontextualisierungsangebot, als Anschauungsmaterial und als kulturelle Besonderheiten wahr- und aufnehmen –, sie bedingen nicht nur, nein, sie bestimmen das Denken mit, sodass ein Denken ohne sie, ohne diese orthafte, konstitutiv notwendige Verankerung nicht dieses Denken wäre. Wäre es überhaupt noch Denken, wenn sich, um es so zu sagen, das Universale nicht im Konkreten wiederfinden würde, aber so, dass dieser Fund jeweils über den Sinn des Universalen mitentschiede? Trotz allem: Jaspers’ Einsicht war eminent wichtig und er hat denn auch – jedenfalls bezüglich des ortaffinen Befundes zwischen Ort resp. Ortschaften und Denken – veritable NachfolgerInnen gefunden. So führt etwa Elmar Holenstein in seinem ingeniösen Buch »Philosophie-Atlas. Orte [!] und Wege des Denkens« den Leser in die leitende Denkfigur »Geographie der Philosophie – Philosophie der Geographie« so ein, dass eine kartographische »Vermessung der Welt« die »Ortschaften des Denkens« ansichtig werden lässt. 8
II.
Ortungen
Mit dem Topos »Ortungen« möchte ich nun auf einige, wenn man dies so sagen kann, seismographisch angelegte Züge philosophischer Selbstverständigung hinweisen, die nicht erst einem lokalisierenden Impetus, sondern eher einem freilegenden, öffnenden Grundmotiv
7 8
K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, 20 f. E. Holenstein, Philosophie-Atlas: Orte und Wege des Denkens, Zürich 2004, 7–31.
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Georg Stenger
nachgehen wollen. Manches werde ich hier nur ansprechen können, manches etwas näher ausführen.
1.
Methodenfrage – Methodenprobleme
a) Für die philosophischen Anfragen, und hierüber dürfte einigermaßen Konsens in der »Scientific Community« der Philosophie bestehen, erweisen sich die methodischen Grundlagen, mit denen ja immer auch ein bestimmtes Verständnis von systematischer Arbeit und Bewusstheit einhergeht, als fundamental. Bei aller Heterogenität, ja allem Widerstreit zwischen den einzelnen Bereichen in der Philosophie – womit immer auch unterschiedliche Traditionsstränge, Denkformen/-bewegungen, Argumentationsstile und weiteres mehr verbunden sind und so mancher Ansatz durchaus seine Überzeugungskraft aus der Absetzung gegenüber einem oder mehreren anderen Ansätzen gewinnt, nach dem Motto »gute« oder »schlechte Philosophie« zu treiben –, geht es doch immer, und dies sollten wir uns gegenseitig »ansinnen« (Kant) und nicht bloß unterstellen (Habermas, Apel), um die Frage, wie man an eine Problemstellung, oder sagen wir moderater, an eine Thematik herangehen kann, um diese sachlich, argumentativ, erhellend und gelingendenfalls überzeugend zur Darstellung, ja zur Entfaltung bringen zu können. Die Philosophie insgesamt ist dermaßen reich an Konzeptionen verschiedenster Spielarten, dass es nicht, jedenfalls prima facie, einsichtig ist, auf eine zu verzichten. Schön gesprochen – aber wie sollte das gehen können? Dürfen wir nicht froh darüber sein, auch nur eine, gewiss mit all ihren Herkunftslinien und Entwicklungsmöglichkeiten, wenigstens so weit und gut zu kennen, dass wir daraus unsere Einsichten und Überzeugungen gewinnen und entsprechend argumentativ aufweisen können? Wie noch andere? Und dies auf jeweils philosophischer Augenhöhe? – Da ist was dran. Sieht man sich die Geschichte des Denkens und der PhilosophInnen an, so fällt genau dies ins Auge, dass ihre Ansätze jeweils mit einer Einsicht, einer Evidenz einhergingen, die, wenn sie denn eine ist, sich durchträgt, vielleicht hier und da verlagert, überformt, umgestaltet. Jedenfalls haben all jene dies zu bieten, die wir bislang als Kanon der Philosophie, beinahe über alle Gräben hinweg, beurteilen. Und doch – und mir scheint dies für die Interkulturelle Philosophie besonders herausfordernd, aber eben auch attraktiv zu sein – sollte die größtmögliche Freiheit in der Aus26 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Ort/e – Ortungen – Orientierungen
wahl eines Ansatzes, einer Konzeption, womit wie gesagt bestimmte Denktraditionen und -formen und eben auch Methodiken einhergehen, bestehen. Und: Nimmt man die Verklammerung zwischen »Ort/e und Denken« ernst, so besteht darin gerade auch das Potenzial, »außereuropäische« Konzeptionen und Denkformen so aufzunehmen und mit ihnen so zu arbeiten, dass sie, im Wechselgespräch, d. h. in gegenseitig kritischer wie konstruktiver Aufnahme, überzeugen können. Ich betone dies, weil nach meiner Wahrnehmung in diesem Punkt die Geister nach wie vor sich scheiden, bei allen wohlwollenden, die political correctness bedienenden Bekundungen. b) Die wohl kaum zu unterlaufende Verschränkung von Zugangsart und Sachgehalt lässt schon erahnen, welche jeweiligen Vorentscheidungen anhand einer Zugangsart getroffen und damit grundbegrifflich gesehen vorausgesetzt sind und werden. Sich dessen bewusst zu sein, d. h. die methodische Basis selbst mit zum Thema zu machen, erweist sich von größter Relevanz. Das hieße im Weiteren, nicht etwa nur anhand einer Methode resp. theoretischer Grundkonzepte gleichsam wertneutral operieren zu wollen, sondern in der Handhabung von Zugangsart und Sachgehalt nicht bei deren einmal gemachten Setzungen stehen zu bleiben, sondern als gegenseitig sich auf- und herausforderndes Geschehen zu sehen, das sich als kritik- und korrekturoffen zeigt. Das im vorherigen Punkt Gesagte aufgreifend möchte ich nicht verhehlen, in der phänomenologischen Forschungsarbeit eine besondere Möglichkeit auch für interkulturelle Fragestellungen zu sehen. Aber wie gesagt: Das ist eine Möglichkeit von vielen. War es schon Husserls phänomenologische Grundeinsicht, dass wir, um dem Wahrnehmungsglauben der Geradeauseinstellung, also der sog. Realität und Empirie in ihrem bloßen Gegebensein, d. h. auch einem gewissen »Dogmatismus der Wahrnehmung« nicht aufzusitzen, vor diesen zurücktreten müssen, d. h. »Epoché üben« müssen, um die spezifische Korrelation von Subjekt- und entsprechender Objektseite, also die jeweilige Weise der Gegebenheit und der ihr korrelierenden Bewusstseinsweise zu erhalten, so hat B. Waldenfels diese Einsicht als »einen Prozess« präzisiert oder auch verflüssigt, »in dem Sachgehalt und Zugangsart unauflöslich miteinander verschränkt sind.« 9 D. h., die transzendentalphilosophische Einsicht Kants, wo9
B. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie, München 1992, 19.
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Georg Stenger
nach Methode gleich Sache bedeutet, wird ernst genommen, zugleich aber auf ihre je spezifische Methoden- und Sachproblematik hin erweitert und vertieft. »›Anders wahrnehmen ist Anderes wahrnehmen‹, heißt es lapidar bei Levinas.« (Ebd.) Bezüglich des Arbeitens auf dem Gebiet der interkulturellen Philosophie erscheint mir, und hier schließe ich mich an Waldenfels an, eine Thematisierung des Fremden ein wichtiger Baustein zu sein, der für das Anliegen einer Phänomenologie der Fremderfahrung von erheblicher Bedeutung ist. Denn »›Erfahrungen machen‹ heißt etwas durchmachen und nicht etwas herstellen. (…) Erfahrung bedeutet dem (Denken von Empirismus und Rationalismus) gegenüber ein Prozess, in dem sich Sinn bildet und artikuliert und in dem die Dinge Struktur und Gestalt annehmen. Die Phänomenologie hat es, wie es bei Merleau-Ponty heißt, mit einem Sinn in statu nascendi zu tun und nicht mit den Gegebenheiten einer fertigen Welt.« 10
2.
Fremderfahrung, oder: Arbeit am Phänomen des Ortes
Waldenfels, der in seinen eingehenden Analysen zu Orts- und Zeitverschiebungen 11 das Erfahrungsmotiv besonders stark macht, merkt vor dem Hintergrund der »Heimwelt-Fremdwelt«-Untersuchungen Husserls wie auch jener Merleau-Pontys zur »Interkorporeité« an: Schon »das Wort ›Interkulturalität‹« benennt eine »Zwischensphäre, deren intermedialer Charakter weder auf Eigenes zurückgeführt noch in ein Ganzes integriert, noch universalen Gesetzen unterworfen werden kann.« 12 Wie immer man die Universalisierungs- und Globalisierungsbestrebungen verstehen mag, sie »setzen eine Fremderfahrung voraus, die sie niemals einholen« (ebd. 111) können. Eigenes und Fremdes sind keine festen Größen, sondern entspringen einem Prozess der Ein- und Ausgrenzung, der sich auf unterschiedlichen Ebenen bekundet. Zum einen beschreibt Waldenfels den »paradoxen Charakter« der B. Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt am Main 1997, 19. 11 B. Waldenfels, Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhafter Erfahrung, Frankfurt am Main 2009. 12 B. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/M. 2006; ders., Studien zur Phänomenologie des Fremden 1–4, Frankfurt/M. 1997–1999, 110. 10
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Ort/e – Ortungen – Orientierungen
Fremderfahrung im Sinne »einer Zugänglichkeit des Unzugänglichen, einer Zugehörigkeit in der Nichtzugehörigkeit, einer Unverständlichkeit in der Verständlichkeit«, was genuine Züge der Fremderfahrung benennt, in der sich jeder »Bezug [zugleich] als Entzug dar (stellt)«. (Ebd. 115 f.) Zum anderen zeigt das Phänomen der »Verflechtung von Eigenem und Fremdem« (ebd. 117 f.) einen Prozess, der über verschiedene Fremdheitsstile und Fremdheitsgrade generiert (alltägliche, normale/strukturelle/radikale Fremdheit) und nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden kann. Insgesamt führen, so könnte man sagen, die Analysen – Waldenfels nennt sie »Steigerungsgrade des Fremdseins« – in das Erfahren der Fremdheit selbst hinein, sie zeigen die unterschiedliche Dimensionierung der Fremdheit. Vor allem aber wird deutlich, dass »Fremdheit« nicht einfach ein Topos ist, sondern ein Erfahren, welches in steigendem Maße zeigt, wie Fremdheit sich konstituiert. Wir stehen nicht noch einmal neben dieser Erfahrung, um sie beurteilen zu können, sondern wir werden nur insoweit Erfahrene des Fremden, inwieweit wir diese Fremderfahrungen realiter machen und von diesen angegangen werden. Des Weiteren zeigt die Fremderfahrung, dass bestimmte Ordnungsmuster durchbrochen werden, dass ihr ein Überschuss innewohnt, der die jeweiligen Sinnvorgaben und Gesetzlichkeiten übersteigt und von ihnen abweicht (vgl. ebd. 125). Ordnung und Außerordentliches bilden daher eine nicht-reduzierbare oder aufeinander zurückführbare Konstellation. So wohnt etwa jedem Politischen ein Apolitisches bei, so wie schon Sokrates mit seiner philosophischen Existenz den Athenern eine »eigentümliche Atopie« ihres Topos (ebd. 131), ihrer Ordnung zumutete und dadurch das ›Eigene‹ der Griechen verfremdete. Die Fremderfahrung erweist sich als Konstituens eines jeden Werdeprozesses, gehört zu diesem doch immer auch ein Durchbrechen, ein »Aussetzen selbstverständlicher Annahmen, ein Abweichen vom Vertrauten, ein Zurücktreten vor dem Fremdem«. (Ebd.) Diese kurzen Hinweise möchten ihr Augenmerk darauf richten, dass man die interkulturelle Situation, wenn man sie denn realiter als »inter-kulturell« aufnehmen möchte, als zu erfahrende anzugehen wäre. Fremderfahrung erweist sich hier als konstitutiv, geschehe dies manchmal mehr, manchmal weniger stark. Orte werden als Orte, als feststehende Orte fragwürdig, sie changieren zwischen Ort und Nicht-Ort. Genau dies aber hieße »Arbeit am Phänomen des Ortes«. Anders gesagt: Wie werden Orte zu Orten resp. Ortschaften angesichts dieser inter-kulturellen Situation. 29 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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3.
Relationalität, oder: Im »Zwischen« der Orte
Ein weiterer Gesichtspunkt der »Ortung« oder des »Ortens« beträfe den Zusammenhang der »Gegenständlichkeit« resp. des »Substanzhaften« auf der einen und der »Relationalität« auf der anderen Seite, ebenso wie die damit zusammenhängenden Züge des »Statischen« und »Festen« sowie die des »Weges« und des »Fließens«. Der klassische Vernunftbegriff westlicher Prägung hat sich schon sehr früh für das gegenständliche, sprich propositionale Modell entschieden, da dieses die Fragen nach Wahrheit und Geltung am besten zu beantworten schien. Darauf fußt bis heute jedes erkenntnistheoretische Konzept, ebenso wie der Gesichtspunkt des Normativen daraus abgeleitet wird. Auch wenn es in der westlichen Philosophie durchaus funktionale und relationale Ansätze gab und gibt – man denke etwa an Cusanus –, so haben sich diese gleichwohl nicht gegen das propositionale und substanzialistische Denken durchsetzen können, welches bis in aktuelle wissenschaftsphilosophische Ansätze seine Ausläufer hat. Gewiss, systemtheoretische Ansätze sind durchweg funktional und relational grundiert, aber diese sind mehr in die Einzelwissenschaften abgewandert, mit dem Ergebnis eines eher zunehmenden kausalistischen resp. mechanistischen Denkens auf der einen und Konstruktionstheorien und -praktiken auf der anderen Seite. Der anhaltende Ruf nach philosophischer Klärungsarbeit und Hilfestellung kann da nicht ausbleiben, und er macht sich faktisch denn auch darin bemerkbar, dass sich diese Wissenschaften vermehrt ihrer ethischen Belange versichern (müssen). Im Gegenzug stand im asiatischen Kontext der relationale Gesichtspunkt wesentlich stärker im Vordergrund. In der MādhyamikaTradition (Mittlere Weg) hat Nāgārjuna das berühmte »Prajñāpāramitā-Sūtra« in seiner philosophischen Relevanz erkannt. Jenseits aller Ichlichkeit und Gegenständlichkeit hat er ein Denken entwickelt, das alle Dinge und alles Leben aus dem alleinigen Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit versteht. 13 Dadurch aber wird jeglicher Boden, auf dem man stehen könnte, entzogen; es gibt nichts als für sich Seiendes, das einen »Grund« abgeben könnte. Relational scharf gedacht Vgl. Nāgārjuna, Die mittlere Lehre des Nagarjuna, übers. v. M. Walleser, Heidelberg Winter 1911; Prajñāpāramitā. Selected Sayings from the Perfection of Wisdom, übers. v. E. Conze, London 1955; vgl. auch B. Weber-Brosamer, D. M. Back, Die Philosophie der Leere. Nāgārjunas Mulamadhyamaka-Karikas, Wiesbaden 2005.
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Ort/e – Ortungen – Orientierungen
bleibt nur eine Bodenlosigkeit, die aber nicht nichts bedeutet, sondern die die völlig andere Denkweise relationaler Verwobenheit aufzeigt. Vor dem Hintergrund des relationalen Denkens hat sich denn auch eine eigene Ethik entwickelt, die ihren Ausgang gerade nicht von einem einzelnen Personen- oder Individualkern nimmt. Daraus ergeben sich dann auch andere Blickwendungen hinsichtlich dessen, was man unter Gemeinschaft, Gesellschaft und sozialer Welt versteht. Ram A. Mall hat sehr schön aufgezeigt, wie mit Nāgārjunas Konzeption des »Entstehens in Abhängigkeit« auch eine eigenständige Logikform entstanden ist, die denn auch von Nāgārjuna selbst konkret durchgeführt wurde. Mit der »Logik der Leerheit (Shunyata)« geht schließlich eine »Soteriologie« einher, die wiederum auf eine »Ethik ohne Theologie und Metaphysik« zuläuft. 14 Die Relationalität wird in all dem so verstanden, dass die Pole nicht vor ihrem gegenseitigen Bezug existieren, sondern zuallererst aus der relationalen Bezüglichkeit entstehen. Es geht hier also um eine Ortwerdung und damit um eine Raumöffnung, ja Raumeröffnung.
4.
Vortheoretische, vor-propositionale Ortungen
Es sei an dieser Stelle ein kurzer Blick auf die Pragmatik und den Vollzugssinn des Daseins geworfen, insofern Raum als Erfahrung der Nähe (Heidegger) und die »Logik des Ortes« als »schaffendes Geschaffenwerden« zwischen Mensch, Natur und Geschichte (Nishida) verstanden wird. Mit Heidegger wäre zunächst zu fragen, ob das, was »ist« und vor uns liegt, tatsächlich Objektivität und damit Gültigkeit beanspruchen kann? Zunächst und zumeist schon, aber ist dies auch schon von seinem »Ort« her angemessen betrachtet? Bedarf es nicht einer Untersuchung dahingehend, dass wir die Entstehung und den Sinn unserer Verortung und unseres Verortetseins und damit auch alle Zuschreibungen, die wir von da aus vornehmen können, überhaupt erst einmal verstehen, oder topologisch formuliert »ausloten« müssen? Heideggers pragmatischer Grundzug, der sich vor allem in der räumlichen Grundstruktur des Daseins bekundet 15, wird immer noch unRam Adhar Mall, Nagarjunas Philosophie interkulturell gelesen, Nordhausen 2006, insbes. 72–109, 140–148. 15 Vgl. M. Jung, Hermeneutik zur Einführung, Kap. 3: »Die pragmatische Wende: 14
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terschätzt. Was bedeutet es, wenn »Dasein als das In-der-Welt-sein« angesetzt wird, als Hinausstehen (ex-istere), als Raum-geben, als »Nähe erfahrend« aus dem besorgenden Umgang mit …, als vertraut sein mit …, was auf einen vorgängigen »Verweisungszusammenhang« hindeutet, der im Weiteren zu einer »Bewandtnisganzheit« aufläuft, wodurch ein Wovonher all dessen, was »ist«, überhaupt erst verstanden werden kann – dies der eigentliche Sinn von »Seinsverständnis« im Unterschied zu einem hermeneutisch legierten Verstehensbegriff –, sprich Orientierung gewinnen lässt? 16 Der japanische Philosoph Nishida Kitarō (1870–1945) wiederum, ein Zeitgenosse der mit der Meiji-Periode einhergehenden Öffnung Japans, hat federführend an einer möglichen und zugleich eigenständigen »Moderne japanischen Denkens« mitgearbeitet. Etwa ab 1926 – man spricht hier vom »späten Nishida« – entwickelt er das Konzept der »widersprüchlichen Selbstidentität« (»Logik des sokuhi«), was einerseits einen eigentümlich dialektischen Charakter annimmt, andererseits genau daraus seinen schöpferischen Impetus gewinnt, der alles aus der wechselseitigen konstitutiven Arbeit zwischen »absoluter Selbstnegation« und »absoluter Selbstbejahung« hervortreibt. Weder sind ›Ich‹ noch ›Ding‹ noch ›Welt‹ vorausgesetzt, da diese zuallererst aus dem Geschehensprozess selbst, den Nishida auch »diskontinuierliche Kontinuität« nennt, hervorgehen. Die japanische »Kultur der Wege« findet hier ihre philosophische Fundierung, worin nicht nur Wissen und Handeln eins (chigyo goitsu) werden, das Ganze kulminiert im »Selbstgewahren« (jikaku), in dem »im Alltäglichen« der eigentliche »Geist des Weges«, sprich die eigentliche religiöse und philosophische Erfahrung, zum Tragen kommt. Es geht in Nishidas Denkansatz um nicht weniger als um eine »Selbstbestimmung der absoluten Gegenwart«, worin Raum und Zeit sowie deren geschichtliche Situierung wie zugleich Geschichtswerdung in ihrem konstitutiven Geschehenscharakter zum Vorschein kommen. Das heißt im Weiteren, dass vor den kategorialen Zuordnungsmustern von Allgemeinem und Besonderem jener Topos des »Ortes« von Dilthey zu Heidegger«; Hamburg 2002, 71–111; D. Zahavi, Phänomenologie für Einsteiger, »Heideggers Raumanalyse«, 51–57, Paderborn (UTB) 2007. 16 Vgl. paradigmatisch M. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, Frankfurt am Main 1977, §§ 22–24; zu späteren Texten zu Ort, Raum, Nähe vgl. M. Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1994, 139–156; s. hierzu auch: U. Guzzoni, Der andere Heidegger. Überlegungen zu seinem späteren Denken, Freiburg/München 2009, 105–172.
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Ort/e – Ortungen – Orientierungen
(basho) statthat, der es erlaubt, der großen Herausforderung des »absoluten Nichts« (zettai mu) mit einer »Ortlogik« konstruktiv zu begegnen. 17 Nishidas ›Ortlogik‹ ist und bleibt durchweg an ein »Erfahrungsdenken« geknüpft, das er früh entwickelt hatte 18, und zugleich ist er mit diesem Konzept der ›Ortlogik‹ bestrebt zu zeigen, dass es noch vor einem bloß dialektischen Vermittlungsgeschehen um die Eröffnung eines Erfahrungssinnes geht, der »von der Welt her« kommend als der Bedingungsfolie für die Subjektkonstitution ansetzt. 19 Hierin kann deutlich werden, inwiefern es von ostasiatischer Seite aus von Anfang an ein gewisses Unbehagen bezüglich eines westlichen Subjekt- und Personenbegriffs gibt und worin wiederum die Spezifik ostasiatisch-japanischer Subjektkonstitution liegen könnte. Schon allein das Wort »nin-gen«, das gewöhnlich mit »Mensch« übersetzt wird, bedeutet eigentlich »Zwischen-sein von Mensch und Mensch, Mensch und Natur«, was mehr als nur ein Fingerzeig ist. »Die Europäer neigen dazu, ihre eigene bisherige Kultur für die einzig hochentwickelte und die beste zu halten. Sie tendieren dazu, zu meinen, andere Völker müssten, wenn sie einen Entwicklungsfortschritt machen, genauso wie sie selber werden. Ich halte dies für eine Dass Nishidas Ortlogik und sein »Denken des Ortes« weit über rein philosophieinterne Problemstellungen hinausreicht, zeigen mehr als veritable Versuche, das »Basho-Denken« auch für technische, ökonomische und soziale Belange furchtbar zu machen. Alle die im Text in Anführungszeichen gesetzten Grundbegriffe des Denkens Nishidas finden sich an vielen Stellen, in: Kitaro Nishida, Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, übersetzt und herausgegeben von Rolf Elberfeld, WBG Darmstadt 1999. Vgl. etwa M. Maekawa, Basho Management: New Japanese Philosophiy of Manufacturing and Empowering People, Xlibris Corporation 2008. 18 Vgl. K. Nishida, Über das Gute (Zen no kenkyū). Eine Philosophie der Reinen Erfahrung, übers. v. P. Pörtner, Frankfurt/M. 1990. 19 Vgl. Nishida, K.: Selbstidentität und Kontinuität der Welt. In: R. Ohashi (Hrsg.), Die Philosophie der Kyôto-Schule. Texte und Einführung, Freiburg/München 1990, 54–118; ders.: Die Welt als Dialektisches Allgemeines, in: Y. Matsudo (Hrsg.): Die Welt als Dialektisches Allgemeines. Eine Einführung in die Spätphilosophie von Nishida Kitarô, Berlin 1990, 115–246; ders.: Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan. Übers. und hrsg. von R. Elberfeld, Darmstadt 1999; R. Ohashi: Vom Selbstwissen zur Ortlogik. Nishida und die Phänomenologie. In: H. R. Sepp (Hrsg.): Metamorphose der Phänomenologie. Dreizehn Stadien von Husserl aus. Freiburg/München 1999, 58–85; Zum Verhältnis von Nishidas und Heideggers Denken siehe G. Stenger, ›Selbst‹ als Grundwort im Spannungsfeld zwischen Heideggers und ostasiatischem Denken, in: A. Denker, S. Kadowaki, R. Ohashi, G. Stenger & H. Zaborowski (Hrsg.), Heidegger und das ostasiatische Denken. Heidegger-Jahrbuch Bd. 7, Freiburg/München, 74–101. 17
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kleinliche Eingebildetheit. Die ursprüngliche Gestalt der geschichtlichen Kultur ist meines Erachtens reicher.« 20
5.
Denkorte / Ortdenken
a)
Leib – Körper – Diskurse
Was vermag der Rückgang auf die »Erfahrung« zu erbringen, wenn diese nicht mehr länger als bloß empirischer Gegenhalt zur Erkenntnis verstanden wird? Nimmt man etwa die philosophischen Positionen des 20. Jahrhunderts wie den Pragmatismus und Neopragmatismus, Phänomenologie, Hermeneutik, Poststrukturalismus sowie teils auch die Analytische Philosophie und die Philosophie des Geistes zur Kenntnis, so wird ein jeweilig bestimmter »Realitätsbegriff« ersichtlich, welcher, gewiss methodisch und systematisch unterschiedlich konzipiert, sowohl den Erfahrungstopos wie die Leib/Körperdiskurse stark macht. Ich möchte hier nur an Ansätze erinnern, wie sie in der Philosophischen Anthropologie von Helmuth Plessner – Stichwort: »exzentrische Positionalität«, worin die Doppelverfasstheit von »Leib-sein« und »Körper-haben« herausgestellt wird – und Max Scheler – Stichwort: »materiale Wertethik«, worin neben den theoretischen und praktischen Zuschreibungen das Wertgefühl als Sittlichkeit und Wertbestimmung sich gegenseitig bedingend hervorgehoben wird – aufgewiesen worden sind. Des Weiteren wäre der konstitutive Zusammenhang von Denken und Erfahren zu erwähnen, der sich über den Wahrnehmungsprozess aufbaut. Unsere gesamte sinnlich-leibliche Signatur ist dem Wahrnehmen eingeschrieben, arbeitet nicht nur am Erkennen und Wahrnehmen mit, sondern wird selbst von diesen Prozessen mitkonstituiert. Insbesondere Maurice MerleauPonty hat hier Pionierarbeit geleistet und schon in seinem instruktiven Vorwort zur »Phänomenologie der Wahrnehmung« weist er auf das vorgängige Moment aller Erfahrung für mögliche, auch wissenschaftliche Erkenntnis hin: »Zurückgehen auf die ›Sachen selbst‹ heißt zurückgehen auf diese aller Erkenntnis vorausliegende Welt, K. Nishida, NKZ 12, 390 f., in: Nishida Kitarō Zenshū, Complete Works of Nishida Kitarō, 4th edition, Tokyo 1987–89, hier zitiert nach E. Weinmayr, Denken im Übergang – Kitarō Nishida und Martin Heidegger, in: H. Buchner (Hg.), Japan und Heidegger, Sigmaringen 1989, 39–61, hier 39.
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Ort/e – Ortungen – Orientierungen
von der alle Erkenntnis spricht und bezüglich deren alle Bestimmung der Wissenschaft notwendig abstrakt, signitiv, sekundär bleibt, so wie Geographie gegenüber der Landschaft, in der wir allererst lernten, was dergleichen wie Wald, Wiese und Fluß überhaupt ist.« 21 Dieses unhintergehbare »am Ort sein«, »im Ort sein«, welche einem »vor Ort sein« vorausgehen, meint mehr und anderes als eine »Embodied Knowledge«, ja es setzt im Unterschied zu diesem geradehin von der anderen Seite her an, um die konstitutive Genesis aufzuzeigen, d. h. »in statu nascendi« und nicht »top down« zu denken, wo alles im Grunde schon vorausgesetzt ist, um dieses nur einzuholen und reflexiv zu bestätigen. Das Prius vorprädikativer, sinnnlich-leiblicher Erfahrung indes – paradigmatisch etwa in der dimensionalen Unterscheidung zwischen Feldstruktur und Dingrealität festgehalten – fokussiert etwa bei Jean-Luc Nancy in Analysen, wo der Körper selbst zum Agens der bzw. seiner Welterfahrung wird, vorgängig aller Subjekt-Objekt-Konstellation. 22 Von hier aus erwächst eine philosophische Relevanz für all jene »Körper-Praktiken«, die auch im interkulturellen Kontext eine große Rolle spielen, wie etwa in Meditationsformen, Zen-Künsten und -Wegen und vielen anderen Praktiken. Dass hierbei mancherlei unseriöse Esoteriken und Heilsbotschaften zutage treten können, hängt mit einer kontraintuitiven Verdinglichungstendenz zusammen, gegen die eine besonnene philosophische Forschungsarbeit beständig ins Feld zu führen ist. b)
Heterotopien / Anders-Orte
»Orte«, welche auch immer, »sind (…) eigentlich im Zwischenraum zwischen ihren Worten [der Menschen Worte, G. S.] entstanden, in den Tiefenschichten ihrer Erzählungen oder auch am ortlosen Ort ihrer Träume, in der Leere ihres Herzens, kurz gesagt, in den angenehmen Gefilden der Utopien.« 23 Das ist das eine. Dennoch, so Foucault, gibt es in allen Gesellschaften »U-topien«, die gleichwohl einen konkret zu findenden »Ort« haben, ohne ihnen die »utopischen Orte« und »uchronischen Augenblicke« jemals streitig machen zu könM. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. R. Boehm, Berlin 1966, 5. 22 Vgl. J.-L. Nancy, Corpus, übers. v. N. Hodyas und T. Obergöker, Zürich – Berlin 2007, insbesondere 11–50, 97–104. 23 M. Foucault, Die Heterotopien, in: ders., Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt am Main 2005, 7–22, hier 9. 21
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nen. Kurz: Es gibt überall »Gegenräume«, Gegenorte, »reale Orte jenseits aller Orte. Zum Beispiel Gärten, Friedhöfe, Irrenanstalten, Bordelle, Gefängnisse, die Dörfer des Club Méditerranée und viele andere.« 24 Man könnte im Anschluss an Foucault eine Wissenschaft von diesen »Andersorten«, sprich eine »Heterotopologie« entwickeln, die hinschaut, sozusagen »vor Ort« sich aufhält und so die heterotopologische Signatur wohl aller Orte herausarbeitete. Die Metropolen der globalen Welt, mit ihren Cities und Randarealen, ihren Kathedralen, Bankpalästen und Avenues auf der einen, mit ihren Slums und Favelas, ihren Ghettos und Gassen mit offenen Kanalsystemen auf der »anderen« Seite, zeigen gerade in ihren unmittelbaren Gegensätzlichkeiten, dass solche Orte ohne »Andersorte«, ohne »Gegenräume« keine Orte wären. »In aller Regel bringen Heterotopien an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind«, wofür man – und Foucault führt hierzu ein »positiveres« Beispiel an – als »ältestes Beispiel« den »Garten der Perser«, »eine jahrtausendalte Schöpfung, die im Orient ohne Zweifel magische Bedeutung besaß« – nennen könnte. 25 So wie »[d]as Schreiben von Romanen« – und es ließe sich hinzufügen: das Schreiben philosophischer Texte – eine gärtnerische Tätigkeit [ist]« 26, so erfährt sich schon Schreiben selbst, ja Denken selbst als intrinsische Heterotopie zwischen Ort und Anders- oder Nichtort, zwischen Topos und Utopos, zwischen Geltung und Genesis. Es kommt nicht von Ungefähr, dass Foucault eine archäologische Genealogie zu entwickeln suchte, die sich in die weiteren Diskursfelder der Macht, der Biopolitik, der ästhetischen Lebensform und anderes mehr auszeugen sollte. Ebd. 10 f. S. ebd. 14 f.; »Der traditionelle Garten der Perser war ein Rechteck, das in vier Teile unterteilt war – für die vier Elemente, aus denen die Welt bestand. In der Mitte, am Kreuzungspunkt der vier Teile, befand sich ein heiliger Raum: ein Springbrunnen oder ein Tempel. Um diesen Mittelpunkt herum war die Pflanzenwelt angeordnet, die gesamte Vegetation der Welt, beispielhaft und vollkommen. Bedenkt man nun, dass die Orientteppiche ursprünglich Abbildungen von Gärten waren – also buchstäblich ›Wintergärten‹ –, wird auch die Bedeutung der legendären fliegenden Teppiche verständlich, Teppiche, die durch die Welt flogen. Der Garten ist ein Teppich, auf dem die ganze Welt zu symbolischer Vollkommenheit gelangt, und zugleich ist er ein Garten, der sich durch den Raum bewegen kann. War es ein Park oder ein Teppich, den der Erzähler von Tausendundeine Nacht beschrieb? Wir sehen, dass alle Schönheit der Welt in diesem Spiegel versammelt ist. Der Garten ist seit der frühesten Antike ein Ort der Utopie.« (Ebd. 15) 26 Ebd. 24 25
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Ort/e – Ortungen – Orientierungen
c)
Ortsuche, Spuren, Verortungen
Es wäre an dieser Stelle auch auf die Postkolonialen Diskurse hinzuweisen, wie sie paradigmatisch von Gayatri Spivak und Homi Bhabha vorgelegt wurden. Es geht hierin um die latent aufsässige Frage von Identitätsverlusten, deren Beantwortung gerade nicht auf eine neu zu suchende oder gar zu etablierende Identität zielt, sondern diese lateral wie vertikal in Frage stehen sieht. Deren Analysen suchen daher Zwischenbereiche von »Orten« namhaft zu machen, anhand derer vor allem gesellschaftspolitische und kulturelle Zuschreibungen in der Weise ersichtlich werden, dass sie in ihrer Ausgesetztheit wie zugleich in ihrem Kampf um diese ihre Verortungen zum Tragen kommen, worin und woraus sich wiederum jede/r Einzelne erfährt und in ihrer/seiner Individualität erfasst bzw. zu erfassen vermag. Spivaks »Subaltern Studies«, die sich den Analysen und Lebenssituationen von »Marginalisierten«, sprich den »Untergeordneten« und »An den Rand Gedrängten«, eben den »Subalternen« widmen, 27 versuchen zwischen neomarxistischen, der Kritischen Theorie nahestehenden Positionen und postmodern legierten Konzepten, zu denen sie auch dekonstruktivistische Ansätze zählt, so zu vermitteln, dass sie deren vermeintliche oder tendenziell unthematisch bleibende ethnozentristischen »Verortungen« unterlaufen. Diese Position mahnt ein grundsätzliches Machtgefälle zwischen den übermächtigen Herrschaftssystemen an, die zudem durch eine selbstprophezeiende Wissensproduktion vor allem westlicher Intellektueller Unterstützung findet, und jenen »Gegenverortungen« der Subalternen, die allein schon aufgrund ihrer vergleichsweise limitierteren Sprachkompetenz nicht in der Lage sind, ihre Selbstverständnisse und Bedürfnisse zu artikulieren und daher unverstanden bleiben und nicht gehört, ja wie nicht existent den Diskursen ferngehalten werden. Wie, so fragt Spivak daher kritisch an, können die Subalternen zum Sprechen ermächtigt und ermutigt werden, ohne die Ufer zu wechseln, was nur der Zementierung des Ausgangsproblems dienlich wäre, weshalb sie ein »subversives Zuhören« anempfiehlt, welches die gewohnten Verständigungsräume und deren Verortungen unterlaufen könnte, und sei es zunächst einfach durch »gemeinsames Schweigen«. Vgl. G. Ch. Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übers. v. A. Joskowicz und S. Nowotny, Wien-Berlin 2008.
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Der ebenfalls aus Indien stammende Homi Bhabha wirft einen etwas anderen Blick auf die Frage nach einer »kulturellen Identität«, die es für ihn im Grunde nicht (mehr) geben kann, die ihm jedoch latent zugemutet wird, wenn er sich gerade aufgrund eines neuen »Zuhauses« (England) als »fremdes Ich« begegnet, das sich weder einer »Ausgangs-« noch einer »Zielkultur« zugehörig fühlt. Diese das »eigene Ich« durchziehende Befremdung, ja Provokation lässt ihn für eine Neuvermessung, oder in seinen Worten, neue »Ver-ortung der Kultur« plädieren, die er am Leitfaden des Topos »Third Space« zu argumentieren sucht. 28 Bhabhas sowohl die Diskurse kolonialer Situationen wie der Migrationsprozesse aufgreifenden Analysen, die ihn »andere Szenen« als die üblicherweise gewärtigten sehen lassen, suchen ebenfalls einen »Ort«, den es nicht gibt, weil dieser einen »Ort der Differenz« an- oder umschreibt, der schon innerhalb einer jeden, potentiell kulturellen Identität tätig ist. Auf den Spuren von F. Fanon, E. Said, S. Hall und anderen wandelnd sieht er jene, spätestens mit Althussers »Appellation«-Befund einsichtig gewordene Frage der Subjektivation resp. »Subjektbildung« sowie der »Hybridität« am Werk, 29 die unter anderem jene Ambivalenzen freilegen, die durch das sich Anpassen seitens der Kolonisierten an die Zeichenräume der kolonialen Autorität zutage treten. Bhabha hat diesen »Vorgang« an der »Mimikry«-Figur, insbesondere am Phänomen der »schlauen Höflichkeit« näher analysiert, wonach dadurch das »Subjekt einer Differenz [erzeugt wird, G. S.], das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist.« 30 Dieses Analysesetting von Bhabha würde nicht nur für Einwanderungsgesellschaften hilfreich sein – worin sich diese »Struktur« wiederholt –, es würde auch konstruktivere Vorschläge im Umgang mit der gegenwärtigen Situation der Migrationsströme und Fluchtbewegungen bereit halten können, wo es nicht allein oder vielleicht auch nicht mehr um Identifikationen resp. Assimilierungen mit Herkunfts- und/oder Zielkultur ginge. Die durch äußere wie innere Bewegung entstehende »Verdopplung« findet sich in einem »dritten Raum« wieder, dem die Bewohnung durch
Vgl. H. K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, übers. v. M. Schiffmann und J. Freudl, Tübingen 2000/2011, insbes. 55 ff.; (engl. Original: The Location of Culture, London/New York, 1994, cf. Kap. 1: »The Commitment to Theory«.) 29 Ebd. 164 ff., passim. 30 Ebd. 126. 28
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Ort/e – Ortungen – Orientierungen
Identität nicht mehr Genüge tun kann – sei es durch Dogmatisierungen, Essentialisierungen, vorschnelle Identifizierungen etc. –, weil die (Selbst)behauptung von Identität in ihrem intrinsischen und doch konstitutiven Widerstreit, und damit ein ständiges Be- und Hinterfragen von »Identität« lebensmäßig wie reflexiv durchweg zu verhandeln sind.
6.
Philosophie und »Literatur«, Literatur als Philosophie?
Neben den für die interkulturell orientierte Philosophie immer wichtiger werdenden Zusammenhänge der Mythos-Logos-Diskurse, die mit Neuinterpretationen des konstitutiven Zusammenhangs von Philosophie und Weisheit einhergehen – hierüber wäre eigens zu handeln –, melden sich »Darstellungs-Narrative« wie Literatur, Dichtung, Bild, »Medien« und »Medialitäten« wie Architektur und andere zunehmend stärker als eine eigene, philosophisch relevante Domäne für das interkulturelle Denken zu Wort. Fragen danach werden lauter, die diese Bereiche konstruktiv in Bezug und ins Verhältnis zu einem reinen und begrifflich verorteten Denken zu setzen in der Lage sind. Was vermag, um einen oben schon angesprochenen Aspekt hier zu erinnern, die »Erfahrung« zu erbringen, wenn sie nicht mehr länger als empirischer Gegenhalt zur »Erkenntnis« verstanden wird oder gar werden kann? 31 Pars pro toto seien hier erwähnt Autoren wie Imre Kertész 32, Jorge Semprun 33, der schon angesprochene Homi Bhabha, der als Literaturwissenschaftler aus einem großen Literaturschatz schöpft, Jacques Rancière 34, bezüglich der lateinamerikanischen Philosophie Octavio Paz 35, bezüglich der afrikanischen Philosophie Heinz Kimmerle 36 und hiermit verbundener »Sage Philosophy«.
Vgl. G. Stenger, Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten, Freiburg/München 2006, 265–652, 840–845. 32 I. Kertész, Die exilierte Sprache. Essays und Reden, Frankfurt am Main 2004, insbes. 13 f., 53 ff., 206–221. 33 J. Semprun, Schreiben oder Leben, Frankfurt am Main 1995, insbes. 150 ff. 34 J. Rancière, Der Ort des Wortes, in: ders.: Die Wörter der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Berlin 2015, 105–125. 35 O. Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit, Frankfurt/M. 1985. 36 H. Kimmerle, Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff, Frankfurt/M./New York 1991. 31
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Georg Stenger
Oder man denke nur an die altchinesische Literatur eines Laozi, Zhuangzi, Konfutse, Mongzi, die allesamt große Literatur und Philosophie zugleich darstellen. Die Reihe wäre geradehin »unendlich« fortzusetzen. Und man muss es festhalten: Die klassische, okzidental geprägte Philosophie hat hiermit noch immer Probleme, jedenfalls der überwiegende Teil, und in der Tat wird es für die interkulturelle Philosophie eine Herausforderung bleiben, Literatur, ja »Weltliteratur« als philosophische »Orte«, als Verortungen von Denken und Erfahren, ja als philosophie-relevant und zugleich -kritisch lesen und interpretieren zu können. Es gilt, diese »Welt/enliteratur« zu großen Teilen noch zu entdecken.
III. Orientierungen 1.
Philosophiehistorisches Arbeiten – interkulturell
Es ist nach wie vor bemerkenswert, aber auch auffallend, dass Lexikas, Geschichtsbücher, Geschichtsverständnisse usf. bislang mehr oder weniger durchgehend an westlichen Standards und Paradigmen orientiert sind und damit auch deren Denkformen und -designs unterliegen. Geschichtsschreibung in diesem Sinne ist, etwas provokativ formuliert, ein klassischer Fall von Universalisierung von Partikularität. Wie aber könnte hier eine interkulturelle Erweiterung und Verortung aussehen? Im »westlichen Denkraum« operierend gibt es hierzu schon, auch methodisch, veritable und interessante Angebote: So etwa die von Dieter Henrich angeregte sog. »Konstellationsforschung«, womit der Versuch unternommen wird, nicht wie gewohnt in erster Linie Erkenntnisse zu bestätigen und zu erweitern, sondern diese aus ihrer jeweiligen weiterverzweigten Genese heraus zu gewinnen, was zuvor so nicht gesehen war. 37 Ebenso sei hier auf Arbeiten von Kurt Flasch verwiesen, der die Wege untersucht, wie es letztlich zu jenen Begriffen und Einsichten gekommen ist, auf die wir uns gewöhnlich bezie-
D. Henrich, Werke im Werden: Über die Genesis philosophischer Einsichten, München 2011; vgl. auch M. Muslow/M. Stamm (Hg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005.
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Ort/e – Ortungen – Orientierungen
hen und Ausgang davon nehmen. 38 Ebenfalls sei auf die stärker systematisch orientierte Arbeit von Werner Stegmaier verwiesen. 39 Dezidiert interkulturell instruierte Forschungsarbeiten zur »Philosophiegeschichtsschreibung« finden sich unter anderem bei Franz Martin Wimmer 40, Heinz Kimmerle 41, Hans Schelkshorn 42, Sarhan Dhouib 43 und weiteren AutorInnen mehr. Hier kündigt sich ein weitreichendes Forschungsareal an, welches die »Denk-Orte« und die »Begriffs-Verortungen« ernst nimmt. Bei dieser Gelegenheit wäre überhaupt zu überlegen, ob man nicht ein Kompendium oder auch Lexikon außereuropäischer Grundbegriffe ins Leben rufen sollte, worin Grundbegriffe verschiedener Denkkulturen aufgenommen und historisch-systematisch dargestellt werden. Gewiss, dies bräuchte natürlich ein großes Forscherteam, das sich zusammenfinden müsste. Was geschähe etwa, um dies nur paradigmatisch anzureißen, mit jenen für die abendländisch-westliche Denkzivilisation grundlegenden Begriffe der »Substanz« oder des »Subjekts«, die wenn überhaupt im ostasiatischen Denken im Unterschied zum »Zwischen« (aida) keineswegs eine Vorrangstellung genießen? Oder: Was machen wir philosophisch mit Termini wie dem »Absoluten Nichts« (zettai mu) oder der »Leere« (kû), einem »Zugleich« (soku) von »Leere« und »Erscheinung«, einem »So-sein« (ari no mama), oder dem »Selbstgewahren« (jikaku), das zwar auch mit »Selbstbewusstsein« übersetzt wird, aber eine doch andere Semantik offeriert, als es dieser Begriff in der westlichen Philosophie hat? Für all diese »Begriffe« lässt sich kaum ein Äquivalent in der westlichen K. Flasch, Philosophie hat Geschichte. Bd. 1: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart, Frankfurt am Main 2003; Bd. 2., Frankfurt am Main 2005; ders., Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustinus bis Voltaire, Frankfurt am Main 2009. 39 W. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin 2008. 40 F. M. Wimmer, How Are Histories of Non-western Philosophies Relevant to Intercultural Philosophizing?, in: Confluence. Online Journal of World Philosophies 2, Nr. 3, 2015: 125–32 und »Reply«, 151–161. 41 H. Kimmerle, Der Philosophiebegriff der interkulturellen Philosophie. Nordhausen 2009; ders., Philosophie – Geschichte – Philosophiegeschichte. Ein Weg von Hegel zur interkulturellen Philosophie. Nordhausen 2009. 42 H. Schelkshorn, Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum Diskurs der Moderne, Velbrück 2009; ders. gemeinsam mit Jameleddine Ben Abdeljelil, Die Moderne im interkulturellen Diskurs. Perspektiven aus dem arabischen, lateinamerikanischen und europäischen Denken, Velbrück 2012. 43 S. Dhouib, (Hg.), Gerechtigkeit in transkultureller Perspektive, Velbrück 2016. 38
41 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Georg Stenger
Philosophie finden. Und doch handelt es sich dabei um eine genuine Philosophie.
2)
Inter-disziplinarität
Jene Themen, die auf der interkulturellen Ebene zur Debatte stehen, tauchen natürlich auch auf den interdisziplinären Terrains auf, nur dass dort die Gegenstandsgebiete wie auch die methodischen Settings jeweils, d. h. je nach Fachdisziplin klar oder zumindest klarer umrissen sind. Ist heutzutage die Rede von interdisziplinärer Forschung, so stimmen alle zu: Das muss sein! Es fragt sich nur, wie dies umgesetzt werden soll, ohne dass dieses veritable Unternehmen nur ein Lippenbekenntnis bleibt? Denn ist es schon damit getan, wenn wir einfach sagen, wir machen das interdisziplinär? Was heißt das angesichts dessen, dass eine jede wissenschaftliche Disziplin erst zu dieser hat werden können, weil sie ein eigenes Terrain bereichsspezifischer, horizontgebundener, kategorialer und grundbegrifflicher Situierung hat entwickeln können? Fast schiene es mir derzeit ein spannendes Forschungsprojekt sein zu können, welches sich fragt, was eigentlich unter »Inter-disziplinarität« zu verstehen ist und worin wirklich ihre Leistung bestehen könnte, wenn diese nicht einfach eine Ansammlung von Fächern bleiben soll, die sich aufgrund eines zu untersuchenden Gegenstandes oder Kontextes zusammengefunden haben. Bei einem »zwischen den Disziplinen Agieren«, d. h. bei einer wirklich konstruktiven inter-disziplinären Forschung würden sich die einzelnen Disziplinen nicht nur gegenseitig stärker öffnen, sie würden gemeinsam auch ein höheres, weil dynamischeres und tragfähigeres Niveau von Forschung erreichen. Greifen wir als Beispiel etwa »Japan« heraus, seine Kultur, seine Geschichte, sein Künste und Literatur, seine Gesellschaftsform, seine politischen Implikationen, seine Identifikationsformen und seine Fremderfahrungen nach innen wie nach außen, seine Stellung in Ostasien und in der Welt insgesamt. Schon Japan wäre so ein paradigmatischer Fall für ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, von denen viele weitere »Orte« in den Fokus zu rücken wären.
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Ort/e – Ortungen – Orientierungen
3)
Philosophieren
Wenn es denn je einen Imperativ gab, dann diesen: »Philosophieren«! Ich möchte abschließend auf eine alte Unterscheidung zu sprechen kommen, die sich zwischen der Tätigkeit eines »Philosophierens« und einem Sprechen und Denken »über Philosophie« manifest machen lässt. Hierin unterscheiden sich »Philosophie im Allgemeinen« und »interkulturelle Philosophie« auch kaum, und, gleich welcher Philosophie und/oder Theorie man sich zuwendet, ob klassisch »europäischer« oder »außereuropäischer«, am Aufmerken auf diese Unterscheidung wird sich das Qualitätsmerkmal philosophischer Selbstverständigung messen lassen müssen. Zumindest zwei Aspekte möchte ich hierzu nennen: Philosophie in einem genuinen Sinne treiben hieß immer, in eine Sache, eine Sachfrage, ein Themenfeld einzutreten, ja hineinzukommen, die innere Denkarchitektur, sprich Argumentationsaufbau und -konsequenz nachzuvollziehen, den damit verbundenen Horizont, die Rahmenbedingungen und Ordnungsformen zu eruieren, um gelingendenfalls – auf Augenhöhe des vorliegenden Ansatzes – diesen kritisch begleiten und hinsichtlich möglicher impliziter und auch vergessener oder gar ausgeschlossener Kontexte und Kriterien Einwände vorbringen zu können. Dieses Primum, so selbstverständlich es sein mag, erweist sich oftmals als »von vorneherein« schon übersprungen, insofern man seine eigenen mitgebrachten Denkhorizonte und -vorlieben auf das zur Debatte Stehende appliziert. Man erhält dann auch nur das, was man schon mitgebracht hat, sieht sich bestätigt, ohne diesen Zirkelschluss zu bemerken. Dies ist die eine Seite. Die andere wiederum weist darauf hin, dass, wenn wir allein die Innenperspektive für »das Wahre« halten (Binnenperspektive), wir nicht gegen die Gefährdungen schleichender Verabsolutierungen, Überzeichnungen bis hin zu Verblendungen gewappnet sind, die ja gerade ausgeschlossen sein wollen. Etwa: »Wir Kantianer, wir Poststrukturalisten, wir Analytische Philosophie Treibenden, wir interkulturell Denkenden«, usw. Wir »brauchen« und gebrauchen daher stets eine »Perspektive von außen«, zum einen, um die Innenperspektive als solche erfassen zu können, zum anderen, um den jeweils weiteren Horizont mitaufzunehmen, welcher – so das philosophische Grundbestreben – stets mit universaler Bedeutung, Bestimmung, Geltung usw. einhergeht. So weit so gut. Sogleich aber drängt sich die Frage auf: Woher habe und nehme ich meinen »Zugang von außen«? Ist dieser nicht selbst wiederum 43 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Georg Stenger
einem bestimmten »Innen« verhaftet, das mich (einstmals) überzeugt hat, das mir evident erschien, und das streitig zu machen nur dann möglich erscheint, wenn mir eine neue, die alte übertreffende oder zumindest relativierende Evidenz resp. Überzeugung einsichtig wird? Wenn ich daher von einer »Wiederentdeckung des Philosophierens angesichts interkultureller Herausforderungen« spreche, dann deshalb, weil gerade auf diesem Terrain diese soeben beschriebene »Doppelstruktur« von »innen« und »außen« erneut und mit wohl noch stärkerer Vehemenz in den Vordergrund tritt. Die Frage möchte daher – angesichts dieser interkulturellen Herausforderung – verstärkt im Auge behalten, dass jedes Denken verankert ist, kulturell, sprachlich, leiblich, geschichtlich, »orthaft« usw., was es – mit anderen Worten – seiner nicht zu überspringenden »Teilnehmerperspektive« sich inne werden lässt, die sowohl lebensweltlich, kulturell-gesellschaftlich sowie philosophisch-wissenschaftlich konstituiert ist. Das bedeutet nicht, die »Beobachterperspektive« preiszugeben, was auch gar nicht ginge, haben wir diese doch immer auch schon eingenommen, und sei es etwa schon durch unsere anthropologische Distanzstellung und dadurch ermöglichte Sprachkompetenz und anderes mehr. Allein, wie auch immer diese jeweils näher zuzuschreiben wäre, jede Beobachterperspektive kann eine solche nur sein, weil sie dieser zuvor immer schon an einer anderen Perspektive teilnimmt oder teilgenommen hat, woraus sie als Quelle ihrer selbst überhaupt zu argumentieren in der Lage ist. Kurz und zusammenfassend gesagt: Zwischen beiden »Perspektiven« ist schon ein »Inter« tätig, welches beide wiederum aufeinander zuhält und ohne welches beide dem Schicksal des »Brunnenfrosches« von Zhuangzi ausgeliefert wären, das Ram Adhar Mall gewissermaßen als das Grundproblem der »Universalisierung von Partikularität« diagnostiziert hat. »Nicht die Froschperspektive ist ein Irrtum. Der eigentliche Irrtum besteht in der Ausschließlichkeit der begrenzten Sicht.« 44 Orientierung im genuinen Sinne scheint nur möglich und sinnvoll sein zu können, wo Orte auf Ortungen hin untersucht werden.
R. A. Mall, »Das Projekt interkulturelles Philosophieren heute«, in: Polylog, Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, hg. v. WiGiP, Nr. 25, Wien 2011, 12.
44
44 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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Murat Ates
Begrenzte Orte und bewegte Welten. Vorspiel im Hinblick auf das Potential einer inter- und transkulturellen Phänomenologie. 1 I. Um Erwartungen, die durch den Untertitel hervorgerufen werden könnten, abzuschwächen, möchte ich gleich zu Beginn vorwegschicken, dass dieser Artikel gegen Ende hin das Potential einer transkulturellen Phänomenologie zwar ansprechen, jedoch keineswegs wird hinreichend besprechen können. Der vorliegende Text versteht sich, wenn überhaupt, vielmehr als eine Hinführung zu diesem Potential, indem er sich zunächst und vorwiegend an einer bestimmten Arbeitshypothese abarbeitet, eine bestimmte Tradtion dekonstruiert, dekonditioniert, um schließlich im Kontext des sogenannten inter- bzw. trans-»kulturellen« Diskurses eine Möglichkeit, ein »Potential« anzuzeigen, das heute vielleicht nicht mehr in den Kinderschuhen steckt, doch das solide und gekonnte Gehen noch lernen muss. 2 JedenDer folgende Text basiert auf einer überarbeiteten und erweiterten Version der Eröffnungsrede, welche für die Tagung »Ort/e des Denkens« am 26. 09. 2013 an der Universität Wien gehalten wurde. Die Performance der damals gehaltenen Rede wurde auf das strukturelle Format der Schrift sowie auf das Arrangement eines Sammelbandes angepasst, ohne den inhaltlichen Einsatz der damaligen Rede grundlegend zu modifizieren. 2 Als eine mögliche Vorarbeit »interkultureller Phänomenologie« sei hier, auch wenn es im folgenden Gedankengang zu gewissen Abweichungen kommen wird, verwiesen auf das anspruchsvolle Buch von Georg Stenger: Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Alber: Freiburg, 2006. Für eine allgemeine Einführung in Grundfragen und Probleme interkulturellen Philosophierens sei weiterhin auf das Standardwerk verwiesen: Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie: Eine Einführung, UTB: Wien, 2003; sowie auf Heinz Kimmerle: Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Junius: Hamburg, 2002; Ram Adhar Mall: Das Projekt interkulturelles Philosophieren heute, in: Polylog, Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 25, WiGiP: Wien, 2011; Rolf Elberfeld: Interkulturalität, in: Handbuch Kulturphilosophie, hrsg. v. Ralf Konersmann, Metzler: Stuttgart, 2012, 39–46; Wolfgang Welsch, Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Information Philosophie, Heft 2, 1992, 5–20. 1
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Begrenzte Orte und bewegte Welten
falls sind wir heute noch weit davon entfernt, aussprechen zu können, was eine interkulturelle bzw. weltweite Phänomenologie – d. h. eine Phänomenologie, die sich aus einem weltweiten Prozess her versteht – bedeuten und was sie vermögen kann. Noch scheint sich die Phänomenologie, sofern man überhaupt von der Phänomenologie sprechen kann, allzu sehr kulturell verortet und in solcher Verortung unglücklich begrenzt zu haben. Mit diesem vorläufig letzten Satz zu einer interkulturellen Phänomenologie möchte ich, den Terminus der »kulturellen Verortung« zum Anlass nehmend, zu jener Arbeitshypothese übergehen, die ich damals im Zuge der Erröffnugnsrede unserer Konferenz zunächst darzustellen hatte und mit der sich gewissermaßen auch die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes aus unterschiedlichen Perspektiven auseinandersetzen. Auf komprimierte Weise kann jene These wie folgt ausbuchstabiert werden: An einem bestimmten Ort uns aufhaltend sind wir kontinuierlich von einem bestimmten Denken in Anspruch genommen. Das Adjektiv »bestimmt« möchte dabei betonen, dass der jeweilige und konkrete Ort ein Denken zur Aufgabe stellt, das unmittelbar von diesem Ort evoziert und provoziert wird. Sei dieses Denken der Art nach völlig oberflächlich, trivial oder tiefgehend, schwer, komplex, sei es narrativ, beschreibend oder strukturiert, wertend, kalkulierend, normgebend oder vielmehr verworren, zerstreut, sei es leise, subtil, träumerisch oder eher harsch, aufschreiend, zwanghaft, sprunghaft, rastlos; – wie auch immer es sich ereignen möge, so die These, sind wir unaufhörlich in einem ortsgebundenen »Denkprozess« verortet. In all seinen Spielarten scheint das Denken nicht nur auf einen Ort angewiesen zu sein, auf eine Stätte, an der es stattfinden kann, d. h. wo es ankommen, wo es aufgenommen, weitergedacht und womöglich neu überdacht werden kann, sondern der Ort selbst scheint gleichsam konstitutiv zu sein für die Art und Weise, wie Denken geschieht, als auch für den Inhalt, für den Gedanken, der am jeweiligen Ort denkend zum Ausdruck kommt. Wenn der Örtlichkeit in Bezug auf das Denken eine solch schwerwiegende Signifikanz zugesprochen werden soll, wie es unsere Arbeitsthese nahelegt, dann muss sich unweigerlich die Frage stellen, was hier Ort bzw. Örtlichkeit überhaupt besagen soll. Mit dieser Frage verkompliziert sich gewissermaßen die Ausgangssituation, denn der »aktuelle« Ort, an dem »wir« uns befinden, verlangt vom Denken, welches durch diesen Ort selbst hervorgebracht wird, dass es darüber nachzusinnen 49 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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und zu bestimmen habe, was Örtlichkeit überhaupt zu bedeuten hat. Was der gegenwärtige Ort zum Denken aufgibt, ist also eine Art Selbstspiegelung, eine Selbstreflexion im wortwörtlichen Sinne. Man könnte vielleicht sagen, der gegenwärtige Ort möchte, sofern dem Ort überhaupt ein Wille zugesprochen werden kann, gleichsam über sich selbst Bescheid wissen. Auf die Frage, was Ort (im Singular wie auch im Plural) bedeutet, könnte eine erste Stimme durchaus nüchtern antworten, dass man sich – in Kongruenz etwa zum physikalischen Raum nach Newton 3 oder bereits nach Euklid 4 – den Ort als eine objektive Größe, als ein statisch-kohärentes Kontinuum isotroper Homogenität vorstellen müsse. Diese Größe wäre im Grunde eine geometrisch-mathematische Fläche, die anhand eines umfassenden Koordinatensystems exakt festgestellt, ermittelt, vermessen und (innerhalb des absoluten Raumes) in ein übereinstimmendes Verhältnis zu anderen Orten gesetzt werden könnte. 5 Solch eine physikalisch-quantitative Antwort mag zunächst bei phänomenologisch geschulten Ohren unangenehme Reize auslösen und doch führt wohl kein Weg daran vorbei, die Möglichkeit solch einer abstrakt idealisierenden Bestimmung anzunehmen; nicht zuletzt deswegen, weil jene Bestimmung womöglich am Ort selbst angesiedelt ist, also durch das Phänomen selbst auch zugelassen wird. Nur weil das Phänomen Ort von sich aus eine derartige Sichtweise gestattet, der Sichtung eine gewisse Oberfläche darbietet, kann dieses Aussehen von einer mathematisch-geometrischen Welteinstellung als berechenbare Fläche interpretiert, d. h. abstrahierend identifiziert, quantifiziert und letztlich für diverse Formulierungen und Kalkulationen verfügbar gemacht werden. Ohne die vom Ort selbst eingeräumte Möglichkeit einer berechenbaren Identifizierung und Verfügbarmachung könnte, auch wenn man ihren Re3 Isaac Newton: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (Die mathematischen Prinzipien der Physik), De Gruyter: Berlin/New York, 1999, 28 f. 4 Euklides: Stoicheia (Die Elemente), Buch XI, Definitionen 1–28. 5 Verständlicherweise könnte man sich bereits an dieser Stelle dazu gedrängt fühlen, Unterscheidungen im Ortsverständnis zu treffen. So wäre es etwa ein Unterschied, ob man von einem (absoluten) Raum bzw. Ort spricht, der – mit Kant gesprochen (KrV 71 f.) – eine reine Anschauungsform bezeichnet oder von einem relativen Ort sprechen möchte, der immer eine bestimmte und partikuläre Räumlichkeit meint, die von einer Sache eingenommen wird. Diese spezifischen Unterscheidungsmöglichkeiten werden im Laufe der folgenden Ausführungen noch eine genauere Klärung erfahren.
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sultaten aus berechtigen Gründen kritisch gegenüber stehen mag, letztlich überhaupt keine Naturwissenschaft und des Weiteren keine moderne Technik zustande kommen. Die quantitativ-mathematische Herangehensweise an die Örtlichkeit (und darüber hinaus an die Körperlichkeit selbst) ermöglicht letztlich jene »Spielwiese«, auf der Naturwissenschaft und moderne Technik experimentieren und auf der sie ihre Errungenschaften produzieren können. Der phänomenologische Einwand wird freilich unnachgiebig verdeutlichen wollen, dass die besagte Herangehensweise zwar im Sinne von Datenerhebungen (natur)wissenschaftlicher Methoden nachvollziehbar sei, es sich dabei jedoch um eine höchst ideale bzw. metaphysische Vorstellung von Ort handle, im Grunde um eine rein geistig-theoretische Abstraktion bzw. Konstruktion, die unmöglich die gesamte Tragweite von Örtlichkeit ausschöpfen könne und im Grunde mit dem tatsächlich erlebten Ort nur wenig zu tun habe. Während man etwa in einem Park spazieren gehe, so der Einwand, könne man diesen freilich geometrisieren, man könne dessen Position innerhalb eines Koordinatensystems exakt bestimmen, mathematische Aussagen über Fläche und Beschaffenheit treffen und im Zuge dessen beispielsweise berechnen, wie viel zählbare Zeit man bei einer gewissen Geschwindigkeit von einem zum anderen Parkende benötigt 6; doch mit all diesen Informationen würde man sich wortwörtlich lediglich an der Oberfläche aufhalten, was zwar auch ein Aufenthalt wäre, doch kein solcher, der sich während eines lebendig-leibhaftigen Spazierganges in diesem Park, inUm sich solch einen höchst idealen und berechnenden Blick auf den »Park« zu verschaffen, bedarf es heute keines naturwissenschaftlichen Studiums mehr. Jede_r Laie kann mittlerweile über leicht bedienbare Apps an ihrem/seinem Smartphone eine »exakte« und kontinuierliche Standortidentifizierung vornehmen und sich dabei ein Diagramm erstellen lassen, aus dem hervorgeht, an welchen »Punkten« man sich innerhalb einer gewissen Zeitspanne im »Park« aufgehalten hat, wie viel Kilometer man zurückgelegt, wie viel Kalorien man verbraucht, wer sich sonst noch von den Internet-FreundInnen in diesem Park aufgehalten hat, etc. pp. [Die spannende Frage, der ich hier leider nicht adäquat nachgehen kann, die ich jedoch (zumindest in Parenthese einer Fußnote) nicht zurückhalten möchte, lautet: Inwiefern verändert der massenhaft und alltägliche Zugang zu solch idealisierten Informationsangaben über den Ort, welche sich durch das ständige Bedienen von Smartphones geradezu aufdrängen, die allgemeine Erfahrung und Wahrnehmung von Orten? Auch wenn das Phänomen (etwa im Vergleich zur Handhabung von Land- und Stadtkarten) noch relativ jung ist, darf man wohl sagen, dass die Möglichkeit neuerer Technologien – gerade als ständig begleitender Aufenthalt in idealisierten und berechenbaren Cyber-Orten als QuasiAbbild des »realen« Ortes – das Verständnis von Orten und Örtlichkeiten in einem noch unbekannten Maße beeinflussen und konditionieren werden.] 6
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mitten der Atmosphäre aufblühender Blätter und Blüten, inmitten sich tatsächlich begegnender Menschen einstellt. Bevor wir diesem (eventuell leicht »romantisch« anmutenden) Einwand folgend uns gezwungen fühlen könnten, weitere phänomenologische Ortsbeschreibungen (in einem lebensweltlichen Sinne) in Betracht zu ziehen, scheint es zuvor nicht minder notwendig zu sein, jene Naivität abzuschütteln, welche sich ohne Weiteres in der Lage glaubt, abseits metaphysischer Konditionierungen die Phänomene in ihrer »Reinheit« erfahren und beschreiben zu können. Denn sowohl die Vorstellung von einem Park als einem erlebten Ort wie auch die geometrisch-mathematische Ortsvorstellung setzen gleichermaßen eine der ältesten metaphysischen Präsuppositionen voraus, nämlich jene, wonach ein Ort sich immer nur durch die Grenzziehung, durch eine Metaphysik der Grenze bestimmen lasse. Das soll heißen: Nicht nur der quantitativ bestimmbare Ort benötigt für seine Berechenbarkeit und Darstellbarkeit klar definierbare Grenzen, sondern auch der Park in der beschriebenen Sichtweise eines erlebten Ortes beginnt im Zuge einer deskriptiven Wahrnehmung letztlich dort, wo etwa eine lärmende Straße aufhört, d. h. wo eine Grenze gesetzt ist, wo eine Abund Eingrenzung stattfindet. Es dürfte hilfreich sein, an dieser Stelle einen kleinen Exkurs zur wohl ältesten und grundlegendsten Ausarbeitung dieser metaphysischen Grundannahme (innerhalb der »abendländisch-kolonialistischen Philosophiegeschichte«) zu unternehmen, nämlich zu den Schriften des Aristoteles. 7
II. Die Bedeutung der Grenze (πέρας) setzt bei Aristoteles zunächst nicht am Ort an, sondern überhaupt bei der Erscheinung des Seienden, beim Einzelding. In einer besonders komprimiert ausgefallenen Stelle im 5. Buch der Abhandlung »Metaphysik« heißt es:
In diesem Sinne könnte man sagen, dass auch jene Stimme, die hier spricht, die in diesem Artikel noch sprechen wird, eine »eurozentrische« ist; jedoch eine, die während des Sprechens und im Hinblick auf die bedingungslose Möglichkeit einer »interkulturellen« Philosophie sich fortlaufend selbst dekonstruiert bzw. destruiert. Darin besteht jedenfalls der Anspruch, das Angesprochen-sein von einem weltweiten Denken, dessen fluide »Örtlichkeit« noch freigelegt werden muss.
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πέρας λέγεται τό τε ἔσχατον ἑκάστου καὶ οὗ ἔξω μηδὲν ἔστι λαβεῖν πρώτου καὶ οὗ ἔσω πάντα πρώτου, καὶ ὃ ἂν ᾖ εἶδος μεγέθους ἢ ἔχοντος μέγεθος, καὶ τὸ τέλος ἑκάστου (τοιοῦτον δ᾽ ἐφ᾽ ὃ ἡ κίνησις καὶ ἡ πρᾶξις, καὶ οὐκ ἀφ᾽ οὗ – ὁτὲ δὲ ἄμφω, καὶ ἀφ᾽ οὗ καὶ ἐφ᾽ ὃ καὶ τὸ οὗ ἕνεκα), καὶ ἡ οὐσία ἡ ἑκάστου καὶ τὸ τί ἦν εἶναι ἑκάστῳ: τῆς γνώσεως γὰρ τοῦτο πέρας: εἰ δὲ τῆς γνώσεως, καὶ τοῦ πράγματος. 8
Das Zitat führt aus, wie die Grenze (πέρας) als Ein-, Aus- und Abgrenzung auf mehrfache Weise die Wesenheit (οὐσία) und das Sein eines Seienden (τί ἦν εἶναι 9) bestimmen soll. Was dabei die aristotelischen Überlegungen auszeichnet und sie gewissermaßen zum historischen Fundament der theoretischen Einstellungen des »Abendlandes« werden lässt, ist insbesondere der darin verfolgte Ansatz, durch die Grenzbestimmung eine verharrende Vorstellung in Aussicht zu stellen, d. h. eine Vergegenständlichung und damit eine Theoretisierbarkeit der erlebten Erscheinung zu ermöglichen. Folgen wir dem Zitat, so kann gesagt werden, dass die Grenze (1.) prinzipiell das Erste (πρώτου) und Äußerste (ἔσχατον) des Gegenstandes kennzeichnet und somit (2.) ontisch-ontologische Auskunft darüber gibt, worin das Positive des Gegenstandes besteht, wo es seiner Größe und Form nach endet und wo seine Negativität beginnt, d. h. wie sich das jeweilige Seiende gegenüber allem Anderen (was der Gegenstand nicht ist) abgrenzt und sich dadurch zuallererst als Einzelding behaupten kann. 10 Die demarkierende Funktion der Grenze hält die Materie in einer Form (εἶδος) zusammen und bändigt somit (3.) – aus Sicht der Perzeption – die flüchtige Erscheinung zu einem feststellbaren und somit vorstellbaren Ding, sodass der Gegenstand als eine Einheit gesichtet und festgehalten werden kann. Weil der Gegenstand nur innerhalb der Grenzziehung erkennbar und thematisierbar ist, kann er (4.) nur durch die Begrenzung zum Objekt (πράγμα) einer Met 1022a4. Im wörtlichen Sinne kann τί ἦν εἶναι übersetzt werden mit: »Was es (für etwas) heißt, zu sein«. Weidemann übersetzt die substantivierte Form des Ausdrucks mit: »Das Was[-zu-sein-für etwas]-zu-sein-heißt«. Vgl. dazu Hermann Weidemann: Zum Begriff des ti ên einai und zum Verständnis von Met. Z 4, 1029b22–1030a6, in: Aristoteles. Metaphysik, die Substanzbücher, hg. Ch. Rapp, Berlin, 1996, 76 f. 10 Noch bei Hegel wird es in diesem Sinne heißen: »die Grenze also, welche das Etwas gegen das Andere hat, ist auch Grenze des Anderen als Etwas, Grenze desselben, wodurch es das erste Etwas als sein Anderes von sich abhält« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik I, »Die objektive Logik, Erstes Buch«, Werke in 20 Bänden, Band 5, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1986, 97). 8 9
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theoretischen Untersuchung werden. Die Grenzen des Gegenstandes sind somit immer zugleich die Grenzen der theoretischen Erkenntnis (γνώσις). Die von Aristoteles mannigfaltig behauptete Konstitutionsleistung einer formalen Statik der Grenze im Hinblick für das Sein des Seienden – wie auch für dessen Wahrnehmung und Erkannt-werden – ist jedoch bald mit einem schwerwiegenden Problem konfrontiert, das bereits aus diesem komprimierten Zitat ansatzweise herausgelesen werden kann, spätestens jedoch in den Physikvorlesungen des Aristoteles deutlich zutage tritt; nämlich das Problem der Bewegung: Denn sowohl die Materialität (ὕλη) als auch die Form (εἶδος) »eines« Gegenstandes befinden sich entgegen der nominell behaupteten Statik in ständiger Bewegung (κίνησις), sie sind der verschiedenartigen Veränderlichkeit (μεταβολή) unterworfen. 11 Durch die Fortbewegung (κίνησις φορά), durch Bewegungen wie das Wachsen und Schwinden (αὔξησις/φθίσις), qualitative Veränderungen wie das Heiß- oder Kaltwerden (ἀλλοίωσις) oder substantielle Wesensveränderungen wie das Entstehen (γένεσις) und das Vergehen (φθορά) wird das Seiende unaufhörlich verwandelt und transformiert. 12 Die Veränderlichkeit der Dinge auf der einen wie auch die Veränderlichkeit der Perzeption auf der anderen Seite relativieren somit die behauptete Absolutheit der Grenzen und drohen, sie zu einer akzidentellen Nebensächlichkeit zu machen. Wenn überhaupt, so müsste man angesichts all dieser Bewegungen sagen, hat die behauptete Grenze nur für einen gewissen Augenblick Gültigkeit, ist im nächsten Moment schon wieder passé. Damit wäre aber auch die von Aristoteles angestrebte Erkenntnis, im Sinne einer immerwährenden Erkenntnis von verharrenden Gegenständen, verunmöglicht. Um die absolute Grenze und somit letztlich die Idee einer absoluten Erkenntnis retten zu können, ist Aristoteles dazu gezwungen, eine weitere metaphysische Kategorie einzuführen: den Ort (τόπος). So heißt es in den Schriften zur Physik: »[J]eder im Sinne der Fortbewegung oder des Wachsens veränderbare Körper [ist] im eigentlichen Sinne ›irgendwo‹«, d. h. an einem Ort (Phy 212b7). Was mit den ekstatischen Metamorphosen bewegter Dinge unmöglich erscheint, nämlich die Auffassung einer statisch-konstitutiven Grenzziehung, muss nun 11 12
Vgl.: Phy 188a19 ff. Vgl.: Phy 211a14.
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durch die Vorstellung von Örtlichkeit sichergestellt werden. Die notwendig vorausgesetzte Grundbestimmung des Ortes ist daher schlichtweg seine Immobilität: »Ort ist das Unbewegliche (ἀκίνητος)«. 13 Damit der Ort als das Unbewegliche behauptet werden kann, muss er zwar notgedrungen von der veränderlichen Materialität und Form des Gegenstandes grundverschieden sein (»μήτε τὸ εἶδος μήτε ἡ ὕλη« Phy 212a3), doch muss er, ohne dessen fluide Eigenschaft zu übernehmen, eine enge Analogie zum Gegenstand aufweisen, damit dessen feststellbare und verharrende Platzierung gewährleistet ist. Auf die schwierige Frage, wie der Ort als unbeweglich feststellbare Situierung des an sich beweglich-ekstatischen Körpers fungieren soll, erhalten wir eine entsprechend umständliche Antwort: Der Ort, so heißt es in den Physikvorlesungen, müsse als eine Art »Behälter« 14 gedacht werden, in dem sich der jeweilige Gegenstand befindet und zwar so, dass der Behälter (analog zur Form des Gegenstandes) diesen exakt umfasst – und doch als jener »Behälter nicht weggesetzt werden kann« (Phy 212a15). Als Beispiel der Veranschaulichung dient etwa ein Krug, gefüllt mit Wasser. 15 Der Krug ist der Ort, welcher das Wasser umfasst und in dem sich das Wasser befindet. Die Definition des Aristoteles ist allerdings genauer, wenn er schreibt: »τὸ πέρας τοῦ περιέχοντ σώματος hκαθ’ ὃ συνάπτει τῷ περιεχομένῳi« 16. Der Ort meint also den Moment einer Berührung (συνάπτει), die sich an der Grenze zwischen (der inneren Gestalt) des umfassenden und (der äußeren Gestalt) des umfassten Körpers ereignen soll. Bezüglich unseres Beispiels würde dies bedeuten, dass sich der Ort in 13 Phy 212a18. Vgl. dazu bereits die platonische Definition von chora (Raum, Ort) im Timaios: »[D]er Raum, der dem Untergange nicht unterworfen, gewährt allem, was ein Werden hat, eine Stätte, selbst ist er aber den Sinnen unzugänglich und kann vom Geiste nur, sozusagen, durch eine Mutmaßung [Bastardschluss] erfaßt und kaum zuverlässig bestimmt werden.« (Timaios, 52af. [leicht veränderte] Übersetzung von Franz Susemihl, in: Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 3, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, 2004. 14 Vgl.: Phy 209b26 f. 15 Das Beispiel besticht allein schon durch seine Symbolik: Der Krug wird hier verstanden als das Feste, als das Feststehende des Ortes, während das Wasser gerade die Fluidität und das Bewegliche der erlebten Phänomene anzeigt. 16 Phy 212a6 f. Das heißt: Ort »ist die Grenze des umfassenden Körpers, (insofern sie mit dem Umfassten in Berührung steht«; oder wie es wenige Zeilen später heißt: »ὥστε τὸ τοῦ περιέχοντος πέρας ἀκίνητον πρῶτον, τοῦτ’ ἔστιν ὁ τόπος« (Phy 212a29).
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der Berührung zwischen der inwendigen Form des Kruges und der äußeren Form des Wassers abzeichnet. Die Gestalt des Ortes und die des Gegenstandes sind somit an der Grenze der Berührung de facto identisch und doch muss der Ort, um Eigenständigkeit behaupten zu können, vom umfassten Inhalt unabhängig sein. So kann der Ort, wie auch immer sich der Gegenstand als Inhalt des Ortes bewegen und verändern mag, in seiner Unbeweglichkeit und Unabhängigkeit erhalten bleiben. Wenn sich etwa das Wasser (als Inhalt) aus dem Krug (als Ort) entleert, löst sich dabei der Ort nicht auf oder bleibt leer, sondern er beinhaltet nun etwas anderes, zumindest die Luft. 17 Und selbst wenn sich der Krug an einen anderen Ort bewegen würde, etwa von einer Stelle auf dem Tisch zu einer Stelle im Schrank, hätte der Krug zwar als Gegenstand eine Ortsbewegung vollbracht, doch der Ort, den der Krug als umfassendes Gefäß ermöglicht, wäre dennoch unbewegt geblieben, wie auch der Ort unbewegt bleibt, den der Krug als Gegenstand verlassen hat und der nun von einem anderen Gegenstand eingenommen wird. Trotz dieser zunächst schlüssig erscheinenden Darstellungen kann die aristotelische Ortsvorstellung unbeweglicher Grenzen jene Aporie, der sie entspringt, nicht beseitigen: Es wird zwar einerseits versucht (wenn man so anachronistisch sprechen darf), die Örtlichkeit phänomenologisch zu betrachten, indem der Ort zunächst nicht (wie etwa die Bestimmung des Raumes bei Kant als einer reinen Anschauungsform) a priori-abstrakt, sondern vielmehr in Relationalität und Analogie zum Gegenstand gedacht wird. 18 Andererseits beginnen die Probleme spätestens dort, wo der Ort bei Aristoteles eine (mit der Für Aristoteles kann es prinzipiell keinen leeren Ort geben. Wie alle Gegenstände sich notwendig an einem Ort befinden, so befindet sich an jedem Ort notwendig ein Gegenstand (213a12 f.). 18 Wobei anzumerken ist, dass es bei Aristoteles durchaus so etwas wie einen letzten Ort gibt, der alle anderen Orte umfasst, nämlich das Weltall (212b15 f.), das wiederum nicht erfahrbar ist, sondern nur in Abstraktion der Anschauung existiert. Auch wenn damit nicht dasselbe intendiert ist, erlaubt die Annahme solch eines letzten und allumfassenden Ortes bei Aristoteles vielleicht doch den Vergleich mit dem kantischen Raum als einer »reinen Anschauungsform a priori«. Andererseits räumt aber auch Kant im Sinne einer pluralen Orts-Theorie ein, dass man sich die Dinge der Empfindung nach an »verschiedenen Orten vorstellen könne« – doch, so Kant weiter, müsse solch einer Betrachtung »die Vorstellung des Raumes schon zu Grunde liegen« (KrV 72). Spätestens mit dieser Hierarchisierung bzw. Fundierung der Pluralität der Orte in einer rein »gedachten Vorstellung« (ebd.) des Raumes bleibt freilich ein markanter Unterschied zwischen Aristoteles und Kant bestehen. 17
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Erfahrung kollidierende und im Grunde rein hypothetische) Absolutheit der bestimmbaren Unbeweglichkeit annehmen muss. 19 Die drängenden Fragen bleiben ungelöst: Wie soll der Ort einerseits »πέρας ἀκίνητον« (Phy 212a20), also starr, statisch, unbewegt und passiv sein und anderseits jedes Mal unmittelbar jenen Körper umfassen können, der sich doch gerade durch ekstatische Aktivitäten und mannigfaltige Veränderungen auszeichnet? Wie soll ferner der Ort feststehend derselbe bleiben können, wenn doch der ankommende Körper jedes Mal ein anderer ist und eine andere Form einnimmt? 20 Und selbst wenn es jedes Mal (zumindest dem Anschein nach) derselbe bzw. ein ähnlicher Körper wäre, der dort ankommt, so würde dieser alsbald erneut Veränderungen aufweisen (etwa wenn die Pflanze über Nacht neue Blüten öffnet); und doch dürfte der Ort, sofern er unbeweglich ist, sich dem nicht anpassen können, usw. 21 Aristoteles behauptet dies nicht nur, um eine unbewegliche Größe in der Grenzziehung und somit Bestimmung des Gegenstandes postulieren zu können, sondern auch im Sinne einer Dialektik, wonach (Orts-)Bewegungen nur dann stattfinden können, wenn es einen Ort gibt, der im Gegensatz zum beweglichen Gegenstand stillsteht. Erst das Stillstehende erlaube – so die Dialektik der Gegensätze – dass sich etwas anderes bewegen kann. Denn nur in Relation zu einem Stillstehenden könne überhaupt Bewegung erfahren werden. Selbst wenn man solch einer Dialektik gegenüber wohlwollend gestimmt sein möchte, würde dies nur für jene Bewegungen im Sinne einer Fortbewegung gelten, jedoch nicht unbedingt für andere Formen der Bewegung im Sinne qualitativer Veränderungen, wie etwa des Wachsens und Vergehens (siehe oben). Um solche Veränderungen gemäß der Dialektik beschreiben (und somit die Dialektik retten) zu können, müsste man, wie dies Aristoteles gewissermaßen auch tut, jenseits der Ortsfrage eine unbewegte Essenz der Dinge annehmen, die (man zwar selbst nicht erfahren, doch von der man – gerade deswegen – behaupten kann, dass sie) unbewegt dieselbe bleibt, während an ihr ein Wachsen und Schwinden stattfindet. Damit wäre man jedoch endgültig bei der platonischen Metaphysik einer Ideenlehre angelangt. 20 So könnte etwa das Beispiel weitergedacht werden: Es könnte die Stelle des Kruges auf dem Tisch ein Blumentopf einnehmen, der sich zwar augenscheinlich am selben Ort befindet, doch seiner Ausdehnung nach eine völlig andere Form hat und somit auch eine andere Örtlichkeit einnehmen muss. Es wäre somit in der Tat der Ort (des Kruges) verschwunden und stattdessen hätte sich ein neuer Ort gebildet, der diesmal dem Blumentopf entspricht. 21 Die Problematik steigert sich, indem Aristoteles zudem des Öfteren behauptet, dass jeder Körper seiner Natur nach zu einem bestimmten Ort gehört und sich somit alles genau dort befindet, wo es hingehört (Phy 211a4; 212b31 f.; 205a10 f.). Doch würde sich alles an jenem Ort befinden, wo sie/er/es hingehört, würde überhaupt keine Bewegung mehr stattfinden können, es wäre alles an seinem Ort und somit Stillstand, d. h. letztlich: Es wäre kein Leben möglich. Man müsste daher auch hier gröbste Metaphysik einführen, um die Sache zu retten, d. h. man müsste behaupten, dass die 19
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III. Ohne diesen einleitenden Artikel allzu sehr mit spezifischen Einwänden gegen die aristotelische Physik zu strapazieren, dürfte unser Exkurs zumindest aufgezeigt haben, dass die Vorstellung des Ortes als eines unbewegt begrenzten Bereiches, der einen beweglichen Inhalt be- und verortet und gleichzeitig dessen Bewegung ermöglichen soll, mit schwerwiegenden Problemen der Metaphysik belastet ist. Jede Ortsvorstellung, die von der sogenannten »abendländischen Philosophiegeschichte« tradiert ist, sich auf ihre Tradition beruft, und dies gilt bislang selbst noch für die Phänomenologie, übernimmt (mehr oder weniger ausgeprägt) die Hypothek einer Metaphysik der Grenze. 22 Die Probleme jener Metaphysik beschränken sich dabei nicht nur auf die onto-physikalischen Körper- und Ortsbestimmungen, von deren Dispositionen und Erklärungen sich heute etwa eine kulturelle oder politische Herangehensweise an die Frage der Örtlichkeit frei zu sein glauben könnte. So möchte man etwa meinen, dass die wie auch immer gearteten physikalischen Darstellungen von Orten diese stets innerhalb naturgegebener Gesetzmäßigkeiten zu verstehen versuchten, während politische/kulturelle Betrachtungen allein schon deswegen ein grundverschiedenes Verständnis von Ort haben müssten, weil sie es nicht mit naturgegebenen, sondern vom Menschen kreierten Orten zu tun hätten. Darin drückt sich freilich die grundsätzliche (Vor-)Annahme aus, dass uns die »Natur« gegeben sei, während die »Kultur« vom Menschen hervorgebracht werde und als solch Hervorgebrachtes produziert (oder wie man vielleicht ein wenig moderner zu sagen pflegt: konstruiert) werden könne. Die solcherart verstandene Differenz zwischen Natur und Kultur – die man gewissermaßen auf die antike Unterscheidung von physis auf der einen und techne/paideia auf der anderen Seite zurückführen könnte Ortsbestimmung ein eigenes (unbegründetes) Sein hat, dass sich zuerst immer (als eine Art Schicksal) die Ortsbestimmung bewegt und dann der Körper dorthin folgt, wohin sich seine Bestimmung bewegt hat. Doch damit hätte man im Grunde eben nur eine metaphysische Verdopplung der Sache unternommen, die dann ihrerseits zugeben muss, dass zumindest die Ortsbestimmung beweglich ist. Doch wieso nicht einen beweglichen Ort denken? 22 So heißt es bekanntlich bis hin zum Denken des späten Heidegger, das sich gerne als nach-metapsychisch verstehen möchte: »Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene.« (Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Klett-Cotta: Stuttgart, 2009, 149).
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– scheint im Kontext unserer Frage nach dem Ort zu der Behauptung verleiten zu wollen, dass es so etwas wie einen physikalischen und einen kulturellen Ort gäbe. 23 Wie auch immer es mit der Begründbarkeit dieser Unterscheidung stehen mag, kann man wohl schwer bestreiten, dass wir in eine andere bzw. in eine erweiterte »Dimension« von Örtlichkeit eintreten, wenn wir diese – wie der damalige Call for Papers unserer Tagung nahelegte – zudem kulturell verstehen wollen. Und doch operieren in diesem scheinbar anderen Verständnis ebenfalls jene Dispositionen, die der onto-physikalischen Auffassung entsprechen, ihr geradezu entstammen. Bevor wir unsere Ausführungen diesbezüglich, also auf den Ort als gesellschaftlichkulturelles Phänomen, ausdehnen möchten, was ja gerade in Bezug auf die Möglichkeit einer inter- bzw. trans-»kulturellen« Phänomenologie zwangsweise von Belang ist, gilt es zuvor nochmals hervorzuheben, dass trotz der oben genannten dichotomischen Differenzen von jeher eine Korrelation zwischen dem Natur- und Gesellschaftsverständnis existiert hat. 24 Bleiben wir, um dies verdeutlichen zu können, noch für einen Moment bei Aristoteles und werfen einen Blick in seine politischen Schriften. Bekanntlich wird dort der Mensch als Die Rede von einer grundlegenden Differenz zwischen Natur und Kultur setzt voraus, dass der Mensch bzw. die Welt des Menschen unnatürlich sein könnte. Es ist ferner vorausgesetzt, dass dem Menschen gegenüber der Natur eine besondere Autonomie und gewissermaßen auch Autorität zukommt (wie es etwa die abrahamitische Weltanschauung von jeher propagierte). Ich möchte hier nicht auf den Streit eingehen (wie dieser in der Anthropogeographie zwischen dem Possibilismus und dem Determinismus, insbesondere zwischen den Positionen von Paul Vidal de la Blache und Friedrich Ratzel geführt wurde), nämlich inwiefern die Kultur die Natur oder umgekehrt die Natur die Kultur forme. So könnte man im Sinne des Determinismus meinen, dass es im Grunde keinen kulturellen Ort gibt, sondern das Kulturelle unmittelbar aus den Bedingungen und Notwendigkeiten des physikalischen Ortes bestimmt werde. Ich möchte in diesem Zusammenhang lediglich einmal mehr an den Artikel von Lévi-Strauss aus dem Jahre 1951 erinnern, den er für die UNESCO unter dem Titel Race et histoire verfasst und darin die Position vertreten hatte, dass die deterministische Annahme »Natur formt Kultur« unmittelbar für den Rassismus des 20. Jahrhundert verantwortlich sei. Doch gerade Lévi-Strauss sollte andererseits wissen, dass die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur selbst kulturell verortet ist. Für ein indigenes Verständnis, wie etwa der Shipibo im Amazonas, wäre es schlichtweg unmöglich, den Menschen außerhalb der Natur zu denken. 24 Wir erinnern uns etwa an den pointierten Satz von Adorno und Horkheimer, wonach die »Unterjochung der Natur auf die Gesellschaft seit je zurückgeschlagen hat« (DA 46), d. h. dass die Verdinglichung der Natur zum Zweck der Naturbeherrschung immer schon und zugleich auch eine Verdinglichung des Menschen zwecks seiner Unterdrückung und Ausbeutung bedeutet hat. 23
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ein von Natur aus politisches Lebewesen (ζῷον πολιτικὸν) 25 angesehen, dessen Gemeinschaft (κοινωνία) von einer Grenze umfasst ist (περιέχουσα) 26, welche zugleich ihr äußerstes Ziel (τέλος) 27 bedeutet: die Staatsform (πόλις). Es dürfte sogleich auffallen, dass in diesen Äußerungen des Aristoteles zum Politischen eine weitgehende Analogie zu den Annahmen seiner Physikvorlesung besteht. Gemäß der Natur der Dinge gilt nämlich auch hier, dass der politisch-formal umgrenzte Körper der Gemeinschaft – und dies gilt im Grunde bereits für ihre kleinstmögliche Einheit, für die bürgerliche Familie – innerhalb einer Demarkation verortet sein müsse. Während der Ort der Familie begrenzt ist durch die Grenzen ihres Heims (οἰκία) 28, ist der Ort des Gemeinschaftskörpers qua Staat bestimmt durch das Staatsterritorium, welches sich Aristoteles als das »Haus des Ganzen« vorstellt. 29 Das Territorium stellt in diesem Zusammenhang eine notwendige und äußere Voraussetzung dar, welche den Staat überhaupt erst ermöglicht. Die vermeintliche Notwendigkeit einer fest umrissenen Ortschaft im Sinne eines begrenzten Territoriums drückt sich bereits durch die Wortwahl aus, denn das altgriechische Wort πόλις (polis) meint nicht nur die Gemeinschaft als Staats»form«, sondern zugleich auch die Burg, d. h. eine Festung, die von unbeweglich gezogenen Mauern umgrenzt ist. 30 Diese ältere Bedeutung des Wortes wird hier nicht nur als eine Art Metaphorik verwendet, sondern Aristoteles spricht sich in der Tat dafür aus, dass der Ort einer jeden πόλις durch feste und undurchdringliche Mauern demarkiert sein müsse, damit das Territorium des Staates nach außen hin abgeschottet sei. 31 »ἐκ τούτων οὖν φανερὸν ὅτι τῶν φύσει ἡ πόλις ἐστί, καὶ ὅτι ὁ ἄνθρωπος φύσει πολιτικὸν ζῷον«. D. h.: »Hiernach ist denn klar, daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört und daß der Mensch von Natur ein politisches Lebewesen (zôon politikón) ist« (Pol 1253a1 f., Übersetzung nach Franz Susemihl). 26 Pol 1252a5. 27 Pol 1252b30 f. 28 Pol 1252b12 f. 29 Vgl.: Pol 1253a19. Im Idealfall entspricht dabei die Größe des Territoriums der Größe der Gemeinschaft bzw. müsse es auf deren Ausmaß angepasst werden bzw. wird es von Natur aus zu jener Anpassung kommen müssen. So schreibt Aristoteles (ich verwende hier die Übersetzung von William Ellis): »To the size of state there is a limit, as there is to other things« (Pol 1326a35 f.). »[F]or no good state can exist without a moderate proportion of what is necessary […] I mean […] the number of citizens and the extent of the territory« (Pol 1325b37 f.). 30 Siehe Gemoll 616. 31 Vgl. Pol 1330b33 f. 25
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Die Abgrenzung durch unverrückbare Mauerwerke solle das »Haus des Staates« nicht nur vor kriegerisch gesinnten Feinden, sondern überhaupt vor der Vermischung mit den Barbaren, den angeblich minderwertigen und unzivilisierten Gemeinschaften schützen, welche sich (ganz im Sinne der Wortbedeutung des βάρβαρος) durch das Fehlen einer kultivierten Sprache auszeichnen. Der Ort der πόλις grenzt sich hierbei nicht nur nach außen hin ab, »die bloßen Mauern allein machen noch keinen Staat« (Pol 1276a26), sondern er grenzt sich, und damit haben wir eine weitere Dimension hinsichtlich der Örtlichkeit erreicht, auch nach »innen« hin ab, nämlich im Wesentlichen durch die Verfassung, die πολιτείαν. In der Verfassung ist verankert, wer innerhalb des Territoriums als Teil des politischen Körpers angesehen wird, wer somit im Zentrum des politischen Ortes, der Agora, das Recht auf eine Stimme hat, mitbestimmen kann und wer keine Stimme hat, wer der Teil ohne Anteil ist: Frauen, Kinder, Sklaven, geduldete Fremde. 32 Je nachdem, ob sich die Verfassung der Oligarchie oder Demokratie versprochen hat, wird der Teil jener, die den inneren politischen Raum verkörpern, nochmals eingegrenzt. Ohne an dieser Stelle weiter auf die aristotelische Staatstheorie eingehen zu müssen, als für die beabsichtigte Darlegung notwendig, dürfte es ersichtlich geworden sein, inwiefern bereits in der Antike Die Bezeichnung μέτοικος, die ich hier als »geduldeter Fremde« übersetze, wurde im alten Athen für jene »Zuwanderer« verwendet, welche nur dann im Stadtstaat Athen leben durften, wenn sie einen Bürger als Patron hatten, dem sie zumeist Schutzgeld zahlen mussten (siehe: Gemoll 501). Bemerkenswerterweise handelt es sich beim μέτοικος, ebenso wie bei dem Sklaven (δουλος), gerade um jenen Teil der Gemeinschaft, der zwar die lebenserhaltende (und somit gemeinschaftserhaltende) Grundarbeit leistet, doch keinen Anteil an der Gemeinschaft hat. Obwohl sie sich am selben Ort aufhalten, gehören sie nicht zum »Volkskörper« und sind somit von der Frage eines gemeinsamen Ortes ausgeschlossen. Es scheint sich hier auf den ersten Blick ein Widerspruch innerhalb der metaphysischen Logik der Geopolitik zu zeigen, denn mit Ausschluss des μέτοικος und des δουλος befinden sich nun Körper an einem Ort, die eigentlich keinen Ort haben; oder anders ausgedrückt: einen Ort einnehmen, ohne ein zählbarer Körper zu sein. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch ersichtlich, dass dieser scheinbare Bruch hinsichtlich der Logik der Grenzen miteinkalkuliert ist. Die gezielte Ausnahme dient einmal mehr dazu, die Regel zu stabilisieren. Der Ausschluss nach »Innen« soll die Abgrenzung nach »Außen« festigen. Wir sehen an dieser Stelle eine Parallele zu den Ausführungen, wie sie Giorgio Agamben in seinem Buch Homo Sacer im Bezug auf die römische Antike beschrieben hat. Dabei konnte Agamben zudem deutlich aufzeigen, dass der Diskurs der Antike sich bis in unsere Gegenwart durchzieht und sich gerade im Umgang mit der Frage der Flüchtlingsbewegungen deutlich zeigt.
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der Ort des Politischen bzw. der politische Ort sich sowohl im Sinne des Territoriums als auch im Sinne der Verfassung in erster und letzter Linie durch Abgrenzung, d. h. durch die spezifische Grenzziehung bestimmt. Diese Abgrenzung gegenüber Anderen soll sich, und damit gelangt die Frage der Örtlichkeit in der Tat in den Bereich der Kulturalität, nicht zuletzt durch Bildung und Erziehung (die παιδεία) verfestigen, welche gemäß der Verfassung die identitäre Einheit des Staates stiften, den Einzelnen als Teil des Staates erziehen und formen soll. 33 Die παιδεία als kulturelle Erziehung drückt sich dabei vor allem in den schönen Künsten aus, in den Handfertigkeiten (τέχνη), die wiederum als Garant einer kulturellen Überlegenheit gegenüber den Barbaren herhalten soll.
IV. Damit möchte ich nun, wie mehrfach avisiert, in der Frage der Örtlichkeit jene Dimension ansprechen, welche landläufig als die »kulturelle« bezeichnet wird. Dabei gilt es zunächst, zu klären, wie das Kulturelle überhaupt als Ort gedacht werden kann: Handelt es sich bei der Rede von einem »kulturellen Ort« bzw. von der Kultur als einem Ort, als einem »Kulturraum« 34, lediglich um eine Metapher, die immer schon ein Ortsverständnis voraussetzt und diese lediglich überträgt? Oder verhält es sich sogar umgekehrt? Ist es die menschliche Fähigkeit zur Kulturalität, die überhaupt erst Örtlichkeit ermöglicht und ereignen lässt? Diese Fragen hängen freilich eng mit der grundsätzlichen Frage zusammen, was der im alltäglichen Sprachgebrauch relativ junge Begriff der »Kultur« überhaupt bedeutet. Um dies ansatzweise zu erhellen, dürfte es an dieser Stelle hilfreich sein, die Sinn-Sedimentierungen, die dem Terminus eingraviert sind, näher zu betrachten. Das lateinische Verb colere, aus dem sich das Partizip Perfekt cultura ableitet, meinte im alten Sprachgebrauch zunächst so viel wie »wohnen«, »sich aufhalten« bzw. auch »pflegen« und »bebauen«. 35 All diese Tätigkeiten, auf welche die antike Wort1337a10 f. Vgl. dazu Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt, 2007, 284 f. 35 Vgl. dazu u. a.: Wilhelm Perpett: Zur Wortbedeutung von ›Kultur‹. In: Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer (Hg.): Zu Begriff und Geschichte der Kultur. Frankfurt am Main 1984, 1–26. 33 34
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bedeutung verweist, sprechen nicht nur implizit von Örtlichkeit, sondern sind geradezu orts-stiftend, indem sie nämlich zuallerst einen Bereich erschaffen müssen, in dem man längerfristig arbeiten, sich ernähren, wohnen, kurz: (über)leben kann. Wir können der Etymologie des Wortes des Weiteren entnehmen, dass cultura zumeist in Kohärenz mit der cultura agri, der cultura agrorum, d. i. im Sinne des neolithischen Ackerbaus verwendet wurde. Die Anfänge des Ackerbaus scheinen allein schon deshalb für die Frage nach der Örtlichkeit bedeutsam zu sein, da in den Feldarbeiten der ersten neolithischen Bauern die unbestimmte Gegend zu einem bestimmten Ort, nämlich zu einem Ort lebenserhaltender (Re-)Produktion wird. Das Ackerfeld eröffnet eine Örtlichkeit im Sinne der permanenten und pertinenten Nutzbarmachung einer zuvor unkontrollierten und rohen Natur. Zugleich ermöglicht jene Nutzbarmachung der Natur, sofern der Ertrag im ausreichenden Maße glückt, das Sesshaftwerden des Menschen. Es wird dadurch nicht nur ein erster kultureller Ort im Sinne einer Boden- und Wohnkultur geschaffen, sondern gewissermaßen auch eine erste (und zwar tätige) Verdinglichung der Natur als ein beherrschbarer Nutzgegenstand vollzogen, der nun Kraft der techne be- und verarbeitet, d. h. eben kultiviert werden kann. 36 Was dabei, gerade im Kontext der bisherigen Ausführungen, als besonders bemerkenswert erscheint, ist die Art und Weise, wie überhaupt die cultura agri als Ackerfeld und somit als ein bestimmter Ort in der Tätigkeit des Bauern zustande kommt. Und zwar kann hier, vor jeglicher Theorie und (Meta-)Physik der Grenzen, bereits eine Praxis der Grenzziehung beobachtet werden. 37 Bevor nämlich der neolithiFreilich kennt bereits der »Jäger und Sammler« Werkzeuge, die ihm nützlich und somit Nutzgegenstände sind, doch im Allgemeinen bedient er sich der Natur, bearbeitet sie jedoch nicht. Seine Gegend ist im Gegensatz zum neolithischen Bauern unbestimmt bzw. bestimmt sich nur vage durch die Möglichkeit der Nahrung, die er finden bzw. erbeuten kann. Der Bauer hingegen verdinglicht die Natur, versteht – wenngleich rein praktisch – ihre Gesetzmäßigkeit und versucht diese zweckmäßig zu nutzen. Sofern ihm der Ertrag gelingt, er sich davon ernähren kann, ist er nicht mehr gezwungen weiterzuziehen, sondern kann sich an dieser Stelle niederlassen und eben eine erste (»dauerhafte«) Örtlichkeit im Sinne eines Wohn- und Produktionsbereiches schaffen. 37 Ich folge hier weitgehend den historisch-phänomenologischen Untersuchungen von Manfred Sommer, die 2016 in seinem Buch »Von der Bildfläche. Format und Textur« bei Suhrkamp erscheinen werden. Sommer vertritt darin die These, dass das Ackerfeld (und später die Feldmesskunst) das lebensweltliche Fundament für die Geometrie darstellen. 36
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sche Bauer den Acker als solchen vorfinden und bebauen kann, muss er zunächst ein gediegenes Feld schaffen, indem er (je nach Beschaffenheit der Gegend) entweder durch Rodung oder eine entsprechend gezogene Markierung ein bestimmtes Feld eingrenzt. Die gezogene Grenze entscheidet hier zwischen der rohen und der bebaubaren Natur. Letztere erscheint schließlich als ein eingegrenzt stationäres Feld, das im wortwörtlichen Sinne in die Erde eingezeichnet ist und an dem nun die Produktion der Nahrung stattfinden kann. Im Zuge der anfänglichen Landwirtschaft kommt es somit zu einem Prototyp jener (augenscheinlich) begrenzten und unbewegten Fläche, welche die tätige, d. h. habitualisierte Voraussetzung für die später idealisierte Vorstellung eines (meta-)physikalischen Ortes innerhalb statisch gedachter Begrenzungen bildet. Ist oben die Rede davon gewesen, dass die physikalische Vorstellung von Örtlichkeit in das Gesellschaftliche übertragen wurde, dann muss nun im Anschluss an das zuletzt Gesagte des Weiteren expliziert werden, dass es sich hier im Grunde um eine doppelte Übertragung handelt: nämlich erstens die Übertragung der lebensweltlichen Tätigkeit der Grenzziehung (und somit Erschaffung von temporär stationären Feldern) hin zu einer idealisierten Vorstellung absoluter Grenzen hinsichtlich statisch bestimmter Orte, wie sie die antike Physik vollzogen hat; und zweitens die Übertragung jener physikalisch idealisierten Vorstellung von Örtlichkeit auf die Ordnung des Politischen. Wenn dabei die (im Ausgang bei Aristoteles oben besprochene) paideia, nämlich die Erziehung der Mitglieder einer polis, als ein genuin kulturelles Geschehen angesehen werden soll, wie dies üblicherweise geschieht 38, dann zeigt gerade dieser Sachverhalt, wie der Begriff der cultura, ursprünglich verstanden im Sinne der praktischen Bildung eines kulturellen Ortes qua Ackerfeld und Wohnfläche, nun über mehrfache Idealisierungen hinweg immer mehr die Bildung einer »geistigen« Sphäre bezeichnet. Es soll nicht mehr allein die rohe Erde, sondern zugleich das rohe Wesen des Menschen bearbeitet, bebaut und eine bestimmte Haltung aufgebaut werden. Spätestens bei Cicero lesen wir wörtlich von einer cultura anima, von einer Kultivierung des Geistes. Wäre die Rede von einem »Innen« und einem »Außen« nicht allzu missverständlich, könnte man sagen, dass die Kultur als Örtlichkeit sich von der äußeren in die innere Welt 38 Siehe etwa Andreas Hetzel: Kultur und Kulturbegriff, in: Handbuch Kulturphilosophie, hrsg. v. Ralf Konersmann, Metzler: Stuttgart, 2012, 24 f.
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hinein ausdehnt. Es zählen in diesem erweiterten Feld jedenfalls nicht nur die Wohnstätten und die Arbeitsfelder des Ackerbaus zum kulturellen Raum, sondern ebenso die Pflege und Entwicklung der Sprache, die Künste als Praktiken der Hervorbringung, die Tugenden, die Sorge um sich selbst, wie überhaupt die Arten und Weisen des Denkens, einschließlich der Vorstellung vom Transzendenten, von Göttern und dem Himmelreich. In diesem Sinne heißt der vollständige Satz bei Cicero: cultura autem animi philosophia est 39. Die Kultur wird als Gesamtheit und als ein auszuschöpfendes Potential des menschlichen Geistes, der philo-sophia, bestimmt. Was sich in jenen Bedeutungsübertragungen und -erweiterungen der cultura durchhält, ist vor allem die Treue zum Prinzip klarer Grenzziehungen zwischen unbewegt abgeschlossenen Feldern. Ob es sich dabei nun um die eine Kultur, die eine Zivilisation handelt, welche ihren Kulturraum gegenüber den »Wilden«, den »barbarischen« Menschen, d. h. dem absolut Anderen abzugrenzen hat; oder ob es die verschiedenen Kulturen sind – wie dies etwa bei Johann Gottfried Herder 40 oder spätestens bei Oswald Spengler 41 ausformuliert wird – die, unterteilt in eine sogenannte »abendländische«, »indische«, »chinesische«, »ägyptische«, »babylonische«, »magisch-arabische«, »aztekische« oder wie auch immer bezeichnete Kultur, sich (mehr oder weniger in Anerkennung oder Kampfzustand) strikt voneinander abgrenzen sollen: In diesen Vorstellungen waltet stets die mehrfach übertragene Verfasstheit der Grenze, die nicht nur ab- und eingrenzt, sondern über die Negativität des Ausgegrenzten sich selbst in positiver Homogenität zu fassen und situieren versucht. Die Peripherie der Grenze (be-)zeichnet gleichsam das Zentrum und die innere Isomorphie des Eingegrenzten, indem es primär die gezogene Linie zum Anderen ist, die das Eigene beschließt. So kann sich der Kulturraum der Zivilisation als solcher nur gegenüber der behaupteten Nicht-Kultur der Unzivilisierten zur Geltung bringen, die »hochentwickelten« Kulturen nur gegenüber den scheinbar »unterentwickelten«, so wie überhaupt jede einzelne Kultur sich nur dadurch behauptet, indem sie sich negativ gegenüber allen anderen absetzt: Man weiß zwar nie ge-
Cicero: Tusculanae Disputationes II, 5, 13. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Aufbau: Berlin, 1965, 289 ff. 41 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, DTV: München, 1993. 39 40
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nau zu sagen, was das Abendländische im Besonderen ausmacht, doch man weiß ganz sicher, dass es das Nicht-Indische, das Nicht-Chinesische, Nicht-Arabische, Nicht-Afrikanische bzw. das Nicht-Buddhistische, Nicht-Islamische, Nicht-Jüdische usw. sei. 42 Trotz und gerade wegen dieser beschlossenen (Selbst-)Isolierung bleibt solch eine begrenzte Auffassung von Kultur (selbst wenn sie der idealisiert-metaphysischen Ortsvorstellung folgt) unweigerlich auf das angewiesen, von dem sie sich zu differieren meint. 43
V. Aus einer phänomenologischen Sicht zeigt sich das Problem nicht nur darin, dass die mehrfache Idealisierung der Grenze eine Metaphysik darstellt, die dem (in jeglicher Hinsicht durchlässigen) Erfahrungsfluss fremd bleiben muss, sondern auch darin, dass – und damit gelangt man sozusagen zu einer Aporie in der erlebten Erfahrung selbst – unmöglich nivelliert werden kann, dass es tatsächliche Unterschiede gibt, dass es selbst in der einfachsten Wahrnehmung kontextuelle Differenzierungen braucht, um überhaupt inmitten des Erlebnisstromes voneinander Unterschiedenes erkennen zu können. Man könnte nun, um der Problematik gerecht zu werden, statt von Grenzen vielmehr von Schranken sprechen, von Übergängen und Schwellen, die – zumindest der Metapher nach – einerseits eine Demarkierung, anderseits aber auch den Fluss zulassen, jedenfalls keine absoluten und unveränderlichen Einheiten behaupten. Mit der Substitution der unbeweglichen Grenzen durch Schranken bzw. Schwellen scheint in der Ausgehend von der Behauptung solch isoliert abgegrenzter Kulturräume als kulturelle Orte und angesichts der These, dass der jeweilige Ort doch das Denken bestimmen müsse, lässt der Schluss nicht allzu lange auf sich warten, wonach es dementsprechend auch ein genuin »chinesisches«, »indisches«, »abendländisches«, »afrikanisches« usw. Denken geben müsse. Die Verdinglichungskette zwischen dem »ursprünglichen Boden« über die Metaphysik des Ortes, hin zum identitären Staat, zum politischen »Volkskörper«, bis hin zum abgegrenzten Kulturraum und einem darauf sich aufbauenden Denken, erreicht schließlich den geschichtlichen Höhepunkt insbesondere in den rassistischen und faschistischen Ideologien der Moderne – die damals wie heute in absoluter und von jeglicher Kritik befreiter Selbstverständlichkeit etwa die »reine Einheit« zwischen dem »deutschen Boden«, dem »deutschen Blut«, der »deutschen Kultur« und korrelierend dazu dem »deutschen Denken« propagieren. 43 Vgl. dazu nochmals den Hinweis auf das Buch Homo Sacer von Giorgio Agamben in der Fußnote 32. 42
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Tat ein gewisser Austausch und eine gegenseitige Beeinflussung von Orten denkmöglich geworden zu sein. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die hier gemeinte Durchlässigkeit zugleich eine Überwachung generiert, die wiederum partout eine Grenze voraussetzt, mit der sie funktional operiert. So kann sich eine Schranke, die sich immer an einer Grenzlinie befinden muss, als Zeichen eines offenen Durchgangs heben oder aber auch senken und damit wieder versperren, verriegeln, blockieren, d. h. eben eine undurchlässige Geschlossenheit herstellen. Ähnliches kann auch über die Schwelle gesagt werden: Sofern sie nicht ohnehin durch eine faktische Tür exakt dieselbe Funktion inne hat, wie die Schranke, soll auch die bloße Schwelle – in ihrer archetypischen Wirkung als eine Art magischer Abwehr – das Erwünschte vom Unerwünschten absondern. Der Zauber der Schwelle bewahrt demnach das Haus, das Land, das Ackerfeld, den Tempel usw. vor dem Feindlichen, so wie sie andererseits vor dem Ausweichen ihrer eigenen Kräfte schützen soll. 44 Analog zur Schranke zeichnet sich daher auch die Schwelle primär durch ihre Kraft zur Beschränkung aus. Die Öffnung meint lediglich eine selektiv kontrollierte Ausnahme, während der Ausschluss die Regel, das Reglementierende ist. Gerade in ihrer Grundfunktion des Schließenmüssens kollidieren letztlich auch die (metaphorischen) Vorstellungen von Schranke und Schwelle unweigerlich mit der erlebten Erfahrung. Die perpetuellen Bewegungen und Veränderungen, die dem Lebendigen (sowie dem scheinbar Leblosen) immanent sind, lassen sich de facto nicht kontrollieren und finden immer wieder einen Weg, sei dies auch ein Umweg, um geschlossene Schranken und Schwellen zu durchbrechen. Im Politischen demonstrieren dies etwa seit jeher die sogenannten »Flüchtlingsbewegungen«, die den allzumenschlichen Drang nach Bewegungsfreiheit (bzw. -notwendigkeit) zum Ausdruck bringen (müssen), dem auf Dauer keine Schranke imponieren kann. Die weltweite Geschichte hat immer wieder aufs Neue gezeigt, dass politische Ereignisse innerhalb von kürzester Zeit faktische Schranken auflösen oder neue einsetzen können, die dann ihrerseits wieder Bezüglich des ersten Aspekts der Schwelle, nämlich als Schutz gegenüber dem Außen, heißt es etwa bei Cassirer: »Die Heiligkeit der Schwelle ist es, die, wie sie ursprünglich die Behausung des Gottes schützt, dann auch in der Form der Land- und Feldgemarkung das Land, das Feld, das Haus vor jedem feindlichen Übergriff oder Angriff bewahrt.« Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Hamburger Ausgabe Bd. 12, Text u. Anm. bearb. v. Claus Rosenkranz, Hamburg: Meiner 2002, 121 f.
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zerfallen. Überhaupt kann bemerkt werden, dass früher oder später jede behauptete Grenze – ob nun absolut gesetzt oder partiell durchlässig – unweigerlich dekonstruiert wurde: So zerfällt und transformiert sich früher oder später jedes Haus, jeder Tempel, jedes Ackerfeld, jedes Territorium, jeder Kulturraum, jede Sprache usw.; kurzum: Jede homogene (Ab-)Geschlossenheit erweist sich als illusionär – während die erlebte Erfahrung im Grunde nur den Fluss kennt, die Fluidität, ständige Metamorphosen, vergehende Entstehungen, entstehendes Vergehen. Allein aus dieser phänomenologischen Betrachtung unaufhörlicher Veränderungen, die das Betrachten selbst mitverändern, kann und muss letztlich gesagt werden, dass der begrenzte Ort weder dauerhaft noch temporär existiert, sondern allein durch die konstruktive Idealisierung als eine invariante Einheit aufrecht erhalten werden kann. Diese radikale Sicht auf die »Dinge« erlaubt uns zwar eine ebenso radikale Dekonstruktion von isotrop begrenzten Örtlichkeiten, doch sie erklärt uns nicht, wie andererseits die unnivellierbaren Verschiedenheiten von Quasi-Orten, gerade im Hinblick auf »kulturell« dimensionierte Orte, phänomenologisch verständlich werden können. Schließlich kann die Erfahrung unmöglich leugnen, dass es einen offensichtlichen Unterschied macht, ob wir uns in der »Küche« oder im »Badezimmer« aufhalten, ob wir in einer »Bibliothek« oder auf einem »Friedhof« sind, ob wir auf den »Himalaja« wandern oder in der Geschäftigkeit einer »Einkaufsstraße«. Ohne eine Nivellierung von spezifischen Erfahrungsorten zu betreiben, aber gleichzeitig der unbegrenzten Lebendigkeit und veränderlichen Offenheit des Phänomens von Örtlichkeit gerecht zu werden, scheint es hilfreich zu sein, auf den phänomenologischen Versuch einer Deskription zurückzugehen, die mit dem Ausdruck »Lebenswelt« bekannt wurde. Der Rückgang auf die Lebenswelt – der sogenannte »world-turn der Phänomenologie« 45 – könnte uns möglicherweise erlauben, die permeable und poröse Pluralität von (Quasi-)Orten klarer in die Sicht zu bekommen, zu beschreiben, zu verstehen; ohne dabei auf die Limitationen statisch-stationärer Metaphysikvorstellungen angewiesen zu sein. Darin besteht jedenfalls die Besonderheit einer Rückkehr zur Lebenswelt: Es meint eben weder den Aufenthalt in einem metaphorischen noch einem metaphysisch-objektiv gesetzten bzw. solcherart aufVgl: Georg Stenger: Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Alber: Freiburg, 2006, 44.
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gebauten und überlagerten Ort, sondern den Rückzug auf die Selbstverständlichkeit der Erfahrung, d. h. zum tat-»sächlich« erlebten Ort – mit all der genetischen Komplexität und mehrdimsensionalen Vielschichtigkeit, die sich unweigerlich durch unberechenbare Lebendigkeit ausdrückt. Die (Lebens-)Welt 46 meint somit, zumindest in der hier verfolgten Lesart, die vor jeglicher Theoretisierung und (in einem bestimmten Sinne auch) vor jeglicher Versprachlichung erlebte Welt, welche der Erfahrung immer schon vorgegeben ist, in deren Spannweite sich die Erfahrung abspielt. Sie ist vorgegeben in dem Sinne, dass jede Theorie und jedes Sprechen die konkret erlebte Welt voraussetzt, d. h. immer eine Welterfahrung vollzogen haben muss. 47 »Auf die Frage, was die Welt ist, was ich da unter diesem Titel als seiend vorfinde«, so etwa Edmund Husserl, »kann ich nur hinweisen auf das gerade Erfahrene, das sich mir ja als in leibhaftiger Selbstheit seiend in der Wahrnehmung gibt« (Hua39, 693 f.). Husserl – der durch seine transzendentale Bewusstseins-Egologie in diesem Zusammenhang gewiss eigene Probleme aufwirft, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, denen ich ausweiche bzw. von denen ich abweiche – spricht in seinen Spätschriften von der Lebenswelt als einer »allumspannenden Seinsweise« (Hua6, 134), von einem »Horizont« (Hua39, 67 f.), aber auch von einem »Ursprungssinn« (Hua6, 57), der geschichtlich wie auch gegenwärtig als »gründender Boden« (Cr134), als »Untergrund fungiert« (Cr127). Der phänomenologische Rückgang versucht in solchen Beschreibungen von Weltlichkeit sowohl das Singular-Sein von Welt als Universalhorizont, als einem UnterDa eine unlebendige Welt in der Tat eine Unmöglichkeit darstellt, sind Welt und Lebenswelt im Grunde Synonyme; sodass man darauf verzichten könnte (in Klammern oder nicht), dem Wort »Welt« als eine Art Präfix die Eigenschaft »Leben« voranzustellen. Allein aus einer husserlianischen Sicht könnte es vielleicht Sinn ergeben, die »Welt« terminologisch für die Singularität von Welt, und »Lebenswelten« für die Pluralität von Welten zu verwenden – aber auch das wäre missverständlich. 47 Wenngleich es – wie dies gewissermaßen bereits Aristoteles in seiner Topik der Dialektik und Rhetorik aufgezeigt hat – den topos (Ort) bzw. die topoi (Orte) auch im Sinne von Gedanken- und Sprachwelten geben kann, die wiederum ihrerseits ein bestimmtes Welterleben bedeuten, so müsste man aus phänomenologischer Sicht sagen, dass selbst ein »reiner« Gedanke (sofern es diesen in »Reinheit« geben kann) gleichermaßen eine leibhaftige Erfahrung, eine Denk-Erfahrung bedeutet und sich in seiner Bewegung als einem Gedanken-Gang immer auf eine Gedankenwelt bezieht. Als solch »rein« gedankliche oder »rein« sprachliche Erfahrungen und Welten (bis hin zu komplexen Traumwelten) sind sie ebenfalls erlebte Phänomene, die als solche phänomenologisch betrachtet und thematisiert werden können. 46
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und Hintergrund jeglicher Erfahrung überhaupt, wie auch gleichermaßen das Plural-Sein von vielfältig erlebten (Sonder)-Welten in ihrer Konkretheit freizulegen und zur Sicht zu bringen. 48 Es wäre jedoch ein Missverständnis oder hätte gar ihrerseits einen Hang zur Statik, wenn man die Lebenswelt nur in ihrer Vorgegebenheit für die Erfahrung betrachten wollte. Es würde die Dynamik der Responsivität von Welt unterschlagen. Denn gerade der responsive Charakter von Welt, dass sie nämlich auf die Erfahrung reagiert, antwortet, sich von ihr modifizieren lässt, »hält« sie (wie auch die Erfahrung von ihr) in einer unaufhörlichen Bewegung, in einem multiplen Spiel reziproker Transformationen. Wenn wir nun in der Frage von Örtlichkeit diesen radikalen Rückgang auf die Lebenswelt mitmachen wollen, drängt sich im Anschluss an die bisherigen Problematisierungen unweigerlich die Frage auf, wie sich die Pluralität von unterschiedlichen Orten qua Lebenswelten voneinander differenzieren können, wenn nicht durch die theoretische Annahme von klaren Grenzen und abstrakter Homogenität. Die Frage lautet also: Wenn nicht kraft einer klaren Grenzziehung, wie sonst soll der Fluss der Erfahrung zu einer örtlich bedeutsamen Sammlung im Sinne einer Lebenswelt finden? Oder anders gefragt: Auf welchem »Boden« soll der Ort zur Welt kommen, wenn es in der erlebten Erfahrung keinen festen Boden gibt, wenn sich alles in einem (un)entwegten Fluss abspielt? Doch vielleicht liegt gerade in dieser beunruhigenden Tatsache der kinästhetischen Fluidität von Erfahrung und all ihrer Phänomene nicht nur das Problem der Örtlichkeit, sondern zugleich die adäquate Lösung. Denn die reziproken Bewegungen sowohl im Sinne von Fortbewegungen und substanziellen So heißt es bei Husserl: »Jede solche Menschheit hat eine andere konkrete Welt. Aber trotzdem – durch alle diese konkreten Welten, die wir als in dieser Weise gemeinschaftssubjektiv-relative ihre »Umwelten« nennen, geht hindurch eine Welt, und zwar als eine im sich verbindenden Erfahrungsbewusstsein solcher in Gemeinschaftsbeziehung tretenden Subjektivitäten bzw. einzelner Subjekte sich direkt aus Erfahrung als selbige, also bewusst ergebende« (Hua 39, 692). Und eine Seite später: »Wir ersehen aus dieser Betrachtung, dass wir in unserem gesamten Leben, das immerzu Weltleben ist, in einem höchst merkwürdigen Relativismus befangen sind und notwendig befangen bleiben müssen. Unser Weltleben – in die jeweilige Welt Hineinleben – setzt immerzu als erfahren, als unmittelbar und direkt gegeben (original da seiend) ›die‹ Welt als das in der Tat im evidenten Bewusstsein der gegenständlichen Selbigkeit durch den universalen Strom der Erfahrung Gegebene. Es setzt aber – und es kann nicht anders – ›die‹ Welt in Form einer immerzu wechselnden Umwelt« (Hua 39, 693 f.).
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Veränderungen als auch im Sinne von Handlungen und Praktiken scheinen überhaupt erst in der Lage zu sein, in und durch ihre Aktivitäten unterschiedlichste Welten zu konstituieren. Dies gilt bereits für die Entwicklung eines Raumgefühls. Die Art und Weise, wie sich der lebendige Körper bewegt, ob er mit seinen Bewegungen durchkommt, ob er anstößt, abgestoßen, angezogen wird, ob er etwas umgehen, sich verlangsamen oder beschleunigen muss usw., zeichnet ihm eine Raumkonstellation, verleiht ihm ein bestimmtes Orts- und Orientierungsgefühl. Durch die sich einprägenden Spuren solcher Bewegungen erhält der Körper einen Sinn für Richtung, für Ferne, Nähe, für Oberfläche, Tiefe, Weite, Härte, wie auch für Dichte, Durchlässigkeit und nicht zuletzt für die Qualitäten seiner eigenen Ausgedehntheit. 49 Dieses »Prinzip« oder besser: dieser Prozess, welcher als vorausgehender Erschließungs- und Stiftungscharakter von Bewegung bezeichnet werden könnte, spielt gleichermaßen eine wesentliche Rolle in der Erfahrung des Ortes als eine Bedeutungswelt. Wenn wir uns fragen, was die Geltung eines Ortes ausmacht, was diesen als einen sinnhaft erlebten Ort eröffnen und ereignen lässt, zeigen sich uns auch hier vorausgehende, in ihrem Vorausgang grundlegende Bewegungen im Sinne von leiblichen Tätigkeiten, Handlungen und Praktiken. 50 Um dies zu veranschaulichen, könnte man unendlich viele Beispiele aufzählen und diese freilich einer genaueren phänomenologischen Betrachtung unterziehen. So bestimmt sich etwa, um nur kurz einige anzudeuten, der Schlafplatz primär durch die Aktivität des Schlafens 51; der Festsaal durch das Feiern; die Bibliothek durch das Archivieren und Studieren; die Küche durch die Tätigkeit Vgl. dazu beispielsweise die phänomenologischen Deskriptionen in Hua 1, § 50 ff.; Merleau-Ponty, PhW § 20, 169 ff.; Heidegger, GA2 § 19 ff., insbesondere 97. 50 Vgl. dazu Alfred Schütz: Theorien der Lebenswelt. Die pragmatische Schichtung der Lebenswelt, Werkausgabe Band VI., UVK: Konstanz, 2003, 198 ff. 51 Und nicht etwa durch vier Wände, einem Dach und einer Matratze. Im Gegenteil können dieselben faktischen Gegebenheiten und Gegenstände je nach Tätigkeit eine völlig andere Örtlichkeit bedeuten; so können etwa die soeben genannten durch die Tätigkeit der Pflege oder durch die der Operation eine völlig andere Örtlichkeit bestimmen. Überhaupt kann gesagt werden, dass die Gegenstände selbst im Wesentlichen durch die jeweilige Tätigkeit konstituiert sind. Damit ist nicht nur gemeint, dass der Gegenstand einer Funktion folgt, der Hammer überhaupt erst seinen Sinn durch das Hämmern erhält, sondern dass »derselbe« Gegenstand durch unterschiedliche Tätigkeiten eine völlig andere Bedeutung erhalten kann: Das Messer ist etwa durch die Aktivität des Brotschneidens ein völlig anderer Gegenstand als durch die Tat des Tötens. 49
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des Kochens; wie überhaupt jegliche Arbeitswelt durch die jeweilige Arbeit, so die Fabrik durch den Prozess der Fließbandproduktion, durch das getaktete Montieren, Kartonieren; die Baustelle durch das Mauern, Betonieren, Verputzen; das Fischergewässer durch das Fischen; so wie auch andere Orte immer durch die jeweiligen Tätigkeiten konstituiert werden: so etwa der Tempel durch die religiösen Praktiken; der Swingerklub durch den Gruppensex; der Zugwagon durch das Reisen; die Landschaft durch das Wandern; das Meer durch das Schwimmen, Tauchen und Segeln; die Welt des Tanbur durch das Tanburspielen; und schließlich auch die Sprachwelt durch die Aktivität des Sprechens/Schreibens/Lesens; die Gedankenwelten durch das Denken; die Traumwelten durch das Träumen usw. Es erscheint dabei beinahe selbstevident und keiner weiteren Klärung bedürftig, dass all diese Welten sowohl ihrer Art als auch ihrer konkreten Bedeutung nach voneinander unterschieden sind. Ihre Differenz gründet gerade nicht in angenommenen Grenzen, sondern in jenen unterschiedlichen Bewegungen und Aktivitäten, die jeweils vollzogen werden und in ihrem Vollzug über sich hinausweisen, d. h. einen Überschuss an Sinn produzieren, der sich schließlich als Sinnhaftigkeit einer Welt gewissermaßen konstant durchhält, in Abweichungen wiederholen und erinnern lässt. Es wäre jedenfalls äußerst missverständlich, die Örtlichkeit im Sinne der Lebenswelt als eine bestimmte »Fläche zuzüglich Leben« vorzustellen. Das Leben ist hier nichts Adjektives, sondern das zuallererst Ermöglichende. Allein der vorausgehende Überschuss eines leibhaft-kinästhetischen Lebens vermag Örtlichkeit als einen zusammenhängenden Sinn, als eine kohärente Bedeutungsund Lebenswelt erscheinen zu lassen. Durch die überschüssigen Bewegungen konstituiert, ist die Lebenswelt auch nicht auf eine bestimmte Region begrenzt, sondern ereignet sich immer in einer ekstatischen und elastischen Spannweite: So ereignet sich beispielsweise die Lebenswelt einer »Baustelle« nicht nur dort, wo eine Bauarbeiterin Ziegel auf Ziegel setzt. Die »Baustelle« ist vielmehr immer schon ausgedehnt, sie dehnt sich auf ihren Mittagstisch hin aus, wo sie während des Essens an einem speziellen Problem weiterarbeitet, dehnt sich aus über das Telefongespräch bis hin zum Laden, wo sie Einkäufe für die weitere Arbeit bestellt, auf die Straßen, auf denen sie mit dem Firmenbus die Bestellungen abholt, dehnt sich aus bis in die Waschküche, wo sie nach einem anstrengenden Tag den Mörtel von ihren Händen wäscht, bis hin auf den Behandlungstisch der Ärztin, auf dem sie von den Beschwerden der ihrem Körper eingeschriebenen Schwer72 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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arbeit erzählt und womöglich bis hin in ihre Träume, in denen der vom Arbeitgeber ausgeübte Druck als fertig gebautes Haus ohne Fenster erscheint. Kurzum: Die ekstatische Spannweite der Örtlichkeit als einer Lebenswelt dehnt sich in alle Richtungen und Dimensionen aus, die mit den Bewegungen der jeweiligen Tätigkeit zusammenhängen, können sich aber auch auf einen einzigen Punkt hin konzentrierend zusammenziehen, indem sich beispielsweise im Riss einer Vase die ganze Welt des Töpferns zeigt. In diesem Sinne kann gesagt werden, dass Welten weder begrenzt noch abgeschlossen, weder feststehend noch stabil sind, sondern sich durch den hyperbolischen Überschuss einer Reihe von Aktivitäten konstituieren, die einen sinnhaften und fortlaufenden Horizont generieren. Der als sinnhaft erlebte Horizont ist also selbst immer responsiv, reziprok, steht im Verweisungszusammenhang zu anderen Orten, geht in diese über oder weicht ihnen aus, indem er entweder auf Widerstände stößt oder zu neuen Hybriditäten eingeladen wird. 52 Ob sich dabei eine Welt öffnet oder verschließt, ob sich ihre Bedeutsamkeit als eine bestimmte Lebenswelt wiederholen lässt oder nicht, ist keineswegs beliebig, sondern hängt letztlich allein davon ab, inwieweit die konstituierenden Bewegungen als leiblich involvierte Aktivitäten und Abläufe vollzogen bzw. (sei dies auch »nur« in der Phantasie) nachvollzogen werden können. Freilich setzen dabei bestimmte Aktivitäten ihrerseits ein Wissen bzw. eine gewisse Einführung voraus, sodass oftmals der Zugang zur Lebenswelt indirekt davon abhängen kann, inwiefern (praktisches) Wissen weitergegeben oder vorenthalten wurde. 53 Doch damit allein ist nicht über das existentielle Gefühl von Fremdheit bzw. Vertrautheit einer Welt entschieden, welche sich vielmehr durch die Gewichtung der jeweiligen Lebenswelt einstellt. Vgl. in diesem Zusammenhang den aufschlussreichen Begriff der »Hybridität« von Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Stauffenburg: Tübingen, 2000, S. 58 und 169 f. 53 Mit der epistemologischen Komponente verkompliziert sich die Sachlage. Denn die Ein- und Ausschlussmechanismen zeigen sich alsbald als eine epistemische Macht, nämlich darin, ob und inwiefern praktisches (nicht enzyklopädisches) Wissen zur Erlernung gewisser Bewegungen und Praktiken weitergegeben wird oder nicht. Dieses Wissen ist in der Tat Macht. Es ist ein Vermögen, das den Körpern als ihr jeweiliger Habitus eingeschrieben ist. Der mehr als berechtigte Wunsch nach Überwindung von gewissen Macht- bzw. Herrschaftsmechanismen kann daher niemals allein durch eine »Dekonstruktion« von Begriffen und Diskursen stattfinden, sondern muss mit einer Dekonditionalisierung jener Mechanismen und Praktiken einhergehen, welche die diskriminierende Verfasstheit von Welt(en) bestimmt. 52
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Es ist letztlich auch die Nähe oder Ferne zu einer als besonders wichtig erachteten Mit-Welt, welche die Nähe und Ferne zum Anderen reguliert. So kann der Nachbar Paul, der zwar mit mir auf demselben geographischen Fleck aufgewachsen ist, dieselbe Sprache spricht, am Abend dieselben Knödel isst wie ich, mir dennoch fremder sein als Asmin, die tausende Kilometer entfernt von mir aufgewachsen, aber mit mir die (für mich ausschlaggebende) Lebenswelt des Goldschmiedens teilt und mit der ich mich daher über die (durch die Tätigkeit konstituierte) Arbeitsstelle unendlich mehr in Vertrautheit austauschen und eine Welt teilen, an einer Mitwelt partizipieren kann, als mit dem besagten Paul, der mit seinen machohaften Interessen für das Fußballspiel mir wesentlich, d. h. lebensweltlich fremd bleibt. Die Vertrautheit einer Lebenswelt, in der mir Andere als Vertraute begegnen, lässt sich gerade deswegen weder von geograpisch-physikalischen noch politisch-kulturellen Grenzziehungen (etwa im Sinne von »Staat und Volk«) einschränken oder gar bestimmen. Dies möchte jedoch andererseits nicht sagen, dass es individuelle Einzelwelten gebe, die sich nach Belieben über gemeinsame Tätigkeiten und Interessen zusammenfinden und Orte stiften könnten. Der Einzelne, sofern es ihn überhaupt als ungespalten-abgeschlossene Monade gibt, versteht sich selbst immer von einer Mitwelt, d. h. von einer intersubjektiv erfahrenen Lebenswelt her. 54 Sein Selbstbild bzw. seine Selbstbilder sind Internalisierungen von wiederholten Aspekten einer mit Anderen geteilten Lebenswelt, die sich als Identifikation mit-teilen und in Habitualisierungen verkörpern. Das, wenn man so möchte, »innere« Selbstbild und die »äußere« Lebenswelt stehen somit selbst in einem reziproken, ineinander (über)greifenden und beweglichen Verhältnis. All diese Beschreibungsmöglichkeiten der Örtlichkeit als einer in mehrfacher Hinsicht dynamischen Lebenswelt, die ich hier nur in Grundzügen ausführen konnte, scheinen letztlich nahe legen zu wollen, dass der Ort als Lebenswelt sowohl subjektiv wie auch objektiv sein müsse. Sie ist subjektiv, insofern immer »ich« es bin bzw. es »mein« Körper ist, der sich bewegend orientiert, der eine Welt durch gewisse Handlungen (re-)konstituierend erfährt und deren Bedeutung und Gewichtung immer ich selbst (nach)vollziehend stiften 54 Siehe hierfür Heidegger GA2, § 26 ff. und vgl. dazu Nancy’s Auseinandersetzung mit der Analyse des »Mitdaseins« in: Jean-Luc Nancy: Singulär Plural Sein, Diaphanes: Berlin, 2004, 151 ff.
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muss. Sie ist jedoch gerade objektiv, insofern diese Bewegungen und Handlungen eine vor-, inter- und transsubjektive Geschichtlichkeit, Gegenwart und Intentionalität haben und als solche dem Subjekt gewissermaßen als Konditionen und Dispositive vorgegeben sind. Das Dasein (aus dem heraus »ich« »mich« erschließe, erfahre und wahrnehme) ist nicht nur im Sinne eines In-der-Welt-seins immer schon in die bzw. in eine Welt geworfen, sondern es ist bereits zuvor durch gewisse (ihm und der Welt zugrundeliegende) Bewegungen und Handlungen getrieben, die (bei allem Glauben an die perspektivische und autonome Individualität) dem Einzelnen konditionierend vorausgehen und ihn zugleich übersteigen, überdauern. Aus einer rein phänomenologischen Betrachtung heraus lässt sich sagen, dass die erlebte Welt im Grunde weder subjektiv noch objektiv ist, weder individuell noch kollektiv, weder ideal noch real, weder geistig noch materiell, sondern als reine Erfahrungswelt allen dichotomischen Setzungen und Identifizierungen vorausgeht. Im Gegenteil setzen solche Dichotomien die Erfahrungswelt(en) immer schon voraus. Man könnte auch sagen, dass gewisse Dichotomien überhaupt erst in einer bestimmten – nämlich einer genuin theoretischen – Welt stattfinden und sich zu Wahrheiten kultivieren können.
VI. Es bleibt mir nun zum Schluss nur noch wenig Raum, um im Hinblick auf die eingangs aufgestellte Arbeitshypothese und im Rückblick auf den bisherigen Denkweg zu einer Art von Zusammenfassung zu kommen, die zudem klären sollte, worin nun das Potential einer phänomenologischen Betrachtung in Bezug auf den sogenannten inter- bzw. trans-»kulturellen« Diskurs liegen könnte. Die Arbeitshypothese der Konferenz – wie eingangs dargestellt – hat sich jedenfalls dahingehend modifiziert, dass wir aufgrund einer bestimmten phänomenologischen Herangehensweise nun nicht mehr ohne Weiteres davon sprechen können, dass das Denken an einem statisch unbewegten Ort stattfindet, sondern vielmehr in einer durch gewisse Bewegungen, Veränderungen und Handlungen erfahrenen und durch diese qua Lebenswelt konstituierten Örtlichkeit. Dem »world-turn« der Phänomenologie folgend, änderte sich die Sichtweise auf die Örtlichkeit (insbesondere in Bezug auf den kulturellen Ort, auf die Kultur als Ort) dahingehend, dass wir nun nicht mehr nach 75 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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eingegrenzten oder begrenzten Flächen, Kontinuitäten, Homogenitäten und Identitäten fragen, sondern nach erlebten Praktiken und Ereignissen, die über sich hinausweisend eine gewisse Welt (in all ihrer durch das Tätigsein hervorgerufenen Spannweite, ihren Expansionen, Kontraktionen, Vermischungen und Gewichtungen) zum Vorschein oder auch zum Verschwinden bringen. Die hier verfolgte Phänomenologie bleibt somit nicht bei einer Kritik und Dekonstruktion rein theoretisch gedachter Örtlichkeit stehen, sondern ist um die Freilegung und Öffnung des Ortes bemüht, so wie er welthaft und bedeutsam in der Erfahrung erlebt wird. Es wird jedenfalls nicht ausreichen – und ich sage dies angesichts des vorliegenden Textes durchaus auch selbstkritisch – dass die Theorien der Örtlichkeit (oder auch der Räumlichkeit) durch eine Theorie der Lebenswelten ersetzt und dieser Ersatz wie gewohnt theoretisch-spekulativ ausgebaut wird. Damit hätte man zwar das Bücherregal quantitativ bereichert, doch man wäre dem erlebten Phänomen nicht näher gekommen, geschweige denn seiner Erkenntnis. Die schwierigere Aufgabe für die Forschung besteht daher weiterhin darin, die überlieferten Einstellungen und Praktiken einer theoretischen Welt – zumindest ein Stück weit – zu dekonditionieren, sodass die Sache überhaupt erst freigelegt und somit in ihrer genuinen Phänomenalität gesichtet werden kann. Dies scheint jedenfalls die Voraussetzung für eine adäquate Theorie im Sinne der theoria oder des darshana zu sein. Das Potential der phänomenologischen Herangehensweise liegt letztlich eben genau darin, dass sie nämlich ihren Anfang, der immer ein Neuanfang sein muss, von der erlebten und sich stets verändernden Erfahrung nimmt, die wiederum aufgrund ihrer Primordialität ein weltweites Grundphänomen darstellt. Freilich geben sich die Erscheinungen in unterschiedlichen Welten, Zeiten und Modalitäten auf unterschiedliche Weise und müssen dementsprechend in ihrer Differenz gedacht werden, zumal das Denken selbst, die Art und Weise der Denkerfahrung davon unweigerlich beeinflusst wird; doch allein die Tatsache, dass wir erfahren, dass all dem eine Erfahrung, ein Erfahrenwerden zugrunde liegt, ist schließlich der einzig gleichbleibende (wenn man so möchte: »universale«) Ausgangspunkt, welcher der Phänomenologie erlauben kann, beschreibend und verstehend in die Bedeutsamkeit unterschiedlichster Welten einzutauchen und dort, wo dies nicht gelingt, zumindest die Erfahrung der Unvertrautheit zu thematisieren. In der Tat kann sie damit der inter- und trans»kulturellen« Philosophie, die bisweilen leider noch immer in einer dogmatischen und oft politisch 76 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Begrenzte Orte und bewegte Welten
motivierten Vorstellung von Orten und Kulturen als geschlossenen Einheiten stecken bleibt, neue Perspektiven eröffnen. Andererseits vermag die Phänomenologie diese Öffnung nur dann, wenn sie ihrerseits zu einer Wende gelangt und sich von der eurozentrischen Philosophie des Herrschenden, der sie sich trotz all der Dekonstruktionsbemühungen noch immer verpflichtet fühlt, freimacht – und damit aber zugleich ernst macht mit der radikalen Orientierung an der erlebten Erfahrung. Gerade durch jene Orientierung wird sie nicht zuletzt aufzeigen können, dass die Bemühung des Weltverstehens, von der sie selbst begeistert ist, keineswegs auf eine Sonderwelt beschränkt ist, sondern parallele und weltweite Äquivalente hat. Hier beginnt die Möglichkeit einer transkulturellen Phänomenologie.
Siglenverzeichnis und Literaturangabe Alle Aristoteles-Zitate beziehen sich auf das griechische Original der Ausgabe von Immanuel Bekker: Aristotelis Opera, Berlin, 1831–70. Die Werke wurden mit folgenden Siglen abgekürzt: Met Metaphysica (Metaphysik, deutsche Übersetzung: Hermann Bonitz, Rowohlts: Hamburg, 2005) Phy Physica (Physik, deutsche Übersetzung: Hans Günter Zekl, Meiner: Hamburg, 1987) Pol Politica (Politik, deutsche Übersetzung: Franz Susemihl, Rowohlts; Hamburg, 1994; englische Übersetzung: William Ellis, Dutton: New York, 1928, sowie Benjamin Jowett, Batoche Books: Kitchener, 1999)
Weitere verwendete Siglen: DA GA Hua KrV PhW
Theodor Adorno, Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer 2004. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M., 1975 ff. Edmund Husserl, Husserliana. Gesammelte Werke, Nijhoff: Den Haag, 1950 ff. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft 1, Band III der Werkausgabe in XII Bänden, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1996. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, De Grutyer: Berlin, 1966.
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Weitere verwendete Literatur (ohne Siglen): Adelung, Johann Christoph: Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, Scriptor: Königstein, 1979. Agamben, Giorgio: Homo sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 2002. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt, 2007. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Stauffenburg: Tübingen, 2000. Blumenberg, Hans: Theorie der Lebenswelt, hrsg. von Manfred Sommer, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 2010. Cicero: Tusculanae Disputationes – Gespräche in Tusculum, Latein/Deutsch, Reclam: Stuttgart, 1997. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Hamburger Ausgabe Bd. 12, Meiner: Hamburg, 2002. Dünne, Jörg und Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie – Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 2006. Elberfeld, Rolf: Interkulturalität, in: Ralf Konersmann (Hrsg.), Handbuch Kulturphilosophie, Metzler: Stuttgart, 2012, 39–46. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1966. Gemoll, Wilhelm: Griechisch-Deutsches Handwörterbuch, Hölder-PichlerTempsky: Wien, 1937. Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität, Ausgewählte Schriften 2, Argument: Hamburg, 1994. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Aufbau: Berlin, 1965. Kimmerle, Heinz: Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Junius: Hamburg, 2002. Lévi-Strauss, Claude: Rasse und Geschichte, aus dem Französischen von Traugott König, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1972. Mall, Ram Adhar: Das Projekt interkulturelles Philosophieren heute, in: Polylog, Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 25, WiGiP: Wien, 2011. Nancy, Jean-Luc: Singulär Plural Sein, Diaphanes: Berlin, 2004. Newton, Isaac: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (Die mathematischen Prinzipien der Physik), De Gruyter: Berlin/New York, 1999. Perpett, Wilhelm: Zur Wortbedeutung von ›Kultur‹. In: Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer (Hg.): Zu Begriff und Geschichte der Kultur. Frankfurt am Main 1984, S. 1–26. Platon: Timaios, übersetzt von Franz Susemihl, in: Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 3, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, 2004. Schütz, Alfred: Theorien der Lebenswelt. Die pragmatische Schichtung der Lebenswelt, Werkausgabe Band VI., UVK: Konstanz, 2003. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, DTV: München, 1993.
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Begrenzte Orte und bewegte Welten Stenger, Georg: Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Alber: Freiburg, 2006. Waldenfels, Bernhard: In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. Welsch, Wolfgang: Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Information Philosophie, Heft 2, 1992, S. 5–20. Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie: Eine Einführung, UTB: Wien, 2003.
Für die sorgfältige Korrektur des Textes möchte ich Ole Sören Schulz herzlichst danken.
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Intercultural and Interdisciplinary Work: A Statement on Method
There is the need for self-defense, not uncommon when presenting intercultural philosophy to a wider audience, as questions of cultural incommensurability inevitably arise. Is comparative philosophy legitimate? Is intercultural? Is any type of global philosophy possible? Is this particular kind of project possible? Are the cultural, terminological, and perspectival differences simply too great? Simply put, this type of talk, while well intentioned, is not fruitful. Taken in terms of contemporaneous cultures, one might ask whether Judith Butler has license to deal with French philosophers like Michel Foucault. Is this too much distance? What about Foucault’s long-term residence in America? The same question occurs with regard to anachronism and historical/cultural incommensurability. Does a contemporary »Westerner« have license to talk about Plato when his Athenian culture is really quite far away from today’s world? Does Butler have the right to appropriate Aristotle? Does a contemporary philosopher like Lǐ Zéhòu have warrant to delve into Confucianism? The obvious answer to these facile questions is »yes,« because soon the very idea of tradition and continuity would become lost in such a way that Nietzsche’s sardonic quip that »there was basically only one Christian, and he died on the cross« would become the rule for philosophical, religious, and cultural enterprises in general. 1 However, glibly leaving things at »yes« and simply moving on presents problems in the long run. The gap calls for a fuller response. In both cases, whether addressing how contemporaneous cultures talk to each other or how contemporary idioms speak to the past, something of a »sorites paradox« emerges. The sorites paradox, using the Greek term for »heap« (σωρίτης or sōritēs), refers to the slippery slope question of quantification. A heap might have a certain 1
Nietzsche 211, Der Antichrist, Section 39, 1888.
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Intercultural and Interdisciplinary Work: A Statement on Method
large number of straws of hay in it, but taking them away one by one, at some point a threshold is reached whereby the heap ceases to be a heap. A similar logic underlies questions concerning baldness and there perhaps being some threshold number of hairs between 0 and n where one becomes bald or not bald. The hourglass likewise comes to mind, manifesting the paradox over time. What does this mean here? Well, the idea is that some point exists where things either become intracultural, occurring within a single proper domain, or intercultural, occurring between two separate cultures. This implies a threshold, a spatial, temporal, or spatiotemporal border at which this culture here ends and that culture there begins, and also a border where each becomes a proper entity, a heap unto itself, and not just subcultural detritus. This all gets rather messy rather quick. The kind of logic often motivating these questions of cultural incommensurability is far from unassailable, dubiously tending toward false reification or what Alfred North Whitehead calls the fallacy of misplaced concreteness. 2 Whitehead holds that »by a process of constructive abstraction we can arrive at abstractions which are the simply located bits of material, and at other abstractions which are the minds included in the scientific scheme.« 3 And here in this project, culture counts as one such constructed abstraction. Why is this a problem? Well, such abstractionism quite often becomes vicious, at least as understood by William James. He writes: Let me give the name of »vicious abstractionism« to a way of using concepts which may be thus described: We conceive a concrete situation by singling out some salient or important feature in it, and classing it under that; then, instead of adding to its previous characters all the positive consequences which the new way of conceiving it may bring, we proceed to use our concept privatively; reducing the originally rich phenomenon to the naked suggestions of that name abstractly taken, treating it as a case of »nothing but« that concept, and acting as if all the other characters from out of which the concept is abstracted were expunged. Abstraction, functioning in this way, becomes a means of arrest far more than a means of advance in thought. 4
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Whitehead 75, 85–86. Ibid. 85. James 135–136.
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James Garrison
When it comes to abstracting cultures from culture (and even the abstraction of culture as such is problematic because of the kind of interconnections described above), such abstracted cultures lend themselves to »no true Scotsman«-type thinking. Coined by Antony Flew, this refers to the all-too-common self-serving form of rather flimsy essentialism on display in the following scenario: Imagine Hamish McDonald, a Scotsman, sitting down with his Glasgow Morning Herald and seeing an article about how the »Brighton [England] Sex Maniac Strikes Again«. Hamish is shocked and declares that »No Scotsman would do such a thing«. The next day he sits down to read his Glasgow Morning Herald again; and, this time, finds an article about an Aberdeen [Scotland] man whose brutal actions make the Brighton sex maniac seem almost gentlemanly. This fact shows that Hamish was wrong in his opinion but is he going to admit this? Not likely. This time he says, »No true Scotsman would do such a thing.« 5
And so, this is the tendency of one to dismiss this or that derelict, untidy, or inconvenient instance as not truly Scottish, French, Maasai, Japanese, Cherokee, or whatever may be the case, since these occurrences would simply be the random noise of statistical outliers and nothing properly essential. This vicious cultural abstraction happens as much with the hypothetical sex maniacs of Brighton and Aberdeen as it does with academic philosophers working in their particular bailiwicks. It is very easy for this kind of thinking to become self-serving or at least conforming to pre-existing biases, such that the abstraction of what belongs to this or that particular culture leaves out or downplays the parts of a tradition that its bearers might prefer to forget. And this is to say nothing of how a virulent strand of the pathetic fallacy can easily give way to retrograde racism and the ascription of specific, often none-too-laudatory, anthropomorphic characteristics to this or that portion of humanity, as happens, for example, with the regrettable typecasting of entire cultures committed by Kant and Hegel, where whole continents are seen as representatives of this or that human attribute like »fetishism« without »an inner drive for culture« in the case of Africa, or »the dull brooding of spirit« in the case of
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Flew 47.
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Intercultural and Interdisciplinary Work: A Statement on Method
Asia, or proper rationality in the case of a self-aggrandizing view of Europe. 6 This »a few bad apples«-type thinking, this »no true Scotsman«type thinking leads not only to a bizarre insistence on some construct of cultural essence serving as the measure of authenticity in a way that is only becoming more out of pace alongside increasingly fluid notions of belonging, inclusion, and self/cultural identification amidst globalization; but this narrow thinking can also lead to the real-world dangers of pernicious tribalism and national chauvinism. Though cultural incommensurability may well cause worry for good people acting in good faith, enough rotten logic lies beneath to justify calling the question of incommensurability itself into question. Simply put, yes, intercultural philosophers and methods should indeed have to defend themselves, since critical inquiry demands no less. However, they should not find themselves initially and forever thereafter in that position of defense and haunted by the supposedly frightful specter of the culturally incommensurable, when that question is itself predicated on many less than defensible premises. This is not to say that the abstraction of particular cultures is not useful. It is and powerfully so, for it provides basic differentiae for breaking down the world into portions that can be grasped by finite human understanding. This is not to say that such talk will be absent from this work, since an affinity for thinking through cultures in the promotion of intercultural philosophy has already been claimed as a strength of this work. What is being said, however, is that it makes little sense to use standards like cultural/national essence in evaluating the rightness or wrongness of an intercultural conversation when similar abstractions end up being a matter of diminishing returns upon close scrutiny and when, in the worstcase, this language leads not just to error in dealing with particulars but also to highly questionable and potentially dangerous notions of group, tribe, and nation as exclusive. And it is not just the logic of abstraction that makes the question of incommensurability highly problematic. The philosophical question of cultural borders soon finds itself enmeshed in geopolitical discussions of tribalism, regionalism, nationalism, recognition, post-colonial legacy and the like. The anonymous Yiddish saying, which readers of German will understand with a certain sad irony, that »a 6
Kant 427–443; Hegel (1970) 57–63; Hegel (1988) 418.
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language is a dialect with an army and a navy [a shprakh iz a dialekt mit an armey un flot]« comes to mind and with it the crucial realization that there is a great deal of historical contingency that works to determine the legitimacy of cultures and the success or failure of particular languages or idioms in receiving institutional imprimaturs, such as those of the academic world. And so it is that certain nations, domains, languages, idioms, and traditions freely enter the academy and the realm of philosophy proper without any real scrutiny, while others find themselves forever groveling for admission, while there are yet others who are so faceless, backwards, and indistinct that they are not even recognized in any meaningful sense as genuine philosophical traditions—all of which makes the global state of academic philosophy not unlike the stale »dynamic« of the United Nations as concerns the permanent, veto-capable members of the Security Council (China, France, Russia, the United Kingdom, and the United States, all World War II allies). Some places of thinking enjoy the privilege of simply being legitimate without mediation or bound, be they less-tangible philosophical positions or more-tangible geo-locations curiously ossified within today’s nation-state borders. In these places of thinking there is no need to suffer from what W. E. B. Du Bois, using the terms of Hegel’s Geist philosophy to tell the story of The Souls of Black Folk, would call mediated- or double-consciousness, referring to »this sense of always looking at one’s self through the eyes of others, of measuring one’s soul by the tape of a world that looks on in amused contempt and pity.« 7 There is always »pure« philosophy, philosophy »proper,« and then there are the subordinate domains of »Japanese« philosophy, of »Chinese« philosophy, of »Indian« philosophy, of »African« philosophy as well as of the multitudes of parties not deserving of even a qualified headline (and this does not even begin to address major intersections with domains of gender and class and how a kind of institutional ghettoization often occurs in these realms as well). These others are left to do some brand of »Other« philosophy, forever being qualified, which in and of itself is pejorative. So understood, the simple imputation of such boundaries through questions of incommensurability serves to bind recognition of this or that place of thinking,
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Du Bois 3.
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Intercultural and Interdisciplinary Work: A Statement on Method
consigning the people on the wrong side of fortune to misrecognition, deferred recognition, or no recognition whatsoever. Presuppositions of cultural boundaries, the presuppositions at the root of the questions of incommensurability meant to stymie intercultural philosophers ought instead to vex the voices of orthodoxy posing such questions, for these presuppositions prove to be troublesome not only conceptually in terms of the sorites paradox and the dubious assertion of hard and fast boundaries, but they also prove to be problematic in a way that indicts institutional academia and its indefensible record of maintaining the geopolitical status quo and excluding those not belonging to academia’s decidedly ivory tower. Nobody posing the incommensurability question feels that it is racist or in any other way untoward, but instead that it is simply a question of real separation that implies nothing in particular about inequality or exclusion. But as African-Americans in the United States have proven with regard to the racist and exclusionary practices of so-called Jim Crow law after a great deal of struggle inside of courts and even more outside, »separate, but equal« is a myth that evaporates upon realization of the inherent injury and inequality caused by such non-consensual exclusion. 8 Both the sorites paradox lurking behind the assertion of cultural borders as well as the hurtful, contradictory, and hegemonic effects of such thinking go to show that the incommensurability question ought to be heavily qualified or, being so heavily qualified and watered down, dismissed entirely. What then is to be done with this vacuum? There has to be a way of recognizing real differences without giving into the pernicious logic of presuming separation. If more standard views of cultural orthodoxy are deemed invalid and irrelevant, then it seems like some type of intercultural philosophy would be called for. And there is a need for culture and generalizations of culture in order to talk about cultural archetypes, memory, rituals, etc. Questions quickly emerge though. How would it then make sense to talk of cultures having conversations if the fallacy of misplaced cultural concreteness is taken seriously? How can things be intercultural if there are no cultures as such? How is it possible to rescue basic talk of cultures more generally and avoid somehow implying that all talk about Chinese philosophy, French culture, or American literature is in some way essentialist, racist, and/or nationalist? 8
Brown v. Board of Education of Topeka.
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James Garrison
Answering such questions is no mean task. There needs to be a type of intercultural philosophy which does not lapse into pernicious abstractions of cultures, and which still retains the ability to speak of this culture or that as the case may be. There needs to be a way of talking about world philosophy as a unity while respecting philosophical worldviews as a dynamic manifold where the constituent elements are fluid, yet insistent particulars and not simply so much misplaced concreteness. Indeed, as Georg Stenger sees it, with phenomenology grappling with issues of world and pluralism in the proliferation of lifeworlds, intercultural philosophy stands on the cusp of becoming methodological and addressing these needs in a more comprehensive manner. In his view, the turn afoot in philosophy is an intercultural one and, like previous turns, it stands in need of something like Immanuel Kant’s Critique of Pure Reason and Wilhelm Dilthey’s Drafts for a Critique of Historical Reason—a paradigm change when it comes to experience and world. 9 Again, this is no mean task. This particular work, being a short-form essay, does not have such high aspirations. However, something needs to be said, even edgewise, about the emergence of any possible intercultural philosophy within this dynamic. Without taking up a phenomenological approach and delving into the matter of a Philosophy of Interculturality [Philosophie der Interkulturalität] per se, as Stenger does, some initial remarks can be made about the outgrowth of intercultural philosophy in terms of the rhizome. Perhaps the beginning of an approach to intercultural philosophy can be found by returning to Deleuze and Guattari’s observations on rhizomatic method. Sensitive to the fluid nature of language and culture, they write: There is no ideal speaker-listener, any more than [there is] a homogeneous linguistic community. Language is … »an essentially heterogeneous reality.« There is no mother tongue, only a power takeover by a dominant language in a political multiplicity. Language stabilizes itself around a parish, a bishopric, a capital. It forms a bulb. It evolves by subterranean stems and streams, along river valleys or train tracks; it moves like a patch of oil. 10
9 10
Stenger 45–46. Deleuze & Guattari (1980) 14.
86 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Intercultural and Interdisciplinary Work: A Statement on Method
This remark, though on first glance, seems useful for understanding the issues confronting intercultural philosophy, nonetheless bears some degree of qualification. While the rhizomatic approach that Deleuze and Guattari advocate is robust and well-suited to such endeavors, their own specific words when it comes to intercultural philosophy are also problematic, despite their sensitivity to the need to abandon any notion of an ideal (and putatively European) speakerlistener. In What is Philosophy?, Deleuze and Guattari entertain the question of speaking of a »Chinese, Hindu, Jewish, or Islamic ›philosophy‹.« 11 Leaving, for the moment, the question of the differing, but still overlapping, valences of these domains (ethnic/national, religious, ethnic/religious, religious respectively), an inequivalence that can perhaps be defended in terms of the rhizomatic approach, there is still the troubling claim put forth by Deleuze and Guattari that such traditions amount to proto-philosophy. With a paternalism not unlike Hegel at his most regrettable, Deleuze and Guattari maintain that, in such areas, the de-territorializing introduction of the concept, seemingly from without, is required for philosophy as such to occur, to arise out of preoccupation with physical figures like mandalas in the case of Hinduism, Sephirot in the case of Judaism, »imaginals« in the case Islam, icons in the case of Christianity, and hexagrams in the case of any possible Chinese philosophy, proto or otherwise. 12 On the face of it, this is worrisome. Without getting into the other traditions, by itself the reduction of Chinese thought to the hexagram figure is off the mark. Confucianism and Daoism, taken by many to be the dominant philosophical traditions of Chinese antiquity, have only a little to do with the hexagrams of the much, much earlier Yìjīng (易经). True, the rather common motif of dark (yīn 陰 or 阴) and light (yáng 陽) symbolized respectively by the broken and unbroken lines constituent of each hexagram like or (yáo⽘) does run through the Daoist texts, like the Dàodéjīng (道德经) attributed to Lǎo Zǐ (⽼ ⼦) and the eponymous Zhuāngzǐ (庄⼦) text, and there is the broader connection between the concepts underlying the hexagram and the philosophical notions of the body at play in Traditional Chinese Medicine (TCM) and its accompanying five-element doctrine. But rather 11 12
Deleuze & Guattari (1991) 89. Ibid. 86, 89.
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James Garrison
than the hexagrams themselves, these notions of yīn and yang, which are really just the motifs of light and dark common throughout the world, play a role that is either rather limited in many schools of Chinese thought, including in what is arguably China’s most influential body of thought and practice over the years, Confucianism. And so, asserting that the Chinese tradition, philosophical or proto-philosophical, suffers from a formative fixation either on the yīn-yáng or on hexagrams per se requires so many qualifications that it verges on meaninglessness. As it stands, the reduction of a possible Chinese philosophy to hexagrams is problematic at best. Though it is more practical in its bearing, the Yìjīng and its hexagrams stand in relation to Confucianism and Daoism in a manner similar to how Pythagorean numerology, with its exaltation of the tetractys and the so-called lambda figure, stands in relation to Platonism and the later Greek tradition to follow – as a kind of numerical, cosmic/cosmogonic background variously appropriated and rejected by later diverse schools. 13 The phrase »lambda figure« is an invention of the tradition coming after Pythagoras and Plato, but one with strong roots in the latter’s Timaeus. The main interlocutor of that dialogue, Timaeus of Locria, a Pythagorean, gives two parallel accounts of the Demiurge god’s creation of the universe, one corresponding to the generation of material bodies, and the other to the formation of »cosmic soul.« Timaeus speaks here of a God creating fire for visibility and earth for solidity and the two requiring some mediator, some emulsifier in the middle to combine these disparate elements, reasoning that these middle terms would have to relate proportionally, just as happens when one tries to relate square numbers (1, 4, 9) to solid or cube numbers (1, 8, 27) and with middle physical elements like air and water and creating a »symphony of proportion« with the extremes of fire and earth, such that the quasi-numerical analogy/proportion fire:air::air:water::water:earth emerges. While not relating to the matter presently under discussion, a comparison of these two early numerical, mathematical approaches to describing reality coming from Pythagoreanism and Platonism on one hand and the Yìjīng and related five-elements literature on the other, could prove fascinating.
13
Plato 31b–32c, 34b.
88 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Intercultural and Interdisciplinary Work: A Statement on Method
1 2 4
3 9
8
27
Tetractys and Lambda Figure
Returning to the matter at hand, it is clear that the kind of iconography linked to non-philosophy by Deleuze and Guattari lurks behind what is supposed to be the rational fundament of Plato’s Pythagorean mathematical roots. It is furthermore clear that defining the character of Chinese thought by way of the hexagram indulges in a kind of abstraction and concretization that freezes Chinese thought in time circa 900 BCE, if not significantly earlier when the hexagram notion may have first gained traction. Likewise, it is plain that were Greek thought so apprehended, were the locus of its abstraction not in the Athens of Socrates’ time, it too might not have the good and entirely historically contingent fortune of becoming this vaunted thing called »philosophy.« Fortunately though, something like this is indeed Deleuze and Guattari’s overall point, even if they are somewhat inelegant in presenting the cases of China, Hinduism, Judaism, and Islam. In their understanding of »geo-philosophy,« there is absolutely nothing inevitable whatsoever about the idea of philosophy, such that what is known as philosophy, with all of its Greek roots, is likewise a contrived abstraction covering up the similarly de-territorialized growth of the tradition from multiple points. Pointing toward the Egyptian influence on the early Greek tradition, Deleuze and Guattari write: That which we deny is that philosophy presents an internal necessity, whether in itself, whether with the Greeks (and the idea of a Greek miracle would be nothing other than an aspect of its pseudo-necessity). However philosophy was a Greek thing, as well as something brought by immigrants. For philosophy to be born, it required an encounter between the Greek milieu and the immanence of thought. 14 14
Deleuze & Guattari (1991) 89.
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This mitigation of the characterizations that Deleuze and Guattari make of Chinese, Hindu, Jewish, and Islamic bodies of thought continues in their appraisal of Kant, Heidegger, and cultural hegemony in philosophy. Without using the words »intercultural philosophy« per se, they assert that philosophy, if it is ever to expand, must grow into and with non-philosophy, such that philosophy must proceed by way such de-territorialization, since the other option of philosophy forever encountering itself, a position that they attribute to navel-gazing Europeanization, is static in nature. 15 This is simply a basic point of becoming – a thing, here philosophy, if it becomes, becomes what it is not; the matter of change, be it one of appropriation, annihilation, or amelioration, is another matter though. In any case, the basic point is that for philosophy to grow and become it must reach out into what is deemed non-philosophy. This leads them to the conclusion that: For the race summoned forth by art or philosophy is not the one that pretends to be pure, but rather an oppressed, bastard, lower, anarchical, nomadic, and irredeemably minor race – exactly the ones that Kant excluded from the course of the new Critique. 16
However, in the phrasing of this idea, Deleuze and Guattari again threaten to undermine a valuable point. Here they speak of philosophy encountering non-philosophy, putting Indian thought in the position of non-philosophy and promoting a dangerous idea of alterity in the process. They hold: The thinker is not acephalic, aphasic, or analphabetic, but becomes so. He becomes Indian, and never ends in becoming so – perhaps »so that« the Indian who himself is Indian becomes something other than himself and tears himself away from his own agony. We become animal so that the animal also becomes something else. 17
Now perhaps the linking of a thinker becoming Indian to becoming animal should be read as a kind of parallelism hinging on the basic idea of something becoming what it is not and perhaps this view can be read as falling on the »is« side of an is/ought description of the state of global philosophy and not as being reflective of any intention to actually link Indian people to animals. However, even if the rhetorical bombast is excused or explained away, there still remains the 15 16 17
Ibid. 104–105. Ibid. 104–105. Ibid. 105.
90 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Intercultural and Interdisciplinary Work: A Statement on Method
very real way in which the position of Deleuze and Guattari further commits to the error initially made in their version of the question regarding the possibility of »Chinese, Hindu, Jewish, or Islamic ›philosophy‹.« 18 – namely, it concedes the terms of the debate at the outset; it concedes that such things need to be talked about in terms of a possibility whose existence requires defense (thereby leading to a qualified and only partially mitigating definition of proto-philosophy). And so it is that the rhizomatic model of Deleuze and Guattari, while useful in some respects, nevertheless runs into problems as its many extended offshoots prove unwieldy. Fortunately, a positive trait of a rhizome, and one identified by Deleuze and Guattari, is the capacity for the more ungainly offshoots to be pruned and cut and for the main bulb to be transplanted for the purpose of growth in a new medium. 19 Therefore, when it comes to the particular question of intercultural philosophy, it makes sense to transplant the rhizome into a medium better capable of addressing pluralism in philosophical discourse. Taking what has been said into consideration, this calls not for a monologue or even for a dialogue, but instead for something more well suited to rhizomatic growth, a polylogue. This idea of a polylog (following the German nomenclature) is the product of Franz Martin Wimmer. As might be anticipated, Wimmer joins Deleuze, Guattari, and Ames in calling for what he terms a »non-centrist view on humanity’s histories of thought.« 20 In his view, taking the name intercultural philosophy seriously as something of a regulative ideal for the enterprise requires taking up the presumption that particular philosophies, thoughts, concepts, lines of reasoning have developed culturally in the course of history in such a way that makes intercultural encounters natural and inevitable. 21 As such, there are likely to be philosophical resources for a given topic, which, while not relatively close, can still be closely relevant. Accordingly, Wimmer exhorts philosophers to »[s]earch wherever possible for transcultural overlaps of philosophical concepts, for it is likely that well-grounded theses were developed in more than one cultural tra-
18 19 20 21
Ibid. 89. Deleuze & Guattari (1980) 15. Wimmer (2004) 67. Wimmer (1998) 10.
91 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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dition.« 22 With the presupposition being that multiple, diverse, culture-laden philosophical positions should emerge in the course of philosophy broadly speaking, this means aiming not at A talking to B or even at A talking with B (and B with A). Instead, the aim is a richer exploration of what should presumably be a manifold of views from different cultural traditions occurring without mediation, but perhaps with varying levels of directional intensity in the mutual engagement, as indicated in the figures below. 23 A
B
A
B
A
B
C
D
C
D
C
D
Variations on Wimmer’s Polylog Model
Wimmer lays out what he terms the central question for philosophy, namely finding »the values and images of humanity that regionally delineated cultures have produced that are fruitful for present and foreseeable human problems.« 24 Speaking interculturally, this task calls for reflection on philosophy’s own possibilities and upon the process of globalization. Accomplishing this means taking cultural and philosophical pluralism seriously – the question as to how this is to be done remains. There is a need, recognized by Wimmer, to get past constraining and ultimately counter-productive modes of cultural engagement, which he breaks down into three groups. First there are monologues that are often marked by single parties displaying a one-way, culturally imperial interest in changing or overcoming the barbarisms of unfamiliar philosophies. Secondly there are transitive discourses where traditions only connect through some intermediary (e. g. presuming Nietzsche cannot be in dialogue with Confucius, given the largely opposing views that each holds when it comes to society, harmony, family reverence, and the like, unless such a connection were 22 23 24
Wimmer (2004) 67 [emphasis preserved from the original text]. Ibid. 72. Wimmer (1998) 9.
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Intercultural and Interdisciplinary Work: A Statement on Method
to occur through Daoism on the basis of the latter’s connections to both Nietzsche’s thought and to Confucianism). And finally there is the third species, namely dialogues that only allow certain parties the privilege of being exotic and worthy of the dubious recognition of being nonetheless capable of two-way philosophical dialogue (while still consigning problematically exotic others to the realm of the barbaric where interest is often expressed in terms of the one-way imperialism mentioned earlier). 25 But just because there is a desire to avoid the ills of cultural imperialism does not mean that there should be a complete abandonment of the idea of cultures being in some way distant and/or different. It is possible to split the difference between the logic of cultural realism which holds that there is an essence to a given tradition which might then ground imperialist claims regarding the sufficiency or insufficiency of that tradition with respect to proper philosophy and that of cultural relativism which asserts that, there being no such thing as cultural essence, it is impossible to make claims and ascriptions about cultures at all or to say something about them being distant or different without lapsing into objectionable forms of centrist universalism (i. e. cultural imperialism). When it comes to finding such a middle path, Wimmer’s words here are instructive. As a matter of definition he holds that »[f]or every tradition every other one is ›exotic‹ : Therein lies the consequent form of polylog and of an intercultural philosophy.« 26 Were other cultures not in some matter exotic, were other cultures not in some way really distant or different, there would be no conversation at all, polylog or otherwise, for a conversation at zero distance is tantamount mumbling to oneself. Something must be conceded to the cultural realist here, just not the conclusions of cultural imperialism. Again Wimmer’s words are helpful as he trenchantly observes that, while some manner of cultural realism vis-à-vis exoticism is needed, the fixation on cultures in intercultural philosophy goes down the wrong path. He rightly draws attention to the fact that »[it is] not cultures encountering each other in conversation, but rather people, who are culturally molded in diverse ways. Intercultural philosophy will have the task of qualitatively expanding this conversation and of basing itself not only the mainstream majorities and their 25 26
Wimmer (2004) 68–69. Ibid. 70.
93 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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representatives.« 27 So considered, the abstraction and reification of cultures, so crucial to questions of cultural incommensurability, should diminish in importance. With it being people, real particular philosophers, talking to each other in polylogs as well as in monologues, dialogues, or transitive conversations, the question of incommensurability should not turn on whether or not cultural monoliths abstracted into forms of apparent yet errant concreteness can abide each other, but whether the conversation turns out to be any good. It should not be the case that incommensurability (or commensurability) be presumed as part of an initial a priori observation about cultures made from some kind of quasi-objective vacuum, but rather that it should be something proven or disproven in the real-world results of conversations engaged in by real-world, culturally-informed people. The view here is that things can still in fact be intercultural, not because of cultures as such, as concrete things; rather the crucial factor is what is inter, the people and issues in between, with secondary priority being given to specific cultures abstracted for the sake of convenient understanding and nothing more. The question should not be whether Tradition X or Culture X is good enough for philosophy, i. e. good enough for philosophy in Tradition Y, even if a large number of people in Tradition Y evince a near-pathological blindness of their own whiteness, or rather Y-ness, and treat their brand of philosophy as philosophy as such, as philosophy qua philosophy. The question should instead be whether the issues generated in the conversation between people from those traditions are philosophically rich. This in effect turns the question of incommensurability from one of concrete cultural entities and the quantitative judgment of formal difference along the lines of the sorites paradox to one more sensitive to the fluidity of people within cultures and the qualitative appraisal of philosophical content in terms of both similarity (overlap) and difference (inevitable exoticism). This approach indirectly responds to the heap problem mentioned earlier concerning the definition of a boundary for when a culture becomes a culture separate from other cultures by diminishing the importance of boundaries per se. However, more is necessary for a fuller answer as to how to talk about cultures in a way that supports a rhizomatic, polylog-type approach to intercultural philo27
Ibid. 73.
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Intercultural and Interdisciplinary Work: A Statement on Method
sophy generally. Fortunately, leading contemporary comparative philosopher and interpreter of the Chinese philosophical canon Roger T. Ames speaks to these issues directly. Ames’ work is useful here because his view supplements Wimmer’s finding that respecting both the dynamic and static nature of cultures means looking for a third way apart from both simple cultural relativism and cultural realism. 28 In criticizing a type of »naïve realism,« Ames points to Hilary Putnam and his view that »[l]ike Relativism, but in a different way, Realism is an impossible attempt to view the world from Nowhere.« 29 There is a false posture of objectivity that comes from attempting to view the world from nowhere, be it realism or relativist, and it ill fits a rhizomatic and genuinely intercultural approach. What are the other options then? Instead of rejecting realism and succumbing to the kind of simple relativism that would deny the possibility of talking about cultures or philosophies in general terms, there is still yet a middle path. Ames advocates self-consciousness in interpretation that neither shies away from generalization nor questionably presumes objectivity. Indeed a certain kind of self-consciousness in interpretation is needed in order to mitigate (but perhaps never quite finally eliminate) the dangers of transacting with cultural abstractions as though they are real quasiPlatonic essences. Self-consciousness in interpretation means admitting that abstractions and generalizations are like helpful prosthetics for understanding reality and that they are not to be understood as corresponding to anything in reality. However, self-consciousness does not need to manifest as any kind of self-restriction that would bar one from generalizing in any way whatsoever—a point well made by Ames. He maintains that: [T]he only thing more dangerous than striving to make responsible cultural generalizations is failing to make them. Generalizations do not have to preclude appreciating the richness and complexity of always evolving cultural traditions; in fact, it is generalizations that locate and inform specific cultural details and provide otherwise sketchy historical developments with the thickness of their content. 30
28 29 30
Ibid. 66. Ames 21; Putnam 28. Ames 23.
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Indeed what Ames specifically advocates is an understanding of interpretation as »literally, a ›go-between negotiation‹« that »emerges analogically through establishing and aggregating a pattern of truly productive correlations between what we know and what we would know« and where success is measured by »accumulat[ing] and optimiz[ing] these meaningful correlations effectively in our own life situations.« 31 So understood, what is important is neither the character of Chinese philosophy in a generalized sense nor the distance or difference from some generalized view from nowhere, but instead the ability of Chinese philosophy to speak to wherever one finds oneself, in whatever physical location or philosophical position. If Chinese philosophy, however abstracted, can be helpful, then so be it, so long as one is conscious of the abstraction and construction of this entity then subsequently called »Chinese philosophy.« On this point, Ames asserts, »Self-consciousness in interpretation is not to distort the Chinese philosophical tradition and its cosmology, but to endorse its fundamental premises. Just as each generation selects and carries over earlier thinkers to reshape them in their own image, each generation reconfigures the classical canons of world philosophy to its own needs. We too are inescapably people of a time and place.« 32 Rather than getting hung up on what well may be impossible if not undesirable notions of cultural purity, of purity-giving boundaries, and of pure idioms of philosophy, the call here is instead for honest, self-conscious awareness of impurity. These quasi-sorites paradoxes of incommensurability that are supposed to upset intercultural philosophy all in some way turn on the idea that there is some Point x at which »this« culture is too far from »that« culture or at which a collection of events, discourses, histories, etc. becomes large enough to coalesce into a culture proper. Simply put, such talk is only possible if one confuses absolute magnitudes of distance and extent with relative notions of farness and largeness (or closeness and smallness respectively). Questions of cultural incommensurability confound the ability to perceive and in some way measure the former with the ability to make judgments on the basis of the latter. Nothing about a magnitude of distance, time, or extent discloses that the quantity is in and of itself (too) large or (too) small; for that, the informa31 32
Ibid. 37. Ibid. 22.
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Intercultural and Interdisciplinary Work: A Statement on Method
tion of a superordinate context is needed. Nothing about Africa, China, India, or any other place, from either the physical or temporal distance from today’s mainstream English-speaking academic world to the size of the philosophical tradition from those places, determines it being too far, too minor, or too irrelevant for philosophical discussion. Quasi-sorites confusions of cultural incommensurability go away upon rejection of the idea of there being, apart from what is contrived after the fact for convenience in thinking, some pre-given Point Zero and/or some absolute outer bounds that might supply context and begin to give that Point x genuine meaning. With this in mind it is possible to recognize that convergence, the kind of convergence of thought pointed to throughout this work, implies a still-remaining distance and moreover that this is okay. In language that speaks directly to my more specific work and its concern with ritual propriety lǐ as a social tool for subject life, Ames spells out what is reasonable to expect from such a convergence. He says, »You cannot say ›li (禮)‹ in English, or in German either, although you can say lots about it in both languages.« 33 The intention in my broader work is to bring together voices like Butler to say something about lǐ in English, voices like Hegel and Nietzsche to say something about it in German, as well as voices like Foucault and Stiegler to say something about it in French in the hopes that this will add to what can be said in Chinese by the classical Confucian thinkers and by new figures like Lǐ Zéhòu on the general topic of the productive/restrictive character of society in the formation of the self – but this is a topic for another forum. In any case, tied to the need for self-consciousness in interpreting and negotiating such idioms, the key criterion for judging this kind of conversation is whether or not both nearness and remoteness, cohesion and particularity, are properly in proportion for the kind of rhizomatic growth hinted at earlier. As Deleuze, Guattari, Wimmer, and Ames variously and diversely show, what really matters in the growth of philosophy are results. Does fostering an intercultural conversation in a way that both attends to convergent growth and respectfully preserves the very real differences do anything to grow and generate genuine philosophical content? This is the measure, incommensurability aside.
33
Ibid. 35.
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James Garrison
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Teil II. Zum Anspruch inter»kultureller« Philosophie
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Britta Saal
Der Ort des interkulturellen Denkens als Raum in Bewegung
»Was bedeutet Örtlichkeit als gelebte Erfahrung innerhalb einer globalisierten, enträumlichten Welt?« 1, fragt Arjun Appadurai, und es ist diese Frage, die den Ausgangspunkt der folgenden Reflexionen in Bezug auf den Ort interkulturellen Philosophierens bildet. In den Kultur- und Sozialwissenschaften ist ›Raum‹ infolge des spatial turn bzw. der topologischen Wende zu einer einflussreichen Analysekategorie geworden. Raum wird hierbei nicht mehr statisch und auch nicht mehr nur territorial aufgefasst, sondern als eine soziale Konstruktion und als solche beweglich, flexibel und prozessual. Raum ist auf diese Weise zu einer »Metapher für kulturelle Dynamik« geworden. 2 Ein weiteres Kennzeichen des Raums ist neben dieser Dynamik die Ausdehnung bzw. Entfaltung. Nach Michel de Certeau ist der Raum »ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten.« 3 Im Unterschied dazu ist ein Ort laut Certeau »eine momentane Konstellation von festen Punkten« 4. Wodurch zeichnet sich nun der Raum des Inter aus? Gemeinhin versteht man darunter einen Zwischenraum, wobei die Vorstellung von zwei oder mehreren abgegrenzten Orten impliziert wird, zwischen denen sich dieser Raum befindet. Wird in diesem Sinne bei der Rede von einem Inter der Fokus auf die Orte gelegt, scheint der Zwischenraum etwas anderes zu sein als der Raum. Legt man jedoch die Ausführungen Certeaus zu Grunde, so dürfte letztlich, wenn es sich beim Raum um ein Geflecht handelt, in dem sich momentane Konstellationen bilden, keinerlei Unterschied zwischen Raum, Umraum und Zwischenraum bestehen. Entsprechend möchte ich hier da1 2 3 4
Appadurai, Globale ethnische Räume, 19. Bachmann-Medick, Cultural Turns, 297. Certeau, Die Kunst des Handelns, 219. Ebd., 217.
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Britta Saal
für plädieren, den Zwischenraum als den Raum selbst aufzufassen und bei der Rede von einem Inter den Fokus auf dieses selbst zu legen. Dies ist beispielsweise der Fall bei den Denkansätzen von Homi Bhabha und Edward Soja, die sich mit dem ›Dritten Raum‹ auseinandersetzen. Räumlichkeit, so Soja, kann nicht länger als nur geographisch im Sinne konkreter, kartierbarer Ausformungen (Firstspace) oder sozial-kulturell als vorgestellte Repräsentationen (Secondspace) reflektiert werden, sondern muss darüber hinaus als gelebter Raum (im Sinne Henri Lefebvres) erfasst werden (Thirdspace). Der Thirdspace ist folglich ein Raum, der durch außergewöhnliche Offenheit und kritischen Austausch geprägt ist und in dem die Gleichzeitigkeit und Verwobenheit geographischer, historischer und sozialer Aspekte ins Bewusstsein rückt. 5 Ganz ähnlich, jedoch mit einer etwas anderen Ausrichtung, versteht Bhabha den Dritten Raum vor allem als einen Äußerungs- und Verhandlungsraum, in dem Bedeutungen konstruiert und produziert werden. 6 Unter Rückgriff auf Certeau kann man hier davon sprechen, dass im Dritten Raum – im Sinne eines Inter-Raums – Konstellationen – im Sinne von Orten – erst durch Äußerungen geschaffen werden. Orte sind somit kommunikative und kulturelle Verdichtungen in einem sich grundsätzlich durch Bewegungs- und Verflechtungsbeziehungen auszeichnenden Raum bzw. Inter-Raum.
Das Inter als dynamischer Raum der Begegnung, des Austauschs, der Verhandlung und der Kritik Den obigen Ausführungen folgend, steht bei der hier erörterten Frage nach dem Ort interkulturellen Philosophierens nicht so sehr die Dimension des Interkulturellen, also die geographischen kulturellen Orte, im Vordergrund, sondern vielmehr die Dimension des Interkulturellen, das heißt der Inter-Raum der Begegnung, der Äußerung, des Austauschs und des Verhandelns. Da es hierbei vor allem darum geht, »die eigene Perspektive in und aus der Relation zu sehen«, 7 kann Philosophieren in diesem Äußerungs- und Verhandlungsraum des Inter nur als Polylog geschehen. Hinzu kommt, dass für jede relatio5 6 7
Soja, Thirdspace – Journeys, 5–6. Siehe auch Soja, Thirdspace – Erweiterung, 270. Bhabha, Verortung, 56–58. Fornet-Betancourt, Lateinamerikanische Philosophie, 165.
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Der Ort des interkulturellen Denkens als Raum in Bewegung
nale Verhandlung eine reflexiv-kritische Haltung unabdingbar ist, um homogenisierende und kulturalistische Ansätze hinterfragen zu können. Interkulturalität gilt es also doppelt zu bestimmen als 1.) Begegnung, Austausch und Verhandlung und 2.) als Kritik. Insofern schließlich der Polylog im Raum stattfindet – eine Statt findet –, bildet sich eine momentane Konstellation – ein Ort – im Sinne Certeaus heraus. Das heißt, dort, der Ort, wo interkulturelles Denken als kritischer Polylog stattfindet, eröffnet sich ein Begegnungs- und Verhandlungsraum. Zur genaueren Bestimmung meines Verständnisses des InterRaums möchte ich im Folgenden zunächst Peter Sloterdijks »ZurWelt-Kommen« etwas genauer betrachten, das er im Unterschied zum »In-der-Welt-Sein« formuliert. Der Begriff des Zur-Welt-Kommens, den Sloterdijk in seinen Frankfurter Vorlesungen von 1988 8 und im Eurotaoismus von 1989 9 entwickelt hat, scheint mir eine geeignete Metapher für den Inter-Raum als Ort der Begegnung, der Verhandlung und der Kritik zu sein. Aus einer interkulturellen Perspektive stellt das Zur-Welt-Kommen einen nicht-statischen Ort oder genauer, einen nicht-linearen kreativen Prozess dar: Als selbst erst Werdende/r im Dialog mit den anderen die Welt zur Welt bilden. Unter Rückgriff auf die postkolonialen Reflexionen Stuart Halls möchte ich des Weiteren den Inter-Raum des Zur-Welt-Kommens als Raum temporärer und relationaler Positionierung auffassen. Laut Hall sind Positionierungen temporäre »Einschnitte von Identität« in die Derrida’sche différance und als solche ›Orte‹ unerlässlich, um selbstbewusst handeln und Widerstand leisten zu können. 10 Mit Halls temporär-relationaler Positionierung und Sloterdijks Zur-Welt-Kommen werden die politisch-handlungsmächtige, die existentielle und die ästhetisch-literarische Dimension des Inter-Raums erfasst, die meines Erachtens alle drei gleichermaßen von Bedeutung sind.
Inter-Kulturalität als Zur-Welt-Kommen Es mag vielleicht ungewöhnlich erscheinen, sich im Rahmen interkultureller Reflexionen auf Peter Sloterdijk zu beziehen, doch ist es Sloterdijk, Zur Welt kommen. Sloterdijk, Eurotaoismus, 13. Zum Zur-Welt-Kommen siehe hier v. a., 174 ff. 10 Hall, Rassismus und kulturelle Identität, 34 bzw. 75–77. 8 9
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keineswegs abwegig. Deutlich äußert er (2006) Kritik an einem hochmütigen westlichen Eurozentrismus: »Es ist eine bedauerliche Tatsache, daß die große Mehrheit der deutschen Intellektuellen, zumal der Philosophieprofessoren, an außereuropäischen Kulturen absolut nicht interessiert ist und mit Wut und Hochmut reagiert, wenn man sie daran erinnert, daß es ein so komplexes Universum wie das des indischen Denkens und Meditierens gibt, das dem alteuropäischen in vielen Hinsichten ebenbürtig, in manchen vielleicht überlegen war und mit dem man sich wohl auseinandersetzen sollte, wenn man sein Metier ernst nimmt. Sie meinen, ihre eigenen Versuche, die abendländische Metaphysik zu überwinden, bedeuten automatisch einen Freibrief, die großen Systeme anderer Kulturen ignorieren zu dürfen. Sie möchten nichts davon hören, daß eigensinnige indische Wege in die Moderne existieren, sogar ein indischer Typus von romantischer Ironie, ein indischer Ökumenismus, ein indischer Dekonstruktivismus. Sie wollen nur in Ruhe ihre häuslichen Diskurspartien spielen und die Grenzen dicht halten. Alles, nur keine Ost-Erweiterung der Vernunft!« 11
Weniger explizit als implizit verläuft der Denkweg in Sloterdijks frühen Werken über Asien. In den Frankfurter Vorlesungen und im Eurotaoismus erfolgen – wohl dosiert aber gut gewürzt – gelegentliche Anklänge an und Bezugnahmen auf süd- und ostasiatisches Denken. Wie Sloterdijk selbst sagt, ist der Einfluss seiner Indienreise, während der er die Erfahrung einer »Umstimmung« erlebte, wesentlich für sein Werk. Diese Umstimmung beschreibt er als einen Stimmungsumschwung von der Depression der Frankfurter Schule zu dem »helleren Himmel« Indiens: 12 »In Indien ist ein neues Kapitel aufgeschlagen worden, ich habe eine radikale Umstimmung erlebt, ich habe Impulse aufgenommen, von denen ich bis auf den heutigen Tag lebe, besser gesagt: von den Metamorphosen dieser Impulse, denn die Anregungen von damals sind längst wieder anonym geworden, sie haben sich ein paarmal gedreht und sich in eine eigensinnige Richtung entwickelt.« 13
Es sind vor allem zwei Themenbereiche im Zusammenhang mit dem Zur-Welt-Kommen, in denen die Umstimmung und Aufhellung der Indienerfahrung Wirkung zeigt. Zum einen erarbeitet Sloterdijk eine Revolutionstheorie, in der er die These, der Mensch sei wesentlich 11 12 13
Sloterdijk/Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 13–14. Sloterdijk, Unter einem helleren Himmel. Sloterdijk/Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 16–17.
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politisch, ablehnt. 14 Vielmehr müsse für eine wirkliche, fundamentale Umwälzung ein rein materialistischer Revolutionsbegriff überwunden und vor allem die psychisch-existenzielle und die ästhetisch-spirituelle Dimension berücksichtigt werden. 15 Sloterdijks Revolutionstheorie besteht demzufolge aus drei Radikalen: 1.) dem bürgerlichen Rechtsstaat mit seinem Gleichheitspathos als Basis, 2.) der individuellen Geburtserfahrung und 3) dem philosophischen bzw. spirituellen »Seelenumschwung«. 16 Zum anderen setzt sich Sloterdijk verstärkt mit der Negativität auseinander. Hierbei begibt er sich auf die Suche nach einer abendländischen Traditionslinie des Nichts, die weder Jenseits und Transzendenz noch Weltverneinung und Nihilismus bedeutet. Sein Ziel ist nichts geringeres als eine neue Dimension der Kritischen Theorie zu eröffnen, die dann erreicht werden kann, sobald »die Überlieferungen des westlichen Negativismus selbstbewusst genug geworden sind«, um den (alt)asiatischen Lehren gegenüberzutreten. 17 Der Begriff des Zur-Welt-Kommens ist also von Grund auf von interkulturellen Klängen umgeben. Besonders deutlich wird dies, wenn Sloterdijk in den Frankfurter Vorlesungen zur besseren Veranschaulichung seiner auf Geburtserinnerung und Nichtwissen basierenden »Poetik des Anfangens« die Zuhörer nach Frankfurt am Ganges entführt und unter vorgestelltem freiem Himmel und Mangobäumen sitzend die Geschichte von den Göttervögeln erzählt. 18 Für Sloterdijk ist diese Geschichte Sinnbild für einen vergessenen Anfang, der noch vor unserem Anfang liegt. Diesen möchte er zwar nicht rekonstruieren – was ein unmögliches Unterfangen wäre –, sondern es soll damit das den Menschen zugrunde liegende Potential des freien kritischen Geistes in Erinnerung gerufen werden. Das »Nichtwissen« wird dabei verstanden als das genaue Gegenteil von Meinungen, Ideen und festen Vorstellungen. Mit den Worten Sloterdijks herrscht hier die »Freiheit des Geistes […] im Paradies der Meinungslosigkeit«. 19 Nur wenn sich keinerlei positivistische Überzeugungen eingenistet haben, kann die Seele zur Welt kommen.
14 15 16 17 18 19
Sloterdijk, Selbstversuch, 59. Sloterdijk, Unter einem helleren Himmel. Sloterdijk, Selbstversuch, 60–63. Sloterdijk, Zur Welt kommen, 97. Ebd., 99 ff. Ebd., 82 bzw. 85–86.
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Die unsterblichen Göttervögel – so die Geschichte – fliegen weit über den höchsten Berggipfeln der Erde. Sie sind weder an die Schwerkraft gebunden noch brauchen sie Nahrung oder – außer die freien Höhen und Weiten – sonst etwas. Sie sind völlig selbstgenügsam. Es gibt allerdings eine Gefahr, der die kleinen Göttervögel ganz zu Anfang ihres Lebens ausgesetzt sind und die ihr weiteres Leben bestimmt. Göttervögel legen ihre Eier in der Luft. Fliegt der Muttervogel hoch genug, kann das Ei während des Falls von der Sonne vor dem Aufprall auf der Erde ausgebrütet werden, und der geschlüpfte junge Göttervogel kann sein Leben in den Lüften beginnen; im anderen Fall fällt das Ei auf den Boden. Das bis dahin ausgebrütete und durch die zerbrochene Eierschale zwangsweise nach draußen katapultierte Junge ist jedoch nicht tot. Es versucht zunächst noch einmal – aus einer vagen Erinnerung heraus – zu fliegen, scheitert jedoch an der Schwerkraft und beginnt stattdessen, gehen zu lernen. Die so erwachsenen Erdvögel erachten den aufrechten Gang als eine besonders wichtige Errungenschaft, haben aber dennoch – meist verborgen – das Gefühl, dass etwas nicht ganz in Ordnung ist, dass sie weit mehr Möglichkeiten und Fähigkeiten – wie z. B. die zu fliegen – haben müssten. Die Seelen der Menschen – der Erdvögel – sind, so könnte man Sloterdijks Geschichte deuten, im Grunde solche von Göttervögeln. Sie sind eigentlich frei. Im Laufe ihres Fortschreitens vergessen die Erdvögel allerdings diesen Voranfang und sind fortwährend damit beschäftigt, ihren aufrechten Gang zu kultivieren; ihr aufrechter Gang wird so zum Sinnbild für Kultur und Identität. Die Geschichte noch weiter und interkulturell ausgelegt, bilden sich, da überall auf der Erde unausgebrütete Eier von Göttervögeln zu Boden fallen, sehr verschiedene Arten von aufrechten Gangweisen – Kulturen – heraus; auch die Geschichten und Legenden über die vagen Erinnerungen an höhere Fähigkeiten unterscheiden sich – teilweise sogar sehr. Begreift man sich wesentlich als Teil jener Welt, in die man hineingeboren wurde, entspricht dies einem kulturalistischen In-der-WeltSein. Im Unterschied dazu beruft sich das Zur-Welt-Kommen auf den Vorzustand bzw. den Prozess, der diesem Zustand vorangeht und den alle gleichermaßen durchlebt haben. Hier gibt es (noch) keine Grenzen und auch (noch) keine Notwendigkeit der Abgrenzungen. Kein Gang, keine Haltung muss kultiviert, gerechtfertigt oder behauptet werden, alle fliegen vielmehr gleichermaßen in den höchsten Höhen. Es herrscht Freiheit. Indem man sich an diese ge106 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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meinsame, geteilte Freiheit erinnert, erscheint es möglich, aus der festen Konstellation eines kulturellen Ortes heraus- und in den Inter-Raum hineinzutreten und diesen vor dem Hintergrund der verbindenden Freiheit neu zu kreieren. Durch die Geburt erfolgt, laut Sloterdijk, die Anhaftung des Menschen zunächst an das Offene. Jedoch wird man immer in eine Sprachgemeinschaft hineingeboren, und Sprache ist immer Sprache einer politischen Geburtsgemeinschaft. Solche Sprachgemeinschaften – oder Nationen – fungieren im weiteren Verlauf als »Systeme zur Enteignung der Geborenen von der Offenheit ihrer Geburtlichkeit«. 20 Es erfolgt eine »Tätowierung […] mit den Mustern der Nationalsprache« 21 und somit die Anhaftung an die Welt als Inbegriff der Inhalte und Versprechungen. Neben den Formulierungen kultureller und national-kultureller Identität nennt Sloterdijk als Beispiele für die sprachliche »Weitergabegewalt« – das heißt die positivistische Bestimmung fester Vorstellungen 22 –, die Äußerung von Zerstörungsparolen gegenüber anderen Völkern oder Glaubensgruppen sowie die Institutionalisierung und damit Korrumpierung von Freiheits- und Befreiungsparolen. 23 Aus einer solchen »positivierten Welt als dem Schauplatz des Krieges zwischen Identitäten« möchte sich Sloterdijk zurückziehen, 24 indem er ein Begriffsvokabular der Negativität – wie beispielsweise »Nichtwissen« und »Weltvorbehalt« – entwickelt. Nichtwissen ist dabei nicht als Weltverneinung zu verstehen, sondern als »autonome Affirmation« einer Position, die die Welt als offen, ungedeutet, frei von Vorstellungen und Ideen und in diesem Sinne gewaltfrei auffasst. 25 Weltvorbehalt ist dementsprechend ein weises und kritisches Prinzip, das nicht transzendental und jenseitsorientiert, sondern »biopositiv« orientiert ist und das wahre Leben liebt. 26 Da der Sprache hier eine bedeutende Funktion zukommt, wählt Sloterdijk den Ausdruck »Freispruch«, um das der Sprache ebenso innewohnende befreiende Potential gegenüber der Weitergabegewalt zu kennzeichnen. Neben dem Zur-Welt-Kommen geht es also auch um das Zur-Sprache-Kommen. 20 21 22 23 24 25 26
Ebd., 155. Ebd., 157. Ebd., 154–156. Ebd., 159–160 bzw. 170. Ebd., 94. Ebd., 90–93. Ebd., 94.
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Damit die Sprache als Freispruch ihr befreiendes und kritisches Potential entfalten und sich so der Weitergabegewalt entziehen kann, erscheint eine weitere Geburt als notwendig: die Entbindung 27 aus der Sprachgemeinschaft. 28 Sloterdijk spricht hier von einer erforderlichen Wende von der Internationalität zur Internatalität. Internatalität bedeutet dabei das »Mitwissen über das Zurweltkommen des anderen unter dessen eigenen Bedingungen«, wobei der Mehrsprachigkeit eine große Bedeutung zukommt. 29 Bei all dem geht es darum, »den Nachteil, geboren zu sein, in den Vorteil zu verwandeln, durch freie Sprache zur Welt zu kommen«; die Sprache ist somit die »eigentlich weltgebende Instanz«. 30 Aus dem Apriori der Geburtlichkeit kann sich schließlich eine kritische Theorie herausbilden, in der es möglich ist, »[d]urch die positiven Weltsprachen hindurch […] [den] Atem wiederzuentdecken, der vor jeder Nationalität unserer Natalität, unserer Geburtlichkeit gehört«. 31 Der vorgeburtliche Zustand des Nichtwissens – das heißt der Zustand vor den gefestigten Meinungen, die stets kulturell geprägt sind –, die Geburtlichkeit – das heißt die Erfahrung der Geburt als Befreiung und Anhaftung gleichermaßen – und das Zur-Welt-Kommen zeichnen uns alle aus. Im Moment des Zur-Welt-Kommens treffen die beiden Sphären des Menschseins – die freie wie auch die irdische und kulturell gebundene – aufeinander, wodurch die interkulturellen Zwischenräume sich im Raum eröffnen: Die Geborenen nehmen ihre Verflochtenheit und Freiheit gleichermaßen wahr. Auf dieser Basis der gemeinsamen Dimension der Natalität ist es Sloterdijk sieht in der Ent-Bindung aus der Gemeinschaft mit der Mutter und dem Heraustreten aus der Enge des Mutterleibs den Prototyp aller Erfahrungen der Befreiung. Allerdings wird das Kind dadurch auch beschwert (d. h. es macht die Erfahrung der Schwerkraft) und der Welt angehaftet (vgl. Sloterdijk, Zur Welt kommen, 110). 28 Man fühlt sich hier auch an Enrique Dussels Bemerkung erinnert, der interkulturelle Dialog dürfe nicht von den Apologeten der ›eigenen‹ Kultur, sondern müsse vielmehr von deren Kritikern geführt werden (vgl. Dussel, Transmodernität und Interkulturalität, 149). 29 Sloterdijk, Zur Welt kommen, 160. 30 Ebd., 112. 31 Ebd., 174. An dieser Stelle möchte ich kurz darauf verweisen, dass die Thematik der Geburtlichkeit bzw. Natalität eine wesentliche Dimension im Denken Hannah Arendts darstellt (vgl. z. B. Arendt, Vita activa, 17–18), worauf Sloterdijk, zumindest hier, mit keinem Wort Bezug nimmt. Arendt selbst hat die Begriffe allerdings nie systematisch reflektiert. 27
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schließlich möglich, mittels einer freien und kritischen Sprache, die über die je eigene kulturell gebundene Sprache hinausgeht, ein neues Offenes sprachlich zu gestalten; Zuhören und Interaktivität sind hierbei ebenfalls wesentliche Bestandteile. In diesem Sinne plädiere ich für ein Verständnis von Interkulturalität, in dem zwar die Sprachbzw. Kulturgemeinschaften den Ausgangspunkt bilden, der InterRaum jedoch als offener und geteilter Begegnungs- und Verhandlungsraum gemeinsam gestaltet wird und somit das eigentliche Agitationsfeld darstellt.
Koloniale Erfahrung und temporäre Positionierung im Inter-Raum Aufgrund der nationalsprachlichen ›Tätowierung‹ und der nicht selten vorkommenden politischen Instrumentalisierung von Befreiungsparolen sieht Sloterdijk das Potential der freien und kritischen Sprache in erster Linie der Literatur und weniger der Politik innewohnen. Im kolonialen/postkolonialen Kontext, wo sowohl kulturelle und ethnische Identitätsbildung als auch Befreiung und Unabhängigkeit gleichermaßen von Bedeutung sind, weisen postkoloniale Theoretiker wie Frantz Fanon, Homi Bhabha und Stuart Hall ebenfalls auf die Gefahren einer nationalistischen oder sonstigen ideologischen Instrumentalisierung sprachlicher Äußerungen hin. Anders als Sloterdijk weisen sie jedoch die politische Ebene nicht zurück, sondern unternehmen Versuche, auch hier ein freies und kritisches Handlungsfeld zu eröffnen. Damit vollziehen sie meines Erachtens ein ›Selberneuanfangen‹, von dem auch Sloterdijk spricht. Die »Revolution des Selberanfangens gegen das Angefangensein« rührt laut Sloterdijk aus dem Bedürfnis, »sich von bösen Traditionen freizumachen«. 32 Indem Sloterdijk hier als Beispiel die deutsche Geschichte seit den 1930er-Jahren anführt, verfährt er allerdings etwas eindimensional. In Anbetracht der diversen Kolonialgeschichten sind die kolonisierten Länder und Regionen mindestens ebenso sehr »zur Autodidaktik verurteilt […] wie diejenigen, die zur Zeit Inhaber deutscher Personalausweise sind« und befinden sich ebenso in einer »Tradition des Sichaufnichtsverlassenkönnens«. 33 32 33
Sloterdijk, Zur Welt kommen, 46. Ebd., 47.
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Der Unterschied besteht freilich darin, dass die deutsche Tradition gewissermaßen von innen heraus ›vergiftet‹ wurde – um den Ausdruck Sloterdijks in Bezug auf missglückte Traditionen zu verwenden –, 34 während die Traditionen der kolonisierten Völker als ›primitiv‹, ›heidnisch‹ oder ›barbarisch‹ deklariert und somit von außen ›vergiftet‹ wurden. Angesichts solcher »ererbter Wüsten« 35 ist in diesen Kontexten ein Neuanfangen im Sinne eines Selberneuanfangens – und zwar sowohl auf kultureller als auch auf politischer Ebene – meines Erachtens noch dringlicher. Hier setzt Stuart Hall mit seiner neuen Identitätspolitik der Positionierung an. Diese müsse, so Hall, imstande sein, »solche Formen von Solidarität und Identifikation aufzubauen, die einen gemeinsamen Kampf und Widerstand ermöglichen, ohne jedoch die reale Heterogenität der Interessen und Identitäten zu unterdrücken.« 36 Hall ist sich sehr wohl der Identitätsdiskursen innewohnenden Gefahr der Homogenisierung bewusst und weist jede Form fester Identität zurück. Dennoch spielt Identität, gerade vor dem Hintergrund der Kolonialerfahrung, eine wichtige Rolle, um zum einen der jeweiligen kulturellen Geschichte und Würde wieder einen positiven Wert beizumessen und zum anderen im globalen Machtgefüge einen politischen Standpunkt gegenüber den Machthabern beziehen zu können. Das Dilemma der politischen Handlungsfähigkeit besteht darin, dass Individuen schnell und wirksam zu handlungsfähigen Subjekten werden, indem sie sich mit einer Ideologie identifizieren. Diese Subjekte sind dann allerdings der Ideologie unterworfen und nicht wirklich frei, ein Problem, das sowohl Hall als auch Sloterdijk erkennen. Während Sloterdijk hier jedoch ausweicht, indem er dem Bereich des Politischen keine weitere Beachtung schenkt, widmet sich Hall einer durchaus politisch motivierten Auseinandersetzung mit der Identitätsthematik. Dabei erachtet er eine Gegenidentifikation im Sinne einer »imaginären politischen Neu-Identifikation«, die als Quelle für ein neues Selbstbewusstsein in den Unabhängigkeitskämpfen der kolonisierten Welt eine wichtige Rolle spielte, solange als unverzichtbar, solange man mit rassistischen Strukturen der Ausschließung und
34 35 36
Ebd., 45. Ebd. Hall, Rassismus und kulturelle Identität, 19.
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Marginalisierung konfrontiert ist. 37 Die schwarze Identität, 38 die Hall als Beispiel für eine »Identitätspolitik ersten Grades« nennt, ist also durchaus von Bedeutung für den antirassistischen Widerstandskampf und somit eine wichtige Gegenpolitik zur Politik des Rassismus. 39 Allerdings bemerkt Hall kritisch, dass diese schwarze Gegenidentität »ein Schweigen beinhaltet«. 40 So werden beispielsweise die spezifischen Erfahrungen von Asiaten wie auch das Problem der Genderungleichheit nicht genügend berücksichtigt. Dass es zudem auch Schwarze gibt, die sich nicht mit der schwarzen Identität identifizieren, und dass es auch Weiße gibt, die der sozialen Unterschicht angehören und deshalb gesellschaftlich ausgegrenzt werden, wird ebenfalls nur unzureichend beachtet. 41 Verbleibt die Identität daher in diesem Stadium, ist sie – so Hall – nichts weiter als eine bloße Gegenideologie, in der lediglich an die Stelle des weißen Subjekts das schwarze Subjekt gesetzt wird. Angestrebt werden muss aber letztlich ein »Ende des wesenhaften schwarzen Subjekts«. 42 Am Beispiel des Ethnizitätsbegriffs zeigt Hall die Notwendigkeit einer Desartikulation und Umcodierung von Begriffen, 43 um sich auf diese Weise die Begriffe selbst (neu) anzueignen. Eine solche sprachliche und handlungsmächtige Wiederentdeckung eines Orts durch Neuerzählung und Neuerfindung ist, laut Hall, »ein notwendiges Moment des Sprechens« 44 und in diesem Sinn eine entscheidende Voraussetzung für die aktive Positionierung. Durch eine solche PosiEbd., 82. Hall weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich die kollektive schwarze Identität de facto aus einem Paradox heraus gebildet hat. So ist es nicht die Herkunft, sondern die gemeinsame historische Erfahrung der gewalthaften Entfremdung – Deportation und Sklaverei –, die das einheitsstiftende Moment darstellt. Trotz unterschiedlicher Herkunft reicht diese gemeinsame Erfahrung, die sich erst herausbildete, nachdem die Deportierten von ihren je unterschiedlichen Vergangenheiten abgeschnitten worden waren, aus, um über die Differenzen hinaus Gleichheit zu proklamieren. Die geteilte Geschichte der Deportation, Sklaverei und Kolonisierung vereint also, stellt aber keinen gemeinsamen Ursprung dar (vgl. Hall, Rassismus und kulturelle Identität, 31–32). 39 Hall, Rassismus und kulturelle Identität, 78. 40 Ebd., 82. 41 Ebd., 82–83. 42 Ebd., 19. 43 Ebd., 22. Hier zeigt sich eine große Ähnlichkeit zu dem Projekt der konzeptuellen Dekolonisierung, das der ghanaische Philosoph Kwasi Wiredu im Kontext der afrikanischen Philosophie formuliert hat (vgl. Wiredu, Conceptual Decolonization). 44 Hall, Rassismus und kulturelle Identität, 61–62. 37 38
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tionierung wird ein eigener verorteter Diskurs geschaffen, der in Dialog mit anderen, ebenfalls verorteten Diskursen treten kann. Bei all dem ist es unerlässlich, beim ›Erlernen von Identität‹ 45 immer auch die negativen Wirkungen bzw. Ausklammerungen von Positionalität zu reflektieren und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass jede Identität immer aus vielen sozialen und kulturellen Identitäten zusammengesetzt ist. Identität darf also weder essentialistisch im Sinne eines einheitlichen Wesens noch im Sinne einer ursprünglichen Essenz gedacht werden, sondern ist grundsätzlich durch Hybridität, Kreolisierung, Entwurzelung und Diaspora geprägt. Entsprechend basiert Halls Identitätspolitik ›zweiten Grades‹ – die Identitätspolitik der Positionierung – auf einem Verständnis von Identität, das Identität in der Differenz und durch Differenz geprägt denkt und im Rahmen dieses Verflechtungsverhältnisses als Produktionsprozess auffasst. 46 Positionierung bedeutet demnach die Herausbildung einer prozessualen Identität in und durch Differenz. Hall baut dabei auf einem Verständnis von Differenz im Sinne von Jacques Derridas différance auf. Eine solche ist »positional, konditional und konjunkturell« im Unterschied zu einer Differenz, »die eine radikale und unüberbrückbare Trennung verursacht«. 47 In einer Weiterführung Derridas führt Hall »temporäre Unterbrechungen« in das Spiel der Differenzen ein. 48 Dadurch, dass sich Bedeutung letztlich erst in Momenten des zeitweisen (An-) Haltens konstituiert, präzisieren die Einfügungen solcher Unterbrechungen bzw. »Einschnitte von Identität« 49 das Verständnis der différance vielmehr, als dass sie diesem widersprechen; sie dürfen eben nur nicht als dauerhaft betrachtet werden. Damit macht die différance nicht die Vorstellung von Identität generell unmöglich, sondern lediglich die Vorstellung einer differenzfreien, stabilen Identität. 50 Es ist Halls Überzeugung, dass es nur mit einem solchen dynaSo schreibt Hall: »Kein bißchen von diesem wahren Ich gab es da drinnen, bevor diese Identität erlernt wurde« (ebd., 81). Diese Auffassung ist sehr ähnlich zu der o. g. Auffassung Sloterdijks, die Anhaftung des Menschen geschehe zunächst an das Offene, dem dann jedoch eine nationalsprachliche ›Tätowierung‹ und eine Prägung durch Vorstellungen und Meinung folgt. 46 Hall, Rassismus und kulturelle Identität, 84. 47 Ebd., 22. 48 Ebd., 34. 49 Ebd. 50 Ebd., 76. 45
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mischen und produktiven Verständnis von Identität möglich ist, die vielen Nuancen und den »traumatischen Charakter der ›kolonialen Erfahrung‹« richtig zu verstehen. 51 Dieser zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die kulturellen Identitäten der Kolonisierten durch »innere Enteignung« geprägt sind. Hall bezieht sich hier auf Frantz Fanon, der von einem Prozess kolonialer »Normalisierung« spricht, in dessen Verlauf die Kolonisierten »durch die Macht des inneren Zwangs und durch subjektive Anpassung […] an die Norm« unterworfen wurden. 52 Nachdem sie durch die kolonialen Repräsentations- und Machtregime als ›die Anderen‹ konstruiert wurden, nahmen sie sich schließlich selbst als diese ›Anderen‹ wahr. Während es sich bei dieser Form der Positionierung um eine zugewiesene und unfreiwillige handelt, geht es bei der aktiven Positionierung darum, einen eigenen, selbst gewählten Standpunkt einzunehmen. Sich zu positionieren ist unerlässlich, um einen Ort, von dem aus man spricht, zu bestimmen. Man muss sozusagen in die eigene Sprache eintreten, um aus der nominalen Fremdbestimmung herauszukommen. Man muss sich positionieren, auch wenn die Position (immer) wieder aufgegeben werden muss. Mit seinem prozessualen Verständnis von Identität im Sinne einer temporären Positionierung vollzieht Hall meines Erachtens auf der politisch-handlungsmächtigen Ebene genau das, was Sloterdijk zwar ebenfalls, jedoch nur auf der ästhetisch-literarischen Ebene für möglich hält: »Der freie Atem nimmt mit dem Einatmen Positionen ein, die er mit dem Ausatmen wieder räumt. […] Gedichte und anderes frei Gesagte sind Atemschiffchen, die sich ins Offene aussetzen. Daher sind freie Worte wichtiger als große.« 53
Fazit Wenn man den Raum als Metapher für kulturelle Dynamik betrachtet und Interkulturalität als Begegnung und Austausch und gleichzeitig als Kritik versteht, dann bedeutet das für den Inter-Raum, dass dieser als Ort des Zur-Welt-Kommens stets neu gestaltet wird und werden muss. Gleichzeitig bietet dies die Möglichkeit, sich zu positio51 52 53
Ebd., 29. Ebd., 29–30. Sloterdijk, Zur Welt kommen, 174 bzw. 175; Hervorh. B. S.
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nieren, also einen Standpunkt einzunehmen, der einerseits nicht die kulturelle Herkunft verleugnet, andererseits jedoch die Fesseln der engen kulturellen Bindungen hinter sich zu lassen vermag. Auf diese Weise wird der Ort interkulturellen Denkens zu einem Ort der Offenheit im Zentrum des Weltgeschehens. Dennoch stellt sich die Frage, wie es angesichts der kulturellen Vielstimmigkeit möglich ist, das, was uns verbindet und das, was wir teilen, zu benennen, ohne einer zentristisch-universalistischen Sichtweise verhaftet zu bleiben. Hierfür erscheint es mir hilfreich, ein Denken im Inter-Raum als ein über die Kategorien des Universalen und Partikularen hinausgehendes relationales Denken aufzufassen. Relationalität bedeutet dabei, sich sowohl der kulturellen Partikularität – des Orts – als auch der interkulturellen Verbundenheit bzw. Verwobenheit – des (Inter–)Raums – bewusst zu sein. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass nicht, wie in universalistischen Ansätzen, die Universalien als Hauptbindeglieder zwischen den einzelnen Elementen wirken, sondern dass vor allem die Beziehungen zwischen den Partikularitäten die entscheidende Dynamik darstellen. Das Gemeinsame 54 ist also keine feststehende Universalie, sondern das Resultat eines offenen, dynamischen und kreativen Prozesses. Eine solche Suche nach dem Gemeinsamen ›von unten‹ kann fruchtbar nur im Inter-Raum stattfinden, wie auch Lösungen für Probleme, die die Weltgemeinschaft als Ganzes betreffen, nur gemeinsam – interkulturell und polylogisch – erarbeitet werden können. Zur Welt kommen, einen Ort finden, sich positionieren, zur Sprache kommen und frei sprechen sind entscheidende Aspekte des interkulturellen Denkens. Ein solches Denken ist nicht im herkömmlichen Verständnis universal, da es kein alles überschauendes, vereinheitlichendes oder dominantes Denken ›von oben‹ ist, sondern per se unterschiedliche Perspektiven besitzt. Es ist in diesem Sinne ein relationales Denken, das mittels kritischen und selbstkritischen Austauschs im Rahmen von Dialogen, Polylogen und Verhandlungen Gemeinsamkeiten ›von unten‹ aufzuspüren bzw. gemeinsame verbindlich Werte und Normen zu formulieren vermag. Sowohl beim ZurWelt-Kommen als auch bei der temporären relationalen Positionierung geht es gleichermaßen darum, die Neuheit, Prozesshaftigkeit, Dynamik, Kreativität und Unvollendbarkeit des Inter-Raums als VerZum Begriff des Gemeinsamen (the common) siehe auch Hardt/Negri, Commonwealth.
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handlungsraum zum Ausdruck zu bringen. In diesem Sinne eröffnet der Ort interkulturellen Denkens einen kreativen Raum in Bewegung.
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Karin Kuchler
Time and the History of Philosophy: Eurocentrism and the Denial of Coevalness
»Eurocentrism is a specifically modern phenomenon, the roots of which go back only to the Renaissance, a phenomenon that did not flourish until the nineteenth century.« 1
This piece forms part of a larger study of eurocentrism in philosophy and the historiography of philosophy. It is a rather conceptual or even speculative piece, as such it might be a part of what is considered to be properly placed philosophy. 2 In what follows I propose applying the concept of the denial of coevalness, as conceived by Johannes Fabian to describe the tempopolitical foundations of anthropology as a discipline in Time and the Other: How Anthropology Makes its Object as presented by Walter Mignolo in The Darker Side of Western Modernity. I will first briefly sketch the problem of eurocentrism in the historiography of philosophy, touching upon how the representation of non-European philosophy was excluded from the writing of the history of philosophy, leaving a certain narrative of European philosophy, which in time came to be considered the sole universally valid tradition of thought. One aspect of this exclusion is the peculiar representation of philosophies elsewhere having happened, if at all, only a distant past, which is to say, in antiquity. I will then turn to introducing Johannes Fabian’s research on the temporal-political remaking of the other, which he conceptualized as a denial of coevalness, a framework which I propose to apply to the study of the historiography of philosophy. In his seminal study on the topic, Samir Amin posits that euroAmin, vii. This article is a complete reworking of the original conference presentation, done in light of comments made by Madeleine Elfenbein of Chicago which were central to my being able to rethink it entirely.
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centrism is a systemic distortion of both social theories and ideologies, which, while universalist in scope, in actuality are anti-universalist. 3 Eurocentrism serves as a legitimation for capitalism and consists of a »recent mythological reconstruction of the history of Europe and the world.« 4 This myth consists in imagining both a rupture with the past as well as the »affirmation of a nonexistent historical continuity.« 5 He considers the rewriting of the history of philosophy which took place in early Enlightenment as part of the »construction of Eurocentric culture.« 6 This new narrative of philosophy’s past, in turn, serves to legitimatize European identity, perhaps all the way up until today, as Simon Critchley has observed in his take on Edmund Husserl’s Die Krise des Europäischen Menschentums: »The only therapy is to face the crisis as a crisis, which means that we must tell ourselves the story of philosophy’s Greek beginning, of philosophy’s exclusively Greek beginning – again and again. If philosophy is not exclusively Greek, we risk losing ourselves as Europeans, since to philosophize is to learn how to live in the memory of Socrates’ death.« 7 The larger question at hand is, what made it possible to speak of European philosophy as the sole universally valid philosophy. A thorough explication of the history of eurocentrism in general and in the history of the historiography of scholarship shows that the claim to hegemony that was founded in the writing of the history of philosophy in early Enlightenment. An investigation of how it became possible to speak of European philosophy as the only and universal form of philosophy is not only relevant to the self-conception and practice of philosophy as an academic discipline: As philosophical, i. e., scientific superiority has served to legitimize a European superiority in general, it can also contribute to the appreciation and understanding of cultural productions in all regions of the world. What we now call European philosophy is an invention of 18th century historiography of philosophy or more precisely of German and Latin speaking protestant theologians from Göttingen in Northern Germany. 8 The earliest mentions of the European in the historio3 4 5 6 7 8
Amin, vii–viii. Amin, xi. Amin, xi. Amin, xi. Critchley, 122–142. This and the following explication formed part of the research for my (MA) thesis:
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Karin Kuchler
graphy of philosophy still understand the European as »barbaric« and separate from what is Greek, as did Aristotle. 9 As an example of this rendering of a European that is not yet Greek I would like to cite an Early Modern History philosophy. In 1600, Otto Heurnius lists European philosophy as a barbaric philosophy next to Asian and African philosophy: De Africa Magia, eiusque auctore Zoroastro, seu Zarade Persa De Euopaeae Magiae specie prima, Theissalica De Europaeae Magiae specie secunda, Hetrusca De Europaeae Magiae specie tertia, Romana De Europaeae Magiae specie quarta, Gemanica 10
This is one of several early mentions of a European science or philosophy that is barbaric in the sense that it is not Greek. The history of a philosophia barbarica was actually a story not told without a certain sense of pride. 11 The conjunction of the European and the Greek will only happen later. 12 It was Johann Jakob Brucker, whose enormous Kurtze Fragen zur philosophischen Historie 13 constitutes the most complete list of global philosophy from early modern times – his table of contents includes almost any region known to having been home to cultural production, including Ethiopia, ancient Teutonic tribes, contemporary First Nations – who first pose European philosophy as a continuous subject starting in Ancient Greece in using it as a foil to describe Native American philosophy: Kuchler, Karin. 2008. »Kleine Archäologie Der Europäischen Philosophie.« Wien: Universität Wien. 9 For a thorough study of the representation of the philosophia barbarica in Early Modern historiography of history see how Aristotle and the following view formed part of the research for my (MA) thesis: Kuchler, Karin. 2008. »Kleine Archäologie Der Europäischen Philosophie.« Wien: Universität Wien. 10 Heurnius n. p. About African Magic, founded by Zoroaster, or the Persian Zarade About the first kind of European Magic, i. e., Thessalican About the second kind of European Magic, i. e., Etruscan About the third kind of European Magic, i. e., Roman About the fourth kind of European Magic, i. e., German [author’s translation]. 11 Also see Wimmer, Franz Martin. Interkulturelle Philosophie. Geschichte Und Theorie., 2nd Ed. Internet Edition, 2001. pp. 192. http://homepage.univie.ac.at/franz.martin.wimmer/intkult90.html (accessed November 10th, 2014). 12 See Amin, Samir. Eurocentrism, 2nd Ed. Monthly Review Press, 2010, 91, who is mostly reiterating Martin. Bernal, Black Athena: The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 1987. 13 Brucker, 1731–1736.
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»Man muß sich aber von der Philosophie wie bey der alten Philosophie der Ausländer, also auch der neueren einen anderen Begriff davon machen, als von der europäischen.« 14 In 1791, just sixty years after Johann Jakob Brucker had written for the first time about a European philosophy in his Kurtzen Fragen zur philosophischen Historie, Dieterich Tiedemann not only exluded any non-European philosophy from the history of philosophy: He explicitly proscribes any mention thereof in his Geist der spekulativen Philosophie: Nun wird allgemein zugestanden, dass alle Lehren der Chaldäer, Perser, Indier und selbst der Aegypter, so weit sie uns bekannt sind, entweder bloße Dichtungen halb roher Zeit enthalten, oder auf religiöse Vorstellungen hinausgehen, keine zuverlässige Nachricht wenigstens gedenkt irgend einiger Beweise aus Begriffen, oder Erfahrungen. Von der Philosophie dieser Völker haben wird demnach kein Recht zu reden, noch in der Geschichte der Philosophie solche Lehren aufzustellen. 15
Along with this exclusion arose the complete historization of philosophy as an academic discipline in 19thcentury universities: as philosophy became a unified historical subject, what philosophy was became codified by the narration of its past: only then did lectures on the history of philosophy become both introduction to and definition of the discipline, at least insofar as the institutional practice of academic philosophy is concerned. 16 At the same time, a philosophy of history that gave cause and legitimacy to colonization climaxed. Both narratives engage figures of speech that first appear in the construction of a European philosophy. Hence, it represents a hiatus that offers both a form and a pattern for eurocentrism in philosophy. In the historical imagination of the Renaissance, philosophical difference Brucker, 1731–1736. However, one has to form a different idea of philosophy regarding the old philosophy of the foreigners just as regarding the newer, than regarding European (philosophy). [author’s translation]. 15 Tiedemann, XVIII–XIX. »Now, it is generally conceded that all the teaching of the Chaldeans, Persians, Indians and even Egyptians, as far as they are known to us, contain either just poetry of half raw times, or amount to religious conceptions, no reliable notice least mentions any proof from notions, or experiences. We therefore have no right to speak of a philosophy of these peoples, nor to develop such doctrines in the history of philosophy.« [author’s translation]. 16 See Schneider, Ulrich Johannes. Philosophie und Universität: Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert. Hamburg: Meiner, 1999. 14
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Karin Kuchler
was strongly localized: there could be different philosophies in different parts of the world, such as a philosophy of Ethiopia, of the new Americas, of ancient Europe, along with an ancient Greek philosophy. While this multitude of philosophies is still present in Johann Jakob Brucker’s work, he is also the first to construct a continuous past for European philosophy. 17 Historical imagination thus becomes a sorting mechanism which works to in- or exclude what is marked as the other, thereby constituting a coherent subject of philosophy, which moves through different localities rather than being in different localities. Along with this shift, philosophy happening outside of Europe, which was still present – in the double sense of being in the present and being presented – in Johann Jakob Brucker’s work, seems to become something that exists, if at all, only in the past. 18 This shift can be described in Walter Mignolo’s terms in his application in Johannes Fabian’s notion of the denial of coevalness: »At the inception of the colonial matrix of power, ›barbarians‹ were located in space. By the eighteenth century, when ›time‹ came into the picture and the colonial difference was redefined, ›barbarians‹ were translated into ›primitives‹ and located in time rather than in space.« 19 Johannes Fabian’s study on the use of time in the construction of anthropology’s object, ergo, the Other, 20 is primarily aimed at an episWhich is consequential to the pragmatic approach to the historiography of philosophy he implements which was conceived by Christoph August Heumann as presented in Heumann, Christoph August (Hrsg.): Acta philosophorum, das ist: Gründliche Nachrichten aus der Historia Philosophica, nebst beygefügten Urtheilen von denen dahin gehörigen alten und neuen Büchern. Bristol (Mannheim): Thoemmes Press (Reprint), 1997 (1715). 18 Wimmer, Franz Martin. Interkulturelle Philosophie. Geschichte Und Theorie., 2nd Ed. Internet Edition, 2001, 13: »Diese philosophischen Traditionen nicht anders als in eine Frühzeit philosophischen Denkens einzureihen und dementsprechend auch vorwiegend oder sogar ausschließlich deren antike Entwicklungen darzustellen, ist einer der methodologischen Fixpunkte der Philosophiehistorie, die sich seit langer Zeit durchhalten und heute nicht mehr – anders als noch im 18. Jahrhundert – begründungsbedürftig erscheinen.« To enqueue these philosophical traditions no differently than as part of an earlier time of philosophical thought and, accordingly, to predominantly or even exclusively present their ancient development, is one of the methodological anchor of the writing of history of philosophy, which have been persevered for a long time and which today, unlike in the 18th century, apparently do not need to be justified. [author’s translation]. 19 Mignolo, 153. 20 Fabian, x. 17
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temic remaking of the foundations of colonial anthropology. Its application to the historiography is however not only worthwhile insofar as what we now consider historical anthropology is very much part of philosophy’s past. If we now look at the historiography of philosophy, this shift also takes place in the 18th century. Renaissance historiography spoke of different philosophies, which were localized as the philosophies of the Thracians, Egyptians, Greeks etc. – which is not to say that there was not any type of hierarchization between them. When Johann Jakob Brucker invented European philosophy in the modern sense – i. e., a European philosophy that stands in continuity with, rather than in opposition to, ancient Greek philosophy – the Humanist imperative to list all philosophies for which there existed (written) evidence, the element of temporality is already introduced by way of continuity. What follows however, is a rapid shift towards an understanding of philosophy as a single, that is, unified, and indivisible subject, the development of which may even be described as childhood, adolescence and adulthood as though it were a human subject (Romanticism). The Others that we encounter in this narrative of philosophy – if we encounter them at all – are always ancient, ancient Egyptian, ancient Chinese, ancient Indian philosophy – they are removed from the present of philosophy by way of temporal difference. As Mignolo puts it »Geography was translated into chronology«. This transformation is based on a shift in the understanding of historicity on the one hand, and in the historization of difference on the other hand: »History as ›time‹ entered into the picture to place societies in an imaginary chronological line going from nature to culture, from barbarism to civilization following a progressive destination toward some point of arrival … The planet was all of the sudden living in different temporalities« 21. Philosophy becomes bound to a certain place, which will come to be considered its only place, in the same historical shift that made it to be transcendent of locality, that is, universal. As Kant’s Anthropology is the negative of his Critique, as Foucault put it, 22 so the other side of the claim to universality is a rigid particularization. This double movement – the claim to universality that is irrevocably bound to a categorization and hierarchization Mignolo, Walter, The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options (Duke University Press, 2011), 151. 22 Foucault, 41. 21
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Karin Kuchler
of the Other – lies at the very core of what we call Modernity. It cannot be understood outside of its context, that is, colonialism, a dialectal approach to which was presented by Antonio Hardt and Michael Negri in Empire: »Colonialism is an abstract machine that produces alterity and identity.« 23 The notion that philosophy transcends worldly atrocities – the abuse, murder, torture of given colonial subjects – only serves to hide its complicity. The locality of a certain kind of philosophy that came to consider itself the only kind of philosophy is both spatial and temporal. Or, put another way, the way in which the temporal overrides the spatial is what hides the colonial machine from plain sight. Thus, the removal of philosophies elsewhere to a distant past might prove not to be just a peculiarity, but may be at the heart of the false claim of one tradition being pre-eminent over others.
References Amin, Samir. Eurocentrism. 2nd ed. Monthly Review Press, 2010 (1989). Bernal, Martin. Black Athena: The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press, 1987. Brucker, Johann Jacob. Kurtze Fragen aus der philosophischen Historie. Von Anfang der Welt, biß auf die Geburt Christi, Mit Ausführlichen Anmerckungen Erläutert. Vols. I–VII, Ulm: Daniel Bartholomäi und Sohn, 1731–1736. Critchley, Simon. »Black Socrates? Questioning the Philosophical Tradition In Ethics.« Politics–Subjectivity. Essays on Derrida, Levinas and Contemporary French Theory. London, New York: Verso, 1999. Fabian, Johannes. Time and the Other: How Anthropology Makes Its Object. New York: Columbia University Press, 1983. Fabian, Johannes. Time and the Work of Anthropology: Critical Essays, 1971– 1991. Chur, Switzerland; Philadelphia: Harwood Academic Publishers, 1991. Foucault, Michel. Einführung in Kants Anthropologie: Aus dem Franz. von Ute Frietsch. Mit einem Nachw. von Andrea Hemminger. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2010. Hardt, Michael & Negri, Antonio. Empire. Harvard University Press, 2009. Heumann, Christoph August. Acta philosophorum, das ist: Gründliche Nachrichten aus der Historia Philosophica, nebst beygefügten Urtheilen von denen dahin gehörigen alten und neuen Büchern. Bristol (Mannheim): Thoemmes Press (Reprint), 1997 (1715). Heurnius, Otto. Philosophiae Barbaricae Antiquitatum. Libri Duos. Leiden: Raphelengius, 1600.
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Time and the History of Philosophy Kuchler, Karin. »Kleine Archäologie Der Europäischen Philosophie.« Universität Wien, 2008. Mignolo, Walter. The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options. Duke University Press, 2011. Schneider, Ulrich Johannes. Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990. Schneider, Ulrich Johannes. Philosophie und Universität. Die Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert. Hamburg: Meiner, 1998. Tiedemann, Dieterich. Geist der spekulativen Philosophie. Marburg: Neue Akademische Buchhandlung, 1791. Wimmer, Franz Martin. Interkulturelle Philosophie. Wien: Passagen, 1990. Wimmer, Franz Martin. Interkulturelle Philosophie. Geschichte Und Theorie. 2nd [Internet] Ed, 2001. http://homepage.univie.ac.at/franz.martin.wimmer/ intkult90.html (accessed November 10th, 2014).
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Anke Graneß
Interkulturelle Weisheitsforschung
Einleitung Der Begriff Weisheit ist heute allgegenwärtig. Dabei ist der Begriff sowohl ein alltagssprachliches Konzept als auch ein in verschiedenen Wissenschaften wie der Philosophie, der Theologie 1 oder der Psychologie gebräuchliches. Neuerdings spielt der Begriff auch im Rahmen der Neurobiologie und Intelligenzforschung sowie in den Bereichen Pädagogik, medizinische Ethik, aber auch Business-Ethik 2 eine große Rolle, insbesondere in dem Versuch, das Weisheitskonzept für die Lösung von lebenspraktischen Aufgaben relevant und anwendbar zu machen. Diese Entwicklung ist zum einen der zunehmenden Bedeutung, die das höhere Lebensalter aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung (und damit im Zusammenhang stehenden demographischen Veränderungen der Gesellschaftsstruktur) gewinnt, zuzuschreiben. Zum anderen ist die Suche nach Weisheit einer zunehmenden Orientierungslosigkeit in einer komplexer und unübersichtlicher werdenden Welt geschuldet, in der tradierte Institutionen wie Familie oder Religion keine Orientierungshilfe und Sicherheit mehr bieten können. Auf der Internetseite wisdomresearch.org finden wir heute folgenden Aufruf: »Times have changed. So has the study of wisdom. Philosophers, make room for the scientists!« 3 Angesichts solcher Aufrufe müssen sich PhilosophenInnen wohl dringend die Frage stellen, ob ihrer Wissenschaft hier nicht gerade der Grundbegriff entErinnert sei an die Weisheitsliteratur zum Alten Testament und die Sprüche Salomons. 2 Siehe Beiträge wie: D. G. Mick, S. A. Spiller, A. J. Baglioni: »A systematic self-observation study of consumers’ conceptions of practical wisdom in everyday purchase events« in: Journal of Business Research Volume 65, Issue 7, July 2012, 1051–1059. 3 Siehe: http://wisdomresearch.org/blogs/news/archive/2013/02/27/a-word-to-thewise-part-1.aspx#sthash.ayIy1ywC.dpuf (letzter Aufruf: 18. September 2016). 1
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Interkulturelle Weisheitsforschung
zogen wird. Nicht in jedem Fall geht es in den Untersuchungen auf wisdomresearch.org und in ähnlichen Unternehmungen um Weisheit – zumindest nicht im philosophischen Sinne. Vielmehr stehen hinter manchen Publikationen unverhüllte Vermarktungsabsichten. Allerdings sollten wir als PhilosophenInnen aufmerken und überdenken, ob wir einen derartigen Gebrauch des Weisheitsbegriffs unkommentiert anderen überlassen wollen. Ein interkultureller und interdisziplinärer Ansatz bietet meiner Meinung nach Potenziale, um den Weisheitsbegriff für die Philosophie zurückzuerobern und wieder fruchtbar zu machen. Der Beitrag gliedert sich in die folgenden vier Abschnitte: Der erste Abschnitt gibt einen sehr kurzen Überblick über einige grundlegende Werke aus der Weisheitsliteratur und zum Verständnis des Begriffs Weisheit. Im zweiten Teil wird das Berliner Weisheitsmodell von Paul Baltes und Ursula Staudinger als Beispiel einer psychologischen Annäherung an das Thema vorgestellt. Der dritte Teil führt in die Weisheitsphilosophie (Sage Philosophy) des kenianischen Philosophen Henry Odera Oruka ein. Hier werde ich auf die interessanten Parallelen zwischen dem in den 1970er Jahren in Kenia gestarteten Weisheitsprojekt und dem Berliner Modell von Paul Baltes eingehen, um dann zu zeigen, wie Odera Orukas Projekt der Weisheitsphilosophie durch die Methode der psychologischen Weisheitsforschung möglicherweise unterstützt und verbessert werden kann. Im vierten und abschließenden Teil meines Beitrages werde ich nochmals zusammenfassend für einen interdisziplinären und interkulturellen Ansatz in der Weisheitsforschung plädieren, insbesondere um das Weisheitskonzept wieder in den philosophischen Diskurs zu integrieren und damit Weisheit und Philosophie zu mehr gesellschaftlicher Relevanz zu verhelfen.
1.
Was ist Weisheit?
Der Publizist Gert Scobel (studierter Philosoph und Theologe) hat im Jahr 2008 ein Buch unter dem Titel veröffentlicht: Weisheit. Über das was uns fehlt 4 und trifft damit vermutlich den (europäischen) Zeitgeist: Weisheit wird gemeinhin als das empfunden, was uns heute in unserem schnelllebigen und technisierten Leben mangelt (ebenso wie 4
Gert Scobel: Weisheit. Über das, was uns fehlt, Köln: DuMont 2008.
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Anke Graneß
Zeit und Muße, die möglicherweise in enger Verbindung mit der Weisheit stehen). Den Kern der Weisheit oder weisheitlichen Denkens zu bestimmen ist nicht leicht – auch wenn es im Gegensatz dazu offenbar relativ leicht ist, einen weisen Satz oder eine weise Person zu identifizieren, wie die Ergebnisse der psychologischen Weisheitsforschung nahe legen 5, auf die ich gleich näher eingehen werde. Im Rahmen eines Alltagsverständnisses werden mit diesem Begriff sehr viele Assoziationen verbunden. Dazu gehören u. a. Lebenserfahrung, Wissen, Verständnis, die Fähigkeit ein guter Berater und Zuhörer zu sein, ebenso soziale Fähigkeiten wie Toleranz oder die Fähigkeit, sein Wissen weiterzugeben und Einfluss auf die Gemeinschaft zu nehmen. Im Alltagsverständnis wird Weisheit häufig mit einem hohen Lebensalter verbunden. Oft wird Weisheit auch als ein historisches (heute eher unzeitgemäßes) Phänomen verstanden. Aber was zeichnete die alten Weisen und ihre Lehre aus? Als eine der ältesten überlieferten Weisheitslehren gilt die Lehre des Ägypters Ptahhotep (5. Dynastie, unter Pharao Isesi, ca. 2388– 2356 v. Chr.), Verfasser von insgesamt 37 Lebens- oder Weisheitsmaximen, die als die älteste vollständig erhaltene Weisheitslehre 6 gelten. Ptahhotep will mit seiner Lehre zum klugen Verhalten gegenüber Vorgesetzten, Gleichrangigen und Untergebenen anleiten, zur weisen Menschenführung und zum ethischen Miteinander in der Gemeinschaft. Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Großherzigkeit und das rechte Maß gelten als Ideal menschlichen Handelns. Gewarnt wird vor Habgier, Unzucht, Flüchen und übler Nachrede. Als Beispiel einer solchen moralischen Handlungsanleitung sei hier ein Ausschnitt aus Lehre IX angeführt: [161] Wenn Du pflügst und es gedeiht auf dem Feld Und wenn Gott es dir reichlich gibt, dann rühme dich dessen nicht übermäßig Und überhebe dich nicht über den, der nichts hat.
So schreibt Paul B. Baltes: »Wisdom, though difficult to achieve and to specify, is easily recognized when manifested.« In: P. Baltes: Wisdom as Orchestration of Mind and Virtue, 17. 6 Eine Kopie der Maximen des Ptahhotep, das Papyrus Prisse, befindet sich in der Französischen Nationalbibliothek in Paris. Die Lehre in den erhaltenen Fassungen stammt aus dem Mittleren Reich (etwa 2137 bis 1781 v. u. Z.). Der Urtext ist leider nicht überliefert, sondern nur mehrere Abschriften. 5
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Interkulturelle Weisheitsforschung
Hüte deinen Mund neben deinem Nächsten. Nur vor dem Zurückhaltenden hat man Hochachtung, … 7
Der Kern der Weisheitssprüche des Ptahhotep ebenso wie der »Lehre für Kagemni« (2613–2589 v. u. Z.), die sich auf demselben Papyrus Prisse befindet, oder auch der »Lehre für Merikare« (1990 v. u. Z.) betrifft moralische Regeln und das gesellschaftliche Wohlverhalten im Sinne der Ma’at, der altägyptischen Weltordnung, als Einheit von Kosmos und Gesellschaft, Ordnung und Gerechtigkeit. Ma’at bedeutet die ständige Aufforderung, politische Ordnung, soziale Gerechtigkeit und eine Harmonie zwischen Götter- und Menschenwelt herzustellen und die Welt in Gang zu halten. 8 Ptahhoteps Weisheitssprüche umfassen aber auch die folgende Maxime, die allen anderen vorangestellt wird: Sei nicht eingebildet auf dein Wissen und verlasse dich nicht darauf, daß du ein Weiser seist, sondern besprich dich mit dem Unwissenden so gut wie mit dem Weisen. … Vollkommene Rede ist verborgener als ein Malachit, und doch kann man sie entdecken bei den Mägden über den Mahlsteinen. 9
Der Zweifel am eigenen Wissen wird uns bei anderen großen Weisen und schließlich jenen, die dann als Philosophen bezeichnet werden, allen voran Sokrates, wiederbegegnen. Die Skepsis dem eigenen Wissen gegenüber ist ein Merkmal, das wir u. a. bei den sogenannten »Sieben Weisen Griechenlands« finden. Als diese gelten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus dem 7./6. Jahrhundert v. u. Z., wer dazu gehört, darüber gibt es keine Einigkeit 10, aber Thales von Milet ist sicher der Bekannteste von ihnen. Neben seiner Suche nach dem Urgrund allen Seins, arché, ein Stoff, der durch alle scheinbaren Veränderungen hindurch bestehen bleibt und den er im Wasser vermutet, sind uns von ihm auch einige Sinnsprüche überliefert u. a.:
H. Brunner: Die Weisheitsbücher der Ägypter, 115. Nähere Erläuterungen zur Ma’at siehe: Jan Assmann: Ma’at: Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. München: Verlag C. H. Beck 2006. 9 H. Brunner: Die Weisheitsbücher der Ägypter, 111. 10 Der erste, der ausdrücklich von den Sieben Weisen spricht, ist Platon in seinem Dialog Protagoras. Er zählt dazu Thales von Milet, Pittakos von Mytilene, Bias von Priene, Solon von Athen, Kleobulos von Lindos, Myson von Chenai und Chilon von Sparta. 7 8
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»Bürgschaft, – schon ist Unheil da; Denk an deine Freunde, ob sie da sind oder fort; Nicht dein Äußeres schmücke, sondern sei schön in deinem Tun.« etc.; Sprüche also, die ebenfalls auf gesellschaftliches Wohlverhalten zielen. Der bekanntestes dieser Sinnsprüche ist jedoch: »Halt Maß.« 11 Und Chilion von Sparta soll den bemerkenswerten Satz geäußert haben: »Erkenne dich selbst!« 12 – ein Spruch, der jedoch auch Thales, Solon oder Bias zugeschrieben und zum Kernbestandteil griechischer Philosophie wurde. Wenden wir uns im Sinne einer etwas breiteren Betrachtung (über die Achse Ägypten – Griechenland – abendländische Philosophie hinaus) noch kurz dem japanischen Weisen Dōgen Zenji (1200– 1253) zu, der als Begründer des Zen-Buddhismus in Japan gilt. Selbsterkenntnis steht auch im Mittelpunkt seines Bestrebens, allerdings nicht in erster Linie über theoretische Reflexion, sondern über den Weg der Meditation mit dem Ziel der Erleuchtung, des Aufwachens zur wahren Natur, d. h. der Überwindung des Dualismus von Körper und Geist, Subjekt und Objekt durch einen Akt der Selbsterfahrung. Es ist eine Erfahrung jenseits aller Begriffe. Kern dieser Erfahrung ist für Dōgen die Erkenntnis, dass Alltag und Erleuchtung, das alltägliche Handeln und Meditation eine Einheit sind. Der Alltag, das Hier und Jetzt, die Konzentration auf das was man gerade tut, mit ganzem Körper und ganzem Geist, bei so alltäglichen Verrichtungen wie Kochen, Essen, das Falten des Gebetsgewandes, der Umgang mit den Mitmenschen – dies sind die Bewährungsproben von Erleuchtung und Weisheit. 13 Bei aller Verschiedenheit der Methoden und Inhalte: Was eint diese Denkansätze, um sie als weise zu bezeichnen? Studieren wir die Weisheitsliteratur der Geschichte genau und breiter als es in diesem kurzen Anriss möglich ist 14, werden mehrere einende Merkmale deutlich, wie z. B. das Wissen um die Grenzen des eigenen Wissens, um die Veränderlichkeit der Welt und die Erkenntnis der Notwendigkeit, an sich selbst zu arbeiten und seiner Gemeinschaft nützlich zu sein. Was zudem deutlich wird, ist die erzieherische Funktion der Weisheit. Weisheitssprüche und Weisheitsliteratur des Altertums Nach Demetrios von Phaleron: »Thales, der Sohn des Examyes, aus Milet sprach«, in Bruno Snell: Leben und Meinungen der Sieben Weisen. 12 Nach Demetrios von Phaleron. 13 Siehe Eihei Dōgen Zenji: Shōbōgenzō. 14 Baltes tut dies im ersten Teil von Wisdom as Orchestration of Mind and Virtue weitaus ausführlicher. 11
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Interkulturelle Weisheitsforschung
waren wesentlich auf die Erziehung des Menschen ausgerichtet. Es wurde also davon ausgegangen, dass Weisheit lehrbar ist und sich einüben lässt. Ein Schluss, zu dem auch die psychologische Weisheitsforschung der Gegenwart kommt. Aber zunächst einige kurze Betrachtungen zum Verhältnis von Philosophie und Weisheit.
2.
Philosophie und/oder Weisheit?
Der Begriff der Weisheit ist für die europäische Philosophie ein konstitutiver, wie sich bereits in ihrem Namen wiederspiegelt, und hat durch die Jahrhunderte eine grundlegende Rolle in den philosophischen Reflexionen gespielt. Im Unterschied zu anderen Disziplinen (wie etwa der Psychologie oder der Theologie) stellt Weisheit in der Philosophie somit kein Thema unter anderen dar, sondern impliziert ein Selbstverständnis der Philosophie selbst, bewegt sich also auf einer metaphilosophischen Ebene. 15 Weisheit ist dabei nicht nur ein Thema theoretischer Reflexionen, sondern wird als Liebe zur Sophia im besten Falle (wie vielleicht im Leben des Sokrates) auch praktiziert. Das Verständnis von Weisheit hat im Rahmen der europäischen Philosophie im Laufe der Jahrhunderte vielfältige Entwicklungen und Veränderungen durchlaufen. Zentral war der Begriff im antiken Griechenland, bei der Formierung der Philosophie als neuer Disziplin im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Sophisten und Philosophen: Proklamierten erstere im Besitz von Wissen und Weisheit zu sein, sahen sich die Vertreter der Philosophie als Freunde der Weisheit, die nach Weisheit streben, nicht aber im Besitz von Weisheit sind. Exemplarisch steht hier wiederum Sokrates, der sich durch ein Wissen um die Begrenztheit des menschlichen Wissens auszeichnet und dementsprechend das Wissen der Sophisten als Scheinwissen geißelt. Weisheit ist hier das Wissen um das eigene Nichtwissen. Exemplarisch ist Sokrates auch bezüglich einer weiteren Dimension der Weisheit, nämlich ihrer praktischen Wirksamkeit für die Gemeinschaft. Weisheit ist für ihn eine Art ethisches Zielwissen, ein moralbasiertes Verständnis, das sich im richtigen und guten Leben zum Wohle der Gemeinschaft äußert. Ist Weisheit hier noch mit sehr weltlichen Fragen verbunden, der Frage der Gerechtigkeit, Tapferkeit, einer guten Staatsführung, 15
Vgl. Ritters Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stichwort Weisheit, 371.
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Anke Graneß
erfolgt in der christlichen Spätantike und im Mittelalter eine Theologisierung der Weisheit, insbesondere durch Augustinus. Hier wird eine bis heute fortwirkende Unterscheidung zwischen sapientia (Weisheit) auf der einen Seite, die nur durch Offenbarung zugänglich ist, und scientia (Wissenschaft) auf der anderen Seite, die ein Wissen um die weltlichen Dinge umfasst, eingeführt. In der Renaissance zerfällt das Verständnis von Weisheit gänzlich: Weisheit ist kein selbstverständliches Ideal mehr, sondern wird von verschiedenen Autoren sehr unterschiedlich verstanden: entweder als religiöses Phänomen oder als weltliches, entweder als göttliche Gabe oder als menschliche Eigenschaft. Insbesondere der Fortschritt in den Einzelwissenschaften in der Neuzeit hat die Spannung zwischen weisheitlichem Wissen und Wissenschaft radikalisiert. So vertritt der englische Empirismus (insbesondere John Locke) die Auffassung, dass nichts im Verstand sei, was nicht vorher bereits in den Sinnen war. Die zu erfahrende Realität ist dann mit der beobachtbaren identisch und ein Wissen, das über die Erfahrung hinaus geht, unmöglich. Als Konsequenz erfolgt eine Negation der Weisheit bzw. eine strikte Trennung zwischen Weisheit (als dem anderen, dem esoterischen Wissen) und dem wissenschaftlichen Wissen. Eine ähnliche Trennung hat auch in der westlichen Philosophie selbst stattgefunden: Dort wo sich Philosophie als Institution bzw. Fach versteht im System der Wissenschaften, nimmt man in der Regel Abschied von alten Weisheitsdefinitionen der Philosophie. Die moderne Wissenschaft wurde damit zur stärksten Herausforderung für die Weisheit: Sie hat weisheitliches Wissen nicht nur kritisiert, sondern schließlich aus dem Wissenskanon ausgegrenzt und letztlich ignoriert. Andere Formen des Wissens, wie mystische Schau, religiöse Offenbarung, normatives Traditionswissen, anonymes Erfahrungswissen oder subjektive Lebenserfahrung gelten nun nicht mehr als legitime Wissensquellen. 16 Während der Begriff der Weisheit in anderen Wissenschaften gerade eine Renaissance erlebt, spielt er in der westlichen Philosophie der Gegenwart nur eine untergeordnete Rolle. Eine kurze Recherche zum Begriff Weisheit in der jüngeren philosophischen Literatur macht deutlich, dass Diskussionen zum Begriff der Weisheit in Wellen erfolgen, aber eben keinen zentralen Platz in der Philosophie mehr einnehmen. 17 Gibt es eine Debatte um den Begriff der Weisheit 16 17
Vgl. A. Assmann: Weisheit, 27. Eine Debatte wurde u. a. Anfang der 1990er Jahre durch den Artikel von Stanley
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Interkulturelle Weisheitsforschung
in der Philosophie, dann dreht sich diese um die Frage, ob Weisheit eher eine Tugend sei (wie bei Platon) eine bestimmte Art des Wissens oder ein Bewusstseinszustand. Weisheit scheint für PhilosophenInnen heute ein verwirrender, suspekter und sehr unklarer Begriff zu sein. 18 Verwirrend ist z. B., dass Weisheit nicht einfach im Erwerben und Systematisieren von Wissen besteht – auch wenn sie auf Wissen beruht. Denn man kann eine Menge Wissen anreichern, ohne jemals Weisheit zu erlangen. Was ist dann also Weisheit?, fragen die Philosophen. Es ist nicht zuletzt der Skeptizismus des nachaufklärerischen Denkens, der den Begriff der Weisheit weiter diskreditiert hat. Wenn Weisheit als Wissen vom Guten verstanden wird, als Weg, wie wir wirklich unser Leben leben sollten, dann begegnet uns berechtigterweise der Skeptizismus aufklärerischer Denker wie Hobbes, Hume oder Kant, die jede Art absoluter Wahrheit über das Leben ablehnten und stattdessen behaupteten, dass es keinen dem Leben inhärenten Sinn gebe, sondern das Leben je die Bedeutung, den Sinn hat, den wir ihm zuschreiben. 19 Wird der Verlust der Weisheit im Rahmen der Philosophie heute beklagt, steht allerdings weniger ihre Funktion als Lebensratgeber im Mittelpunkt, sondern eher der Verlust eines ganzheitlichen Blicks auf die Welt und der praktischen Wirksamkeit philosophischen Wissens. In der europäischen Philosophie als Wissenschaft hat in den vergangenen 200 Jahren eine Entwicklung stattgefunden, die, ähnlich der in den anderen Einzelwissenschaften, zur Ausbildung eines gewissen Expertentums geführt hat. Die weisheitliche Dimension (ganzheitlicher Blick, praktische Relevanz) der Philosophie scheint in der technisch-philosophischen Sprache der gegenwärtigen Philosophen verloren gegangen zu sein. 20 Godlovitch »On Wisdom« entfacht, den dieser allerdings bereits 1981 veröffentlicht hatte. 18 Vgl. K. Nielsen: Philosophy and the Search for Wisdom. 19 K. Nielsen: Philosophy and the Search for Wisdom, 13. 20 U. a. Hans Waldenfels: Thesen zur Weisheit. Aus der Perspektive Asiens. In: W. Oelmüller: Philosophie und Weisheit, 9 ff. Waldenfels betont, dass angesichts des beginnenden interkulturellen Gesprächs abendländische Philosophie nicht umhin könne, ihr eigenes Weisheitsverständnis neu zu bedenken und neu zu artikulieren. Ähnliche Feststellungen lassen sich in vielen anderen Publikationen zum Weisheitsbegriff feststellen, u. a. im Stichwort Wisdom, der Routledge Encyclopedia of Philosophy. Eine Kritik an einer allesdurchdringenden Technisierung der Lebenswelt ist natürlich
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Anke Graneß
Das Verhältnis zwischen Weisheit und Wissenschaft, Weisheit und Philosophie sowie Philosophie und Wissenschaft in der westlichen Tradition steht weiterhin zur Debatte und wird durchaus sehr unterschiedlich, ja konträr bestimmt. 21 Wie diese Verhältnisse sich in anderen Regionen der Welt gestalten, ist dagegen eine noch wenig beleuchtete Frage, die allerdings sowohl für das Erfassen des Phänomens Weisheit als auch für das Selbstverständnis moderner Philosophie in einer globalisierten Welt von zentraler Bedeutung ist. Die interkulturelle Dimension von Weisheit wurde in der abendländischen Philosophie bisher (bis auf wenige Ausnahmen 22) weitgehend übergangen, dabei ist eine allgemeine Sinnsuche und Reflexion über menschliche Problembereiche in allen Kulturen dieser Welt vorzufinden. An dieser Stelle gibt es sicherlich noch reichlich Forschungspotenzial für eine nähere Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Weisheit. Ich möchte mich nun einem interkulturellen Anknüpfungspunkt aus der gegenwärtigen Forschung zuwenden.
3.
Die psychologische Weisheitsforschung
In den letzten Jahren haben sich mehrere psychologische Forschungsprojekte auf Spurensuche nach dem begeben, was Weisheit bzw. die psychologische Struktur weiser Menschen ausmacht. Ich möchte hier auf das »Berliner Weisheitsmodell« von Paul Baltes und Ursula Staudinger näher eingehen. 23 Der Psychologe und Gerontologe Paul Baltes (1939–2006) definiert Weisheit als »Orchestration of Mind and Virtue« (wie es im Titel eines Manuskripts aus dem Jahr 2004 heißt), also als ein harmonisches Zusammenspiel von Geist und Tugend. Wie ein Thema, das auch von anderer Seite in der Philosophie behandelt wurde (exemplarisch hier z. B. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband: Texte aus dem Nachlaß 1934– 1937. Hg. v. Reinhold N. Smid. Dordrecht u. a. 1993, Husserliana Bd. XXIX), führte hier aber nicht zu einem Rückgriff auf das Konzept der Weisheit. 21 Siehe u. a. die sehr unterschiedlichen Beiträge in W. Oelmüller: Philosophie und Weisheit. 22 Vgl. Curnow: Wisdom, Intuition and Ethics. 23 Siehe u. a.: P. Baltes/U. Staudinger: Wisdom: a metaheuristic … und P. Baltes: Wisdom as Orchestration of Mind and Virtue. Siehe auch die Literatur im Anhang. Weitere Modelle der psychologischen Weisheitsforschung sind die Balancetheorie der Weisheit von Robert Sternberg oder die dreidimensionale Weisheitstheorie von Monika Ardelt.
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Interkulturelle Weisheitsforschung
kommt er zu dieser Ansicht? Das Berliner Weisheitsmodell von Paul Baltes und seiner Kollegen am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung war mit einer umfangreichen empirischen Altersstudie verknüpft. In dieser umfangreichen Studie wurden ausgewählten Personen (unterschiedlichen Alters und Geschlechts) unter standardisierten Bedingungen Weisheitsaufgaben vorgelegt, sogenannte kurze Vignetten. Dabei handelte es sich um Lebensprobleme fiktiver Personen. Die Teilnehmer der Studie wurden gebeten, laut über die genannte Aufgabe nachzudenken und Lösungswege vorzuschlagen. Die Reflexionen wurden aufgezeichnet und später transkribiert. 24 Hier drei Beispiele: 1. Jemand erhält einen Anruf von einem guten Freund. Dieser sagt, er könne nicht mehr weiter, er werde sich das Leben nehmen. Was könnte man in dieser Situation bedenken und tun? 2. Ein 14-jähriges Mädchen will unbedingt sofort von zu Hause ausziehen. Was könnte man in dieser Situation bedenken und tun? 3. Manchmal denken Personen an ihr Leben zurück und stellen fest, dass sie nicht alles erreicht haben, was sie sich vorgenommen hatten. Was könnte man in dieser Situation bedenken und tun? Die Protokolle des Nachdenkens der Testpersonen wurden später von trainierten GutachternInnen nach fünf »Weisheitskriterien« beurteilt. Diese fünf »Weisheitskriterien« basieren im Wesentlichen auf sieben Eigenschaften der Weisheit, die Paul Baltes anhand einer kulturhistorischen Analyse identifiziert hat (beginnend bei der Weisheitsliteratur im alten Mesopotamien und Ägypten über Konfuzius und Buddha, die Weisheit des Alten Testaments sowie der westlichen Philosophie von den alten Griechen bis zum amerikanischen Pragmatismus). Zudem hat er Ergebnisse der Expertiseforschung (für die beiden ersten) und der »Lifespan-Psychology« (für die letzten drei) mit herangezogen. 25 Die sieben Eigenschaften der Weisheit sind, laut Baltes, die folgenden: 1. Weisheit beschäftigt sich mit wichtigen und schwierigen Fragen und Strategien hinsichtlich der Bedeutung und des Sinns des Lebens sowie eines angemessenen Verhaltens. 24 25
Projektbeschreibung in Baltes/Staudinger: »Wisdom: A Metaheuristic …«, 126. Baltes/Staudinger: Wisdom: A Metaheuristic …, 124–125.
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2.
Weisheit umfasst ein Wissen über die Grenzen des Wissens und die Unsicherheiten der Welt. 3. Weisheit beruht auf einem hohen Niveau des Wissens, der Urteilskraft und der Fähigkeit, Rat zu geben. 4. Weisheit ist ein Wissen von einer außerordentlichen Breite, Tiefe und Ausgewogenheit. 5. Weisheit umfasst eine perfekte Synergie von Geist und Charakter, d. h. eine Harmonie von Wissen und Tugend. 6. Weisheit kann definiert werden als Wissen, dass zum Nutzen und Wohlergehen der Person selbst oder von anderen eingesetzt wird. 7. Auch wenn es schwierig zu erreichen und zu definieren ist, kann Weisheit leicht erkannt werden, wenn sie sich manifestiert. 26 Es war explizit das Anliegen der Autoren dieser Studie, Kriterien auf einer Metaebene zu finden, die es ermöglicht, eine Weisheitsdefinition zu finden so unabhängig wie möglich von spezifischen Problemen oder Bereichen des Lebens, ebenso wie vom kulturellen oder historischen Kontext – also eine nahezu überzeitliche und überkulturelle Definition von Weisheit. 27 Die nun festgelegten Weisheitskriterien sind die folgenden: • Reiches Faktenwissen, d. h. Wissen über Themen wie die menschliche Natur, lebenslange Entwicklung, Unterschiedlichkeiten in Entwicklungsprozessen und -ergebnissen, soziale Beziehungen, soziale Normen etc. • Reiches prozedurales Wissen, d. h. ein Wissen über Strategien für den Umgang mit Lebenssituationen (wie man komplexe Entscheidungssituationen angehen kann, Konfliktmanagement, Wissen über Alternativstrategien etc.) • Wert-Relativismus und Toleranz, d. h. Erkennen und Tolerieren der Unterschiedlichkeit und Relativität der Werte von Einzelpersonen und gesellschaftlichen Systemen. • Lebensspannen-Kontextualismus, d. h. ein Bewusstsein darüber, dass der Kontext das Verhalten von Menschen mit bedingt, z. B. unterschiedliche Prioritäten je nach Alter oder nach Situation gesetzt werden und dass kulturelle, geographische und historische Unterschiede in Lebenskontexten bestehen.
26 27
Baltes: Wisdom as Orchestration of Mind and Virtue, 17. Staudinger/Baltes: Weisheit als Gegenstand psychologischer Forschung, 60.
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Interkulturelle Weisheitsforschung
Wissen um und Umgang mit Unsicherheit, d. h. ein Bewusstsein darüber, dass es wenige »gesicherte Wahrheiten« gibt, dass Menschen die gleiche Realität unterschiedlich wahrnehmen und dass man die Zukunft nicht hunderprozentig vorausplanen kann, denn a) ist die menschliche Kapazität der Verarbeitung von Informationen begrenzt; b) haben Individuen nur Zugang zu ausgewählten Teilen der Realität und c) kann die Zukunft vorher nicht vollkommen erkannt werden. Weisheitliches Wissen und Urteilen eröffnet Wege und Mittel, um mit solchen Unsicherheiten hinsichtlich der Erkenntnisfähigkeit des Menschen und der Bedingungen in der Welt umzugehen, sowohl auf der Ebene des Individuums als auch auf gemeinschaftlicher Ebene. 28 Für die GutachterInnen gab es eine siebenstufige Skala (von »sehr wenig« bis »sehr stark« einer idealen Antwort entsprechend) anhand derer sie die Antworten bewerteten. Am Ende wurde ein Mittelwert über die genannten fünf Kriterien ermittelt. Als weise wurden jene Personen eingestuft, die eine relativ hohe Beurteilung in allen fünf Kriterien erhielten. Die Studie führte zu einigen interessanten Ergebnissen. Zu den verblüffendsten gehört vielleicht, dass es in den »Weisheitsleistungen« einen steilen Anstieg zwischen dem 15. und dem 25. Lebensjahr gibt, danach jedoch nicht mehr. Alter und Weisheit sind also gar nicht so eng miteinander verbunden, wie es im Allgemeinen angenommen wird. Vielmehr wird deutlich, dass das Erlangen von Weisheit auf dem komplexen Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren beruht. Zu den durch die Studie herauskristallisierten Faktoren, die weisheitliches Denken charakterisieren, gehören die Folgenden: Weisheit beschäftigt sich mit wichtigen und schwierigen Fragen nach dem Sinn des Lebens und Fragen praktischer Lebensführung. Sie ist ein Wissen, das eng mit dem Handeln verbunden ist. Weisheit ist zudem ein Wissen über die Grenzen des Wissens und über die Unsicherheit bzw. Veränderbarkeit der Welt. Sie unterscheidet sich damit deutlich von technologischem Wissen oder anderen Formen des Expertentums. Es handelt sich um eine besondere Form der Urteilskraft, die sich durch eine besondere integrative Qualität auszeichnet, eine besondere Balance und Ausgewogenheit. Wissen und Tugend hängen in engem Maße zusammen, d. h. es handelt sich um ein enges Zusammenspiel von Wissen um ein gutes und gerechtes Leben und der Um•
28
Alle Kriterien in Baltes/Staudinger: Wisdom: A Metaheuristic …, 122–136.
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setzung in die Praxis. Weisheit steht jeder Dogmatik fern, alles steht grundsätzlich einer kritischen Prüfung offen. Weisheit betont die Verwobenheit und Einheit des Lebens. Sie betont die umfassende Kontextualisierung der menschlichen Existenz. Zusammengefasst definiert Baltes Weisheit als eine Art von Wissen, das sich auf die fundamentale Pragmatik des Lebens bezieht. 29 Sie umfasst eine ausgewogene Toleranz gegenüber Verschiedenheit, ein Wissen über Grenzen und ein souveränes Umgehen mit Ungewissheit. Weisheit wirkt als eine kognitive und motivationalemotionale Heuristik, die das Zusammenspiel von Geist und Tugend orchestriert, wie Baltes es ausdrückt 30, d. h. sie ist die Fähigkeit, mit komplexen Problemen auf eine erfolgreiche Weise so umzugehen, dass Geist und Wert, Denken und Handeln, Sein und Sollen in ein hohes Maß von Übereinstimmung gebracht werden. Weise Menschen sind für uns Ansprechpartner, weil sie in ungewöhnlichen oder unsicheren Situationen Orientierung geben können. Damit ist in etwa umrissen, was Weisheit ist. Aber wer kann Weisheit erlangen? Nach den Ergebnissen der psychologischen Weisheitsforschung grundsätzlich jeder Mensch – aber nicht jeder wird von seinen Anlagen Gebrauch machen bzw. werden sich nicht in jedem Menschen die verschiedenen Faktoren, die zur Erlangung weisheitlichen Denkens nötig sind, optimal kreuzen. Zu den Faktoren, die das Erlangen von Weisheit beeinflussen, gehören laut Baltes neben allgemeiner Intelligenz auch soziale Intelligenz, Kreativität, Offenheit für Erfahrungen, Motivation, Interesse, Lebenserfahrung, aber auch lebensgeschichtliche Faktoren wie das Übernehmen einer Eltern- oder Mentorenrolle oder ein helfender Beruf. Besonders wichtig bzw. einflussreich für die Entwicklung weisheitlichen Denkens ist die interaktive Auseinandersetzung, d. h. der zwischenmenschliche AusWisdom is »… expertise in the fundamental pragmatics of life and operationalized as high-level knowledge and judgment with regard to difficult problems of life planning, life management, life review.« Staudinger/Baltes: Weisheit als Gegenstand psychologischer Forschung, 58. 30 »… wisdom is a metaheuristic, that is a heuristic [heuristic in the sense of a highly automatized and organized strategy for directing search processes or for organizing and using information in a certain class of situations, see Baltes/Staudinger: »Wisdom: A Metaheuristic …«, 131] that organizes, at a high level of aggregation, the pool (ensemble) of bodies of knowledge and commensurate, more specific heuristics that are available to individuals in planning, managing and evaluating issues surrounding the fundamental pragmatics of life.« Baltes/Staudinger: Wisdom: A Metaheuristic …, 132). 29
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Interkulturelle Weisheitsforschung
tausch, die zwischenmenschliche Erfahrung – und dies hängt dann in gewissem Sinne doch wieder mit Lebenserfahrung bzw. der Anzahl der geführten Dialoge und Auseinandersetzungen zusammen, die mit wachsendem Alter beständig zunimmt. Gerade in dieser Beziehung schnitten ältere Versuchspersonen besser ab als jüngere. Welche Bedeutung haben nun die Ergebnisse der psychologischen Weisheitsforschung für die Philosophie? Und lassen sich die hier eingeführten Kriterien und Methoden interkulturell verallgemeinern bzw. anwenden?
4.
Henry Odera Oruka und die Weisheitsphilosophie in Afrika
Stephen M’Mukindia Kithanje, geboren 1922 in Meru (Kenia), war Hirtenjunge und hat nicht mehr als eine sechsmonatige Schulbildung erhalten. Trotzdem galt er in seinem Bezirk als Autorität in Fragen von Tradition und Bräuchen und wurde häufig von Menschen aufgesucht, die ihn in verschiedenen Angelegenheiten um Rat fragen. Kithanje war später Mitautor eines Buches über die Traditionen und Kultur der Ameru, eines Bantu-Volkes in der Region Meru. Kithanje macht einige sehr interessante Ausführungen zum Begriff der Weisheit. 31 Für Bruce Janz liefert er uns gar eine ganze Theorie der Weisheit: »… an entire theory of wisdom, which accounts for why some are wise and others are not, where wisdom comes from, and how one might recognize a wise person.« 32 Weise sind für Kithanje Menschen, die die Möglichkeit haben, Einsichten in die gesellschaftlichen Probleme zu gewinnen und Lösungen zu finden, die allen anderen zugute kommen. Alle Menschen werden mit der Anlage zur Weisheit geboren, doch nur wenige können diese Anlage entwickeln. Eine Reihe externer und interner Faktoren begrenzen den Zugang zur Weisheit. Zu den externen Faktoren zählt Kithanje den Hunger, und zwar den Hunger des Magens einerseits und den Hunger der Augen und Ohren andererseits, der die Menschen statt nach der Wahrheit zu suchen in die Welt der Erscheinungen leite. Zu den inneren Faktoren zählt er die Ängste der Menschen, zum Beispiel die Angst, dass ihren Einsichten kein Glauben 31 32
H. Odera Oruka: Sage Philosophy, 128 ff. B. Janz: Philosophy in an African Place, 106.
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geschenkt werden könnte. Ein Weiser beschäftige sich mit den folgenden drei Fragen: Wo waren wir? (Vergangenheit) Wo sind wir? (Gegenwart) und Wo gehen wir hin? (Zukunft). Während eine nichtweise Person vorrangig mit der Gegenwart beschäftigt sei und die Dimension der Vergangenheit und Zukunft vernachlässige, zeichne es den Weisen aus, dass er die Implikationen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in jeder Lebenserfahrung nachvollziehen könne. 33 Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Begriff von Weisheit, wie er hier von Stephen Kithanje dargelegt wird und jene Definition, die Paul Baltes uns anbietet, sich in einigen Punkten sehr ähneln. Hier wird deutlich, dass nicht nur ausgeführte Weisheit (trotz aller kontextuellen Bedingtheit, die sie ja zu einem wichtigen Werkzeug macht, um mit der Komplexität des Lebens umzugehen 34) eine Art von Wissen ist, das in der Lage ist, sprachliche, kulturelle und religiöse Grenzen zu überschreiten, sondern dass auch das Verständnis dessen, was als Weisheit betrachtet werden kann, sich interkulturell durchaus ähnelt. 35 Die Aufzeichnung der Aussagen von Stephen Kithanje ist das Verdienst des kenianischen Philosophen Henry Odera Oruka (1944– 1995), einer der einflussreichsten und am meisten rezipierten Philosophen Afrikas. Sein Projekt der Weisheitsphilosophie (Sage Philosophy) 36 hat ihn auch über die Grenzen Afrikas hinaus bekannt gemacht. Es findet heute Erwähnung in einschlägigen Übersichtswerken wie der Stanford Encyclopedia of Philosophy 37 oder im Historischen Wörterbuch der Philosophie von Ritter/Gründer. Das Projekt der Weisheitsphilosophie wurde im Jahr 1974 initiiert. Im Rahmen dieses Projektes hat Odera Oruka gemeinsam mit seinen Mitarbeitern Interviews mit Männern und Frauen aus Kenias Dorfgemeinschaften, die innerhalb ihrer Gemeinschaften als Weise H. Odera Oruka: Sage Philosophy, 128–130. »Das kulturelle Gedächtnis ist die Mutter aller Weisheit«, heißt es in Baltes/Staudinger: Wisdom: A Metaheuristic …, 123. 35 Zumindest in diesem Beispiel ist dies der Fall. Sicherlich lassen sich noch weitere finden. Sicherlich gibt es aber auch divergierende Definitionen von Weisheit, und zwar bereits innerhalb einer Kultur, wie z. B. der westlichen. 36 Siehe auch Graneß, Anke: Das menschliche Minimum, ab 75. Siehe auch H. Odera Oruka: »Sagacity in African Philosophy«, in: The International Philosophical Quarterly, N.Y., Dec. 1983. Dieser Text gibt einen generellen Überblick über die Ergebnisse seiner Untersuchung, die in Kenia in der Zeit von 1974 bis 1978 über das Thema »Denken traditioneller kenianischer Weiser« durchgeführt worden ist. 37 http://plato.stanford.edu/entries/african-sage/. 33 34
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(sages) gelten, geführt, aufgezeichnet und auf ihre philosophische Relevanz hin untersucht. Die Mehrzahl der befragten Personen waren Analphabeten. Mit ihnen wurden Interviews zu philosophisch interessanten Fragen und Begriffen (wie Wahrheit, Gott, das gute Leben, Weisheit, Tod) geführt. Die Interviews wurden in der jeweiligen Muttersprache geführt, mit einem Aufnahmegerät aufgezeichnet und später in eine schriftliche Form überführt. 38 Zentraler Punkt dieses nicht nur gegen europäische Vorurteile von der Nichtexistenz philosophischen Denkens in Afrika, sondern ebenso gegen innerafrikanische ethnophilosophische Tendenzen gerichteten Ansatzes ist die Abgrenzung von der These der Existenz einer Art kollektiven Philosophie in Afrika, die sich in afrikanischen Mythen, Märchen und Sprichwörtern oder sprachlichen Eigenheiten manifestiere, und die Betonung der Bedeutung einzelner, kritisch denkender Individuen innerhalb afrikanischer Gemeinschaften. Indem man mit den lebenden Weisen spricht, bekomme man möglicherweise einen Eindruck von dem, was in vorkolonialer Zeit gewesen ist. Im Übrigen seien die Gedanken solch lebender Weiser in sich wertvoll. Den Wert solcher Gedanken vorzustellen, ist ein anderes wichtiges Ziel der Untersuchung Odera Orukas. 39 Weisheit bedeutet für Odera Oruka die Fähigkeit, Wissen sinnvoll zum Wohl der Gemeinschaft anzuwenden. Der Weise ziele auf die ethische Verbesserung der Gemeinschaft, in der er oder sie lebe. 40 Odera Oruka bezeichnet eine Person als weise, die mit den kulturellen Ansichten und Normen sowie den Mythen ihrer Gemeinschaft vertraut ist und in dieser Hinsicht von den Mitgliedern ihrer Gemeinschaft respektiert und um Rat gefragt wird. Ein philosophischer Weiser zeichnet sich laut Odera Oruka dadurch aus, dass er nicht bei der Vermittlung des überkommenen Wissens der Gemeinschaft stehen bleibt, sondern dieses einer kritischen Evaluierung unterzieht, Distanz dazu gewinnt und seinen eigenen begründeten Standpunkt findet, der auch in eine Ablehnung der überkommenen Prinzipien münden kann. 41 Zudem zeichne sich Weisheit dadurch aus, dass sie zum Nachzulesen sind ausgewählte und ins Englische übertragene Interviews in dem Band Sage Philosophy (1990) bzw. Oginga Odinga – His Philosophy and Beliefs (1992). 39 Vgl. Odera Oruka: Grundlegende Fragen … in: F. M. Wimmer: Vier Fragen …, 48. 40 Odera Oruka in: A. Graness/K. Kresse: Sagacious Reasoning, 254. 41 Vgl. Odera Oruka: Sage Philosophy, 36 oder Odera Oruka in: A. Graness/K. Kresse: Sagacious Reasoning, 254. 38
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Wohle der Gemeinschaft eingesetzt werde, also praktische Relevanz habe. Weisheit ist für Odera Oruka kein historischer Begriff und sein Projekt der Weisheitsphilosophie keines, das nur eine historische Dimension hat und auf die Untersuchung von weisen Menschen in traditionellen Dorfgemeinschaften beschränkt ist. Er betont vielmehr, dass weder Alter noch Geschlecht, weder die Fähigkeit zum Schreiben noch der Mangel an dieser Fähigkeit, weder das Leben in ländlichen Gebieten noch in Städten ein Ausschlusskriterium dafür sein sollte, als Weiser in Betracht gezogen zu werden. 42 Somit ist die Suche nach Weisheit eben auch keine historische Aufgabe für die Geschichtsbücher, sondern ein Beitrag dazu, Perspektiven und Lösungen für die heute anstehenden Aufgaben und Herausforderungen in Afrika zu finden. 43 Und noch ein weiteres Merkmal seines Weisheitsbegriffs muss hier erwähnt werden: Weisheit ist kontextuell gebunden. Was in einer Kultur als weise gelten mag, kann in einer anderen nicht dieselbe Bedeutung haben. Oder wie Odera Oruka es ausdrückt: »Much depends on the beliefs and dominant activities of the culture in consideration. For example, people who do not eat fish and never engage in fishing may not really appreciate wisdom that explains the art of fishing.« 44 Trotzdem hat Weisheit für Odera Oruka eine interkulturelle Dimension. So bezieht er sich mehrfach auf die Vorsokratiker als Beispiel für Weisheitsphilosophen außerhalb Afrikas sowie auf Sokrates und dessen Weisheitsbegriff. 45 Mit Bezug auf Sokrates hebt Odera Oruka vor allem dessen dialogisches Prinzip hervor und die Bedeutung der Weisheit für die ethische Weiterentwicklung der Gemeinschaft. Weisheit scheint für ihn also sowohl eine kulturelle als auch eine interkulturelle Dimension zu umfassen. Odera Oruka trifft noch eine weitere Unterscheidung: Er unterscheidet zwischen philosophischen Weisen und Volksweisen. Philosophische Weise sind in der Lage, neue Regeln und Normen aufzustellen und diese zu begründen bzw. Alternativen zu den gemeinhin akzeptierten Auffassungen und Praktiken vorzuschlagen. Volksweise Siehe u. a. das Interview mit Oginga Odinga, Kenias erstem Vizepräsidenten nach der Unabhängigkeit, späterer Oppositionsführer und sicherlich kein »traditioneller« Weiser. 43 Siehe G. Presbey: Who counts as a sage?. 44 Odera Oruka: Sage Philosophy, 53. 45 Siehe Odera Oruka: Sage Philosophy, Einleitung. 42
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zeichnen sich im Gegensatz dazu dadurch aus, dass sie die überkommenen Ansichten kritiklos weitergeben und insofern nur die Funktion eines Vermittlers übernehmen. 46 Es lag nun am Geschick des jeweiligen Interviewers, den Dialog so zu führen, dass der Weise zu einer Begründung seiner Aussagen herausgefordert wurde. Orientiert hat sich Odera Oruka hierbei an den sokratischen Dialogen, in denen Sokrates eine Art »Hebammenfunktion« übernimmt und mit seinen provokanten Fragen versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen. 47 Odera Orukas Ansatz hat in Afrika Widerhall und Nachahmer gefunden, ist aber durchaus auch auf heftige Kritik gestoßen. Ein Kritikpunkt betrifft u. a. die Unterscheidung zwischen philosophischen Weisen und Volksweisen, aber auch seine Interviewtechnik. Beide Punkte hängen in gewisser Weise zusammen. Soweit ich sehe, lässt sich die Kritik an seinem Projekt auf die folgenden vier Punkte zusammenführen: • Odera Oruka und seine Mitarbeiter haben sich keiner in der Soziologie, Anthropologie oder in anderen einschlägigen Wissenschaften entwickelten Interviewtechnik bedient. Vielmehr war es dem Einfallsreichtum des Interviewers überlassen, sich Fragen zu überlegen und diese zu stellen und den Weisen in ein philosophisch-kritisches Gespräch zu verwickeln. D. h. es gab keinen ausgearbeiteten Fragekatalog. • Es ist kritisch zu hinterfragen, ob im Frage-Antwort-Spiel und durch die Art, wie das Interview geführt wird, die Antworten bereits vorbestimmt wurden. Dieser Schwierigkeit anthropologischer bzw. philosophischer Feldarbeit waren sich die Ausführenden zu wenig bewusst. 48 • Aufgrund des fehlenden Fragekatalogs verfolgten die Interviewer keine klare Linie in den einzelnen Gesprächen mit den Weisen. Obwohl einige Fragen sich in den Interviews ähneln, nahm jedes Gespräch seinen sehr eigenen Verlauf. Damit ist kein direkter Vergleich der Antworten möglich, was eine konkrete Analyse des Weisheitswertes der Antworten erschwert. AufOdera Oruka in F. M. Wimmer: Vier Fragen, 37. Odera Oruka: Sage Philosophy, 31–32. 48 Ein Vertreter dieser Art der Kritik ist Wim van Binsbergen. Er kritisiert, dass die Feldarbeit, insbesondere die Interviewtechnik von Philosophen, meist hoffnungslos defizitär sei. W. Van Binsbergen: Intercultural encounters, 497. In eine ähnliche Richtung geht die Kritik von B. Janz: Philosophy in an African Place, 111–113. 46 47
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grund der mangelnden Vergleichbarkeit steht natürlich auch die Unterscheidung zwischen philosophischen Weisen und Volksweisen auf einem wackeligen Grund. • Im Frage-Antwort-Spiel kommt es zu keinem wirklichen Sokratischen Dialog. Interessanter als zu fragen »Was ist Religion? Was ist Gott? Was ist die Wahrheit?« wäre es gewesen, konkrete Fallbeispiele zu diskutieren, anhand derer ethisch-moralische, ontologische oder epistemologische Grundsätze deutlich werden können. Diesen Kritikpunkten könnte nun möglicherweise mit Methoden, die im Rahmen des Berliner Weisheitsmodells entwickelt wurden, begegnet werden, insbesondere mit der Methode Weisheitsaufgaben (Vignetten) zu stellen. Zum einen könnte es anhand konkreter Aufgabenstellungen besser gelingen, ethische, epistemologische oder kosmologische Grundsätze (in der Tradition und der Gegenwart!) aufzuspüren, da der oder die Weise größeren Freiraum hätte, ihr Wissen und ihre Vorstellungen zu entfalten. Eine Einsicht in den Prozess weisheitlichen Denkens wäre so eher möglich. Zudem wäre der Eingriff in die jeweilige Denkweise bzw. Entwicklung der Gedanken geringer als bei einem Frage-Antwort-Spiel. Und zum dritten wären die jeweiligen Antworten und zugrundeliegenden Denkprozesse vergleichbarer. Eine Unterscheidung zwischen philosophischen und Volksweisen stände dann auf einer sichereren Basis. Dabei könnten in der Praxis die oben genannten Weisheitsaufgaben fast unverändert gelassen oder müssten nur marginal angepasst werden, da die in den Vignetten umschriebenen Umstände im Wesentlichen eine überkulturelle, ja auch überzeitliche Geltung haben; beschreiben sie doch Situation der Ausweglosigkeit, Fragen nach der Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und die Frage nach dem Sinn des Lebens. Es können aber natürlich ebenso Weisheitsaufgaben formuliert werden, die in engem Bezug zum jeweiligen Kontext stehen. Mit einer Auswertungsmethode wie im Berliner Modell könnte dann weisheitliches Denken genauer unterschieden werden von einem Denken, dass diesem Anspruch nicht gerecht wird. Solche Unterscheidungen sind keinesfalls banal und haben nicht nur eine rein theoretische Bedeutung, sondern durchaus praktische Auswirkungen. Es ist eine ständige Herausforderung, im modernen Afrika (wie auch anderswo auf der Welt), zu entscheiden, welche Traditionen, Werte und Normen bewahrenswert sind und welche nicht. Dabei 142 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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geht es zumeist um die Vermittlung zwischen den Rechten kultureller, religiöser oder anderer Arten von Gemeinschaften und dem individuellen Recht auf selbstbestimmte Lebensführung (u. a. Rechte der Frauen und Kinder) oder um das Überleben kultureller und sprachlicher Gemeinschaften angesichts nationaler, ökonomischer und politischer Interessen. Die brennende Frage in diesem Zusammenhang ist, auf welcher rationalen Basis man kulturelle Praktiken beibehalten, modifizieren oder ablehnen sollte. Gerade auch in den Interviews Odera Orukas mit kenianischen Weisen wird deutlich, dass viele von ihnen Reformen offen gegenüber standen bzw. zu Reformen und Neuerungen in ihren Gemeinschaften beigetragen haben. 49 Beispiele für solche Konflikte betreffen oft die Position der Frau in der afrikanischen Gesellschaft. Die nigerianische Philosophin Nkiru Nzegwu kritisiert in ihrem Buch Family Matters (2006) die Instrumentalisierung »traditioneller Werte« bei der Einschränkung der Rechte der Frauen. In der Rechtspraxis gibt es einige solcher Fälle. Dabei sind Traditionen (und das ist der wesentliche Punkt ihrer Kritik) nur allzu oft Interpretationen oder Konstruktionen weißer Missionare und Kolonialbeamter, die die Rolle der Frau in Afrika durch ihre westliche Brille und in Übereinstimmung mit den binären Ideen Europas neu definierten. Was also als »afrikanische Tradition« oder »kultureller Brauch« betrachtet wird, widerspiegelt oft nicht die vorkoloniale Realität, sondern einen kolonialen Blick auf die afrikanische Gesellschaft, der hier unkritisch und unreflektiert übernommen wird. Die Frage, warum Frauenrechte also so leicht kulturellen Rechten unterworfen werden und auf welcher Basis dies erfolgt, ist eine immanent politische, die eine genaue Analyse indigener Kulturen und ein genaues Abwägen von Einzel- und Gemeinschaftsinteressen benötigt. Philosophische Weisheit mag bei der Lösung so schwieriger Aufgaben durchaus hilfreich sein, indem sie sowohl die individuelle als auch die gemeinschaftliche Perspektive im Blick behält, sowohl traditionelle Ansprüche als auch die eines modernen Lebens, in dem sie Widersprüche und Probleme im konventionellen Blick auf die Ge-
Odera Oruka selbst wurde als fachlicher Berater in einem Konflikt dieser Art von einem kenianischen Gericht im Falle eines Streits um ein Beerdigungsrecht herangezogen. Siehe in Odera Oruka: Sage Philosophy, das Kapitel The S. M. Otiena Burial Saga: A Debate on the Application of Sage-Philosophy, 65–82. Siehe auch P. Stamp: Burying Otieno.
49
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meinschaft offenbart und offen ist für Veränderungen zum Wohle der Gemeinschaft.
Schluss Das Verhältnis zwischen Philosophie und Weisheit sollte nicht nur neu bedacht werden, da der Begriff Philosophie etymologisch etwas mit Weisheit zu tun hat und eine Auseinandersetzung mit Weisheit sozusagen zum Fach gehört, sondern vor allem, um die weisheitliche Dimension der Philosophie, die heute weitgehend verloren scheint, wieder zu entdecken und damit die gesellschaftliche Relevanz unserer philosophischen Arbeit zu stärken. Heute ist die Ansicht weit verbreitet, dass Weisheit und moderne Philosophie nichts miteinander zu tun hätten, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen dem Denken eines Weisen und »modernen« Denkern von Hume und Kant bis Russell, Rorty und Habermas gebe. Weisheit wird in dieser Betrachtungsweise häufig als eine Art »traditionelles« Denken verstanden, im Gegensatz zur Philosophie, die als wissenschaftliches Denken betrachtet wird. Ist Weisheit also nicht mehr zeitgemäß in unserem Jahrhundert? Müssen wir als Philosophen und Philosophinnen die Suche nach Weisheit aufgeben und uns in unserer Tätigkeit einem bestimmten wissenschaftlich-analytischen (heute vor allem amerikanisch geprägten) Wissenschaftsideal unterwerfen? Sollen wir die Beschäftigung mit Weisheit anderen Wissenschaften überlassen? Ich denke nicht, denn die Abwendung vom Konzept der Weisheit hat im Falle der Philosophie zu einer wachsenden Unfähigkeit und Inkompetenz sowohl bei der Beeinflussung des öffentlichen als auch des privaten Lebens geführt. Heute finden sich ausgesprochen selten PhilosophenInnen unter den Mitgliedern beratender Gremien von Politik und Regierung. Und im privaten Leben greifen Menschen, wenn sie Fragen zum Sinn des Lebens haben, lieber auf die Hilfe eines Psychologen oder Therapeuten zurück. Odera Orukas Lösung für das Dilemma heutiger Philosophie lautet: »Philosophy must be made sagacious!« 50, der Philosophie Oder wie es Kai Kresse ausdrückt: »… one can say with Odera Oruka’s approach, it was compulsory that ›philosophy must be made sagacious‹ on the one hand, and that on the other sagacity would have to be philosophical, i. e. usable sagacity for current
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müsse ihre weisheitliche Dimension zurück gegeben werden. Und dies bedeute in erster Linie, dass sie praktisch relevant werden müsse. Aber wie kann sie das? In erster Linie bedarf es dazu einer Stärkung ihrer lokalen, kontextuell gebundenen Seite. Philosophie ist immer gebunden an eine Kultur, eine Gesellschaft, einen bestimmten Ort – und müsse sich dieser Verwurzelung stärker bewusst werden. Für Odera Oruka ist Philosophie beides: sowohl kulturell bestimmt als auch eine universale Art des Denkens. 51 Und beide Seiten müssen in unsere philosophische Arbeit einfließen. Eine praktische Umsetzung philosophischer Konzepte könne dann vor allem über den Einfluss auf Bildungssysteme erfolgen. Eines der größten Defizite gegenwärtiger Wissenssysteme (und die Philosophie ist eines davon) ist deren Fragmentierung und der Mangel an zielorientierter Zusammenarbeit, wie sich u. a. eindrucksvoll in der breiten Debatte zum Thema globale Gerechtigkeit widerspiegelt, die oft das eigentliche Ziel der Diskussion aus den Augen verliert, nämlich nicht nur elaborierte Argumente zu erzeugen, sondern das Welthungerproblem zu lösen. Weisheit wirkt solcher Fragmentierung von Wissen entgegen. Um ihr Potenzial zu entfalten muss die Weisheitsforschung re-integiert werden in die akademische Philosophie (einschließlich philosophischer Feldarbeit bzw. empirischer Studien) – und umgekehrt: Philosophie muss in die Weisheitsforschung anderer Disziplinen mit integriert werden. Meiner Meinung nach eröffnet uns die psychologische Weisheitsforschung einen interessanten Ansatz, der durch weitere philosophische Aspekte, wie die Analyse der diesem Ansatz unterliegenden theoretischen Voraussetzungen oder ethischer Fragen zum Verhältnis Interviewer – Interviewter, bereichert werden kann. Zudem kann die psychologische Weisheitsforschung das Projekt der Weisheitsphilosophie methodisch bereichern – ein Projekt im Übrigen, das nicht auf Afrika beschränkt bleiben muss. Sich zu fragen, wo heute die Weisen in Europa oder in anderen Teilen der Welt sitzen, wäre sicherlich ein lohnenswertes Unternehmen. Die Ergebnisse der psychologischen Weisheitsforschung zeigen, dass Weisheit kein traditionelles oder historisches Wissen ist, sondern dass Weisheit in practical problems would have to be philosophical (well-founded, clear and flexible).« A. Graness/K. Kresse: Sagacious Reasoning, 16. 51 »… both culturally determined and a universal mode of thought«, Kai Kresse in A. Graness/K. Kresse: Sagacious Reasoning, 15).
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einer besonderen Beziehung zwischen Geist und Tugend, zwischen Wissen und der Anwendung ebendiesen Wissens besteht – eine Verbindung, die von großer Bedeutung bei der Lösung grundlegender Probleme des menschlichen Lebens ist – sowohl auf der individuellen als auch auf der gemeinschaftlichen Ebene. Weisheitsforschung heute muss sowohl interkulturell als auch interdisziplinär betrieben werden – als eine Art der Forschung, die gegen die Fragmentierung unserer Welt arbeitet.
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In Philosophy in an African Place and related papers, I constructed a theory of philosophy-in-place which both drew from African philosophy and helped to clear away some problematic barriers within that field. In particular, I distinguished between spatial and platial philosophy, or philosophy meant to defend a territory and define intellectual borders and citizenship as opposed to philosophizing in a place, from African lived experience. I have argued that it is possible to take philosophy’s »debts and duties« seriously, that is, the context of the production and reception of its concepts, without having this enterprise turn into a version of anthropology, sociology, or some other discipline than philosophy. Philosophy-in-place is my way of trying to deal with several issues within African philosophy, which have limited it from the beginning. What are these issues? 1. There has been a controversy concerning the place of tradition – is »real« African philosophy traditional philosophy, or is it modern, or something else? This is often understood as the debate about ethnophilosophy. 2. There is the problem of the scope of African philosophy. Africa is, after all, a construct, at least of many nations, ethnicities, and languages, existing at different levels. Where does it exist? And more importantly, are we required to establish the conditions of its identity first, and only then ask about how it manifests itself within Africa? 3. There is the question of capturing and enabling lived African experience. Are the concepts and methods that have a provenance in Western thought adequate to accomplish this, and if not, what would it mean to have concepts and methods sensitive to the places where they are needed, rather than only relevant to other places?
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There is finally the question of the orientation of African philosophy. Is it an enterprise that chiefly describes and interprets a given set of concepts in an area, or does it potentially do something else? I would argue that the creation of concepts is a crucial aspect of philosophy, particularly in Africa. Concepts which are adequate to the place, that is, which address questions that arise in a place, are a central goal of a mature philosophy, and one which I believe is often overlooked in African philosophy. The imperative of the area has often been an external question, imposed by a skeptical outside world: »Is there such a thing as African philosophy?« This question, if taken as the central focus of the field, curtails the more creative question that becomes available when the place is taken seriously: »What does it mean to do philosophy in this (African) place?«, which might be paraphrased as »How are concepts created that are adequate to the social, political, and historical realities of this place?« Only with an African question can we hope to create concepts adequate to Africa’s future. Within African philosophy (and, I would argue, beyond African philosophy as well), there are three key aspects to understanding how philosophy might operate in place. 1. The first is to understand the senses of place, that is, the ways in which place is used as a concept, and the ways in which philosophy has engaged place. 2. The second is to understand the elements of place, that is, the ways in which philosophy-in-place is composed. 3. The third is to understand the questions of place. Once we have a sense of how place works for philosophers, questions rooted in a place can produce concepts that attend to that place. We then have what I call »philosophy-in-place.«
The Senses of Place »Place« is not a single concept, but is shorthand for a range of concepts, some of which exist in tension with others. These concepts have developed in their own (disciplinary) places to answer specific questions and fill specific needs. Philosophy has come late to this discussion – there is a great deal on philosophy of place, but very little on philosophy-in-place. The place of place in philosophy has to be devel150 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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oped in light of the questions that are raised in different places. My example here will be African philosophy, which provides an excellent site for thinking about the nature of place in philosophy. When we think of place, we implicitly work with several possible tensions, depending on the circumstance. We might distinguish place from space, for instance, and do so in a number of ways. Place might be the human experience, and space may be the abstraction from that experience. Place may be the given, and space may be the practiced (e. g., de Certeau). Place could be the raw material for spatial networks, the nodes that gain their significance from the types and intensities of their connections with other places. Or, space may be a container while place is a point within the container. We might make further distinctions within place itself. We could follow a phenomenological/hermeneutical path, and think of place as dwelling (to use Heidegger’s term). On the other hand, we might think of place in semiotic/structural terms, in which place may be the performed or enacted experience of elements of a network. The point of these distinctions (and there are more that we might make) is that place is a concept that is deployed for multiple reasons, to solve multiple problems and address issues both within and between disciplines. Place is a concept, or rather a set of related concepts, that develop in response to questions. So, what we have here is a double application of place to cultural space, first as model and second as method. It is a model in the sense that we can look to the development of the concept of place itself, and the questions it answers, as a way of thinking through the development of other concepts. And it is a method in the sense that it offers a way of thinking through the practice of philosophy in specific contexts in a manner not reducible to textual histories. It allows philosophy to attend to lived experience, while at the same time enabling philosophy to remain philosophical, that is, to remain focused on the creation of new concepts adequate to their milieus. A great deal of African philosophy has focused on establishing core concepts, »citizenship« (i. e., who is qualified and authorized to speak about African philosophy), central concerns, and so forth. Debates exist over the status of »classical« African philosophy, embodied in texts as far back as ancient Egypt, and through thinkers such as Zara Yacob and William Amo. While the contemporary conversations commonly includes figures like Placide Tempels, it does so in some sense to have a foundation to argue against. 151 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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What all this leads to is the sense that African philosophy as a discipline has been driven by a kind of concern for mapping the field. Determining who is in and who is out, and what influences count, and how they count, has been core to the area. And yet, limiting the field to this spatialization and mapping seems to miss a great deal. In particular, it pits »Philosophy« against philosophy, or put another way, it pits disciplinary development of a field against that which preceded disciplinarity, in the thaumazein or wonder that grounds the investigation of the central questions of humanity and its existence on earth. Even put this way, the frame may be too Western, but it at least points to the fact that establishing disciplinary parameters does not necessarily address philosophy as an activity of humans outside of an academic context. One temptation here is to relate philosophy and »Philosophy« on a temporal scale. The less grandiose philosophy comes before »Philosophy«, we might suppose, and so in an African context, that means looking for tradition. And yet, does it? Tradition itself comes with its own issues, not the least of which is that we only look upon it from our vantage point. Far from being »what is passed down«, it is more often »what is accepted from the past and implemented«. Furthermore, while philosophy often has a tendency to move to first things in various ways (and for some, that is interpreted as the move to genealogical origins of thought), it may also be that »first things« could be seen as phenomenological (as Husserl thought), or the experience of the world before us, rather than the history behind us. Derrida (2004) speaks of philosophy’s »debts and duties«, and I take him to mean that while philosophy may begin in wonder, it never loses sight of its place. Its mode of wondering looks to the mysteries that cannot be explained or understood, but those mysteries exist in the context of a place that sets the boundaries on what is known and what is not, on what matters and what does not.
The Elements of Place The second aspect to understanding philosophy-in-place is understanding its structure, that is, the conceptual elements which contribute to philosophy taking its own place seriously. In Philosophy in an African Place I worked with a non-exhaustive list of 10 elements, listed as »questions« to indicate that there are frames for inquiring 152 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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about philosophy’s place, and it is in the inquiry that philosophy resides. These elements are: 1. The topeme: The concept of the topeme has to do with the nature of the component parts of place. It concerns the level(s) at which place is, or becomes, legible and intelligible. If philosophy is to both inquire about place and constitute itself within its own place, the nature of that inquiry must necessarily be clear. We have versions of place in African philosophy at several levels (»African«, »Kenyan«, »Luo«, etc.) which address different kinds of questions, and which describe different kinds of places which can provide the basis for the generation of new questions and hence new concepts. The idea of the topeme is one meant to solve the issue of layered and multiple places of experience and of questioning. It is a common issue in postcolonial studies and in feminism (intersectionality, for instance). In the context of African philosophy, it is clear that there is more than one place at issue. »African« philosophy covers over a wide range of cultural beliefs and positions, and yet it captures a set of questions at the same time that are not captured as easily when looking at more narrowly defined places. In some versions of place (e. g., that of Jeff Malpas), there is a close tie to corporeality. Place is always bounded, and always is related to event, in the sense that a corporeal place affords particular kinds of activities (that is, there is a set of internal relations within a place). This, I think, is the core sense of place, but I want to use the concept somewhat more expansively. Rather than focusing on borders or boundaries as defining place, I want to focus on flows, which means moving from corporeality to materiality. That may seem to move the discussion from place to space, but it need not. There is still boundedness, but a flow also raises the question of the motivating aspects of event within a place. And, it allows us to think of places as affording different kinds of questions at different »levels«. In other words, rather than making place more diffuse the further out we go, we rather think about questions that are made available at different topemic levels, but which inhere within discourse at a local level. 2. Aggregation: If place is an assemblage of parts identified by the topeme, it is also an aggregation. »Assembly« implies construction, whereas aggregation implies an additive process that may or may not have anything to do with construction. Moreover, 153 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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aggregation is meant to echo aggravation, which may also occur when elements come together. Philosophy-in-place is not merely about philosophy as a social construction, but about philosophy as social frission. In African philosophy, for instance, the production of concepts does not proceed dialectically, building on past conceptual successes, or by mining tradition or culture, as important as those elements may be to a mature philosophy. It proceeds by shining light on the potential and the limits of philosophical concept-building. African philosophy is not the same across the continent, nor is it the same as what happens in the diaspora. The diverse »lines of flight«, to use a Deleuzian term, that arise from comparing these seemingly similar traditions to each other, and resisting the urge to conflate similar concepts into identity, makes possible the emergence of a robust and creative philosophy within specific philosophical places. Scale: Following on the logic of the topeme and aggregation, scale is the recognition that philosophical place is not just distributed »horizontally« as contiguous nations or traditions, but it is also distributed »vertically«, as these traditions themselves are aggregates, and as individual thinkers participate in a range of places that can stretch from the very personal and local to the international. The questions that arise at one of these levels may be quite different, even nonsensical, at another. There may therefore be useful aggregations that appear at different scales, which may themselves give rise to philosophical questioning. »African philosophy« after all, as a category, raises a set of questions that make sense (questions about the way Africa as a category has been treated by the West, questions about a collective racialized identity that connects to that, questions about the »invention« of Africa in the European mind), but which may make little sense at a more localized scale. Questions at a greater focal length are not necessarily more abstract, though – they are questions about, for instance, the history and effects of colonialism, slavery, and racism, features that accrue to Africans qua Africans. They are felt by individual Africans, but accrue due to Africanity. We might also, though, consider a different focal length, a different place, that affords different philosophical questions. Issues around apartheid, for instance, or around the construction of freedom in late-colonial and early post-colonial Kenya, or issues around ethics in a country like Nigeria which
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has very strong representation of different religious communities, are questions that arise at a different level than the ones that arose when Africa was relegated as a whole to intellectual inferiority. We might think about other focal lengths, and other topemic structures, which afford different questions, but the point is that the questions at different topemic levels are enacted and engaged as material events and interactions. The questions that arise from nested and variegated places materialize in the most intimate places of embodiment and social relation. This can also be seen as »focal length«, the level of magnification and resolution that one has to understand place. All place is enacted materially (even digital activity – a topic for another time), and therefore can present itself as homogenized and undifferentiated. My actions in any situation can ask and answer questions at multiple topemic levels. It is the focal length of the elements of scale that enables me to tease these apart, and then to use them as points of tension to create new questions. These are all places. They layer on each other, and affect each other, but are not necessarily additive to or subsidiary to each other (that is, the »highest« topemic level is not simply all the issues that have arisen at the closer levels, nor are the lower ones merely instances of more general issues at a higher topeme). And, these topemes contain within them their own dynamics that produce philosophical questions. These include, by the way, hermeneutic questions, and meta-philosophical questions. Borders: The issue of borders arises for both what I am calling the horizontal and the vertical understanding of place. If places are defined, at least in part, by borders, then the philosophical questions which arise must inquire about those borders. Borders of places are also borders of questions. Concepts are attached to the places in which they have currency, and so inquiring into existing concepts, and creating new ones, will always come with a set of limits. In philosophy, we find ourselves reflecting on non-philosophy. That, though, may differ depending on the place of the question. The non-philosophy of European thought has, at various times, been tradition, religion, emotion, other cultures, race, the »primitive«, the technological, and the animal, among others. The borders in other world philosophical traditions may be very different. And, this does not even begin to consider the borders that may exist between those traditions, 155 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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and the ways in which they treat other traditions as non-philosophy. The engine of questions in philosophy-in-place is in these borderlands. The Milieu: To this point, we have established the conditions of place. These conditions exist in a milieu. This may seem redundant – a place exists within a place. The milieu, though, is not place, but space. The topemic structure of place can be understood, and questions can be raised that play across borders and at different focal lengths. We find ourselves in the middle of a set of spatial conditions, as described variously by Lefebvre and Foucault, among others. These are the conditions of the production of space, and also the flows of power and discourse within space. Spatial theory has tended to privilege these features of human experience over platiality, but when space exists without place, agency suffers. On the other hand, when place exists without recognition of space, political action suffers, since the economic, political, and social conditions for place are less sharply drawn. It is Lefebvre’s representational spaces, the »complex symbolisms, sometimes coded, sometimes not, linked to the clandestine or underground side of social life.« (Lefebvre 33) Intensity: All the questions of philosophy-in-place, and the conditions of spatiality found in the milieu, produce the kinds of tensions that drive the creation of concepts adequate to their places. As we have seen throughout all of these conditions for philosophy-in-place, tension is key to that creation. It is not the tension afforded by dialectic, as the conditions between the ideal and the real become more and more untenable. It is not the tension between points of view or philosophical positions. It is the tension between gradients or degrees, between more-than and less-than. We imagine we know what a concept like race, for example, entails, and suppose that we merely need to ask how it is deployed within different cultural settings. But do we know what it entails? Do we even recognize it as a single concept at all? Rather than supposing that race identifies some idealized type which is manifest in various ways, we could just as well see »race« as a kind of conceptual ecology, a set of related concepts which exist in a tension with each other. Concepts are not only found within their platial milieus, they are also found in tension with their conceptual ecologies. So, »race« in the US is not »race« in South Africa. But they are also not unrelated. They
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exist in a relation of more-than and less-than, in reference to a set of attributes. It is not better-than and worse-than – one place does not have the version of the concept of race that is closer to the Platonic ideal. It is that the understanding of the nuances and shades of race only become evident as we compare versions of the concept across a conceptual ecology. The concept of race in a place is sharpened both by attention to the place itself, as well as to its milieu, and also to the intensity which it participates in across a conceptual ecology. Provenance: The provenance of the concept in philosophy-inplace is the recognition of a temporal element. It is not simply a matter of charting the origins of a concept, though, or analyzing etymologies. As with art, provenance recognizes not only the origin but also the path through which something has passed to come to the present day. Concepts exist not only as elements of their places, and within milieus, and as the result of intensities within their conceptual ecologies, but also as elements of philosophical theories and as the result of philosophical method. And it is these in which provenance becomes especially important. We do not merely have »race«, we have race as part of a theory of subjectivity, or as part of a theory of political action, or so forth. And, what can we say about those theories and the methods they employ? Do they rise above place? Of course not. They too are implicated by their places. To use an example, philosophical hermeneutics is implicated by the questions it attempts to answer, and the problems it attempts to solve. It arises in the context of the increasing threat to human society of technological innovation and the implications that has for governmental and bureaucratic structures. It exists as a way of turning back the alienating influences of positivism. Is it bound and determined by this provenance? Not necessarily, but it would be folly to not recognize this provenance. It is entirely possible to have philosophical hermeneutics rooted in a non-Western place, but it would have to happen in the context of asking which questions within that place lend themselves to a hermeneutic understanding. One cannot just parachute hermeneutics into a context that has a different provenance without understanding this. The issue of the rise of positivism may not be central to another place. How would this change hermeneutics? It might redirect the metaphor of textuality to something 157 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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else. What would hermeneutics look like if orality played a more central part? What if visuality were the central model of textuality, rather than the Western religious text? How would a consideration of the provenance of theory and of method yield the potential for new concepts? Self and Other: The last three elements of philosophy-in-place are really elaborations on what has already been said. The selfother relation is intensive, that is, a more-than/less-than relation. Some versions of place (e. g., Heidegger’s) tie place closely to the ability of the self to act meaningfully and to realize its subjectivity. We dwell in the world, which means that we are irrevocably tied to and affected by the materiality and particularity of our decisions and their consequences. This is meant not to suggest some sort of determinism, but to recognize a reciprocity between our engagement with the world and the world itself. Dwelling can be covered over and forgotten, but our debt as beings able to access the meaningfulness of the world, and both draw from it and add to it, means that we are never entirely severed from dwelling in the world. This model of self and other has been highly influential in our understanding of place, as place becomes the necessary arena in which the understanding of both self and other can take place. But Heidegger’s account is not intensive, in the sense I have sketched here. The concept of »Dasein« in early Heidegger runs the risk of diluting the potential for creative tension by subsuming self and other as moments in Being. Whereas Heidegger (and later, Gadamer) recognized the dangers of a transcendentalist account of the self (that it withdrew the self from the world, that it posited a self that was not actually responsible to the world, that the other might end up as a caricature, a foil, or something worse), it was precisely this that led later thinkers away from phenemonological hermeneutics. Whatever transcendental echoes there might have been in that tradition were lost in the structural and post-structural theories which followed, theories that attenuated the self so much that, by the 1980s, the death of the author and the death of the subject was all the rage. And alongside that death was the death of place, even as we saw the rise of the network, of globalization, and of systems. Space, or a particular version of space as networks and flows, eclipsed place for many.
158 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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This too was not intensive – again there was no self and other. Action was the action of a system, not a subjectivity or a self. We were subject to a system, not subjects of a place. The point here is not to rehearse, much less solve, the struggle over the past 100 years concerning the nature of subjectivity. The point is to recognize that if the logic to this point is sound, that our concepts emerge from places as described here, then this has implications for the self-other relation. Again, a dialectical relation will not work – any Aufhebung will simply reduce the intensity and nullify any creative moment. No reduction either to the primacy of the self or the other will work either. Any of these moves will undermine what is unique about philosophy-in-place. The production of concepts does not happen in a machine, or a transcendental self, or a network. It cannot be digitized and thus made into an algorithm, although the digital is certainly a feature of the place in which we find ourselves. 9. Listening and Speaking: I prioritize listening precisely because it often stands as the secondary term in the binary, the passive term. I refer to »listening and speaking« rather than dialogue because of the tainted provenance of a concept like dialogue, that is, the use of »dialogue« to forestall, misdirect, or mollify the other. And, I speak of listening rather than seeing or reading, in order to foreground the epistemology of the ear rather than that of the eye or the interpreting mind. Listening is a response to place – we listen to more than just the literal words from another human. We listen to nature, we listen to our media even as we listen through and with them, we listen to the imperatives that we may not even be able to articulate and understand. Listening is not just hearing, it is engagement and response, or at least acknowledgement. And, listening is an element of intensive engagement. Deleuze and Guattari, in A Thousand Plateaus, speak of the »sonorous« rhythms which mark territory and lend themselves to deterritorialization and reterritorialization, that is, the response of the animal as it moves through its field, creating new paths. 10. The Trace: The trace connects to provenance. Philosophy-inplace is the practice of creating philosophical concepts, and this requires both the intuitive movement through non-philosophy, and also the reflective movement through conceptual ecologies. Traces are legible elements of provenance. They are also the con159 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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nection to spatiality, to intellectual practices of the past, and to the question of writing a future which will be released from our control as soon as the writing is done.
The Questions of Place Finally, the third element of understanding philosophy-in-place is understanding the way in which the analysis of questions form a central role in philosophy-in-place. Following the work of Michel Meyer (1995 and other works) and Mieke Bal (2000), as well as Deleuze and Guattari, Heidegger, and Gadamer, I will argue that the interrogation of questions within a conceptual ecology rooted in place is a prerequisite for a coherent and robust philosophy-in-place. Questions are rooted in places because they draw on concepts that have currency. To interrogate them simultaneously lays bare the debts and duties they have to those places, and also allows the concepts that derive from them to participate in a larger philosophical conversation. In this way, philosophy retains its move to the universal, while recognizing those debts and duties (to use Derrida’s phrase). I take the question to be the fundamental unit of philosophy. An adequate question is the ultimate goal of a philosophy. Adequate to what? To a place, which is to say, to the existing concepts that have currency in a place, and to the existing issues that arise for human existing and flourishing in a place. It is largely what Heidegger meant when he said that »Questioning builds a way«, and when he pointed out that we are the only beings who question our own being. As Malpas has demonstrated, Heidegger’s questioning is rooted in platiality, in the mode of existence, sets of relations and forms of disclosure we have as humans who are bounded by place. At the philosophical level, those questions strive for universality, but they do not occur in a universal space. They occur in place, as I have defined it above. They occur in layered and mutually affecting places. They occur as we respond to the available concepts in a place, and the pressures and opportunities we find there. They arise as those who are emplaced in a place find ways to ask anew what seems to have already been asked, and what seems to have already been settled, at least for those in and from another place. Questions are the gold-standard, and concepts are the vehicle. Deleuze and Guattari called philosophers the »friends of the concept« 160 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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and the »potentiality of the concept«. Questioning which comes from a place enables the creation of new concepts, and also enables both existing concepts and existing philosophical methods to show forth their commitments to their own places. There is a host of ways in which this is already being done. Some examples: 1. Achille Mbembe (2005), in an essay comparing Jewish and Black experiences of oppression (argues that for Jews the experience of oppression was one of homelessness and rootlessness, whereas for Blacks under apartheid it was »captivity, bondage, colonial subjugation, and racism« (Mbembe 296). His purpose is not to argue that one was worse than the other, but to account for the different trajectory that history took in two places. The question he does not address, though, is the one that follows from what I have argued to this point. What if the questions concerning freedom (and the resultant concepts that were created) for Jews were thought through the Black experience? Not to substitute, but to allow a light to be shone on the mode of appearing of a Black concept of freedom? What if, in short, there were an intensity present, which drew on the traces of both experiences, and enabled an understanding of the non-philosophical elements (the human experience at stake) which is made available as one set of experiences is understood using the other’s set of concepts? We would, at the least, have new questions, and the potential for new concepts. Freedom does not exist at a placeless ideal level, but always has its debts and duties to its places, and that is its strength and the reason for rethinking it anew. 2. Rianna Oelofsen, in her recently defended Ph.D. dissertation at Rhodes University in South Africa, takes on the following question: »If you have an Afro-communitarian understanding of personhood, then what would that mean for your understanding of the concept of reconciliation?« (Oelofsen 1). Her approach to the question of reconciliation works from versions of afro-communitarianism in South Africa. She is interested in the extent to which, given the accepted set of concepts in South African life, whether the Truth and Reconciliation Commission, or any other instrument or process, would be adequate to address the historical injustice in South Africa. She places the philosophical discussion in the context of a particularly South African version of Ubuntu, and also in the context of a paper by Dr. Samantha Vice 161 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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(2010) which was much discussed and disputed in South Africa. Her philosophical purpose is to »set out in detail what the concepts of responsibility, justice, forgiveness, and humanization would look like within an Afro-communitarian framework, and finally to draw all of these concepts together to give an alternative account of reconciliation.« (Oelofsen 74) 3. I have argued in several places for a revised approach to the concept of tradition. Its provenance in the West has been one which focuses on the establishment of textual authority within a religious setting, and which has implied that such authority lies in the hands of the past. Specifically, the reading of a text such as the Christian Bible has been delimited and governed by traditional elements such as the church fathers as mediated by the church hierarchy. While the Reformation sought to do away with such authority, in many cases the source of authority merely shifted to other existing hierarchies. This theory of tradition may be perfectly adequate for some places, but I argue that it does not serve Africa well. It does not operate well within an oral context, and does not account for the idea that traditions are accepted by an existing generation, not imposed by a previous one. Furthermore, in the West tradition has often been opposed to modernity (and in earlier times, to reason), and these oppositions do not work for Africa either. So, I have argued that tradition is a kind of peripheral vision. All rational reflection requires some level of intentionality, and tradition is that which is allowed to stand outside of that intentionality, supporting it but not currently being examined. Tradition, then, is not opposed to modernity, but encases it. There may be elements which we regularly (even ritually) regard as peripheral, but peripherality itself is not an indication of lack of rational reflection, much less a »primitive« approach to the world.
Conclusion These elements give a brief overview of a full-fledged philosophy-inplace. The benefit of philosophizing in these terms is, as Deleuze and Guattari put it, the »creation of concepts« adequate to a place and enriching to the world of philosophy. As we consider philosophical concepts as rooted in place, but not rendered non-philosophical by 162 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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that fact, we have the potential to see the commitments that existing philosophical concepts might have, and also consider new questions that might be asked, leading to new concepts adequate to a new world.
Sources Bal, Mieke. Traveling Concepts in the Humanities: A Rough Guide. Toronto: University of Toronto Press, 2000. Deleuze, Gilles & Guattari, Félix. What Is Philosophy? New York: Columbia University Press, 1996. Derrida, Jacques. »Mochlos, or the Conflict of the Faculties« in Eyes of the University: Right to Philosophy 2. Stanford, CA: Stanford University Press, 2004. Janz, Bruce. Philosophy in an African Place. Lanham, MD: Lexington Books, 2009. Lefebvre, Henri. The Production of Space. Trans. Donald Nicholson-Smith. Oxford: Basil Blackwell, 1991. Malpas, Jeffrey. Place and Experience: A Philosophical Topography. Cambridge, UK: Cambridge University Press, 2004. Mbembe, Achille. »Faces of Freedom: Jewish and Black Experiences«. Interventions 7:3 (November 2005), 293–298. Meyer, Michel. Of Problematology: Philosophy, Science, Language. Chicago: University of Chicago Press, 1995. Oelofsen, Rianna. Afro-Communitarianism and the Nature of Reconciliation. Diss. Rhodes University, South Africa, 2013. Vice, Samantha »How do I live in this strange place?« Journal of Social Philosophy 41:43 (Fall 2010), 323–342.
163 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Pritika Nehra
Located in the World by Default: Hannah Arendt and Samkya Yoga on Thinking
In this paper I argue that thinking, a non-temporal mental activity, is always attributed to an embodied empirical subject, who is located in a particular space and time. The operations involved in thinking activity are reflective in character and demand withdrawal and impartiality. It is concerned with meaning by making associations with past, present and future. Although thinking deals with generalizations, it is not just a solitary activity; instead it is embedded in conversations with others in a sphere of public communications and discourse (Politics) about co-existence with others, all of which forms the worldly location of thinking. Further, the language in which thinking takes place derives itself from everyday experiences of the embodied thinker in the world. Apart from physical existence, human beings are also capable of a mental life, and both of these exist side by side. In the Life of the Mind, Arendt develops a phenomenology of thinking. She attributes all mental activities with a »withdrawal from the world as it appears and a bending back toward the self« (Arendt, The Life of the Mind 22). We can also say that it is only in mental processes, like thinking, that time manifests itself. Although one is free to move across space and time when thinking, it cannot fully transcend space and time. We can think of something beyond time and space, like God, yet the activity of thinking cannot occur outside of time and space. Thinking occurs in a space, where the thinker is in conversation with oneself, and with others with whom she/he engages in the imagined perspectives of others in a dialogue. The timeless and spaceless activity of thinking does not imply actual existence of such a timeless and spaceless domain but it is only a metaphorical way of accounting for the operations of thinking. Human beings neither have access of any such domain, nor do they have any special language to describe such functions of thinking. The location of the embodied thinker in dialogue with others is 164 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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also the space in which politics occurs. The space for public exchange of opinions, which Arendt regards as the public sphere is a political space and it does not have a particular physical location in the sense that wherever we can have these conversations, it becomes a space for politics. The possibility of plural interactions with others and with the self is precisely, what allows thoughts and opinions to serve as a locus for interactions and dialogues. While thinking requires a withdrawal from the empirical selves that exist spatiotemporally, actual conversations in thoughts with others exist in a spatiotemporal world. Therefore solitary thinking is different from conversations in the public space, which are vital for politics, as this requires not just thinking but also speech marked by repetitions, representation of others’ opinions, which emerge in the exchange. Thinking is not just solitary as it involves a dialogue with the imagined perspectives of others as well. But these imagined perspectives are different from actual perspectives of others because they are reflective representations of the thinker. In order to give an account of what constitutes thinking, I shall first bring forth the views of Hannah Arendt, who draws from Kant’s understanding of the thinking ego to distinguish between the self, the soul and the thinking ego. By making such a distinction, Arendt wards off the possibility of constructing the self through the thinking ego. Next, I give an account of Arendt’s division of the three mental activities of thinking, willing and judging. She assigns separate temporal features to each of the three mental activities. Thinking exists in the present which is a gap between past and future. This location of reflective thought in the present moment is time proper as it marks the lived life of an individual. In order to establish how thinking, which is otherwise an invisible activity stands in relation with the world of appearances or sense perception, I shall connect it with the discursive relationality of thinking with the actor and others. This is further connected with the concerns of identity and difference in thinking. Finally, I shall connect Arendt’s views with those of Samkya on reflective thinking and the significance of moment as its temporal location in the world.
I.1 The Thinking Ego Is Not the Same as the Self Arendt regards that ›the urge to self-display‹ is common to all living beings (Arendt, The Life of the Mind 29). Such self-display acquires a 165 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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complexity in case of human beings due to their mental endowments. Just as a creature with vision wants to see and be seen by others, similarly the very capacity to think in language demands to be heard, communicated and understood by others. Appearances give way to the question of non-appearance. In this context, Kant wrote: ›If we look at the world as appearance, it demonstrates the existence of something that is not appearance‹ (Arendt, The Life of the Mind 23). Appearances manifest themselves against non-appearances. Appearances reveal themselves by concealing nonappearances. One cannot escape appearances unless within an appearance. The question to which Arendt draws attention to is not whether there is any inner truth behind the appearances, but what makes appearances appear in a particular form and shape. She also raises the question whether there is any cause of appearances. In answer to the second question she explains that there is no cause of appearances. What Kant calls as the ground of appearances has been wrongly interpreted as the cause by many philosophers i. e. the invisible inside as the cause of the visible appearances. Kant gave the concept of the »thing in itself« to non-appearing »ideas«, which are the ground of appearances and cannot be experienced directly. God, Immortality and freedom are three such ideas, according to Kant. These ideas are not given but they exist for human beings only »in the emphatic sense that reason cannot help thinking them and that they are of greatest interest to men and the life of the mind.« (Arendt, The Life of the Mind 41). Kant also regards nonappearance as the »ground« of appearances, which can be forced to the light of the day (qtd. from Kant’s Critique of Pure Reason in Arendt The Life of the Mind 41). Kant attributes appearances to a ›»transcendent object«, which determines them as mere representations‹ (qtd. from Kant’s English Works, Vol. V in Arendt, The Life of the Mind 41). The transcendent object belongs to a different ontology. So a claim that being is the cause of appearances is both beyond appearances as well as the being. This is because neither from appearances, nor from a study of the »being«, can one grasp any causal relation between the »thing in itself« and appearances, insofar they belong to different ontological levels. Arendt here succeeds in rejecting the divide between visible appearance and invisible non-appearances or any causal link between the two. Further, the withdrawal associated with mental activities does not mean that the mind withdraws into the soul or some other region 166 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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during these activities. She makes a distinction between mind and soul in order to understand this complex relation of human beings with the world of appearances. While the body is visible, the mind, soul, self, and »thinking ego« are all invisible to others. Although the mind, soul, self, and »thinking ego« are all invisible, they are also different from one another. The activities of the thinking ego take place in the mind and they can only be expressed metaphorically in conceptual speech, while the activities of the soul can be expressed in »a glance, a sound, a gesture, than in speech« (Arendt, The Life of the Mind 31). The mind performs a reflective activity in the thinking ego but the soul operates in a non-reflective manner through gestures, inarticulate sounds, and glances. The experiences of the soul and all its activities are anchored or bound to the body, but the mental experiences of thinking escape sense experiences of the body into a mental realm through the metaphorical conceptual language of thoughts, which acts as a bridge between the senses and the mental domain. According to Kant, the transcendental self is always the ›thingin-itself‹ that remains undisclosed in the activity of thinking. The transcendental self is that which is cognitively closed to human beings. Human beings cannot reach any knowledge of the transcendental self, either through the senses, or through thinking. For Kant, thoughts are representations or manifestations of this thinking ego. Thoughts, in this sense can never be predicates of a self or a person. The thinking ego is invisible and immaterial. The self is not the same as the mind or the soul or the thinking ego. Although all three are invisible, yet the soul is revealed in the body through glances, gestures etc. The mind manifests itself in the activities of the thinking ego only metaphorically in conceptual speech. For Arendt, the self is akin to Kant’s »Ding an sich« (»Thing-in-itself«) (qtd. in Arendt, The Life of the Mind 41). It is »not nothing« and yet cannot »appear« (Arendt, The Life of the Mind 41). The thinking ego does not appear to itself. The thinking ego is ›sheer activity‹ : It is »ageless, sexless, without qualities and without a life story« (Arendt, The Life of the Mind 43). In this sense, it is distinct from the self. The thinking ego is always in flux. It cannot be frozen in a moment to say ›I am‹. »I am« does not refer to any particular act of thinking. »I am« is given only as a representation of thought but it does not convey anything about the sensory intuition corresponding to »I am«, i. e. the mode in which the embodied being appears, which 167 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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cannot be accessed merely by thinking. For Arendt, there is a distinction between thinking and sensing. It is a metaphysical fallacy to claim the materiality of »things-in-themselves« by thinking about it. It is an error to infer that just because we can conceive of the ›thing-in-itself‹ as a thought, it must also exist materially. While the transcendental self, which is the ground for the empirical self remains cognitively opaque, thoughts cannot be predicated to any non-material »thing-in-itself«. Instead, they are the manifestations of an invisible thinking ego, which exists as a »pure activity«. One implication of this distinction between self, soul and thinking ego is that one needs to treat all of them as separate, even though they may or may not influence each other. By making such a distinction, Arendt wards off the possibility of constructing the appearing self through the thinking ego. She takes a Kantian position by separating the self, soul and thinking ego. For Arendt, the self cannot be fully captured by the thinking ego alone. In this sense, she excludes the possibility of conceiving of the self as the thinking ego. Although, the self exists and manifests itself in all its activities, it cannot be fully captured by the thinking ego. Since the thinking ego cannot be fully captured by the empirical self, the complete self remains inaccessible to it. So if we consider thinking to present the geography of thoughts, then such a presentation cannot construct or capture either the complete self of the thinker, or the thinking ego of the thinking subject involved.
I.2 Temporality and the Three Mental Activities Thinking, willing and judging are the three autonomous mental activities in Hannah Arendt’s view. It is »reason’s need« (Arendt, The Life of the Mind 78) that leads to thinking, the »will always wills to do something« and judgment can either be determinant or reflective (Arendt, The Life of the Mind 37). Arendt grants a specific temporality to each of these three mental activities. Memory is the organ of the past, will is the organ of future while thinking is for the present. All of them are independent of each other. All the three mental activities are independent of each other. Reason cannot make one will. Although reason aids in judgment, they are nonetheless distinct. Judgment is broader in scope than thinking because it also involves feeling. Thinking can only reflect on past, it cannot change it. What 168 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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unites them is that it is the same subject who is capable of all these mental activities. This subject exists in the present. It occupies a worldly location. It is through imagination that one can move into both past and future in the thinking process. By imagination, Arendt refers to Kant’s view of imagination, who defines it as »the faculty of representing in intuition an object that is not itself present« or it »is the faculty of perception in the absence of an object« (Arendt, Lectures on Kant’s Political Philosophy 79). This is a representative faculty in that it represents something that one has seen earlier and is reproduced as an image, e. g., the image of a Centaur is produced by imagination by combining features from the image of a horse and that of a man. It is reproductive faculty as distinct from productive imagination, which is operative in the case of a genius for Kant. Imagination is creative in its representations as explained in the example before. Imagination is free from any temporal association and ›it can make present at will whatever it chooses‹ (Arendt, Lectures on Kant’s Political Philosophy 80). All of these three activities are invisible, i. e. they cannot be sensed or detected by external observers in any way. Space-less-ness is the location of the internal thinking subject. However, this internal thinking subject is in constant dialogue with the external embodied subject who occupies a worldly location. It is this worldly location of the external subject that also provides subject matter for thoughts. For Arendt, labor, work, and action form the three features of a human being’s life on Earth. Labor is related to the biological processes of human body, like metabolism, growth, etc. and is vital for life. Work provides the artificial world of things made by humans. Action emerges out of the interaction between pluralities of human beings. However, while labor and work can be performed in solitude, political action is always directed to and is in response to other human beings. It is only action and speech that requires a spatial appearance for the actors and the spectators. Labor and fabrication (work) do not need spatial appearance because both labor and fabrication are goaldirected activities which aim at end products, viz. the production of labor through life processes for the sustenance of both individual and the species and the production of man-made objects in case of work. It is of no significance for the activity per se as to ›how‹ man-made objects have come into existence or how one performs activities of biological processes, since they aim at the final product or »what« is being produced. Human beings involved in labor and fabrication exist 169 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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only as providers of labor or makers of use objects. However, it is only free actors, who demand a spatial appearance to reveal »who« the actor is. Unlike action, thinking is invisible and can be stopped at will. It is only absent-mindedness that becomes visible. When one acts in a thoughtless manner because of forgetfulness or simple chance, the actions deviate from the expected and thereby become noticeable. The thinking ego is realized as »I am« in the »actualization of the original duality of the split between me and myself which is inherent in all consciousness« (Arendt, The Life of the Mind 75). There is a unity or harmony between the representations of the empirical self (one who is an actor in the world) as a person with certain characteristics or personality traits that one chooses to uphold or represent and the self as represented in the thinking ego. In other words, there is a consistency between how one chooses to represent oneself in the external world and the internal dialogue that continues with one’s thinking ego. An inconsistency between how one represents oneself and what one thinks will lead to a conflict between the acting empirical self and thinking ego and no human being can live with such hostile self-conflict, since it is impossible for the thinking ego to step outside of one’s body. Socrates calls this the consciousness »to know with myself« (qtd. in Arendt, The Life of the Mind 183), i. e., an appearance of the self is not just for others, but also for the self to be recognized in its consciousness. It stands for the difference that makes one different from others in its company. For Arendt, the thinking ego is always a dialogue between the embodied, acting self with the thinking self. But this realization of the thinking ego »is not an activity; by accompanying all other activities it is the guarantee of an altogether silent I-amI« (Arendt, The Life of the Mind 75). It accompanies all its activities. The mental activities of thinking, willing, and judging remain invisible and come into play only when they act. Before their actualization, »they are not open to introspection« (Arendt, The Life of the Mind 75). All of these mental activities are inconspicuous. Though the objects of these mental operations are given in the world, the objects do not necessitate these processes. The subject matter of thinking is provided by imagination and not perception. Arendt writes: »Thinking is not only itself invisible but also deals with invisibles, with things not present to senses though they may be, and mostly are also sense-objects, remembered and collected in the storehouse of memory and thus prepared for later reflection« (Arendt, The Life of the Mind 51). 170 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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Thinking makes use of the imagination to make »present to itself what is absent from the senses« (Arendt, The Life of the Mind 76). Kant calls imagination »the faculty of intuition even without the presence of the object« (Arendt, The Life of the Mind 76). Thinking is based on »metaphors drawn from vision’s experience« or memory and mental images of what is »no more« and »not yet«, namely, the past and the future (Arendt, The Life of the Mind 76). Thinking is higher in priority than willing and judging since it presents »the no more and not yet« to attention by representing them in a »de-sensed« manner. Without this reflection, willing and judging cannot take place. The reason for this is that thinking generalizes, while willing and judging respectively will and decide concerning particulars. Thinking in this sense is also prior to Thinking does not concern practical matters and does not aim at any end results, being a generalizing activity. There is no end to thinking. Thinking converts sensory images into thought objects through selection from memory and deliberation. Deliberation, here, means introspection that connects one thought object with another. Such deliberation arises out of common sense experiences that prompt thinking/reflecting activities in human beings. Thinking requires withdrawal from immediate sensory perceptions. It involves remembering and reflection. It is a »quest for meaning,« and not knowledge (Arendt, The Life of the Mind 78). Instead of enhancing the natural curiosity of human beings to know the world, it is instead a step away from the world in its quest for meaning that demands a withdrawal from the world. This is why it is often regarded as an unnatural activity. Thinking per se is anti-human in that it does not concern any practical matters of human life; rather it is antagonistic to them and interrupts all human activities in thinking’s need for withdrawal from all actions. In this sense, it is »out of order« (Arendt, The Life of the Mind 78). Thinking paralyzes action. This is why philosophy is considered equivalent to death. It shares a paradoxical relation with active life in that thinking requires us to withdraw from world of actions in order to think.
I.3 The Gap between Past and Future: The Nunc Stans Using Kafka’s time parable, Arendt explains that in thinking both »past and future« are present simultaneously in the present moment 171 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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by means of thinking (Kafka 11). There is no absolute beginning or end of thinking. This struggle of thought to maintain the past and future in the present produces a »rupture.« The thinking ego is ageless, speechless, and is without any past and future. In Kafka’s time parable, when time exhausts the struggle, the person/ego »will jump out of the fighting line to be promoted to the position of an umpire, the spectator and judge outside the game of life« (Arendt, The Life of the Mind 207). The thinking subject is forced to withdraw to position of an optimum distance, where she/he is not an active participant in any of the time forces of the past, present, or future. This is because only a person, who is a non-participant, can reach the required distance from the forces of past and future. This distancing is needed to make an impartial judgment in the present time in order to avoid being carried by the past or the future. Arendt calls this the »parallelogram of forces« and the diagonal is »a perfect metaphor for the activity of thought.« (Arendt, The Life of the Mind 208–209). The diagonal represents optimum distance from the forces of time and stands for the trajectory of the judgment emerging out of the infinite forces of past and future time in the present time.
I.4 Thinking as Time Proper For Arendt, time can be understood in many ways. It is spontaneous, it marks a new beginning, it is out of joint and it interrupts. Time is also the lived life, time is linear, and time is also cyclical. Out of these various ways in which she understands time, Arendt asserts that it is time as lived life that is most important. Thinking may be free to move through different time zones, but it is not infinite. It is limited by the birth and death of a human being. These boundaries form the realm of possible meanings. While the lifespan of a human being is finite, thinking is a struggle for freedom from the boundaries of a human life. This is one of the reasons why Arendt regards the present moment or the moment of reflective thought as most important, since it is in this lived life where new meanings are made possible. Thinking is always retrospective and it is closely connected with memory and imagination, which together perform a creative function in making new associations with the past. These new associations result in new meanings in the moments of reflective thought which
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constitute the present moment of the thinking subject. This is the location of thinking. Although thinking involves a withdrawal from the spatiotemporal realm of human life, it nonetheless takes place within the framework of time. The temporal frame of thinking is kairos, which emerges after interrupting the linear flow of time or kronos. The Greek word kronos refers to sequential time or kronos time or chronology. Kairos, in Greek mythology refers to the right time or decisive moment or moment of action. Kairos emphasizes not just the right time, space, and purpose but also the appropriate situation, approach and consequences for any act. For Arendt, this time, which is the temporal frame of thinking for each human being, is understood as the span between the birth and death of a human being. Such a temporality gives the limits of the scope and range of all human experiences within narratives of lived experiences. Thinking arises out of a need to understand and to move beyond this condition of human time as a continuum between birth and death or between past and future under which human life exists. Therefore, we can say that there exists an intimate relation between temporality, conditions of human existence, and thinking. While the cognition of the senses is given (by the object of cognition in nature), its meaning is not determined by this object. The question of meaning cannot be answered by common sense. For Arendt, intellect is a matter of knowledge and this knowledge acquired through intellect is verifiable. Intellect is a world-building activity in that is goal-directed. In this sense, intellect is quite utilitarian in its activities. Thinking on the other hand is related to reason and meaning and it is self-destructive. Thinking is like Penelope’s web as it undoes whatever it makes. No thinking activity is final, so it is a perpetual process of both beginning new ideas and destroying them by skeptical doubt. Nothing is final in the domain of thinking. Both the negative (self-destructive) and positive (system building) aspects of thinking are complementary to each other. The need to think is mistaken with the urge to know. Arendt writes: »Thinking can and must be employed in an attempt to know, but in the exercise of this function it is never itself; it is but the handmaiden of an altogether different enterprise« (Arendt, The Life of the Mind 61). Thinking is a meaning-making activity.
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I.5 Discursive Relationality in Thinking Thinking employs imagination to create objects of thought in a desensed temporalized and de-spatialized manner. Once the objects are de-spatialized, how it is that one is connected to the other? In answer to this, Arendt says that one thought object is connected to the other by time (as a Kantian category). It is time that provides connection and movement for these de-sensed thought objects. Time creates »trains of thought«. These trains do not follow the ordinary rules of linear temporal relationality. Rather, they are structured by a discursive relationality. One object of thought is connected with another, not as a sequence but in a dialogue form of one with oneself. The dialogue that takes place in thinking is between two aspects of the same entity as a two-in-one that remains invisible to other observers, and it is also a silent dialogue, so nobody else other than the thinking subject can overhear it. The thinking process, which is invisible from the eye on account of its withdrawal from the world and inaudible to the senses, can be expressed only metaphorically so as to communicate to others what goes on in the thinking subject’s mind. This is why dialogue connected with thinking is metaphorical. This dialogue in the thinking ego takes place within and it does not refer to any one person but two aspects of the same person. Such an inward and invisible dialogue can be expressed only metaphorically.
I.6 Identity and Difference According to Heidegger, »sameness implies the relationship of ›with‹, that is, mediation, a connection, a synthesis: the unification into unity« (Arendt The Life of the Mind, 184). Difference is always with reference to other things (a plurality). Difference »is inherent in every entity in the form of duality, from which comes unity as unification« (Arendt The Life of the Mind, 184). According to Heidegger, it is difference because each eidos »partakes of the character of difference« (Arendt The Life of the Mind, 184). But Arendt separates her view from Heidegger and argues against his view that if you take a thing out of context and then reflect on it that »it loses its reality and acquires a curious kind of eeriness« (Arendt The Life of the Mind, 184). The object becomes an experience of the thinking ego. It involves two aspects, the external appearance (being itself) and the 174 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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thinking ego (for itself). It is the duality of »myself« with »myself« that constitutes the thinking process. Jaspers wrote: »I am in default of myself« (Arendt The Life of the Mind, 185). I am both the one who questions and the one who answers. The criterion for Socratic thinking is being in agreement with oneself (without any contradictions). One cannot live in contradiction with oneself. In logic, this is called the law of non-contradiction. As per the law of non-contraction, contradictory statements are mutually exclusive statements. The truth-value of one statement rules out the possibility of the opposite statement being true at the same time and in the same sense. Thereby, they cannot be both true at the same time. The thinking ego is not the same as the consciousness accompanying sense experience. By contrast, the thinking ego is always dialectical (in a silent dialogue) and is about something (Arendt The Life of the Mind, 187). If such contradiction arises in the case of the dialogue with the self, it is inescapable and insufferable. This is the reason why Socrates refuses to be at odds with himself, since one cannot be one’s own enemy with which one is forced to live. Jaspers coined the term »boundary situations« for »whenever I transcend the limits of my own lifespan and begin to reflect on this past, judging it, and this future, forming projects of the will, thinking ceases to be politically marginal activity. And such reflections will inevitably arise in political emergencies« (Arendt The Life of the Mind, 192). This calls for acts of judgments. While thinking is a generalizing activity, there is no end to thinking, but in the case of what Jaspers calls »Boundary situations«, one is forced to put an end to the solipsism of thinking by making a judgment and forming a will. It is in this faculty of judgment that the »wind of thought manifests itself« to »prevent catastrophes, at least for the self« (Arendt The Life of the Mind, 193). This brings in a key distinction between thinking and judging. Judging is not merely a type of thinking. Rather, it emerges out of situations when the thinking subject is pulled by the forces of retrospection and speculation to make a reflective judgment in the present in order in order to overcome these forces. Such reflective judgments, for both for Jaspers and for Arendt, emerge not just from a need to think (as in case of reflective thinking) but also involve an element of political exigency.
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I.7 Thinking Temporally by Default Despite the fact that thinking is timeless, spaceless, cyclical, linear, out of joint, interrupting and marking of infinity, Arendt attributes the temporality of present time to thinking. The infinity of thinking can exist only as metaphorical time within the present moment of thinking and the duration of this time is limited to the lifespan of a human being, i. e. the lived life we have. Now the question of time is usually understood in relation to space. If we are to attribute spatiality and temporality to thought, then they are the time and spaces of the embodied thinker in the moment of reflective thought. It is the present time and space in which the thinker exists that crystallizes the infinity of thinking. This crystallization of the infinity of thinking is made possible by capturing thoughts about past and future in the imagination of the thinking subject who occupies a location in the present. Though one can say that thinking is timeless, thinking is always attributed to a thinker located within the temporality of a given moment. This moment within which thinking takes place in a timeless space is the condition for thinking. It is also the space for politics, where the thinkers engage not just in dialogue with themselves but also in multiple conversations with others whose thoughts they engage with.
II
A Brief View on Temporality and Thinking in the Samkya Yoga School of Indian Philosophy
I will now contrast Arendt’s views with aspects of the Samkya school of Indian philosophy. Within the various Indian schools of philosophical thought the Brahminical schools recognize a distinction between the existence of Atman (the substantial self) and Brahman (the supreme or transcendental self). This also refers to the debate between transcendence and immanence within western philosophy, where Brahman is the transcendental self and Atman is the empirical self. Unlike Brahman, which is formal, the Atman is limited by the mechanisms of apperception (cit), reason (buddhi), ego (ahamkara), mind (manas) and sense organs of action (sankara). In an attempt to understand these issues from an Indian philosophical perspective, I will briefly draw on some aspects of reflective 176 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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thinking and temporality in the Samkya Yoga school of thought. Samkya is a realist school of thought that rejects a unitary transcendental understanding of time. Within Samkya philosophy, only the moment exists. Consequently, this school of thought engages with the question of how to relate the past and future to the present. Within Samkya yoga, purusha is pure transcendental consciousness. It is not the agent or actor, but only an enjoyer (bhokta) of all acts. The agent belongs to a spatiotemporal world. It is embodied (has sariri). Acts of agency involve reflection, choice, and decision-making. The embodied agent is a buddhi-ahamkara structure. Together buddhi and ahamkara constitute subjectivity. It is the mode of being of the embodied subject. It involves both rationality and the ego. Within Samkya philosophy, temporality is defined as a function of internal organs which exist as an infrastructure in which prakriti manifests itself. There are three such internal organs namely buddhi, ahamkara, and manas (The Samkya Karika says: »Antahkarnam Trividham … trikalamabhayantaram karnam.«). Worldly being is essentially temporal. Similar to Kant’s transcendental self, the purusha or pure consciousness can never be fully exhausted by the appearing being or the existing self. According to Samkya yoga, the self is a duality: it is both a pure transcendental consciousness as the real self and a worldly embodied self as a buddhi-ahamkara structure (Rationality-ego structure). The buddhi is capable of reflective thought through which it becomes aware of the I-ness (ahamkara). This thinking ego is not only aware of the objects in the world, but is also aware of itself as a worldly self through the faculties of manas and indriyas. The worldly empirical self is constructed by the thinking ego complex of the buddhi-ahamkara structure, which is self-aware. The possibility of recovery of the pure transcendental self lies in the reflective capacity of the worldly self. The worldly self also exists as the reflective self (buddhi) and thus it is possible to acquire discriminating awareness (viveka). Explicating this aspect of buddhi, Dasgupta writes: »when by true wisdom gunas are perceived as they are both the illusory notions of time and space vanish« (Dasgupta 256–257). This aspect of reflective thinking, as timeless and spaceless, echoes Arendt’s idea of thinking as timeless. For Samkya, reflection offers a rational way of distancing oneself from the embodied and worldly self and recovering one’s pure transcendental self. This takes place by dissolving the
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categories of time and space in the process of reflection by buddhi and viveka.
II.1 Reflective Thought in a Moment The reflective thought of the bhuddhi-ahamkara structure and viveka dialectically unites the two opposing worlds of the transcendental self and the spatiotemporal self in a specific temporality of reflective thought. It also provides the »mode of discernment of temporality. Herein we discover that the past is my past in my present« (Sinha 116). The empirical self unites the different temporalities of past and present in the moment of reflective thought in the present. I find here a striking resemblance between this idea and Arendt’s idea of de-spatializing and de-materialization of things by means of thinking. Since the transcendental self is non-temporal, no temporality can be attributed to it. It is only the subjective empirical self which is temporal and which unites the different temporal dimensions of experience and forms. It both unites lived time (permanence/purusha does not change with time) and maintains temporal distinction (change/manifold forms of subjectivity) when it engages in-disengaged reflective thought. This is what leads to »identity in difference«, since the pure self is the same in all human beings. It is only the empirical self that accounts for differences. Unlike Arendt, who associated the role of uniting the various »trains of thought« with time, Samkya attributes this purpose to the temporal subjective self, which is intrinsically temporal. Arendt does not maintain the distinctions between the transcendental and empirical self and for her various thought processes are linked to each other in a temporal order which the thinking subject attributes to them while in a dialogue with itself as the thinking ego. The Samkhya School maintains a distinction between the transcendental self and an empirical self by entrusting the empirical with continuously maintaining the distances between itself and the pure transcendental self. To be in the mode of discrimation, i. e. separating the subjective self (buddhi-ahamkara) from itself through viveka is akin to regaining »the original ground of the subject as principle of pure consciousness« (Sinha 123). For Arendt, the source of reflexive thought is within the mental activities of the thinking ego, while for Samkya it lies in uniting with the atemporal transcendental self through creating distance from the subjective self through viveka. 178 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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III
Conclusion
Thinking, which is otherwise free to move across various time zones in past, present or future, exists in worldly location of the embodied thinking subject. For both Arendt and the philosophical school of Samkya yoga, thinking is a timeless activity that interrupts worldly spatiotemporal life. The operation of thinking is a meaning-making activity and it is an invisible mental activity that requires distancing from ordinary existence. Both Arendt and the Samkya yogic school, recognize the central importance of thinking to human life. Thinking involves distancing oneself from the prejudices, interests, likes, dislikes, and other concerns of the empirical self. As part of a final conclusion to the question posed in the beginning of this paper, viz. »What is the temporality of thinking?,« the single answer I arrive at through both the different routes, viz. Arendt and Samkya yoga, is that it takes place in the moment and operation of reflective thought. This moment is the time and space in which the thinking subject lives life in an attempt to derive meaningful existence from it. It is the space of a discursive relationality that also posits itself as a space for conversations, not just with oneself, but also with the thoughts of others; and in this regard, it overlaps with the political existence of human beings.
References Arendt, Hannah. The Life of the Mind. New York: Harcourt Inc. 1978. – The Human Condition. Chicago: University of Chicago Press, 1998. – Lectures on Kant’s Political Philosophy. Chicago: University of Chicago Press, 1992. Calcagno, Antonio. »The Role of Forgetting in Our Experience of Time: Augustine of Hippo and Hannah Arendt.« Parrhesia. Number 13, 2011, 14–27. Dasgupta, S. N. A History of Indian Philosophy. 5 Vols. Cambridge University Press, 1951. Kafka, Franz. Parables and Paradoxes. New York: Schocken Books, 1958. Krsna Isvar. Samkhyakarika of Isvarakrsna with the commentary of Gaudapada. Trans. & Ed. T. G. Mainkar. Poona: Oriental Book Agency, 1972. Sinha, Braj M. P., »Problem of Time and Temporality in Sāmkhya-Yoga and Ābhidharma Buddhism« (1976). Open Access Dissertations and Theses. Paper 3106.
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Trees of Liberty and Asiatic Germs: Rethinking Metaphors of Transmission in European and Ottoman Political Thought I. By the end of the nineteenth century, thinking in the Ottoman Empire had become a deeply complicated enterprise. 1 As we approach the centennial of the empire’s collapse in 1922, thinking about the Ottoman Empire continues to pose difficulties of its own. In what follows, I want to explore a few of these conceptual difficulties and reflect on how we understand, or fail to understand, the intellectual shifts that took place within the Ottoman Empire during the last century of its existence. In doing so, I want to join in the collective historiographical re-imagining of late Ottoman history that is presently underway among scholars of the Middle East, while also considering some of its implications for how we conceive of the relationship between Europe and its many interlocutors. It seems to me that what these reimaginings lead to is a new way of thinking about how ideas travel from one place to another and what happens to them when they do. The nineteenth century is often described as the birth of the global era. It is understood to be an age in which technical breakthroughs – chiefly the conjunction of the steam engine, the electric telegraph, and the printing press – made it possible for economies of ideas, no less than those of goods and capital, to burst outside their customary national and regional circuits and run together to form a global network of exchange. 2 Of course, currents of ideas, goods, and 1 For their feedback on this paper, I am indebted to the organizers and attendees of the »Place/s of Thinking« Conference hosted at the University of Vienna in October, 2013, and in particular to Sophie Voegele and Karin Hostettler for their thoughtful feedback on an intermediate draft. 2 James Gelvin and Nile Green propose »the technologies of steam and print« as the two most important and widespread elements of globalization in the nineteenth and early twentieth centuries. James L. Gelvin and Nile Green, Global Muslims in the Age of Steam and Print (Univ. of California Press, 2013), 1. 1
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capital were never so respectful of state and regional borders as this narrative suggests. Yet there’s no mistaking the nineteenth century as a new chapter in the history of ideas for every part of the world that witnessed the advent of these new technologies, including most parts of the Ottoman Empire. Just as a newly globalized current of goods altered consumption patterns and spawned a new style of consumer, so did the newly global commerce in information and ideas, by transforming patterns of intellectual consumption and consciousness, create a new species of thinker. Yet this newly globalized intellectual commerce, despite its universalizing tendency, somehow failed to homogenize the world it brought into being. The thoughts being entertained in Istanbul in 1865, ten years after the Crimean War introduced the telegraph linking it to Varna and thence to London, were notably different from those being entertained on the northern shores of the Black Sea or the River Thames. 3 It seems that even in an age rightly characterized as global, people continued to think in place.
II. An example of the new species of thinker that emerged in the nineteenth century can be found in the Young Ottoman movement of the 1860s and 1870s. The movement emerged at a moment when the Ottoman state had become an object of global interest and speculation, financial and otherwise. Despite its military victory in the Crimean War and its diplomatic victory in being admitted to the Concert of Europe, the Ottoman state faced several different kinds of crisis at once. The first of these was fiscal: to win the war, the state had gone into debt to European investors, and as the years passed, its balance sheet continued to worsen, culminating in bankruptcy in 1875. The second crisis faced by the state was domestic unrest engendered by its efforts to collect tax revenue, which sometimes took the form of sectarian struggles between Christian peasants and their Muslim overlords (and sometimes the inverse). Finally, state leaders had to conRoderic H. Davison, »The Advent of the Electric Telegraph in the Ottoman Empire,« in Essays in Ottoman and Turkish History, 1774–1923: The Impact of the West, CMES Modern Middle East Series 16 (Austin, TX: University of Texas Press, 2013), 133–165.
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tend with increased meddling in domestic affairs by foreign powers, allies and enemies alike, and their own compromised ability to resist this interference. To help secure the empire’s revenue streams and its status as one of the grandes puissances of Europe, Ottoman leaders charged forward with an ambitious slate of reform and expansion known collectively as the Tanzimat, or reorderings. Many of the provisions aimed to tighten taxation and military conscription and centralize control over the administration of remote provinces, and many of these reforms engendered widespread discontent among the empire’s diverse and far-flung subjects. It was this discontent to which the Young Ottoman movement sought to respond. As a group composed largely of disaffected bureaucrats and other elites more broadly educated than their predecessors, the Young Ottomans sought to restore justice, fiscal solvency, and international prestige to the Ottoman state. Although the group had its beginnings in the founding of a secret society in 1865, its birth as a movement occurred in the moment when it announced its existence in the European press as »la jeune Turquie« 4. Its leading members spent years living overseas in European capitals, in self-imposed exile from the country on which they pinned their hopes, making themselves into thinkers between places in the most literal sense. Well aware that many Europeans considered the Ottoman Empire and its dominant religion, Islam, things of the past, they sought to prove otherwise by publishing a series of newspapers, often in multiple languages—Turkish, French, English, Greek, Arabic, and Armenian—whose common goal, despite their many differences, was to sketch a vision for an Ottoman future. At the core of that vision was a sense of the need to re-found Ottoman political legitimacy on a new basis, one that arose from the 4 In a February 1867 letter to the French journal La Liberté, Mustafa Fazıl Pasha identified himself as belonging to »le grand parti de la Jeune Turquie«, appropriating a phrase which had been coined by European writers to describe the ministers of the Tanzimat reforms themselves. The phrase was now being turned on its head to describe those who openly criticized these ministers. It would later be claimed by still another generation of reformers, active between 1889 and 1908, who embraced a somewhat different politics but employed a familiar set of tactics. M. Şükrü Hanioğlu, »Young Turks,« ed. Gerhard Bowering et al., The Princeton Encyclopedia of Islamic Political Thought (Princeton, N.J.: Princeton University Press, November 28, 2012), 601.
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exigencies of the new world order. In order to make their case successfully to all the constituencies that held sway over the fate of the Ottoman Empire, the Young Ottomans aspired to reach European audiences with their ideas and to teach the language of European politics to their compatriots. In their efforts to think anew about the foundations of Ottoman sovereignty and justice, they turned to a broad array of thinkers in both the European and Islamic traditions: French philosophes, Italian nationalists, and British liberals alongside Ottoman historians, Ibn Khaldun, and Islamic legal scholars. The resulting synthesis of European and Islamic traditions was a product of the newly layered thought-world of the nineteenth century, and of a newfound sense of a shared political stage and human destiny. Despite their various doctrinal differences, the Young Ottomans were united by the imperative they felt to respond to the ideological challenges of the new world order and to ensure a place for the Ottoman Empire within it.
III. Today, a debate still rages over the legacy of the Young Ottoman movement, and particularly that of Kemal, its most famous member. The debate centers on the true origins and fundamental orientation of their thought. Did they favor a turn »toward« Europe or »against« it? Was Kemal sincere in his desire for liberal reforms as the fulfillment of Islamic principles, or was he simply masking fundamentally European political convictions in Islamist rhetoric to make them palatable to his more conservative countrymen? Perhaps, as one scholar suggests, »it was some combination of the two that even Kemal himself would not have been able to sort out.« 5 I want to suggest that the fault lies not with Kemal’s understanding, but with ours. Instead of blaming the Young Ottomans for failing to resolve the paradoxes of their age, we would benefit from a closer look at how the modes of thought that modern historians employ may serve to create and perpetuate these paradoxes. Perhaps what’s needed to unravel the apparent paradoxes of late Ottoman liberalism 5 Nikki R. Keddie, »The French Revolution and the Middle East,« in Global Ramifications of the French Revolution, ed. Joseph Klaits and Michael H. Haltzel (New York: Cambridge University Press, 1994), 150.
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is a new set of metaphors for thinking about the relationship between Ottoman and European thought. Metaphor is one of the central tools available to intellectual historians for thinking about the past. We’re not the only ones who rely on metaphors to think: in their classic study Metaphors We Live By, the linguist George Lakoff and the philosopher Mark Johnson argue that thought itself is »fundamentally metaphorical in nature.« 6 Our metaphors are vessels that contain our thoughts, allowing us to grasp them. But in serving this purpose they mediate our sense of reality, yielding a system of ideas that is also consonant with a system of values. When we forget that our metaphors are mere artifices to help us think, we risk allowing them to stand in for reality itself. In this way, metaphors pose a problem for everyone who tries to think. But they pose a particular problem when the object of thought is ideas themselves, which have no existence apart from our conception of them. The disembodied idea is a figment of our collective imagination, and the only language we have to talk about it is figurative. The most pervasive metaphors become so embedded in our collective patterns of thought that we lose sight of them entirely, mistaking the logic of the metaphor for reality itself. When this happens, our tools for thinking become impediments to thinking anew.
IV. A compelling example of the power of metaphor to shape historical thought can be found in one of the classic works of Ottoman historiography, Bernard Lewis’s 1961 The Emergence of Modern Turkey. 7 More than fifty years after its publication, Lewis’s book retains its canonical status in the field of late Ottoman history and its place on university syllabi. A closer look at this influential text reveals how metaphors can work to obscure our understanding of the past as much as they illuminate it. Lewis begins his story of Turkish modernity at the turn of the eighteenth century, setting the stage with a pair of chapters on »The George Lakoff and Mark Johnson, Metaphors We Live By, 2nd ed. (Chicago: University of Chicago Press, 2003), 3. 7 Bernard Lewis, The Emergence of Modern Turkey (London; New York: Oxford University Press, 1961). 6
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Decline of the Ottoman Empire« and »The Impact of the West.« This framing grants a starring role to the French Revolution as »the first great movement of ideas in Western Christendom that had any real effect on the world of Islam.« 8 Such an assertion required him to breeze past a millennium of continuous and robust exchange across the Mediterranean. Throughout these centuries of »confrontation,« Lewis writes that European movements »woke no echo and found no response among the Muslim peoples.« The question of Christendom’s susceptibility to Muslim influence is well outside the frame of his inquiry. Instead, his focus is on the receptiveness of Islamic society, which he paints as »ossified« and »impervious to external stimuli«, having »decisively rejected the West« up until the moment of its first contact with Jacobin ideals. 9 In order to make his case for the French Revolution as a pivotal event in Ottoman history, Lewis had to contend with the dearth of historical evidence suggesting the penetration of Jacobin ideals among Ottoman Muslims. This was not for lack of trying on the Jacobins’ part. 10 Finding himself with abundant evidence of French propaganda efforts, and none whatsoever of their impact on Ottomans of any stripe, Lewis concedes that the initial impact of these efforts was, »inevitably, limited and muffled.« 11 His view of the French Revolution as a world-historical event was unshaken, but it would require a lively metaphorical imagination to trace its path. Fortunately for Lewis, he stumbled upon an anecdote from deep within the annals of diplomacy that served his purposes well. It seems that when the first delegation of the newly minted French Republic arrived in Istanbul in June of 1793, they celebrated by planting a tree in the courtyard of the French embassy. Lewis seizes upon this »tree of liberty« as a metaphor for the transmission of Jacobin ideals in Ottoman territory. He takes it as license to speculate about »the unrecorded efforts of individual Frenchmen in Istanbul and elsewhere, who abandoned the mutually agreed exclusiveness that had kept Ibid., 40. Lewis’s Chapter on »The Impact of the Middle East« is closely based on his 1953 article, »The Impact of the French Revolution on Turkey« (Journal of World History / Cahiers d’Histoire Mondiale, vol. 1, no. 1, 105–125). 9 Ibid., 40–41. 10 As Lewis notes, in the immediate wake of the Revolution, the French government established a printing press in Istanbul to produce pamphlets in both French and Turkish (ibid., 64). 11 Ibid., 55. 8
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Franks and Muslims from all but formal contacts in the past,« and suggests, in the same speculative mode, that the »enthusiastic optimism of revolutionary France found a response among the few but highly placed Turks that looked to the West for guidance and inspiration.« Circling back to his metaphor, he concludes, »[T]he cutting from the tree of liberty had struck root in the soil of Islam. It was to bear both sweet and bitter fruit.« 12 That tree is central to what makes Lewis’s chapter on »The Impact of the West« a masterful piece of speculative historical writing. In arguing for the West’s impact, he allows his metaphor to do the work for him, and it does. The chapter manages to powerfully suggest, if not demonstrate, the role of European ideas and their emissaries in the story of Ottoman intellectual transformation, up to and including the Young Ottoman movement and the writings of Namık Kemal. His metaphor suggests the French Revolution as the seedbed of Ottoman liberalism, and French thinkers as the only gardeners.
V. Lewis is not to be blamed as the sole originator of such ideas. The lineage of this way of thinking can be traced back to the early decades of the nineteenth century, and perhaps earlier. We can see its outlines clearly emerging in the flood of European reportage on the Edict of Gülhane in 1839, which promised to protect the »life, honor, and property« of all Ottoman subjects. The edict was summed up in the Revue de Paris as an »attempt to communicate to the populations of the Ottoman Empire the elementary principles of the political civilization of the West.« 13 Similar glosses were offered by other European journalists and diplomats who bore witness to the event, and who continued to read traces of European influence in every corner of political and intellectual life. 14 Ibid., 72. Lewis was so fond of the 1793 tree-planting episode at the French embassy that he cited it in several of his subsequent publications, including »The Quest for Freedom: A Sad Story of the Middle East« (Encounter, March 1964, pp. 29–39), as well as his later books The Shaping of the Modern Middle East (New York: Oxford University Press, 1994) and The Middle East: A History of the Last 2,000 Years (New York: Scribner, 1995). 13 »Bulletin,« Revue de Paris, December 1839, 64. 14 The list of journalists, missionaries, diplomats, and scholars who produced influen12
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These accounts collectively formed the proverbial »first draft« of Ottoman history in European languages, and their influence on the course of later scholarship has been profound. While nineteenth-century accounts displayed a tendency to view Ottoman reforms as purely imitative, twentieth-century scholars developed a more nuanced language for the relationship between European and Ottoman ideas. The metaphor of »impact« had its heyday among midcentury American and European scholars, whose efforts to account for the dramatic Tanzimat reforms led them to credit the adoption of European (and particularly French and British) ideas of liberty, progress, and good government. 15 Turkish scholars, meanwhile, more often demurred from the language of impact, preferring instead the softer metaphors of »influence« or »permeation« 16. Beginning in the 1970s, a new generation of historians with a materialist bent replaced European liberalism with European imperialism as the motive force of the Tanzimat reforms. 17 In recent years, a new wave of scholarship tial accounts of the Tanzimat era includes the Hungarian Orientalist Armin Vambéry, the Italo-British journalist Antonio Gallenga, and the French diplomat Édouard Engelhardt, whose two-volume account La Turquie et le Tanzimat au Histoire des reformes dans l’Empire Ottoman depuis 1826 jusqu’à nos jours, 2 vols. (Paris: Cotillon, 1882) has been translated into Turkish. For an alternate reading of the Edict’s origins, see Butrus Abu-Manneh, »The Islamic Roots of the Gülhane Rescript,« Die Welt Des Islams, New Series, 34, no. 2 (November 1, 1994): 173–203. 15 See, for example, Bernard Lewis, »The Impact of the French Revolution on Turkey,« Journal of World History / Cahiers d’Histoire Mondiale 1, no. 1 (July 1953): 105–125; Niyazi Berkes, The Development of Secularism in Turkey (Montreal: McGill University Press, 1964); Bertrand Badie, »The Impact of the French Revolution on Muslim Societies: Evidence and Ambiguities,« International Social Science Journal 41, no. 119 (February 1989): 5; Keddie, »The French Revolution and the Middle East«. 16 Kamıran Birand, Aydınlanma devri devlet felsefesinin Tanzimatta tesirleri [The Influences of Enlightenment-era philosophy of state on the Tanzimat] (Ankara: Son Havadis Matbaası, 1955); Serif Mardin, »The Influence of the French Revolution on the Ottoman Empire,« International Social Science Journal 41, no. 119 (February 1989): 17; Kemal H. Karpat, »Historical Continuity and Identity Change or How to Be Modern Muslim, Ottoman, and Turk,« in Ottoman Past and Today’s Turkey, ed. Kemal H. Karpat (Leiden: Brill, 2000); Füsun Ataseven, Elif Ertan, and Emine Bogenç Demirel, »De l’Empire ottoman à la République: la caricature turque sous l’influence du français«, Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde, no. 38/39 (2007): 260–272. 17 Cf. Roger Owen, The Middle East in the World Economy, 1800–1914 (London: Methuen, 1981); Fatma Müge Göcek, Rise of the Bourgeoisie, Demise of Empire: Ottoman Westernization and Social Change (New York: Oxford University Press,
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has sought to revise the model further, with the aim of granting of due credit to Ottoman historical agency. Ottoman actors are no longer said to have merely embraced or resisted Europe; instead, they are seen to have »appropriated« it, groundskeepers trimming the tree of European ideas to suit their own values and circumstances. 18 Yet despite the growing sophistication of historiographical approaches to Ottoman relations with the West, Europe remains the pivot around which Ottoman history is seen to turn. 19 Indeed, there are sound reasons for the specter of Europe to figure so large in Ottoman intellectual history, as it also does in the histories of Russia, China, India and elsewhere in the European periphery and its colonial outposts. The reality of European commercial, cultural, and military penetration throughout the nineteenth century means that few places or peoples could escape what Dipesh Chakrabarty has called »the burden of European thought and history« 20. The global networks of ideas, goods, and capital that emerged in this period were largely the product of European enterprises, and the transnational thoughtworld they created was made up of European thinkers and the nonEuropean thinkers in dialogue with them. Yet it seems that historians keep making an elementary mistake, conflating the importance of Europe with the importance of Europeans. The notion that the French were deliberate and effective agents of the spread of Jacobin ideals has proved quite persistent, surviving into recent scholarship.21
1996); Donald Quataert, »Ottoman History Writing and Changing Attitudes Towards the Notion of ›Decline‹«, History Compass 1 (August 2003): 1–10. 18 Cf. Elizabeth Brown Frierson, »Gender, Consumption and Patriotism: The Emergence of an Ottoman Public Sphere«, in Public Islam and the Common Good, ed. Armando Salvatore and Dale F. Eickelman (Leiden and Boston: Brill, 2004), 99–125; Brian Silverstein, Islam and Modernity in Turkey (New York: Palgrave Macmillan, 2011); Birsen Bulmuş, Plague, Quarantines and Geopolitics in the Ottoman Empire (Edinburgh University Press, 2012), among many others. 19 Among the handful of notable exceptions to this pattern are the writings of İsmail Kara and Butrus Abu-Manneh. Cf. Kara, Islamcıların Siyası Görüsleri [Political Perspectives of Islamists] (Istanbul: Iz Yayıncılık, 1994). 20 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference (New Edition) (Princeton University Press, 2007), 4. 21 See, for instance, Joëlle Pierre, »La presse française de Turquie, canal de transmission des idées de la Révolution«, Le Temps des médias 5, no. 2 (September 1, 2005): 168–176.
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VI. A closer examination of the historical record reveals that ideas rarely act in the ways we expect them to. If we suspend the assumption that it was French Jacobins who spread French liberalism abroad, the path is cleared for other possibilities to emerge. In 1798, Rhigas Velestinlis was executed and thrown into the Danube for conspiring to overthrow the Ottoman state. The most damning piece of evidence against him was a revolutionary pamphlet he had written containing a »New Political Constitution for the Inhabitants of Rumeli, Asia Minor, the Archipelago, Moldavia and Wallachia.« Closely modeled on the French Constitution of 1793, yet with significant departures from the original, it put forth a vision of for a new state, alternately styled a republic and an empire, in which the equality of »all men, Christians and Turks«, would be respected, along with their right to freedom, life, and property. 22 Forty-one years later, in the wake of the successful Greek Revolt, that same language would be taken up by the Ottoman state itself in the Edict of Gülhane, in an effort to subvert the liberal rhetoric of other separatist movements. When, in 1867, three of the leading Young Ottomans abandoned their bureaucratic posts to board a steamer bound for Marseilles, they were headed to found a journal called Hürriyet, or »Liberty«. When these men called for the undoing of those very legal reforms implemented in the name of the Edict of Gülhane, particularly the adoption of European legal codes in place of traditional Ottoman ones, they did so in the name of liberty. Namık Kemal and Rhigas Velestinlis both shared an affection for the works of the Baron de Montesquieu, particularly his 1748 The Spirit of the Laws, and both mobilized his concept of universal law to militate for their political visions, which were remarkably closely aligned. To the extent that Kemal can understood as an heir to the French liberal tradition, it is at least in part through the lineage of Rhigas Velestinlis and the leaders of the Greek Revolt. The above narrative suggests that ideas move and act independently of their carriers, recombining with other ideas to produce noMaría López Villalba, »Balkanizing the French Revolution: Rhigas’s New Political Constitution«, in Greece and the Balkans. Identities, Pereceptions, and Cultural Encounters since the Enlightenment, ed. Dimitris Tziovas (Burlington, VT: Ashgate, 2003), 144.
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vel ideological configurations and unintended consequences. For all its ham-fistedness, Lewis’s botanical metaphor contains a valuable germ of insight into how ideas behave. It expresses the notion of ideas as seeds of future thought and action, while capturing their aliveness, their portability and traceability, and their susceptibility to change. Where it falters is in its insistence on roots, on terroir, and on its presupposition that gardeners are needed to plant ideas and cultivate them. In its place, what we need is a metaphor equal to the task of conveying ideas as fundamentally deracinated and liberated from the intentionality of their carriers – as if they had minds of their own – as well as opportunistic and promiscuous, capable of producing new strains of thought. Above all, it is this endless capacity for proliferation and mutation that leads me to suggest the metaphor of ideas as germs. The metaphor of ideas as germs is nothing new. It flourished in the nineteenth century, an era when plague and cholera continually threatened port cities and their interiors, crossing land and sea by means of the same avenues that had opened up global trade. In one of the very first acts of the Greek Revolt of 1821, Alexander Ypsilanti issued a proclamation calling on his fellow Greeks to overthrow their Ottoman overlords, adding, »Those who disobey and turn a deaf ear to this present appeal will be declared bastards and asiatic germs.« 23 Germs could be people. They could also be ideas. As the notion of contagion gathered steam, it increasingly suggested itself as a metaphor for the spread of ideas. It also helped to root the notion of ideas as sourced, as either native or foreign. In AIDS and Its Metaphors, Susan Sontag observes that »illness is a species of invasion«, and diseases are linked to foreignness. Speaking of syphilis, she writes: »It was the ›French pox‹ to the English, morbus Germanicus to the Parisians, the Naples sickness to the Florentines, the Chinese disease to the Japanese.« 24 To the Ottomans, it was known as the Frankish disease. The contagion of disease became linked to intellectual contagions, as in the Iranian intellectual Jalal Al Ahmad’s 1962 essay on »Gharbzadegi«, or »occidentosis«, a social illness induced by exposure to the West. 25 The metaphor of ideas as germs thus survived the birth
Richard Clogg, The Movement for Greek Independence, 1770–1821: A Collection of Documents (New York: Barnes & Noble, 1976), 203. 24 AIDS and Its Metaphors (New York: Farrar, Straus and Giroux, 1989), 47–48. 25 Jalal Al Ahmad, Plagued by the West [Gharbzadegi], trans. Paul Sprachman (Delmor, N.Y.: Center for Iranian Studies, Columbia University, 1982). 23
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of the germ theory of disease, even gaining a new level of technical specificity as ideologues armed with a more precise knowledge of the mechanisms of disease transmission and prevention developed a rhetoric of »cells« and »inoculation« against infectious ideas. The metaphor of the germ serves as a kind of conceptual bridge between the early nineteenth-century thought-world and ours: from a time well before the germ theory of disease, when germs were nebulously conceived as seeds of contagion, to the present, when microbes are cultivated and manipulated in order to master the etiology of bacterial and viral infections. Both Ypsilanti’s Asiatic germs and Lewis’s tree of liberty can each be read as variations on a germ theory of ideas, and more contemporary versions exist as well. The British biologist Richard Dawkins’ 1976 The Selfish Gene introduced the germ-like concept of the »meme«, an aggressively opportunistic and self-replicating creature that competed for dominance with other memes in the terrain of the popular imagination. 26 A few years later, the French philosophers Gilles Deleuze and Felix Guattari’s A Thousand Plateaus countered with a radically democratic vision of ideas as rhizomes, an explicitly anti-arboreal vision of lateral rather than hierarchical relation. 27 Nearly forty years after their publication, both metaphors have proved highly contagious, becoming ubiquitous in our language while generating innumerable permutations of their own. The notion of the »meme« continues to thrive, given new life by the internet, even as the meaning Dawkins attached to it – the notion of ideas as irreducible, self-replicating units of intellectual content that compete for dominance – has become passé. As our understanding of genes themselves has shifted, so the meme has shifted as well, coming to be defined as much by its mutability and responsiveness to other »memes« as by its contagiousness. The deployment of »rhizome« too, has migrated away from its Deleuzian sense, in a way that Deleuze himself might appreciate. Whether we conceive of ideas as akin to rhizomes, genes, or agents of infection, the common vision remains that of the »germ« – alive, invisible, opportunistic, mutable, and beyond the control of their carriers. One of the most powerful features of a germ theory of Richard Dawkins, The Selfish Gene (New York: Oxford University Press, 1978). Gilles Deleuze and Felix Guattari, A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia, trans. Brian Massumi (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1987 [1980]).
26 27
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ideas is its power to disrupt the distinctions we habitually draw between individuals and societies. Disease terrifies us in part because of its rampant disregard for the borders between people and nations: an individual cannot become infected without implicating her community, her country, and the globe. »However we choose to think of the social body«, writes Eula Biss in her book On Immunity, »we are each other’s environment.« 28 By imperiling the world at large, germs have the power to expose the fictions of personal and national autonomy that govern our sense of reality, including historical reality, with transformative effects on our global politics as well as our sense of self. In this sense, then, germ theory represents one path toward a truly transnational history of ideas. The germ offers us a powerful set of metaphors for thinking anew about the production, spread, and transformation of ideas, but it does even more: it helps us learn to think anew about where we ourselves begin and end. Only when that becomes a live question for us will we be ready for the challenge of thinking with the nineteenth century.
References Abu-Manneh, Butrus. »The Islamic Roots of the Gülhane Rescript.« Die Welt Des Islams, New Series, 34, no. 2 (November 1, 1994): 173–203. Al Ahmad, Jalal. Plagued by the West [Gharbzadegi]. Translated by Paul Sprachman. Delmor, N.Y.: Center for Iranian Studies, Columbia University, 1982. Ataseven, Füsun, Elif Ertan, and Emine Bogenç Demirel. »De l’Empire ottoman à la République: la caricature turque sous l’influence du français.« Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde, no. 38/39 (2007): 260–272. Badie, Bertrand. »The Impact of the French Revolution on Muslim Societies: Evidence and Ambiguities.« International Social Science Journal 41, no. 119 (February 1989): 5. Berkes, Niyazi. The Development of Secularism in Turkey. Montreal: McGill University Press, 1964. Birand, Kamıran. Aydınlanma devri devlet felsefesinin Tanzimatta tesirleri [The Influences of Enlightenment-era philosophy of state on the Tanzimat]. Ankara: Son Havadis Matbaası, 1955. Biss, Eula. On Immunity: An Inoculation. Minneapolis, Minn.: Graywolf Press, 2014. Eula Biss, On Immunity: An Inoculation (Minneapolis, Minn.: Graywolf Press, 2014), 20.
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Trees of Liberty and Asiatic Germs »Bulletin.« Revue de Paris, December 1839. Bulmuş, Birsen. Plague, Quarantines and Geopolitics in the Ottoman Empire. Edinburgh University Press, 2012. Chakrabarty, Dipesh. Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference (New Edition). Princeton University Press, 2007. Clogg, Richard. The Movement for Greek Independence, 1770–1821: A Collection of Documents. New York: Barnes & Noble, 1976. Davison, Roderic H. »The Advent of the Electric Telegraph in the Ottoman Empire.« In Essays in Ottoman and Turkish History, 1774–1923: The Impact of the West, 133–165. CMES Modern Middle East Series 16. Austin, TX: University of Texas Press, 2013. Dawkins, Richard. The Selfish Gene. New York: Oxford University Press, 1978. Deleuze, Gilles, and Felix Guattari. A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia. Translated by Brian Massumi. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1987. Engelhardt, Edouard. La Turquie et le Tanzimat au Histoire des reformes dans l’Empire Ottoman depuis 1826 jusqu’à nos jours. 2 vols. Paris: Cotillon, 1882. Frierson, Elizabeth Brown. »Gender, Consumption and Patriotism: The Emergence of an Ottoman Public Sphere.« In Public Islam and the Common Good, edited by Armando Salvatore and Dale F. Eickelman, 99–125. Leiden and Boston: Brill, 2004. Gelvin, James L., and Nile Green. Global Muslims in the Age of Steam and Print. Univ. of California Press, 2013. Göcek, Fatma Müge. Rise of the Bourgeoisie, Demise of Empire: Ottoman Westernization and Social Change. New York: Oxford University Press, 1996. Hanioğlu, M. Şükrü. »Young Turks.« In The Princeton Encyclopedia of Islamic Political Thought, edited by Gerhard Bowering, Patricia Crone, Wadad Kadi, Devin J. Stewart, Muhammad Qasim Zaman, and Mahan Mirza, 601–602. Princeton, N.J.: Princeton University Press, 2012. Kara, Ismail. Islamcıların Siyası Görüsleri [Political Perspectives of Islamists]. Istanbul: Iz Yayıncılık, 1994. Karpat, Kemal H. »Historical Continuity and Identity Change or How to Be Modern Muslim, Ottoman, and Turk.« In Ottoman Past and Today’s Turkey, edited by Kemal H. Karpat. Leiden: Brill, 2000. Keddie, Nikki R. »The French Revolution and the Middle East.« In Global Ramifications of the French Revolution, edited by Joseph Klaits and Michael H. Haltzel, 140–157. New York: Cambridge University Press, 1994. Lakoff, George, and Mark Johnson. Metaphors We Live By. 2nd ed. Chicago: University of Chicago Press, 2003. Lewis, Bernard. The Emergence of Modern Turkey. London; New York: Oxford University Press, 1961. – »The Impact of the French Revolution on Turkey.« Journal of World History / Cahiers d’Histoire Mondiale 1, no. 1 (July 1953): 105–125. Mardin, Serif. »The Influence of the French Revolution on the Ottoman Empire.« International Social Science Journal 41, no. 119 (February 1989): 17. Owen, Roger. The Middle East in the World Economy, 1800–1914. London: Methuen, 1981.
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Madeleine Elfenbein Pierre, Joëlle. »La presse française de Turquie, canal de transmission des idées de la Révolution.« Le Temps des médias 5, no. 2 (September 1, 2005): 168–176. Quataert, Donald. »Ottoman History Writing and Changing Attitudes Towards the Notion of ›Decline‹.« History Compass 1 (August 2003): 1–10. Silverstein, Brian. Islam and Modernity in Turkey. New York: Palgrave Macmillan, 2011. Sontag, Susan. AIDS and Its Metaphors. New York: Farrar, Straus and Giroux, 1989. Villalba, María López. »Balkanizing the French Revolution: Rhigas’s New Political Constitution.« In Greece and the Balkans. Identities, Pereceptions, and Cultural Encounters since the Enlightenment, edited by Dimitris Tziovas, 141–154. Burlington, VT: Ashgate, 2003.
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Dominanz als Kategorie in der interkulturellen Philosophie – Eine wirtschaftsethische Perspektive Transnationale Abhängigkeiten Internationale Verflechtungen und Austauschprozesse mögen in ihrer Art nicht neu sein: Seit dem Altertum gab es weltweite Handelsrouten, und transatlantische Handelsbeziehungen – ähnlich den heutigen – gibt es seit dem Beginn der Industrialisierung. In den letzten Jahrzehnten jedoch wandelten sich Quantität und Qualität transnationaler Handelsbeziehungen, die ökologischen und ökonomischen Konsequenzen nahmen irreversible Ausmaße an. Die wirtschaftliche Globalisierung führt zu einer Erhöhung transnationaler Interdependenzen und »meist zu einer Intensivierung von wechselseitigen Abhängigkeiten über nationale Grenzen hinweg«. 1 Ein fester Bestandteil des internationalen ökonomischen Beziehungsgeflechts besteht darin, dass Unternehmensteile aufgrund günstigerer Arbeits- und Produktionsbedingungen in andere Weltregionen und damit in Gesellschaften mit anderen kulturellen Traditionen ausgelagert werden. Diese Auslagerung bringt einen Einfluss auf beiden Seiten mit sich, der Auswirkungen für Individuen wie für ökonomische Belange hat. Die so angestoßene Transformation muss bei der Konzeption von Internationalisierungsstrategien aller betreffenden Unternehmensbereiche in die Betrachtung einbezogen werden. Die kulturelle Komponente sowie ein den Menschen – im Hinblick auf sein ökonomisches Umfeld – in seiner Ganzheit erfassendes Menschenbild inklusive soziologischer und psychologischer Einflussgrößen und so auch unterschiedliche kulturelle Prägungen von Mitarbeitern sowie ihre hieraus ableitbaren Wertvorstellungen müssen ausreichend beachtet werden. 2 U. Beck: Was ist Globalisierung?, 88. Vgl. A. Dietrich: Systemtheoretische Fundierung der kulturfokussierten Managementforschung, 85 f. 1 2
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Die globale Ökonomie wirkt sich auch lokal aus und betrifft damit die Lebensrealität von vielen Menschen, ohne deren Interessen angemessen zu berücksichtigen; für einen wirtschaftsethischen Diskurs, der eine menschenwürdige Ökonomie anstrebt, sollte dieser Zusammenhang jedoch ein notwendiger Bestandteil sein. Die lokalen Auswirkungen werden bedingt durch die globalen wirtschaftlichen Machtverhältnisse, in deren Rahmen die Frage nach internationaler Gerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit auftritt, vor allem im Hinblick auf die Beziehungen zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden. Da diese Beziehungen auf dem internationalen Parkett nicht rein ökonomischer Natur sind, sondern auch geprägt durch soziostrukturelle und kulturelle Aspekte, muss man heute für eine Erklärung der »sozialen und kulturellen Dynamik internationaler Wirtschaftsbeziehungen« sowohl von kulturologischen als auch ökonomischen Annahmen ausgehen, um »die Dialektik von sozialer Identität und ökonomischen Interessen in der internationalen Zusammenarbeit« 3 angemessen zu erfassen. Wirtschaftliche Dominanzverhältnisse […] beruhen auf ungleichen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen und sind durch die Doktrin der kulturellen Überlegenheit einer Gruppe über eine andere sowie durch vertikale Ausgrenzungsstrategien […] gekennzeichnet. Der wirtschaftliche Austausch findet im Rahmen der von der MajoritätenGruppe festgelegten kulturellen Institutionen, Rollenmuster und Statusvariationen statt, der Zugang zu den Ressourcen und Positionen des Gesamtsystems wird durch die Majoritäten-Gruppe kontrolliert und […] eingeschränkt. 4
Die Übermacht westlicher Ökonomie 5, die sich unter anderem in der Kontrolle der internationalen Wirtschaftsinstitutionen, der Regelsetzung bei Handelsvereinbarungen und der Expansion so bezeichneter Kulturgüter deutlich zeigt, wird oft mit dem Argument abgewiesen, der Markt kenne keine kulturellen Unterschiede und würde sich selbst regulieren.
3 4 5
E. Dettmar: Markt – Macht – Moral, 34. Ebd., 42. Weiterführend dazu u. a. Sen, Aßländer, Fanon.
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Historische Ursprünge Aus einer historischen Betrachtung der heutigen Wirtschaftsbeziehungen können zwei Ansätze für eine gegenteilige Argumentation herangezogen werden: Zum einen beruht die Entwicklung der gemeinhin als westlich, kapitalistisch und neoliberal verstandenen Ökonomie auf den Werten der Aufklärung, die sich in Europa entwickelt hat, also einer spezifischen Region mit einer spezifischen Denktradition. Zum anderen basieren die heutigen ökonomischen Beziehungen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden auf den während des Kolonialismus etablierten Strukturen; die Frage nach den heutigen Nutznießern dieser Strukturen und einer angemessenen historischen Aufarbeitung wird auch aus wirtschaftsethischen Diskursen meist ausgeklammert.
Die Entwicklung der ›westlichen Ökonomie‹ aus der historischen Phase der Aufklärung Michael Aßländer 6 zufolge lassen sich die Ursprünge der aktuellen Ausprägung neoliberaler Ökonomie auf eine spezifisch europäische, aus den Werten der Aufklärung resultierende politische Grundhaltung zurückführen. Das neoliberale Wirtschaftssystem zeigt sich somit (in der historischen Analyse) als lokal verankert und notwendig kulturell bestimmt. Es kann deshalb nicht ohne Weiteres in einen anderen soziokulturellen Rahmen transferiert werden. Der imperialistisch motivierte Versuch eines solchen Transfers muss daher äußert kritisch gesehen werden. 7 Die Ideale der Aufklärung mit ihren Vorstellungen von bürgerlicher Freiheit, dem Kalkül rationaler Vorteilsabwägung und dem Streben nach individueller Selbstverwirklichung finden sich in der ökonomischen Theoriebildung als »(ökonomischer) Liberalismus, (ökonomische) Rationalität und (methodischer) Individualismus« 8. Daher kann die neoliberale kapitalistische Ökonomie nicht als 6 7 8
M. Aßländer: Die Geburt der Ökonomie aus dem Geist der Aufklärung, 287–312. Ebd. Ebd.
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weltweit universales Gesellschaftsmodell angenommen werden, und der Versuch, westliche Vorstellungen von Demokratie und Marktwirtschaft beliebig in andere Kulturkreise zu exportieren, muss als kulturimperialistisch und deshalb problematisch gesehen werden. 9 [Der] immer deutlicher hervortretende politische Gestaltungswille, eine ›Weltwirtschaft‹ nach dem ökonomischen Vorbild der westlichen Industrienationen ausformen zu wollen, ohne sich dabei auf die Wurzeln des eigenen Denkens zu besinnen, sieht sich daher nicht ganz zu unrecht [sic!] dem Vorwurf des ›Kulturimperialismus‹ ausgesetzt. Mit Berufung auf den Erfolg des westlichen Wirtschaftsmodells werden westliche Werte in Kulturkreise exportiert, deren Gesellschaftsmodell in seiner Funktionsweise von anderen als den Werten der europäischen Aufklärung abhängig ist. […] Allerdings mag die Berücksichtigung lokaler kultureller Werte bei der Ausgestaltung einer wirtschaftlichen Ordnung mitunter zu Ergebnissen führen, die dem liberalen Wirtschaftsdenken westlicher Provenienz entgegenstehen. 10
Das Verhältnis Nord-Süd: Ökonomie auf Basis kolonialer Wirtschaftsstrukturen Am deutlichsten zeichnet sich das hierarchische Dominanzverhältnis in den Beziehungen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden ab, das einen großen Anteil der internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen bestimmt und bei der Zurechnung von Konfliktfällen zu Rechtskontexten immer wieder rechtliche Grauzonen offenlegt. Viele der gegenwärtigen ökonomischen Beziehungen haben ihren Ursprung in der Epoche des Kolonialismus: So ist zum Beispiel der legitime Handel mit Palmöl, mit Elfenbein, Kautschuk oder Kaffee aus dem Sklavenhandel 11 hervorgegangen; durch diesen Handel und die Einfuhr europäischer Zahlungssysteme wurden viele afrikanische Staaten in das ökonomische Weltsystem eingebunden. Diese Faktoren veränderten die afrikanischen Wirtschaftssysteme nachhaltig bis heute: Die vermehrte Einfuhr europäischer und indischer Stoffe verdrängte die qualitativ hochwertige afrikanische Produktion, importierte WerkVgl. ebd. M. Aßländer: Die Geburt der Ökonomie aus dem Geist der Aufklärung, 306 f. 11 Vgl. W. Schicho: Geschichte Afrikas, 60. 9
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zeuge hatten den Niedergang der Schmiedeproduktion zur Folge: Die wirtschaftliche Schwächung der afrikanischen Gesellschaften bereitete die politische Machtübernahme durch europäische Staaten vor. 12
Infolgedessen setzte von europäischer Seite der Abbau aller möglichen Bodenschätze, wie Gold und Diamanten, Kupfer, Zinn, Eisen, Kohle, Phosphate, und der Export agrarischer Produkte, wie Erdnüsse, Palmöl, Kakao und später auch von Gewürzen, Baumwolle, Wein und Getreide ein. 13 Die von den Kolonialmächten durchgesetzte Umstellung auf Monokulturen hat nicht nur die Böden geschädigt und die lokalen sozialen, ökonomischen und ökologischen Strukturen der Landwirtschaft nachhaltig zerstört. Der afrikanische Markt wird heute zudem mit europäischen Überproduktionen überschwemmt, deren subventionierte Niedrigpreise die Erzeugnisse regionaler und in kleineren Mengen produzierende Landwirte vom eigenen Markt verdrängen. Die Überproduktion drückt auch die Preise auf dem Weltmarkt, sodass afrikanische Produzenten nicht konkurrenzfähig sind und ihnen ein gleichberechtigtes Auftreten prinzipiell nicht möglich ist. Aufgrund dieser prägenden, über Jahrhunderte etablierten Wirtschaftssituation wurden auch nach der Erklärung der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Staaten in den 1960er Jahren die Beziehungen zwischen den ehemaligen Kolonien und den ehemaligen Kolonialmächten durch letztere bestimmt und somit verhindert, »dass aus der politischen Unabhängigkeit eine wahrhaftige wurde. Der ›Süden‹ durfte zwar mitreden, aber kaum mitbestimmen. […] Der Periode der kolonialen Fremdbestimmung folgte so die neokoloniale Fremdbestimmung durch wirtschaftliche Abhängigkeit und globalpolitische Regulierung.« 14 Nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit versuchten viele afrikanische Staaten, eigene Wirtschaftsformen und eigene Bildungssysteme aufzubauen. 15 Doch das Erbe des Kolonialismus und seiner Strukturen war schwer abzuwerfen, und auch nach der Unabhängigkeit übVgl. ebd. Vgl. ebd., 61. 14 Ebd., 125. 15 Ein Beispiel dafür stellt Tansania dar, dessen erster Staatspräsident, Julius Nyerere, sich mit seinem Konzept Ujamaa für ein von den kolonialen Strukturen unabhängiges Wirtschafts- und Bildungssystem einsetzte, das auf den ursprünglichen Werten der Menschen und Völker Tansanias fußen sollte, statt auf den durch die britische Kolonialmacht importierten Werte und Güter. 12 13
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ten die ehemaligen Kolonisatoren weiterhin Druck aus. Diese Phase wird oft mit dem Stichwort der »neokolonialen Kontrolle« versehen, die der kolonialen Kontrolle folgte. Aufgrund dieser schwerwiegenden Auswirkungen kam es seitens des globalen Südens in den 1970er Jahren zur »Formulierung einer Neuen Internationalen Weltwirtschaftsordnung«, die »das Recht der Staaten« garantieren sollte, »über ihre Ressourcen und wirtschaftlichen Aktivitäten selbst zu verfügen sowie Kartelle rohstoffproduzierender Länder zu bilden. Die Forderungen des Südens lösten Gegenformulierungen der USA und anderer Wirtschaftsnationen aus; mit der globalen Krise der 1980er Jahre verschwanden die Forderungen aus dem internationalen Diskurs.« 16 Diese Forderungen, mit denen man die Dominierung durch die ehemaligen Kolonisatoren zu beenden versuchte, wurden seitens neoliberaler Ökonomen als »festes dirigistisches Korsett« verstanden, in das die »westlichen Industriestaaten« eingeschnürt werden sollten und unter dessen Zwang sie »kräftig an die armen Brüder im Süden zahlen und ihnen so ›helfen‹ sollten, die ›Entwicklung‹ nachzuholen«. 17 Auf diese Weise wurde auf Druck der wirtschaftlich erfolgreichen Industriestaaten die Forderung nach einer Änderung der Weltwirtschaftsordnung abgelehnt. Nach Vorstellung und Überzeugung eines Großteils der heutigen wirtschaftsethischen Ansätze sind diese Änderungen der Weltwirtschaftsordnung jedoch eine notwendige Bedingung, um den globalen Süden in den Weltmarkt einzubinden und eine gerechtere Verteilung von Gütern und Ressourcen zu erlangen. 18 »Der Kolonialismus ist ein System, das nicht mit seinem politischen Ende aufgehört hat zu existieren, sondern offensichtlich die Fähigkeit besitzt sich zu transformieren. Also läßt sich eine Kulturphilosophie als ein Diskurs der Identitäten nur als eine anti-koloniale Theorie entwerfen, die anerkennt, daß das koloniale System existiert und als eine Herausforderung für das westliche und außer-westliche Denken bestehen bleibt, […] das koloniale System [ist] ein integraler Bestandteil des europäischen Denkens und seiner Philosophie.« 19
16 17 18 19
W. Schicho: Geschichte Afrikas, 161. F. Ansprenger: Geschichte Afrikas, 104 f. Ebd. U. Lölke: Kritische Traditionen, 56.
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Die gegenwärtige Struktur der internationalen Beziehungen und ihrer Institutionen Auch gegenwärtige Interessen der handelnden Akteure werden auf dem internationalen Parkett infrage gestellt: Gegen den Internationalen Währungsfond, kurz IWF, und die Weltbank gibt es seitens globalisierungskritischer Netzwerke wie Attac immer wieder den Vorwurf, sie seien lediglich Machtinstrumente der reichen Industriestaaten. Solche Vorwürfe werden auch aus den eigenen Reihen, wie beispielsweise von dem ehemaligen Chefökonom des IWF, Joseph E. Stiglitz 20, formuliert, der eine Veränderung der bisherigen, einseitig zu Ungunsten des globalen Südens ausgerichteten Gewichtung der Stimmrechte fordert. Denn nur so können die Menschen im globalen Süden ihre Interessen angemessen vertreten und sich bei der Ausgestaltung der internationalen Ordnung ohne Druck und Domination für die Berücksichtigung ihrer Interessen einsetzen. Einen weiteren wichtigen Schritt stellt der Ausbau der Rechenschaftspflicht internationaler Organisationen dar. 21 Die Einführung einer solchen Rechenschaftspflicht ist der erste Schritt in die Richtung der Enttarnung und Kenntlichmachung und somit auch des Abbaus und der Dekonstruktion illegitimer Macht und kann dazu beitragen, die negativen Auswirkungen des globalen Wirtschaftsgefüges einzudämmen, die in erster Linie nur die ohnehin schwächer Gestellten dieses Systems betreffen. Die Struktur heutiger internationaler Beziehungen spiegelt die Geschichte verschiedener Regionen wider, die »definitiv eurozentrisch« 22 war. Vorherrschend ist noch immer die Auffassung, die Welt sei »eine Einheit, die politisch, wirtschaftlich und kulturell von Europa aus beherrscht wird« 23: »Auch heute noch werden parlamentarische Demokratie, freie Marktwirtschaft und christliche Religion als universelle Konzepte angesehen, die für die ganze bewohnte Erde gültig seien« 24; ohne die Bedeutung der Beiträge Europas zu schmä-
Stiglitz hatte diese Position von 1997 bis 2000 inne und schied wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem herrschenden Kurs des IWF aus. 21 J. Stiglitz: Die Chancen der Globalisierung, 351 ff. 22 Vgl. H. Kimmerle: Interkulturelle Philosophie zur Einführung, 41. 23 Ebd. 41 f. 24 Ebd., 42. 20
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lern, müsste »das Denkmodell mit einem Fragezeichen versehen« werden. 25 Diese beiden Argumentationslinien begründen die heutige neoliberale Wirtschaftsform: die Dominanz aus den kolonialen Beziehungen faktisch, die Werte aus der Aufklärung ideologisch. Diesem Eurozentrismus entgegenzutreten, ist im Hinblick auf die wirtschaftliche Emanzipation der Menschen wichtig und notwendig. Die Bedeutung des Wirtschaftens für den Menschen innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens, die Einflüsse der Wirtschaftstätigkeit auf lokale kulturelle Strukturen ebenso wie die Expansion so bezeichneter Kulturgüter auf »fremde« Märkte haben Auswirkungen, die reflektiert werden müssen, um eine Basis für eine menschliche Ökonomie schaffen zu können.
Die Rolle der Philosophie Die Rolle, die die Philosophie in diesem Zusammenhang der internationalen Beziehungen spielen kann, besteht zum einen in dem Entwurf praktischer Handlungsorientierungen im Rahmen einer Wirtschaftsethik und zum anderen – in ihrer interkulturellen Ausprägung – darin, praktische Fragen aus unterschiedlichen Denktraditionen heraus zu erörtern. Sie muss sich auch den Fragen widmen, wie sich wirtschaftlicher Erfolg und der Respekt vor staatlicher Souveränität mit den unterschiedlichen soziostrukturellen Gegebenheiten aufgrund unterschiedlicher Denktraditionen vereinbaren lassen. Wie können Wettbewerb und (Entwicklungs-)Hilfe zusammengedacht werden? Können andere Gesellschaftsformen, die sich nicht dem neoliberalen Wirtschaftssystem unterordnen wollen, in ein marktwirtschaftliches Wettbewerbssystem integriert werden? Behindert der Einsatz für die Souveränität anderer Staaten die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Wirtschaftssystems? Stellt der Grundgedanke einer interkulturell orientierten Wirtschaftsethik zwangsläufig die Grundpfeiler des kapitalistischen, neoliberalen Wirtschaftssystems in Frage?
25
Ebd.
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Wirtschaftsethik Die meisten wirtschaftsethischen Ansätze definieren als Ziel die gerechte und faire Gestaltung einer wirtschaftlichen Ordnung auf globaler Ebene. Dies beinhaltet nicht nur, den Zugang aller Menschen zu wesentlichen Grundgütern zu sichern, sondern – und das ist die wichtigste These dieses Beitrags – in erster Linie, das Gestaltungsrecht des eigenen (ökonomischen) Umfelds wahrnehmen zu können, ohne von jahrhundertealten Machtverhältnissen dominiert zu werden. In philosophischer wie wirtschaftswissenschaftlicher Forschung besteht bereits ein reger Diskurs über mögliche wirtschaftsethische Kompensationsprogramme, der auch die Frage der internationalen Beziehungen und der Gerechtigkeit im Hinblick auf wirtschaftliche Tätigkeitsbereiche untersucht. Angestrebt werden dabei Handlungsmodelle und Handlungsorientierungen für die alltägliche Wirtschaftstätigkeit, die auf gerechte Verteilung und Chancengleichheit in Bezug auf die Teilhabe und Sicherung der Rechte aller von den Auswirkungen Betroffenen ausgerichtet sind. Der Mensch, egal aus welcher Region der Welt er stammt, muss sich einen neuen Raum schaffen und im Sinne interkultureller Konvergenzkonzepte bzw. integrativer Wirtschaftsbeziehungen gestalten, 26 damit nicht ein Großteil der Menschheit von der Ökonomie dominiert wird, sondern die Ökonomie wieder im Dienste der Menschen steht. Dies gilt in erster Linie im Verhältnis Nord-Süd, da die einseitig dominierende Beziehung verheerende Folgen für einen Großteil der Weltbevölkerung hat. Eine grundlagenreflexive philosophische Wirtschaftsethik kann das Fundament schaffen, die wirtschaftlichen Rechte als basale, lebenserhaltende Rechte zu verstehen und dazu beitragen, ein selbstbestimmtes Leben, frei von kultureller und wirtschaftlicher Dominanz zu führen. Dieses Fundament impliziert ein Recht und einen Anspruch auf ein solches selbstbestimmtes Leben, beinhaltet aber auch Verantwortung und die Pflicht, für alle Menschen förderliche Wirtschaftsbeziehungen zu gestalten. Eine Berücksichtigung lokaler kultureller Werte könnte bei der Ausgestaltung einer globalen wirtschaftlichen Ordnung zu Ergebnissen führen, die dem liberalen Wirtschaftsdenken entgegenstehen. So 26
E. Dettmar: Markt – Macht – Moral, 44.
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müsste beispielsweise der gewinnorientierte Vertrieb von Produkten, die einer Überflussgesellschaft entstammen, in Regionen, in denen marktwirtschaftliche Systeme keine Tradition haben, im Zuge dieser Überlegungen vermutlich verweigert werden. Dies steht der unternehmerischen Gewinnorientierung entgegen und wirft die Frage auf, ob die Ökonomie im 21. Jahrhundert weiter einer solchen Orientierung folgen kann oder ob nicht kulturelle und humanistische Werte der kurzfristigen Kosten-Nutzen-Rechnung vorgelagert werden müssen. Es stehen hier also die Werte der ökonomischen Selbstbestimmung, die mit der Souveränität der Staaten einhergehen und sich der ökonomischen Einflussnahme und der unbedingten Gewinnorientierung des Marktes mitunter entgegenstellen könnten, dem kulturellen Imperialismus der wirtschaftlich erfolgreichen Industrieländer, die seit der Industrialisierung Import-Export-Strategien und Marktorientierung verinnerlicht haben, gegenüber. Um der Beherrschung durch westliche Metropolen etwas entgegensetzen zu können, geht es vor allem, wie kritische Ansätze betonen, darum, »Widerstandsfähigkeit zu stärken, statt globale Einflüsse zu begrüßen«. 27 Das Projekt einer interkulturell orientierten Wirtschaftsethik und einer für alle förderlichen globalen Ökonomie kann nur gelingen, wenn kulturelle Bildung sowie das Wissen um die wirtschaftliche Praxis und den wirtschaftlichen Alltag in anderen Teilen der Erde in wirtschaftsethische Überlegungen einbezogen werden. Daraus folgt: Um in einem globalen Kontext zu verbindlichen Normen zu gelangen, müssen wirtschaftliche Praxis und jeweilige Normenkulturen bekannt sein. 28 Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Denktraditionen muss zwingend zum Maßstab werden; ohne diese Berücksichtigung ist und bleibt Wirtschaftsethik in ökonomischer Tradition Ausdruck eines kulturellen Imperialismus. Je weniger die Wirtschaftsethik mit der Enteignung von lokalen Lebensweisen und Identifikationsmöglichkeiten assoziiert wird, desto leichter wird sie als Ethik akzeptiert. 29 Daher ist auch eine Zusammenarbeit von interkulturell orien-
27 28 29
A. Sen: »How Does Culture Matter?«, 50. R. Pfriem: Strategische Unternehmenspolitik als Daseinsbewältigung, 65–84. Vgl. W. Korff: Handbuch der Wirtschaftsethik, 801.
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Dominanz als Kategorie in der interkulturellen Philosophie
tierter Philosophie und Wirtschaftsethik wünschenswert und dringend erforderlich.
Interkulturelle Philosophie Die interkulturelle Philosophie – als methodischer Ansatz zur Sachfrage Wirtschaftsethik – geht als Strömung der zeitgenössischen Philosophie von der Berücksichtigung mehrerer Denktraditionen bei aktuellen Debatten aus und kritisiert die Einseitigkeit der westlichen Denktraditionen, die sich selbst oft als universell verstehen. Im Vordergrund steht dabei, kein Begriffssystem zu privilegieren. Die interkulturelle Philosophie kann und muss sich ihrer emanzipatorischen Kräfte bewusst sein und kann im transkulturellen und transdisziplinären Wirrwarr eine Vermittlungsfunktion ausüben. Der größte Teil des immer noch aktuellen Kanons der Philosophie, sowohl in der akademischen als auch in der populärwissenschaftlichen Literatur, beschäftigt sich überwiegend mit dem Denken europäischer Männer. Diese Vorherrschaft erzeugt den Eindruck, dass die menschliche Vernunft eine Hautfarbe und ein Geschlecht hat und in ihrer Hochform nur auf einem kulturell-religiösen Untergrund richtig gedeiht: Sie ist weiß, männlich, hellenistisch-christlich. Daraus folgt: Wer sich mit dem Denken von einigen Dutzend europäischer Männer befasst hat, kennt das philosophische Denken der Menschheit, soweit es von irgendeinem Interesse ist. 30
Ein Ort der interkulturellen Philosophie ist daher auch ein Diskurs, der sich mit Dominanz- und Machtverhältnissen in der Geistesgeschichte beschäftigen muss und als Reflexionsform gesellschaftlicher Bedingungen die historischen Bedingungen ebenso wie aktuelle wirtschaftliche Konditionen in Betracht zieht. Um dieser Aufgabe angemessen nachzukommen, darf sie dabei weder kulturell hegemonial sein noch auf eine andere Art Macht ausüben. Eine interkulturell orientierte Philosophie muss gleichzeitig antikoloniale sowie postkoloniale Philosophie der Befreiung sein, um ihre emanzipatorische Bedeutung für die Diskurse anzunehmen.
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F. M. Wimmer: Interkulturelle Philosophie, 38.
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Philosophie reagiert auf »historische wie politisch-soziale Situationen.« 31 So kann auch eine postkoloniale Philosophie nur aus der historischen Entwicklung abgeleitet werden. So deutlich ihre Herkunft ist, so unklar ist ihr Ergebnis, sie kann nur aus einer Vielzahl unterschiedlicher Wege bestehen […] Allerdings braucht es eine gemeinsame Voraussetzung, nämlich anzuerkennen, daß das zentrale Anliegen aller dieser Diskurse die Konfrontation der kolonialen (sowie anderer) Dominanz ist. 32
Vor allem die Überwindung monokultureller Zentriertheit und damit eine Öffnung zu Anerkennung, Achtung und gegenseitiger Toleranz sind die Ziele einer interkulturell orientierten Philosophie, die Fähigkeit, »den eigenen Standpunkt als einen unter vielen« 33 wahrzunehmen und jeglichen Absolutheitsanspruch abzulegen. Damit einher geht eine »wechselseitige Bereicherung durch Kommunikation und Interaktion«, 34 und auf politischer Ebene beinhaltet sie die Überzeugung, »dass eine interkulturelle Orientierung den Grundsätzen einer pluralistischen und demokratischen Ordnung entspricht.« 35 Eine wahrhaft interkulturelle Philosophie, die laut Jacob Mabe mit der Etablierung einer globalen Ethik zusammenhängt, muss sich von den »dominanten Doktrinen aus der eurozentrischen Motivation heraus« 36 abwenden und lehnt jede Form von Zentrismen ab. Aufgrund der Ausrichtung auf Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit muss sie auch die wirtschaftsethischen Konzepte überdenken und nach einer Konvergenz aller moralischen Anschauungen suchen, aus denen sich ein Normensystem für die Wirtschaftsethik herleiten lässt. Die Aufgaben der interkulturellen Ethik bestehen dabei unter anderem darin, […] die Bedingungen zur Globalisierung der Regeln fürs [sic!] rationale und verantwortliche Regieren und Verwalten zu stellen, d) die rationalen Prämissen für einen globalen Moralkodex zur Vermeidung ethnozentrischer Ressentiments bei interkulturellen Begegnungen U. Lölke: Kritische Traditionen, 103. Ebd. 33 R. A. Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen, 91. 34 C. Földes/M. Weiland: Blickwinkel und Methoden einer integrativen Kulturforschung, 29. 35 Ebd., 30. 36 J. E. Mabe: Zur Theorie und Praxis interkultureller Philosophie, 46. 31 32
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Dominanz als Kategorie in der interkulturellen Philosophie
insbesondere in den Bereichen Entwicklungspolitik, Freizeit, Sport, Tourismus, Wirtschafts- und Handelsbeziehungen etc. zu eruieren, […] eine Weltordnung zu etablieren, auf deren Grundlage sich die politischen, sozialen und ökonomischen Denkmodelle der Gegenwart aufbauen lassen können, 37
um hier nur diejenigen Aufgaben zu nennen, die im Kontext eines globalen wirtschaftsethischen Diskurses relevant sind. In der interkulturellen Philosophie spielen daneben die Analyse impliziter, kulturell bedingter Denkweisen, Kritik von Stereotypen in der Selbstund Fremdwahrnehmung, die Förderung von Offenheit und Verständnis, gegenseitige Aufklärung und die Förderung von Humanität und Frieden eine wichtige Rolle. 38 Vor allem im ›Zeitalter der Globalisierung‹ müsste das Bewusstsein für die kulturellen Gemeinsamkeiten gestärkt und durch diese Auseinandersetzung gelernt werden, »wie sie von eurozentrischen Überlieferungen und kolonialistischen Denkmustern, die den obsoleten Differenzkult sowie die archaische Fiktion der Identitäten verstärken, Abstand nehmen und sämtliche Klischees überwinden können.« 39 Eine der Methoden der so verstandenen interkulturellen Philosophie ist die interkulturelle Dekonstruktion. Diese besteht in der Überwindung des Absolutheitsanspruchs insbesondere der westlicheuropäischen Kultur und Begriffsbildungen, was man als Dekonstruktion des Ethnozentrismus bezeichnen kann, der zur kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Teilung der Welt beispielsweise in Erste und Dritte Welt, Industrie- und Schwellen- bzw. Entwicklungsländer, Norden und Süden geführt hat. Mit der Dekonstruktion des Ethnozentrismus soll dem Wissensmonopol einer Kultur ein Ende gesetzt werden. Denn die Dekonstruktion fördert die Interaktion der Kulturen durch Kooperation, Austausch, Dialog und Transfer von Wissen und nicht von kulturellem Exotismus. Mit der Dekonstruktion sollen die jeweiligen Repräsentanten der jeweiligen Kultur für sich selbst sprechen, ohne dabei provokative Gegendiskurse zu fürchten, sondern ihnen mit rationalen Argumenten zu begegnen. 40
Ebd., 48. F. M. Wimmer: Thesen, Bedingungen und Aufgaben interkulturell orientierter Philosophie, 5–12. 39 J. E. Mabe: Zur Theorie und Praxis interkultureller Philosophie, 37. 40 Ebd., 41. 37 38
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Universalistische Prinzipien dürfen »weder bloß formalistisch noch machtpolitisch legitimiert werden […]. Nicht der Gedanke, einen universalgültigen ethischen Maßstab zu finden, ist überzogen, lediglich die Ansicht, diesen in einer bestimmte Philosophie gefunden zu haben, ist fundamentalistisch.« 41 Bei all dem geht es nicht darum, Gespräche zu beginnen, bei denen die Vergangenheit ausgeblendet wird. Ein Dialog ist nicht tabula rasa, sondern besetzt von Bildern und Vorstellungen, die sich tief in unser Bewußtsein eingegraben haben. In diesem Fall, dem intellektuellen Dialog zwischen Afrika und Europa, sind es die Schattenseiten der europäischen Geschichte mit denen der Dialog konfrontiert ist. Eine sich verändernde Welt erwartete ein anderes Denken, und es genügt nicht, ein von der Idee der Aufklärung und des europäischen Humanismus geprägtes Denken unter der Last der Katastrophen nur strukturell erweitern zu wollen. 42
Ausblick Im Sinne der obigen Ausführungen muss also vor allem ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass die soziale, kulturelle und politische Realität zur Orthaftigkeit des Denkens und damit zur eigenen Bedingtheit beiträgt. Diese Realität soll zwar nicht die Zielsetzung bestimmen, hat aber enormen Einfluss auf die Wege zur Umsetzung. Auch wenn man davon ausgeht, dass ein Verständnis zwischen unterschiedlichen Positionen oder Kulturen möglich ist, so ist laut Lölke die hier weitaus interessantere Frage, »wie […] ein Verständnis möglich [ist] und auf welcher, d. h. auf wessen Grundlage? Für bestimmte Traditionen steht damit eventuell ihr Selbstverständnis als wissenschaftlich neutrale Position – ihre Ortlosigkeit – in Frage.« 43 Das Hinterfragen eigener Selbstverständlichkeiten rüttelt sowohl am Selbst- als auch am Weltbild; das Erkennen impliziter und selbstverständlicher Elemente der eigenen Persönlichkeit als gewaltsam oder zentristisch in politischen und ideologischen Einstellungen ist schon im privaten Bereich schmerzlich; auf der Ebene politischer oder wirtschaftlicher Steuerungen hat es weitreichende Konsequenzen. 41 42 43
R. A. Mall: Das Konzept einer interkulturellen Philosophie, Abschnitt 69. U. Lölke: Kritische Traditionen, 14. Ebd., 29.
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Dominanz als Kategorie in der interkulturellen Philosophie
Die Forderungen einer so verstandenen, interkulturell orientierten Philosophie haben Folgen für die Selbst- und Fremdwahrnehmung, aber auch für die wirtschaftliche Zukunft der internationalen Beziehungen und deren Fokussierung auf eine menschenwürdige Zukunft. In der Frage nach der Dominanz ist eine Besinnung auf die Orthaftigkeit des eigenen Denkens nötig, um auch davon abstrahieren zu können und in Bezug auf Sachfragen eine transnationale Lösungsfindung anstoßen zu können. Orthaftigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang auch, die soziale, kulturelle und politische Realität einer Gesellschaft, die großen Einfluss auf die Diskussion der Sachfragen, auf praktische und anwendungsorientierte Ethikentwürfe hat, zu erkennen, anzuerkennen und zu berücksichtigen. Dominanz und nicht legitimierte Macht gehören zu den enorm begrenzenden und beschränkenden Faktoren des Denkens und müssen daher gerade in der Philosophie eine zu reflektierende Kategorie sein. Jegliche Dominanz ist orthaft, insofern sie verhindert, einen Umgang mit Pluralität zu finden, bei dem unterschiedliche Denkformen und Erklärungsansätze ergebnisoffen diskutiert werden können.
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Teil III. Phänomenologien
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Giuseppe Menditto
Nishidas bashō im Gespräch mit dem griechischen und phänomenologischen Denken
I. Hinsichtlich der Beziehung von Bild und Begriff stellt der vorliegende Beitrag einen Versuch dar, theoretische und historiographische Forschung voneinander abzugrenzen. Auf der Spur von Blumenberg kann dieser Versuch als »vergleichende Metaphorologie« 1 bestimmt werden. Die Dynamik zwischen Ort und Denken führte oft zu einer unklaren, mehrdeutigen oder nicht-begrifflichen Thematisierung des ontologischen Status des Ortes. Wenn auch von Nishida, Derrida und Merleau-Ponty unterschiedlich betrachtet, so setzte sich durch die Unmöglichkeit ihrer Thematisierung doch der Gebrauch metaphorischer und damit bereits räumlicher Begriffe durch. Kognitive Strukturen der primären Orientierung im Raum würden auch in radikaleren Versuchen einer Untersuchung des Ortes und der Orte unerforscht bleiben. Im Beispiel der Beziehung zwischen Ort und Denken würde die 1 Vgl. H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte. Band 6 (1960), 5–142; Suhrkamp: Frankfurt am Main 1997. Es gibt zahlreiche Versuche, die philosophische Verwendung von analog-bildhaften Registern zu reflektieren. Genauer: Es geht nicht nur um eine metaphorische Reflexion über die methodische Verwendung, sondern auch um den semantischen und rhetorischen Einsatz solcher Register. So könnte man ihren interkulturellen Ansatz sowohl theoretisch als auch bezüglich einer historischen Verortung der Metaphern in verschiedenen Kulturen prüfen. Dieses weite Forschungsfeld ist vieldeutig: Dieses weite Forschungsfeld erweist sich sogleich als vieldeutig: Es ist klar, dass eine Rede über die Grenzen und Möglichkeiten einer »vergleichenden Metaphorologie« stattfinden sollte – in gewissem Sinne verschoben –, und zwar innerhalb einer breiteren Debatte. Die Minimalanforderungen einer solchen Diskussion wären: a) die Frage nach einer unterschiedlichen Bildhaftigkeit und Einbildungskraft zwischen alphabetischen und ideogrammatischen Schriftsystemen; b) eine Reflexion der rhetorischen Register wie auch der semiotischen und semantischen Einsätze von Bildern im philosophischen Diskurs, insbesondere die Produktion bewusster Bilder, d. h. eine Reflexion ihres unbewussten Gebrauchs; c) die Annahme sowohl einer »homogenen« als auch einer »heterogenen« Deutung solch metaphorischer Verwendungen.
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Giuseppe Menditto
Reflexivität des Denkens sich von dem Bild des Ortes als Reflexion und reflektierende Gestalt (wie z. B. ein Spiegel, ein Flechtwerk oder die Tiefe) nicht loslösen können. Der Denker Nadar El-Bizri brachte das Paradox des Denkens über die Tiefe in die Formel, dass das »Denken über Tiefe vermittels Begrenzungen impliziert, dass diese nicht auf Tiefe reduziert werden können, sondern vielmehr die Möglichkeit für ihr Tief-Sein schaffen« 2. Es wird schnell klar, dass ein »reiner« und »universaler« Begriff des Ortes sowie ein »reiner« und »universaler« Begriff des Denkens nicht definitiv bestimmt werden können, sondern dass sie vielmehr Problemfelder darstellen. Der Ort bleibt sozusagen nichtlokalisierbar und ist sich selbst, seinen inneren Elementen gegenüber, immer fremd. Er kehrt sich in seine Nicht-Punkthaftigkeit, die keine geometrische Ausdehnung voraussetzt, und weitet sich zugleich in ein »Denk-Feld« aus. In Abgrenzung zur sogenannten »Chronolatrie« der westlichen Tradition spricht Derrida von chōra als einem »Anfang, der älter ist als der Anfang«, von einem »Vor-Ursprung«, der keine zeitliche Vorzeitigkeit impliziert. Dennoch: Wenn der Ursprung auf das »Geheimnis der Tiefe« angewendet wird, warum braucht diese radikale Argumentation Metaphern, die schon verräumlichte Figuren sind? Ob jedes Denken an einen (seinen) Ort gehört und ein ortloses Denken unmöglich macht, ist eine offene Frage. Ist die Figur des »Ort des Denkens« und des »Denkens des Ortes« nicht nur Wortspiel? Oder ermöglicht sie, verschiedene Denker, die an verschiedene Orte, Kulturen und Sprachen gebunden sind, miteinander ins Gespräch zu bringen? Deshalb werde ich nicht nur Nishidas Logik des Ortes (bashō) mit Derridas Deutung von chōra und Merleau-Pontys Begriff von entrelacs und chair in Beziehung setzen, sondern auch zu zeigen versuchen, in welcher Weise diese Autoren über die Unthematisierbarkeit des Ortes sprechen. Mit ihren jeweiligen Versuchen, die traditionellen Dualismen zu überwinden, verlassen sich Nishida, Merleau-Ponty und Derrida nicht nur auf die Hilfe fantasievoller Register, sondern auf ihre exegetischen Methoden eines vorsprachlichen Bildes, die sich in den Vordergrund drängen. Die Nachdenklichkeit des Ortes wird in eine bild»thinking about depth in terms of boundaries implies that are not reducibile to depth but rather furnish the possibilities for there being depth« (Nadar El-Bizri, Qui-êtes vous Khôra? – Receiving Plato’s Timaeus, Existentia Meletai-Sophias 11 [2001], 474).
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Nishidas bashō
liche Reflexivität umgewandelt, die vorwärts in »die Tiefe« sich bewegt. Die logischen Kategorien erzwingen keine Beziehungen; letztere tauchen vielmehr durch jene auf. Die Reihenfolge des »Vorher« und »Nachher« wird umgekehrt. Nicht überraschend ist hierbei, dass Nishidas Dreiteilung in 1. Ort des Seins (yu no bashō), 2. Ort der relativen Nichtigkeit (taritsuteki) und 3. das absolute Nichts (zettai mu no bashō) als logisch sui generis aufgefasst wird. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt wird auf einer erkenntnistheoretischen und ontologischen Ebene untersucht, wobei aber ein aufsteigendes und transzendentes Motiv zusammen betrachtet wird. Aus dem subsumtiven Urteil, in dem das Prädikat dem Subjekt vorausgeht und, aristotelisch gesprochen, der individuelle Gegenstand unbestimmt bleibt, kommt Nishida dazu, ein »konkretes Universale«, welches die Substanz »umwickelt«, als zentralen Terminus des Syllogismus zu identifizieren. Bashō, chōra und chair gehören alle zu einer Räumlichkeit, die nicht als res extensa oder im Sinne Kants mit unserem Anschauungsvermögen zu verwechseln sind.
II. Der Begriff bashō (場所) wurde 1926 von Kitarō Nishida, dem Nestor der Kyoto-Schule, als Anregung herangezogen, um eine Logik des Ortes (bashō no ronri) zu entwickeln. Die »Logik des bashō«, als der Versuch die menschliche Existenz im Absoluten zu lokalisieren, womit der Ort des absoluten Nichts gemeint ist, versucht sich auf eine transzendental-relativistische Ebene zu stellen: »die Vereinigung der Beziehungen« und »was in den Beziehungen ist«, sind auf keinen Fall neutralisiert. In den Arbeiten Nishidas wird der Begriff bashō als bindendes Glied verwendet, das den kontrastierenden Dialog seines eigenen Denkens mit der westlichen Tradition zu kombinieren sucht. Während im okzidentalen Denken »Form« (keisō im griechischen Sinne verstanden) noch als Sein und Herstellung des Guten aufgefasst wird, so besteht die Wurzel des orientalischen Denkens darin, dass »das Sehen der Form selbst keine Form hat« und »das Hören der Stimme selbst keine Stimme hat«. Die angebliche Unvereinbarkeit solcher Ausdrücke wird innerhalb einer breiteren und »in sich widersprüchlichen Identität« der realen Welt angenommen, ein inspirierendes Prinzip der Dialektik, die auch die Spannungen zwischen Japan und der westlichen Welt anregte. 215 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Giuseppe Menditto
Nachdem Nishida die Idee eines All-Bewusstseins-Ansatzes der individuellen Erfahrung aufgegeben hat, so wie er sie in der Studie über das Gute ausgebreitet hat, übernimmt der Begriff des bashō die Rolle des »Ort-Worin« und verweist damit sowohl auf den physischen Raum (als Kraftfeld) als auch auf das Bewusstsein selbst: Dieses Feld, auch wenn bereits verräumlicht, ist ein konkretes Universale, das im Gegensatz zu den einzelnen Elementen, die in ihm vorhanden sind, nicht »existiert«, nichts ist. Der aristotelische Dualismus zwischen Substanz und Prädikat wird in eine Struktur oder Logik der Selbstbestimmung des Universales umgeformt. Die Bestimmbarkeit des Individuums, die in ihm enthalten ist, entspricht nicht der Unbestimmbarkeit des Universales, sondern vielmehr der Substanzialität des Ortes selbst: Alles was »ist«, wird zu einem reflektierenden Bild (eizō, kage) in einem Spiel von Spiegeln. Wenn das Individuum als solches aus der aristotelischen Logik herausgeschnitten wird, so identifiziert Nishida die Substanz nicht länger mit den formalen Aspekten, sondern mit dem Materie-Aspekt (hyle). Der Inhalt der intelligiblen Materie ist nach wie vor das Individuum als Individuum und bleibt von den universal-prädikativen Formen getrennt. Das Individuum kann nicht an sich, sondern nur durch Subsumtion der universellen Prädikate erkannt werden. Im Vergleich zu seinen früheren Schriften konkretisiert sich die logische Dialektik zwischen Allgemeinem und Besonderem in der geschichtlichen Welt der Handlung (Aktion) und konfiguriert sich als chiastische Struktur einer reflektierten Asymmetrie. Der Ort ist hier innerhalb eines »Sich«, das sich selbst reflexartig durch eine unendliche Bewegung der Hin-und Rückleitung sieht. Bashō bezieht sich nicht auf einen Begriff, sondern auf ein Erlebnis, ein Ereignis, eine Flucht und einen Rückzug. 3 Bei Nishida gibt es kein klares und deutliches Sehen des Selbst (verstanden als aktiver »Besitz« oder »Zugang«), sondern vielmehr eine symmetrische Struktur der Reflexion. Wie Elberfeld behauptet, hat »eine Kultur […] nach Nishida ein[en] leibliche[en] und geschichtliche[en] Ausdrucksraum, der durchaus individuell ist, und jeder Einzelleib und entsprechend dazu jeder Kulturleib sind durchaus individuell als jeweiliger Spiegel des Ganzen und sind zugleich Moment einer geschichtlichen Bestimmung. Diese Bestimmung vollzieht sich durch den Ausdruck einer jeden Leibmonade auf die anderen, so daß sich die Individualitäten gegenseitig hervorrufen und bestimmen« (Rolf Elberfeld, Kitarō Nishida als Denker der Interkulturalität, in Dorothea Lüddeckens (Hg.): Begegnung von Religionen und Kulturen. Festschrift für Norbert Klaes, Dettelbach: Röll 1998, 99).
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Nishidas bashō
Der symmetrischen Opposition des Universales und des Individuums, das auf noematischem Boden steht, entspricht die asymmetrische Einheit, die auf noetischer Grundlage steht. Entsprechend äußert sich ein Schüler von Nishida, Ueda: »Insofar as I reflect England, England is reflecting itself from within.« Der Kern der Vereinigung ist nicht »blind« und »unobjektivierbar«; es handelt sich nicht um eine Mystik des Willens, sondern was beschrieben werden soll, ist nur der Zugang des Bewusstseins zu sich selbst. Wenn die Kulturen als individuelle Kulturmonaden verstanden werden, so werden sie zu ihren eigenen Kulturen durch die Spiegelung des Ganzen oder der historischen Welt. Dadurch wird die asymmetrische Welt selbst gespiegelt und verwandelt. Aber wie?
III. Zum besseren Verständnis der Unmöglichkeit einer direkten Thematisierung des Ortes zieht Nishida platonische Begriffe heran. Nishida schreibt dazu: »In Platons Philosophie wird das Allgemeine als objektive Realität verstanden, allerdings gelangte Platon nicht bis zu dem Gedanken, daß das Allgemeine, das wahrhaft alles in sich umfaßt, der Ort ist, der alles entstehen läßt. Daher dachte er den Ort sogar als irreal, als ein Nichts (mu).« 4 Im Gegensatz zu Platon, bei dem die Idee (auch die Idee des Guten) nicht »der Relativität« (ebd.) entgeht, versteht Nishida den Ort als ein nicht-gegensätzliches Nichts. 5 Es ist genau an dieser Stelle, an der das Gespräch mit der platonischen Konzeption zu entstehen beginnt. Trotz einiger Vorbehalte Nishidas gegenüber Platon 6 sind die Anlaufstellen und die Überschneidungen Kitarō Nishida: Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan (übers. u. hg. v. Rolf Elberfeld), Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1999. 5 Platon, Timaeus, trans. by R. G. Bury, Loeb Classical Library (Cambridge Mass.: Harvard University Press, 1999), 51 a–b. 6 So ist zu Anfang des Buches zu lesen: »Dieses, die Ideen Aufnehmende – so könnte man es auch bezeichnen – nenne ich hier, einem Wort aus Platons Timaios folgend, den Ort (bashō). Natürlich sind der Raum (kükan) bei Platon bzw. der die Ideen (ideya) aufnehmende Ort und das, was ich Ort nenne, nicht identisch.« Berque beobachtet, wie Nishida die chōra bestimmt »comme le ›lieu qui reçoit‹ (uketoru basho) l’idea, autrement dit le lieu de l’être«. Um die platonische Deutung von der Logik des bashō zu unterscheiden, ist es klar, wie bei Nishida »pour suprême que soit l’idea, c’est néanmoins quelque chose de déterminé, ce n’est que quelque chose de particulier« (saikô no ideia to ihe domo nao gentei serareta mono, tokushu naru mono ni suginai). 4
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Giuseppe Menditto
zwischen dem platonischen Timaios, der Derrida’schen Auslegung und Nishidas Bashō vielfältig. Wenn bashō etwas ist, in dem das ganze Bewusstsein – d. h. Intellekt, Gefühl und Wille – ihren Platz finden, 7 so trifft dies auch auf den platonischen Begriff der chōra zu, der die Körper als sensible Realitäten versteht, aber sicherlich nicht auf die Ideen, die an und für sich verständlich sein sollen, außerhalb von Raum und Zeit. Sowohl chōra als auch bashō sind »von allen Formen frei«. Wenn die physischen Körper nur die Qualitäten der »Amme«chōra sind, so ist sie das einzige Subjekt mit ontologischer Stabilität und auf diese Weise wahrscheinlich auch die einzige mit einer sprachlichen Bestimmung von »dies«. Bei Platon handelt es sich um eine qualitative Ontologie, bei Nishida hingegen um die Fusion der erkenntnistheoretischen und ontologischen Dimension. Bei Platon sind die Körper Prädikate des Behälters oder Qualität aus der Raumdisposition. Die Genese der sinnlichen Wirklichkeit hat den Charakter einer Handlung, deren Konturen noch geheimnisvoll sind. Die vorgeschlagene Struktur scheint den drei platonischen Gattungen ähnlich zu sein (»So müssen wir dreierlei Arten denken: (1) das, was wird, (2) das, worin es wird, und (3) das, woher nachgebildet das Werdende geboren wird«); dies auch in Bezug auf die dreigliedrige Struktur bei Nishida, die durch eine Bewegung, die von einem ontologischen Subjekt zum anderen geht, emporkommt. Im Timaios unterscheidet Platon als ontologische Grundkonstitution »die Form eines Vorbildes« und eine »Nachbildung des Vorbildes«, fügt aber hinzu, dass dies als Unterscheidung nicht mehr ausreiche. Es müsse noch eine »dritte Art« eingeführt werden, um die beiden ersten Momente zu ergänzen. Er fragt sodann nach der Kraft einer solchen »dritten Gattung«, die auch als Mittelterm zwischen der wahren und der falsche Rede verstanden wird, 8 und bestätigt: »Sie sei allen Werdens bergender Hort wie eine Amme« einer »intelligiKitarō Nishida, Nishida Kitarō zenshŭ [die Gesamtausgabe, hier im weiteren mit NKZ abgekürzt], Iwanami: Tokyo 2002–2009, IV, 224). Vgl. A. Berque, Basho, chôra, Tjukurrpa, ou le poème du monde, in »Espace géographique« Tome 26 no. 4, 1997. 289–295. 7 Kitarō Nishida, NKZ IV, 223–4. 8 Nishida selbst unterscheidet zwischen dem »Ort, der das Gegenüberstehen von Form und Materie« und dem »Ort, der das Gegenüberstehen von Richtigkeit und Falschheit entstehen läßt […]« – Kitarō Nishida, Logik des Ortes, 76.
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blen Form«. Diese »dritte Art« nennt Platon chōra, die »immer seiend, Vergehen nicht annehmend, allem, was ein Entstehen besitzt, einen Platz gewährend, selbst aber ohne Sinneswahrnehmung durch ein gewisses Bastard-Denken erfaßbar, kaum zuverlässig« 9 ist. Diese dritte Art gehört zur Dimension der Notwendigkeit (ananké): Sie erweist sich als irreduzibel gegenüber dem Sein, d. h. gegenüber der Welt der Ideen (selbst-identisch, unveränderlich und immateriell) und gegenüber dem Werden (das mit sich selbst nicht identisch, veränderlich und immer fragwürdig ist); aufgrund seiner ontologischen Besonderheiten ist sie weder durch den Intellekt erkennbar, noch durch die Sinne erfahrbar, aber in gewisser Weise greifbar mittels einer unreinen Argumentation. Ihre Einführung ist funktional zur Klärung der Natur und der ontologischen Konstitution physischer Körper, nämlich dem Umfang der phänomenalen Wirklichkeit. In diesem Zusammenhang ist die Funktion dieser Art sowohl räumlich-lokale Ordnung (sie stellt vor, worin die Sachen stattfinden) als auch materiell und konstitutiv (sie drückt aus, aus welchem Stoff das Seiende gemacht ist). Chōra ist dasjenige, »worin jeweils entstehend jedes von ihnen (den Dingen) erscheint und woraus es wieder entschwindet.« 10 Und: »Sie tritt aus ihrem eigenen Wesen durchaus nicht heraus. Nimmt sie doch stets alles auf und hat nie in schlechterdings keiner Weise eine irgendwie der Eintretenden ähnliche Gestalt« 11. Obwohl Nishidas Interpretation des Begriffs chōra nur seinen materiellen Aspekt hervorkehrt (wahrscheinlich abgeleitet aus der aristotelischen Deutung Platons 12), verweist bashō auf das »Feld des Bewusstseins«, das die reflektierende Dynamik zwischen unserer Reflexion des Denkens und dem Reflex des Denkens selbst nachzeichnet. 13 Wenn die platonische chōra (verstanden als die figurative Verkörperung der dritten Art der benötigten Ursache) eine formlose und nicht neutrale »Amme des Werdens« ist, so ist bashō nicht nur ein technisches Konzept des formal-logischen Urteils, sondern schöpft aus einer anderen »tieferen« Ebene, einer ontologischen Ebene mit einem psychologischen Aspekt.
Platon, Timaeus, 52 b. Platon,Timaeus, 50 a. 11 Platon, Timaeus, 50 b. 12 Kitarō Nishida, NKZ XII, 16. 13 Kitarō Nishida, NKZ IV, 210. 9
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Das Bewusstsein als Selbstbewusstsein ist nicht nur das Bewusstsein des Selbst, sondern eine irreduzible Tatsache der Erfahrung. Wenn das Phänomen des Bewusstseins die letzten Daten der Philosophie sind, kann dies nicht durch logische Begriffen erklärt werden, weil die Logik selbst von diesem Selbstbewusstsein abgeleitet ist. Der Ort des Bewusstseins ist eine »unendliche Tiefe« und »unendliches Obskur«. 14 Eine »Dunkle Reflexion« und eine »obskure Sprache« bei Nishida sowie das besondere Augenmerk auf das künstlerische Schaffen als Ort für eine ausreichende praktische Erfahrung des Bewusstseins (Ishiki 意識) könnten auf die reine Wahrnehmung und auf den kreativen Akt des Demiurgen bei Platon verknüpft werden. Und sie wären bedeutungsvolle Schritte für unsere Diskussion. Eine hohe begriffliche Intentionalität verbirgt eine ihr zugrundeliegende metaphorische Ressource. Wenn die Metaphorisierung als die Spaltung zwischen einem wahren und einem übertragenden Sinn sich auf eine oppositionelle Struktur bezieht, die noch stattfinden wird, so bleibt jedoch als Problem bestehen, dass eine metaphorische Beschreibung des Ortes, ebenso wie die des Bewusstseins bei Nishida, nicht auf den Begriff seines Wesens deutet, sondern auf die Ungreifbarkeit des Ortes selbst. Vom Ort kann nicht gesagt werden, dass er ist, sondern dass er sich selbst in seinem Rückzug zeigt. Derrida zufolge bezieht sich die Verflechtung zwischen mythologischem und logischem Diskurs nicht auf die in sich unbegriffliche Identität des Ortes, sondern auf das, was er als Différance bezeichnet: weder mythos noch logos. Der Begründer der Dekonstruktion bestätigt hiermit, dass nicht nur chōra keinen Namen bekommen kann, sondern auch dass kein metaphorischer Ton in spezifischer rhetorischer Verwendung verwendet werden kann, weil chōra die Polarität zwischen dem richtigen und dem falschen Sinn eröffnet. Platon spricht von einem dritten Geschlecht (triton génos), von einer Logik, die nicht unter dem Ausschluss von weder »dies« noch »das« gedacht werden kann. Ein unangenehmer und aporetischer Gedanke, dem Derrida zufolge mit Vorsicht und Vorsorge nach-zudenken ist: Erfordert die Logik der chōra, als der Ort der, mit Heidegger gesprochen, »einräumt«, nicht die Unterwerfung unter das Gesetz? Der »ruhige« (»They speak tranquilly« 15) metaphorische Ton Kitarō Nishida, The Fundamental Problems of Philosophy, NKZ VII, 81 und 84. Jacques Derrida: Khōra, in ders., hg. v. Thomas Dutoit, On the Name, Stanford University Press: Stanford 1995, 92.
14 15
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sollte zur Vorsicht benutzt werden, weil, wie Derrida in einer Fußnote bemerkt, »the concepts of this rhetoric appear to be constructed on the basis of ›Platonic‹ oppositions (intelligible/sensible, being as eidos/image, etc.) oppositions from which chōra precisely escapes« 16. Eine Grenze, ein bereits verräumlichter Begriff des Gegensatzes zwischen dem wörtlichen und übertragenen Sinn. Dieselbe Verwendung einer sehr »nützlichen« Metapher, die über ihren eigenen spezifischen und didaktischen Gebrauch hinausgeht, ergäbe die Schwierigkeit, einen Platz zu finden: »it [chōra] is more situating than situated« 17. Wenn Derrida über chōra als Subjekt einer irreduziblen Ursprünglichkeit und einer negativen Ontologie spricht, so spielt er auf einen metaphorischen nicht thematisierten Ton an, der das, was »jenseits« oder »auf dieser Seite« der Polarität ist, voraussetzt. Die gleiche Rede über die Diskursarten wird als etwas eingeführt, das vor den Gefahren der Übersetzung »geschützt« werden muss.
IV. Der Diskurs der Räumlichkeit in der Beschäftigung mit MerleauPonty stellt ein komplexes Thema dar, das hier erst am Ende des Problems als Frage eingeleitet werden soll: In dem dem Raum gewidmeten Kapitel der Phänomenologie der Wahrnehmung macht Merleau-Ponty deutlich, dass der a-priori-Charakter der geometrischen Form des »einzigartigen« Raums, die universelle Kraft seiner Verbindungen und die Identifikation mit der apodiktischen Notwendigkeit eines einheitlichen Raums nicht die endlose Synthese einer Gesamtheit wiederzugeben imstande sind. Bei Merleau-Ponty stellen die Entstehung und die Verankerung eines raumgebenden Subjekts, die Kontaktfläche und das Wurzeln durch einen »prise sur le monde« infrage. Dasselbe gilt für die Dynamik zwischen dem kontingenten Inhalt einer universellen Form und dem empirischen Gehalt der räumlichen Unterscheidungen von »hoch« und »niedrig«, »links« und »rechts«, »oben« und »unten«. Dies grenzt das in seiner Singularität wahrgenommene Erlebnis von einem »raum-orientierten« Leib ab. Die unpersönliche, durch den 16 17
Jacques Derrida, Khōra, 147. Jacques Derrida, Khōra, 92.
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Leib vollzogene »blinde Zustimmung zur Welt« (blind adherence to the world) gründet auf einer doppelten Bewegung, die in Richtung Welt und von der Welt zurück auf den Leib selbst zusteuert. Die Bewegung konfiguriert sich als ein Ort des Einräumens, »der Reflexion unzugänglich« (impenetrable to reflection), als »Null-Grad der Räumlichkeit«. Wenn in der Phänomenologie der Wahrnehmung noch ein nicht-thetisches Selbstbewusstsein angenommen wird, das noch ein Selbst impliziert, so wird in Das Sichtbare und das Unsichtbare diese Perspektive einer Intentionalität verlassen: Die Welt besteht aus einer sensiblen und einer nicht-derivativen Wirklichkeit. Die Erfahrung des Gefühls hört sich mit der aktiv-passiven Ebene eines Subjekts – wenn es auch als in der Welt gedacht war – und nimmt Bezug auf das Sein. Nicht mehr das Leben eines Subjekts ist es, das zum Sein leitet, sondern die Urpräsentation des Seins, das ursprüngliche »es gibt«, das die Subjektivität eingliedert. Das Fleisch/chair ist nur der Name, den Merleau-Ponty gewählt hat, um eine neue Art des Denkens über die Natur, Geschichte, Sprache und die Beziehungen mit sich selbst und mit anderen auszudrücken. Und das führt uns auch dazu, die Stelle (»a locus«) der Philosophie zu überdenken. Ähnlich wie chōra ist der Begriff chair schwer übersetzbar, weil das Fleisch (chair) kein Wesen hat, das ein Name reproduzieren könnte. Das Fleisch fällt weder mit einer absoluten unerreichbaren Schicht zusammen, noch will es eine Entfremdung zwischen einer absoluten Reflexion und einer unreflexiven Dimension ausdrücken, sondern vielmehr ihre Gegenseitigkeit hervorheben 18. Das Fleisch, in diesem Sinne verstanden, erscheint als jener Bereich der Tiefe, der der Oberflächlichkeit eines dualistischen Denkens eine Festigkeit verleiht. Die Betrachtung dieses »dritten Weges« ist deswegen bedeutungsvoll, weil er die binären Muster der traditionellen Philosophie transzendiert und den Widerspruch inmitten des Seins und des Nichts als relativ entlarvt. Bei Merleau-Ponty wird das Fleisch als einzigartige Gattung und nicht als außenliegendes Drittes konfiguriert. Wenn die Dimension des fleischlichen Seins tatsächlich gegenüber den beiden Polen des klassischen Denkens als dritter Weg definiert werden kann, so befin-
Maurice Merleau-Ponty: The visible and the invisible, hg. v. Claude Lefort, übers. v. Alphonso Lingis, Northwestern University Press: Evanston 1968, 134–35.
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det er sich nicht »außerhalb« von ihnen, in einem unerreichbaren Anderswo, sondern ist in einer immanenten Ebene lokalisiert. Und auch Derridas chōra erscheint als eine ähnliche Konzeption, als »… a chasm […] a sort of abyss ›in‹ which there is an attempt to think or say this abyssal chasm which would be khora, the opening of a place ›in‹ which everything would, at the same time, come to take place and be reflected (for these are images which are inscribed there), is it insignificant that a mise en abyme regulates a certain order of composition of the discourse? And that it goes so far as to regulate even this mode of thinking or of saying which must be similar without being identical to the one which is practiced on the edges of the chasm?« 19
Merleau-Ponty zieht die Tiefe des Spiegels der Tiefe des Abgrunds vor, was ihn näher an Nishida rückt. Wenn Derridas Konzeption der chōra als ursprüngliche Abtrennung dem Raum irgendwie fremd ist, zu der er nicht gehört, so gibt es die Reflexivität der Spiegel statt der Dimension der Räumlichkeit bei Nishida und Merleau-Ponty: Beide – die aufgrund einer Dialektik selbstwidersprüchliche Identität zustande gekommene Diskontinuität bei Nishida und die Reflexivität des Gefühls bei Merleau-Ponty – finden ihren Ort nur aufgrund der reflexiven Kontinuität des Ortes selbst.
Literaturverzeichnis Berque A., Basho, chôra, Tjukurrpa, ou le poème du monde, in: »Espace géographique« Tome 26 no. 4, 1997. Blumenberg Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte. Band 6, 1960, 5–142. Derrida Jacques: Khōra, in ders., hg. v. Thomas Dutoit: On the Name, Stanford University Press: Stanford 1995. El-Bizri Nadar: Qui-êtes vous Khôra? – Receiving Plato’s Timaeus, in: Existentia Meletai-Sophias 11, 2001. Elberfeld Rolf, Kitarō Nishida als Denker der Interkulturalität, in Dorothea Lüddeckens (Hg.): Begegnung von Religionen und Kulturen. Festschrift für Norbert Klaes, Dettelbach: Röll 1998. Kitarō Nishida: Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan (übers. u. hg. v. Rolf Elberfeld), Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1999. Kitarō Nishida: Nishida Kitarō zenshū [NKZ], Iwanami: Tokyo 2002–2009. 19
Jacques Derrida, Khōra, 104.
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Giuseppe Menditto Merleau-Ponty Maurice: The visible and the invisible, hg. v. Claude Lefort, übers. v. Alphonso Lingis, Northwestern University Press: Evanston 1968. Plato, Timaeus (Timaios), trans. by R. G. Bury, Loeb Classical Library, Cambridge Mass.: Harvard University Press, 1999.
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Hannah Holme
Orte des Denkens im Werk von Michel Foucault
Michel Foucaults Denken vollzieht sich stets an bestimmten Orten. Das Staatsgefängnis von Rennes, 1 das Hôpital général 2 oder das Orakel von Delphi 3 sind Beispiele für die Vielzahl von historischen Plätzen, denen er sich zuwendet, um die verschiedenen Formen von Disziplinar- und Selbsttechniken, die an diesen Plätzen praktiziert wurden, in ihrer historischen Spezifik zu analysieren. In seinen ausführlichen und detaillierten Studien verschiedener zeithistorischer Dokumente vermeidet Foucault ebenso allgemeine Aussagen wie universale Standpunkte und richtet den Fokus stets auf einen spezifischen Zeitraum. Doch auch wenn es sich bei den Schriften maßgeblich um eine Beschäftigung mit vergangenen Zeiten, historischen Orten und längst verstorbenen Subjekten handelt, haben nahezu alle LeserInnen des Foucaultschen Werks darin eine grundsätzliche Kritik des Bestehenden erkannt. Dabei wird über die Untersuchung partikularer und lokaler Erfahrungen der Vergangenheit eine Verbindung zwischen den in den Schriften explizit behandelten historischen Orten und der nur implizit thematisierten Gegenwart hergestellt. Dieser eigentümlichen Zeit- und Ortsgebundenheit des Foucaultschen Denkens soll im Folgenden nachgegangen werden. Denken wird dabei im Anschluss an Foucault nicht mit Rationalität gleichgesetzt, sondern als »Freiheit gegenüber dem, was man tut« 4 verstanden, die den erzielten Effekt der genealogischen Schriften darstellt (1.). Foucaults letzte beiden Vorlesungen sind der Genealogie Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Eine Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, 319. 2 Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, 71 ff. 3 Vgl. Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit, Berlin: Suhrkamp 2010, 343. 4 Michel Foucault: »Polemik, Politik und Problematisierungen«, in: Daniel Defert/ François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, 724–734, hier 732. 1
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des antiken Wahrsprechens, der parrhesia, gewidmet, denen er Kants Text Was ist Aufklärung? als Inschrift voranstellt, ohne die Beziehung des 1784 erschienenen Artikels zu den folgenden genealogischen Untersuchungen zu explizieren (2.). Diese abrupte Bewegung, die Foucault in der Vorlesung von 1983 vollzieht, wird im zweiten Abschnitt des Artikels beschrieben, um in einem dritten eine Verbindung zwischen der Geschichte des Denkens, den Vorlesungen zur parrhesia und der Frage nach der Gegenwart herzustellen (3.). Die unkommentierte Konstellation zwischen den historischen Zeiträumen der Aufklärung und der Antike soll als Geste verstanden werden, durch die Foucault sein Denken innerhalb des philosophischen Feldes verortet. Philosophie besteht demnach in der historisch-kritischen Analyse vergangener Zeiträume, die auf die aktuellen Grenzen der Erkenntnis, der Erfahrung und der Toleranz verweist und diese in konkreten Praktiken überschreitet.
1.
Orte des Denkens »Das Denken wohnt nicht einer Verhaltensführung inne und verleiht ihr Sinn; es erlaubt vielmehr, gegenüber dieser Tätigkeits- und Reaktionsweise auf Abstand zu gehen, sie für sich zum Denkgegenstand zu machen und sie auf ihren Sinn, ihre Bedingungen und ihre Zwecke hin zu befragen. Das Denken ist die Freiheit gegenüber dem, was man tut, die Bewegung, durch die man sich davon loslöst; man konstituiert es als Objekt und man reflektiert es als Problem.« 5
Dieses eigenwillige Verständnis von Denken beschäftigt sich mit Verhaltensweisen des Selbst, denen es keine Begründung bietet, sondern auf das Gegenteil abzielt: Durch das Denken wird eine distanzierte Haltung zu den bis dahin selbstverständlichen, nicht bedachten Verhaltensweisen eingenommen und deren übliche Erklärungen und Rechtfertigungen hinterfragt. Die kritische Auseinandersetzung ermöglicht es den Denkenden, sich in ein bewusstes Verhältnis zu ihren Handlungen zu setzen und hierdurch diesen gegenüber einen größeren Entscheidungsspielraum zu gewinnen. Während die Philosophiegeschichte vorwiegend philosophische Werke und Begriffe zum Gegenstand hat, ist Denken im Sinne Foucaults auf konkrete, historisch 5
Ebd.
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Orte des Denkens im Werk von Michel Foucault
spezifische, alltägliche und gerade deshalb relevante Erfahrungen und Handlungen bezogen. 6 »Foucault bricht mit der jahrtausendealten Tradition, die in der Philosophie das Denken der Menschheit sieht, den denkenden Kopf dieses großen Körpers, das Licht, das ihn auf seinem Weg begleitet. Das Denken einer Zeit findet sich nicht bevorzugt in den philosophischen Texten« 7, sondern in den praktischen Lebensweisen, die stets an einen historisch spezifischen Ort und Kontext gebunden sind. »Denken meint hier die Schwelle zwischen der Reflexion, die sich auf bestimmte Erfahrungen und Praktiken bezieht, und den Erfahrungen und Praktiken, die in die Reflexion übergehen.« 8 Die denkerische Tätigkeit widmet sich somit weder reiner Theorie noch der legitimierenden Erklärung von Handlungen, sondern der Entwicklung einer distanzierten Haltung gegenüber den Praktiken, die das Selbst ausmachen und bestimmen. Diese kritische Distanz stellt kaum ein explizites Thema in den publizierten Schriften Foucaults dar, vielmehr entsteht sie implizit im Prozess der »Arbeit einer Geschichte des Denkens« 9, die maßgeblich in der genealogischen Untersuchung historischer Dokumente und Quellen besteht. Die Genealogie, wie sie Foucault in deutlicher Anlehnung an Nietzsche entwickelt, 10 lässt sich als Herkunftsgeschichte bestimmter Phänomene bezeichnen, deren Funktion und Wandel sie beschreibt. 11 Der Hervorhebung der historischen Spezifik und Partikularität von Erfahrungen entspricht die grundsätzliche Ablehnung von universalen und überhistorischen Perspektiven. 12 »Alle meine Untersuchungen richten sich gegen den Gedanken universeller NotJohn Rajchman: »Foucault: Ethik und Werk«, in: François Ewald/ Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, 207–217, hier 209. 7 Paul Veyne: »Michel Foucaults Denken«, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.), Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, 27–51, hier 36. 8 Wilhelm Schmid: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Denken und Existenz bei Michel Foucault, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, 7–37, hier 9. 9 M. Foucault: »Polemik, Politik und Problematisierungen«, 733. 10 Vgl. Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Daniel Defert/ François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, 166–191, hier 166. 11 Vgl. Petra Gehring: Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt a. M.: Campus 2004, 131 f. 12 Vgl. Joseph Vogl: Genealogie, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider, Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2008, 255–258, hier 255. 6
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wendigkeiten im menschlichen Dasein. Sie helfen entdecken, wie willkürlich Institutionen sind, welche Freiheit wir immer noch haben und wie viel Wandel immer noch möglich ist.« 13 Eine maßgebliche Motivation für die unbedingte Kritik an scheinbar ahistorischen Eigenschaften menschlichen Lebens besteht demnach in dem Kampf um Transformation, dem die Arbeiten Foucaults verpflichtet sind. 14 Der Fokus der genealogischen Methode liegt auf den zufälligen Veränderungen und unerwarteten Brüchen, welche die Entstehung und Möglichkeiten von Subjekten, ihren Praktiken und Vorstellungen maßgeblich bestimmen. Durch den ironischen Stil 15 und den strategischen, quasi-historischen Gestus lässt die Geschichte des Denkens die Annahme von anthropologischen Konstanten, unveränderlichen Wesenszügen und ewigen Bedingungen der menschlichen Existenz als Strategie erscheinen, um den Jetzt-Zustand zu legitimieren. Indem die Genealogie auf der Basis konkreten historischen Materials unerwartete Gegengeschichten erzählt, dient sie zudem der Infragestellung von altbekannten Fortschrittsnarrationen und Entwicklungsgeschichten, die dem historischen Verlauf einen spezifischen Sinn zuzuschreiben versuchen. Gerade diejenigen Erfahrungen werden zum Gegenstand der Geschichte des Denkens, die bislang als geschichtslos und unveränderbar galten und zugleich eine tragende Funktion für den Ist-Zustand gesellschaftlicher Verhältnisse besitzen. Die Genealogie »muss die Ereignisse in ihrer Einzigartigkeit und jenseits aller gleich bleibenden Finalität erfassen, sie dort aufsuchen, wo man sie am wenigsten erwartet, und in solchen Bereichen, die keinerlei Geschichte zu besitzen scheinen: Gefühle, Liebe, Gewissen, Triebe.« 16 »Diese systematische Entsubstanzialisierung betrifft nicht nur die vermeintliche Einheit der menschlichen Institutionen und Werte, sondern auch die
Michel Foucault: Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, 959–966, hier 961. 14 Vgl. u. a. John Rajchman: The Freedom of Philosophy, New York: Columbia Press 1988, 97 ff.; Martin Saar: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a. M.: Campus 2007, 293 ff.; Mary Shoemaker: Genealogy, from Nietzsche to Foucault: tracing the history of the present, Saarbrücken: VDM 2008, 89; Peggy H. Breitenstein: Die Befreiung der Geschichte, Frankfurt a. M.: Campus 2013, 274. 15 Vgl. M. Saar: Genealogie als Kritik, 305 ff.; J. Vogl: Genealogie, 255. 16 M. Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, 166. 13
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Orte des Denkens im Werk von Michel Foucault
letzten Einheitsbegriffe wie das Ich und den Körper«. 17 Allerdings wird nicht, wie allzu oft behauptet, die Existenz oder gesellschaftspolitische Relevanz dieser Phänomene infrage gestellt, sondern lediglich ihr scheinbar ahistorischer und substanzieller Charakter. Von dieser Historisierung und Fragmentierung existenzieller Erfahrungen nimmt sich auch der Autor der Genealogie selbst nicht aus, sondern weiß um sein »perspektivisches Wissen«. 18 Der Ortsgebundenheit des Untersuchungsgegenstandes entspricht somit die Kenntnis um die jeweilig partikulare Sichtweise der eigenen Arbeit. Deren Perspektivität wird jedoch nicht als zu vermeidender Fehler oder als Schwäche angesehen, sondern als Stärke im Kampf gegen einen fälschlichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, Objektivität und Universalität. Foucault »empfand jede Generalisierung von Ansichten und Auffassungen als ein Mittel zu politischer und ideologischer Nötigung und als Grundlage für Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmechanismen. […] Deshalb wandte er sich auch konsequent gegen jeden Totalitätsanspruch von Philosophie«. 19 Genealogische Narrationen dienen nicht nur als Kampfinstrument, um den universalen Anspruch der Philosophie und den scheinbar objektiven Charakter historischer Entwicklungen anzugreifen, sondern auch als Methode, um die Geschichte selbst als einen Kampf zu beschreiben. »Die Geschichte […] ist verstehbar, und sie muss bis in ihre kleinste Einzelheit analysiert werden können: doch gemäß der Verstehbarkeit der Kämpfe, der Strategien und der Taktiken« 20, die sie prägen. »Die Genealogie ist eine Machtgeschichte im doppelten Sinne des Wortes« 21, weil sie zum einen die Geschichte als ein heterogenes, sich stets veränderndes Netz aus Machtbeziehungen begreift und sich zum anderen selbst durch die Historisierung aktueller und scheinbar unveränderbarer Phänomene innerhalb gegenwärtiger Machtstrukturen positioniert. Dabei bezeichnet der holistische 17 M. Saar: Genealogie als Kritik, 199.; vgl. M. Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, 179. 18 M. Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, 182. 19 Regina Benjowski: Philosophie als Werkzeug, in: Wilhelm Schmid (Hg.), Denken und Existenz bei Michel Foucault, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, 168–180, hier 179. 20 Michel Foucault: Gespräch mit Michel Foucault, Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band III, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, 186–213, hier 192 f. 21 P. Gehring: Foucault, 131 f.
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Hannah Holme
Machtbegriff Foucaults »die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt und verkehrt«. 22 Machtverhältnisse weisen im Gegensatz zu Herrschaft weniger einen repressiven als produktiven Charakter auf. Anstatt eine zuvor existierende, freie, menschliche Natur zu unterdrücken, entstehen die Einzelnen in der Auseinandersetzung mit spezifischen Macht-Wissens-Relationen, 23 durch die sie erst einen bestimmten Subjektstatus erlangen. So mag es zum Beispiel Menschen gegeben haben, die Symptome aufwiesen, die der Diagnose von Hysterie entsprachen, ehe sich das Wissen um dieses Krankheitsbild entwickelte. Sie wurden aber nicht durch machtvolle Institutionen wie die Psychiatrie als HysterikerInnen bezeichnet und erfuhren sich dementsprechend selbst nicht als dieser Kategorie zugehörig, weil eine solche schlichtweg noch nicht existierte. Die Einzelnen werden also durch ganz konkrete, subjektkonstituierende Praktiken, die stets in historisch, kulturell und lokal spezifischen Macht-Wissens-Relationen eingebettet sind, zu hysterischen, heterosexuellen, delinquenten oder weißen Personen. Dabei sind die Subjekte durch die historisch variierenden Macht-Wissens-Komplexe weder absolut determiniert noch vollkommen frei, sondern konstituieren sich innerhalb dieses holistischen Gefüges, das je nach Epoche ein unterschiedliches Maß an Möglichkeiten zur Selbstgestaltung zulässt. Das Subjekt »bildet zwar [eine] aktive Schaltstelle gesellschaftlicher Machtkämpfe, keineswegs
22 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, 93. 23 Mit der unmittelbaren Verbindung der Kategorien von Macht und Wissen wendet sich Foucault mit Verweis auf Nietzsche gegen die Vorstellung, dass es ein objektives und neutrales Wissen gebe, das nicht von Macht affiziert sei und Machteffekte bewirke (vgl. Clemens Kammler: »Wissen«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider, Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2008, 303–306, hier 305 f.); »Kein Wissen bildet sich ohne ein Kommunikations-, Aufzeichnungs-, Akkumulations- und Versetzungssystem, das in sich eine Form von Macht ist und in seiner Existenz und seinem Funktionieren mit den anderen Machtformen verbunden ist. Umgekehrt kommt es zu keiner Ausübung von Macht ohne die Gewinnung, Aneignung, Verteilung oder Zurückhaltung eines Wissens.« (Michel Foucault: »Theorien und Institutionen des Strafvollzugs«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, 486–490, hier 486).
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aber einen souveränen Protagonisten in diesem Geschehen« 24, weil es selbst erst in diesem einen bestimmten Subjektstatus erhält. Die Genealogie untersucht partikulare »Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur« 25, indem sie die jeweils historisch und lokal spezifischen Konstellationen von Macht, Wissen und Subjekt analysiert. 26 Sie ist gegen einen universalen Begriff des Menschen gerichtet und stellt bei jedem zu untersuchenden Zeitraum aufs Neue die Frage, was an diesem jeweiligen Ort und in dieser jeweiligen Zeit als Subjekt galt. Hatte Foucault in seinen früheren Schriften vor allem repressive Aspekte der historischen Entstehung von Subjekten im Kontext von Institutionen des 18. und 19. Jahrhunderts – wie der Klinik, des Gefängnisses oder der Schule – hervorgehoben, wendet er sich in den 80er Jahren der Antike zu. Hierbei beschäftigt er sich ausführlich mit den Möglichkeiten des Subjekts, sich in ein selbstbestimmtes Verhältnis zu den herrschenden moralischen Regeln zu setzen. Im Anschluss an diese Auseinandersetzung widmet er sich in seinen letzten beiden Vorlesungen den von ihm zuvor explizit gemiedenen Schauplätzen der Philosophiegeschichte und stellt sich hierbei unter anderem die Frage, wo die Philosophie ihren Ort hat.
2.
Orte des Wahrsprechens
Die Vorlesung von 1983 am Collège de France beginnt Foucault mit einer Verortung seines eigenen Denkens, indem er ihr eine »Inschrift« 27 und ein »Wappen« 28 voranstellt: Kants Text Was ist Aufklärung?. Bei der Frage nach der Aufklärung, der Vernunft und ihrem Gebrauch, handelt es sich demnach um den Ausgangspunkt zweier großer kritischer Traditionen innerhalb der philosophischen DiszipHannelore Bublitz: »Subjekt«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider, Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2008, 293–296, hier 294. 25 Michel Foucault: »Subjekt und Macht«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, 269–294, hier 269. 26 Vgl. Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, 15 ff., 63 ff. 27 Ebd., 20. 28 Ebd., 21. 24
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lin. 29 Der »analytischen Philosophie« 30, welche die Bedingungen wahrer Erkenntnis erforscht, stellt Foucault eine andere Traditionslinie gegenüber, der er neben Hegel, Nietzsche und der Frankfurter Schule auch sich selbst zuordnet. Sie ist der »Frage nach der Gegenwart« 31 gewidmet, auf die Kant in dem Essay Was ist Aufklärung? reagiert und hierdurch eine Verortung seines eigenes Denkens innerhalb des aktuellen Prozesses der Aufklärung vornimmt. »Foucault verschiebt also die Frage nach der Aufklärung zur Frage nach dem Zeitbewußtsein, nach der eigenen Gegenwart. […] Aufklärung war das historische Projekt der Beziehung des Denkens auf seine Zeit« 32. Denken ist somit stets an Zeit und Ort gebunden und gewinnt über die Reflexion dieser Verortung ihren kritischen Charakter. Ein Grund, weshalb für Foucault »Ort und Datum« 33 der Veröffentlichung des Kantischen Essays so wichtig waren, besteht darin, »daß in diesem Text ein neuer Typ von Frage im Bereich der philosophischen Reflexion auftaucht. […] Die Frage nach der Gegenwart, nach der Aktualität. Es ist die Frage: Was geschieht heute? Was geschieht jetzt? Was ist dieses ›Jetzt‹, in dem wir uns befinden und das der Ort, der Punkt ist, von dem aus ich schreibe?« 34 So stellt sich Kant seiner Gegenwart, indem er die Aufklärung zum Gegenstand seiner kritischen Überlegungen macht und erklärt, auf welche Weise er selbst als Philosoph diesem Prozess angehört. 35 Anstatt nun selbstreflexive Überlegungen und Analysen über die eigene Gegenwart der frühen 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts in Vogelmann weist darauf hin, dass Foucaults Darstellung Kants als der Begründer zweier Traditionslinien mit Vorsicht zu behandeln ist, da er zuvor »Nietzsche als den paradigmatischen Diagnostiker der Gegenwart ausgemacht und ebenfalls mit der Urheberschaft dieser Form des Denkens geadelt« hat (Frieder Vogelmann: »Foucaults parrhesia – Philosophie als Politik der Wahrheit«, in: Petra Gehring/Andreas Gelhard (Hg.), Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit, Zürich: diaphanes 2012, 203– 229, hier 227). Anstatt den Verweis auf verschiedene Traditionslinien also als Ergebnis intensiver exegetischer Forschung zu betrachten, erscheint es plausibler, diese Darstellung als eine strategische Skizze des philosophischen Feldes zu verstehen, die Foucault dazu dient, sein eigenes philosophisches Projekt zu verorten. 30 M. Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen, 39. 31 Ebd., 27. 32 Ulrich Johannes Schneider: »Foucault und die Aufklärung«, in: Ryszard Rózanowski (Hg.): Aktualität der Aufklärung. Wrocław: Wydawn. Uniwersytetu Wrocławskiego 2000, 217–233, hier 219. 33 M. Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen, 23. 34 Ebd., 26. 35 Ebd., 28. 29
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Frankreich anzustellen, legt Foucault den Studierenden, die sich im Januar 1983 in den überfüllten Hörsaal drängen, Interpretationen berühmter philosophischer Topoi der Antike vor, ohne sich ein weiteres Mal ausführlich auf Kant zu beziehen. Offensichtlich besteht seine Positionierung innerhalb der philosophischen Tradition eines »kritischen Denken[s]« 36 nicht in der expliziten Beantwortung der Frage nach der Gegenwart, sondern in der Hervorhebung ihrer Relevanz. Nachdem Foucault sich diesem Unternehmen in der ersten Sitzung gewidmet hat, beendet er seinen Kant-Exkurs, ohne dessen Beziehung zur folgenden Vorlesung über die Antike näher zu erläutern. Stattdessen konzentriert er sich im Folgenden ganz auf die antike Praxis des Wahrsprechens, der parrhesia. Der Begriff der parrhesia wird von Foucault mit »alles sagen« 37 übersetzt und bezeichnet eine »Tugend, eine Aufgabe und eine Technik« 38, die darin besteht, die Anderen mit der Wahrheit zu konfrontieren. 39 Dabei spricht der Parrhesiast eine kritische oder gar verletzende Wahrheit gegenüber einer Person aus, die über mehr Macht Ebd., 39. Ebd., 65. 38 Ebd. 39 Der Wahrheitsbegriff Foucaults unterscheidet sich deutlich von logischen oder korrespondenztheoretischen Konzeptionen und ist an demjenigen Nietzsches orientiert, wonach Wahrheit unmittelbar mit Macht verschränkt ist (vgl. u. a. Stephan Güntzel: »Wahrheit«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider, FoucaultHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2008, 296–300, hier 296 ff.); Foucault versteht Wahrheit als eine zentrale Komponente neben Machtrelationen und den Subjekten, die historische Erfahrungen ermöglichen. Zugleich lassen sich diese drei »Dimensionen einer Erfahrung« (M. Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen, 16) auch als Analysekategorien verstehen, mithilfe derer die genealogische Narration die Entstehung und Formation von Subjektweisen und Phänomenen beschreibt. In seinen letzten Vorlesungen gewinnt die Wahrheit durch das Wahrsprechen eine besondere Relevanz. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, wie sich das Subjekt als wahrhaftige Person konstituieren kann, indem es die Wahrheit spricht und ihr gemäß lebt (vgl. ebd.; M. Foucault, Der Mut zur Wahrheit). Auf diese Weise wird der Parrhesiast erst über die Wahrheitspraxis der parrhesia zu einem solchen und ist hierdurch zugleich Zeuge der Wahrheit. In welchem Verhältnis der Wahrheitsbegriff früherer Werkphasen zu demjenigen der Vorlesungen von 1983 und 1984 steht, ist bislang noch nicht erforscht (vgl. David Hechler: »Wahrsprechen«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider, Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2008 301–302, hier 302); Zum Verhältnis von Wahrheit und Denken im Werk Foucaults, siehe Thomas Schäfer: Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, 88 f. 36 37
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verfügt und mit Aggression und Sanktionen auf die wahre Rede und ihren Sprecher reagieren könnte. Aus diesem Grund ist die parrhesia stets mit einer Gefahr verbunden. »Die parrhesia ist also, kurz gesagt, der Mut zur Wahrheit seitens desjenigen, der spricht und das Risiko eingeht, trotz allem die ganze Wahrheit zu sagen, die er denkt, sie ist aber auch der Mut des Gesprächspartners, der die verletzende Wahrheit, die er hört, als wahr akzeptiert.« 40 Anhand detaillierter Textlektüren und ausführlicher Beschreibungen einer Vielzahl von Beispielen, Merkmalen und Variationen erläutert Foucault das Phänomen der parrhesia, das er in einer Sitzung der Vorlesung im März 1984 überblicksartig in drei Formen des Mutes zur Wahrheit einteilt. 41 Dabei spielt die Frage, »wo […] das Recht des Wahrsprechens, die Möglichkeit des Wahrsprechens, die riskante Verpflichtung des Wahrsprechens ihren Ort« 42 hat, eine maßgebliche Rolle. Im Gegensatz zum politischen Wahrsprechen, das Foucault anhand von Perikles innerhalb der attischen Volksversammlung lokalisiert, 43 wird zu Zeiten des Sokrates »die Philosophie, [die maßgeblich im vertraulichen Dialog zweier Menschen besteht,] zum Ort […] der parrhesia« 44. Die Reden des Perikles, wie sie von Thukydides überliefert sind, dienen Foucault zur Darlegung der »politischen parrhesia« 45, deren Adressat die Volksversammlung darstellt, wobei allen Mitgliedern das gleiche Rederecht, die isegoria, zukommt. 46 Auf der Basis dieser grundsätzlichen Gleichheit wird es einigen wenigen gelingen, im agonalen Spiel der inhaltlichen Auseinandersetzung besondere Geltung und Einfluss zu erlangen 47, indem sie die wahre Rede, die parrhesia, aussprechen. Durch diese bezeugt die wahrsprechende Person, dass sie ganz der Wahrheit verpflichtet ist, die dem Wohl des Stadtstaates entspricht. Zugleich nimmt sie durch die wahre Rede die Gefahr in Kauf, dass sich die Polis gegen sie wendet oder ihren Vorschlag annimmt und sich bei dessen Umsetzung unliebsame Folgen einstellen,
40 41 42 43 44 45 46 47
M. Foucault: Der Mut zur Wahrheit, 29. Vgl., ebd., 302 f. M. Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen, 383. Ebd., 221 ff. Ebd., 426. Ebd., 443. Ebd., 227. Ebd., 222.
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was wiederum Aggressionen gegen die wahrsprechende Person zur Folge haben könnte. 48 Nach Foucault ist diese Form der parrhesia aufgrund ihres komplexen Verhältnisses zur demokratischen Verfassung äußerst fragil und wurde nach der Zeit von Perikles durch ein falsches Wahrsprechen ersetzt, das »die Schlimmsten, und nicht mehr die Besten« 49 praktizieren. Anstatt die gefährliche Wahrheit auszusprechen, wiederholen die scheinbaren Parrhesiasten lediglich die gängige Meinung, um das Wohlwollen der Volksversammlung zu erlangen. So vermeiden sie es, sich der Gefahr zu stellen, die mit dem eigentlichen Wahrsprechen notwendig verbunden ist. Während das Wahrsprechen in der Polis so zum »Geschwätz« 50 verkommt, findet die parrhesia einen anderen Ort. Indem Foucault die aus der Mitte des 5. Jahrhunderts stammende Beschreibung des Perikles mit Schriften aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts kontrastiert, 51 skizziert er eine Verschiebung der parrhesia. Sie findet nicht mehr in dem »agonistischen Raum der Vielen« 52 statt, sondern innerhalb des philosophischen Dialogs zweier Vertrauter, die sich einer Prüfung ihrer Seele und ihres Lebensstils unterziehen. Es handelt sich hierbei um eine Transformation der parrhesiastischen Praxis von der politischen Regierung der Anderen hin zur ethisch-philosophischen Selbstregierung. 53 »Zur gleichen Zeit, da die Philosophie zum Ort […] der parrhesia wird […], erscheint ein anderer Akteur der parrhesia, ein anderer Parrhesiast« 54, der vor allem von Sokrates verkörpert wird, wie ihn Foucault in den Schriften Platons charakterisiert findet. Durch eine ungewöhnliche Lesart des siebten Briefs Platons erscheint die Philosophie nicht als reine Erkenntnis, die dem Reich der ewigen Ideen zugewandt ist, sondern als eine Gesamtheit von (Selbst)Praktiken. Diese Philosophie ist aufs Engste mit dem politischen Bereich verbunden, ohne mit ihm identisch zu sein. Statt des verbalen Wettstreits innerhalb der Polis richtet sich das philosophische WahrEbd., 225. Ebd., 234. 50 Michel Foucault: Diskurs und Wahrheit. Berkeley – Vorlesungen 1983, Berlin: Merve 1996, 12. 51 M. Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen, 248. 52 Ebd., 464. 53 Ebd., 380 f. 54 Ebd., 426 f. 48 49
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sprechen im Rahmen einer vertrauten Beziehung an die Einzelnen, welche die philosophische Rede anhören und respektieren, auch wenn sie die ausgesprochene Wahrheit als schmerzhafte oder kränkende Erkenntnis erfahren könnten. 55 Die Philosophie besteht in einer Prüfung des Selbst, seiner Seele und seiner Lebensform, die nicht als einmaliger Test, sondern als »kontinuierliche Praxis« 56zu verstehen ist, der sich die philosophierende Person widmet. »Die Philosophie findet ihre Wirklichkeit in der Praxis der Philosophie, verstanden als die Gesamtheit der Praktiken, durch die das Subjekt eine Beziehung zu sich selbst unterhält, sich selbst entwickelt und an sich arbeitet. Die Arbeit an sich selbst, darin besteht die Wirklichkeit der Philosophie.« 57
Die Philosophie besteht demnach in Selbstpraktiken, die ein breites Spektrum möglicher Verhaltensweisen abdecken. 58 Die Entwicklung eines selbstbewussten und selbstkritischen Verhältnisses zur eigenen Person findet in der Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Handlungen ebenso statt wie seinen Ausdruck – im Sprach-, Ess-, oder Trinkverhalten, durch die äußere Erscheinung, das Verhältnis zum eigenen Körper und zu den Anderen. Das prominente Exempel einer Philosophie, die nach Foucault den Namen der »Tochter der parrhesia« 59 verdient, stellt das Leben von Sokrates dar. Sokrates wird als philosophischer Parrhesiast beschrieben, der sich zwar im politischen Bereich bewegt, aber nicht, um Macht im Interesse der Polis auszuüben, sondern aufgrund der philosophischen Sorge um sich selbst, 60 die mit der Sorge um die Anderen verbunden ist. Indem Sokrates für die Wahrheit lebt und stirbt, bleibt er ihr treu und sorgt sich auf diese Weise um sein eigenes Selbst. Zugleich kümmert er sich durch die philosophische Lebensform um seine Mitbürger, die er von der falschen Meinung befreit, welche wie eine Krankheit Seele und Körper befällt. Im Zuge des philosophischen Dialogs lernen die Gesprächspartner zwischen »dem Gerechten und dem Ungerechten« 61 zu unterscheiden und ihr Leben 55 56 57 58 59 60 61
Vgl., ebd., 298 ff. Ebd., 319. Ebd., 309. Vgl., ebd., 303. Ebd., 428. M. Foucault: Der Mut zur Wahrheit, 101. Ebd., 143.
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nach dem Wahren und Guten auszurichten. Die sokratische Prüfung, die maßgeblich darin besteht, »genau aufzuteilen, was gut und was nicht gut in den eigenen Handlungen, in der eigenen Existenz, in der eigenen Lebensweise ist« 62, ist kein einmaliger Akt, sondern begleitet die ethischen Subjekte ihr gesamtes Leben. Eine so verstandene Philosophie besteht in der Suche nach Wahrheit, zu der das Individuum durch eine Prüfung seiner selbst gelangt und ihr das eigene Leben widmet, auch wenn dies den Tod für die Wahrheit zur Folge haben kann. »Sokrates’ Tod, so scheint mir, begründet in der Wirklichkeit des griechischen Denkens […] die Philosophie als eine Form der Veridiktion […], die […] den Mut erfordert, sie bis zum Tod als eine Prüfung der Seele auszuüben, die ihren Ort nicht auf der politischen Rednerbühne haben kann.« 63 Der Ort der philosophischen parrhesia ist nicht die Volksversammlung, sondern die Seele und der Körper des Individuums, das sich durch ethische Selbstpraktiken formt. Da sich die Polis aber aus Bürgern zusammensetzt, die wie alle anderen Menschen über einen Körper und eine Seele verfügen, wirken sich philosophische Selbstpraktiken mittelbar auf den politischen Bereich aus. Aus diesem Grund bemühten sich einige Nachfolger von Sokrates, unter ihnen auch Platon, um die ethische Prüfung des politischen Subjekts. 64 Die Philosophie hat somit keine Befehlsgewalt über die politische Sphäre, sie bestimmt nicht, welche Regierungsform adäquat oder welche Gesetze ethisch vertretbar sind und sie entwickelt auch keinen Regelkatalog, an den sich die Bürger der Polis halten sollen. Die Philosophie ist nicht die Herrscherin der Politik und auch nicht mit ihr identisch, sondern sie korreliert mit ihr an einem Ort: dem einzelnen, ethischen Subjekt. 65 Indem sich das Individuum immer wieder der philosophischen parrhesia unterzieht, die in einer ethischen Lebensführung ihren Ausdruck findet, wird es auch im politischen Bereich seinem ethischen Selbstverhältnis entsprechend agieren und hierdurch Effekte im politischen Bereich erzielen. Der philosophische Diskurs »sagt nicht die Wahrheit für das politische Handeln, sondern er sagt die Wahrheit in bezug auf das politische Handeln, in bezug auf die 62 63 64 65
Ebd., 194. Ebd., 155. Vgl., M. Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen, 306. Ebd., 364.
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Ausübung der Politik, in bezug auf die politische Persönlichkeit. Genau das nenne ich ein wiederkehrendes, beständiges und grundlegendes Merkmal des Verhältnisses der Philosophie zur Politik. Mir scheint, daß diese Behauptung, die an diesem historischen Ort, an den wir uns stellen, schon sehr deutlich wahrnehmbar ist, im Verlauf der gesamten Geschichte der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik wahr bleibt und ständig Gefahr läuft, nicht wahr zu sein.« 66
In diesem korrelierenden Verhältnis von Philosophie und Politik erkennt Foucault ein Moment, das bis heute Relevanz besitzt. Er lenkt die Aufmerksamkeit seines Publikums auf einen historischen Ort, der zwar vergangen, aber immer noch aktuell ist, weil sich in ihm ein Problem manifestiert, das bis heute brisant ist: das Verhältnis der Philosophie zu aktuellen gesellschaftspolitischen Prozessen. Die Frage, wie dieses Verhältnis gedacht werden kann, stellt in den letzten Vorlesungen das verbindende Moment dar, das die verschiedenen Zeiträume der Antike, der Aufklärung und der Gegenwart miteinander verbindet.
3.
Zwischen Ort und Zeit und immer an der Grenze
Was geschieht in dieser Vorlesung von 1983? Der berühmte Professor des Lehrstuhls für die Geschichte der Denksysteme beginnt sie mit der Verortung seines eigenen Werks innerhalb einer durch Kant begründeten Tradition der kritischen Philosophie, die der Frage nach der Gegenwart verpflichtet ist. Auf die Auseinandersetzung mit der Kantischen Frage nach der Aufklärung folgt abrupt und ohne jede Überleitung die Verschiebung des antiken Wahrsprechens von der politischen Rede hin zum philosophischen Dialog. Offensichtlich überlässt es Foucault seinem Publikum, eine Brücke zwischen diesen verschiedenen Orten und Zeiten herzustellen. Die Philosophie, wie sie Foucault durch seine Beschreibung der sokratischen parrhesia vorstellt, hat denkbar wenig mit der akademischen Philosophie zu tun, wie sie heute bekannt ist. Philosophie meint hier nicht das Schreiben, Publizieren und Vermitteln theoretischer Texte, sondern eine kritische Prüfung der individuellen Denkund Lebensgewohnheiten. Ihr Ziel besteht nicht in der Produktion gesicherter Erkenntnisse, sondern in einer Lebensführung, die der 66
Ebd., 362.
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Wahrheit und nicht den gängigen Meinungen verpflichtet ist. Philosophie ist nicht gleichzusetzen mit wissenschaftlichen, logischen und rationalen Beschäftigungen oder mit Geschichtsphilosophie, sondern mit dem spezifisch Foucaultschen Begriff von Denken – und das heißt, anders zu fühlen, zu sprechen und zu handeln als bisher. »Doch was ist dann die Philosophie heute – ich meine die philosophische Aktivität –, wenn nicht die kritische Arbeit des Denkens an sich selbst? Und besteht sie nicht darin, anstatt das zu legitimieren, was man bereits weiß, herauszufinden versuchen, wie und bis wohin es möglich wäre, anders zu denken?« 67 Hatte sich Foucault mit dem Begriff des Denkens als kritische Reflexion und Veränderung von (Selbst-)Praktiken bereits deutlich von der universitären Philosophie abgegrenzt, macht er in seinen letzten Vorlesungen die Philosophie als Lebenspraxis zum Gegenstand der Geschichte des Denkens. Denn die philosophische parrhesia als Prüfung des eigenen Lebens weist ein zentrales Moment des Denkens auf. Beide Praktiken sind der Aufgabe verpflichtet, die gewohnten und unhinterfragten Gedanken, Verhaltensweisen und Lebensformen zu reflektieren, um ihnen gegenüber ein freieres Verhältnis und eine bewusste Haltung zu gewinnen. Auf diese »historisch-kritische Haltung« 68 geht Foucault in seinem Aufsatz Was ist Aufklärung? näher ein, der in dem gleichen Zeitraum wie die hier behandelten Vorlesungen entstand und deutliche Überschneidungen mit der ersten Sitzung der Vorlesung von 1983 aufweist. »Mit Haltung meine ich einen Beziehungsmodus im Hinblick auf die Aktualität; eine freiwillige Wahl, […] die zugleich eine Zugehörigkeit bezeichnet und sich als eine Aufgabe darstellt. Ein wenig sicherlich wie das, was die Griechen ein Ethos nannten.« 69 Dabei ist die Frage nach der aktuellen Situation und der Zugehörigkeit des ethischen Subjekts zu dieser Gegenwart unmittelbar mit der Frage der Kritik verbunden. Im Unterschied zu Kant versteht Foucault Kritik jedoch nicht als die Erfassung und Respektierung der Grenzen, welche die Erkenntnis nicht überschreiten darf, sondern als
Michel Foucault: »Gebrauch der Lüste und Techniken des Selbst«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, 658–686, hier 664. 68 Michel Foucault: »Was ist Aufklärung?«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, 687–707, hier 703. 69 Ebd., 695. 67
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deren Historisierung und Überschreitung in konkreten Situationen und aktuellen Prozessen. »Aber wenn es die Kantische Frage war zu wissen, welche Grenzen die Erkenntnis nicht überschreiten darf, so scheint es mir, daß die kritische Frage heute in eine positive gekehrt werden muss: Welchen Ort nimmt in dem, was uns als universal, notwendig und verpflichtend gegeben ist, das ein, was einzig, kontingent und das Produkt willkürlicher Beschränkung ist? Alles in allem geht es darum, die in Form der notwendigen Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in Form einer möglichen Überschreitung zu transformieren.« 70
Diese »historisch-praktische« 71 Kritik, welche die bestehenden Grenzen zu erweitern versucht, verortet Foucault ebenso in seinen genealogischen Schriften wie in einem ethischen Selbstverhältnis des Individuums. 72 Die Genealogie stellt eine spezifisch-kritische und implizite Verbindung zwischen vergangenen und gegenwärtigen Orten und Praktiken her, um bestehende Grenzen des Denkens zu hinterfragen. Da Denken im Sinne Foucaults nicht ausschließlich die Reflexion, sondern auch die Transformation des Bestehenden umfasst, hat sich die Grenzhaltung zudem in praktischer Überschreitung von gesellschaftspolitischen Begrenzungen zu beweisen. Diese beiden Aspekte der kritischen Haltung sind in der Vorlesung von 1983 auf eine Weise verbunden, die eine Antwort auf den Zusammenhang zwischen dem Aufsatz Kants, der Inschrift der Vorlesung, und der darauffolgenden »Genealogie des Wahrsprechens« 73 eröffnen kann. Dabei spielt die Frage nach dem Ort des Denkens eine zentrale Rolle. Durch die genealogische Geschichte des Denkens kritisiert Foucault die Propagierung von Universalien und gibt somit der Spezifik und Kontingenz der historischen Entstehung von Phänomenen und Praktiken einen »Ort«. 74 Hierdurch entsteht eine eigentümliche Beziehung zwischen der zeitlich-lokalen Partikularität des untersuchten Gegenstands und einer allgemeinen und grundsätzlichen Kritik der Gegenwart. Das »Wesentliche an […] [der Arbeit einer Geschichte des Denkens ist] die aktuelle Erfahrung, die sie vermittelt: daß eine Sache, eine Institution schon einmal anders war, als sie ist, und daher 70 71 72 73 74
Ebd., 702. Ebd., 703. Ebd., 702 ff. Vgl., M. Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen, 324. M. Foucault: Was ist Aufklärung?, 702.
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auch wieder verändert werden kann.« 75 Dass die genealogischen Analysen »in allerhöchstem Maße partikular geradezu ultra-lokal« 76 sind, schmälert hierbei nicht ihr kritisches Potential, sondern stellt gerade dessen Bedingung dar. Die detaillierte Beschreibung der historischen Erfahrung eines bis heute brisanten Phänomens, die sich deutlich von dem heutigen Erleben unterscheidet, evoziert einen Kontrast, der auf die potentielle Transformation der Gegenwart verweist. Auf diese Weise hat die genealogische Kritik ihren Ort an der Schnittstelle zwischen der vergangenen Form eines historisch klar lokalisierten Phänomens und der Gegenwart, in der dessen scheinbare Unveränderbarkeit durch die Hervorhebung seiner historischen Transformationen angegriffen wird. Ebenso wie die Erfahrung von Wahnsinn, Sexualität oder Moral zu anderen Zeiten eine andere Gestalt besaß und deshalb auch ihre heutige wieder verändern kann, muss auch die Philosophie nicht auf ewig eine universitäre Disziplin bleiben. Durch die historische Untersuchung der Philosophie als praktische Lebensform, die Foucault in seinen letzten beiden Vorlesungen am Collège de France unternimmt, gerät die philosophisch-wissenschaftliche Institution, in der er als Universitätsprofessor selbst agierte, in ein kritisches Licht. 77 Die genealogische Darstellung der Verschiebung des Wahrsprechens vom politischen zum philosophischen Bereich verweist auf die Tatsache, dass Philosophie sehr viel mehr sein kann als reine Wissenschaft, nämlich eine Lebensform der Kritik, die stets politische Implikationen und Relevanz besitzt, ohne realpolitisch zu sein. Damit ist der zweite Aspekt der »historisch-praktische[n]« 78 Kritik benannt, die aus dem »Wechselspiel zwischen der historischen Analyse und der praktischen Haltung« 79 besteht. Philosophie im Sinne Foucaults hat sich innerhalb gegenwärtiger Prozesse auf praktischer Ebene zu bewähren, da das »philosophische ethos als eine hisW. Schmid: »Einleitung«, 15. M. Saar: Genealogie als Kritik, 313. 77 Foucault stellt klar, dass die »Geschichte der Philosophie als Ethik und Heldentum ab dem Zeitpunkt […] zum Ende kommen, da die Philosophie zum Beruf eines Professors geworden ist« (M. Foucault, Der Mut zur Wahrheit, 279). Auch wenn es sich hierbei um keine eindeutige oder explizite Kritik an der akademischen Fachdisziplin Philosophie handelt, evoziert diese Darstellung doch die kritische Frage, wo Philosophie als ethische Lebensform ihren Platz haben könnte und aus welchen Gründen die Universität nicht als ein möglicher Ort der parrhesia infrage kommt. 78 Ebd., 703. 79 Ebd. 75 76
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torisch praktische Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können, und damit als Arbeit von uns selbst an uns selbst« 80 zu verstehen ist. Diese philosophisch-praktische Haltung lässt sich in den letzten Vorlesungen Foucaults in der Figur des Sokrates erkennen. Indem er im philosophischen Dialog die bestehenden und selbstverständlich hingenommenen Vorstellungen hinterfragt und diejenigen Überzeugungen, die sich in der philosophischen Prüfung als richtig erwiesen haben, in seiner Lebensform verkörpert, stößt er an die Grenzen dessen, was die attische Bürgerschaft ertragen konnte. Das philosophische ethos stellt auf diese Weise in doppelter Hinsicht eine »Grenzhaltung« 81 dar. Es zielt ebenso auf die Erweiterung der eigenen Erfahrungs- und Erkenntnisgrenzen durch die selbstkritische Prüfung des eigenen Lebens ab wie auf die Erweiterung der gesellschaftlichen Grenzen, die es durch den philosophischen Lebensstil provoziert. Die philosophische Praxis des Sokrates lässt sich als »Verschiebung und Transformation des Denkrahmens, die Veränderung der überkommenen Werte, die […] Bemühung […], anders zu denken, zu handeln und zu sein« 82 verstehen. Eben diesem Philosophieverständnis ist die Geschichte des Denkens gewidmet. In Foucaults letzten Vorlesungen entspricht die genealogische Methode dem durch sie dargestellten Inhalt. Es handelt sich bei dem Gegenstand des genealogischen Verfahrens, deren Ziel die Erweiterung gegenwärtiger Grenzen ist, um ein historisches Phänomen dieser Grenzhaltung: die philosophische parrhesia des Sokrates. Damit hat die Geschichte des Denkens in dieser Vorlesung das Denken selbst zum Gegenstand, das in der kritischen Prüfung gegenwärtiger Seinsweisen besteht und dem Ziel gewidmet ist, diese zu verändern. Auf diese Weise wird die Verbindung zwischen den verschiedenen Zeiträumen der Antike, der Aufklärung und der Gegenwart ersichtlich, die in Foucaults Publikationen zwar präsent, aber kaum ausformuliert ist. Foucault ist nicht nur ein Denker der Praxis, vielmehr erscheint auch sein eigenes Denken oftmals als unkommentierte, praktische Geste, weshalb die Orientierung an dem, was er tut, ohne es zu sagen ebenso von Bedeutung ist wie das, was er sagt. In Ebd., 704. Ebd., 702. 82 Michel Foucault: »Der maskierte Philosoph«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, 128–137, hier 136.; Vgl. R. Benjowski: »Philosophie als Werkzeug«, 168–180, hier 170; vgl. P. Gehring: Foucault, 146. 80 81
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Orte des Denkens im Werk von Michel Foucault
den letzten Vorlesungen stellt er der Genealogie des Wahrsprechens die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zu aktuellen gesellschaftspolitischen Prozessen in Form des Kantischen Aufsatzes voran. Er gibt auf diese Frage nach der Beziehung zwischen der Philosophie und der Gegenwart keine explizite Antwort. Stattdessen skizziert er eine Geschichte des Denkens, die das Denken »als Freiheit gegenüber dem, was man tut« 83 anhand der philosophischen parrhesia beschreibt. Die ethische Lebensform der Antike lässt sich ebenso wie Kants Schriften als ein historisches Beispiel verstehen, wie zu anderen Zeiten die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zu ihrer jeweiligen Gegenwart gestellt wurde. Damit entlastet Foucault sein Publikum nicht von der Aufgabe, sich mit dieser Frage zu konfrontieren, er liefert keine Gegenwartsanalyse, sagt den Anderen nicht, wie sie den gesellschaftlichen Zuständen zu begegnen und wie sie zu handeln haben. Stattdessen ist die Frage nach der Gegenwart als implizite Aufforderung zu verstehen, selbst zu denken und hierdurch sich und das Bestehende zu verändern. Zugleich bezieht er durch die Genealogie des Wahrsprechens selbst Position. Die Aufgabe der Philosophie, der sich Foucault zugehörig fühlt, besteht nicht in der Erfüllung wissenschaftlicher Standards und ebenso wenig in der Empfehlung geeigneter Staatsformen oder der Auflistung moralischer Regelkataloge. Die Philosophie, der Foucault sein Interesse – und manche sagen, auch sein Leben 84 – widmete, besteht in einem Denken, das über die historische Untersuchung partikularer Zeiträume seinen Ort an der Grenze dessen findet, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt als erkennbar, erfahrbar und tolerierbar erscheint, um diese zu überschreiten.
Literatur Benjowski, Regina: »Philosophie als Werkzeug«, in: Schmid: Denken und Existenz bei Michel Foucault (1991), 168–180. Breitenstein, Peggy H.: »Die Befreiung der Geschichte«, Frankfurt a. M.: Campus 2013.
M. Foucault: Polemik, Politik und Problematisierungen, 732. Vgl. u. a. Katharina von Bülow: »Widersprechen ist eine Pflicht«, in: Wilhelm Schmid (Hg.), Denken und Existenz bei Michel Foucault, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, 129–139.; François Ewald: »Michel Foucault. Grundzüge einer Ethik«, in: Wilhelm Schmid (Hg.), Denken und Existenz bei Michel Foucault, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, 197–207.
83 84
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Hannah Holme Bülow von, Katharina: »Widersprechen ist eine Pflicht«, in: Schmid: Denken und Existenz bei Michel Foucault (1991), 129–139. Bublitz, Hannelore: »Subjekt«, in: Kammler/ Parr/ Schneider: Foucault-Handbuch (2008), 293–296. Dahlmanns, Claus: Die Geschichte des modernen Subjekts: Michel Foucault und Norbert Elias im Vergleich. Berlin: Waxmann 2008. Defert, Daniel/Ewald François (Hg.): Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. – Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band III, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. – Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. Ewald, François/Waldenfels, Bernhard (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. François Ewald: »Michel Foucault. Grundzüge einer Ethik«, in: Schmid: Denken und Existenz bei Michel Foucault (1991), 197–207. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977. – Überwachen und Strafen. Eine Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994. – Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. – Diskurs und Wahrheit. Berkeley – Vorlesungen 1983, Berlin: Merve 1996. – »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Defert/Ewald, Dits et Ecrits (2002), 166–191. – »Theorien und Institutionen des Strafvollzugs«, Defert/Ewald, Dits et Ecrits (2002), 486–490. – »Gespräch mit Michel Foucault«, Dits et Ecrits (2003), 186–213, hier 192 f. – »Der maskierte Philosoph«, in: Defert/Ewald, Dits et Ecrits (2005), 128–137. – »Subjekt und Macht«, in: Defert/Ewald, Dits et Ecrits (2005), 269–294. – »Gebrauch der Lüste und Techniken des Selbst«, in: Defert/Ewald, Dits et Ecrits (2005), 658–686. – »Was ist Aufklärung?«, in: Defert/Ewald, Dits et Ecrits (2005), 687–707. – »Polemik, Politik und Problematisierungen«, in: Defert/Ewald, Dits et Ecrits. (2005), 724–734. – »Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault«, in: Defert/Ewald, Dits et Ecrits. (2005), 959–966. – Die Regierung des Selbst und der anderen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. – Der Mut zur Wahrheit, Berlin: Suhrkamp 2010. Gehring, Petra: Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt a. M.: Campus 2004. Gehring, Petra/Gelhard, Andreas (Hg.): Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit, Zürich: diaphanes 2012. Günzel, Stephan: »Wahrheit«, in: Kammler/Parr/Schneider: Foucault-Handbuch (2008), 296–301. Hechler, David: »Wahrsprechen«, in: Kammler/Parr/Johannes Schneider, Foucault-Handbuch (2008), 301–302.
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Orte des Denkens im Werk von Michel Foucault Kammler, Clemens: »Wissen«, in: Kammler/Parr/Schneider, Foucault-Handbuch (2008), 303–306. Kammler, Clemens/Parr, Rolf/Schneider, Ulrich Johannes: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2008. Rajchman, John: Michel Foucault. The Freedom of Philosophy, New York: Columbia University Press 1988. – »Foucault: Ethik und Werk«, in: Ewald/Waldenfels, Spiele der Wahrheit (1991), 207–217. Rózanowski, Ryszard (Hg.): Aktualität der Aufklärung. Wrocław: Wydawn. Uniwersytetu Wrocławskiego 2000. Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a. M.: Campus 2007. Schäfer, Thomas: Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt einer antitotalitären Macht-und Wahrheitskritik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. Schmid, Wilhelm (Hg.): Denken und Existenz bei Michel Foucault, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. – »Einleitung«, in: Schmid, Wilhelm, Denken und Existenz bei Michel Foucault (1991), 7–37. Schneider, Ulrich Johannes: »Foucault und die Aufklärung«, in: Rózanowski, Aktualität der Aufklärung (2000), 217–233. Shoemaker, Mary: Genealogy, From Nietzsche to Foucault. Tracing the History of the Present, Saarbrücken: VDM 2008. Veyne, Paul: »Michel Foucaults Denken«, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.), Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, 27–51. Vogelmann, Frieder: »Foucaults parrhesia – Philosophie als Politik der Wahrheit«, in: Gehring/Gelhard (Hg.), Parrhesia (2012), 203–229. Vogl, Joseph: »Genealogie«, in: Kammler/Parr/Schneider, Foucault-Handbuch (2008), 255–258.
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Annika Schlitte
Brücke, Tür und Tempelschwelle – Denkorte bei Simmel, Cassirer und Heidegger
Einleitung »I want to make it perfectly clear that Tilted Arc was commissioned and designed for one particular site: Federal Plaza. It is a site-specific work and as such not to be relocated. To remove the work is to destroy the work.« 1
Mit diesen deutlichen Worten zur Ortsgebundenheit seiner Skulptur »Tilted Arc« wehrt sich der Künstler Richard Serra entschieden gegen die Entfernung seines Werkes, das 1981 auf dem Federal Plaza in New York aufgestellt wurde. Zwar hatte Serra damit keinen Erfolg und die Skulptur wurde 1989 nach Protesten und einem langen Rechtsstreit beseitigt, doch bleibt die Frage nach dem Verhältnis zwischen einem Kunstwerk und seinem Ort aktuell und dies weit über die im engeren Sinne »ortsspezifische« Kunst hinaus. Welches Verhältnis besteht zwischen einem Kunstwerk und einem Ort, zwischen einem Gebäude und einem Ort – und was ist überhaupt ein Ort, vor allem in Abgrenzung zum Raum? Eine Diskussion über die Begriffe »Ort« (»place«) und »Raum« (»space«) wird in der angelsächsischen Soziologie und Humangeographie seit einigen Jahren unter Rückgriff auf philosophische Konzepte geführt, die aus dem Bereich der Postmoderne und der Phänomenologie stammen. Für eine besondere Profilierung des (lebensweltlichen, erfahrbaren) Ortes gegenüber dem (abstrakten, naturwissenschaftlich bestimmbaren) Raum sind hier besonders die Arbeiten von Edward Casey hervorzuheben, die versuchen, die jeweils verschiedene Interpretation dieses Begriffspaars in der abendländischen Philosophiegeschichte zu analysieren. Folgt man der Darstellung, die Serra, Richard: »Letter to Donald Thalacker dated January I, 1985«, zit. nach Miwon Kwon, One Place after Another. Site-Specific Art and Locational Identity, Cambridge, MA/London: MIT Press 2004, 12. Anm. 6.
1
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Brücke, Tür und Tempelschwelle
Casey von der Geschichte des philosophischen Raum- und Ortsdenkens gibt 2, so zeigt sich diese als ein Dreischritt mit den Stationen 1. Würdigung des Ortes in der Antike, insbesondere bei Aristoteles, 2. Verlust eines gehaltvollen Ortsbegriffs in der Neuzeit unter der Dominanz des naturwissenschaftlichen Raumbegriffs, und 3. Wiederentdeckung des Ortes in der Phänomenologie und in der postmodernen Philosophie. Casey bezieht sich hier auf die Herausbildung einer phänomenologischen Raumtheorie im 20. Jahrhundert, die im Anschluss an Husserl und Heidegger den erlebten oder gelebten Raum dem geometrischen Raum der Naturwissenschaften entgegensetzt. Im Zuge der Orientierung an der lebensweltlichen Räumlichkeit spielt hier nun in der Tat auch der Ortsbegriff eine wichtige Rolle, vor allem in der angelsächsischen Diskussion, die unter dem Einfluss der Humangeographie mit dem Begriffspaar »place« und »space« operiert. Hier erfolgt nicht nur eine Wendung vom mathematischwissenschaftlichen zum erlebten Raum, sondern zusätzlich rückt als leiblich vermittelter Anfangs- und Ankerpunkt aller Erfahrung der Ort in den Blick. Wie dieser phänomenologische Ansatz betont, ist der konkrete Ort gerade nicht einer abstrakten Raumvorstellung nachgeordnet, vielmehr setzt die Bildung einer abstrakten Raumvorstellung ihrerseits die Erfahrung konkreter Orte voraus. 3 Dieser Text möchte nun eher indirekt zu dieser Problematik des Ortes beitragen, indem er den Blick einmal auf Beispiele lenkt, die von Philosophen des 20. Jahrhunderts – wenn man Caseys Dreischritt folgen will, also in der Phase der »Wiederentdeckung« des Ortes – wiederholt bei der Beschäftigung mit Ort und Raum herangezogen werden. Diese ausgezeichneten Beispiele, die bei der Klärung dessen, was die jeweiligen Autoren unter »Raum« und »Ort« verstehen, offensichtlich von großem heuristischem Wert sind, werden hier als »Denkorte« bezeichnet. Ein zentraler Autor für die Frage nach dem Ort, auf den sich die Philosophie und Geographie des Ortes immer wieder bezieht, ist Vgl. Casey, Edward S.: The Fate of Place. A Philosophical History, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1997; ein ähnlicher Dreischritt findet sich in: Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, 16–19. 3 Vgl. Casey, Edward S.: Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place World, 2. Aufl. Bloomington: Indiana University Press 2009; Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Cambridge/New York: Cambridge University Press 1999. 2
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Annika Schlitte
Martin Heidegger; doch bevor dieser »kanonische« Autor hier zur Sprache kommt, sollen in einem weiten Sinne phänomenologische Betrachtungen 4 zu Ort und Raum bei zwei Autoren Beachtung finden, die nicht zur phänomenologischen »Schule« zu rechnen sind, aber für die Entwicklung des philosophischen Denkens Anfang des 20. Jahrhunderts eine gewisse Rolle gespielt haben, nämlich Georg Simmel und Ernst Cassirer. Bei allen drei Autoren lässt sich die Tendenz erkennen, einen auf die naturwissenschaftliche Betrachtung eingeschränkten Blick auf die Problematik von Raum und Ort zu überwinden zugunsten einer Anreicherung dieser Konzepte unter Bezugnahme auf soziale, kulturelle und pragmatische Bedeutungen. Als wichtiger Bezugspunkt, aber auch als Kontrastfolie steht in allen Fällen die Raumtheorie Kants im Hintergrund. Beginnen werde ich mit Simmel (1.), um dann einen kurzen Seitenblick auf Cassirer zu werfen (2.), bevor ich zu Heidegger komme (3.), der für eine Philosophie des Ortes zu einer zentralen Bezugsfigur geworden ist.
1.
Ort und Raum bei Simmel
1.1. Raumtheorie in Anschluss an Kant Georg Simmel ist laut Georg Lukács »die bedeutendste und interessanteste Übergangserscheinung in der ganzen modernen Philosophie« 5. Zunächst vom Neukantianismus beeinflusst, entwickelt er das Konzept einer symbolischen Kulturphilosophie, die er später mit den Begriffen »Leben« und »Form« reformuliert. Von der Phänomenologie im engeren Sinne ist er auf den ersten Blick weit entfernt, doch versteht man diese als eine Hinwendung zur Vielfalt der Erscheinungen, die in einem bloß erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Ansatz verdeckt bleibt, dann kann man Simmel sehr wohl als einen Wegbereiter dieser Richtung betrachten. 6 Gerade für seine
Phänomenologie wird hier sehr weit verstanden als allgemeine Bezeichnung eines beschreibenden Verfahrens. 5 Lukács, Georg: »Erinnerungen an Georg Simmel«, in: Kurt Gassen/Michael Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin: Duncker & Humblot 1958, 171–176; hier 171. 6 Zu Simmels Verhältnis zu Heidegger vgl. Großheim, Michael: Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn: Bouvier 1991. 4
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Brücke, Tür und Tempelschwelle
Analyse von Alltagsphänomenen der modernen Kultur ist er bekannt, wenn auch nicht immer ernst genommen worden. Die beiden 1903 veröffentlichten Aufsätze Soziologie des Raumes und Über räumliche Projektionen socialer Formen 7 befassen sich mit der sozialen Dimension des Raumes und müssen vor dem Hintergrund von Simmels Auseinandersetzung mit dem Kantischen Raumkonzept gesehen werden. In den Kant-Vorlesungen, die 1904 in erster Auflage erschienen, formuliert er folgende Ausgangsfrage: »Was bedeutet dieses unendliche Gefäß um uns herum, in dem wir als verlorene Pünktchen schwimmen und das wir doch samt seinem Inhalt vorstellen, das also ebenso in uns ist, wie wir in ihm sind?« 8 Das ist zumindest unglücklich formuliert, denn im Folgenden will Simmel mit Kant gerade zeigen, »[d]aß der Raum nur eine Vorstellung ist und außerhalb der Wesen nicht existiert« 9. Dabei erweist sich gerade das oben angedeutete Raumverständnis als »ein völliges Mißverständnis«, das darin besteht, »den Kantischen Raum als ein von den empirischen Dingen prinzipiell unabhängiges Sein anzusehen, als ein unendliches Gefäß, in das die Dinge hineingestellt würden, wie Möbel in ein Zimmer.« 10 Auch die Formulierung, der Raum sei »in uns«, nimmt Simmel gleich wieder zurück, da sie dazu verleite, »das ›in‹ räumlich zu verstehen, als wäre jenes Ich nun selbst ein Raum, in dem etwas sein könnte« 11. Der Raum ist also nur »die Form und Bedingung unserer empirischen Vorstellungen« 12 und dasjenige, was eine Synthese erst ermöglicht. Simmel betont, dass »der Raum selbst nichts Räumliches ist« 13. So heißt es auch in der Soziologie des Raumes, der Raum sei nicht mehr als eine Form der Synthese, »nur die menschliche Art, an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden« 14.
7 Simmel, Georg: »Über räumliche Projektionen socialer Formen«, in: GSG 7, 201– 220; Ders.: »Soziologie des Raumes«, in: GSG 7, 132–183 [Simmels Werke werden zitiert nach der Ausgabe: Simmel, Georg, Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1989 ff., abgekürzt als GSG]. 8 Simmel, Georg: »Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität«, in GSG 9, 7–226; hier 78. 9 Ebd., a. a. O. 10 Ebd., 80. 11 Ebd., 82. 12 Ebd., 83. 13 Ebd., 81. 14 G. Simmel: »Soziologie des Raumes«, 133.
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1.2. Der soziale Raum Wenden wir uns also nun dem sozialen Raum zu. Das formale Verständnis des Raumes passt sich in das Unternehmen von Simmels Soziologie insofern ein, als er stets angibt, die Formen der Vergesellschaftung untersuchen zu wollen. Wenn der Raum nach Kant als »Möglichkeit des Beisammenseins« 15 zu verstehen sei, so könne man ihn mit gesellschaftlichen Phänomenen in Verbindung bringen, die ebenfalls eine Form des Beisammenseins darstellten. An den soziologischen Ausführungen ist bemerkenswert, dass Simmel nicht nur einseitig die Auswirkungen bestimmter Räume auf soziale Beziehungen oder die Wirkungen sozialer Beziehungen auf den Raum untersucht, sondern dass er von einer Wechselbeziehung ausgeht. 16 Grenzen z. B. sind für Simmel keine bloßen Gegebenheiten, sondern soziologische Akte – »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt« 17 –, und doch haben sie Rückwirkungen auf die Gesellschaft, wenn sie einmal bestehen. Gemäß der von Simmel als idealistisch bezeichneten Grundannahme, dass der Raum unsere Vorstellung sei, die durch eine Aktivität der Synthese zustande kommt, formt der Geist den Raum zur Grenze, doch ist diese einmal in die Natur eingeprägt, beeinflusst sie ihrerseits den Menschen. 18 Simmel vergleicht sie an einer Stelle mit dem Bildrahmen: Wie der Rahmen für das Kunstwerk, so wirke die Grenze definierend auf die sich im Inneren befindliche Gruppe. 19 Insgesamt wird in diesem Kontext also immer noch das Kantische Modell des Raumes als Form der Anschauung weitergeführt, Vgl. ebd., 134; Simmel schreibt die Formulierung hier Kant zu, der diese auch in der Kritik der reinen Vernunft benutzt, allerdings ist das wohl eine Anspielung auf Leibniz, der den Raum im Briefwechsel mit Clarke als »Ordnung des Nebeneinanderbestehens« bestimmt hatte; vgl. Schüller, Volkmar (Hg.): Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel, Berlin: Akademie 1991. 16 Vgl. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 63: »Simmel analysiert die Projektionen in den Raum und die Art und Weise, wie diese wieder auf das Leben und die Form der sozialen Gruppen zurückwirken.«. 17 G. Simmel: »Soziologie des Raumes«, 141. 18 Vgl. ebd.: »Ist sie [die Grenze, A. S.] freilich erst zu einem räumlich-sinnlichen Gebilde geworden, das wir unabhängig von seinem soziologisch-praktischen Sinn in die Natur einzeichnen, so übt dies starke Rückwirkung auf das Bewußtsein von dem Verhältnis der Parteien.«. 19 Ebd., 138. 15
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Brücke, Tür und Tempelschwelle
wobei sich allerdings zum einen der Schwerpunkt auf soziale Prozesse verlagert und zum anderen die Wechselwirkung zwischen den Vorstellungen der Akteure und den faktischen räumlichen Gegebenheiten thematisiert wird. Trotz der deutlichen Orientierung an Kant wird somit die Vorstellung des Raumes als bloße Anschauungsform gleichwohl überschritten. Unter dem Stichwort »Fixierung« diskutiert Simmel hier auch in Ansätzen die Bedeutung von Orten für soziale Beziehungen und entfernt sich damit weiter vom Raum als bloße Anschauungsform. Fixierung im Raum gewähre soziologischen Gebilden einen Drehund Angelpunkt, um den herum sie sich ausrichten; so könne z. B. für Gemeinden in der Diaspora der Bau einer Kirche besonders wichtig sein. Um die »Individualisierung des Ortes« als soziale Praxis zu beschreiben, vergleicht Simmel außerdem den Brauch, mittelalterliche Stadthäuser nach dem Namen ihrer Eigentümer zu benennen, mit der modernen Straßen- und Hausnummernbezeichnung. Während im ersteren Fall ein Gefühl der »Zugehörigkeit zu einem qualitativ festgelegten Raumpunkt« entstehe, unterschieden sich die modernen Häuser gleichsam nur quantitativ – durch die Hausnummer. 20 Als Fixierungen im Raum lassen sich auch Brücke und Tür verstehen, denen Simmel einen eigenen Essay widmet und denen wir uns nun zuwenden wollen.
1.3. Brücke und Tür bei Simmel Die Thematisierung von Brücke und Tür folgt Simmels besonderer Methode, die sich ein einzelnes Phänomen herausgreift, um dies als Symbol für gesellschaftliche oder anthropologische Grundbeziehungen auszuwerten. 21 An der Brücke manifestiert sich laut Simmel die menschliche Fähigkeit der Synthese. 22 Was für den theoretischen Weltzugang des Menschen typisch ist, wird hier durch einen Eingriff in die Landschaft sichtbar gemacht. Zudem ist die Brücke Ausdruck der menschlichen Fähigkeit, feste kulturelle Formen zu schaffen, die Vgl. ebd., 150. Vgl. zu diesem Konzept Schlitte, Annika: Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur, München: Fink 2012. 22 »Im unmittelbaren wie im symbolischen, im körperlichen wie im geistigen Sinne sind wir in jedem Augenblick solche, die Verbundenes trennen oder die Getrenntes verbinden«, Simmel, Georg: »Brücke und Tür«, in: GSG 12, 55–61; hier 55. 20 21
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Annika Schlitte
sich schon im »Wunder des Weges« zeigt, das darin bestehe, »die Bewegung zu einem festen Gebilde, das von ihr ausgeht und in das sie eingeht, gerinnen zu lassen« 23. Die Brücke macht die Verbindung des Getrennten unmittelbar anschaulich. So wie der Mensch physisch über die Brücke gehen kann, wandert der Blick beim Anblick einer Brücke von einem Ufer zum anderen und hebt so die beiden Uferseiten erst als solche hervor. Indem die Brücke einer geistigen Möglichkeit (der Synthese) eine anschauliche Gestalt gibt, steht sie laut Simmel in der Nähe des Kunstwerks. Doch wie der Mensch verbinden kann, so trennt er auch; denn um etwas verbinden zu können, muss er es vorher als getrennt denken und umgekehrt. Dieses dialektische Verhältnis von Trennen und Verbinden bezeugt nun das Beispiel der Tür. Während die Brücke nur das Verbindende der menschlichen Tätigkeit verkörpert, ist die Tür nach Simmel das reichere Bild, denn sie zeigt außerdem die Eigenschaft des Menschen, Grenzen setzen und diese immer wieder überschreiten zu können. Die Tür ist ein Bild »des Grenzpunktes, an dem der Mensch eigentlich dauernd steht oder stehen kann« 24. Brücke und Tür sind so »Veranschaulichung eines Metaphysischen« und zeigen den Menschen als »das Grenzwesen, das keine Grenze hat« 25, weil es sie immer schon überschreitet. Diese Charakterisierung des Menschen findet sich auch in Simmels späten lebensphilosophischen Texten wieder, wo er schreibt, »[d]ieses Sich-Selbst-Überschreiten des Geistes« 26 mache selbst den Begriff des Lebens aus. Beide Beispiele machen also als räumliche Markierungen geistige Gehalte sichtbar.
2.
Raum und Ort bei Cassirer
Ernst Cassirer, der stärker noch als Simmel im Neukantianismus verwurzelt ist, nähert sich dem Raumproblem ebenfalls ausgehend von Kant und insbesondere Leibniz, 27 gibt ihm aber eine originelle kultur-
Ebd., 56. Ebd., 58. 25 Ebd., 60. 26 Simmel, Georg: »Lebensanschauung«. Vier metaphysische Kapitel, in: GSG 16, 209–425; hier 215. 27 Vgl. Rudolph, Enno: »Raum, Zeit und Bewegung. Cassirers konstruktive Rezeption der philosophischen Anfänge des physikalischen Relativismus«, in: Ders., Ernst 23 24
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Brücke, Tür und Tempelschwelle
philosophische Wendung. In der Philosophie der symbolischen Formen fungiert der Raum als eine fundamentale Kategorie der Welterschließung, die sich in den unterschiedlichen symbolischen Formen jeweils verschieden ausformt. Für Cassirer, der sich mit den divergierenden Raumvorstellungen innerhalb der Physik intensiv beschäftigt hat, gibt es also so etwas wie »den Raum« nicht, sondern Raum bedeutet in mythischer, ästhetischer und mathematischer Perspektive jeweils etwas Verschiedenes. Dabei bleibt der Raum Ergebnis einer formenden Aktivität des Geistes – ähnlich wie bei Kant –, allerdings weitet sich der Fokus über die wissenschaftliche Erkenntnis hinaus auf andere kulturelle Formen, welche die Welt mithilfe jeweils spezifischer Modalitäten der Kategorien Raum, Zeit und Zahl strukturieren. In Bezug auf Raum und Ort sind besonders Cassirers Gedanken zur mythischen Raumordnung interessant, die er im zweiten Teil der Philosophie der symbolischen Formen behandelt. Alles Sein und Geschehen kann demnach im Mythos mit dem Grundgegensatz des Heiligen und des Profanen erfasst werden. Alle Formen des mythischen Denkens bleiben nach Cassirer auf diesen Grundgegensatz bezogen und durch sie bedingt, und auch die räumliche und zeitliche Strukturierung folgt dieser Teilung. Der mythische Raum zeichnet sich dabei durch seinen Sinn- und Wertbezug aus, was ihn vom geometrischen Raum trennt und in die Nähe eines lebensweltlich erfahrbaren Ortsbegriffs rückt: »Im Gegensatz zu der Homogenität, die im geometrischen Begriffsraum waltet, ist somit im mythischen Anschauungsraum jeder Ort und jede Richtung gleichsam mit einem besonderen Akzent versehen – und dieser geht überall auf den eigentlichen mythischen Grundakzent, auf die Scheidung des Profanen und des Heiligen zurück.« 28
Zu der behaupteten engen Verbindung von Raum/Ort mit dem Heiligen passt, dass die antiken Begriffe zur Bezeichnung des Heiligen (lat. sacer) auf die Abgrenzung eines bestimmten Gebietes aus dem
Cassirer im Kontext. Kulturphilosophie zwischen Metaphysik und Historismus, Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 16–30. 28 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Hamburger Ausgabe Bd. 12, Text u. Anm. bearb. v. Claus Rosenkranz, Hamburg: Meiner 2001, 100.
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Annika Schlitte
profanen Raum zurückgehen, wie Cassirer auch im Hinblick auf den Wortsinn von »templum« bemerkt: »Die Heiligung beginnt damit, daß aus dem Ganzen des Raumes ein bestimmtes Gebiet herausgelöst, von anderen Gebieten unterschieden und gewissermaßen religiös umfriedet und umhegt wird. Dieser Begriff der religiösen Heiligung, die sich zugleich als räumliche Abgrenzung darstellt, hat seinen sprachlichen Niederschlag im Ausdruck des templum erhalten. Denn templum (griechisch τέμεωος) geht auf die Wurzel τεμ ›schneiden‹ zurück; bedeutet also nichts anderes als das Ausgeschnittene, Begrenzte.« 29
Cassirer weist auch auf die Bedeutung von Grenzen und Schwellen hin, die uns bei der Tür schon begegnet ist und die in der Religionsphänomenologie, z. B. bei Mircea Eliade ein wichtiger Untersuchungsgegenstand wird. 30 In der Philosophie der symbolischen Formen ist in den anderen Bänden auch vom Raum in der Sprache und der Wissenschaft die Rede, in einem späteren Aufsatz auch vom ästhetischen Raum. 31 Trotzdem kommt den Beispielen aus dem Bereich der mythischen und religiösen Raumerfahrung eine besondere Bedeutung zu, weil der Mythos gewissermaßen die symbolische Form ist, aus der sich nach Cassirers Auffassung die anderen entwickelt haben. 32 Hatte Simmel die soziale Dimension des Raumes betont, so wird der Raum bei Cassirer zu einer kulturellen Kategorie. Simmel spricht zwar auch davon, dass sich im Raum etwas symbolisiert, 33 Cassirer aber macht den Raum selbst zu einer Grundkategorie im Prozess der symbolischen Formung.
Ebd., 117. Vgl. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. 31 Vgl. dazu Cassirer, Ernst: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, in: Ders., Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, hg. von Marion Lauschke, Hamburg: Meiner 2009, 169–190. 32 Vgl. Recki, Birgit: Kultur als Praxis, Eine Einführung in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin: Akademie 2004, 84 f. 33 Vgl. bspw. G. Simmel: »Soziologie des Raumes«, 141. 29 30
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Brücke, Tür und Tempelschwelle
3.
Ort und Raum bei Heidegger
3.1. Von der Räumlichkeit des Daseins zur versammelnden Kraft von Dingen und Orten Anders als Simmel und Cassirer setzt sich Heidegger explizit mit dem Ort auseinander, der besonders für seine Spätphilosophie von immenser Bedeutung ist. 34 Bereits in Sein und Zeit taucht die Thematik von Ort und Raum bei der Frage nach der Räumlichkeit des Daseins auf. Das »In-der-Welt-Sein« wird hier vom »Sein in …« abgegrenzt, das nur für Vorhandenes gelte, nicht aber für Seiendes von der Art des Daseins. Das Dasein ist nicht in derselben Weise in der Welt »wie das Wasser ›im‹ Glas, das Kleid ›im‹ Schrank« 35. Es ist aber auch nicht an seinem Platz wie das Zeug, das für einen bestimmten Zweck zurechtgelegt ist. Vielmehr bestimmt Heidegger die Räumlichkeit des Daseins mithilfe der Begriffe der Entfernung und Ausrichtung, wobei sich die räumliche Erschlossenheit der Welt aus praktischen Bezügen ergibt. Über eine angemessene Raumvorstellung heißt es hier daher: »Der Raum ist weder im Subjekt noch ist die Welt im Raum. Der Raum ist vielmehr ›in‹ der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-Sein Raum erschlossen hat.« 36 Simmel hatte zwar davor gewarnt, den Raum in das Subjekt im Sinne einer räumlichen Bestimmung zu verlegen, betrachtete ihn aber doch als subjektive Erkenntnisbedingung, was für Heidegger wohl Ausdruck einer falschen Subjekt-Objekt-Spaltung wäre. Für ihn ist der Raum weder eine Vorstellung des Subjekts noch ein Gegenstand im Sinne des Vorhandenen, sondern eine existenziale Bestimmung des Daseins. Das Sein des Raumes kann selbst nicht in der Seinsart der res extensa begriffen werden – der Raum ist selbst nichts Räumliches, hatte auch Simmel gesagt. Beim frühen Heidegger findet sich so eine Art Phänomenologie der Räumlichkeit, die aber – anders
Diese kann im Rahmen eines solchen Aufsatzes nicht angemessen ausgearbeitet und gewürdigt werden; hier soll es daher primär um die verwendeten Beispiele gehen, wobei die verschiedenen Schichten von Heideggers Raum- bzw. Ortsdenken nur holzschnittartig aufgezeigt werden können. Für eine »ortsphilosophische« Gesamtdeutung Heideggers vgl. Malpas, Jeff: Heidegger’s Topology. Being, Place, World, Cambridge, MA/London: MIT Press 2006. 35 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 19. Aufl. Tübingen: Niemeyer 2006; § 12, 54. 36 Ebd., § 24, 111. 34
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als z. B. bei Merleau-Ponty – ohne Betonung der Leiblichkeit auskommt und auch ohne die soziale Dimension des Raumes, die Simmel herausstellte. Spätere Überlegungen Heideggers betrachten nicht mehr so sehr die Räumlichkeit des Daseins, sondern die raumerschließende Kraft von Dingen und Orten. 37 Wichtig sind für unseren Zusammenhang der Vortrag Bauen Wohnen Denken von 1951 sowie Heideggers Kunstwerk-Aufsatz von 1935/36, schließlich auch die Schrift Die Kunst und der Raum von 1969. Vor allem in den beiden letztgenannten Texten äußert sich Heidegger zum Verhältnis von Ort und Raum und legt dar, man müsse – entgegen der vorherrschenden Meinung in den Naturwissenschaften – die Orte nicht aus dem Raum, sondern den Raum aus den Orten hervorgehen lassen. Doch wie lässt sich diese kryptisch anmutende Aussage verstehen? Schauen wir uns an, welche Beispiele Heidegger in diesen Kontexten anführt.
3.2. Die Brücke bei Heidegger Im Vortrag Bauen Wohnen Denken ist die Frage nach dem Ort eingelassen in Überlegungen zum Bauen und zum gebauten Ding, womit die Dinge ins Spiel kommen, die für das Ortsverständnis des späten Heideggers sehr wichtig sind. Als Beispiel wählt auch Heidegger eine Brücke. Wie Simmel betont er ihre synthetisierende Kraft, die aber hier nicht allein als Ausdruck einer geistigen Fähigkeit zu verstehen ist, sondern als Leistung der Brücke selbst. Die Brücke verbindet demnach nicht schon vorhandene Ufer, sondern lässt erst die Uferseiten einander gegenüberliegen. 38 Der Ort entsteht erst eigentlich durch die Brücke: »Der Ort ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. Zwar gibt es, bevor die Brücke steht, den Strom entlang viele Stellen, die durch etwas besetzt werden können. Eine unter ihnen ergibt sich als ein Ort und zwar durch die Brücke. So kommt denn die Brücke nicht erst an einen
Vgl. Busch, Kathrin: »Raum – Kunst – Pathos: Topologie bei Heidegger«, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007, 115–134; hier 122. 38 Heidegger, Martin: »Bauen Wohnen Denken«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske 1954. 145–162; hier 152: »Im Übergang der Brücke treten die Ufer erst als Ufer hervor«. 37
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Brücke, Tür und Tempelschwelle
Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort.« 39
Dadurch bildet sich auch erst eigentlich eine Landschaft: »Die Brücke versammelt die Erde als Landschaft um den Strom.« 40 Das Versammeln ist aber Kennzeichen des Dinges – Heidegger verweist auf das alte Wort für Versammlung, »thing«. Dinge, die in dieser Weise Ort sind, »verstatten jeweils erst Räume« 41, die sich dadurch auszeichnen, dass sie in eine Grenze eingelassen sind, wobei die Grenze nicht als das, wo etwas aufhört, verstanden werden soll, sondern als »jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt« 42. So ergibt sich das bereits angedeutete Verhältnis von Ort und Raum, wobei das Moment der Begrenzung wichtig wird: »Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene. Das Eingeräumte wird jeweils gestattet und so gefügt, d. h. versammelt durch einen Ort, d. h. durch ein Ding von der Art der Brücke. Demnach empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus ›dem‹ Raum.« 43
Die Brücke ist aber nun keineswegs so zu verstehen, dass sie erst ein Ding ist und danach noch etwas anderes, z. B. ein Symbol: »Wenn wir die Brücke streng nehmen, zeigt sie sich nie als Ausdruck. Die Brücke ist ein Ding und nur dies.« 44 Wenn wir die Brücke wie Simmel als Veranschaulichung eines geistigen Gehalts betrachten, sitzen wir nach Heidegger einem Irrtum über das Wesen des Dinges auf. Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn es nicht um alltägliche Dinge geht, sondern um Kunstwerke. Gerade Kunstwerke sind nicht einfach Naturgegenstände mit einer zusätzlichen Bedeutungsdimension, sondern zeichnen sich nicht zuletzt durch einen besonderen Ortsbezug aus. Im Gegensatz zum Naturgegenstand »intensiviert das Kunstwerk die Räumlichkeit der Erfahrung« 45, was Heidegger im Kunstwerk-Aufsatz am Beispiel eines Tempels erläutert. Ebd., 154, Ebd., 152. 41 Ebd., 154. 42 Ebd., 155. 43 Ebd. 44 Ebd., 152. 45 Espinet, David: »Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde«, in: Ders./Tobias Keiling (Hg.), Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main: Klostermann 2011, 46–65; hier 50. 39 40
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3.3. Der Tempel bei Heidegger Das Kunstwerk ist laut Heideggers Ausführungen in diesem Text durch zwei Aspekte gekennzeichnet, nämlich dadurch, dass es 1. eine Welt eröffnet und dass es 2. in sich selbst steht. Dass bei letzterem die Örtlichkeit eine Rolle spielt, wird schon daran deutlich, dass dieses »Insichselbststehen« laut Heidegger verdeckt wird, sobald die Werke im Museum »aufgestellt« werden. Am griechischen Tempel will er dagegen zeigen, wie Kunstwerke gerade in Bezug auf den Ort, an dem sie sich befinden, ein Geschehen eröffnen, das er als das »Sichins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden« 46 bezeichnet. So geht es nicht darum, dass Kunstwerke etwas abbilden, sondern dass sie – gemäß dem ersten Aspekt – »eine Welt aufstellen« 47 und so eine Offenheit entstehen lassen, in der das Dasein sich aufhalten kann. Dabei lässt erst der Tempel den Ort, auf dem er steht, als Ort hervortreten. Der Fels und der Sturm in seiner Gewalt werden erst dadurch sichtbar, dass das Bauwerk auf dem Fels steht und dem Sturm trotzt. Diese Bedeutung für die Dinge und die Menschen 48 bestehe aber nur, solange der Tempel noch von Gott erfüllt sei, womit das Moment des Heiligen auftaucht, das uns schon bei Cassirer begegnet ist. Über den Tempel schreibt Heidegger nämlich: »Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab, er steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felsentales. […] Durch den Tempel west der Gott im Tempel an. Dieses Anwesen des Gottes ist in sich die Ausbreitung und Ausgrenzung des Bezirkes als eines heiligen.« 49
Doch nicht nur die welterschließende Funktion des Kunstwerks ist Heidegger wichtig, sondern auch dessen Bezug zur Erde, dem natürlichen, stofflichen Moment, das hier nicht einfach als Material dient, sondern durch das Kunstwerk ans Licht gebracht wird. Dinge, Bauten, Kunstwerke stiften demnach Orte, die erst so etwas wie Raum als Spielraum, Offenheit, Freiraum für das Erfahren und Handeln eröffnen. Man könnte in dieser erfahrungsbedingenden Heidegger, Martin: »Der Ursprung des Kunstwerks«, in: Ders., Holzwege, Frankfurt am Main: Klostermann 71994, 1–74; hier 21. 47 Ebd., 30; wobei mit Welt weder die bloße Ansammlung aller vorhandenen Dinge noch ein bloß subjektiver Rahmen bezeichnet wird. 48 Vgl. ebd., 29: »Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst.«. 49 Ebd., 27. 46
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Funktion einen quasi-transzendentalen Charakter von Orten und Dingen sehen. 50 Doch verlassen wir das letzte Beispiel und versuchen, eine kurze Bilanz zu ziehen, was aus der Betrachtung von Brücke, Tür und Tempel bei diesen drei sehr verschiedenen Autoren über die Bedeutung des Ortes zu schließen ist.
4.
Brücken, Türen, Tempelschwellen – ein Fazit
Bei allen drei Autoren haben die Beispiele ihren Platz in dem jeweils verschiedenen Raumkonzept. Wenn es Simmel bei Brücke und Tür um die kulturellen Leistungen des menschlichen Geistes geht, die sich am Raum in Form von räumlichen Synthesen zeigen, der aber seinerseits auf den Menschen zurückwirkt, so sind diese Überlegungen sowohl in seinen kulturphilosophischen Ansatz als auch in seine Untersuchung gesellschaftlicher Formen eingebettet. Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf diese Einzelphänomene zeugt aber schon von einem Bewusstsein für die Lebensbezüge, in denen der Einzelne steht, und die vom frühen Heidegger in der Analyse des In-der-Welt-Seins als Räumlichkeit des Daseins beschrieben werden. Cassirer betont wie Simmel die geistige Aktivität des Menschen bei der Strukturierung von Raum, lenkt aber die Aufmerksamkeit auf die kulturelle Pluralität von Raumbezügen, an denen der Mensch gleichsam als »Bürger vieler Welten« teilhat. Wie Heidegger greift er auf den Tempel als religiöses Bauwerk zurück, um qualitativ bestimmte Raum- und Ortsbezüge zu erläutern, wie sie sich im mythischen Denken herausgebildet haben. Der spätere Heidegger betont bei Tempel und Brücke dagegen nicht so sehr die geistige Leistung des Menschen, die sich in ihnen manifestiert, und auch nicht mehr die Räumlichkeit im Weltbezug des Daseins, sondern denkt stärker vom Ort her, der den Raum für den Menschen erst öffnet. Klärungsbedürftig bleibt dabei allerdings das Verhältnis von Ort und Ding, die so eng verbunden werden, dass man in Die Kunst und der Raum sogar liest, »[w]ir müßten erkennen Vgl. K. Busch, »Raum – Kunst – Pathos«, 122; die dies eine »transzendental-empirische Zwischenstellung« nennt. Nach Jeff Malpas ist Ort somit kein subjektives Phänomen, sondern die Voraussetzung für Subjektivität, vgl. J. Malpas, Place and Experience, 35.
50
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lernen, daß die Dinge selbst die Orte sind und nicht nur an einen Ort gehören« 51. Wenn man sich im Umfeld der Ortsthematik auf Heidegger beruft, muss man sich über diese Schwierigkeiten im Klaren sein. Gemeinsam ist allen drei Autoren jedoch das Bestreben, den Raum aus einer Reduktion auf ein bloßes Problem der Naturwissenschaften herauszuführen und ihn in Richtung der Lebenswelt, der kulturellen Sinnsysteme, der Alltagserfahrung zu öffnen, was sie für eine Philosophie des Ortes im eingangs skizzierten Sinne anschlussfähig macht. Jenseits der deutlichen Unterschiede sind in der Behandlung der Beispiele daher doch auch einige Fährten gelegt, mit welchen Aspekten sich eine philosophische Thematisierung von Ort weiterhin auseinandersetzen müsste. 1) Zunächst kann man feststellen, dass Orte immer etwas mit Abgrenzungsprozessen zu tun haben. Es bedarf einer Grenze, einer Markierung, damit etwas als Ort identifiziert werden kann. Dies zeigt sich besonders in den Überlegungen zur Differenz von heiligem und profanem Raum bei Cassirer und in Heideggers expliziten Aussagen zur Grenze des Ortes. 2) Auffällig ist weiterhin, dass es sich bei den angeführten Beispielen um Orte handelt, die entschieden kulturell und geschichtlich geprägt sind. Simmel, Cassirer und Heidegger denken bei Orten offenbar nicht an so etwas wie »natürliche Orte«, sondern viel eher an Werke der Architektur. Orte sind in diesem Verständnis keine physischen Gegebenheiten, aber darum eben auch keine bloß subjektiven Konstruktionen. Welche Rolle die Konzepte »Kultur«, »Geschichte«, »Sinn« oder »Bedeutung« hierbei spielen, müsste aber für die einzelnen Autoren differenzierter beantwortet werden. 3) Wie aus den Beispielen außerdem hervorzugehen scheint, entwickeln Orte eine eigentümliche Macht, die über eine bloß symbolische oder metaphorische Bedeutung hinausgeht. Schon Simmel sieht eine Wechselwirkung zwischen den menschlichen Eingriffen in den Raum und den räumlichen Gegebenheiten. Bei Heidegger lassen sich Mensch und Raum als Gegenüber schließlich gar nicht mehr so leicht trennen. 4) Zu guter Letzt ist es auffällig, dass die lebensweltliche Bedeutung und die welterschließende Kraft von Orten hier im Bereich Heidegger, Martin: Die Kunst und der Raum, Frankfurt am Main: Klostermann 2007, 11.
51
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der (Bau-)Kunst und der Religion verdeutlicht werden. Am Beispiel des Tempels als ein religiöses Bauwerk treffen beide Sphären zusammen. Da es bei Orten im Gegensatz zum abstrakten Raum auch um Sinn- und Wertbezüge geht, sind dies geeignete Quellbereiche, aus denen man schöpfen kann, um die Unverwechselbarkeit eines Ortes zu veranschaulichen. Wie wir anfangs gesehen haben, wird die Frage nach dem Ort im 20. Jahrhundert nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Kunst selbst gestellt. Hier scheint ein Sinn für die besondere Bedeutung von Orten für unser Leben und Denken auf, dem auch die Philosophie mit Gewinn nachsinnen kann. Ein »Kollege« von Richard Serra, der Land-Art-Künstler Robert Smithson, der u. a. einen Essay mit dem Titel The Artist as Site-Seer verfasst hat, formuliert dies 1968 so: »Die ›Ortsselektion‹ als eine Form der Kunst steht noch an ihrem Anfang. Die Erforschung eines spezifischen Ortes erfordert, aus gegebenen Sinnesdaten durch direkte Wahrnehmung Konzepte zu ermitteln. […] Künstler sind am besten in der Lage, die unbekannten Bereiche eines Ortes zu erforschen.« 52
Vor dem Hintergrund der oben angeführten Überlegungen zum Verhältnis von Ort, Raum und (Kunst-, Bau-, Mach-?)Werk bei drei ausgewählten Philosophen könnte es eine lohnende Aufgabe sein, solche künstlerischen Forschungsreisen philosophisch zu begleiten und zu reflektieren.
Literaturverzeichnis Busch, Kathrin, »Raum – Kunst – Pathos: Topologie bei Heidegger«, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007, 115–134. Casey, Edward S.: Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place World, 2. Aufl. Bloomington: Indiana University Press 2009. – The Fate of Place. A Philosophical History, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1997.
Smithson, Robert: »Ein Ding ist ein Loch in einem Ding, das es nicht ist« (1968), in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Eva Schmidt und Kai Vöckler, Köln: Walther König 2000, 123–124; hier 123.
52
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Annika Schlitte Cassirer, Ernst: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, in: Ders., Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, hg. von Marion Lauschke, Hamburg: Meiner 2009, 169–190. – Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Hamburger Ausgabe Bd. 12, Text u. Anm. bearb. v. Claus Rosenkranz, Hamburg: Meiner 2001. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. Espinet, David: »Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde«, in: Ders./ Tobias Keiling (Hg.), Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main: Klostermann 2011, 46–65. Großheim, Michael: Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn: Bouvier 1991. Heidegger, Martin: »Bauen Wohnen Denken«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske 1954. 145–162. – »Der Ursprung des Kunstwerks«, in: Ders., Holzwege, Frankfurt am Main: Klostermann 71994, 1–74. – Die Kunst und der Raum, Frankfurt am Main: Klostermann 2007. – Sein und Zeit, 19. Aufl. Tübingen: Niemeyer 2006. Kwon, Miwon: One Place after Another. Site-Specific Art and Locational Identity, Cambridge, MA/London: MIT Press 2004. Lukács, Georg: »Erinnerungen an Georg Simmel«, in: Kurt Gassen/Michael Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin: Duncker & Humblot 1958, 171–176. Malpas, Jeff: Heidegger’s Topology. Being, Place, World, Cambridge, MA/London: MIT Press 2006. – Place and Experience. A Philosophical Topography, Cambridge/New York: Cambridge University Press 1999. Recki, Birgit: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin: Akademie 2004. Rudolph, Enno: »Raum, Zeit und Bewegung. Cassirers konstruktive Rezeption der philosophischen Anfänge des physikalischen Relativismus«, in: Ders., Ernst Cassirer im Kontext. Kulturphilosophie zwischen Metaphysik und Historismus, Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 16–30. Schlitte, Annika: Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur, München: Fink 2012. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Schüller, Volkmar (Hg.): Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel, Berlin: Akademie 1991. Simmel, Georg: »Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität«, in: Gesamtausgabe Bd. 9, hg. von Guy Oakes und Kurt Röttgers, Frankfurt am Main 1997, 7–226. – »Brücke und Tür«, in: Gesamtausgabe Bd. 12, hg. von Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt, Frankfurt am Main 2001, 55–61. – »Soziologie des Raumes«, in: Gesamtausgabe Bd. 7, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, 132–183.
262 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Brücke, Tür und Tempelschwelle – »Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel«, in: Gesamtausgabe Bd. 16, hg. von Gregor Fitzi und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, 209–425. – »Über räumliche Projektionen socialer Formen«, in: Gesamtausgabe Bd. 7, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, 201–220 Smithson, Robert: »Ein Ding ist ein Loch in einem Ding, das es nicht ist« (1968), in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Eva Schmidt und Kai Vöckler, Köln: König 2000, 123–124. Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.
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»Exiled in the Mother Tongue« – Gadamer’s Contribution to the Question of Heimat and Fremde 1 »Thinking occurs primarily in one’s mother tongue.« 2
The aim of this essay consists in elucidating the manner in which Gadamer’s reflections on language relate and contribute to the notion of place, which is here to be understood in terms of Heimat and Fremde. While Gadamer’s engagement with the question of place may not be evident at first glance, especially when one is largely concerned with his major work Truth and Method (1960), it is nevertheless possible to identify in and through his later works the respect in which he took up and engaged with the question, most notably through the contemplation of language. By bringing out the relation between language and place, I hope to indicate the way in which Gadamer advances a thought that is at once nuanced and radical. I believe such an account is called for, since his thought is often denounced by his prominent critics such as Derrida and Waldenfels without such dimensions ever being considered. 3 Yet, insofar as it This essay is based on a paper I originally presented on 27 September 2013 at the conference »Place/s of Thinking« held at the University of Vienna. I have revised and expanded the text since then, as I continued to develop my thoughts upon further reflecting on this topic. By the title of this essay, I make explicit reference to the paper presented under the same title by Donatella Ester Di Cesare at Heidelberg, which has eventually come to form the fourth chapter of her book Utopia of Understanding, xi. 2 »Denken geschieht vor allem in der eigenen Muttersprache«. (Hans-Georg Gadamer, »Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache«, Gesammelte Werke Bd. 8, 428; »Towards a Phenomenology of Ritual and Language«, Language and Linguisticality, 41). 3 For instance, see the essay »Three Questions to Hans-Georg Gadamer« in Dialogue and Deconstruction and the second part of the essay »›I Have a Taste for the Secret‹« in A Taste for the Secret by Derrida, and the fourth chapter »Jenseits von Sinn und Verstehen« of the book Vielstimmigkeit der Rede and the thirteenth chapter »Frage und Antwort in der Textauslegung (Gadamer)« of the first part of the book Antwortregister by Waldenfels. 1
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»Exiled in the Mother Tongue«
was Heidegger rather than Gadamer who first related the notion of language to place, and who influenced Gadamer also in this regard, I begin by introducing Heidegger’s view concerning these ideas. This prepares the ground for subsequently expounding Gadamer’s view and distinguishing it from that of his teacher’s. Over the course of this presentation, I attempt to bring forth two theses pertaining to Gadamer’s expression »the inpreconceivability of home« 4 (»die Unvordenklichkeit der Heimat«). In the first place, the expression marks the paradoxical character of our relation to Heimat, whereby it designates a place that is unforgettable and yet irretrievable at the same time. As Gadamer suggests, such a character of Heimat is best exemplified by the mother tongue, our native language, which is inherently our own but always remains something foreign (what I will call the paradox of the notion of Heimat). More importantly, however, the thematisation of Heimat as »das Unvordenkliche« conveys the fundamental manner in which we always find ourselves in Heimat even prior to the moment in which it is set in contradistinction to Fremde (what I will call the equivocality of the notion of Heimat). In this sense, Heimat marks the original place of our belonging, the place into which we first of all grow.
I.
From Language to Place
Heidegger, in his later thought, brings language and place in relation, most notably in the famous essay titled »Letter on Humanism« (1946). At the beginning of this essay, Heidegger illuminatingly remarks that »Language is the house of being. In its home man dwells.« 5 What is noteworthy of this reflection is that Heidegger here brings not only language and being into relation, but he also brings 4 On the subject of »das Unvordenkliche« in Gadamer, see also Jean Grondin’s essays »Spiel, Fest und Ritual: Zum Motiv des Unvordenklichen beim späten Gadamer« in Von Heidegger zu Gadamer (translated into English as »Play, Festival, and Ritual in Gadamer: On the Theme of the Immemorial in His Later Works« in Language and Linguisticality) and »Die späte Entdeckung Schellings in der Hermeneutik« in the collection of essays Zeit und Freiheit: Schelling – Schopenhauer – Kierkegaard – Heidegger. 5 »Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch.« (Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Gesamtausgabe Bd. 9, 313/ 145; »Letter on Humanism«, Basic Writings, 217).
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language and place into proximity. If our thinking about being is made possible only with the help of language, then language designates the site where we are brought into relation with being. Language thus marks the place of our dwelling, our Heimat. On the basis of this insight, along with the idea that our essential relation to language has been severely worn out due to modern technology and society, Heidegger contends that we today have become homeless (heimatlos). We have lost our place in the world. Or, to put it more precisely, we no longer find ourselves at home in our Heimat. Even if we are still very much capable of speaking and communicating with our languages, they no longer exhibit their proper essence. This is because, in Heidegger’s view, language has lost its richness, its poetic power to illuminate and bring out being in its original potency and multiplicity. Heidegger designates this deprived state of our language as the »language of metaphysics« 6 or, in another context, the »world language« 7 (Weltsprache). Our thought does not ponder on being, for the means of doing so, which is language, constantly misrepresents being (Sein) as an entity (Seiende). Heidegger therefore indicates in the same essay that human beings are »expelled from the truth of [b]eing« 8, such that our place of dwelling is characterised by us being exiled (ausgestoßen) from being. While Gadamer follows the path cleared by Heidegger to a certain extent, he expresses reservations about the manner in which Heidegger singles out and problematises modern life. Such a shift in standpoint is exemplified by Gadamer’s characterisation of language as the living language (lebendige Sprache) 9. By this expression, he is emphasizing not only the sense in which we live with the language we have been endowed with, but also the sense in which language always remains organic and dynamic. In his essay »Hermeneutics and Logocentrism« (1987), Gadamer makes the following remark: The discussion I became involved in with Heidegger in this regard focused on his concept of the language of metaphysics, into which See in particular: Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Gesamtausgabe Bd. 9, 328/159; »Letter on Humanism«, Basic Writings, 231. 7 Martin Heidegger, »Sprache und Heimat«, Gesamtausgabe Bd. 13, 155–156. 8 »ausgestoßen aus der Wahrheit des Seins«. (Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, Gesamtausgabe Bd. 9, 342/172; »Letter on Humanism«, Basic Writings, 245) 9 For instance, see »Semantik und Hermeneutik« and »Destruktion und Decontruction«, in: Gesammelte Werke Bd. 2. 6
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one supposedly falls again and again. I maintained that this is a poor, inexact expression. There is no language of metaphysics. There is always only one’s own language, where concepts shaped within the metaphysical tradition live on in a variety of transformations and a manifold of layers. 10
In this way, although Gadamer well acknowledges that we may be exiled from our own past and that our relation to the world may have become overly calculative and technical, he does not dramatise or stigmatise the conditions of our own era as Heidegger does. Instead of following Heidegger’s interpretation of the history of philosophy as metaphysics, Gadamer contends that homelessness is not a characteristic that emerged as something new to contemporary life, but rather belongs to our very mode of being. 11 It belongs to the nature of language that we feel at home and foreign at the same time. As a matter of fact, it must be recognized that Gadamer goes beyond this dichotomy and differentiation between home and foreign when he remarks that »I am here perhaps reminded of the Unvordenklichkeit of home. This is something one cannot convey to anyone what it is for oneself.« 12 In borrowing the expression »das Unvordenkliche« from Schelling 13, Gadamer seeks to underline the manner in which the living language, the only language we have, always preserves the sense of being inpreconceivable (unvordenklich), and thereby maintains the possibility for opening up and renewing itself. In this re-
»Die Auseinandersetzung, in die ich mich dabei mit Heidegger verwickelt habe, beruht auf seiner Auffassung der Sprache der Metaphysik, in die man immer wieder verfalle. Ich halte das für eine ungute und undifferenzierte Redeweise. Es gibt keine Sprache der Metaphysik. Es gibt immer nur die eigene Sprache, in der die Begriffsbildung der metaphysischen Tradition in mannigfaltigen Umwandlungen und Überlagerungen weiterlebt.« (Hans-Georg Gadamer, »Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus«,in: Gesammelte Werke Bd. 10, 132; »Hermeneutics and Logocentrism«, Dialogue and Deconstruction, 121). 11 While Gadamer does not explicitly endorse such a view, I believe one may infer it by attending to various aspects of his thought. 12 »Ich erinnere hier nur etwa an die Unvordenklichkeit der Heimat. Das ist etwas, was man niemandem vermitteln kann, was sie für einen ist.« (Hans-Georg Gadamer, »Hermeneutik und ontologische Differenz«, in: Gesammelte Werke Bd. 10, 64; »Hermeneutics and the Ontological Difference«, The Gadamer Reader, 364). I provide here my own translation as the translation available in The Gadamer Reader does not, in my opinion, fully render the original text in all of its nuance and vivacity. 13 The specific texts of Schelling that are relevant for the subject of das Unvordenkliche are Weltalter and Philosophie der Offenbarung. 10
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spect, as I shall soon attempt to demonstrate below, it is fundamentally not a question of foreignness set over against homeliness as such that is at issue, but rather that of its condition, its possibility – what precedes and conditions such a difference. He explains the expression in the following way: [The] magic [of the word the »inpreconceivable«] rests on the fact that we can perceive in it a real trace of this advance movement in our mind which always wants to think ahead and beyond; but over and over, again and again, it comes upon something that could never have been anticipated or planned for by using our imagination or by thinking ahead. That is das Unvordenkliche. 14
As such, Gadamer’s conception of language forms a double movement whereby that to which we belong, the living language, also serves to displace us from our very place in the world. He thus writes shortly after the quoted passage above that »One would like to uncover what is still shrouded in darkness, and yet one finds that it continually escapes us, and yet, for all that, it is always still there.« 15 Heimat is in this way paradoxical. More decisively still, Gadamer’s turn away from Heidegger’s view of language becomes further evident when the conception of language is explicitly tied to place and considered in terms of it. For Gadamer suggests that the in-pre-conceivability of Heimat is revealed in our relation to the mother tongue. As he writes, »The mother tongue retains for every person something of inpreconceivable homeliness.« 16 Yet, again, it must be mentioned that Gadamer’s identification of the relation between Heimat and the mother tongue was inspired by Heidegger, who had already articulated such a rela»[Der] Zauber [des Ausdrucks »das Unvordenkliche«] beruht darauf, daß in ihm ein wirklicher Hauch von dieser Vorausbewegung spürbar ist, die immer vordenken und vorausdenken will und doch immer wieder an etwas kommt, wo man nicht mehr durch Vorstellen oder Vorausdenken dahinterkommen kann. Das ist das Unvordenkliche.« (Hans-Georg Gadamer, »Hermeneutik und ontologische Differenz«, in: Gesammelte Werke Bd. 10, 64; »Hermeneutics and the Ontological Difference«, The Gadamer Reader, 364). 15 »Man möchte freilegen, was da noch so im Dunkeln liegt. Und doch erfährt man, wie es sich ständig entzieht und gerade darum immer da ist.« (Hans-Georg Gadamer, »Hermeneutik und ontologische Differenz«, in: Gesammelte Werke Bd. 10, 64; »Hermeneutics and the Ontological Difference«, The Gadamer Reader, 364). 16 Author’s Translation: »Die Muttersprache behält für jeden etwas von unvordenklicher Heimatlichkeit« (Hans-Georg Gadamer, »Heimat und Sprache«, in: Gesammelte Werke Bd. 8, 366–367). 14
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tion in an essay »Sprache und Heimat« (1960). 17 Their views differ in an important way, however, in that, for Gadamer, the mother tongue is not in itself something with which we can be completely at home, and through which the world shines forth in its original essence. Rather, the mother tongue marks the place of »Urvertrautheit« 18, original familiarity that is not only wholly intimate but also uncanny at the same time. The critical point that differentiates Gadamer from Heidegger thus lies in the fact that the former puts into doubt the idea that we can or must feel ourselves at home in our mother tongue. Indeed, we are here reminded of a passage from Truth and Method where Gadamer writes that linguisticality »is so uncannily near our thinking«. 19 The mother tongue is not just the source of understanding by means of which our dwelling in the world takes place, but it is also that by which the world is already shaped and brought into view in a determinate way. Here lies the equivocality of the notion of Heimat. Since we are originally brought over to the world through the mother tongue, the place occupied by Heimat cannot be contrasted with that of Fremde on equal terms, as if they are merely a pair of opposing terms. In this respect, Heimat and Fremde are not symmetrical. Heimat is above all equivocal. For we do not enter the Heimat as if it were first a Fremde. Heimat opens up the world before the distinction can even be conceived, and only by first entering the Heimat can the distinction between the two emerge at all. Precisely for this reason, Gadamer remarks that »life is a sojourn in a language« 20. The mother tongue is not at first a foreign language that somehow sooner or later becomes one’s own. Life does not take the form of a translation, as if a language was a mere object or instrument we can Due to the constraints of space, I will not touch on the subjects of rootedness (Bodenständigkeit, Verwurzelung), landscape, earth, and soil in relation to Heidegger’s conception of language in this paper. The attachment of language to the land is one of the decisive difference between Heidegger and Gadamer, as shown in some detail by Kai Hammermeister in his essay »Heimat in Heidegger and Gadamer«. While exclusively dealing with Heidegger, William McNeil delves into an analysis of the notion of Heimat in Heidegger in his essay »Heimat: Heidegger on the Threshold« in Heidegger toward the Turn. 18 Hans-Georg Gadamer, »Heimat und Sprache«, in: Gesammelte Werke Bd. 8, 366. 19 »Unserem Denken ist die Sprachlichkeit so unheimlich nahe.« (Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke Bd. 1, 383; Truth and Method, 370). 20 My translation. »Leben ist Einkehr in eine Sprache.« (Hans-Georg Gadamer, »Heimat und Sprache«, in: Gesammelte Werke Bd. 8, 367). See also Hans-Georg Gadamer, »Hilde Domin – Dichterin der Rückkehr«, in: Gesammelte Werke Bd. 9, 328. 17
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use and dispose of. We enter into one as we enter into the world. By examining the relation between language and place, we come to recognize the intricate and subtle movement that is operative in our original experience of the world.
II.
Return as Departure
It is important to note, however, that the sojourn (Einkehr) in a language that pertains to our existence should not be understood in an ordinary sense of the term. Rather than a mere place of rest or stay, a sojourn in a language is characterized by the constant movement of return (Rückkehr), a return that can never be fully achieved and yet must constantly be striven for. It is precisely here that the idea of exile gains relevance for our discussion. 21 In essence, our relation to Heimat proceeds much like someone who is in exile, where they are not able to completely abandon and let go of their Heimat, just as much as they are unable to fully settle and assimilate into the Fremde. Gadamer thus makes the following remark in the essay »Heimat und Sprache« (1992): However, whoever has the fate of living in exile leads a life placed between wanting to forget and keeping in memory, between departure and memory, loss and new beginning, wherever it may be. Life is a sojourn in a language. So every person must look to make a foreign place and the foreign inhabitable, and he needs to seek a sojourn in another language. 22
Precisely because Heimat is that which is in-pre-conceivable, in need of recovery and yet irretrievable, we make a return to Heimat without actually being able to fully return to it. That is to say, a return is also a departure, a doubled departure insofar as one departs and yet Two valuable works have recently appeared in English that contribute to shedding light on the relation between Gadamer’s hermeneutics and the notion of exile: Utopia of Understanding by Donatella Di Cesare and The Life of Understanding by James Risser. I am much indebted to these works for the work I am presenting here. 22 Author’s Translation: »Wer aber das Schicksal hat, im Exil zu leben, der führt ein Leben zwischen vergessen wollen und das Andenken wahren, zwischen Abschied und Andenken, Verlust und Neubeginn, wo immer es auch sei. Leben ist Einkehr in eine Sprache. So muß ein jeder sehen, die Fremde und das Fremde bewohnbar zu machen, und er muß die Einkehr in eine andere Sprache suchen.«, »Heimat und Sprache«, in: Gesammelte Werke Bd. 8, 367. 21
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cannot arrive at the place destined. Gadamer thus explains: »What is a return? A return is not a mere being-there-again. A return is a doubled departure. Whoever – after being away for long – returns must let go that which was beginning to be.« 23 The Heimat to which we return is no longer the Heimat that once was, not to mention we ourselves have been transformed in the process as well. 24 In this sense, Heimat is always a lost home that can never be felt as it once had. At bottom, it refuses to be a place that is for us entirely familiar and transparent. Yet, despite that, we constantly have to make the place our home in some way or other, as Gadamer suggests by referring to Hegel’s expression »the process of making-oneself-at-home in the world« (»das Sich-heimisch-Machen in der Welt« 25). James Risser, a well-recognised scholar on Gadamer, elucidates this point concisely in his most recent book The Life of Understanding: [In hermeneutics,] the beginning (»from where«) and the end (»to where«) are lost from sight. One begins the effort of understanding, not from the security of the home but in relation to a departure that is already under way, a departure that enables one not only to be receptive to the approach of the other, but also to experience one’s own foreignness. 26
It is important to note, however, that Risser’s aim in this passage is not to differentiate the thoughts of Gadamer and Heidegger, as I am attempting to do here, but rather to demonstrate the sense of wandering obtained by Gadamer’s hermeneutics in order to set it in proximity with that of Heidegger’s. 27 Yet, in another sense, I believe one Author’s Translation: »Was ist Rückkehr? Rückkehr ist nicht bloß Wieder-da-Sein. Rückkehr ist doppelter Abschied. Wer – nach langem Fernsein – zurückkehrt, muß von etwas lassen, das sein zu werden begann.« (Hans-Georg Gadamer, »Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr«, in: Gesammelte Werke Bd. 9, 324) 24 Gadamer writes as follows: »Wozu wir zurückkehren, ist anders geworden, und ebenso ist anders geworden, wer zurückkehrt. Zeit hat beide [Partner eines Gesprächs] geprägt und verändert. Für jeden, der zurückkehrt, ist die Aufgabe, in eine neue Sprache einzukehren. Es ist ein Hauch von Fremdheit an allem, wohin man zurückkehrt.« (Hans-Georg Gadamer, »Heimat und Sprache«, in: Gesammelte Werke Bd. 8, 367). 25 Hans-Georg Gadamer, »Die Sprache der Metaphysik«, in: Gesammelte Werke Bd. 2, 236; »Heidegger and the Language of Metaphysics«, The Gadamer Reader, 354. 26 James Risser, The Life of Understanding, 41. 27 Risser does draw a distinction between Heidegger and Gadamer on a similar point as mine in his essay »Destruktion, Überlieferung, and the »Originary«« in Between Description and Interpretation, 347–348. 23
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may just as well read the passage as offering a means of setting their thoughts apart, if one carries out the analysis in the manner that I have done here. Such a reading is possible, since, for Heidegger, the return to the origin of the philosophical thinking in ancient Greece was of the most formidable task confronting our civilisation today. In this sense, Heidegger maintains the notion of a beginning (»from where«) and an end (»to where«) insofar as his thought insists that our thinking reach a certain destination (i. e. the truth of being) from a certain point of origin (i. e. the pre-metaphysical thinking in ancient Greece). 28 As we have seen, Gadamer clearly relinquishes such an idea, since, as he sees it, we find ourselves in a home precisely because we are already homeless. Thus, while both thinkers offer an insight into the condition in which human beings are exiled from their essence, for Heidegger, it marks the state of the human beings in contemporary society that is urgently in need of overcoming and from which we must seek salvation. 29 In contrast, Gadamer’s idea of the sojourn (Einkehr) in a language is situated in between the movements of departure (Abschied) and return (Rückkehr), as if one is placed in exile. He thus recognises such a tension as that which truly characterises our place in the world. As a final remark, I will comment briefly on the implications of the analysis carried out above. Contrary to the accusations that have been brought forth against it, it is my view that hermeneutics is more than capable of addressing and responding to the challenges posed by such questions as otherness (Anderssein) and foreignness (Fremdheit), even if in its unique way. Indeed Gadamer’s thought displays a more subtle and nuanced understanding of the notion of Heimat and better captures the tension between Heimat and Fremde than that of Waldenfels’, the latter of whom writes for instance: »In early childhood, we ourselves encounter the mother tongue as a foreign language, as a language of the Other, which we come to know by hearsay
Needless to say, there is an important distinction in Heidegger between origin (Ursprung) and beginning (Beginn). 29 I am aware of the widely debated point concerning the interpretation of Heidegger’s notion of »Überwindung der Metaphysik« (overcoming of metaphysics), and how Heidegger himself has suggested to apprehend it in terms of »Verwindung der Metaphysik« (getting over metaphysics). I am not convinced, however, that Heidegger maintained a singular and coherent understanding with regards to his interpretation of the history of philosophy as metaphysics. 28
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and which gradually becomes familiar to us.« 30 Rather than merely setting Heimat and Fremde against one another, as Waldenfels does here and elsewhere, Gadamer’s thought preserves the paradoxical as well as equivocal characteristics of Heimat by alluding to the character of in-pre-conceivability. 31 Hence, Heimat designates not simply an antonym of Fremde but also the original place of belonging and sojourn. However, this in no way suggests that hermeneutics is confined to what is one’s own and neglects the question of otherness or foreignness, the accusation of which is precisely what Waldenfels levels against hermeneutics. 32 Indeed the very essence of hermeneutics lies in the opening brought about by an encounter with the foreign, by a moment of surprise, and Gadamer does not hesitate to stress this point when he writes: »So all efforts at trying to understand something begin when one comes up against something that is strange, challenging, disorienting.« 33 At the same time, insofar as Gadamer’s hermeneutics always maintains the significance of life in sight rather than to treat such questions in abstraction, it seems possible to contend that hermeneutics remains faithful to the very character of these questions. 34 That is to say, hermeneutics does not pose the question of otherness in ab-
Author’s translation: »In der ersten Kindheit begegnet uns selbst die Muttersprache als Fremdsprache, als Sprache der Anderen, die wir vom Hörensagen kennen und die uns allmählich vertraut wird.«, »Fremderfahrung, Fremdbilder und Fremdorte: Phänomenologische Perspektiven der Interkulturalität«, Interkultur – Jugendkultur, 26. Waldenfels also makes similar assertions in Topographie des Fremden, 16, 139 and »Die ethische Priorität des Außerordentlichen: Interview mit Bernhard Waldenfels«, 254–255. 31 In this regard, the otherness and foreignness that are of importance for hermeneutics is not the »Other« or the »Foreign« written in the capital letters, but the otherness that is concrete and actual. 32 While the criticisms Waldenfels directs against hermeneutics are scattered all over his writings, the forth chapter »Jenseits von Sinn und Verstehen« of his book Vielstimmigkeit der Rede is here particularly worth mentioning. 33 »So beginnt alle Anstrengung des Verstehenwollens damit, daß einem etwas, was einem begegnet, befremdlich, herausfordernd, desorientierend entgegentritt.«, »Sprache und Verstehen«, in: Gesammelte Werke Bd. 2, 185; »Language and Understanding«, The Gadamer Reader, 93. 34 For instance, see »Vorwort zur 2. Auflage der Wahrheit und Methode« in Gesammelte Werke Bd. 2; »Forward to the Second Edition«, Truth and Method. Concerning the relevance of life for hermeneutics, see Günter Figal’s book Objectivity as well as his essay »Life as Understanding«, and James Risser’s book The Life of Understanding. 30
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straction that would lead us to abandon or surrender our own situatedness in language. In recognizing that life is a sojourn in language, we come to recognise that we first arrive at our Heimat before the difference between Heimat and Fremde can arise. This original belongingness to Heimat emerges as a consequence of the equivocal character of Heimat. In turn, this leads us to recognise that life demands us to make one decision or another from our very site of sojourn, and not from an abstracted place of the conceptual difference. Hermeneutics sets out from the concession that we are unable to fully meet the demands of the other, while endlessly striving nonetheless to respond to such demands. Hence, Heimat is at bottom tied to the hermeneutics of facticity, by which Gadamer’s own hermeneutic thinking is essentially guided. 35 As Gadamer makes clear in »Hermeneutics and the Ontological Difference« (1989), the inpreconceivability of Heimat »is exactly what the hermeneutic of facticity knows about.« 36 Moreover, as he goes on to elaborate this point by relating it to the notion of life, the hermeneutics of facticity fundamentally deals »with what life itself offers us to be understood. The hermeneutics of facticity stands before the puzzle that Dasein, thrown into the Da, explicates itself to itself, and constantly projects itself on its own possibilities, on what it encounters.« 37 If the distinction that arises between Heimat and Fremde (the paradoxical character) can be designated as a horizontal movement, the very situatedness of facticity that is exhibited by Heimat (its equivocal character) marks a truly vertical movement. I have attempted to illustrate not only the state of in-between and being in restlessness that characterizes hermeneutics, but also the very characters of belongingness and sojourn that determine the place in the world by alluding to the notion of exile. For Gadamer’s thought For Gadamer’s reappropriation of the hermeneutics of facticity from Heidegger, refer to the first chapter »From Philosophical Hermeneutics to Hermeneutical Philosophy« of the book Objectivity by Günter Figal. 36 »Eben davon weiß die Hermeneutik der Faktizität.« (Hans-Georg Gadamer, »Hermeneutik und ontologische Differenz«, Gesammelte Werke Bd. 10, 64; »Hermeneutics and the Ontological Difference«, The Gadamer Reader, 364). 37 »[Es handelt sich bei der Hermeneutik der Faktizität] um das, was das Leben selber zu verstehen gibt. Hermeneutik der Faktizität steht vor dem Rätsel, daß das ins Da geworfene Dasein sich selber auslegt, sich selber ständig auf Möglichkeiten entwirft, auf Kommendes, das einem begegnet.« (Hans-Georg Gadamer, »Hermeneutik und ontologische Differenz«, in: Gesammelte Werke Bd. 10, 64; »Hermeneutics and the Ontological Difference«, The Gadamer Reader, 364). 35
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on the relation between language and place offers a clear insight into how he envisages his own hermeneutics and what it aims to accomplish. Understanding is always already on its way because there is always something to be understood, something more to be revealed; just as there is always something more to be said in every conversation. In this way, understanding is ultimately guided by what is other, what resists being apprehended. Insofar as the essence of hermeneutics is to be located within the place of in-between, this otherness is also wholly concrete and actual at the same time. It is to this radical dimension of hermeneutics that Gadamer, particularly in his later works, ascribes the expression das Unvordenkliche.
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Phänomenologie des Ortes – Heideggersche Beiträge zur interkulturellen Philosophie Zur Frage nach dem Zusammenhang von Ort und Denken Die internationale Konferenz, an der wir teilgenommen hatten, trug den Titel Ort/e des Denkens. Der im Titel angeführte Schrägstrich weist einerseits auf den Unterschied zwischen den Ausdrücken »Ort des Denkens« und »Orte des Denkens«, andererseits auf ihre Zusammengehörigkeit hin. Zunächst betrachten wir 1 den Ausdruck »Ort des Denkens«, der etwas anderes als den Ausdruck »der Ort des Denkens« bedeutet. »Ort des Denkens« bezeichnet nicht einen bestimmten Denkort, sondern einen unbestimmten Denkort. Der Ausdruck »Orte des Denkens« unterscheidet sich inhaltlich vom Ausdruck »die Orte des Denkens«, weil er nicht bloß einen unbestimmten Denkort, sondern eine Vielzahl bestimmter Denkorte bezeichnet. Weil mit den beiden Ausdrücken »Ort des Denkens« und »Orte des Denkens« nicht das gleiche Phänomen gemeint ist, stellt sich zunächst die Frage, inwiefern sie miteinander verbunden sind. Eine Antwort darauf findet sich gleich im Untertitel unserer Konferenz, der lautet: Zum Anspruch inter»kultureller« Philosophie. Interkulturelle Philosophie, so könnte man sagen, entsteht dadurch, dass eine philosophische Kultur auf eine oder mehrere andere philosophische Kulturen trifft, sich mit ihr oder ihnen auseinandersetzt und eine interkulturelle Perspektive erwirbt. Daher setzt die Geburt interkultureller Philosophie voraus, dass nicht eine einzige philosophische Kultur, sondern zwei oder mehrere verschiedene philosophische Kulturen existieren. Dieser Pluralität und Verschiedenheit entsprechend bestehen viele Orte des Philosophierens. Die Tagung, die den Anspruch inter»kultureller« Philosophie erhebt, sollte Der Autor der vorliegenden Arbeit verwendet nicht »ich«, sondern »wir«, um dadurch die Leser in seinen Gedankengang miteinzubeziehen. Vgl. Hadumod Bußmann, »Pluralis Modestiae«, in: Ders., Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 1983, 395.
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daher »Orte des Denkens« heißen. Dann stellt sich eine weitere Frage, warum nämlich überhaupt ein Schrägstrich angeführt wurde, der gleichzeitig auch auf eine Singularität des Denkortes hinweisen soll. Um diese Frage zu beantworten, richten wir unser Augenmerk auf das Präfix »inter« des Untertitels, das allerdings typografisch betont ist. Dem modernen Wörterbuch zufolge drückt es in Bezug auf das Basiswort, also hier philosophische Kultur, das »Gemeinsame, Übergreifende, Überbrückende« aus. 2 Ursprünglich ist das deutsche Wort »inter« aus dem lateinischen Wort »inter« entlehnt, das sich aus dem lateinischen Verb »intrare« ableitet, das »hineingehen« und »betreten« bedeutet. 3 Aufgrund dieser etymologischen Erklärung können wir unter interkultureller Philosophie die überbrückende philosophische Interaktion zwischen verschiedenen Kulturen verstehen. Wenn diese derart ineinander hineingehen, dann entsteht eine verschmolzene Philosophie. Diese Verschmelzung findet aber an einem Ort statt, weil jedes Denken aus seinem eigenen Ort erwächst. Den Zusammenhang der Philosophie mit ihrem Ort formuliert Heidegger im Anschluss an Nietzsche folgendermaßen: »›Der Philosoph ist eine seltene Pflanze‹ ; d. h. sie braucht ihren eigenen Boden[.]« 4 Daher konnte der Titel der Konferenz, die den Anspruch interkultureller Philosophie zu erfüllen hat, auch »Ort des Denkens« lauten. Zusammenfassend gesagt, scheint der Schrägstrich darauf hinzuweisen, dass die Orte der vielen philosophischen Kulturen die interkulturelle Philosophie ermöglichen, die wiederum ihren eigenen Ort haben muss. Bei der Erläuterung des im Titel der Konferenz geborgenen Schrägstriches konnte bereits aufgezeigt werden, dass das Denken und sein Ort miteinander zusammenhängen. Um diesen Zusammenhang zu veranschaulichen, führen wir zwei Beispiele an. Goethe schrieb das Gedicht Ein Gleiches, in dem wir einen Zusammenhang zwischen Denken/Dichten und dessen Ort finden kön2 Das Bedeutungswörterbuch (Duden Band 10), hrsg. von Duden Redaktion, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2002, 503. 3 Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache (Duden Band 7), hrsg. von Duden Redaktion, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2001, 366. 4 Martin Heidegger, »Dank an die Heimatstadt Meßkirch«, in: Ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910–1976 (GA 16), hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 2000, 560; Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885 (KSA Band 11), hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1980, 271.
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nen. In diesem Gedicht geht es um einen Wanderer. Er ruht, wenn er sich in der Ruhe des Berges befindet. Dann überlegt er in der Nacht ruhig, fasst seine Überlegungen ins Lied und singt dieses. In seinem Lied weht nichts anderes als diese Ruhe. Das Denken des Wanderers beruht also auf dem ruhigen Ort. Als das zweite Beispiel betrachten wir eine kurze Anekdote, die das Treffen zwischen Konfuzius (孔⼦) und Laotse (老⼦) beschreibt. Nach dieser fast legendenumwobenen Geschichte soll Konfuzius als niederer Beamter an den Hof der ZhouDynastie geschickt worden sein und den dort als Bibliothekar tätigen Laozi getroffen haben. Laozi, der Begründer des Daoismus, äußerte seine Skepsis gegenüber dem konfuzianischen politischen Engagement folgendermaßen: »Wenn ein Edler auf die richtigen Zeitumstände trifft, dann fährt er in der Kutsche. Ist aber die Zeit gegen ihn, dann wandert er mit dem Wind.« 5 Mit dem Ausdruck »in der Kutsche fahren« ist gemeint, dass der Edler ein Amt übernimmt und als hochrangiger Beamter arbeitet, weil die Kutsche ja ein eleganter Wagen ist. In dieser Anekdote ist ein Gegensatz zu erkennen, nämlich dass Konfuzius beschäftigt und unterwegs ist, während Laozi ruhig in der Bibliothek sitzt. Dieser Gegensatz ist ein ausgezeichnetes Symbol dafür, dass die Konfuzianer den Staat durch das politische Engagement (爲) in einen ordentlichen, friedlichen Zustand bringen wollten, während die Daoisten die Welt durch das Nicht-Tun (無爲) in Ruhe ließen. Jeweils sind die beiden Denkweisen durch die Ortschaft beziehungsweise die Wanderschaft versinnbildlicht. Die Betrachtung der beiden Beispiele machen ein enges Verhältnis von Denken und Ort deutlich sichtbar. Es ist offensichtlich, dass ein Denken auf seinem Ort beruht. Aber wir wissen noch nicht, wieso überhaupt ein Zusammenhang zwischen ihnen besteht. Im vorliegenden Beitrag unternehmen wir den Versuch, diesen Zusammenhang im Anschluss an Heidegger zu erklären. Der Grund für die Bezugnahme auf Heideggers Philosophie, besonders seine spätere Philosophie, liegt darin, dass er sich mit den Begriffen des Denkens und des Ortes gründlich auseinandergesetzt hat. Allerdings hat er selbst über die Relation zwischen Denken und Ort nicht reflektiert. Also bleibt diese Reflexion unsere Aufgabe. Zunächst werden wir die Begriffe des Ortes und des Denkens bei Heidegger darstellen. Dabei werden wir uns hauptsächlich auf die Schrift Bauen Wohnen Denken (1952) beziehen, weil sie die einzige Schrift 5
Heiner Roetz, Konfuzius, München 1995, 16–17.
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ist, in der Heidegger die beiden Begriffe zum Thema macht. Danach werden wir das Verhältnis von den beiden Begriffen darstellen. Schließlich werden wir darüber nachdenken, welchen Beitrag unsere von Heidegger inspirierte Darstellung zur Überlegung über die Interkulturalität leisten kann.
Der Begriff des Ortes und der des Denkens bei Heidegger Die Schrift Bauen Wohnen Denken beginnt damit, das Verhältnis von Wohnen und Bauen zu thematisieren. Das allgemein gebräuchliche Verständnis dieses Verhältnisses formuliert Heidegger mit folgenden Worten: »Zum Wohnen, so scheint es, gelangen wir erst durch das Bauen. […] So wäre denn das Wohnen in jedem Falle der Zweck, der allem Bauen vorsteht. Wohnen und Bauen stehen zueinander in der Beziehung von Zweck und Mittel.« 6 Dieses gewöhnliche Verständnis ist für Heidegger insofern problematisch, als die »wesentlichen Bezüge« von Wohnen und Bauen verstellt werden, indem diese als »zwei getrennte Tätigkeiten« angesehen werden. 7 Um das Wesensverhältnis von Wohnen und Bauen aufzuzeigen, richtet Heidegger sein Augenmerk auf die Sprache, denn »der Zuspruch über das Wesen einer Sache kommt zu uns aus der Sprache« 8. Das Wort »Nachbar«, das aus den Wörtern »nah« und »Bauer« zusammengesetzt ist, bedeutet ursprünglich »nahebei Wohnender«. 9 Diese etymologische Erklärung weist auf die Zusammengehörigkeit von Bauen und Wohnen hin. 10 Heidegger sagt: »Bauen heißt ursprünglich wohnen.« 11 Das Wort »wohnen« hat ursprünglich etwas mit dem Wort »Friede« zu tun, das eigentlich »schonen« bedeutet. 12 Unter »schonen« versteht Heidegger nicht nur »etwas in einem guten Zustand aufbewahren«, sondern vielmehr »etwas in seinem Wesen Martin Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze (GA 7), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000, 147– 148. 7 GA 7, 148. 8 GA 7, 148. 9 Herkunftswörterbuch (Duden Band 7), 548. 10 Heideggers Etymologie ist nicht unproblematisch. Im Hinblick auf seine »selektiv [e]« Etymologie vgl. Dirk Mende, Metapher – Zwischen Metaphysik und Archäologie. Schelling, Heidegger, Derrida, Blumenberg, München 2013, 115. 11 Martin Heidegger, »Bauen Wohnen Denken« (GA 7), 149. 12 GA 7, 150–151. 6
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Phänomenologie des Ortes
ruhen lassen«. 13 Dieses Schonen bezieht sich auf das »Geviert«, also die »ursprüngliche Einheit« von Erde, Himmel, den Göttlichen und den Sterblichen. 14 Das Wohnen ereignet sich daher als das »vierfältige Schonen des Geviertes« 15. Die Schonenden und Wohnenden halten sich aber nicht nur im Geviert, sondern auch bei den Dingen auf. Sie hegen und pflegen die Dinge und lassen sie in ihrem Wesen ruhen. Insofern ist das Wohnen ein Bauen. Aufgrund dieser etymologischen Erklärung oder des Winks der Sprache hängen das Bauen und das Wohnen auf das Engste miteinander zusammen. Wir schonen das Geviert und wohnen darin, indem wir das Ding bauen. Um das Ding zu veranschaulichen, führt Heidegger ein gebautes Ding als Beispiel an, nämlich eine Brücke. Dabei kommt sein Begriff des Ortes vor. Er nennt die Brücke das »Ding eigener Art«, weil sie das Geviert derart versammelt, »daß sie ihm eine Stätte verstattet«. 16 Die Brücke kann das Geviert bei ihr beiwohnen lassen, weil sie ein Ort ist. Dann stellt sich folgende Frage, inwiefern das gebaute Ding die Stätte für das Geviert ermöglicht. Da sich Heidegger mit dieser Frage in der Schrift Bauen Wohnen Denken nicht beschäftigt, ziehen wir eine weitere Schrift heran, in der es um das Wesen des Dinges geht, nämlich die Schrift Das Ding (1950). Diese Schrift beginnt mit der Frage nach dem Wesen der Nähe: »Wie steht es mit der Nähe? Wie können wir ihr Wesen erfahren?« 17 Die Nähe kann nur mittelbar erfahren werden, also durch die Vermittlung des Seienden, das in der Nähe ist. Das in der Nähe Seiende nennt Heidegger das Ding. Um solch ein Ding anschaulich zu machen, führt er einen Krug als Beispiel an. Der Krug ist ein Gefäß, das etwas fassen kann. Das Fassen basiert nicht nur auf der »Undurchlässigkeit der Wandung und des Bodens«, sondern vielmehr auf der »Leere des Kruges«. 18 Also ermöglicht die Leere dem Krug, etwas aufzunehmen, dann zu behalten und schließlich zu schenken. Diese schenkende Leere lässt »Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen« im Wesen des Kruges weilen, und zwar derart, dass etwa der Wein im Krug Nahrung aus der Erde erhalten und die Sonne vom GA 7, 151. GA 7, 152. 15 GA 7, 153. 16 GA 7, 156. 17 Martin Heidegger, »Das Ding«, in: Ders., Bremer und Freiburger Vorträge (GA 79), hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1994, 5. 18 GA 79, 7. 13 14
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Himmel in sich aufgenommen hat, und von den sterblichen Menschen getrunken und den unsterblichen Göttern geweiht wird. 19 Das Wesen des Dinges, also die Leere, sammelt das Geviert in das Ding. Mit dieser Leere meint Heidegger nicht das Vakuum, sondern einen ursprünglichen Raum, nämlich einen Ort, der dem Geviert dessen Stätte erlaubt. Heideggers Wesensbestimmung des Kruges als Leere oder überhaupt seine Anführung des Kruges als Beispiel erinnert uns an die daoistische Klassiker Daodejing, und zwar besonders deren elften Paragrafen. Richard Wilhelm übersetzt ihn folgendermaßen ins Deutsche: Dreißig Speichen umgeben eine Nabe: / In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk. / Man höhlet Ton und bildet ihn zu Töpfen (器): / In ihrem Nichts (無) besteht der Töpfe Werk (⽤). / Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer (室) werde: / In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk.« 20 Das altchinesische Zeichen »器«, das mit dem deutschen Wort »Topf« übersetzt ist, kann auch »Gefäß« sowie »Krug« bedeuten. Anscheinend hat Heidegger seinen Gedanken und sein Beispiel im Aufsatz Das Ding von Laotse übernommen. 21 Aufgrund der Heideggerschen Schrift Das Ding sowie der daoistischen Klassiker Daodejing lässt sich das Wesen des gebauten Dinges als Leere verstehen. Somit besteht das Wesen oder, mit Laotse gesagt, das Werk der Brücke (Ort) ebenfalls in der Leere. Auch in der Schrift Die Kunst und der Raum (1969) findet sich ein enger Zusammenhang der Leere mit dem Wesen des Ortes: »Vermutlich ist jedoch die Leere gerade mit dem Eigentümlichen des Ortes verschwistert«. 22 Danach bringt Heidegger das Wort »leeren« interessanterweise in Verbindung zum Wort »lesen«: »Im Zeitwort ›leeren‹ spricht das ›Lesen‹ im ursprünglichen Sinne des Versammelns, das im Ort waltet.« 23 Demnach leert und versammelt die Brücke das Geviert GA 79, 12. Laotse, Tao Te King, übers. von Richard Wilhelm, Berlin 2013, 42. 21 Es ist bekannt, dass Heidegger mit einem Sinologen versuchte, das Buch Tao Te King aus dem Altchinesischen ins Deutsche zu übersetzen. Dazu vgl. Paul Shih-yi Hsiao, »Heidegger and Our Translation of the Tao Te Ching«, in: Heidegger and Asian Thought, hrsg. von Graham Parkes, Honolulu 1992, 93; Paul Shih-Yi Hsiao, »Wir traffen uns am Holzmarktplatz«, in: Erinnerung an Martin Heidegger, hrsg. von Günther Neske, Pfullingen 1977, 119. 22 Martin Heidegger, »Die Kunst und der Raum«, in: Ders., Aus der Erfahrung des Denkens 1910–1976 (GA 13), hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 1983, 209. 23 GA 13, 209. 19 20
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Phänomenologie des Ortes
in einen Ort. Darüber hinaus verbindet die Brücke die beiden Ufer, die sich vorher ohne die Brücke nicht treffen konnten. Dadurch entsteht ein Markt auf der Brücke sowie an den beiden Ufern. Also versammelt die Brücke die Menschen um sich herum. Diese Versammlung macht ihr Wohnen reicher und besser. Wir kommen zur Schrift Bauen Wohnen Denken zurück. Am Ende dieser Schrift weist Heidegger auf zwei Gemeinsamkeiten zwischen Bauen und Denken hin. Zum einen sind die beiden Tätigkeiten »jeweils nach ihrer Art für das Wohnen unumgänglich«; zum anderen bedürfen sie »einer langen Erfahrung und unablässigen Übung«. 24 Da sich Heidegger kaum mit dem Wesen des Denkens dort beschäftigt, stellt sich folgende Frage, inwiefern das Denken für das Wohnen unumgänglich ist. Auf diese Frage können wir antworten, indem wir über den allerletzten Satz der Schrift nachdenken: »Sie [scil. die Sterblichen] vollbringen dies [scil. das Wohnen in das Volle seines Wesens zu bringen], wenn sie aus dem Wohnen bauen und für das Wohnen denken.« 25 Aus dem schonenden Wohnen »empfängt das Bauen die Weisung für sein Errichten von Orten«. 26 Demnach bauen die Sterblichen ihre Häuser im Hinblick auf das Wohnen. Sie können sich im Geviert und bei den Dingen aufhalten, indem sie das Wohnen als Schonen denken. Wenn wir nicht so denken, schonen wir nicht das Geviert und pflegen und hegen nicht die Dinge. Dann wohnen wir nicht mehr. Daher ist das Bauen und Denken notwendig für das Wohnen. Zusammenfassend gesagt: Der Mensch baut das Ding (Brücke). Das Wesen des gebauten Dinges besteht Heidegger und Laotse zufolge in seiner Leere. Da Heidegger diese Leere im Hinblick auf das Lesen (Versammeln) versteht, versammelt die Brücke das Geviert und verstattet ihm seine Stätte. Insofern ist die Brücke ein Ort. Dem Bauen des leeren Ortes für das Geviert liegt das Denken für das Wohnen voraus, weil das eigentliche Wohnen als das vierfältige Schonen des Geviertes geschieht. Nur derjenige, der für dieses Wohnen denkt, kann den Ort für die Versammlung bauen. Also ermöglicht das Denken den Ort. Unsere von Heidegger inspirierte Darstellung des Verhältnisses von Denken und Ort scheint für das Thema unserer Konferenz irre24 25 26
Martin Heidegger, »Bauen Wohnen Denken« (GA 7), 163. GA 7, 164. GA 7, 161.
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levant zu sein, denn dabei handelt es sich um Ort, der eigenes Denken hervorbringt. Also ermöglicht der Ort das Denken. Um zu überprüfen, ob unsere Darstellung wirklich irrelevant ist, greifen wir Heideggers Beispiel der Brücke wieder auf. Man kann über die Brücke gehen oder fahren. Man kann auch auf der Brücke stehen oder sich an das Geländer lehnen, wobei man den Himmel, den Fluss und die beiden Ufer betrachtet. Darüber hinaus kann man dort verweilen und auf einen Mann oder eine Frau warten. Wenn Standbilder von Heiligen bei der Brücke aufgestellt sind, steht man manchmal vor ihnen und besinnt sich auf die Heiligkeit. Offenbar ist Heideggers Beispiel der Brücke derjenige Ort, an dem man über das Geviert nachdenken kann. Da der Ort den Himmel und die Erde, die Sterblichen und die Göttlichen in und um sich herum versammelt, ist er ein ursprünglicher Raum zum Denken für das Geviert. Die Brücke lässt also das vierfältige Denken entstehen.
Die Brücke zur interkulturellen Philosophie Die Brücke ist eigentlich ein Bauwerk, das einen Verkehrsweg über ein Hindernis führt, um die beiden Regionen, die vorher durch das Hindernis getrennt waren, miteinander zu verbinden. Wenn eine Brücke zwischen zwei Kulturen gebaut wird, dann kann ein interkulturelles Denken dadurch entstehen. Es muss allerdings betont werden, dass die Geburt des interkulturellen Denkens dabei nicht immer gelingt. Die Brücke, die zum Beispiel die Pioniertruppe baut, dient bestimmt nicht zum kulturellen Austausch, sondern vielmehr dazu, die feindliche Stellung anzugreifen und zu erobern. Es ist unwahrscheinlich, dass ein interkulturelles Denken nach dem Ende des Kampfes entsteht. Zum Schluss denken wir über das möglich Treffen von zwei verschiedenen Kulturen nach, das nicht die Vorherrschaft einer Kultur gegenüber der anderen, sondern ein interkulturelles Denken zustande bringt. Für die Geburt dieses Denkens bedarf es wohl nicht der Aggressivität, sondern vielmehr einer Offenheit, die die fremde Kultur toleriert. Daran schließt sich unsere Frage an, wie man die Fähigkeit zu dieser Toleranz entwickeln kann. Wir ziehen Heideggers Bemerkung über die Gemeinsamkeit zwischen Bauen und Denken wieder heran: »daß eines wie das andere aus der Werkstatt einer lan-
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Phänomenologie des Ortes
gen Erfahrung und unablässigen Übung kommt.« 27 Wir richten unser Augenmerk auf das Wort »Erfahrung«. In der Schrift Das Wesen der Sprache (1957/58) definiert Heidegger den Begriff der Erfahrung folgendermaßen: »Etwas erfahren heißt: unterwegs, auf einem Weg, etwas erlangen.« 28 Bei dieser Definition ist offensichtlich, dass Heidegger das Erfahren im Hinblick auf das Fahren versteht. Also erfährt man etwas dadurch, dass man sich auf den Weg macht, unterwegs zu etwas ist und schließlich dieses am Ende des Weges erreicht. Dieses Etwas kann auch ein Ort sein. Auch das Wort »gelangen« bedeutet »einen bestimmten Ort erreichen«. 29 Heidegger zufolge braucht das Denken eine lange Erfahrung, also eine lange Fahrt. Das Denken hängt ja mit seinem Ort zusammen. Daher besteht das Verstehen eines Gedankens darin, dessen Ort zu erreichen. Es kann viele Wege geben, die zu einem Ort führen. Je nach dem Weg, den wir nehmen, betrachten wir den Ort in verschiedener Weise. Besonders die Betrachtungsweisen von Einheimischen und die von Fremden sind nicht gleich, weil jene eine kurze oder keine Distanz zum Ort haben, während diese ihn mit Distanz betrachten. Im Hinblick auf diesen großen Abstand können wir sagen, dass sich der Ort, der zu denken ist, uns entzieht. Über das zu-Denkende macht Heidegger in der Schrift Was heißt Denken? (1952) folgende Bemerkung: »So bleibt uns nur eines, nämlich zu warten, bis das zu-Denkende sich uns zuspricht.« 30 Mit »warten« meint Heidegger, dass wir Ausschau nach dem Ort halten. Indem wir so warten, »sind wir bereits denkend auf einen Gang in das zu-Denkende unterwegs«. 31 Um diese wartende Haltung zu verdeutlichen, berufen wir uns auf eine weitere Schrift Heideggers, die zum Band Feldweg-Gespräche (1944/45) gehört. Ein Teil dieser Schrift wurde im Jahr 1959 unter dem Titel Zur Erörterung der Gelassenheit – Aus einem Feldweggespräch über das Denken veröffentlicht. Diese Schrift besteht aus dem Gespräch unter drei Personen, nämlich unter dem Weisen, dem Gelehrten und dem Forscher. Während des Gesprächs machen sie eine GA 7, 163. Martin Heidegger, »Das Wesen der Sprache«, in: Ders., Unterwegs zur Sprache (GA 12), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1985, 167. 29 Das Bedeutungswörterbuch (Duden Band 10), 408. 30 Martin Heidegger, »Was heißt Denken?«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze (GA 7), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000, 139. 31 GA 7, 139. 27 28
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Unterscheidung zwischen dem Warten und dem Erwarten. Diese Unterscheidung ist beachtenswert im Hinblick auf das oben genannte Warten. Der Weise sagt, dass wir das Wesen des Denkens dadurch erfahren, »in das Wesen des Denkens eingelassen zu werden« 32. Diese Erfahrung nennt er nicht das Erwarten, sondern das Warten, denn jenes »hängt« an etwas bestimmt Vorgestelltem, während dieses »in das Offene selbst sich einläßt« 33. Wenn wir nicht etwas erwarten, sondern darauf warten, dann »lassen wir das, worauf wir warten, offen« 34. Wir brauchen wohl das offene Warten, um fremde Kultur als solche zu tolerieren. Heidegger nennt das Wesen dieses Wartens die »Gelassenheit« 35. Es ist bekannt, dass der Begriff der Gelassenheit eine grundlegende Rolle in der späteren Philosophie Heideggers spielt, und zwar besonders im Hinblick auf die moderne Technik. 36 Dieser Begriff steht für Heidegger aber nicht im Zusammenhang zur Interkulturalität. Der vorliegende Beitrag, der die Gelassenheit als die Offenheit für die fremde Kultur aufgezeigt hat, dient also als Ausgangspunkt der künftigen Forschung für interkulturelle Phänomenologie, die sich mit dem Phänomen der Interkulturalität im Anschluss an Heidegger auseinandersetzt. Wir hoffen, dass diese Auseinandersetzung eine philosophische Grundlage dafür bildet, viele Brücken zwischen verschiedenen Kulturen zu bauen.
Literaturverzeichnis Bußmann, Hadumod, in: Ders., Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 1983. Das Bedeutungswörterbuch (Duden Band 10), hrsg. von Duden Redaktion, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2002. Heidegger, Martin, »Was heißt Denken?«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze (GA 7), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000. Martin Heidegger, »Ἀγχιβασίη. Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen«, in: Ders., Feldweg-Gespräche (1944/45) (GA 77), hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt am Main 1995, 115. 33 GA 77, 115–116. 34 GA 77, 116. 35 GA 77, 123. 36 Martin Heidegger, »Gelassenheit«, in: Ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910–1976 (GA 16), hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 2000, 527. 32
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Phänomenologie des Ortes – »Bauen Wohnen Denken«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze (GA 7), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000. – »Das Wesen der Sprache«, in: Ders., Unterwegs zur Sprache (GA 12), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1985. – »Die Kunst und der Raum«, in: Ders., Aus der Erfahrung des Denkens 1910– 1976 (GA 13), hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 1983. – »Gelassenheit«, in: Ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910–1976 (GA 16), hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 2000. – »Dank an die Heimatstadt Meßkirch«, in: Ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910–1976 (GA 16), hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 2000. – »Ἀγχιβασίη. Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen«, in: Ders., Feldweg-Gespräche (1944/45) (GA 77), hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt am Main 1995. – »Das Ding«, in: Ders., Bremer und Freiburger Vorträge (GA 79), hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1994. Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache (Duden Band 7), hrsg. von Duden Redaktion, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2001. Hsiao, Paul Shih-yi, »Heidegger and Our Translation of the Tao Te Ching«, in: Heidegger and Asian Thought, hrsg. von Graham Parkes, Honolulu 1992. – »Wir traffen uns am Holzmarktplatz«, in: Erinnerung an Martin Heidegger, hrsg. von Günther Neske, Pfullingen 1977. Laotse, Tao Te King, übers. von Richard Wilhelm, Berlin 2013. Mende, Dirk, Metapher – Zwischen Metaphysik und Archäologie. Schelling, Heidegger, Derrida, Blumenberg, München 2013. Nietzsche, Friedrich, Nachgelassene Fragmente 1884–1885 (KSA Band 11), hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1980. Roetz, Heiner, Konfuzius, München 1995.
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Eveline Cioflec
Vom ›Weltentwurf‹ und der Verortung des Denkens
Orte des Denkens liegen nicht vor, Orte des Denkens werden im Denken und vom Denken eröffnet. Diese These werde ich im Weiteren ausarbeiten und mit Heidegger den Weltentwurf als Verortung des Denkens bestimmen. Selbstverständlich findet Denken immer an einem gewissen faktischen Ort statt: in einer Stadt, in einem Gebäude, an einem Schreibtisch, beim Spaziergang im Park – je nachdem, wo der Denkende sich befindet. Allerdings ist der Ort des Denkens nicht unmittelbar und allein der geographische Ort, an dem der Denkende sich befindet, sondern wird eigens im Denken als Ort des Denkens eröffnet. So können auch dem Denken scheinbar ungünstige Orte zu Orten des Denkens werden. Der Gewinn dabei ist die Freiheit des Denkens, wenn auch nicht die Unbedingtheit des Denkens: Die unmittelbare Bedingtheit des Denkens durch den Ort, an dem der Denkende sich aufhält, kann und wird im Entwurf des Ortes des Denkens aufgehoben. Durch die Verortung als Entwurf des Ortes an dem man denkt, werden zugleich der Ort als Ort des Denkens sowie das Denken bestimmt. Weil der Ort des Denkens erst in seinem Entwurf gegeben und angeeignet ist, wird die Unterschiedlichkeit der Orte gewissermaßen relativiert: d. h. der Unterschied, ob ich nun in derselben Stadt im Büro oder zu Hause denke, ist für das Denken nicht unbedingt maßgebend, diese beiden Orte können demselben Entwurf eingegliedert werden. Auch wenn der Aufenthalt in einem Park generell wohl eher zum Denken anregt als der Aufenthalt auf einer lauten Baustelle, so ist es nicht gesagt, dass auf letzterer Denken anders verortet oder etwa gar nicht möglich ist. Daher bleibt die Frage, wie der Entwurf unterschiedlich sein kann, sodass Orte des Denkens im Plural bestehen. Dementsprechend verlagert sich die Fragestellung nach Orten des Denkens auf den Entwurf und darauf, was den Entwurf, den Sinn, bestimmt, weg vom faktischen Ort des Denkenden. Der Ort des Denkens ist aus dem Weltentwurf, dem er einge288 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Vom ›Weltentwurf‹ und der Verortung des Denkens
gliedert ist, bestimmt. So wird erst ersichtlich, dass weniger der geographische oder gar architektonische Ort als solcher für das Denken ausschlaggebend ist, sondern vielmehr der Weltentwurf, in dem ein Ort bestimmt wird. Dabei wird der Weltentwurf hier als Sinnhorizont verstanden, als umfassender Sinnhorizont des Denkens. 1 In diesen Sinnhorizont gliedert sich dann der jeweilige geographische Ort, an dem man denkt, ein und wird erst in diesem Sinnhorizont relevant – oder auch irrelevant – für das Denken. Inwiefern der Sinnhorizont ein Entwurf bleibt – als dass hier eher von einem »Weltentwurf« als schlichtweg von der Welt die Rede ist, ist nicht auf Anhieb einleuchtend. Heideggers Begriff des Entwurfs soll in diesem Zusammenhang weiterhelfen. Auch wenn Heidegger den Begriff des Entwurfes bereits in Sein und Zeit systematisch anwendet, worauf ich kurz eingehen werde, wird dieser für die Überlegungen in diesem Beitrag erst mit der Vorlesung des Wintersemesters 1929/30, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit ausschlaggebend. Allgemein verstanden meint ein Entwurf eine Skizze, ein vorläufiges Projekt, den Umriss von etwas. 2 In der Architektur etwa beDiese Auffassung der Welt entspricht der hermeneutisch-phänomenologischen Auffassung, die mit Husserl, Heidegger und Gadamer hervorgegangen ist. Wie Georg Stenger in seiner Genealogie des Weltphänomens festhält: »Die Welterfassung wird zur Horizontfrage, darin ist wohl das spezifische hermeneutische Grundinteresse zu sehen. Horizontverstehen heißt vor allem Sinnverstehen, ja Sinngebung. Horizontverstehen heißt überhaupt erst Verstehen!« (Stenger, G., Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Freiburg/München: Karl Alber 2006, 670; vgl. 661 f.): 2 Vgl. hierzu die jüngst erschienene Studie von Günter Figal zur Phänomenologie des Entwerfens: »Entwerfen, so erfährt man aus Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache, heißt Umreißen, etwas in den Hauptlinien kennzeichnen, damit es dann ausgestaltet werden kann; so umreißt ein Maler mit Zeichenkohle die Figuren eines Bildes und arbeitet das Bild dann in Farbe aus. Entwerfen heißt auch allgemeiner; ›in gedanken entwerfen, den plan zu etwas fassen‹ [Jakob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1862, Sp. 655] Plan im wörtlichen Sinne ist aber wiederum ›der grundrisz einer bodenfläche‹, eines Hauses oder einer Stadt. [a. a. O., Sp. 1885] Planen heißt demnach zunächst: einen Grundriss zeichnen, die Umrisse ziehen, nach denen und in denen etwas gebaut werden kann. Spricht man allgemeiner von einem Plan im Hinblick auf das, was man vorhat, so wird das Wort auf das absichtsvolle Tun übertragen; wie der Entwurf dem Bau vorausgeht, so geht der Plan, also die entwickelte, möglichst gut überlegte Absicht, einer Handlung voraus.« (Figal, G., »Seinkönnen in der Welt, Zur Phänomenologie des Entwerfens«, in: Suchen, Entwerfen, Stiften. Randgänge zum Entwurfsdenken Martin Heideggers, Hg. David Espinet/Toni Hildebrandt, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014, 21–30, zit. 21): 1
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Eveline Cioflec
zeichnet der Entwurf eines Hauses den Bauplan eines Hauses. Im praktischen Bereich ist der Entwurf der Plan oder die Skizze für eine bevorstehende Handlung oder das Herstellen eines Gegenstandes, die zugleich gewisse Möglichkeiten der Ausarbeitung offen lässt. Die tatsächliche Ausarbeitung des Entwurfs schließt dann die offen gelassenen Möglichkeiten wieder aus, indem die eine oder andere Möglichkeit eben verwirklicht wird. Fest steht, dass ein Entwurf mit Hinblick auf eine Verwirklichung verstanden wird. Heidegger kehrt diese Auffassung vom Entwurf um, indem er darin die Möglichkeiten, die ein Entwurf auftut, hervorhebt: »Das Entwerfen hat nichts zu tun mit einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan, gemäß dem das Dasein sein Sein richtet, sondern als Dasein hat es sich je schon entworfen und ist, solange es ist, entwerfend. Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist, aus Möglichkeiten.« 3
Somit deutet Heidegger die gängige Auffassung vom Entwurf um und, mehr noch, stellt diesen sogar in seiner Ausrichtung an der Verwirklichung infrage, wobei er das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit umkehrt – der Entwurf, »der im Werfen die Möglichkeit als Möglichkeit sich vorwirft und als solche sein läßt«, 4 gilt in Sein und Zeit nicht mit Hinblick auf eine Verwirklichung, sondern umgekehrt, wird die Wirklichkeit mit Bezug auf Möglichkeit gedacht. 5 Die Wirklichkeit kann nur deswegen gedeutet werden, weil ihr, wie in Sein und Zeit hervorgehoben wird, im entwerfenden Verstehen die Möglichkeiten abgelesen werden können und als solche beibehalten werden. 6 Hierbei ist der »Entwurf« die existenziale Struktur des Verstehens. »Der Entwurfcharakter des Verstehens konstituiert das In-
3 Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Gesamtausgabe Bd. 2, Hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 1977, 145. (Im Weiteren steht die Abkürzung ›GA‹ für Gesamtausgabe, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann Verlag). 4 Ebd. 5 Dieses umgekehrte Verhältnis gliedert sich einer breiter gefassten Umkehrung ein, die für die Phänomenologie als Ontologie gilt, aber im Verstehen als Entwurf verankert wird: »Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit.« (Ebd., 38). 6 »Das Verstehen ist, als Entwerfen, die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist.« (Heidegger, M., Sein und Zeit, GA 2, 145) Die Möglichkeiten werden dabei nicht »thematisch erfasst«, was einen »Bestand« an Möglichkeiten ausloten würde, während der Entwurf »im Werfen die Möglichkeit als Möglichkeit sich vorwirft und als solche sein läßt.« (ebd.).
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Vom ›Weltentwurf‹ und der Verortung des Denkens
der-Welt-sein hinsichtlich der Erschlossenheit seines Da als Da eines Seinkönnens.« 7 So steht der Entwurf in Sein und Zeit für den Möglichkeitscharakter des Daseins, für die Möglichkeiten, die das Dasein verstehend ist: »Das Verstehen ist, als Entwerfen, die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist.« 8 Dabei gehört Welt zum Selbstsein des Daseins als In-der-Welt-Sein. 9 Der Entwurf kennzeichnet das Selbstseinkönnen des Daseins, dem sich die Welt als praktisch-bedeutsamer Verweisungszusammenhang des innerweltlich Seienden jeweils erschließt, so dass Seiendes entdeckt werden kann. Nicht gleichzusetzen mit »Universum«, oder der Summe aller Seienden, bezeichnet »Welt« in Sein und Zeit das dem Menschen Zugängliche in seinem Bedeutungszusammenhang: Das Seiende, das jeweils mir zugänglich ist, hat eine Bedeutung, verweist auf anderes mir Zugängliches. 10 Das Dasein als In-der-Welt-sein steht dabei im Mittelpunkt und gefragt wird nach dem Verhältnis zu jenem, was entdeckt wird. Während der Entwurf in Sein und Zeit als ein Charakter des Verstehens der Möglichkeiten gilt, sodass das Dasein im Entwurf sein eigenes Seinkönnen sein kann, wird derselbe in Die Grundbegriffe der Metaphysik von der Welt her aufgefasst. Die Möglichkeiten im Entwurf gehen nicht mehr aus einem Möglichkeitssinn des Daseins hervor, sondern werden von der Welt her dem Dasein zugeworfen, sind im Geschehen der Welt eingezeichnet. In dieser Vorlesung wird Welt nicht wie in Sein und Zeit als Bewandtnis und Bedeutsamkeit verstanden, nicht mehr aus dem Handlungszusammenhang des Menschen ausgelegt, sondern selbst als »Entwurf« aufgefasst. 11 Der Entwurf ist nicht mehr ein Charakter des Verstehens als Verstehen von Möglichkeiten mit Bezug auf ein Worum-willen des Daseins 12, sondern mit Bezug auf ein Geschehen
Ebd. Ebd. 9 A. a. O., 146. 10 Heidegger, M., Sein und Zeit, 1977, 83 ff. 11 In seiner Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 vermerkt Heidegger, dass er in Sein und Zeit (1927) »eine erste Kennzeichnung des Weltphänomens durch eine Interpretation der Art, wie wir uns zunächst und zumeist alltäglich in unserer Welt bewegen« versucht hat. (Heidegger, M., Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, Hg. F.-W. von Herrmann, 2004 [4. Aufl., 1. Aufl. 1983], 262). 12 Heidegger, M., Sein und Zeit, 145. 7 8
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Eveline Cioflec
»das alles bekannte Entwerfen im alltäglichen Verhalten von Grund aus ermöglicht«: 13 Das Geschehen entspricht nicht mehr einem Seinkönnen des Daseins, sondern einem Seinkönnen der Welt: Im Entwurf »geschieht das Waltenlassen des Seins des Seienden im Ganzen seiner jeweils möglichen Verbindlichkeit. Im Entwurf waltet die Welt«. 14 Die Welt in ihrer »Offenbarkeit des Seienden als solchem im Ganzen« ist im Entwurf gegeben, wobei der Entwurf nicht wiederum vom jeweils dem Einzelnen zugänglichen Bedeutungszusammenhang abhängt. 15 Anders als in Sein und Zeit steht hier die »Zugänglichkeit des Seienden«, die sich auf der genannten Offenbarkeit gründet, infrage und nicht die Möglichkeit des Zugangs vom Dasein aus. 16 Die Zugänglichkeit des Seienden ist möglich durch das »Waltenlassen«: »Entwurf ist Weltentwurf. Welt waltet in und für ein Waltenlassen vom Charakter des Entwerfens.« 17 Der Begriff des Weltentwurfs steht im Gegensatz zu den Begriffen der Weltanschauung und Weltbild. Anschauung und Bild, beide Begriffe führen auf Vorstellung zurück und diese auf das Objekt der Vorstellung. Die Welt ist gerade nicht Gegenstand oder Objekt unserer Vorstellung und damit kann sie auch nicht in diesen erfasst werden. Entwurf bezieht sich auf dasjenige, was offen gegeben ist, zugeworfen ist, gerade nicht thematisch werden kann, nicht zum Objekt werden kann. Mit der Weltanschauung befasst Heidegger sich in seinen frühen Vorlesungen, insbesondere in der Vorlesung zur Weltanschauungs-
Heidegger, M., Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, 526. 14 A. a. O., 530. 15 A. a. O., 412: Die Offenbarkeit des Seienden für den Menschen, für den »Welt jedenfalls so etwas besagen muß wie Zugänglichkeit des Seienden«, ist »keine Offenbarkeit irgendwelcher beliebiger Art«, sondern »Offenbarkeit des Seienden als solchem im Ganzen.«; vgl. hierzu: Thurnher, Rainer, Wandlungen der Seinsfrage. Zur Krisis im Denken Heideggers nach »Sein und Zeit«, Tübingen: Attempto Verlag 1997, 39 f. 16 Vgl. auch meine Erörterungen mit Bezug auf das Zwischen als Phänomenalität und der ›Unverborgenheit‹ : Der Begriff des ›Zwischen‹ bei Martin Heidegger. Eine Erörterung ausgehend von Sein und Zeit, Freiburg/München: Karl Alber Verlag 2012, 188 f. 17 Heidegger, M., Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, 527. 13
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Vom ›Weltentwurf‹ und der Verortung des Denkens
philosophie. 18 Es wird darin bereits erkenntlich, dass der Begriff der Welt bei Heidegger eine neue Wende erfährt: Eine Anschauung von der Welt zu haben, eine Vorstellung davon zu haben, setzt ein vorstellendes Subjekt voraus. Aber gerade darin wird die Verwobenheit mit der Welt, die Zugehörigkeit des Menschen zur Welt und die Welt, als dem Menschen zugehörig, aufgehoben. Der Mensch verfügt nicht über die Welt, auch nicht in der Weise der Vorstellung, was im Späteren zu Heideggers Kritik am Weltbild führt, in Die Zeit des Weltbildes, wo in der Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft gerade dieser Aspekt des Verfügens im vorstellenden Erkennen ins Auge gefasst wird. 19 Das Weltbild gleicht einem Abbild, entspricht einer objektivierenden Vorstellung, die so ein Verfügen darüber ermöglicht. ›Die Welt erkennen‹, würde bedeutet, das Vorgegebene zu beobachten. Dieses würde dem Bild der Erkenntnis noch vor der kantischen sogenannten ›kopernikanischen Wende‹ entsprechen. Weltentwurf im Denken bezieht sich dahingegen gerade nicht darauf, zu erkennen, was anwesend ist, vorliegt, sondern darauf, zu verstehen, was möglich ist: die Möglichkeiten aufdecken. In diesem Sinne ist der Entwurf von Welt »Ermöglichung« 20. Erkennen, so könnte dieser Aspekt kurz gefasst werden, ist lediglich am Anwesenden ausgerichtet – das Denken als Verstehen hingegen hat es mit Möglichkeiten zu tun: dem Gegebenen die Möglichkeiten abzulesen, es auf die Möglichkeiten hin zu befragen. 21 Die Endlichkeit des Denkens lässt diese Möglichkeiten unterschiedlich ausfallen. 22 Nicht allein der Mensch und seine Lebensspanne sind endlich, sondern das Denken als solches ist endlich. Diese Bestimmung geht auf eine Bestimmung der Endlichkeit der Anschauung zurück – während die göttliche Anschauung schöpferisch und 18 Heidegger, M., Zur Bestimmung der Philosophie, 1. Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, Hg. Bernd Heimbüchel, GA 56/57, 1987. 19 Vgl. Heidegger, M., »Die Zeit des Weltbildes«, in: Holzwege, Hg. F.-W. von Herrmann, GA 5, 1977, 75–113. 20 Heidegger, M., Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, 486: »Am Ende ist das, was wir da Weltbildung nennen, auch und gerade der Grund der inneren Möglichkeit des logos.« Und ferner, 529: »Das Entwerfen als dieses Entbergen der Ermöglichung ist das eigentliche Geschehen jenes Unterschiedes von Sein und Seiendem.« 21 Vgl. auch Heideggers Erörterung zum Erkennen das auf einer »Defizienz des besorgenden Zu-tun-Habens mit der Welt« beruht: Heidegger, M., Sein und Zeit, 61 f. 22 Heidegger, M., Kant und das Problem der Metaphysik, Hg. F.-W. von Herrmann, 1991, 61 ff.
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unendlich ist 23, ist die menschliche Anschauung endlich und rezeptiv. In einer Aufzeichnung Heideggers zu seinem sogenannten Kantbuch heißt es sogar: »Endliches Denken ist eine Tautologie, so wie runder Kreis. Was heißt: das Denken ist endlich«. 24 Die Endlichkeit des Denkens kündigt sich darin an, dass es auf Seiendes bezogen bleibt und nicht reines Vorstellen ist. Zugleich kann das Denken, wie auch schon bei Kant, das Seiende nicht spontan erzeugen und bleibt auf durch die Anschauung vorgegebenes Seiendes angewiesen. Auch später im Weltentwurf oder Weltbilden geht es nicht darum, Seiendes zu entwerfen. Vielmehr geht es um genau denselben Bezug, der Heidegger auch schon in Kant und das Problem der Metaphysik fasziniert hat: Den Bezug von Einzelnem zum Allgemeinen, das verknüpfende Urteil, die produktive Einbildungskraft. Die Interpretation der Rolle der Einbildungskraft und des transzendentalen Schematismus in Kants Kritik der reinen Vernunft zielt darauf ab, die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis hervorzuheben. Aber mehr noch zielt diese Interpretation darauf ab, die Relation von Sinnlichem und Vernunft zu untersuchen. Ist diese Relation bei Kant transzendental bestimmt, so geht es Heidegger gerade darum, das Transzendentale einzuklammern und anstelle dessen die Transzendenz des In-der-Welt-Seins zu setzen. 25 Das Allgemeine des Seienden wird nicht im Transzendentalen bestimmt, sondern liegt in der Transzendenz der Welt vor. Die Kategorien des Seienden, das Sein des Seienden, ist nicht a priori gegeben, sondern als erfahrene Welt mitgegeben. Die Kategorien werden somit in einer Zeitstruktur eingebunden, da Welt notwendigerweise auf das Dasein bezogen wird. So kommt es, dass in der weiter oben zitierten nachträglichen Notiz im Kantbuch das endliche Denken als Tautologie aufgefasst wird. In der Davoser Disputation wird die Diskussion der Endlichkeit als Bestimmung des Denkens fortgesetzt. 26 Für Cassirer gibt es kein Bedenken darüber, dass die Objektivität des Transzendentalen in der Erkenntnis nicht infrage gestellt werden kann. Heidegger hingegen Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1981 (5. Aufl, 1. Aufl. 1968), 95 (B 72); vgl. Heidegger, M., Kant und das Problem der Metaphysik, 24. 24 Heidegger, M., Kant und das Problem der Metaphysik, 249. 25 Vgl. Heidegger, M., Vom Wesen des Grundes, Hg. F.-W. von Herrmann, GA 9, 1996 (2. Aufl., 1. Aufl. 1976), 139 f. 26 »Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger«, in: GA 3, 274–296. 23
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beteuert die Endlichkeit des Menschen und findet diese auch in Kants Kritik der reinen Vernunft vertreten. Cassirer fragt Heidegger: »Will Heidegger auf diese ganze Objektivität, auf diese Form der Absolutheit, die Kant im Ethischen, Theoretischen und in der Kritik der Urteilskraft vertreten hat verzichten? Will er sich ganz zurückziehen auf das endliche Wesen (…)?« 27 Heidegger verzichtet in diesem Sinne tatsächlich auf den Gedanken der »Absolutheit«. Allerdings gibt er den Gedanken der Unendlichkeit nicht auf: »Der Mensch als endliches Wesen hat eine gewisse Unendlichkeit im Ontologischen. Aber der Mensch ist nie unendlich und absolut im Schaffen des Seienden selbst, sondern er ist unendlich im Sinne des Verstehens des Seins.« 28 Und ferner: »Ontologie braucht nur ein Endliches Wesen.« 29 Anstelle des Absoluten, von dem her das Kategoriale sich bestimmen lässt, tritt bei Heidegger das Unendliche, in dessen Horizont die Weltbildung so, wie sie in Die Grundbegriffe der Metaphysik für den Weltentwurf steht, möglich ist. Die Weltbildung als Weltentwurf meint nicht den schöpferischen Entwurf der Welt im Dasein. Auch ist Heideggers Begriff der »Welt« von dem »natürlichen Weltbegriff« oder auch »naiven Weltbegriff« 30 zu unterscheiden. Dieser bezeichnet die Gesamtheit des Seienden, zu dem auch der einzelne Mensch zählt. 31 Jener ist die Möglichkeit einer Auslegung der Welt, d. h. »die Offenbarkeit des je faktisch offenbaren Seienden« ist darin ermöglicht. 32 Nicht nur ist das Seiende offenbar, sondern wie das Seiende offenbar ist, ist in der Weltbildung als Entwurf gegeben. Daher nennt er die Zugänglichkeit des Seienden als solches, des Seienden im Ganzen, die Welt. 33 Dieses wäre allerdings nicht genug, um eine Kritik am Kategorialen zu üben: Der entscheidende Punkt ist, dass das Seiende selbst anhand der Offenbarkeit, anhand dessen, wie es offenbar wird, abgeändert wird. »Mithin ist die Offenbarkeit solches, was mit dem Seienden geschieht.« 34 Was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als Heidegger, M., Kant und das Problem der Metaphysik, 278. A. a. O., 280. 29 A. a. O., 280. 30 Heidegger, M., Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, 411. 31 A. a. O., 405. 32 Ebd. 33 A. a. O., 412. 34 A. a. O., 406. 27 28
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dass es eben keinen unmittelbaren Zugang zum Seienden gibt und somit dasjenige, was als Seiendes gegeben ist, immer in einer gewissen Weise des Gegebenseins gegeben ist, als zugänglich in einer Offenbarkeit des Seienden als Welt. 35 Genau darin ist der Mensch weltbildend, dass er die Offenbarkeit des Seienden als Welt vernimmt. Nun wäre es einerseits erleichternd, wenn die Sachlage so einfach wäre, andererseits aber auch nichts Weltbewegendes. Schlussendlich klingt das erst recht nach einer Vorstellung von Welt, nämlich meiner; eine Position, die bekannterweise auch schon Schopenhauer eingenommen hat. 36 Aber was Heidegger hier ausarbeitet, ist doch etwas verzwickter: Nicht der Mensch, und Heidegger erläutert, »so wie er auf der Straße herumläuft«, bildet die Welt, sondern: »Das Dasein im Menschen bildet die Welt: 1. Es stellt sie her; 2. Es gibt ein Bild, einen Anblick von ihr, es stellt sie dar; 3. Es macht sie aus, ist das Einfassende, Umfangende.« 37 Weltbildung ist gerade kein Akt der Spontaneität des Einzelnen, sondern getragen vom »Dasein im Menschen« 38 und hier ist zu betonen, dass es sich eben weder allein um ein Herstellen, noch allein um ein Vorstellen handelt, sondern um ein Herausstellen. 39 Zwar stellt der Mensch her, z. B. er baut ein Haus, A. a. O., 412. Schopenhauer, A., Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1996, 31 f. »Die Welt ist meine Vorstellung« und ferner: »Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig als diese, dass alles, was für die Erkenntnis da ist, also diese ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort: Vorstellung.« (A. a. O., 31). 37 Heidegger, M., Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, 414. 38 Ebd. 39 Vgl. Figal, G., »Heidegger und die Phänomenologie«, in: ders. Zu Heidegger: Fragen und Antworten, Frankfurt a. M.: Klostermann 2009, 43–54. Figal sieht in der Auffassung des Daseins als weltbildend, wie diese von Heidegger in der Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 ausgearbeitet wurde, eine »Radikalisierung« des Gedankengangs in Sein und Zeit: »was im Zuge des ›Entwurfs‹ einer Welt zum Erscheinen kommt, wird nicht nur aufgedeckt, sondern ›hergestellt‹. Wie spätere Verdeutlichungen zeigen, denkt Heidegger dabei zwar nicht an ein Verfertigen, sondern mehr an ein Herausstellen – etwas wird heraus, in den Bereich seiner Erfahrbarkeit gestellt, so daß es derart in seinem Erscheinen erfahren werden kann. Die Radikalisierung ist problematisch und zugleich erhellend; sie läßt deutlich werden, daß der radikalisierte Gedanke schon im Ansatz nicht unproblematisch war. Mit ihr gerät der Grundzug der Phänomene aus dem Blick – der Sachverhalt, daß Phänomene nicht nur gezeigt werden, sondern sich zeigen. Das wird schon in der Orientierung am Entdecken marginalisiert, in der Orientierung am Herstellen geht es verloren.« (A. a. O., 48). 35 36
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was dann Teil der Welt ist, auch stellt er vor, z. B. indem er sich ein Bild von der Welt macht und dieses etwa fragmentarisch in einem Gemälde wiedergibt. Aber allein dieses wäre unvereinbar mit dem dritten Punkt, nämlich jenem, dass das Dasein die Welt ausmacht, einfasst, umfängt. Spätestens darin ist aller Selektion und jedem Perspektivismus ein Ende gesetzt: Es geht eben nicht darum, was der Einzelne zur Welt beiträgt (indem er ein Haus baut) oder wie der Einzelne die Welt vorstellt, sondern es geht darum, wie und ob die Welt, »das Geschehen des Waltens der Welt« 40 grundsätzlich und in ihrer Möglichkeit vom Sein des Menschen abhängt. Das genannte Walten der Welt bezieht sich auf die in der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem beruhende Weltbildung, die in dreifacher Weise geschieht: Das Sichentgegenhalten von Verbindlichem, die Ergänzung und die Enthüllung des Seins des Seienden. 41 Verbindlichkeit meint, kurz gesagt, dass das Dasein sich immer zu Seiendem verhält. In diesem Verhalten könne es niemals rein sachlich bleiben, sondern ergänzt dasjenige, was ihm gerade entgegensteht, indem dieses in ein Ganzes des Vernehmens oder Auslegens einfügt wird. Weiterhin versteht das Dasein das Seiende, zu dem es sich verhält, als etwas, d. h. das Seiende ist in einem gewissen Horizont gegeben. 42 Heidegger spricht von einem »Geschehen«, da dieses Zusammenfinden, das Zusammengehören der drei Bestimmungen des Sichverhaltens zwar als Struktur erkannt werden kann, jedoch in der Weise des Zusammenspiels dem Dasein nicht frei verfügbar ist. Die Verbindlichkeit geht auf eine vorgängige Offenheit zurück, sodass überhaupt ein Bezug zu Seiendem entstehen kann, die Ergänzung auf ein vorgängiges Haben von Welt und die Enthüllung des Seins ist geschichtlich bedingt. 43 Das Zusammenspiel ist von den Grundstimmungen getragen, die als Stimmungen »nicht bloße Tönungen und Begleiterscheinungen des seelischen Lebens sind, sondern Grundweisen des Daseins selbst, in denen einem so und so ist, Weisen des Daseins, darin sich das Dasein so und so offenbar wird.« 44 Aber Heidegger, M., Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, 510. 41 Vgl. a. a. O., 524. 42 A. a. O., 416 f. 43 A. a. O., 524 f. 44 A. a. O., 410. In dieser Vorlesung wird Grundstimmung als Langeweile bestimmt; vgl. auch a. a. O., 14 f. 40
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der Entwurf, und somit die Weltbildung als Geschehen, wird nicht vom Menschen bestimmt. Die Weltbildung geschieht 45 und dafür ist der Mensch in seinen Grundstimmungen offen, er ist offen für die Offenbarkeit des Seienden. Das heißt, es handelt sich primär um eine Aufnahmefähigkeit, darum, dem Geschehen gegenüber nicht verschlossen zu sein. »Der Entwurf und das Entwerfen ist in sich enthebend zu möglichen Bindungen und bindend-ausbreitend im Sinne des Vorhaltens des Ganzen, innerhalb dessen sich dieses oder jenes Wirkliche als Wirkliches des entworfenen Möglichen verwirklichen kann. Dieses enthebend-bindende Ausbreiten, das zumal im Entwurf geschieht, zeigt aber zugleich in sich den Charakter des Sichöffnens.« 46
Das Geschehen ist einerseits ein Geschehen im Dasein, aber andererseits als Geschehen im Entwurf als Ermöglichung verankert. »Der Entwurf als Urstruktur des genannten Geschehens ist die Grundstruktur der Weltbildung.« 47 Dabei ist das Entwerfen als »Entbergen der Ermöglichung« »das eigentliche Geschehen jenes Unterschiedes von Sein und Seiendem.« Die hier genannte Ermöglichung steht nicht mehr dem Dasein zu, dieses kann sich für sie nur öffnen: »Weder die Möglichkeit noch die Wirklichkeit ist Gegenstand des Entwurfs – er hat überhaupt keinen Gegenstand, sondern ist das Sichöffnen für die Ermöglichung.« 48 Letztendlich kommt es Heidegger in dieser Vorlesung auf diese Ermöglichung an und er wird sie in den dreißiger Jahren weiterhin bedenken und ausarbeiten. So ist etwa das Seinsgeschehen, oder auch das »Seinsgeschick«, dasjenige, das sich vom Sein her zeigt, dasjenige, das sich vom Sein her zeitigt; ein zentrales Motiv seiner Philosophie der 30er Jahre. 49 Für die Frage nach der Verortung des Denkens muss dieser Gedankengang nicht weiterverfolgt werden. Es genügt festzuhalten, dass das Denken als Verortung somit nicht frei verfügbar, d. h. der freien Wahl ausgesetzt ist, nicht zur freien Verfügung des Denkenden A. a. O., 414 A. a. O., 528–529. 47 A. a. O., 526–527. 48 A. a. O., 529. 49 Vgl. Günter Figals übersichtliche und einschlägige Zusammenfassung zur Entwicklung des Begriffs des Entwurfs bei Heidegger: Figal, G., Seinkönnen in der Welt. Zur Phänomenologie des Entwerfens, 21 f.; vgl. auch Sepp, Hans Rainer, Bild. Phänomenologie der Epoché I, Orbis Phaenomenologicus 30, Königshausen & Neumann, Würzburg 2012, 63 f. 45 46
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Vom ›Weltentwurf‹ und der Verortung des Denkens
steht, und zwar zweifach nicht: zum einen nicht, weil es keine vorgegebenen Orte gibt, sondern Orte des Denkens erst aus dem Entwurf auf den Sinnhorizont hervorgehen und zum anderen nicht, weil nicht der Denkende diese frei entwirft, sondern der Entwurf aus einer Differenz hervorgeht, aus der Differenz von Nicht-Verfügbarem und Verfügbarem, von Zugänglichem und Un-Zugänglichem. Das Denken ist immer jeweils an einen Ort gebunden und, zugleich, erschließen sich Orte im Denken. Diese Wechselseitigkeit von Ort und Denken, die gegenseitige Bedingtheit hat Heidegger in den späten Zwanzigern und Anfang der dreißiger Jahre hervorgehoben: Das Denken entspringt der Differenz von Sein und Seiendem, wobei das Sein den Sinnhorizont des Seienden ausmacht. Die genannte Differenz bestimmt den Ort des Denkens und zeigt sich im Verhältnis des Denkens zur Welt. Den jeweiligen Ort des Denkens von dem Horizont des Weltentwurfs her ausfindig zu machen heißt demnach, bei Heidegger, die genannte Differenz zu erschließen. In diesem Sinne ist der Weltentwurf die Verortung des Denkens. Die Wechselseitigkeit der Bestimmung des Ortes und des Denkens ist im Entwurf festgehalten: Der Ort des Denkens bestimmt sich im Denken, indem das Denken notwendigerweise verortet ist. Sowohl der Sinnhorizont als auch das Gedachte können vom Ort des Denkenden – der als geographischer, architektonischer, gesellschaftlicher, usw. Ort seinerseits auf Sinnentwurf zurückgeführt werden kann – beeinflusst werden, sei es, indem der Sinnhorizont geographisch-kulturell begünstigt wird, sei es, indem der jeweilige Ort etwas zu Denken gibt. Aber keines von beiden macht diesen zum Ort des Denkens. Letzterer entsteht als Verortung an der Schnittstelle von Sinnhorizont und Bedachtem. Den Sinnhorizont habe ich hier mit Heidegger als Weltentwurf bestimmt, wobei dieser Weltentwurf aus einem Geschehen der Weltbildung hervortritt. Das Bedachte hingegen ist welthaft. Figal greift in seiner bereits erwähnten Studie Seinkönnen in der Welt. Zur Phänomenologie des Entwerfens den Begriff des Entwurfs in Sein und Zeit auf, der »immer die volle Erschlossenheit des In-derWelt-seins« betrifft und beteuert, es sei »nur konsequent das Wesentliche des Entwurfs auch in dieser ›vollen Erschlossenheit‹ zu sehen, sodass Seinkönnen und Welt sich im Entwurf wechselseitig bestimmen. Dann ist die Welt als Bereich des Seinkönnens offen, ebenso wie das Seinkönnen als solches welthaft ist. Und dann ist der Entwurf kein Weltentwurf des Daseins mehr, in dem die Welt auf das Dasein hin bestimmt wird, sondern eine jewei-
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lige, immer auf Welthaftes bezogene Möglichkeit des Seinkönnens in der Welt.« 50
Die Verortung des Denkens entspricht der von Figal hervorgehobenen, auf Welthaftes bezogenen Möglichkeit des Seinkönnens, wobei hier allerdings der Weltentwurf als Sinnhorizont beibehalten wird. Hieraus ergibt sich als Konsequenz, dass die Welt als eine einheitliche Welt nicht gegeben ist, sondern eine Pluralität von Welten, genauso viele Welten wie Entwürfe, auch wenn die Ausrichtung auf das Sein sowie die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen die Einheitlichkeit der Welt voraussetzt – genauso wie es nicht nur ein Denken gibt, sondern auch hier der Plural gilt. In der hier besprochenen Vorlesung bleibt eine gewisse Unentschiedenheit bestehen zwischen der Weltbildung, die geschieht, sowie dem Waltenlassen der Welt und dem Entwurfverstehen des Daseins. Aber gerade diese Unentscheidenheit könnte fruchtbar sein. Der angeeignete Weltentwurf, der der Weltbildung entspricht, ist sprachlich, kulturell, usw. vorbestimmt. Als Weltentwurf wird dieser im Denken übernommen. Dann dürfte aber auch von einer Pluralität des Denkens die Rede sein, so etwa in kulturell verschieden geprägten Weltentwürfen die auch zu unterschiedlichen Verortungen des Denkens führen. Dabei gilt, dass die Verortung des Denkens von dem jeweiligen Weltentwurf abhängt. Weltentwurf entspricht eher einem Sinnentwurf – einem Entwurf der Welt in ihrer Sinnhaftigkeit. Diese Sinnhaftigkeit kann aber unterschiedlich geprägt sein – sie kann z. B. wissenschaftlich, geschichtlich, künstlerisch usw. geprägt sein. 51 Je nach dieser Prägung fällt auch die Verortung des Denkens unterschiedlich aus. Die Frage eingangs, was Orte so unterschiedlich sein lässt, dass das Denken jeweils anders ausfällt, ist somit beantwortet – es ist der an ihnen begünstigte Sinnhorizont. Der Weltentwurf als Sinnhorizont kann sich verändern, was Heidegger wohl mit Weltbildung gemeint hatte. Dieses spricht auch dafür, dass wir verschiedene Weltentwürfe, verschiedene Sinnhorizonte haben können und dass diese Weltentwürfe auch parallel bestehen können.
Figal, G., Seinkönnen in der Welt. Zur Phänomenologie des Entwerfens, a. a. O., 25. Markus Gabriel spricht von »Sinnfeldern« die nebeneinander bestehen können. Vgl. Gabriel, M., Warum es die Welt nicht gibt, Berlin: Ullstein Verlag 2013.
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Vom ›Weltentwurf‹ und der Verortung des Denkens
Wenn Heidegger das Gespräch zwischen den Kulturen auf ein Unbestimmtes zurückführt, 52 aus dem letztlich alles Denken hervorgeht, so ist damit die tatsächliche Verortung des Denkens nicht aufgehoben. Vielmehr ist das Denken in seiner Angewiesenheit auf Verortung bestätigt, denn es hält sich nicht im Unbestimmten, im Zwischen, im Offenen, sondern wird immer wieder einem gewissen, wenn auch sich wandelnden Weltentwurf eingegliedert. Verortung meint dann die explizite Verankerung des Denkens (und des Handelns) in einen Zusammenhang von Gegebenem, d. h. Verstandenem, der zwar vorgegeben ist, der aber auch immer wieder aufs Neue entsteht. Das Denken wird somit zu etwas anderem als einem Abspielen von vorgegebenen Gedanken, von vorgegebenen Weltbildern, sondern es wird ein Gewahr-werden, dass die Welt darin, wie sie uns letztlich gegeben ist, vom Denken abhängt. Im denkenden Selbst ist die Welt enthalten, gerade als Weltentwurf, der dem Denkenden zugeeignet wurde und den dieser sich angeeignet hat. Damit will ich nicht sagen, dass es so viele Weltentwürfe gibt, wie viele Menschen es gibt, denn Weltentwürfe können auch geteilt werden. 53 Und dennoch ist das Selbst dafür zuständig, die Verortung im Denken zu gewährleisten. Und weil dabei verschiedene Weltentwürfe herausgestellt werden, so wie verschiedene Sprachen und Kulturen entstehen, kommt es noch darauf an, diese bestehen zu lassen. Hinzuzufügen wäre, was hier nicht mehr ausgearbeitet werden kann, dass Denken wohl nicht die einzig mögliche Verortung ist, dass etwa künstlerische Tätigkeit auch eine weltbildende Verortung sein kann.
Literaturverzeichnis Cioflec, Eveline, Der Begriff des ›Zwischen‹ bei Martin Heidegger. Eine Erörterung ausgehend von Sein und Zeit, Freiburg/München: Karl Alber Verlag 2012. Figal, Günter, »Heidegger und die Phänomenologie«, in: ders. Zu Heidegger: Fragen und Antworten, Frankfurt a. M.: Klostermann 2009.
Heidegger, M., Unterwegs zur Sprache, Hg. F.-W. von Herrmann, GA 12, 1985, 100. 53 Zur Frage nach der Tragfähigkeit des Heideggerschen Konzepts eines Weltentwurfs für eine Gemeinschaft Vgl. Hackenesch, Christa, Selbst und Welt. Zur Metaphysik des Selbst bei Heidegger und Cassirer, Hamburg: Meiner Verlag 2001, 55 ff., insbes. 90 f. 52
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Eveline Cioflec – »Seinkönnen in der Welt, Zur Phänomenologie des Entwerfens«, in: Suchen, Entwerfen, Stiften. Randgänge zum Entwurfsdenken Martin Heideggers, Hg. David Espinet/Toni Hildebrandt, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014, 21– 30. Gabriel, Markus, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin: Ullstein Verlag 2013. Hackenesch, Christa, Selbst und Welt. Zur Metaphysik des Selbst bei Heidegger und Cassierer, Hamburg: Meiner Verlag 2001. Heidegger, Martin, Gesamtausgabe (GA), Frankfurt a. M., Vittorio Klostermann Verlag: – Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/ 30, Hg. F.-W. von Herrmann, 2004 [4. Aufl., 1. Aufl. 1983]. – »Die Zeit des Weltbildes«, in: Holzwege, Hg. F.-W. von Herrmann, GA 5, 1977, 75–113. – Kant und das Problem der Metaphysik, Hg. F.-W. von Herrmann, GA 3, 1991. – Sein und Zeit, Hg. F.-W. von Herrmann, GA 2, 1977. – Unterwegs zur Sprache, Hg. F.-W. von Herrmann, 1985, GA 12. – »Vom Ursprung des Kunstwerkes«, in: Heidegger Studies 5 [1989] 5–22. – Vom Wesen des Grundes, Hg. F.-W. von Herrmann, GA 9, 1996. – Zur Bestimmung der Philosophie, 1. Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, Hg. Bernd Heimbüchel, GA 56/57, 1987. Jakob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Leipzig: S. Hirzel Verlag 1862. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981 (5. Aufl, 1. Aufl. 1968). Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1996. Sepp, Hans Rainer, Bild. Phänomenologie der Epoché I, Orbis Phaenomenologicus 30, Königshausen & Neumann, Würzburg 2012. Stenger, Georg, Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Freiburg/München: Karl Alber 2006. Thurnher, Rainer, Wandlungen der Seinsfrage. Zur Krisis im Denken Heideggers nach »Sein und Zeit«, Tübingen: Attempto Verlag 1997.
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Teil IV. Das Politische
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Christoph Dittrich
Exteriorität und Grenze. Der Locus enuntiationis bei Enrique Dussel und Walter Mignolo »Wenn man sich nicht anstrengt, sieht oder merkt man in München wenig von der Kolonialität. In Bolivien, in La Paz dagegen bemerkt man die Kolonialität ständig und überall, sie liegt in der Luft und steckt in den Knochen.« Walter Mignolo, Epistemischer Ungehorsam
Die Bemühung um Lokalisierung zieht sich seit den Anfängen der Philosophie der Befreiung in den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als roter Faden durch das Werk von Enrique Dussel. Auf der Suche nach der eigenen Identität versucht er immer wieder den Ort Lateinamerikas in der Geschichte wie in der Philosophie zu bestimmen sowie eine Philosophie zu entwerfen, die der historischen und sozialen Realität seiner Lokalisierung Rechnung trägt. Das Verständnis von Diskursen hängt nicht zuletzt davon ab, ihre Ausgangspunkte zu bestimmen, da von unterschiedlichen Positionen aus Unterschiedliches gesehen werden kann und die Position eines allwissenden Gottes oder des absoluten Geistes nur als Transzendenzillusion eingenommen werden kann. Man müsse folglich »die Subjekte des Diskurses und ihren locus enuntiationis ernst nehmen […]: wer wir sind und von wo aus wir sprechen.« 1 An diese Bemühung um Verortung knüpft Walter Mignolo, ein argentinischer, in den USA lehrender Semiotiker, an und unterstreicht die Bedeutung, die der locus enuntiationis für die Produktion und die Rezeption von Texten und Theorien besitzt. Wie Dussel sieht er unterschiedliche Perspektiven geprägt von physischen Verortungen, bestehenden Machtdifferenzen und entsprechenden Erfahrungen – in der Luft und in den Knochen. In einer postokzidentalistischen Perspektive aus Lateinamerika, aus
1 Dussel, Enrique: Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen, Wien: Turia + Kant 2013, 99.
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Christoph Dittrich
der Erfahrung formaler Unabhängigkeit und faktischer materialer Dependenz etwa zeige sich das lange übersehene Phänomen der »coloniality at large«. 2 Die von Dussel gesuchte Reterritorialisierung soll Traditionen kritisch affirmieren, die wiederum von ebendieser Kolonialität verdeckt werden. Jedoch kann dies keinen Einschluss in diesen und keinen Abschluss von diesen bedeuten, insofern das Ziel von Dussel wie von Mignolo als »Pluriversum« bestimmt wird. Doch statt dieses schlicht zu proklamieren, wird es an die Überwindung existierender Asymmetrien gebunden. Dussels Ortsbestimmungen sowie Mignolos Anschlüsse zeigen so die häufig vergessene Differenz zwischen Differenz und Ungleichheit. Die ob der Ungleichheit reklamierte, auf Politik basierende, Identität bleibt in den Konzeptionen der Exteriorität und der Grenze als Aussageorte der Differenz verpflichtet. Deren Notwendigkeit erklärt sich aus den Verortungen innerhalb der modernen Geschichte und ihrer Narrative, denen Dussel einen Gegendiskurs entgegenhält, der im Folgenden als Ausgangspunkt dienen wird.
Verbergung und Entbergung der Kolonialität Die vorherrschenden europäisch geprägten Moderneerzählungen gelten Dussel als provinzielle, jedoch bis in die Gegenwart äußerst wirkmächtige Träumereien der deutschen Romantik, die sich dank eines Ausblendens anderer Regionen sowie der eigenen Lokalität imaginiert, sie sei der exklusive Hort der menschlichen Gegenwart und Zukunft. Im Zuge der ökonomisch-technischen Entwicklung industrieller Produktion zum Zentrum des mit der Eroberung Lateinamerikas errichteten Welt-Systems geworden, überhöht sich Europa und erklärt sich in einer quasi geographischen Epiphanie des Weltgeistes zum Mittelpunkt und Ziel einer vernünftigen Fortschrittsgeschichte. So schreibt Hegel in seiner Philosophie der Geschichte tatsächlich: »Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn
In einem Band eben diesen Titels schreibt Mignolo: »[C]oloniality of power is the common thread that links modernity/coloniality in the sixteenth century with its current version at the end of the twentieth century:« Mignolo, Walter: »The Geopolitics of Knowledge and the Colonial Difference«, in: Enrique Dussel/Mabel Moraña/ Carlos Jauregui (Hg.): Coloniality at large. Latin America and the Postcolonial Debate, Durham: Duke University Press 2008, 225–258, hier 249.
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Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte«. 3 Was es in dieser Perspektive über andere Regionen und deren Bewohner zu sagen gibt, kann man erahnen. Wie drastisch Hegel sich ausdrückt, überrascht nur deshalb nicht, da er durchaus konsequent ist: Mit der Identifizierung des Trägers des Weltgeistes »sind die Geiste der anderen Völker rechtlos, und sie […] zählen nicht mehr zur Weltgeschichte.« 4 Die Moderne gilt in dieser Perspektive als intra-kontinentales Phänomen und die eigene Philosophie als die einzige, die diesen Namen und eine entsprechende Aufmerksamkeit verdient. Dussel bemängelt daran eine nicht notwendig absichtsvolle Täuschung, eine Blendung durch den Glanz der eigenen Rüstung: »Die moderne europäische Philosophie hat die ökonomisch-politische Macht ihrer Kultur und die davon herrührenden Krisen anderer regionaler Philosophien mit der Universalität ihrer Prinzipien verwechselt.« 5 Obwohl es in einer lokalen Geschichte wurzelt und deren Perspektive einnimmt, beansprucht das moderne europäische Denken Universalität, wird gewissermaßen omnipräsent und verbirgt den Beitrag, den andere Regionen zur Moderne lieferten ebenso wie deren Denk- und Wissensformen, die als unwürdig dem Blick entzogen und verschwiegen werden. Europa verschleiert dadurch den eigenen Ort der Aussage ebenso wie alle anderen. Diesen wird die Möglichkeit der Wissensproduktion schlicht abgesprochen, sie haben höchstens die Rolle von Objekten einzunehmen. Etwas vollständiger könnte man also sagen, Europa verbirgt den Ort der eigenen Aussage, andere Orte der Aussage sowie die Aussagen aller anderen Orte. Als vermeintlich monokontinentale Entwicklung kann die Moderne sich selbst ohne Bezug auf die nicht-europäischen Regionen beschreiben. Amerika oder die Westindischen Inseln tauchen dann, für Dussel wie Mignolo fälschlicherweise, im Diskurs der Entstehungsgeschichte der Moderne kaum auf. So ist die Moderne eine dreiköpfige Hydra, die allerdings nur ihr verlockendes Gesicht der Errettung und des Fortschritts zeige und die Existenz des kolonialen Diskurses, der dekolonialen Empörung und dekolonialen Widerstandes in einer »Verbergung des kolo-
3 Hegel, G. W. F.: Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, 134. 4 Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, 506. 5 Dussel, Enrique: »Pour un dialogue mondial entre traditions philosophiques«, in: Cahiers des Amériques latines, no. 62 (2009), 111–127, 126.
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nialen Seins« verschweige. 6 Die Kolonialität ist der blinde Fleck der europäischen Perspektiven. Dussels von einem anderen Ort ausgehender Gegendiskurs möchte eben diese eurozentristischen und okzidentalistischen Verbergungen aufzeigen und ausleuchten, was damit beginnt, die lokale Verankerung, den locus enuntiationis, der vorherrschenden Narrative zu berücksichtigen. Um den Sinn der Moderne und unserer Aktualität zu erfassen, bedürfe es dann einer neuen Historiographie, einer kritischen Gegenerzählung um die Sicht auf Ereignisse weltweiter Bedeutung, v. a. auf den eigentlichen Beginn der modernen Zeiten im Jahre 1492, freigeben zu können. Dazu muss der Blick auf die Moderne seine europäische Fixierung aufgeben und eine andere Perspektive wählen. Der eigentliche, jedoch verdeckte Prozess der Moderne entfaltet sich mit der Eroberung Westindiens, der Errichtung des Kolonialsystems und der Entstehung von den Atlantik überquerenden Handel und Raub. Auch die moderne Philosophie findet in diesen Ereignissen ihren Rahmen. Deshalb steht Ginés de Sepúlveda paradigmatisch für das Denken der Neuen Zeit, wenn er die moderne Subjektivität im Kontext der Conquista in philosophische Gedanken fasst: Das ursprüngliche ego der modernen Philosophie formiert sich als ego conquirro, als ich erobere, das sich erstmals in der Eroberung des Aztekenreiches durch Hernán Cortés zeigt. Hieran knüpft die vermeintlich vorraussetzungs- und geschichtslose Selbstgewissheit des späteren Cartesianischen Ichs an. Descartes’ ego wird dem erobernden nachfolgen, es verabsolutieren und ihm ein ontologisches Fundament errichten: Ein unbedingtes ego konstituiert den Anderen als sein cogitatum. 7 Die Verbergung des Aussageortes wird gar zur epistemologischen Norm, wenn in der vor allem von Santiago CastroGómez untersuchten »Hybris des Nullpunktes« der Ort des Betrachters nicht gesehen werden kann, will eine Aussage denn als wissenschaftliche gelten. Obwohl nicht explizit verortet bzw. obwohl explizit nicht verortet, bleibt dieser Beobachtungsstandpunkt unbeweglich und wird von Mignolo in einer vordergründig paradoxen Bestimmung als Verkörperung einer strikt territorialen Epistemologie bestimmt. Vgl. Mignolo, Walter: »El pensamiento decolonial. Deprendimiento y apertura«, in: Enrique Dussel/Eduardo Mendieta/Carmen Bohórquez: El pensamiento filosófico latinoamericano, del Caribe y »latino« [1300–2000], Mexiko: Siglo XXI Editores 2009, 659–672, 660 und E. Dussel: Der Gegendiskurs der Moderne, 95. 7 Vgl. Dussel, Enrique: Filosofía de la cultura y liberación, Mexiko: Uacm 2006, 199 f. 6
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Seine Inthronisierung des europäischen Menschen und die Durchsetzung seines Willens zur Macht rechtfertigt der AristotelesÜbersetzer und -Kommentator Sepúlveda durch den »Mythos der Moderne« 8, eine erneuerte Version der »natürlichen Knechtschaft«, einer essentialisierten und naturalisierten Hierarchie der Regionen und Menschen, derzufolge es durch die Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zu gewissen Kollektivitäten bedingt natürliche Sklaven gäbe. Für Sepúlveda steht die europäische Zivilisation dank eines natürlich höheren Entwicklungsgrades, eines Vorsprungs innerhalb einer linearen und zielgerichteten Geschichte, über den anderen Kulturen und Menschen. Wie später Hegel diagnostiziert er mit Blick auf Amerika eine »Inferiorität dieser Individuen in jeder Hinsicht«. 9 Diese Wertigkeit verpflichte die Träger des Weltgeistes aus humanitären Gründen dazu, den anderen Kulturen den Weg der vernünftigen Entwicklung – der eigenen und einzig möglichen – zu weisen. Widerstand gegenüber dieser Hilfestellung sei rückständigem Denken geschuldet und müsse zum Ziele der Mündigkeit der nicht europäischen Kulturen – nur zu ihrem Besten also – notfalls mit Gewalt gebrochen werden. Ramón Grosfoguel schreibt in drastischen Worten über die in die Gegenwart reichende longue durée der Wirkungsgeschichte dieses Mythos: »In den letzten 513 Jahren des […] Weltsystems sind wir vom ›werde Christ oder ich töte dich‹ im 16. Jahrhundert, zum ›zivilisiere dich oder ich töte dich‹ im 18. und 19. Jahrhundert, zum ›entwickle dich oder ich töte dich‹ im 20. Jahrhundert und […] zum ›demokratisiere dich oder ich töte dich‹ zu Beginn des 21. Jahrhunderts übergegangen.« 10
Vgl. etwa Dussel, Enrique: »Europa, modernidad y eurocentrismo«, in: Edgardo Lander (Hg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales, Buenos Aires: Clasco 2000, 41–53, 49. 9 G. W. F. Hegel: Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, 108. Diese festgestellte »Schwäche« der amerikanischen Ureinwohner hat in Hegels Geschichte gewisse Folgen zu verantworten: »Die Schwäche des amerikanischen Naturells war ein Hauptgrund dazu, die Neger nach Amerika zu bringen, um durch deren Kräfte die Arbeiten verrichten zu lassen.« Ebd., 108 f. 10 Grosfoguel, Ramón: »De Aimé Césaire a los zapatistas«, in: Dussel/Mendieta/Bohórquez, El pensamiento filosófico latinoamericano, del Caribe y »latino« [1300– 2000] (2009), 673–682, 680. Mit Grosfoguel, Castro-Gómez u. a. arbeiteten Dussel und Mignolo in der letzten Dekade in dem Forschungskollektiv Modernidad/Colonialidad zusammen. 8
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Dieser Mythos fordert ortsunabhängige Geltung ein. Zwar wird er eindeutig aus europäischer Perspektive vorgebracht, doch diese verbirgt sich hinter seinem universellen Anspruch. Nicht-europäische Aussageorte sind noch weniger von Belang ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit wegen, die zwar Folklore produziere, aber keine Philosophie. Ein Monopol der Vernunft entledigt Europa davon, sich als Aussageort auszuweisen, und wozu sollten dies andere Orte tun, da sie doch keine ernstzunehmenden Aussagen produzieren. Vorraussetzung hierfür ist eine hierarchische Kategorisierung des Raumes sowie die Konstruktion eines zeitlichen Vorsprungs Europas, die es erlauben, anderen Kulturen ihre Zeitgenossenschaft abzusprechen. Durch ein lineares und finalistisches Geschichtsverständnis ist es zudem möglich, die Möglichkeit anderer Rhythmen und Entwicklungen zu verneinen und ein festes Modell universeller Gültigkeit zu präsentieren. Für die moderne zivilisierende Mission ist dazu eine Klassifizierung und Reklassifizierung der Weltbevölkerung und der Regionen nötig sowie eine hierzu dienliche institutionelle Struktur und eine entsprechende epistemologische Perspektive. Dieses Arrangement der »Kolonialität der Macht« führt auch zu einer »Kolonialität des Wissens und Erkennens«, da auch und gerade diese von einer hierarchischen »kolonialen Differenz« geprägt sind. 11 Wenn nun diese Prozesse nicht von der Moderne getrennt werden können, sondern, wovon Dussel und Mignolo überzeugt sind, vielmehr deren konstitutives Element sind, dann zeigt sich die Moderne nicht als universelles Emanzipationsprojekt mit gelegentlichen Funktionsstörungen und Verirrungen, sondern als lokal verankertes Herrschaftsprojekt, dem es dank der eigenen Macht und erfolgreicher Expansionen gelingt, sich als globales Design zu etablieren. Deshalb verfasste Dussel seinen Gegendiskurs der Moderne als Teil der Philosophie der Befreiung und ruft Mignolo zu Epistemischem Ungehorsam auf. Diese Gegenentwürfe möchten den eigenen Aussageort 11 Vgl. Mignolo, Walter: Local Histories/Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking, Princeton: Princton University Press 20122, 13: »By ›colonial difference‹ I mean […] the classification of the planet in the modern/ colonial imaginary, by enacting coloniality of power, an energy and a machinery to transform differences into values.« Vgl. auch die Begriffslandschaft der deskolonialen Perspektive in: Quintero, Pablo/Garbe, Sebastian (Hg.): Kolonialität der Macht, Münster: Unrast 2013, 46 und Quijano, Aníbal: »Colonialidad y modernidad-racionalidad«, in: Bonilla, Heraclio (Hg.): Los conquistados. 1492 y la población indígena de las Américas, Bogotá: Tercer Mundo 1992, 437–447, hier 438 ff.
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nicht verhehlen und sollen von einem anderen Ort als dem der europäischen Moderneerzählung aus vorgebracht werden, damit die Kolonialität als Schattenseite der Moderne ebenso in den Blick komme wie ihre Gegenstimmen und letztlich eine Überschreitung des Komplexes Kolonialität/Modernität möglich werde.
Von Außen denken Der Diskurs der Befreiungsphilosophie bewahrt eine grundlegende Äußerlichkeit, er stammt aus dem Außen des Systems, wie Dussel bereits 1977 schreibt: »Vom Nicht-Sein her, vom Nichts, vom Anderen, von der Exteriorität, vom Geheimnis des Nicht-Seins her, entsteht unser Denken. Es ist deshalb eine ›barbarische Philosophie‹.« 12 In diesem Sinne verschiebt Dussel die von Emmanuel Levinas übernommene Kategorie der Exteriorität – ein Schlüsselbegriff der Befreiungsphilosophie –, indem er sie radikalisiert, der Alterität die Absolutheit, nicht die metaphysische Bedeutung, nimmt und ihr konkrete Diesseitigkeit verleiht. Somit soll sie gleichzeitig den ontologischen Abschluss als zwangsläufig tautologische Legitimation des Status Quo vermeiden und als diesseitige den Kontakt mit praktischen sozialen und politischen Fragen nicht verlieren. Als metaphysische Exteriorität überschreitet sie den Horizont eines Systems, schließt jedoch nicht jede Partizipation von innerhalb des Systems aus. Vielmehr ist sie als innere Transzendentalität der Totalität den systematischen Erstarrungen, Verkrustungen und Ausschlüssen vorgängige Lebendigkeit: nacktes Leben und nackte, lebendige Arbeit. 13 Die lebendige Arbeit der Marx’schen Grundrisse (1857/1858) überschreitet als Quell allen Wertes die Kapitalbeziehung ebenso wie sie als Figur des Paupers im System als absolute Armut ausgeschlossen wird. Von dieser vorgängigen, zeitgenössischen und künftigen Exteriorität der lebendigen Arbeit und des Lebens her können Herrschaft und Ausbeutung angegriffen werden, und so ist »das menschliche Leben […] folglich der ontologische Ausgangspunkt von Marx und von einer Politik der Befreiung.« 14 Die Exteriorität als Ort dessen, was also Dussel, Enrique: Philosophie der Befreiung, Hamburg: Argument 1989, 28. Vgl. ebd., 62 und Dussel, Enrique: La Production théorique de Marx. Un commentaire des Grundrisse, Paris: L’Harmatton 2009, 303. 14 Dussel, Enrique: Diálogo con John Holloway, 2004, www.afyl.org/holloway.pdf, 4. 12 13
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nicht völlig in die Totalität des Systems subsumiert werden kann, gilt so dem Sein des Systems zwar als Nichts, entbehrt deshalb aber nicht jeder Realität. So kann man leicht paradox sagen, Dussels Exteriorität ziele auf eine utopische Verortung 15, insofern eben das explizit Ausgangspunkt sein soll, was im modernen/kolonialen Weltsystem keinen Platz findet bzw. von einem kolonialen Schleier des Nichtwissens verdeckt wird. Zwar ist diese Exteriorität auch Ergebnis von Ein- und Ausschlüssen bzw. ein »konzeptionelles Außen, das von der Rhetorik [und den Praktiken] der Moderne selbst geschaffen wurde« 16, doch gleichzeitig ist das, was ausgeschlossen wird, dem Ausschluss durchaus vorgängig. Es gibt keine Lohnarbeit, gäbe es keine nackte oder lebendige Arbeit. 17 Bei der nicht absoluten Exteriorität handelt es sich in der Gegenwart jedoch nicht um eine »von der Moderne unberührte Reinheit, sondern um eine Exteriorität, die als Differenz und Dissens zum hegemonialen Diskurs gedacht wird.« 18 So sind der marginalisierte Süden und seine Kulturen geopolitisch durchaus Instanzen der Exteriorität, doch letztlich muss auch dort differenziert werden, da die Kolonialität (post)koloniale Gesellschaften durchdringt. Exteriorität ist dann die Verortung derer, die im Inneren von Gesellschaften die negativen Effekte eines »internen Kolonialismus« erleiden und von diesem zum Nichts erklärt werden, von der Kolonialität der Macht zu Unterdrückten, Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen gemacht werden. Dussel möchte seinen locus enuntiationis folglich an diesen ausrichten und sieht sein Projekt der Herrschaftsüberwindung in seiner Gedankenfigur der Analektik an eine Affirmation der Exteriorität gebunden, die den Lebenswillen, die »Freiheit und Andersheit« 19 bejaht, bevor die Negativität des Systems negiert wird und Auch Antonio Negri und Michael Hardt wählen diesen Ausgangspunkt: »Zur Grundlage dieser Kritik nehmen wir, wie auch Marx es tat, den Begriff und das praktische Wissen der lebendigen Arbeit, die, beständig unterjocht, sich doch beständig befreit.« Negri, Antonio/Hardt, Michael: Die Arbeit des Dionysos, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, 9. 15 Vgl. Schelkshorn, Hans: »Befreiungsphilosophie/Befreiungsethik«, in: Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, Bd. II, Hamburg: Meiner 2010, 223–228, 226. 16 Mignolo, Walter: Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien: Turia + Kant 2012, 92 f. 17 Vgl. E. Dussel: La Production théorique de Marx, 302–306. 18 Kastner, Jens/Waibel, Tom: »Einleitung: Dekoloniale Optionen«, in: W. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, 15. 19 H. Schelkshorn: »Befreiungsphilosophie«, 226.
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alternative Projekte konstruiert werden. Mit dem Horizont eines bloßen Rollentauschs wäre strukturell nichts gewonnen. Die gleichbleibende Dialektik der Herrschaft sei nicht zu verlängern, sondern zu zerstören. Die Befreiungsphilosophie verortet ihren eigenen Standpunkt somit nicht nur geographisch, sondern ebenso sozial und ethisch, und nimmt in Anlehnung an die Befreiungstheologie einen subalternen Standpunkt »von unten« ein. Dies geschieht erneut unter dem Einfluss von Levinas’ Ethik und deren Verpflichtung, eine Perspektive einzunehmen, die den Forderungen der Witwe, der Waise und des Fremden Rechnung trägt, die Dussel zur Interpellation »Ich habe Hunger!« verdichtet. Damit richtet sich das Denken als ethisches auch auf Körper, deren Empfindsamkeit und Begehren, allerdings auf verortete, konkrete Körper, auf eine Vielzahl an Erfahrungen. Wie im Fall der geographischen Verortung wird somit die Philosophie an die Materialität des Daseins gebunden. Dussel betont jedoch, dass sich sein Standpunkt von dem Levinas’ oder auch der ersten Generation der Frankfurter Schule und deren Materialismus unterscheide. Sein Augenmerk gelte zunächst den bisher in der Philosophie übersehenen außereuropäischen Körpern, deren koloniale Zurichtung über die moderne Vernunft sicherlich nicht weniger verrate als die Einschließungsmilieus bei Foucault. So schreibt er in den Kölner Vorlesungen: »Die ›Philosophie der Befreiung‹ ging vom locus enuntiationis des materialen Opfers aus, von der negativen Wirkung des Autoritarismus, des Kapitalismus und des ›Machismus‹, allerdings – und hier tut sich bis in die Gegenwart eine abgrundtiefe Differenz [zur Frankfurter Schule und zu Levinas] auf […] – aus dem Blickwinkel der materialen Negativität des Kolonialismus, der Negativität eines Phänomens, das dem metropolitanen Kapitalismus, der Moderne und dem Eurozentrismus korrelativ ist.« 20
Obwohl Levinas zwar einerseits bekannte, von der Rezeption durch die Befreiungsphilosophie sehr geehrt zu sein, stieß er sich andererseits besonders an deren Verortungsbemühungen, da er, alarmiert durch Heideggers Reterritorialisierung am deutschen Volk, kaum etwas für gefährlicher hielt als die »Geister des Orts« 21. Doch bei allen E. Dussel: Der Gegendiskurs der Moderne, 102 f. Levinas, Emmanuel: Heidegger, Gagarin und wir, in: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a. Main: Jüdischer Verlag 1992, 173–176, 176.
20 21
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Unterschieden bleibt auch Dussel dieser Besorgnis verpflichtet, richten sich seine Verortungen doch gerade gegen einen Abschluss von Orten in sich, gegen einen exklusiven Einschluss des Denkens an einem bestimmten Ort und gegen die Hierarchisierung von Orten und Abstammungen zur Legitimierung von Gewalt und Herrschaft. Zwar werden Widerstand und Befreiungsprojekte geographisch und sozial lokalisiert, dies jedoch als Exteriorität, die sich eben dadurch auszeichnet, nicht als starre Totalität bestimmt werden zu können, da sie im Gegensatz diese immer wieder dazu zwingt, sich zu öffnen. System und Exteriorität sind sich äußerlich, ohne dass gegenseitiges Eindringen und jeweiliges Verwandeln ausgeschlossen wären. Befreiungsprojekte können sich als neue Totalitäten zu Herrschaftsprojekten verhärten und das System kann aus der Exteriorität, von seiner inneren Transzendentalität her, aufgebrochen werden. Im Widerstand gegen die Gegenwart stellen die entsprechenden Interpellationen geltende Werte und Normen in Frage, sie delegitimieren die Gerinnung und Verkrustung vorherrschender Hegemonien. Insofern Dussels Politik stets auf Transformation statt auf Inklusion zielt, nicht formale Chancengleichheit, sondern ein anderes Spiel fordert, kann man sagen, die Exteriorität verändert den Ort, versucht seinen ontologischen Abschluss auf Werdensprozesse hin zu öffnen, ihn an Ort und Stelle in Bewegung zu setzen. Dussels Reterritorialisierung oder Ortung kann vom Impuls der Deterritorialisierung nicht getrennt werden und ist vielleicht gerade in Zeiten der Mobilmachung von größter Aktualität.
Dazwischen denken Auch Walter Mignolo begreift das Denken als ortsspezifisches, als verortbares und als zu verortendes. Statt dadurch Orte als ewige und feste Wesenheiten zu konzipieren, möchte er Denken, Wissen und Philosophie kontextualisieren und damit nicht als Erstbegriffe mittelalterlich-transzendentaler oder ebenso analytisch-moderner Prägung mit gleichermaßen universeller Gültigkeit behandeln. So etwa, wenn die vermeintlich universelle Moderne im expliziten Anschluss an Dussel als eigentlich provinzielles Projekt verstanden wird, das nicht weniger als andere in lokalen Geschichten und Erfahrungen gründet. 22 Er legt 22
Vgl. W. Mignolo: Epistemischer Ungehorsam, 28 und 99.
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Nachdruck darauf, dass Orte und Aussagen in starker Relation zu sehen sind, jedoch nicht in einem deterministischen Kausalzusammenhang: »I am not assuming that only people coming from such and such place could do X. Let me insist that I am not casting the argument in deterministic terms but in the open realm of logical possibilities, of historical circumstances and personal sensibilities. I am suggesting that for those whom colonial legacies are real (i. e., they hurt), that they are more (logically, historically, and emotionally) inclined than others to theorize the past in terms of coloniality.« 23
Auch wenn es um Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten, Sensibilitäten und Optionen geht, soll doch das Denken räumlich (und körperlich) verortet werden, da es nicht mit universellem Wahrheitsanspruch ausgestattet aus reinem Geist emaniert. Die Möglichkeit einen bestimmten perspektivischen locus enuntiationis einzunehmen, wird von materiellen Verortungen, Prägungen und Erfahrungen bedingt. So wie die Kritik an der Moderne anti-cartesianisch ausfällt, so wird auch die Bestimmung von Denk- und Aussagebedingungen in einer expliziten Absetzbewegung zum cogito Descartes’ formuliert, indem sie materiell geerdet werden: »Man ist und fühlt, von wo aus man denkt.« 24 Im weiteren Entwurf einer »Geo- und Körperpolitik des Wissens« wird deutlich, dass dieses »von wo aus« an die Exteriorität als Kriterium für Aussageorte, die die koloniale Verfasstheit von Diskursen und Epistemologien verwirren, wenn nicht überwinden, anschließt. Nicht nur werden Orte und Körper rehabilitiert, sie sollen zudem nicht völlig von der Moderne subsumiert sein: »›I am where I think‹ becomes the starting point, the historical foundation of border thinking and decolonial doing. While ›I think, therefore I am‹ focuses on the ›I think‹ and disregards the ›I am‹, the formula ›I am where I think‹ highlights the ›I‹ – not a ›new‹ universal ›I‹, but an ›I‹ that dwells in the border and has been marked by the colonial wound. […] The local imperial ›I‹ dwells in the territory of truth without parenthesis and absolute knowledge. Local decolonial ›I’s‹ dwell in the frontiers between local non-Western and non-modern memories and the intrusions of modern Western history and knowledge. The ›I’s‹ of the colonial wound, which dwells in the borders, provide the liberating energy from which border thinking emerges, in rebellion, W. Mignolo: Local Histories/Global Designs, 115; vgl. auch Epistemischer Ungehorsam, 198. 24 W. Mignolo: Epistemischer Ungehorsam, 99. 23
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all over the planet, beyond the red carpet of the Spirit’s road from East to West.« 25
Bevorzugter Ort der Aussage ist also die zu bewohnende Grenze, der Ort des border thinking/pensamiento fronterizo. Dies meint die inneren, aber vor allem die äußeren Grenzen des modernen/kolonialen Weltsystems, deren koloniale Differenz den Körpern und Erinnerungen als koloniale Wunde eingeschrieben ist. Gleichzeitig bedeutet die Grenze hier, ebenso wie die Exteriorität, keine völlig eindeutige Unterscheidung von Innen und Außen, sondern entspricht eher einer Logik des Und, aber auch des Weder-noch, des Zwischen-den-Orten, wie es auch Deleuze und Guattari in den Tausend Plateaus vorgebracht haben, selbst wenn sich Mignolo von deren Nomadismus abgrenzt und die Irreduzibilität beider Positionen betont, jedoch mögliche Allianzen bejaht. Das Grenzdenken sowie die ihm zugrunde liegenden Existenzweisen und Subjektivitäten 26 können jedenfalls weder der einen noch der anderen Seite eindeutig und ausschließlich zugeordnet werden, da sie nicht monotopisch sind. Sie stehen mit außermodernen Traditionen ebenso in Kontakt wie – unvermeidlicherweise – auch mit der global exportierten Moderne. Mignolo will damit keinesfalls Grenzen ziehen, um reine Orte in sich abzuschließen oder neue territoriale Epistemologien zu entwerfen. 27 Vielmehr sind die mitunter leidvollen Erfahrungen der Grenze(n), sei(en) sie geographisch, kulturell oder politisch, der Ausgangspunkt um diese selbst infrage zu stellen, zu dekonstruieren und zu überschreiten, was jedoch, für Mignolo, nur von Seiten der Ausgeschlossenen, aus der Exteriorität möglich oder zumindest wahrscheinlich ist, und keinesfalls von der bloßen Negierung ihrer Existenz aus. Das Problem sei es nicht, beide Seiten der Grenze objektiv zu beschreiben, sondern »[t]he problem is to do it from its exteriority.« 28 Die Grenze muss bewohnt bzw. in den locus enuntiationis selbst aufgenommen werden, da sonst die Kolonialität des Erkennens in Form einer zwangsläufig hierarchischen Subjekt-Objekt-Spaltung reproduziert wird.
W. Mignolo: Local Histories/Global Designs, XIV. Vgl. W. Mignolo: »El pensamiento decolonial«, 666. 27 Dies sieht er vielmehr als explizite Gefahr, unabhängig von der Position: »Each of these configurations could be territorial, and dwellers in the territory could fall into defending truth without parenthesis, all over and not just in the non-Western world.« W. Mignolo: Local Histories/Global Designs, XX. 28 Ebd., 18. 25 26
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Statt die Grenze zum Untersuchungsgegenstand zu nehmen, soll sie einen dann gebrochenen Aussageort selbst durchziehen. Die positiven Referenzen Mignolos für solches Grenzdenken sind vielfältig. Unter anderen finden wir hier Gloria Anzaldúa, Édouard Glissant, Abdelkebir Khatibi oder den häufig als Gründungsfigur dekolonialen border thinkings als Entkopplung und Öffnung herangezogenen Gumán Poma de Ayala. 29 Sucht man einen Autor aus dem deutschen Sprachraum, der in dieser Reihe des Grenzdenkens Platz nehmen könnte, so wäre etwa an Raul Zelik zu denken, dessen Textproduktion in Grenzgängen gründet und Europa durchaus auch von außen sieht. Bei Khatibi gestaltet sich das Grenzdenken als »doppelte Kritik« europäischer wie arabischer Traditionen, die hin zu einem »anderen Denken« führen soll. Diese doppelte Kritik, ein entkoppelndes Weder-noch faltet sich somit auf in eine dekoloniale Dekonstruktion der exportierten Zivilisationsprojekte, der »global designs« aus Sicht der »Dritten Welt« und eine Kritik aus derselben Perspektive, die sich auf die Diskurse der arabischen Welt richtet. Eine ähnliche zwiefältige Kritik wie die Kathibis thematisiert auch Dussel, wenn er darüber reflektiert, welche Art interkultureller Dialoge zu einer Überwindung der Moderne beitragen könnten 30 bzw. bereits eine solche seien. Mignolo wiederum sieht auch im Fall des EZLN 31 und seiner »doppelten Übersetzung« von indianischen und marxistischen Traditionen eine solche doppelte Grenzperspektive am Werk. Beide werden vom jeweils anderen verändert, beide bilden, in anderer Begrifflichkeit, einen im Verständnis linearen Fortschritts unmöglichen Werdensblock, in dem marxistische und amerindische Weltsicht sich gegenseitig modifizierend an der permanent überschrittenen Grenze gemeinsam zu etwas anderem werden. Dieser unabgeschlossene Prozess nahm bereits in einer ersten Phase, vor dem Beginn des neozapatistischen Aufstands am Neujahrstag 1994, zehn Jahre in Anspruch, was anschaulich verdeutlicht, inwiefern die AufDer christianisierte Nachfahre präinkaischen Adels Guamán Poma vollendete ca. 1612–1616 seine reich bebilderte Chronik El primer nueva corónica y buen gobierno, die erst 1908 in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen entdeckt wurde. Für eine knappe Darstellung vgl. E. Dussel: Der Gegendiskurs der Moderne, 65–94. Zu seiner Bedeutung vgl. auch Mignolo: »El pensamiento decolonial. Deprendimiento y apertura«, 661 ff. und Epistemischer Ungehorsam, 114. 30 Vgl. ebd., 170–176. 31 EZLN – Ejército Zapatista de Liberación Nacional/Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung. 29
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nahme der Grenze in den Ort der Aussage nicht nur allgemein andere Bedingungen mit sich bringt als eine Untersuchung der Grenze, sondern auch anderen Rhythmen unterliegt und eine nicht zu unterschätzende Dauerhaftigkeit impliziert. Betrachtet man das Gemeinsame der verschiedenen Formen des Grenzdenkens, so zeigt sich eine bestimmte Logik, insofern der Ausgangspunkt stets eine Differenz in sich schließt, sowie eine Konstante der geschichtlichen Verortung: »What all these keywords have in common is their disruption of dichotomies through being themselves a dichotomy. This, in other words, is the key configuration of border thinking: thinking from dichotomous concepts rather than ordering the world in dichotomies. Border thinking […] is, logically, a dichotomous locus of enunciation and, historically, is located at the borders (interiors or exteriors) of the modern/colonial world system.« 32
Das ko-evolutive und »barbarische« Projekt der Transmoderne als Dussels Utopie, quasi in Form eines philosophischen Weltsozialforums, bestimmt sich dieser Logik und dieser Geschichte folgend als vielfältiger Dialog des Grenzdenkens. Dem Anliegen der Befreiungsphilosophie folgend, keinen rein akademischen Diskurs zu erzeugen, sondern in sozialen und politischen Auseinandersetzungen Stellung zu beziehen, muss dieser Dialog »von einem anderen Ort ausgehen als von einem bloßen Dialog zwischen Gelehrten der akademischen oder institutionell herrschenden Welt.« 33 Dies bezieht sich zum einen natürlich auf die geopolitische Situation einzelner Regionen, zum anderen klingt hier eine Aufforderung mit, akademische Diskurse auf ihr Außen hin zu öffnen und nichtuniversitäre Akteure zu berücksichtigen. Auch die inneren Schranken der akademischen Welt können von der Konstruktion von Grenzepistemologien nicht unberührt bleiben, insofern den Disziplinen stets territoriale Epistemologien zugrunde liegen, die den Forschersubjekten einen unbewegten, meist unbeteiligten Standpunkt sichern, von dem aus die Grenze zwar beschreibbar, jedoch kein Aussageort ist. Dass die Inklusion der Grenze als koloniale Differenz in den Ort der Aussage für die europäische Philosophie ein zumindest mit Schwierigkeiten beladenes Unterfangen darstellt, sollte zum einen keinen Vorwand liefern, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was aus dieser Perspektive anderswo gedacht 32 33
W. Mignolo: Local Histories/Global Designs, 85. E. Dussel: Der Gegendiskurs der Moderne, 168.
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Exteriorität und Grenze
und geschrieben wird. Zum anderen gibt es nach den Analysen der Gruppe Moderne/Kolonialität heute mehr Ausgangspunkte denn je für Dussels Dialog und Mignolos pensamiento crítico fronterizo, für Interpellationen aus der Exteriorität und damit für das orts- und erfahrungsgeprägte Unterlaufen von naturalisierten Grenzen und Sesshaftigkeiten, auch wenn dies häufig als rückständiges Denken betrachtet wird, da es auf tatsächlich existierenden Asymmetrien insistiert. Die coloniality at large verfügt neben dem Kolonialismus und dem »internen Kolonialismus« über ein drittes Gesicht, das seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrscht: »[T]he emergence of global colonialism, managed by transnational corporations, erased the distinction that was valid for the early forms of colonialism and the coloniality of power. Yesterday the colonial difference was out there, away from the center. Today it is all over, in the peripheries of the center and in the centers of the periphery.« 34
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34
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Gender and Sexuality. Place/s of Imperialism? Thinking Europe as Post_colonial
The project of thinking Europe as post_colonial 1 and of placing gender and sexuality as constitutive to imperial entanglement is of intricacies. A post_colonial perspective claims that Europe cannot be understood outside its colonial and imperial explorations and expansions. In that sense, Europe acquired a specific prominence when the exchange among continents and people increased significantly, not only encompassing goods and commodities, but also concepts and ideas, all of which might be traced back to the events of 1492. Even though, as a global stakeholder, Europe started to grasp for imperial accumulation, it has always also been internally fragmented. Hence, talking about »Europe« acknowledges its imperial role, but, simultaneously, this contains the danger to misconceiving it as a homogeneous entity, losing sight of its multiple places and meaningful internal differences. Furthermore, the hegemonic role of Europe – ascribed from within and without – and the worldwide entanglement of European powers from the 19th century onwards, makes it difficult to determine a clearly set »outside« as well as an unambiguous »inside« of Europe. 2 Notation of post_colonial with the underline suggested by Jain represents the complex entanglements and historical contingencies that bind the colonial past to the present. Furthermore, the critical epistemology that questions colonial patterns of speaking and thinking in public and in science is emphasized (Jain, »Die Comedyfigur Rajiv Prasad« 175). 2 In fact Stoler and McGranahan explain that the practice of empire and colonization formed and evolved through cross-national comparisons. They underline various inclusive and changing breadths of comparative frames such as how the French were inspired by Russian programs of housing or populating eastern territories, alongside programs established in the Amur Basin on the Chinese frontier. »This dynamic, nonstatic quality demands that we attend less to what empires are than to what they did and do […]. Cross-imperial knowledge acquisition and application […] shares recognition of the portability of practices and ideas, be it in form or in goal, across imperial systems and within them« (Stoler and McGranahan, »Introduction. Refiguring Imperial Terrains« 5–6). 1
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Alongside these geo-epistemic difficulties, the intricacies also encompass temporal aspects. Post_coloniality alludes to relations of power evident as imperial formations – meaning the harbouring of political forms that endure beyond formal exclusions, the legislation against equal opportunity, commensurate dignities and equal rights, 3 the violent imposition of norms, and cultural attributions. By investigating gender and sexuality as being imperial, we scrutinize them from the perspective of post_colonial Europe outlined above, being well aware that their »belonging« to Europe cannot be clearly demarcated. The purpose is to locate markers of imperial rule in the everyday practice and institutionalization of gender and sexuality. Since the age of Enlightenment and throughout colonization, gender order and sexuality discourses 4 have emerged to be key elements in marking off European societies. 5 Indeed, as Ann Laura Stoler convincingly asserts, colonial domination was routinized and rerouted in the policing of sexuality and gender. She explains that such domination did not proceed from mere hegemonic institutions, but that colonial regimes were uneven, imperfect, and even indifferent knowledge-acquiring machines. 6 Although gendered and racialized norms were implemented by the imperial state which eventually turned women, men, and children within the colonies and the home country into subjects of particular kinds that the state sought to control, but they could never completely work out or master. The approach our paper takes of placing gender and sexuality as imperial Said, Orientalism. In the writings by Connell, (Masculinities) the term gender order is well explained as referring to the ways in which societies shape notions of gender through power relations. To speak of gender – masculinities, femininities and other – is to speak about gender relations that are not equivalent to sex but concern the positionings within the gender order. Gender order terms cover social, cultural and historical constructions of gender identities as well as institutionalized relations of power and privilege organized around gender difference and the (re)structuring of the global capitalist economy. Sexuality discourse is very much informed by the writings of Foucault (The History of Sexuality) and delineates ways in which power and (Western) knowledge (in)form sexuality and desire. 5 See for example Hausen, »Die Polarisierung der Geschlechtscharakteren« 162–185 and Voss, »Queer und (Anti-)Kapitalismus« both of which show how the formation of European and Western gender order and the emergence of discourses on sexuality are intricately intervowen with concepts of modernity and capitalist thinking thereby also appropriating black feminist thought and queer critique. 6 Stoler, »Tense and Tender Ties: The Politics of Comparison in North American History and (Post) Colonial Studies« 863–864. 3 4
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and of thinking of Europe as post_colonial enables us to attend to both of these directions of reciprocal imperial effects: a) Colonialism affecting formations of gender and sexuality and b) gender and sexuality politics establishing colonial rule. By considering gender and sexuality through the lens of a post_colonial Europe, we intend to initiate ways of critiquing and transgressing the imperial quality of gender and sexuality. As sites with multiple places, Europe, gender and sexuality have to be de-centred in order to be de-imperialized and de-colonized. This decolonisation must encompass not only European gender orders but critical feminist strands as well. Thus, we would also like to point out to the necessity that gender orders as well as their critique have to be considered to be a constitutive part of European post_colonialism. Critique, as it is, for instance, articulated in manifold ways in feminist thinking, has itself to be critically questioned as to its involvement in post_colonial struggles. Besides anchoring our investigations in post_colonial theory, we have chosen to approach gender and sexuality as imperial place/s from and within the European – predominantly the German-speaking – context. Thereby, critical feminist writings, writings from people of color, and such highlighting German colonialism and strategies of resistance, are essential for revealing linkages between colonialism, racism, gender and sexuality. Before referring to selected works, we would like to suggest analytical distinctions in a rather schematic way in order to structure our thoughts. Therefore, we focus on the process of Othering, which has played a major role in post_colonial discussions since Edward Said’s groundbreaking study Orientalism 7 and in feminist theory since Simone de Beauvoir’s Le deuxième sexe. 8 In our consideration of Othering’s impact on gender and sexuality as imperial, we feel the need to differentiate between Othering as a powerful means of ascription to the Other, and as self-affirmation. Furthermore, there are processes of Othering and self-affirmation lead by colonizing Europe towards the outside as well as the inside of Europe. For considerations of gender and sexuality as imperial place/s, we would like to differentiate four aspects: 1) Oftentimes Othering, considered from a post_colonial perspective, is mainly located to be particularly visible outside Europe. For example, the assumed adequacy of a dichotomous gender order or a division of sex and gender for the 7 8
Said, Orientalism. Beauvoir, Le Deuxième Sexe.
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investigation of sexual relations on a global scale can be particularly well denounced as being rooted in imperialism if scrutinized in a local setting outside geographic Europe. We start by discussing this imperial effect of the appropriation of gender and sexuality by referring to works of Oyèrónk Oyěwùmí and Jacqui Alexander. 2) However, as will be shown in reference to Homi K. Bhabha, Ann Laura Stoler and Meyda Yeğenoğlu, another aspect of imperialism is revealed in the mutuality and interrelation inherent in processes of Othering; that is the establishment of a European, bourgeois middle-class gender order on the grounds of colonialism and colonial encounters – which is exemplary for establishing colonial rule through the regulation of gender and sexuality. 3) We see a further aspect to the investigation of gender and sexuality as imperial in the process of its self-affirmation and 4) a last in processes of Othering within Europe itself. Both these latter aspects are directed towards the inside of Europe and are considered in reference to more recent publications within the German-European context. 9 We are definitely aware of the impossibility of maintaining such a technical and schematic distinction between these four aspects on the empirical level. On the contrary, as our discussion will hopefully reveal, aspects of Othering are multiple and strongly interlinked with the construction of Imperialism. The distinction, thus, has to be understood as hermeneutic – a helpful structuring to our consideration – rather than as a set demarcation. Our project of thinking about Europe as post_colonial and of placing gender and sexuality as imperial aims at making nexuses of power relations tangible in order to attempt undoing them through decolonization. 10 Our paper posits itself 9 See Brunner, Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung; El-Tayeb, European Others; Hostettler and Vögele, Diesseits der imperialen Geschlechterordnung; Purtschert, Lüthi, and Falk, Postkoloniale Schweiz. 10 Undoing refers to the term as set out in groundbreaking works on doing and undoing gender, specifically in Butler’s Undoing Gender as well as Hirschauer’s Das Vergessen des Geschlechts. It points to performativity and aspects of social interaction in order to question inscribed inequality and to think change on institutional and interactional levels. The deconstruction of colonization is best traced in reference to Wilson and Yellow Bird’s For Indigenous Eyes Only and entails the »intelligent, calculated, and active resistance to the forces of colonialism that perpetuate the subjugation and/or exploitation of our minds, bodies, and lands, and it is engaged for the ultimate purpose of overturning the colonial structure and realizing Indigenous liberation« (p. 3).
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as a critique and it simultaneously pursues the question of where critique is rooted and how it can operate. This, we believe, entails the insertion of post_colonial thinking into the disciplinary branch of Gender Studies within the German-speaking context in order for the discipline to retain its critical source.
Gender as a Colonial Technology and Hegemonic Appropriation In her research into Yoruba society, Oyèrónk Oyěwùmí 11 strongly demonstrates that concepts and theoretical approaches available for critical research on gender and sexuality are grounded in Western thought. She argues that the understanding of sex, gender, and gender order reflects Eurocentric Western modernity, and that its critique, which is mainly articulated by Western feminism, thus makes an array of assumptions founded in that understanding. Sex and gender are assumed to be grounded within a binary logic and to be composed of and limited to two genders, homosexuality is posited as unnatural, and women principally as being subordinated to men. This assumed structuring of gender and sexuality – as Oyěwùmí emphasizes – reintroduces imperial power relations if generalised and applied universally. It is thus clearly obvious that the system as well as its critique is located within imperial thought and if it is applied despite this, the establishment of imperial violation is thereby upheld. Oyěwùmí’s work, thereby, refers to a current form of the first aspect of Othering listed above and it denounces the uncritical imposition of imperial European approaches to gender and sexuality on other parts of the world. Even though Oyěwùmí’s refusal of Western concepts is immediately understandable, especially if one is aware that this specific understanding of sex and gender has become dominant within Europe only since the late 18th century, with reference to Jacqui Alexander’s research, 12 we suggest that these findings have to be delved into further. Alexander’s discussion shows, how imperial understandings 11 Oyěwùmí, The Invention of Women: Making an African Sense of Western Gender Discourses. 12 Alexander, »Not Just (any) Body Can Be a Citizen: The Politics of Law, Sexuality and Postcoloniality in Trinidad and Tobago and the Bahamas.«.
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of heteronormativity and hegemonic masculinity were absorbed into local discourses after the official decolonization of the Bahamas and Trinidad & Tobago. During colonisation, the ideal of the bourgeois, middle-class gender order grounded in the Enlightenment has determined the understanding of sexuality in colonized areas and, as a result, has rendered it imperial. Imperial ascriptions and categorizations of different »native« sexualities, which are subordinated to the »white sexuality«, were introduced. 13 Simultaneously, and in order to »civilize«, bourgeois middle-class values were imposed by implementing nuclear family-structures and socializing women as mothers, housewives and conveyers of culture. These ascriptions did not end with decolonisation, but are instead still valid post-independence. Alexander argues that current efforts toward nationalism are shaped by continuities of the imperial discourse grounded in the colonial imaginary formed by the Enlightenment. For instance, she shows that current legally anchored, racializing norms, with the function of national demarcation, criminalize non-procreative sexualities – i. e. lesbian, gay sexualities and prostitution – thus naturalizing heterosexuality. 14 It becomes explicit that sexuality is inherent in gender orders established during imperialism – orders, which have been imposed from colonial Europe into »foreign« societies outside of Europe, and which seem to be persistently influential. The establishment of gender order works as a powerful tool to prove »civilization« and it has been incorporated to enable »indigenous people« to govern their country. Taking such an entanglement and its implications seriously means disallowing a clear and epistemological dissociation between European and non-European concepts. At the same time it shows that a specific gender order was and still is crucial for the colonial project. However, light still needs to be shed on the impact of the colonial setting on imperial workings and on subjects themselves.
European Gender, Sex and Sexuality Order as an Effect of Post_colonialism This leads to our next thread of reflections. Although it is widely argued that the process of implementation of a bourgeois gender or13 14
Ibid. 11. Ibid. 7, 19.
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der in Europe emerged with the establishment of the middle class from within, we argue that it actually has to be read as an interlinked process of ascription between colonies and the home country. We thereby put forward that the colonial encounter is determinant of the gender order within the colonizing society. To clarify our point, we would like to first refer to Homi K. Bhabha and his fashioning of the process of Othering. This allows us to sharpen our understanding of the Self as imperially impregnated before considering Ann Laura Stoler’s illustrative study. The interlinked process of ascription between colonized and colonial Self happens especially on the grounds of contradictions and ambivalence: »[…] colonial mimicry is the desire for a reformed, recognizable Other, as a subject of a difference that is almost the same, but not quite.« 15
The colonized subject has to be alienated in order to justify its incapability and, at the same time it has to be ascribed a potential for learning civilization. Insofar as this is the case there is a double-articulation to be found in »almost the same but not quite«. Colonized subjects, in striving for civilization, end up as mimics. Indeed, Bhabha emphasizes that this double-articulation has developed into one of the most effective strategies for colonial domination. But, at the same time of being a strategy of domination, mimicry implies a blurring of boundaries, inconceivability and elusiveness due to a lacking essence and Self. For our argument we are interested in looking into implications for the Self here. Bhabha explains that by denying the colonized subject’s identity-essence, paradoxically the colonizing identity is constantly in danger: Because the colonizing subject’s identity is incessantly re-affirmed and imposed, the identity-essence of the colonizing subject itself results in an alienation as well. And this is where we would like to enter into the discussion: Investigating the articulation of the Self within the denial of the colonized subject’s identity-essence means acknowledging that understandings of gender, sexuality and gender order within the colonizing society are constitutively linked to ascriptions of these within colonies.
15
Bhabha, »Of Mimicry and Man« 126 (emphasis orig.).
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This argument is put forward more clearly in reference to Ann Laura Stoler’s studies, 16 which, following specific principals of similarity and differentiation, reveal evidence of racial anxieties, producing new European demographics and gendered effects: »[…] class and gender discriminations were transposed into racial distinctions that reverberated in the metropole as they were fortified on colonial ground«. 17 We are interested in two aspects carved out by Stoler: One is the elaboration of how Europeanness is defined through the rejection and distancing of native culture and another is the instatement of a bourgeois sexuality and gender order into the home country, which was established in the colonies. At the turn of the 19th century, the colonizing subject was required to »no longer feel at home« in native society and to have »distanced« himself from any native being in order to be European. 18 European bourgeois discourse was intensely concerned with notions of »degeneracy«. In the home country, middle-class morality, manliness and motherhood were seen as endangered and the socially and physically »unfit«, the poor, the indigent, and the insane, were either to be sterilized or prohibited from marriage. In the colonies it was these very groups among Europeans who were either excluded from entry or locked up while there, and eventually sent home to remain invisible in the colonies. 19 In order to overcome »degeneracy«, especially concerning the debilitating influences in the colonies eventually, a specific diet and meticulous personal hygiene identified as bourgeois, was required of adherents to Europeanness. Abiding to strict conventions of cleanliness and cooking served as a prop to Europeanness and demanded a heightened domesticity of European women. They were to be custodians of family welfare and respectability, and dedicated subordinates to men. 20 These gendered and racialized positionalities were enforced through white European women being considered as prone to weaknesses and depression, and thus predestined for household management and childcare, and finding diversion with »botanical collections and ›good works‹«. 21 As a result, European women who subscribed to white enStoler, Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule. 17 Ibid. 78. 18 Ibid. 99. 19 Ibid. 62–64. 20 Ibid. 61. 21 Ibid. 67. 16
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dogamy were made the custodians of a new morality and the ones who rejected these norms were made to be »›fictive‹« – or non-European white women. 22 The establishment of such gender, sexuality and gender order defined by a bourgeois and imperial discourse in the colonies was simultaneously transported into the home country, setting a clear array of normative expectations. Indeed, Stoler states that in the British home country racial deterioration became very prevalent and was conceived of as a result of the moral turpitude and ignorance of working-class mothers. 23 Alongside cultural competence, family form, clearly confined spaces and activities for women and men, as well as middle-class morality, it was gender and sexuality that became the salient new criteria for marking subjects, nationals, and different kinds of citizens in the nation-state. With reference to Alexander’s and Stoler’s studies, and through Bhabha, we argue that the European bourgeois gender order has been co-established in the colonies and through the endeavours of colonialism. Furthermore and in reference to other studies, we would like to put forward that through the conception itself of Europe as an imperial supremacy, a direct impact on the establishment of a prevalent gender order is achieved: Alongside colonial encounters with a powerful as well as violent implementation of normative categorizations in colonies, gendered and sexualized Otherings perform themselves discursively and on the basis of the imaginary – this dynamic being at work in contexts without formal colonization as well 24. In connection to Edward Said, Meyda Yeğenoğlu 25 forcefully demonstrates discursive Othering by means of orientalising. She takes the essence of the »Orient« as being inherently veiled into focus in order to demonstrate that the same mechanism of concealment paradigmatically applies to »the veiled woman«. 26 The Orient as well as the veiled woman escapes the Western regime of visibility, which is grounded in and has established itself since Enlightenment. However, there is an intrinsic friction to such a veiling: if the essence of the Orient is set as veiled, its essence as being concealed is simultaneously determined and Ibid. 100. Ibid. 99. 24 See also the introduction to Purtschert, Lüthi, and Falk, Postkoloniale Schweiz, which convincingly shows Switzerland to be colonial without colonies. 25 Yegenoglu, Colonial Fantasies. 26 Ibid. 39–65. 22 23
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prompts the desire for unveiling. Thus, Yeğenoğlu brings to the fore the notion that the veiled woman is set as an outwardness by being detached from the Christian-European Self and self-determinacy. 27 Our understanding of Yeğenoğlu’s elaborations read in conjunction with Bhabha, therefore, postulates that the effect of veiling not only is desire, but also menace and danger to the (masculine) European, Christian subject—a subject, which, as a consequence, has to geographically reaffirm itself as European and Christian. This reverberation and mutuality of the constitution of oneself within the Other reveals that the gendered European Self is established on the grounds of orientalism, i. e. within the orientalised Other and through the means of orientalising. As our discussion so far has been able to show, the establishment of European, bourgeois middle-class gender order on the grounds of colonialism and colonial encounters is highly intricate with processes of actual, material implementation and imaginary threads of violence and ambivalence, locality and discourse, and the like.
Self-affirmation and Othering within We would now like to turn to the third and fourth aspects of Othering outlined in the introduction. Considering the third, we would like to inquire as to what extent processes of Othering within Europe have an effect on gender politics as self-affirmation. This is shown by Gabriele Dietze 28 when she problematizes ways in which a dominant discourse in white Western feminism takes up Orientalism in order to affirm liberation and demarcate emancipation. By doing this, she actually precisely relates to the question of the European Self, established on the grounds of Orientalism discussed above in reference to Yeğenoğlu. Dietze identifies a dominant discourse – which she calls »feminist orientalism« – that always casts the oriental patriarchy as the worst version of male dominance. Dietze argues that this discourse helps to establish a contrasting foil to these feminist orientalists’ own emancipatory program. Reference is made to the oriental patriarchy as being exemplary for sexual domination of the female Ibid. 49. Dietze, »Feministischer Orientalismus und Sexualpolitik. Spuren einer unheimlichen Beziehung.«.
27 28
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body and male sex drive. Dietze goes on to describe how the reason and advantage for such a characterization lies in the formulation of a more radical critique towards male dominance in general, in constituting oneself as a member of a civilized society, and in avoiding clashes with elements of patriarchy within ones own quotidian system of family, work, friends, etc. As a result, feminist orientalism implies considerable deferrals: Arguments are formulated as a critique of oriental conditions in order to make simultaneously both Feminism and resistances against Western conditions more socially acceptable. Moreover, by critiquing oriental conditions, feminists and their immediate adversaries within the Western patriarchy can agree on a shared superiority towards the oriental Other – a powerful self-affirmation on the backdrop of an imagined Other resulting in a re-production of imperially established genders and sexualities. Dietze calls this »occidental self-affirmation«. 29 As we have been able to demonstrate clearly above, especially with reference to Bhabha and Yeğenoğlu, this process is marked by ambivalence and contradiction. Gender asymmetries of an imagined Orient and the figuration of the »veiled migrant« as an embodied deficit of emancipation are prone to recall implicitly the incompleteness of the Western subject’s own emancipation. Indeed, it seems that the bigger the void between aspiration and reality, the bigger the need to prove progressiveness in order to assert superiority by a forced rhetoric of emancipation that might accentuate the cultural distance between the majority-population and an allegedly unprogressive population of »migrants«. 30 In multiple ways this created distance towards »migrants«, leads to the fourth and last aspect of gender and sexuality as a place of imperialism: processes of Othering within Europe itself. In her study, Fatima El Tayeb 31 convincingly shows that Europe largely and very convincingly pretends to be untouched by the devastating ideology it has exported all over the world through its being composed by the powerful narrative of Europe as a colorblind continent. This narrative frames the continent as a space free of »race« – and thus free of racism Ibid. 268. See Falk, »Eine postkoloniale Perspektive auf die illegalisierte Immigration in der Schweiz. Über Ausschaffungen, den ›Austausch mit Afrika‹, Alltagsrassismus und die Angst vor der umgekehrten Kolonisierung.« In her research she focuses on the discourse concerning illegal migrants in Switzerland from a post_colonial perspective. 31 El-Tayeb, European Others. 29 30
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– and, as El Tayeb points out, this narrative is not only central to the way Europeans perceive themselves, but it has also gained near-global acceptance. 32 »White Christian« seems to be the smallest common denominator to which debates on European identity are reduced, and anyone not fitting this description remains an eternal newcomer not entitled to the rights of those who truly belong. 33 Thus, European identity is formed along structures which work to constantly externalize and de-familiarize racialized populations – a powerful operation of Othering within, with the effect that racialized populations, although their numbers are substantial and rising fast, are presented to be incompatible with the very nature of Europeanness. Their nonrepresentation is supported by their categorization into ethnic groups and by a focus on processes of migration rather than on the emergence of native minorities, implying that there are only »foreign« migrants in addition to the »native« white population. 34 Patricia Baquero-Torres and Frauke Meyer’s research 35 insightfully shows in which ways such an exclusionary practice on the basis of race intersects with gender and sexuality. By investigating into common sentiments towards women of color in the German context of long-term care, they find that maternal characteristics are said to be inherent to their character and bodily condition. Therefore, their supposedly racial disposition destines them to be in care occupations. Simultaneously, however, these women are thought of as being here temporarily, filling the gap of needed care for elderly people and they definitely are not to be thought of actual mothers contributing to the reproduction of the German society, as this is to be kept white and Christian. Such an ideology of raceless national communities is the process by which racial thinking and its effects on the impossibility of certain genders and sexualities within Europe are made invisible because they are a threat to the continent’s very essence. Thus, this aspect of imperial thought on gender and sexuality is marked by violent impossibility rather than by imperial production.
32
Ibid. xv.
33
Ibid. xxi. Baquero-Torres and Meyer, »Koloniale Muster Geschlechtspezifischer Berufsorientierung. Postkoloniale Anmerkungen.«.
34 35
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Gender and Sexuality. Place/s of Imperialism?
Conclusion With these reflections we hope to have shown both interdependencies: on one hand that gender, sexuality and gender orders necessarily have to be understood as a constitutive part of European post_colonialism and thus as a place of imperialism. And that, on the other hand, thinking Europe as post_colonial and applying a post_colonial perspective is crucial for understanding the formation of gender and sexuality. Our intention for such a critical investigation has been to initiate ways in which the imperial quality of gender and sexuality can be uncovered, critiqued and eventually hopefully transgressed. The analysis of relations of inequalities always relates to the question of critique because critique is strongly linked to the production of knowledge. A critical approach should ideally be directed at positions of power and their multiple forms. The implementation of homogeneity – which imperial thinking on gender and sexuality does in its different aspects – is strongly related to power. A critical positioning has to take these into account but simultaneously reveal components that run against or elude these constellations of power. Thus, Europe should be thought of as a site of multiple places, of multiple types of thinking, which are fragmented and fragmenting; simultaneously acting and operating globally but nevertheless situated within the local; geographically positioned as a post_colonial supremacy coined through the colonial past; colonizing within and without. This is challenging but particularly important, as one has to constantly bear in mind that an analytic critique is subject to reproducing – or concealing – immanent powerful relations. There notably is the challenge of criticizing from within but not reproducing sexuality and gender as imperial. We think that the endeavour of de-imperializing Europe in order to de-colonize is crucial to the success of the project of critique of imperial thinking on gender and sexuality. We, however, note that there seems to be a lack of a framework of references and role models. Imagery and the imaginary available for decolonization predominantly refer to liberation movements and declarations of independence of former colonized areas and people. Can the decolonization of Europe be seized and sparked through referencing these images? Or is there – on the contrary – the need to conceptualize it very differently in order to be able to take into account its powerful, prevailing hegemonic positioning of past and ongoing colonization with333 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Karin Hostettler and Sophie Vögele
out and within? These questions are further complicated as decolonization has to actually target all forms of Othering and patronizing self-affirmation in- and outside Europe. We finally would like to share a brief observation in regard to Gender Studies, a field which in many ways is prone to being a place of imperial thinking: although it is a discipline that shapes thoughts outside of the mainstream, its adherents still run the risk of maintaining such imperial processes. As Gender Studies scholars in the German-speaking context are, as of now, mainly white, there is the need for critical reflections. It is necessary that the multiple existing gender orders of majority and minority groups be considered more in detail and in a wider context. And it seems advisable to revise feminist critique accordingly.
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Takashi Ikeda
Das Zuhause als übersehener Ort des Denkens: Eine feministisch-phänomenologische Perspektive zum Thema I Die Menschen denken und sprechen über ihre Gedanken an verschiedenen Orten der Welt: Im Parlament, im Hörsaal, im Kaffeehaus und auch zu Hause. In Vita activa oder vom tätigen Leben betonte Hannah Arendt, dass die menschliche Lebenssphäre seit dem Beginn der westlichen Tradition in »öffentliche« und »private« Sphäre geteilt ist, wobei Ersteres als der genuine Bereich des moralischen und politischen Denkens oder Sprechens legitimiert wird. 1 In der etwa zweihundertjährigen Geschichte des Feminismus ist der Kritizismus der Dichotomie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen stets ein fundamentales Thema gewesen. 2 Besonders bekannt ist das Motto der zweiten Generation des Feminismus, »das Private ist politisch«, welches problematisiert, dass die Aktivitäten und Arbeiten des Menschen, die zu Hause grundsätzlich von Frauen getätigt werden, in den politischen und auch philosophischen Diskursen nicht wahrgenommen bzw. trivialisiert und als »private Angelegenheiten« de-politisiert werden. Demnach spielt es nicht nur in der feministischen Literatur, sondern auch in der feministischen Bewegung stets eine zentrale Rolle, im Gegensatz zur dominanten Idee, dass Probleme in privaten Beziehungen politisch keine relevante Bedeutung hätten, solche Probleme in Diskursen zu politisieren und sie als Probleme für alle sichtbar werden zu lassen. Zum Thema dieses Vortrages ist dennoch zu beachten, dass der
Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, Piper: München 1967. Siehe Joan B. Landes: Introduction, in dies. (Hg.): Feminism, the Public and the Private. Oxford University Press: Oxford 1998, 1–17. Carole Pateman: »Feminist Critiques of the Public/Private Dichotomy«, in dies.: The Disorder of Women, Stanford 1989, 118–140.
1 2
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Das Zuhause als übersehener Ort des Denkens
Bereich Zuhause im Großteil des feministischen Gedankens fast notwendigerweise als problematisch-negativ beschrieben wird. Dies war sehr deutlich bei der ersten Begegnung der Phänomenologie mit dem Feminismus in der Literatur von Simone de Beauvoir. In Das andere Geschlecht bietet sie eine quasi-phänomenologische Beschreibung der weiblichen Erfahrungen im Haus und vergleicht sie mit der »Sisyphus-Qual«: »Tag für Tag muss abgewaschen, abgesaugt und geflickt werden; doch morgen wird das Geschirr schon wieder benutzt sein, die Möbel staubig und die Wäsche zerrissen. Ständig auf der Stelle tretend, verbraucht sich die Hausfrau. Sie verewigt zwar Gegenwart. Aber sie bringt nichts vor sich. Sie hat nicht den Eindruck, ein positives Gut zu erwerben, sondern endlos gegen das Böse anzukämpfen. Ein Kampf, der sich tagtäglich erneuert.« 3 Beauvoir interpretiert die räumliche Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen aus dem existenzialistischenphänomenologischen Zeitbegriff. Im privaten Haus zu bleiben und sich dort mit dem täglichen Haushalt zu beschäftigen bedeutet, in der »ewigen Gegenwart« eingeschlossen zu sein und keine Möglichkeit zu haben, sich selbst auf die Zukunft hin zu entwerfen. Solange die Freiheit im Selbstentwurf liegt, haben die Frauen, die zu Hause an den endlosen Haushalt gebunden sind, keine Freiheit. Das Zuhause wird als ein Ort vorgestellt, in dem Frauen keine Möglichkeiten zum politischen Denken und freien Handeln gegeben wird und die Frauen niemals ihr Selbst gewinnen können. Für Beauvoir scheint selbstverständlich zu sein, dass das Zuhause-sein möglichst negativ bezeichnet werden solle, um die Frauen dabei zu fördern, sich von der »Sisyphus-Qual« zu befreien. Jedoch kann eine rein negative Einstellung zur privaten Lebensform ein Stolperstein für den Feminismus sein. Denn die Grundidee der betreffenden Dichotomie wird nicht ausgeräumt, sondern eher reproduziert, solange die historischen Erfahrungen von Frauen abgetan und die Aktivitäten, welche als typisch männlich angesehen wurden, idealisiert werden. Andererseits scheint es auch dem Feminismus gefährlich, die als weiblich angesehenen häuslichen Aktivitäten positiv zu bewerten, weil die essentialistische Vorstellung des Haushaltes als weibliche Arbeit dann wieder legitimiert würde. Das Zuhause ist so-
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht – Eine Deutung der Frau, Rowohlt: Hamburg 1951, 125.
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Takashi Ikeda
mit in beiden Diskursen, außerhalb und innerhalb des Feminismus, ein übersehener Ort des Denkens geblieben.
II Trotz dieser allgemeinen Tendenz versuchen einige feministischen Theoretikerinnen, die einseitige Unterschätzung des privaten Lebens zu vermeiden, und positive Bedeutungen des Zuhause-seins im menschlichen Leben, wie etwa die freie Entfaltung der Persönlichkeit, hervorzuheben. 4 Im Rahmen der feministischen Phänomenologie übt Iris Marion Young deutlich Kritik an Beauvoirs Verständnis des Zuhauses. 5 Ihre Kritik basiert auf der präziseren phänomenologischen Analyse vom Sinn des Zuhause-seins, wobei sie von Martin Heideggers Vortrag Bauen Wohnen Denken inspiriert wird, welchen Heidegger im Jahr 1951 bei den Darmstädter Gesprächen des Deutschen Werkbundes mit dem Zweck, den ungenügenden sozialen Wohnungsbau im damaligen West-Deutschland zu kritisieren, gehalten hat. 6 Es ist kein Wunder, dass dieser Vortrag aus feministischer Perspektive besonders bedeutsam scheint, weil er aussagt, dass die Menschen zum Denken wohnen und sie zum Wohnen bauen und sie im erbauten Wohnort wohnen, was ganz gegen die herrschende Idee steht, welche den Wohnort als keinen eigentlichen Ort des Handelns und Denkens ansieht. Ferner weist Heidegger darauf hin, dass der Begriff philologisch gesehen ursprünglich mit dem Sinn der Freiheit verbunden ist. 7 Dies suggeriert die Möglichkeit, den von Beauvoir deutlich ausgedrückten Gedanken, dass das Zuhause-sein das unfreie Leben bedeutet, noch einmal zu überdenken. Für Heidegger ist das Wohnen keine zufällige Tätigkeit unter anderen, sondern die fundamentale Seinsweise des Menschen auf Vgl. etwa Susan Moller Okin: »Gender, the Public and the Private«, in: David Held (Hg.): Political Theory Today, Stanford University Press: Stanford 1991, 67–90; Iris Marion Young: »The Ideal of Impartiality and the Civil Public«, in dies.: Justice and the Politics of Difference, Princeton University Press: Princeton 1990, 96–121. 5 Iris Marion Young: »House and Home – Feminist Variations on a Theme«, in dies.: Intersecting Voices: Dilemmas of Gender, Political Philosophy, and Policy. Princeton University Press: Princeton 1997, 134–164. 6 Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken« (1951), in ders.: Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe Band 7, Vittorio Klostermann: Frankfurt am Main 2000, 146– 164. 7 Martin Heidegger, »Bauen«, 150 f. 4
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Das Zuhause als übersehener Ort des Denkens
der Erde bzw. in der Welt, ohne welche ein Mensch nicht denken, handeln oder überhaupt leben könnte. Bereits in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) vertritt er die Meinung, dass das In-sein des menschlichen In-der-Welt-seins nicht im Sinne des »räumlichen Ineinander« des Vorhandenen, so wie Wasser im Glas, verstanden werden kann. Heidegger zieht Jakob Grimms philologische Deutung heran, dass »in« ursprünglich »von innan-, wohnen, habitare, sich aufhalten stammt«. – »Ich bin« heißt also nach Heidegger »ich wohne, halte mich auf bei … der Welt« 8. Wohnen und Bauen sind keine zwei verschiedenen Tätigkeiten. In Bauen Wohnen Denken schreibt Heidegger »[…] wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, d. h. als die Wohnenden sind« 9 (Hervorh. i. Orig.). Bereits in der Phänomenologie des In-der-Weltseins bzw. des Wohnens in Sein und Zeit wird das Bauen thematisiert. Dies ist dadurch ersichtlich, dass Heidegger bei der Analyse der nächsten Umwelt, so wie bekanntlich in der repetitiven Erwähnung von Hammer und Nagel, stets das Bauen eines Hauses als Beispiel nimmt. In Bauen Wohnen Denken wird es doch offensichtlich, dass das Bauen für Heideggers Philosophie kein zufälliges Thema ist, sondern das Bauen als fundamentale Weltstiftung angesehen wird. Young sagt: »Through building, man establishes a world and his place in the world, according to Heidegger, establishes himself as somebody, with an identity and history.« 10 Young ist trotz der grundsätzlichen Übereinstimmung mit Heideggers Beachtung des Wohnens damit nicht ganz zufrieden. Denn Heidegger erklärt einerseits den Begriff des Wohnens aus seinen zwei Momenten des Bauens und des Schonens, aber seine konkrete Analyse ist andererseits im Bauen zentralisiert, und keine genügende Beachtung wird den menschlichen tagtäglichen Aktivitäten geschenkt, so wie aufräumen, materielle Dinge putzen und schützen, welche nach dem Bauen immer gleich von jemandem übernommen werden müssen. Nach der Auffassung Youngs, »Heidegger nevertheless seems to privilege building [Bauen; T. I.] as the world-founding of an active subject, and I suggest that this privileging is male-biased« 11.
Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927), Elfte Auflage, Max Niemeyer: Tübingen 1967, 54. 9 M. Heidegger, »Bauen«, 150. 10 I. M. Young, »House«, 136. 11 I. M. Young, »House«, 134. 8
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Takashi Ikeda
Youngs Vorhaben ist es also, eine neue Phänomenologie der Haushaltsführung zu vollziehen. Für dieses Vorhaben zeigt Young zunächst auf, inwiefern das Zuhause-sein einen spezifischen Modus unserer persönlichen Identität möglich macht. Erstens ist das Zuhause ein Ort, in welchem ich die materialen Dinge, die zu meinem oder unserem Leben gehören, halte und verwende. Diese Dinge sind meine oder unsere, weil ich oder wir sie ausgewählt oder selbst gemacht haben und sie daher meine Bedürfnisse ausdrücken. Das Zuhause ist keine bloße Summe von Dinge, sondern sie sind in einer Weise angeordnet, welche meine leibliche Gewohnheit und Lebensform unterstützt. Das Zuhause unterscheidet sich deshalb vom Hotelzimmer, weil Letzteres anonym ist. »The home is an extension of and mirror for the living body in its everyday activity. This is the first sense in which home is the materialization of identity« 12. Zweitens ermöglicht diese Materialisation der Identität die Erzählung der persönlichen Geschichte. Materiale Dinge und Räume funktionieren als sinnhafte Spur der vergangenen Ereignisse. Aufgrund dieser Materialisation des Gedächtnisses wird aus einer Erzählung von diesen Dingen gleichzeitig ein Narrativ über eine Person oder eine Gruppe. Eine Beschädigung eines Tisches ist beispielsweise eine Spur eines großen Streites mit meiner Mutter. Der ideelle Wert der Dinge in einem Haus beginnt sich hier von ihrem Handelswert zu unterscheiden. Wenn die Einrichtung meiner Möbel in einem Haus von einem Feuer oder einem Diebstahl zerstört werden würde, wäre ich sehr traurig, weil dies nicht eine bloße Abwesenheit der Dinge, sondern eine Art von Verlust meiner Identität bedeuten würde. 13 Mit so einem Verständnis vom Zuhause behauptet Young, dass die Haushaltsführung (home making) nie auf sinnlose Wiederholung der Hausarbeit (housework), bei der es nicht um menschliche Subjektivität geht, reduzierbar ist, sondern, dass sie im Gegensatz zur Vorstellung Beauvoirs als die menschliche Zeitlichkeit und persönliche Identität unterstützend angesehen werden muss. Durch das Aufräumen zum Beispiel werden bedeutsame Gegenstände vor unvorsichtiger Nachlässigkeit und zufälligem Schaden bewahrt, ähnlich
12 13
I. M. Young, »House«, 150. Vgl. I. M. Young, »House«, 151.
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Das Zuhause als übersehener Ort des Denkens
wie bei historischen Ausstellungsstücken. Mit meinen Kindern beispielweise über diese Gegenständen zu sprechen bedeutet ferner meine oder unsere persönliche Geschichte mit ihnen zu teilen. Das Schützen der Dinge und das Sprechen darüber bietet also den Menschen einen Kontext in ihrem Leben und die Möglichkeit zu einem neuen Selbstentwurf. 14 Das Zuhause-sein ist konstitutiv für die Bildung der menschlichen Identität und den Entwurf des eigenen Selbst. Insofern ist es keine bloße private Angelegenheit, ob sich ein Mensch an einem Ort befinden kann, an welchem er oder sie zu Hause sein kann. Heidegger und Young scheinen darüber einig zu sein, dass die Obdachlosigkeit sozusagen moralisch ungerecht ist. Die Möglichkeit zu Hause sein zu können wird so aus politisch-philosophischer Sicht als ein fundamentales Menschenrecht zu verstehen sein.
III Aus feministischer Perspektive würde solch eine positive Beschreibung des Zuhause-seins dennoch mit großer Skepsis betrachtet werden. Denn es ist die fast festgefahrene Lehrmeinung, dass das Sehnen nach dem Zuhause eine kleinbürgerliche Suche nach der Privilegierung ausdrücke. 15 Aber so eine Auffassung scheint eine spezifisch moderne kapitalistische Konzeption des Zuhauses vorauszusetzen, in welcher das Zuhause auf die Wohnung oder das Einfamilienhaus, also ein Eigentum hinweist, welches in modernen Konzeptionen wiederum als Handelsware besessen und verkauft werden kann und als Maßstab für den sozialen Status gilt. Der springende Punkt der Phänomenologie des Wohnens ist dennoch, einen kritischen Blick auf so eine einseitige Deutung des Zuhauses zu werfen. Der Wert und die historische Bedeutung der Dinge im Haus haben, wie bereits angemerkt, sehr wenig mit dem Warenwert gemeinsam. Ferner weißt Young auch darauf hin, dass das Zuhause als ein Ort für die Materialisation der Identität kein Gegenstand für nostalgisches Sehnen sein kann, weil sich der Akt des Sehnens stets auf einen fernen Ort beVgl. I. M. Young, »House«, 153. Als diejenigen, die diese Auffassung vertreten, können solche Autorinnen wie Biddy Martin, Chandra Mohanty, Teresa de Lauretis und Bonnie Honig angeführt werden. Vgl. I. M. Young, »House«, 135.
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zieht, während sich mein Denken und Sprechen über meine Dinge auf das Hier beziehen. 16 Man kann diese Kritik an Theodor W. Adornos Beschreibung der gegenwärtigen Hauslosigkeit anschließen. 17 In Minima Moralia ist Adorno klar der Auffassung, dass eine Vorstellung des Zuhauses allein als Privilegierung eine kapitalistische Ideologie ist. »Das Haus ist vergangen« schreibt er, in der Zeit, da »man der Verantwortung fürs Wohnen ausweichen will, indem man ins Hotel oder ins möblierte Appartement zieht« und man »gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm macht.« 18 Diese Norm kommt den heutigen Menschen auch im moralischen Aussehen als eine Paradoxie, dass »kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; dass man aber dennoch Eigentum haben muss, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will« 19. Nach der Auffassung Adornos führt die These zur »lieblosen Nichtachtung für die Dinge,« und die Antithese wird eine »Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen.« 20 Diese Paradoxie lässt die Menschen in einen Teufelskreis geraten. Adorno schreibt: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« 21
IV Heidegger, Young und auch Adorno stimmen darin überein, dass es eine philosophische Aufgabe ist, den Begriff des Wohnens aus seiner modernen kleinbürgerlichen Konzeption zu befreien. Aus phänomenologischer und auch historischer Perspektive ist der menschliche Wohnort nicht auf einen geschlossenen und vergegenständlichten Raum zu reduzieren. In Alltagsredewendungen wird der Begriff des Vgl. I. M. Young, »House«, 154. Es kann auch möglich sein, diese Kritik an Heideggers Begriff der Aufenthaltslosigkeit anzuschließen, die in Sein und Zeit als das Charakteristikum des »Man« d. h. der uneigentlichen anonymen Seinsweise des Menschen und auch der Metaphysik des isolierten weltlosen Bewusstseins angeführt wird. Vgl., Heidegger, Sein und Zeit, 173. 18 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1951 (8. Auflage 2012), 42. 19 T. W. Adorno, Minima Moralia, 43. 20 T. W. Adorno, Minima Moralia, 43. 21 T. W. Adorno, Minima Moralia, 43. 16 17
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Das Zuhause als übersehener Ort des Denkens
Wohnens in verschiedener Hinsicht verwendet und auf verschiedene Sphären in unterschiedlichem Maß bezogen. Man sagt z. B. ich wohne in Wien, ich wohne bei meinen Eltern, oder ich wohne um die Ecke. Beim Wohnen handelt es sich um die Art und Weise, sich im Netzwerk der Dinge und der Anderen d. h. in der Welt zu orientieren. Deswegen thematisiert Heidegger in der Analyse des Bauens die Brücke. Die Brücke ist kein bloßer Gegenstand in einem vergegenständlichten Raum, sondern »von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort« 22. Zu meinem Wohnort gehört auch eine Brücke, die zwar nicht mein Eigentum ist, aber meine Wohn- und Lebensstätte in ihrer eigenen Weise erschließt. »Aus dieser Stätte bestimmen sich Plätze und Wege, durch die ein Raum eingeräumt wird.« 23 Nicht nur der Begriff des Wohnens, sondern auch des Zuhauses lässt sich nicht auf den vergegenständlichten Privatraum beschränken. »In many societies ›home‹ refers to the village or square, together with its houses, and dwelling takes place both in and out of door«, schreibt Young und gibt als Beispiel ein Andachtshaus. 24 Es ist nicht zu leugnen, dass der gemeinschaftliche Aspekt des Zuhauses eine gewisse Affinität mit konservativer Vorstellung des traditionellen Lebens in sich birgt, aber sie kann auch Anlass zur freien Organisierung für politische Proteste sein. Die afrikanische Feministin Bell Hooks schreibt: »Historically, African American people believed that the construction of a homeplace, however, fragile and tenuous (the slave hut, the wooden shack), had a radical political dimension. Despite the brutal reality of racial apartheid, of domination, one’s homeplace was the one site where one could freely confront the issue of humanization, where one could resist.« 25
Das Bauen eines Hauses bedeutet hier für Afroamerikanerinnen, einen Ort zu gründen, wo das Denken und Sprechen gegen soziale Unterdrückung und über ihre Freiheit statt-finden kann. Im Japanischen etwa wird der Begriff des Zuhauses im Sinne eines Versammlungsortes verstanden, welcher als Verband von Menschen fungiert, M. Heidegger, »Bauen«, 156. M. Heidegger, »Bauen«, 156. 24 I. M. Young, »House«, 142. 25 Bell Hooks: »Homeplace – A Site of Resistance«, in dies.: Yearning, Race, Gender and Cultural Politics, South End Press: Boston 1990, 42, zit. n. I. M. Young, »House«, 160. 22 23
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Takashi Ikeda
wo sich Gruppen von Menschen jenseits geschlossener Institutionen frei organisieren können. Es handelt sich dabei meist um Gruppen von Minderheiten wie z. B. von Menschen mit Behinderungen, die ihren Versammlungsort etwa »Home for independent living« nennen, wobei der Kampf gegen die Diskriminierung seitens der Gesellschaft und auch gegen das paternalistische Einmischen von Familien und Experten im Zentrum steht. Dem menschlichen Zuhause-sein kommt auch im feministischen Kritizismus der Trivialisierung des privaten Lebens üblicherweise keine politische Relevanz zu. Dieser Beitrag hingegen möchte gezeigt haben, dass das Verständnis des Zuhauses umgekehrt werden muss: Wenn man sich von der spezifisch modernen kapitalistischen Ideologie befreit, wird das Bauen eines Zuhauses und das Wohnen darin als menschliche Tätigkeit begriffen werden, wodurch das autonome Subjekt zum Tragen kommt.
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Christoph Hubatschke
Territorien des Widerstandes. Von Ver-ortung und Ent-grenzung der Demokratie »Denken ist weder ein gespanntes Seil zwischen einem Subjekt und einem Objekt noch eine Revolution, ein Umlauf des einen um das andere. Denken geschieht vielmehr in der Beziehung zu dem Territorium und zu Terra, der Erde.« 1
Prolog Tahrir Platz, Tien’anmen Platz, Taksim Platz und Gezi Park … Wenn wir die Namen dieser Plätze hören, müssen wir meist sofort an politische Ereignisse und Proteste denken. Vor allem in den letzten Jahren haben zahlreiche Soziale Bewegungen 2 öffentlichen Raum besetzt, nicht zuletzt, um die so hochgeschätzte mediale Aufmerksamkeit für ihre Bewegung zu erhalten. Doch, so werde ich hier argumentieren, geht es bei der Besetzung eines Platzes um mehr als bloß Aufmerksamkeit, es geht um die Schaffung eines öffentlichen Raums, eines demokratischen Raums, es geht um die Schaffung eines selbstverwalteten Raums. In der Konstituierung der Bewegungen wird jedoch nicht nur autonomer Raum geschaffen, sondern der Raum selbst übt einen wesentlichen Einfluss auf die Bewegung und ihr Denken des Politischen sowie auf ihre Vorstellung von Demokratie aus, denn Denken, wie eingangs zitiert, geschieht immer in einer Beziehung zu einem Territorium. Das Territorium des Denkens einer anderen Idee von Demokratie ist heutzutage – so meine diesem Text zugrunde liegende These – der besetzte Platz. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, 97. 2 Soziale Bewegungen werden hier und im Folgenden ganz bewusst groß geschrieben. Einerseits soll so eine Abgrenzung zu den ehemals neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 80er-Jahre sichergestellt werden und andererseits soll damit der Bezug zum Sozialen in diesen aktuellen Bewegungen herausgehoben werden. 1
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Christoph Hubatschke
Der besetzte Platz ist mehr als ein bloßer Versammlungsort, er ist Wohnort, Ort der Kommunikation, er ist Identifikationsort der ganzen Bewegung. Es ist ein Ort der politischen Bildung, ein symbolischer Ort des Widerstandes und doch auch ein realer Ort, an dem politische Gegenkultur gelebt und erfahren werden kann und nicht zuletzt ist es ein Ort, von dem aus das Politische neu gedacht werden kann. Zogen die GlobalisierungsgegnerInnen noch nomadisierend von Stadt zu Stadt, quer durch die Welt den Gipfeln der selbsternannten Weltmächte folgend, sind bei den aktuellen Protesten die BesetzerInnen gekommen, um zu bleiben. Festgesetzt in Parks, auf Hauptplätzen und Straßen werden Camps errichtet, wird der Verkehr von Waren und Menschen blockiert und stattdessen wird ein Austausch von Wissen gefördert, eine politische Kultur entwickelt und gelebt und das Politische neu gedacht und definiert. Ich werde nun zunächst in einem ersten Teil hinführende Überlegungen zum Zusammenhang von Raum und Protest anstellen, um darauf aufbauend die Raumphilosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari nachzuzeichnen und die theoretischen Überlegungen dann in einem dritten Teil auf die Gezi-Park Proteste in Istanbul anwenden.
Skizzen einer Kartographie des Protests »Are you ready for a Tahir moment? On Sept. 17, flood into lower Manhattan, set up tents, kitchens, peaceful barricades and occupy Wall Street.« (Adbusters Aufruf)
Es war dieser simple Aufruf des kanadischen kapitalismuskritischen Magazins Adbusters, der unter anderem als einer der Impulse für den Beginn der Occupy Wall Street Bewegung gilt. Bereits in diesem ersten Aufruf zeigt sich die Zentralität des Ortes für diese Bewegung, und zwar nicht nur, weil ein symbolisch höchst aufgeladener Ort wie die Wall Street das Ziel der Besetzung sein soll, sondern auch, weil die Occupy Wall Street Bewegung bereits in ihrem Aufruf direkt mit den ägyptischen Protesten der Arabischen Rebellion verbunden werden soll. Der »Tahir moment« soll dabei nicht nur auf den Aufstand gegen ein totalitäres Regime verweisen, sondern zeigt auch, wie eng dieser Aufstand mit dem Platz, den diese Bewegung über Wochen besetzt hielt, und der bis heute immer wieder Ziel der verschiedenen ägyp346 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Territorien des Widerstandes
tischen Proteste ist, verbunden zu sein scheint. Die Besetzung des öffentlichen Raums 3 ist eines der auffälligsten und prägendsten Merkmale dieses neuen »Bewegungszyklus« 4. »Besetzung« ist dabei in all seiner begrifflich angedeuteten Gewalt zu verstehen, im Ergreifen und Erobern eines Platzes. Wir dürfen daher nicht die problematischen Konnotationen dieses Begriffes übersehen und so muss auch immer kritisch hinterfragt werden, inwiefern ein »besetzter Raum« tatsächlich ein öffentlicher oder offener Raum sein kann und wer ausgeschlossen bleibt, weshalb es umso wichtiger ist, nach der Rolle des Raumes zu fragen. Dabei spielt bei diesen aktuellen Protesten der Raum stets eine unterschiedliche – wenn auch immer sehr zentrale – Rolle und es würde den Rahmen dieser hinführenden Überlegungen sprengen, auf alle unterschiedlichen Verbindungen von Raum und Protest einzugehen. 5 Die Besetzung des öffentlichen Raums, und genau darin liegt auch die Faszination der verschiedensten Bewegungen der letzten Jahre, erobert und be-lebt öffentlichen Raum in seiner doppelten Bedeutung, nämlich als gemeinsamen Lebensraum wie auch als Sphäre der politischen Sichtbarkeit, also als politischen Raum. Die Besetzungsbewegungen, so werde ich in diesem Artikel argumentieren, verändern dabei den Raum, den besetzten Platz selbst, nicht nur physisch, wenn sie ihr Lager aufschlagen und ihre Infrastruktur für wochenlange Besetzungen errichten, sondern vor allem symbolisch werden die Plätze durch diese Bewegungen mit neuer Bedeutung belegt es wird – um mit Lefebvre zu sprechen – sozialer Raum produziert. Deshalb ist es so zentral, die Frage des Raums in die Auseinandersetzung mit den Protestbewegungen miteinzubeziehen. Denn wie Judith Butler in ihrem 2011 gehaltenen Vortrag Bodies in Alliance and the Politics of the Street postuliert, müssen die besetzten Straßen und Plätze essentieller Teil jeder politischen Theorie sein, die mit und im Anschluss an diese Bewegungen formuliert wird.
Man denke hier an Rothschild Boulevard, Israel; Syntagma Platz, Athen; Puerta del Sol, Madrid; Tahir Platz, Kairo; Occupy Wall Street; Gezi Park, usw. 4 Brunnengräber, Achim: »Ein neuer Bewegungszyklus. Von der NGOisierung zur Occupy-Bewegung«, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1 (2012), 42–50. 5 So geht es z. B. um Fragen nach Wohnen, öffentlichen Verkehr, Großbauprojekten, »land grabbing«, Privatisierung von öffentlichem Raum, Besetzung von alternativen Kulturzentren, Ghettoisierung, Obdachlosenverdrängung, Refugee-Camps, Gentrifizierung, usw. 3
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Denn »the square and the street are not only the material supports for action, but they themselves are part of any theory of public and corporeal action that we might propose« 6. Von Ägypten über Madrid bis nach New York und Istanbul haben die Bewegungen stets versucht, den besetzten Platz als öffentlichen Platz, als Agora, als Platz der Begegnung und der Diskussion, aber auch des gemeinsamen Feierns, Essens, Wohnens und Lernens zu etablieren. Es wurde eine eigene kleine Stadt, eine andere Gemeinschaft geformt: Temporär wurden mit allen möglichen Mitteln Küchen, Bibliotheken, Pressestellen, Schlafplätze und natürlich Diskussionsplätze geschaffen – spontane Lager, die unter der ständigen Räumungsgefahr eine prekäre Architektur entwickelten, eine »spezielle Architektur des Widerstandes« 7. Denn über die Demonstrationen, politischen Versammlungen und Diskussionen hinaus ist auf dem besetzten Platz alles direkt politisch. Das gemeinsame Kochen, der gemeinsame Workshop, das gemeinsame Musizieren, ja selbst das Schlafen auf dem besetzten Platz ist ein politischer Akt. Das Zeltlager am besetzten Platz ist nicht nur der Rückzugs-, Regenerations- und Vorbereitungsraum, es ist der Platz der Auseinandersetzung selbst. Die Anwesenheit auf dem Platz, das Be-Leben des Platzes ist ein direkter Protest und ein politischer Widerstand. Denn alles vom Workshop über die Küche hin zur Musik und dem Schlafen dient dazu, den Platz weiter zu besetzten, nicht freizugeben. Die Infrastruktur des besetzten Platzes genauso wie die Körper der Protestierenden sind nicht nur der ständigen Beobachtung und polizeilichen Kontrolle ausgesetzt, sondern sie sind – doppelt prekär – auch in andauernder Gefahr verletzt zu werden. Schnell können die protestierenden, gesellschaftlich Ausgeschlossenen zu polizeilich Eingeschlossenen werden. Es ist diese Prekarität der Situation, diese Ausgesetztheit, die sich auch in der politischen Artikulation der Bewegungen wiederfindet, die das Selbstverständnis der Bewegungen mitbestimmt. Der Raum spielt also schon seit jeher eine entscheidende Rolle in politischen Kämpfen und Auseinandersetzungen; nicht erst im aktuellen Protestzyklus ist der Raum, der besetzte Platz, der Kampf um
Butler, Judith: »Bodies in Alliance and the Politics of the Street«, in: eipcp (2011), 1. Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge: Occupy. Räume des Protests, Bielefeld: transcript 2012, 56.
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die Straße so zentral. 8 Der festgelegte und gesetzlich geregelte Raum wird umfunktioniert, besetzt und bewohnt; 1968 wie heute auch ist diese Entfremdung der Gebäude und Straßen auf vielfache Weise eine widerständige. »Indem sie eine zeitlang die Verbote vergaß und das Unbewohnte bewohnte, hat die Bevölkerung einen ersten Ehebruch gegen die räumliche Einpassung begangen, die sie einsperrt und isoliert.« 9 Seit jeher also ist das zu beobachten, was bei den aktuellen Protestbewegungen offensichtlich wird. Die bloße Verweigerung der üblichen Verhaltensweise im öffentlichen Raum, die Verweigerung der Bewegung – zu der wir in den modernen Metropolen und ihren sich ständig bewegenden Menschenströmen und in neoliberalen Gesellschaften mit ihrem Diktum der ständigen Mobilität gezwungen werden – die Verweigerung RepräsentantInnen zu wählen und klare Forderungen zu formulieren, ist Widerstand. In einer sich so schnell bewegenden Welt kann die intensivste Widerstandsbewegung die Verweigerung der Bewegung, die Immobilität sein; nicht um politischen Stillstand zu fordern – sondern ganz im Gegenteil – um Bewegung in das zu bringen, was Virilio den »rasenden Stillstand« 10 unserer Zeit nennt. »Occupation is, in addition to its spacial connotations, an art of duration and endurance, manifesting the paradoxical synthesis of social movement and mobilization with immobility, the refusal to move.« 11
Von gekerbten und glatten Räumen Dem zu Beginn eingeworfenen Zitat von Deleuze und Guattari folgend, wonach Denken immer in der Beziehung zu einer Erde, zu einem Territorium geschieht, erscheint es mir notwendig, die Beschaffenheit des Ortes, dieses Territorium des Denkens des Politischen näher zu bestimmen. Im Zentrum der deleuzo-guattarischen Raumphilosophie steht die Unterscheidung von »glatten« und »geVgl. Lefebvre, Henri: Die Revolution der Städte, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2014. 9 Virilio, Paul: Fahren, fahren, fahren …, Berlin: Merve 1978, 67. 10 Virilio, Paul: Rasender Stillstand, München: Carl Hanser Verlag 1992. 11 Mitchell, W. J. T.: »Image, Space, Revolution. The Arts of Occupation«, in: Harcourt/Mitchell/Taussig: Occupy. Three Inquiries in Disobedience, Chicago: Univ. of Chicago Press 2013, 93–130, 105. 8
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kerbten« Räumen. 12 Während der gekerbte Raum durch Zäune, Straßen, Mauern und Häuser begrenzt ist, ist der glatte Raum ein offener Raum (Deleuze und Guattari führen hier die Wüste oder das Meer als klassische Beispiele an) auf dem lediglich »Merkmale« (z. B. Oasen) existieren. Ein Raum ist jedoch nicht von sich aus glatt oder gekerbt, im Fokus liegt die Interaktion mit dem Raum. 13 Der Sesshafte benötigt einen gekerbten Raum, ja kerbt den Raum selbst ein, indem er diesen in Besitz nimmt und diesen geschlossenen Raum unter den Menschen ungerecht verteilt. Der Nomade 14 hingegen »verteilt die Menschen (oder Tiere) in einem offenen Raum, der nicht definiert und nicht kommunizierend ist« 15. Während also der Sesshafte den Raum definiert, eingrenzt und parzelliert, verteilt sich der Nomade selbst im Raum, ohne diesen in Besitz zu nehmen. Die nomadische Verteilung des Raumes ist eine »Verteilung ohne Aufteilung in Anteile« 16; der Nomade ist folglich nicht nur – in Rancières Terminologie gedacht – ein »Anteilloser«, sondern er verweigert sich überhaupt einer Besitzaufteilung des Raumes. Der Nomade will den Raum nicht besitzen, vielmehr – so formulieren es Deleuze und Guattari – »besetzt« er den glatten Raum. »Der Nomade verteilt sich in einem glatten Raum, er besetzt, bewohnt und hält diesen Raum, und darin besteht sein territoriales Prinzip.« 17 Es ist also nicht die Bewegung, die den Nomaden charakterisiert, sondern vielmehr seine Verweigerung den Raum einzukerben, den Raum in Besitz zu nehmen und stattdessen den glatten Raum zu erhalten. »Sie sind Nomaden, weil sie sich nicht bewegen, weil sie nicht umherwandern, weil sie einen glatten Raum halten, den sie nicht verlassen wollen und den sie nur verlassen, um zu erobern und zu sterben.« 18 Nomaden sind hier also nicht als Migrierende zu verstehen, sie befinden sich nicht in einer Bewegung von einem Punkt zu einem anderen; der Nomade reist »an Ort und Stelle«, er ist von einer absoluten Bewegung ergriffen, einer 12 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin: Merve 1992, 522–534, sowie 657–693. 13 »[M]an kann eingekerbt in Wüsten, Steppen oder Meeren wohnen; man kann sogar geglättet in Städten wohnen, ein Stadt-Nomade sein«. Ebd. 668. 14 Der Nomade (wie auch der Sesshafte) ist für Deleuze und Guattari eine reine Denkfigur, verweist nicht auf reale NomadInnen und wird daher – Deleuze und Guattari folgend – von mir ebenfalls nur in der männlichen Form verwendet. 15 Ebd., 523. 16 Ebd., 523. 17 Ebd., 524. 18 Ebd., 668.
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– wie Deleuze und Guattari es nennen – Geschwindigkeit. 19 Nicht der Nomade bewegt sich, sondern die absolute Bewegung, die intensive Geschwindigkeit versetzt den Raum selbst in Bewegung, ver-wüstet den Raum um den Nomaden. Für Deleuze und Guattari ist der Nomade gegen den Staat gerichtet, schließlich entsteht der Staat überhaupt erst durch die Eingrenzung und Kontrolle des Raumes. Den glatten Raum zu kontrollieren heißt also zuvorderst, seine Bedeutung zu fixieren und seine Offenheit zu schließen. Dabei betonen Deleuze und Guattari jedoch stets, dass es weder reine glatte noch reine gekerbte Räume gibt, sondern immer nur verschiedenste Mischformen; so postulieren sie, dass der glatte Raum an sich kein revolutionäres Ziel darstellt 20, ja vielmehr schafft der Kapitalismus selbst glatte Räume. Deleuze und Guattari sprechen dabei von einer »retroaktiven Glättung« 21, man denke hier z. B. an Slums und Ghettos. Die Unterscheidung von glatten und gekerbten Räumen wird noch diffiziler im Zeitalter der von Deleuze postulierten Kontrollgesellschaften. In dem Text Postskriptum über die Kontrollgesellschaften beschreibt Deleuze den Einfluss von Neoliberalismus wie auch von modernen Kommunikations- und Informationstechnologien auf unsere Gesellschaft. In dieser seiner Analyse sind wir alle zu »Dividuen« 22 geworden. Reduziert auf statistisch auswertbare Datensätze werden wir von Staaten wie von Unternehmen kategorisiert und berechnet, um uns individualisierte Werbung zu schicken oder auch um uns als vermeintliche Terroristen zu entlarven. Anders als in den Disziplinargesellschaften, in denen die Einkerbung des Raums durch Zäune und Mauern notwendig ist, scheinen in den Kontrollgesellschaften immer mehr globalisierte glatte Räume zu entstehen. Nicht mehr die Ausbeutung durch Festsetzung in Fabriken oder Gefängnissen, sondern die Erzeugung von Mehrwert durch kontrollier»Eine Bewegung kann sehr schnell sein, aber trotzdem ist sie keine Geschwindigkeit; eine Geschwindigkeit kann sehr langsam oder sogar immobil sein, trotzdem bleibt sie Geschwindigkeit. Bewegung ist extensiv und Geschwindigkeit intensiv.« Ebd., 524. 20 Vgl. ebd., 534. 21 Ebd., 667. 22 »Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.« Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders.: Unterhandlungen. 1972–1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, 254– 262, 258. 19
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te Bewegung, durch den ständig fließenden Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Personen scheint in den Kontrollgesellschaften im Vordergrund zu stehen. »In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgendetwas fertig wird.« 23 Warum Leute einsperren, wenn jeder Schritt, den sie machen, überwacht werden kann? Elektronische Fußfesseln statt Gefängnis, Flexibilität und permanente Weiterbildung statt Fixanstellung und Sozialversicherung. Zumindest im sogenannten »Westen« scheinen die Kontrollgesellschaften immer umfassender und vorherrschender zu werden und doch darf keinesfalls übersehen werden, dass die Elemente der Disziplinargesellschaften nicht einfach verschwinden. In den USA sind de facto mehr Menschen inhaftiert als jemals zuvor und in Europa werden immer mehr Lager gebaut, um AsylwerberInnen festzusetzen, bevor sie von privatisierten Sicherheitsunternehmen abgeschoben werden. In der Tat scheinen vielerorts die computerisierten Instrumente der Kontrollgesellschaften mit den alten Methoden der Disziplinargesellschaften eine beunruhigend effektive Synthese eingegangen zu sein. Der Neoliberalismus scheint folglich Räume zu schaffen, in denen Menschen nicht mehr sesshaft werden dürfen, in denen Menschen nur solange verweilen dürfen wie unbedingt notwendig und wirtschaftlich rentabel. Es herrscht keine Bewegungsfreiheit, sondern vielmehr herrscht, wie Paul Virilio in seinem Standardwerk Geschwindigkeit und Politik postulierte, der »Zwang zur Mobilität« 24. Doch Deleuze sieht trotz oder gerade angesichts dieser Entwicklung keinen Platz für Pessimismus, vielmehr, so versichert er uns in dem Postskriptum, eröffnen die neuen Technologien trotz Überwachung und Kontrolle auch neue Möglichkeiten des Widerstandes. »Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.« 25 Denn die retroaktive Glättung des Neoliberalismus eröffnet eben auch neue Territorien des Widerstandes, die ergriffen und besetzt werden müssen. »Und ganz bestimmt sind glatte Räume nicht von sich aus befreiend. Aber in ihnen verändert und verschiebt sich der Kampf, und in ihnen macht das Leben erneut seine Einsätze, trifft es auf neue Hindernisse, 23 24 25
Ebd., 257. Virilio, Paul: Geschwindigkeit und Politik, Berlin: Merve 1980, 40. Deleuze: Postskriptum, 256.
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erfindet es neue Haltungen, verändert es die Widersacher. Man sollte niemals glauben, dass ein glatter Raum genügt, um uns zu retten.« 26
Resistanbul Ich möchte nun die bisherigen Überlegungen an den Protesten rund um den Gezi-Park in Istanbul exemplifizieren. Im Mai 2013 begann die türkische Regierung mit dem Abriss des Gezi Parks, eines zentral gelegenen Parks nahe des symbolträchtigen Taksim Platzes. Als eine kleine Gruppe von ParkschützerInnen von den örtlichen Polizeikräften mit übermäßiger Brutalität angegriffen wurde, begannen sich mehr und mehr Leute mit den Protesten zur Erhaltung des Parks zu solidarisieren. Wenige Tage später waren bereits Millionen Menschen auf der Straße und in allen größeren Städten der Türkei wurden Plätze und Parks besetzt. Der erfolgreiche Kampf um den kleinen Park wurde immer mehr zum Symbol für den Kampf gegen ein autokratisches Regime. Von Tag zu Tag erhöhten die Polizeikräfte die Repressionen und versuchten mit Wasserwerfern, Gummigeschoßen und vor allem mit Unmengen von Tränengas die Besetzungen und die Proteste aufzulösen, die sogenannte Ordnung wiederherzustellen. Nichtsdestotrotz werden noch heute, über ein Jahr später, regelmäßige Proteste und Plena an zahllosen Orten in der ganzen Türkei abgehalten. Die Bewegungen und Proteste entwickeln sich auch heute noch ständig auf vielfältige Art und Weise weiter; dabei ist besonders spannend, wie Elemente der »westlichen« Bewegungen mit Elementen der Arabischen Rebellion verknüpft werden. Hier soll es nun aber um die Rolle des besetzten Raums bei #direngezi, so die aus Twitter übernommene Selbstbezeichnung, gehen. In den Tausend Plateaus schreiben Deleuze und Guattari: »Selbst die am stärksten eingekerbte Stadt läßt glatte Räume entstehen« 27. Doch im Zeitalter der neoliberalen Kontrollgesellschaften ist genau an Städten wie Istanbul, die sich aufgrund eines enormen Wirtschaftswachstums in einer gravierenden Transformation zu einer globalen Megacity befinden, zu beobachten, dass diese Städte zunehmend mehr geglättet werden. Der Abriss des Gezi Parks reiht sich in Istanbul in eine ganze Reihe von enormen Stadterneuerungs26 27
Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, 693. Ebd.
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projekten ein; Projekte, denen nicht nur Parks, sondern auch kulturell symbolträchtige Gebäude und sogar ganze Wohnblöcke und Stadtteile zum Opfer fallen. 28 Istanbul wird also retroaktiv geglättet, um das permanente Fließen des Verkehrs von Waren, Dienstleistungen und Personen zu fördern. In diesem Sinne könnte man meinen, dass die Besetzung des Parks ein Versuch ist, gekerbte Räume in einer immer glatter werdenden Stadt zu erzeugen; Plätze auf denen man, wenn auch nur in Zelten und für eine kurze Zeit, sesshaft werden kann, bevor man wieder zu ständiger kontrollierter Bewegung gezwungen wird. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Denn obwohl sich diese »Right to the City«-Bewegung, wie wir sie in Anlehnung an Henri Lefebvre und David Harvey 29 nennen können, gegen die retroaktive Glättung der Stadt, gegen die Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums wenden und für den Erhalt des öffentlichen Raums eintreten, kämpfen sie nicht für einen gekerbten Raum. Mit der Besetzung der Plätze, Straßen und Parks werden die Protestierenden zu Nomaden im deleuzianischen Sinne und glätten die Räume mehr, als es irgendeine neoliberale Regierung jemals könnte. Denn der glatte Raum der Proteste, der besetzte Platz ist kein kontrollierter Raum, kein »kommunizierender« Raum; in diesem Raum wird nicht die extensive Bewegung verstärkt, vielmehr werden die Protestierenden von einer intensiven Geschwindigkeit ergriffen. Die Protestierenden verweigern sich den Regeln der Regierung, denn sie verhalten sich nicht wie sie es gesagt bekommen. Die Protestierenden sind keine PassantInnen, keine KonsumentInnen, stattdessen verweigern sie sich überhaupt der Bewegung, besetzten die Straße, bilden Barrikaden, übernachten in Zelten oder bleiben einfach nur stehen. Man denke hier an die in Istanbul populär gewordene Protestform des »Standing man«, wo hunderte Protestierende für mehrere Stunden einfach stehen bleiben, ohne zu reden, ohne Forderung, in intensiver immobiler Geschwindigkeit verharrend als stehende Nomaden. 30 Man kann sich hier an Melvilles berühmten Schreiber Bartleby erinnert fühlen, denn auch der Standing Man »möchte sich lieber
Vgl. Ekümenopolis: City Without Limits (TUR 2012, R: Imre Azem). Vgl. Lefebvre, Henri: Writings on Cities, Oxford: Blackwell 1996, 147–159; sowie Harvey, David: Rebel Cities, London: Verso 2012, 3 ff. 30 Man kann hier auch an das ikonographisch gewordene Bild des einzelnen stehenden Mannes vor den heranrückenden Panzern nahe des Tian’anmen Platzes denken. 28 29
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nicht« (prefers not to) bewegen 31, zieht es also vor zu verweigern – nämlich die ständige Bewegung, den allgegenwärtigen Konsum und die repressiven polizeilichen Ordnungen. Stillstand als Protest in einer Gesellschaft, die andauernde Flexibilität und Mobilität propagiert. Die Sozialen Bewegungen besetzten die Plätze ohne sie direkt in Besitz zu nehmen, sie teilen den Raum nicht unter sich auf, sondern verteilen sich selbst im besetzten Raum. Der besetzte Ort ist nicht abgeschlossen, seine Struktur ist nicht fix; offen für zahlreiche heterogene Protestierende dient der besetzte Platz zwar als Identifikationsort für die gesamte Bewegung, bleibt dabei jedoch genauso heterogen wie die Bewegungen selbst. 32 Denn – so meine These – die offene, heterogene und sich ständig im Wandel befindende SpontanArchitektur des besetzten Platzes beeinflusst die für diese Bewegung so wichtige Diskussionskultur in den Asambleas gleichermaßen wie das Denken. Zwischen banalen Organisationsgesprächen und theoretischen Diskussionen geht es nämlich um wesentlich mehr als bloß darum, Entscheidungen zu treffen und Forderungen zu formulieren. Vielmehr geht es um den Prozess des Diskutierens selbst, ein offenes Gespräch, das selbst die Form des Gesprächs, die Struktur der Versammlung diskutiert und dabei nicht notwendigerweise auf ein Ergebnis der Diskussion fokussiert, sondern oft genug ein »Unvernehmen« 33 – wie es Rancière als zentral für den Moment der Politik beschreibt – erzeugt. Dies wird noch durch den Einsatz sozialer Medien verstärkt, denn trotz der Dauerkommunikation wird nicht so kommuniziert, wie es die Autoritäten verlangen; nicht zuletzt weil kaum konkrete Forderungen formuliert oder Sprecher gewählt werden. 34 Der ständig vor sich hin fließende Strom an Tweets, Blogposts, Vgl. Deleuze, Gilles: Bartleby oder die Formel, Berlin: Merve 1994. Auch für Deleuze und Guattari ist es äußerst wichtig, den glatten Raum eben nicht als homogenen Raum zu verstehen, sondern vielmehr als offen und heterogen, ähnlich einem Patchwork. »Der glatte Raum des Patchworks macht deutlich, dass ›glatt‹ nicht homogen heißt, ganz im Gegenteil: es ist ein amorpher, informeller Raum, der die Op-art vorwegnimmt.« Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, 661. 33 »Unter Unvernehmen wird man einen bestimmten Typus einer Sprechsituation verstehen: jene, bei der einer der Gesprächspartner gleichzeitig vernimmt und auch nicht vernimmt, was der andere sagt. […] Die Fälle des Unvernehmens sind jene, bei denen der Streit darüber, was Sprechen heißt, die Rationalität der Sprechsituation selbst ausmacht.« Rancière, Jacques: Das Unvernehmen, Frankfurt/M: Suhrkamp 2002, 9 f. 34 Dabei soll hier nicht die oft technik-euphorische und naive These propagiert wer31 32
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Fotos, Videos, Plakaten, Graffitis usw. stellt ein kontinuierlich erweitertes und niemals abgeschlossenes, multimediales Archiv der Proteste dar, das in seinen vielfältigen heterogenen Meinungen und Perspektiven die Heterogenität der Sozialen Bewegungen selbst spiegelt. Dieses archivierende Rauschen hilft den Protesten, ihre eigene Geschichte zu schreiben und zu verbreiten, keine stringente und abgeschlossene Geschichte, sondern vielmehr eine rhizomatische Erzählung. Der Einsatz dieser zahlreichen neuen Technologien erweitert und vervielfältigt den je konkret besetzten Ort, transzendiert und transformiert den Platz. 35 Denn Soziale Bewegungen deterritorialisieren die Plätze. Durch den Akt der Besetzung entziehen sie die Orte, wenn auch nur für kurze Zeit, der hegemonialen Ordnung der Stadt; sie versetzen die Plätze selbst in Bewegung, ver-wüsten den Raum um sich und verändern dadurch die Orte selbst. Selbst wenn die Proteste niedergeschlagen wurden und die Bewegungen den Ort schon lange verlassen haben, selbst wenn der »Normalzustand« wiederhergestellt wurde, die Sicherheitskräfte »aufgeräumt« haben und so die Ordnung bis ins Detail, bis zur Straßenverkehrsordnung wieder eingesetzt haben, sind diese ehemals besetzten Plätze nicht mehr dieselben. Denn die Veränderung der Plätze durch diese Proteste ist nicht nur eine materielle, sondern vielmehr eine symbolische. Der besetzte Platz ist eine »Bresche« 36, die in die hegemoniale Ordnung geschlagen wurde, eine Bresche, die nicht so einfach wieder geschlossen werden kann, eine Bresche, die immer wieder aufbrechen kann. »Einige Tage reichten aus, um dem Mythos der Rationalität des vorhandenen
den, dass durch den Einsatz moderner Kommunikationstechnologien hierarchiefreie Kommunikation und Organisation möglich oder gar notwendig sein. Auch wenn sich Hierarchien teilweise verflachen, entstehen neue informelle, zumeist wenig beachtete Hierarchien (z. B. Verwalter der »offiziellen« Twitter und Facebookaccounts, etc.). Vgl. Gerbaudo, Paolo: Tweets and the Streets. Social Media and Contemporary Activism, London: Pluto Press 2012. 35 Dass soziale Medien den Einsatz und die Präsenz von Körpern nicht ersetzen, davon geben sich zahlreiche TheoretikerInnen überzeugt. Wie Judith Butler richtig bemerkt, erfordert auch die Verwendung dieser Technologien körperlichen Einsatz: »What bodies are doing on the street when they are demonstrating, is linked fundamentally to what communication devices and technologies are doing when they ›report‹ on what is happening in the street. These are different actions, but they both require bodily actions.« Butler: Bodies in Alliance, 9. 36 Lefort, Claude: Die Bresche. Essays zum Mai 68, Wien: Turia + Kant 2008.
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Systems und der Legitimität der Machthaber einen Riss zuzufügen. Nur einen Riss? Vielleicht … Aber die Spur dieses Risses wird bleiben, auch nachdem der Schleier neu gewebt worden ist.« 37 Eines der offensichtlichsten Beispiele hierfür ist wohl der Tian’anmen Platz und die brutalen Ereignisse, die mit diesem Platz untrennbar verbunden scheinen. Die Bilder der blutigen Niederschlagung der Proteste am Tian’anmen Platz 1989 in Peking spielen bis heute, über 25 Jahre nach den Ereignissen, eine so gewichtige Rolle, dass sich die chinesische Regierung genötigt fühlt, die ikonisch gewordenen Bilder des Widerstandes zu zensieren. Jedes Jahr aufs Neue versucht die Regierung so den zentralsten Platz Chinas aus der Geschichte, den Karten und der Wahrnehmung zu löschen. Dabei wird gerade im Verschwinden des Platzes aus den Medien, in der abgesperrten Leerstelle mitten in Peking das Widerstandspotential der Bewegung aktualisiert. Auch beim Jahrestag der Gezi-Bewegung wurde der sonst so belebte Taksim-Platz samt dem Gezi-Park großräumig abgesperrt und überwacht. Doch die Besetzung hatte diesen Park bereits verändert. Denn diese Plätze stellen anscheinend durch ihre bloße Existenz, verbunden mit der Möglichkeit stets aufs Neue Ort des Protestes zu werden und damit auch auf vergangene Proteste zu verweisen, eine Gefahr für totalitäre Regime wie für vermeintlich demokratische Regierungen dar, eine Wunde, so scheint es, die stets aufs Neue aufreißen kann. Diese Transformation des besetzten Ortes, dieses »Glatt-Werden« des Platzes kann dabei also nicht vom »Demokratisch-Werden« der Sozialen Bewegungen getrennt werden. So kann man sagen, dass die BesetzerInnen ebenso den glatten Raum schaffen, wie der besetzte Ort diese Proteste miterschafft, parallel zu dem Postulat von Deleuze und Guattari »dass die Nomaden ebenso die Wüste schaffen, wie die Wüste sie geschaffen hat« 38.
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Ebd., 43. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, 525.
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Conclusio »Bildet Rhizome und keine Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nichts aus, sondern nehmt Ableger! Seid weder eins noch multipel, seid Mannigfaltigkeiten! Zieht Linien, setzt nie einen Punkt! Geschwindigkeit macht den Punkt zur Linie! Seid schnell, auch im Stillstand! […] Macht keine Photos oder Zeichnungen, sondern Karten.« 39
Dem als Schizoanalyse titulierten Projekt von Deleuze und Guattari folgend, scheint mir eine Aufgabe der Philosophie zu sein, die Diagramme, die Karten dieser heterogenen und fluiden Räume, dieser flüchtigen und ständig sich neu aktualisierenden Territorien, die Karten also des Protests und der Beschleunigung nachzuzeichnen, um damit und darüber hinaus auch die Diagramme des Denkens des Politischen in diesen Protestbewegungen zumindest ansatzweise zu skizzieren. 40 Dabei sollen und dürfen die verschiedenen Proteste und Bewegungen nicht einfach gleichgesetzt werden, denn jeder Protest, jeder besetzte Platz und jede Proteststrategie hat ihre Besonderheit und muss in ihrer Situiertheit betrachtet werden. Die emanzipativen Bewegungen spiegeln kulturelle Besonderheiten wider und finden in bestimmten kulturellen Gefügen statt. Doch transzendieren sie auch zumeist die kulturellen Gefüge, hinterfragen Identitäten jeder Art. Besonders die aktuellen Bewegungen zeichneten sich dabei durch ihre Solidarität mit zahllosen anderen Bewegungen überall auf der Welt aus. So verwiesen die Gezi-BesetzerInnen oftmals auf die zeitgleich stattfindenen Proteste in Brasilien. Der besetzte Platz wird so zu einem hybriden Raum, auf dem sich der tanzende Derwisch mit Gasmaske gleichermaßen wie die Skypekonferenz mit spanischen Asambleas und unterstützende Banner für Brasilien finden lassen. Ohne die kulturelle Eigenheit zu negieren oder aufzulösen, werden kulturelle, nationale wie auch andere hegemoniale Grenzen zumindest temporär, wenn schon nicht aufgelöst, so zumindest aufgeweicht. So werden neue Perspektiven auf die eigene Kultur geschaffen, wie Fethi Meskini in seinem Text Zur Identität der Revolution, verfasst im ZuEbd., 41. Deleuze und Guattari schreiben dazu, dass die Schizoanalyse nicht das Ziel hat »zu repräsentieren, zu interpretieren oder zu symbolisieren, sondern nur Karten machen und Linien ziehen will« ebd., 309.
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ge der Arabischen Rebellion, schreibt: »Die Revolution ist somit eine Veränderung in der Perspektive auf uns selbst, die stattfand, weil sich das Volk erfolgreich von der identitätsbezogenen Bindung zum Machtapparat löste.« 41 Der besetzte Platz ist ein Ort interkultureller Politik, ein Ort des Denkens des Unbestimmten, eben ein Ort des Denkens und Lebens von Demokratie im radikalsten Sinne, der Bezug auf eine Gemeinsamkeit, die keine totalitäre Einheit ist. Demokratie verstanden als öffnender, das Gegebene In-Frage-Stellender-Prozess, als ein Werden. Verortet am besetzten Platz wird so das Politische geöffnet, das Demokratische ent-grenzt. Diese Form emanzipative Politik zu denken, Demokratie gemeinsam aber nicht vereinheitlicht zu denken, verweist auf das, was Deleuze in einem Vortrag einmal »Nomaden-Denken« genannt hat. »Man weiß genau, dass das revolutionäre Problem heute darin besteht, eine Einheit der punktuellen Kämpfe zu finden, ohne in despotische und bürokratische Organisation der Partei oder des Staatsapparats zurückzufallen: eine Kriegsmaschine, die sich nicht auf einen Staatsapparat bezieht, eine nomadische Einheit mit Bezug zum Außen, die sich nicht auf die innere despotische Einheit beruft.« 42
Vielleicht ist genau diese Art auf und durch den besetzten Platz Politik zu denken und zu machen die neue Waffe, von der Deleuze gesprochen hat. Vielleicht wird hier eine neue Idee von Demokratie gedacht und gleichzeitig auf diesen Territorien des Widerstandes auch gelebt; Territorien, die eben stets über sich selbst hinausweisen, wie der ikonische Spruch der direngezi Bewegung verspricht: »Her Yer Taksim Her Yer Direniş« »Überall ist Taksim, überall ist Widerstand«
Literaturverzeichnis Brunnengräber, Achim: »Ein neuer Bewegungszyklus. Von der NGOisierung zur Occupy-Bewegung«, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1 (2012), 42–50. Butler, Judith: »Bodies in Alliance and the Politics of the Street«, in: eipcp (2011). Meskini, Fethi: »Zur Identität der Revolution«, in: Polylog 28 (2012), 5–25, 6. Deleuze, Gilles: »Nomaden-Denken«, in: ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 366–380, 378. 41 42
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Fabian Steinschaden
Das Denken der Nicht-Orte
1.
Nicht-Orte und οὐ-τόπος
Wenn wir in Philosophie und Sozialwissenschaften von einem NichtOrt hören, denken wir unweigerlich an die Utopie, handelt diese doch auch von einem Nicht-Ort: dem οὐ-τόπος. Utopisches Denken mag sich die zukünftige Existenz dieses οὐτόπος erhoffen oder ihn als Ideal verwenden, dem sich unsere Gesellschaft annähern soll. Oder es betrachtet den οὐ-τόπος als eine Kontrastfolie zu unserer Gegenwart und schafft damit einen Ort, der durch seine imaginäre Existenz etwa gesellschaftliche oder politische Zustände kritisiert. Eine reale, geographisch zu lokalisierende Existenz kann dem οὐ-τόπος in keinem Fall zugesprochen werden. Der οὐ-τόπος ist ein Nicht-Ort, der per Definition nicht existiert. Wenn an dieser Stelle von Nicht-Orten die Rede ist, dann in Anlehnung an Marc Augés Theorie der Nicht-Orte, die in eine gänzlich andere Richtung zielt. Nicht-Orte haben mit Utopien nicht nur nichts gemein, es handelt sich bei ihnen um etwas gänzlich anderes: »Der Nicht-Ort ist das Gegenteil der Utopie; er existiert, und er beherbergt keinerlei organische Gesellschaft.« 1 Es sind Orte mit tendenziell dystopischen Charakterzügen, Orte, von denen aus nur schwerlich tiefgehende (Gesellschafts-)Kritik geübt werden kann und es sind geographisch zu lokalisierende Orte – und schlussendlich Orte, die eine besondere Bedeutung für unsere Gegenwart besitzen.
2.
Marc Augé und die Nicht-Orte
Marc Augé benennt mit dem Begriff Nicht-Ort einen besonderen Typ von Orten, deren Wuchern zusehends zu einem maßgeblichen Merk1
Augé: Nicht-Orte, 111.
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Fabian Steinschaden
mal unserer Gegenwart wird. Nicht-Orte, das sind Bahnhöfe, Flughäfen und Hotelketten, Autobahnen samt ihrer Raststationen, Verkehrsmittel, Einkaufszentren, Supermärkte und Schnellrestaurants, aber auch so unterschiedliche Orte wie Flüchtlingslager oder etwa Vergnügungsparks 2. Und man kann hinzufügen: Kinokomplexe, Fitnesscenter oder Einkaufsstraßen. Was alle diese unterschiedlichen Orte miteinander verbindet, ist ihre Monofunktionalität. Ein Flughafen ist zum Reisen da und nicht zum Flanieren, in einem Schnellrestaurant verweilt man keine zwei Stunden und führt Konversation, sondern geht so schnell, wie das Essen gekommen ist. Man ist kein Gast dieser Nicht-Orte, sondern immer nur Benützer. Nicht-Orte sind Orte, die man für einen bestimmten Zweck benutzt, ohne die Möglichkeit zu haben, von wenigen vorgegebenen Handlungsabläufen abzuweichen. Augés Theorie der Nicht-Orte eignet sich aufgrund seiner scharfen Beobachtungsgabe vortrefflich für eine Philosophie, die sich das Nachdenken über unsere Gegenwart zur Aufgabe macht. Demzufolge soll Augés Konzeption an dieser Stelle auch keiner präzisen Exegese unterworfen, sondern produktiv genutzt werden. Der Aufsatz ist von einer doppelten Frage, die sich in der Doppeldeutigkeit des Titels zeigt, motiviert: Neben einem Versuch, theoretische Klarheit in unsere Erfahrung der Nicht-Orte zu bringen, soll eine Antwort auf die Frage gefunden werden, welche Konsequenzen aus dem Wuchern der Nicht-Orte für unsere Gegenwart und nicht zuletzt unser Denken folgen.
3.
Eine erste Begehung
In Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns begegnen wir mit Hans Schnier, dem Ich-Erzähler, einer Figur, die einen Großteil ihres Lebens an Nicht-Orten verbringt. Hans Schnier ist Clown und Pantomime und sein Leben besteht darin, von Vorstellung zu Vorstellung durch Deutschland zu rasen. Böll präsentiert uns hier einen vereinzelten und melancholischen Menschen, der für die frühen 1960er Jahre bestimmt kein typisches Leben führt. Nichtsdestotrotz zeigt sich in dem Roman auf eine sehr
2
Vgl. Augé: Nicht-Orte, 42 u. 83.
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Das Denken der Nicht-Orte
eindrückliche und prägnante Weise eine Ahnung dessen, was ein Nicht-Ort ist, welche Auswirkungen Nicht-Orte auf unsere Wahrnehmung, unser Verhalten und nicht zuletzt auf unser Denken haben können. Um diese wenig beachteten Stellen wahrzunehmen, sollten wir unsere Aufmerksamkeit weg von Schnier auf den Hintergrund des Buches lenken, auf einige Szenen am Beginn des Buches: »Bahnsteigtreppe runter, Bahnsteigtreppe rauf, Reisetasche abstellen, Fahrkarte aus der Manteltasche nehmen, Reisetasche aufnehmen, Fahrkarte abgeben, zum Zeitungsstand, Abendzeitungen kaufen, nach draußen gehen und ein Taxi heranwinken. Fünf Jahre lang bin ich fast jeden Tag irgendwo abgefahren und irgendwo angekommen, ich ging morgens Bahnhofstreppen rauf und runter und nachmittags Bahnhofstreppen runter und rauf, winkte Taxis heran, suchte in meinen Rocktaschen nach Geld, den Fahrer zu bezahlen, kaufte Abendzeitungen an Kiosken und genoß in einer Ecke meines Bewußtseins die exakt einstudierte Lässigkeit dieser Automatik.« 3
Schniers wichtigste Clown-Nummer stellt die Abfahrt oder Ankunft in einer Stadt dar, wobei der Witz darin besteht, dass die Zuseher im Unklaren darüber gelassen werden, ob er nun ankommt oder ob er abfährt. Diese Lässigkeit der Automatik, die einförmigen und vorhersehbaren Bewegungsabläufe, die dem Verhalten an Nicht-Orten so eigentümlich sind, machen diesen Witz überhaupt erst möglich. Nicht-Orte bringen ihre Besucher dazu, sich einförmig und eindimensional zu verhalten: Gerade, zielstrebige, schnelle Schritte, die Fahrkarte, die Eintrittskarten oder die Kreditkarte bereithaltend, die Zeiger der Uhr stets im Blick. Die Bewegungsabläufe und Verhaltensweisen sind im Grunde immer gleich, egal ob man gerade kommt oder eben geht. Die einförmigen Orte, die er tagein tagaus frequentiert, lassen jegliche Orientierungspunkte vermissen. So beginnt er, die Orientierung verlierend, im Hotel seine Fahrkarten herzuzeigen und im Zug sein Hotelzimmer zu bezahlen 4.
Böll: Ansichten eines Clowns, 7. Böll möchte hier wohl überzeichnen, trifft unsere Gegenwart aber dafür umso genauer. Gegenwärtig berichten Hotelmanager von einer wachsenden Zahl an Hotelgästen, die an der Rezeption nachfragen, in welcher Stadt oder gar in welchem Land sie sich gerade befinden, vgl. Rosa: Beschleunigung und Entfremdung, 124.
3 4
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4.
Augés Konzeption der Nicht-Orte
Was haben Einkaufszentren und Flughäfen, Schnellrestaurants und Autobahnen abseits ihrer Monofunktionalität gemeinsam? Es sind allesamt Orte, die uns vertraut vorkommen, unabhängig davon, ob sie sich in unmittelbarer Nähe unserer Wohnung oder tausende Kilometer entfernt von uns befinden. Sie sind uns niemals fremd, auch wenn wir sie das erste Mal betreten: »In den Nicht-Orten verlieren Orte ihre Einzigartigkeit, ihre spezifischen Besonderheiten« 5. Ein Schnellrestaurant gleicht dem anderen, die Regeln auf Autobahnen sind überall gleich und moderne Flughäfen unterscheiden sich selten in mehr, als in ihrer Größe. Wie kommt es zu diesem Verlust der Einzigartigkeit und der monofunktionalen Ausrichtung der Nicht-Orte? Mit Martina Löw möchte ich Raum als eine relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern, in denen Handlungen und Handlungsabläufen reguliert und geordnet werden, begreifen, wobei räumliche Strukturen immer auch gesellschaftliche Strukturen sind. 6 Nicht-Orte können folglich als eine spezifische (An-)Ordnung des Raumes verstanden werden, die sich durch Geschichts-, Relations- und Identitätslosigkeit definieren. 7 Ihre (An-)Ordnung verhindert, dass neue Beziehungen gestiftet werden, sie tragen keine Erinnerungen und erzählen uns keine Geschichten über ihre Entstehung oder die Vergangenheit. Vielmehr kapseln sie sich von ihrer Umgebung und deren Geschichte ab und verzichten auf jede eigenständige Form und (An-) Ordnung. Dies machen sie aus gutem Grund: Sie sind geschaffen worden, um einen ganz bestimmten Zweck zu erfüllen – und zwar möglichst schnell, effizient und kostengünstig. Dementsprechend ist in ihrer (An-)Ordnung nur Raum für alles dem Ziel dienende. Menschen und Dinge werden so platziert, dass das jeweilige Ziel möglichst rasch und ohne Umwege erreicht wird – handle es sich um Personentransport, Nahrungsaufnahme oder Muskelwachstum. Alles Verlangsamende und Verzögernde wird entfernt, der Raum vollkommen geglättet. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass Nicht-Orte niemals in reiner Form auftreten. Wenn Nicht-Orte so wie jede andere 5 6 7
Ahrens: Grenzen der Enträumlichung, 167. Löw: Raumsoziologie, v. a. 152–172. Augé: Orte und Nicht-Orte, 83.
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(An-)Ordnung von Raum auch ein gesellschaftliches Verhältnis abbilden, dann gibt es immer auch Praxen und Strategien, die Beschleunigung zu verlangsamen oder der Sterilität entgegenzuarbeiten: »Ort und Nicht-Ort sind fliehende Pole; der Ort verschwindet niemals vollständig, und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her.« 8 Die reine Fokussierung auf das Ziel hat zur Folge, dass sich Nicht-Orte von allem, was einem beschleunigten Vorankommen hinderlich sein könnte, entledigen und sich infolge semantisch entleeren. Byung-Chul Han hat darauf hingewiesen, dass diese reine Zielorientierung dem Raum Bedeutung entzieht: »Orientiert man sich ausschließlich am Ziel, so ist das räumliche Intervall bis zum Zielpunkt nur noch ein Hindernis, das möglichst schnell zu überwinden ist. Die reine Zielorientierung nimmt dem Zwischenraum jede Bedeutung. Sie entleert ihn zu einem Korridor, dem jeder Eigenwert fehlt. […] Die reiche Semantik des Weges verschwindet. Der Weg duftet nicht mehr.« 9
Während traditionelle Kulturen ihre – von Augé als anthropologisch bezeichneten – Orte immer als historische Orte verstehen, als Orte, an denen sich die großen Mythen ereignet haben und deren Spuren stets sichtbar sind, versuchen die Orte der klassischen Moderne die Geschichte eines Ortes und seine Traditionen in ihren Aufbau, in ihre Architektur und in die (An-)Ordnung der Dinge und Lebewesen zu integrieren oder in den Hintergrund zu rücken und eine Beziehung zu dieser Geschichte zu wagen. Anders die Nicht-Orte. Diese nehmen auf die Geschichtsträchtigkeit von Orten keine Rücksicht und machen keine Anstalten sich mit bestehenden Semantiken zu verbinden. Wenn die Geschichte nicht überhaupt ausgelöscht wird, wird sie an einen speziellen Ort platziert, an dem »die ›Sehenswürdigkeiten‹ als solche präsentiert werden« 10. Geschichte hat in Nicht-Orten nur mehr als Kuriosität einen Platz. Hartmut Rosa hat darauf hingewiesen, dass es nahezu unmöglich ist, eine »identitätsberührende Beziehung« 11 zu Nicht-Orten aufzubauen, sondern lediglich instrumentelle: Wir betrachten den Nicht-Ort als einen Ort, den wir möglichst schnell durchqueren und an dem wir nicht verweilen wollen. Wir gehen keine Beziehungen ein, die uns verändern, sondern nur solche, Augé: Orte und Nicht-Orte, 83 f. Han: Duft der Zeit, 42. 10 Augé: Orte und Nicht-Orte, 83. 11 Rosa: Umrisse einer Kritischen Theorie der Geschwindigkeit, 306. 8 9
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die uns helfen, voran zu kommen. Im Grund gehen wir überhaupt keine Beziehungen ein, sondern haben bloß Kontakte. Die Geschichtslosigkeit der Nicht-Orte findet ihre Ergänzung in der generellen Abtrennung von Raum und Zeit: Klimaanlagen und getönte Scheiben haben nicht nur den Effekt, dass Nicht-Orte sich von ihrer Umgebung abtrennen, sondern die qualitative Dimension von Zeit selbst unsichtbar machen. Tageszeiten spielen innerhalb der Nicht-Orte eine geringe Rolle, die Temperatur ändert sich nicht mit den Jahreszeiten oder dem Wetter. Der Nicht-Orte nimmt sich selbst aus dem Lauf der Zeit heraus. Die Monofunktionalität der Nicht-Orte hat durchaus ihre Vorteile: Indem sie »das Verhalten in der Öffentlichkeit auf einige wenige, leichtverständliche Handgriffe« 12 reduzieren, bedarf es, um eine Reise von einer Hauptstadt in eine andere bewältigen zu können, keiner mannigfaltigen geographischen, technischen oder sprachlichen Kenntnisse, sondern einfach der Fähigkeit, einigen Schildern am Flughafen zu folgen und dem Taxifahrer verständlich zu machen, in welches Hotel man gebracht werden möchte. Es ist nicht nur das Verhältnis, in dem Individuen zu den NichtOrten stehen, die derart simpel sind, es ist die gesamte Identität des Individuums, die auf einen Aspekt reduziert wird und folglich eine eindimensionale Identität erzeugt: »Der Nicht-Ort befreit den, der ihn betritt, von seinen gewohnten Bestimmungen. Er ist nur noch, was er als Passagier, Kunde oder Autofahrer tut oder lebt.« 13 Mit dem Betreten eines Nicht-Ortes streift das Individuum seine Identität ab und wird zu einem Benutzer. Jeder Passagier gehorcht den gleichen Codes, jeder Autofahrer fährt nach den gleichen Regeln und jeder Schnellrestaurantbesucher isst – metaphorisch gesprochen – im selben Rhythmus. Nicht nur für Eigenheiten oder untypische Verhaltensweisen ist kein Platz, sondern jede über die einfache Ordnung hinausgehende Handlung wirkt unmittelbar störend oder verdächtig. In der Simplizität der Nicht-Orte liegt keine unmittelbare Gefahr. Diese entsteht erst ab dem Zeitpunkt, ab dem immer mehr Orte den Charakter von Nicht-Orten annehmen und ganze Orte und ganze Städte zu einer einzigen Ansammlung von ihnen werden – wenn Nicht-Orte aufhören bloße Zwischenräume zu sein. Denn: Nicht-Orten fehlt »das poetische Potential, Begegnungen zu personifizieren 12 13
Bauman: Flüchtige Moderne, 123. Augé: Orte und Nicht-Orte, 103.
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und zu symbolisieren« 14, sie sind keine Orte des Sozialen, an denen neue Verbindungen entstehen können. Im Gegenteil, Nicht-Orte sind tendenziell Orte der Einsamkeit. Die Reduktion der Individuen auf Benutzer und Kunden und die Vereinfachung des Verhaltens auf einige simple Handgriffe lässt einen öffentlichen Raum entstehen, in dem zivile Umgangsformen keinen Platz haben. Nicht-Orte sind keine Orte der Begegnung und des Austausches, sondern des Aneinander-Vorbeigehens. Da wir Nicht-Orte nur zu einem bestimmten Zweck aufsuchen oder durchqueren, haben wir kein Interesse an den anderen Benutzern und Passagieren. Jede Begegnung verlangsamt unser Vorankommen. Gehen wir nun über die unmittelbare Analyse der Nicht-Orte hinaus und versuchen wir, ihr Wuchern in einen breiteren Blick zu bekommen. Nicht-Orte erfüllen im Wesentlichen eine Funktion: Beschleunigung. Schnelle Fortbewegung dank Autobahnen und Flughäfen, schnelles Essen dank Schnellrestaurants, schnelles Muskelwachstum dank gezielter Übungen im Fitnesscenter.
5.
Beschleunigung und sterile Toleranz
Wenn wir verstehen wollen, wieso es in den letzten Jahrzehnten zu einem Wuchern der Nicht-Orte gekommen ist, müssen wir einen Schritt zurücktreten und das ganze Bild in den Blick nehmen. Das Wuchern der Nicht-Orte ist eingelassen in die – ökonomisch induzierte – Beschleunigung gesellschaftlicher Verhältnisse: Soziale Verhältnisse wandeln sich ebenso öfter und schneller, genauso wie sich das Lebenstempo generell erhöht 15. Nicht-Orte nehmen innerhalb dieses Prozesses eine zentrale Stellung ein: Sie garantieren das rasche und problemlose Vorankommen von Passagieren und Waren, verkürzen Reisezeiten wie Mittagspausen oder Erholungsphasen. Menschen, die einen Großteil ihres Lebens in Nicht-Orten verbringen, neigen Zygmunt Bauman zufolge dazu, sich eine Art sterilen Kosmopolitismus als Weltanschauung anzueignen. Vor allem die globale Elite feiere »die Irrelevanz des Ortes« 16. Wie eine amerikanische Forschergruppe feststellte, lebt und arbeitet die globale Elite 14 15 16
Augé: Orte und Nicht-Orte der Stadt, 19. Vgl. Rosa: Beschleunigung und Entfremdung. Bauman: Gemeinschaften, 70.
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»in ständiger Bewegung zwischen den großen globalen Zentren Tokio, New York, London und Los Angeles. […] Hotels, Fitneßclubs, Restaurants, Büros und Flughäfen sind, wo sie auch hinkommen, praktisch identisch. […] Sicherlich sind sie Kosmopoliten, aber auf eine höchst eingeschränkte und isolierte Weise.« 17 Diese neue Elite lebt in der Exterritorialität der Nicht-Orte, die allen einen Bereich garantiert, in dem sie solitär ihre Interessen verfolgen können, ohne jemals mit wirklich Anderen und Fremden in Berührung kommen zu müssen – und auch wenn Bauman nur von der globalen Elite spricht, kann konstatiert werden, dass dies für breite Teile der Westlichen Bevölkerung gilt. Dieser Kosmopolitismus äußerst sich nicht in einer universellen Idee oder in kultureller Syntheseleistungen, sondern in dem, was Slavoj Žižek als »Toleranz als ideologische Kategorie« 18 bezeichnet hat: Da man im Grunde nur sein eigenes Ziel verfolgt, ist die Begegnung mit einem Fremden eine Sequenz, die keine Spur in einem hinterlässt. Man toleriert den Anderen, hat im Grunde aber kein Interesse an ihm. Und genau das ist das Denken und Verhalten, das von NichtOrten hervorgebracht wird: Solange sich alle an die Regeln halten und ihre Identität darauf reduzieren, Benutzer zu sein, tolerieren wir die Anderen, ohne Interesse für sie aufzubringen. Das Fremde, das, wie Waldenfels bemerkt, »in Gestalt eines Außerordentlichen« auftaucht und »in der jeweiligen Ordnung keinen Platz findet« 19, geht an den Nicht-Orten stillschweigend an uns vorüber und verlangt von uns keine Antwort und löst schon gar keine Veränderung unserer Erfahrungsstruktur aus. Das Fremde, das diese Ordnungen erschüttern kann und ihre Kontingenz offenlegt, das mal obszön oder gewalttätig, mal unverständlich oder verwirrend auftritt, ist an NichtOrten in die Schranken gewiesen. Deswegen ist es auch nur folgerichtig, Nicht-Orte als erfahrungsarme Orte zu bezeichnen, als Orte, an denen uns immer nur das Bekannte begegnet 20. Das Denken, das von Nicht-Orten bestimmt nicht monokausal hervorgebracht wird, aber doch gefördert und gestützt wird, sollte als Gefahr für die Philosophie identifiziert werden. Die sterile Toleranz, die mit einem übersteigerten Individualismus einhergeht, sucht we17 18 19 20
Bauman: Gemeinschaften, 69. Vgl. Žižek: Tolerance as an Ideological Category. Waldenfels: Grundrisse einer Phänomenologie des Fremden, 9. Rosa: Beschleunigung und Entfremdung, 136–140.
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Das Denken der Nicht-Orte
der Kommunikation noch Diskussion und untergräbt damit das, was Philosophie ausmacht: die Kontroverse wie die gemeinschaftliche Arbeit, die emphatische Begegnung wie der Streit. All das hat in NichtOrten keinen Platz.
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Oliver Bruns
Der politische Raum als verborgener Grund metaphysischen Denkens. Zum Verhältnis von Politik und Philosophie nach Hannah Arendt In unterschiedlichen Zusammenhängen stellt Arendt in ihrem Werk eine These auf, deren radikale Konsequenzen für das Verhältnis von Politik und Philosophie und vor allem für das Selbstverständnis philosophischen Denkens bislang zu wenig erörtert wurden. Gemeint ist die von Arendt konstatierte Abhängigkeit des Denkens vom Vorhandensein eines öffentlichen, politischen Raumes. Nachdem in Vita activa oder Vom tätigen Leben der neuzeitliche Entfremdungsprozess von den Grundtätigkeiten Arbeiten, Herstellen und Handeln aufgezeigt wurde, wird am Schluss festgestellt: Das Denken […] hat, so möchte man hoffen, von der neuzeitlichen Entwicklung noch am wenigsten Schaden genommen. Es ist möglich und sicher auch wirklich, wo immer Menschen unter den Bedingungen politischer Freiheit leben. Aber auch nur dort. Denn im Unterschied zu dem, was man sich gemeinhin unter der souveränen Unabhängigkeit der Denker vorstellt, vollzieht sich das Denken keineswegs in einem Wolkenkuckucksheim, und es ist, gerade was politische Bedingungen anlangt, vielleicht so verletzbar wie kaum ein anderes Vermögen. 1
Der politische Raum ist demnach mehr als nur eine äußerliche Bedingung für das Denken. Arendt geht es hier primär nicht um den Rechtsstaat, der die Meinungs- und Gewissensfreiheit schützt – also Rechte, die von einer »Gedankenfreiheit« zeugen mögen. Dies würde kaum erklären, weshalb das Denken im Hinblick auf die politischen Bedingungen verletzbarer als andere Vermögen ist – wie kann Denken überhaupt verletzbar sein? Vielmehr wird behauptet, dass Möglichkeit und Wirklichkeit des Denkens die politische Freiheit der Menschen zur Voraussetzung haben – eine These, die in anderen Schriften zugleich durch eine phänomenologisch-hermeneutische In-
1 Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl., München 2003, S. 414 (Herv. O. B.).
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Der politische Raum als verborgener Grund metaphysischen Denkens
terpretation der abendländischen Geschichte erhärtet wird. Demnach verdankt die philosophische Tradition ihre Entstehung und ihren Bestand, also ihr »Wesen«, einer vorausgehenden Entdeckung des Politischen. Einer Entdeckung, von der die Tradition bis zu ihrem »Ende« (I.) zehrte und die seit jeher Anteil daran hatte, das Denken in die Vielfalt seiner Möglichkeitshorizonte aufgehen zu lassen. Im Folgenden möchte ich erläutern, wie diese von Arendt vorgestellte »Verortung« der abendländischen Philosophie mit ihrem Verständnis des politischen Raums verbunden ist. Infrage steht dabei vor allem, wie der politische Raum umgrenzt ist, zumal die Philosophie nach Arendt epochenübergreifend im Bannkreis des Politischen steht.
I.
Metaphysisches und politisches Denken
Zunächst gilt es, zwei Formen des Denkens zu unterscheiden. Das metaphysische Denken beruht auf philosophischen Grundkategorien – der Differenz von Sein und Nichts, Wirklichkeit und Möglichkeit, Übersinnlichem und sinnlich Wahrnehmbarem sowie Theorie und Praxis – und hat eine diesen Kategorien entsprechende »Metaphysik des Politischen« hervorgebracht, in der Politik als Herrschaft ausgelegt und der Begriff des Politischen verdeckt wird. 2 Anhand der Erläuterung des arendtschen Freiheitsbegriffs (II.) wird deutlicher werden, weshalb das Politische und Herrschaft beziehungsweise Souveränität miteinander unvereinbar sind. Zur Grundlegung dieser Metaphysik – Arendt meint damit die Tradition »politischer« Philosophie 3 von Plato bis Marx 4 – gehört die Abkehr von den die athenische Polis auszeichnenden Erfahrungen politischen Handelns. Der Anfang der abendländischen Philosophie ist der Versuch, dem politischen Selbstverständnis der Polis – das noch am eindrücklichsten den Vgl. Vollrath, Ernst, »Politik und Metaphysik – Zum politischen Denken Hannah Arendts«, in: Adalbert Reif (Hg.), Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, Wien 1979, S. 19–57; Vollrath, Ernst, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, Stuttgart 1977. 3 Die Rede von der »politischen Philosophie« ist eine Contradictio in adjecto. Vgl. Arendt, Hannah, Denktagebuch. 1950–1973, Ursula Ludz/Ingeborg Nordmann (Hg.), München 2002, S. 683. 4 Vgl. Arendt, Hannah, »Tradition und die Neuzeit«, in: Ursula Ludz (Hg.), Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, 2. durchges. Aufl., München 2000, S. 23. 2
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Oliver Bruns
Berichten über die Reden des Perikles zu entnehmen ist 5 – eine, nach Kriterien theoretischen Erkennens 6 hergestellte, »wahre Ordnung« entgegenzustellen. Dies führte jedoch nicht zur Überwindung der Aporien politischen Handelns, sondern – letztlich – zur Abschaffung der Politik durch die totale Herrschaft. Damit soll die politische Philosophie gewiss nicht für das Aufkommen der totalen Herrschaft verantwortlich gemacht werden. 7 Sie erwies sich aber aufgrund ihrer Verhaftung in den metaphysischen Kategorien als unfähig, das Phänomen des Politischen und die Bedingungen politischen Handelns – Natalität und Pluralität 8 – zureichend zu interpretieren. »Auffallend ist der Rangunterschied zwischen den politischen Philosophien und den übrigen Werken bei allen großen Denkern – selbst bei Plato. Die Politik erreicht nie die gleiche Tiefe. Der fehlende Tiefsinn ist ja nichts anderes als der fehlende Sinn für die Tiefe, der in der Politik verankert ist.« 9 Durch die »Negation« 10 konnte die politische Metaphysik dieses Phänomen weder »aufheben« noch sich davon loslösen, vielmehr machte sie es zu ihrem Fundament, gerade weil sich ihr der Sinn für die Tiefe des Politischen entzog. Nachdem Arendt Marx’ Thesen von der »klassenlosen Gesellschaft« und vom »Absterben des Staates« erörtert hat, bemerkt sie: Natürlich enthalten diese Voraussagen Marx’ Ideal von der besten Gesellschaftsform, und als solche sind sie keineswegs utopisch, ohne Ort in Raum und Zeit, vielmehr reproduzieren sie die politischen und sozialen Bedingungen des athenischen Stadt-Staates zur Zeit des Perikles, also jenes politischen Körpers, der Plato und Aristoteles das negative Modell ihrer Erfahrungen abgab und dadurch zum Fundament wurde, auf dem unsere Tradition politischer Philosophie ruht. 11
5 Vgl. Arendt, Hannah, »Kultur und Politik«, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 284–288, 293 f. 6 Bzgl. der Verankerung des Theorie-Praxis-Gegensatzes in der Metaphysik vgl. Vollrath, »Politik und Metaphysik«, S. 21 ff. Zu den Kriterien vgl. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, S. 62 ff. 7 Im Gegenteil, eine solche Ansicht hält Arendt für gefährlich (vgl. bspw. Arendt, »Tradition und die Neuzeit«, S. 36). 8 Vgl. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 213–217. 9 Arendt, Hannah, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, Ursula Ludz (Hg.), München 2003, S. 9. 10 Zur Unterscheidung von metaphysikkritischer »Destruktion« und Negation im Rahmen der Dialektik vgl. Vollrath, »Politik und Metaphysik«, S. 29. 11 Arendt, »Tradition und die Neuzeit«, S. 25 (Herv. O. B.).
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Der politische Raum als verborgener Grund metaphysischen Denkens
Es geht Arendt vorrangig nicht um einen Vergleich von Marx’ Gesellschaftsideal und athenischer Bürgergemeinschaft, sondern darum zu zeigen, dass Marx’ »Grundsätze […] im Rahmen traditioneller Begriffe formuliert [sind], den sie zugleich sprengen.« 12 Marx’ »Umkehrung« des Verhältnisses von Philosophie und Politik markiert zusammen mit den Umkehrungen Kierkegaards auf dem Gebiet des Glaubens und Nietzsches auf dem der Moral das »Ende der Tradition« 13. »Ende« beziehungsweise »bis Marx« bedeutet nicht, dass die Widersprüche der Tradition mittlerweile behoben worden wären und sich die politische Philosophie nach Marx der metaphysischen Grundkategorien automatisch entledigt hätte: Das Ende einer Tradition muß nicht notwendigerweise bedeuten, daß das traditionelle Begriffsgerüst seine Macht über die Gedanken der Menschen verloren hat. Die Macht kann im Gegenteil gerade dann tyrannisch werden, wenn die Tradition ihre lebendige Kraft verloren hat, wenn die Begriffe abgenutzt und die Kategorien platt geworden sind und die Erinnerung an den Anfang ganz und gar verblasst ist. 14
Marx’ politische Philosophie kann folglich nicht durch das Aufzeigen ihrer Widersprüche oder durch die Einnahme einer idealistischen oder liberalen Gegenposition widerlegt werden, sofern mit der Widerlegung auch die Macht des »traditionellen Begriffsgerüsts« gebrochen werden soll. Nur aus der »Erinnerung an den Anfang«, das heißt an das politische Selbstverständnis der Polis und an die auf Parmenides zurückgehende metaphysische Trennung von Sein und Nichts, in der die übrigen metaphysischen Kategorien begründet sind, kann eine zureichende Destruktion der Metaphysik und Freilegung der Bedingungen politischen Handelns erfolgen. Im Gegensatz zum metaphysischen zeichnet sich das politische Denken laut Arendt dadurch aus, dass es sich der Bedingtheit durch den politischen Raum bewusst ist. Dies ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass der Verlust der metaphysischen Tradition als Faktum »unserer politischen Geschichte«, und nicht bloß der Ideen- oder Philosophiegeschichte, wahrgenommen wird. 15 Zu einem solchen Faktum wurde das Ende der Tradition im Ereignis der totalen HerrEbd., S. 31. Vgl. ebd., S. 38 ff. 14 Ebd., S. 34 f. 15 Vgl. Arendt, Hannah, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, Mary McCarthy (Hg.), München 1998, S. 207 (Herv. O. B.). 12 13
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schaft. Arendt nimmt an, »daß das Denken aus Geschehnissen der lebendigen Erfahrung erwächst und an sie als die einzigen Wegweiser, mit deren Hilfe man sich orientiert, gebunden bleiben muß.« 16 Aufgrund dieser auf Ereignisse bezogenen Orientierungsfunktion des Denkens ist politisches Denken nie endgültig erlernbar. Es tritt nicht mit dem Versprechen einer Vollendung, der Erlösung, der Entdeckung letztgültiger Wahrheiten oder Werte, der Überwindung oder einmaligen Wandlung auf. »Wann werden wir von den Erlösern erlöst sein?« 17, fragte Arendt einmal. Politisches Denken versucht den Sinn der Geschehnisse zu verstehen, der durch keine historische Erklärung oder geschichtsphilosophische Theorie vorweggenommen werden kann. 18 Keine noch so erhellende Kritik der Metaphysik kann den Wirklichkeitsverlust wettmachen, dem das Denken ausgesetzt ist, wenn es den Bezug zu den »Geschehnissen der lebendigen Erfahrung« verloren hat. Die Metaphysikkritik muss politisch sein, wenn sie nicht den Grund der Metaphysik im Politischen übersehen will oder dem Irrtum unterliegen möchte, ausschließlich im reinen Denken Wirklichkeit begreifen zu wollen. 19 Das politische Denken seinerseits muss metaphysikkritisch sein, um nicht der Macht des »traditionellen Begriffsgerüsts« zu unterliegen. Die Schwierigkeit, politische Erfahrungen adäquat zur Sprache zu bringen, sie zu verstehen, liegt in der Sache selbst begründet, denn das Phänomen gleicht, wie Arendt schreibt, einer »Fata Morgana«. 20 Die hier angeführte Gegenüberstellung von »politischer« Metaphysik und politischem Denken wirkt in der knappen Darstellung etwas schematisch. Arendt berief sich auf den Ausspruch René Chars »Unserer Erbschaft ist kein Testament vorausgegangen.« und verband damit, dass es uns freisteht, »uns aus den Töpfen der ErfahrunArendt, Hannah, »Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft«, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 18. 17 Arendt, Hannah/Blücher, Heinrich, Briefe. 1936–1968, Lotte Köhler (Hg.), München 1999, S. 477. 18 Vgl. Grunenberg, Antonia: »›Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit‹. Politisches Denken im Zivilisationsbruch bei Hannah Arendt«, in: Bernd Neumann/ Helgard Mahrdt/ Martin Frank (Hg.), ›The Angel of History is looking back‹. Hannah Arendts Werk unter politischem, ästhetischem und historischem Aspekt, Würzburg 2001, S. 21 ff. 19 Vgl. Arendt, Hannah, »Verstehen und Politik«, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 110. 20 Vgl. Arendt, »Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft«, S. 8 f. 16
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gen und Gedanken unserer Vergangenheit zu bedienen.« 21 Für Arendt hatte vor allem die Tradition des Republikanismus, zu der die Theorien Machiavellis, Montesquieus und Tocquevilles sowie Ciceros und die politischen Erfahrungen der Founding Fathers und der Federalists gehören, überragende Bedeutung. 22 Die Luzidität, mit der die Vertreter dieser Tradition auf Fragen politischen Denkens antworteten, durchdrang jedoch nie den Grund der metaphysischen Verwurzelung. Daher kann Arendts Denken auch nicht ohne Weiteres in diese Tradition eingeordnet werden. Die Ambivalenz von Kritik und Wertschätzung der politischen Metaphysik – zum Beispiel Platons, Augustinus’ oder Hobbes’ – ist dem Respekt geschuldet, den Arendt den Philosophen dafür zollte, die Neuartigkeit epochaler Ereignisse gesehen und darauf reagiert zu haben. Ohne deren metaphysische Zugänge wären entscheidende Erfahrungsdimensionen »unserer politischen Geschichte« nicht einmal mehr als verborgener Erfahrungshintergrund bewahrt worden, sondern, wie Worte und Taten, die nicht erinnert werden, dem Nichts anheim gefallen. In diesem Sinne dient auch die »Kritik« an den »Umkehrern« Marx, Kierkegaard und Nietzsche zugleich dem positiven Aufweisen ihrer Versuche, eine neue geschichtliche Situation zu verstehen. 23 Die Blindheit der Metaphysik für ihr Fundament, für die Tiefe des Politischen, erklärt nicht, wie das eingangs erwähnte, alte Vorurteil, dass sich das Philosophieren im Elfenbeinturm abspiele, aufkommen konnte. Dieses Vorurteil verweist aber auf wesentliche Erfahrungen 24, die dem Denken selbst entstammen und die »wichtige Hinweise auf das enthalten, was es mit dieser merkwürdigen außer der Ordnung stehenden Tätigkeit, die da Denken heißt, eigentlich auf sich haben mag.« 25 Aus diesen Erfahrungen entstand auch die Überzeugung von der souveränen Unabhängigkeit der Denker. Um denken zu können, muss jemand sich vom menschlichen Miteinander zuArendt, Hannah, »Fernsehgespräch mit Roger Errera«, in: Ursula Ludz (Hg.), Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, 3. Aufl., München 1998, S. 123. 22 Vgl. Vollrath, Ernst, »Revolution und Konstitution als republikanische Motive bei Hannah Arendt«, in: Bernward Baule (Hg.), Hannah Arendt und die Berliner Republik. Fragen an das vereinigte Deutschland, Berlin 1996, S. 130–150. 23 Vgl. Arendt, »Tradition und die Neuzeit«, S. 38 ff. Dass die Metaphysik für Arendt kein erratischer Block ist, zeigt insbesondere die Auseinandersetzung mit Kant. Vgl. Arendt, Hannah, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, Ronald Beiner (Hg.), München 1998. 24 Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 193–198. 25 Ebd., S. 207. 21
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rückziehen und mit sich allein sein. »Das Denken ist existenziell gesehen, etwas, das man allein tut, aber nicht einsam: allein sein heißt mit sich selbst umgehen; einsam sein heißt allein sein, ohne sich in das Zwei-in-einem aufspalten zu können«. 26 Das Zwiegespräch des Denkenden mit sich selbst 27 kann nur unter der Bedingung geführt werden, dass alle übrigen Tätigkeiten eingestellt werden. Insbesondere bei Sokrates fiel die Gewohnheit auf, plötzlich stehen zu bleiben, sich von den anderen abzuwenden und auf deren Ansprache nicht mehr zu reagieren. 28 In einem Militärlager soll er einmal einen ganzen Tag lang regungslos, in Gedanken versunken dagestanden haben. Da sich das Denken mit rein geistigen Dingen beschäftigt, scheint es von jeder räumlichen oder materiellen Bedingung unabhängig zu sein. Gegenstand des philosophischen Denkens ist das Allgemeine, das Wesen der Dinge, das allem Seienden, von dem es Wesen ist, zugrunde liegt und durch allgemeingültige Aussagen, die überall in der gleichen Weise gelten und anwendbar sind, erfasst werden kann, aber an sich nirgendwo in der Wirklichkeit verortet werden können. »[D]as ›Wesenhafte‹ ist das überall Anwendbare, und dieses ›Überall‹, das dem Denken sein besonderes Gewicht verleiht, ist, räumlich gesprochen, ein ›Nirgends‹.« 29 Daher verlangt das theoretische Leben, wie Aristoteles ausführt, »weder eine Ausrüstung noch bestimmte Orte zur Ausübung […]; wo immer auf Erden jemand sich dem Denken widmet, da wird er die Wahrheit erlangen, als wäre sie dort anwesend.« 30 Arendt führt dazu aus: »Aus der Sicht der alltäglichen Erscheinungswelt ist das Überall des denkenden Ichs – das alles vor sein Angesicht lädt, was es nur will, aus jeder zeitlichen oder räumlichen Entfernung, die der Gedanke ja rascher als mit Lichtgeschwindigkeit durchmißt – ein Nirgends.« 31 Das denkende Ich erfährt sich im Gegensatz zum »Ich der Reflexion« als altersloses Ich – eine Erfahrung, die im Griechischen in dem Wort athanatizein (»unsterblich werden«) festgehalten wurde. 32 Die Unabhängigkeit des Denkens von räumlichen Entfernungen lässt scheinbar nur den Schluss zu, dass die Ebd., S. 184. Vgl. ebd., S. 179–192. 28 Vgl. ebd., S. 193; Platon, »Gastmahl«, in: Otto Apelt (Hg.), Platon. Sämtliche Dialoge, Bd. III, Hamburg 2004, S. 174 f., 220. 29 Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 195. 30 Zit. nach ebd., S. 196. 31 Ebd. 32 Vgl. ebd., S. 137. 26 27
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Frage nach einem Ort des Denkens für das Denken selbst unangemessen ist – insofern dabei an den Raum als Kategorie gedacht wird. Die mit dem Begriff »Transzendenz« (transcendere = überschreiten, übersteigen) artikulierte »Grenzüberschreitung« ist nicht räumlich zu verstehen, vielmehr führt sie in eine Welt, in der es nur ortlose Universalien gibt. »Das Wesen hat keinen Ort.« 33 Es ist daher kaum verwunderlich, dass das Reich der Ideen den Denkern auch die Möglichkeiten bot, Zuflucht vor den Widrigkeiten der realen politischgesellschaftlichen Verhältnisse zu suchen oder gegen diese Verhältnisse unter Berufung auf universell gültige Prinzipien zu Felde zu ziehen. Wenn diese mit der Denktätigkeit verbundenen Erfahrungen ernst genommen werden, ist es also keineswegs selbstverständlich, dass das Denken einen Ort hat und erst recht nicht, dass dieser Ort ein politischer Raum ist. Im Gegenteil, die Ortlosigkeit scheint für das Phänomen des Denkens konstitutiv zu sein, und im politischen Raum, in dem konkrete Sachverhalte verhandelt werden, erwecken philosophische Allgemeinheiten den Eindruck leeren Geredes. Nach Arendt sind mit der Tätigkeit des Denkens bestimmte Grunderfahrungen verbunden: der Rückzug vom menschlichen Miteinander, der innere Dialog und die Einbildungskraft (»sich etwas Abwesendes als abwesend vorstellen« 34). Das Vorurteil von der Philosophie im Elfenbeinturm konnte erst aufkommen, als das Denken selbst »metaphysischen Trugschlüssen« erlag, die den Grunderfahrungen nicht mehr entsprechen, sich dem Denkenden aber beinahe zwangsläufig aufdrängen: die vermeintliche Wesenserkenntnis, die Zwei-Reiche Lehre und die angebliche Unabhängigkeit des Denkens von räumlichen und zeitlichen Bedingungen. Am deutlichsten zeigt sich der Gegensatz von metaphysischer Lehre und einem Denken, das sich in der Grunderfahrung hält, darin, dass letzteres zu keinen endgültigen Ergebnissen – zu keiner Substanzontologie, Erkenntnistheorie, zu keinem Wissen und daher auch keinem Herrschaftswissen – gelangt, weil es alle Resultate wieder destruiert und somit immer wieder an den Anfang des Fragens zurückkehren muss. 35 Paradigmatisch für diese Denkform ist das sokratische Fragen, im Mittelalter Ebd., S. 195. Vollrath, Ernst, »Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens«, in: Reif (Hg.), Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, S. 77. 35 Dieser Denkerfahrung entspricht Sokrates’ Ausspruch »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« (vgl. Arendt, Hannah, »Über den Zusammenhang von Denken und Moral«, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 138 f.). 33 34
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wurde sie in der Praxis der meditatio geübt. 36 Diese Denkform weist gewisse »politische Implikationen« auf, weil sie laut Arendt von allen erlernt werden kann. 37
II.
Raum und Ort der Freiheit
Im eingangs angeführten Zitat heißt es, dass das Denken nur unter den Bedingungen politischer Freiheit möglich und wirklich sei. Mit der politischen Freiheit ist bei Arendt primär nicht die negative Freiheit gemeint, die den Einzelnen vor Zwang, Gewalt und Eingriffen in die Privatsphäre schützt. Politische Freiheit ist nur dort wirklich gegeben, wo Menschen de facto politisch handeln und einen öffentlichen Raum konstituieren. »Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und daß sie mehr ist als ein Nicht-gezwungen-Werden.« 38 Diese Kennzeichnung der Freiheit schließt die Möglichkeit einer jenseits des Politischen angesiedelten, rein aus der Selbstbezüglichkeit geschöpften »inneren Freiheit« aus, nicht aber, dass sich »Freiheiten« – im Sinne von Unabhängigkeitserfahrungen – entfalten, wo öffentliche Räume etabliert sind. Arendt denkt die politische Freiheit phänomenologisch. Freiheit ist eine Weise des Weltbezugs, sie ereignet sich zwischen den Menschen, wenn diese miteinander handeln. Über Freiheit kann niemand als Einzelner verfügen, sie ist kein allgemein menschliches Vermögen, wie zum Beispiel die Willens- oder Wahlfreiheit. Sie währt nur solange, wie politisch gehandelt wird, wobei das Handeln um öffentliche Angelegenheiten kreist. Es ist nicht stumm wie die Gewalt, sondern wird immer von der Sprache begleitet, auch dann, wenn es wortlos vollzogen wird. 39 So kann unter Umständen eine Geste »mehr« sagen – also der eigenen Meinung zu den Angelegenheiten deutlicher entsprechen – als eine ausführliche Rede. Durch die offenbar-machende,
Vgl. ebd., S. 140. Vgl. ebd., S. 135 u. 141 ff. 38 Arendt, Hannah, »Freiheit und Politik«, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 201. 39 Vgl. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 218. 36 37
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Wirklichkeiten enthüllende Qualität des Handelns und Sprechens entsteht Macht. Mit realisierter Macht haben wir es immer dann zu tun, wenn Worte und Taten untrennbar miteinander verflochten erscheinen, wo also Worte nicht leer und Taten nicht gewalttätig stumm sind, wo Worte nicht mißbraucht werden, um Absichten zu verschleiern, sondern gesprochen sind, um Wirklichkeiten zu enthüllen, und wo Taten nicht mißbraucht werden, um zu vergewaltigen und zu zerstören, sondern um neue Bezüge zu etablieren und zu festigen, und damit neue Realitäten zu schaffen. 40
Macht gibt es nur dort, wo auch Freiheit präsent ist. Die Freiheit geht der Etablierung von Macht nicht voraus. Vielmehr eröffnet sich im Freisein, im gemeinsamen Bezug zur Sache unmittelbar ein Horizont von Handlungsmöglichkeiten, ein Machtpotential, das mit der Intensität des Handelns abnehmen oder gesteigert werden kann. Macht und Freiheit sind mit Gewalt und Herrschaft unvereinbar. 41 Herrschaft zerstört durch Zwang und Gehorsam den freien Bezug zur öffentlichen Sache und somit auch den Realitätsbezug – je absoluter die Herrschaft, desto stärker der Realitätsverlust beim Herrscher und den Beherrschten. Nicht nur der Unterworfene, auch der absolute Herrscher ist unfrei. Die politische Freiheit und Gleichheit der Regierenden innerhalb eines Parteiensystems zeigt sich mit der von ihnen realisierten Macht im Sinne der Enthüllung von Wirklichkeiten, nicht aber in den notfalls auch mittels Zwang durchsetzbaren Herrschaftspraktiken. Der metaphysische Begriff der Herrschaft setzt eine Vorstellung von der Souveränität des Subjekts voraus, die es im freien Miteinander-Handeln nicht geben kann. 42 Jener Raum, der sich im Handeln und Sprechen eröffnet, ist durch die spezifischen Charakteristika dieser Tätigkeiten gekennzeichnet: die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes, die Unvorhersehbarkeit der dem Handeln entspringenden Handlungsprozesse, die sich aus der Spontaneität der Handelnden ergibt, sowie die Irreversibilität – Getanes und Gesagtes können nicht wieder rückgängig gemacht
Ebd., S. 252. »Herrschaft zerstört […] den politischen Raum, und das Resultat dieser Zerstörung ist die Vernichtung der Freiheit für Herrscher wie Beherrschte.« Arendt, Hannah, Über die Revolution, 4. Aufl., München 2000, S. 37. 42 Vgl. Arendt, »Freiheit und Politik«, S. 213 f. 40 41
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werden. 43 Der »Raum der Freiheit« ist äußerst fragil, sobald er verschwindet – aufgrund von Interesselosigkeit, äußerer Gewalt oder weil die politische Angelegenheit, um derentwillen gehandelt wurde, ihre Anziehungskraft verloren hat – entbehrt die Freiheit der realen Erfahrbarkeit. Diesen Raum unterscheidet von anderen Räumen, die wir durch Eingrenzungen aller Art herstellen können, daß er die Aktualität der Vorgänge, in denen er entstand, nicht überdauert, sondern verschwindet, sich gleichsam in nichts auflöst, und zwar nicht erst, wenn die Menschen verschwunden sind, die sich in ihm bewegten – wie etwa im Falle großer Katastrophen, die ein Volk seine politische Existenz kosten –, sondern bereits wenn die Tätigkeiten, in denen er entstand, verschwunden oder zum Stillstand gekommen sind. 44
Die verschiedenen Formulierungen, die Arendt für diesen Raum, beziehungsweise eng damit in Beziehung stehende Phänomene verwendet – »Raum der Freiheit«, »öffentlicher Raum«, »Erscheinungsraum« oder einfach »Polis« – verweisen auf einen wesentlichen Grundzug des politischen Phänomens, nämlich die Gebundenheit an einen Ort. Worin aber besteht diese Bindung? Die metaphysische Vorstellung, dass jedes Geschehen, alles Vorhandene irgendwo in Raum und Zeit untergebracht und dadurch gleichsam »verortet« sei, verfehlt den Charakter der Verräumlichung des Handelns. Die spezifische Räumlichkeit der politischen Öffentlichkeit ist nicht schon damit erklärt, dass Öffentlichkeit als Welt auch ein »Gebilde von Menschenhand« ist 45 und die »Weltdinge«, zum Beispiel öffentliche Gebäude, einen bestimmten Platz haben. Auf die Bedeutung der gemeinsamen Dingwelt für die Bestimmung des Ortes werde ich zurückkommen. Die Verräumlichung des Handelns kann durch eine Erläuterung der »Vergegenwärtigung« – Arendt spricht zumeist von der »Re-präsentation« 46 – erhellt werden. Die Vergegenwärtigung wird als Funktion der Einbildungskraft thematisiert, weil das Vergegenwärtigte stets schon im Kontext seiner Bedeutsamkeit erfahren wird. Der Bezug zur öffentlichen Sache, also das gemeinsame Sprechen-über … und Handeln-in-Bezug-auf … ist Vgl. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 279. Das Getane kann zwar nicht zurückgenommen werden, aber es kann im Verzeihen aufgehoben werden. Vgl. ebd., S. 300 ff. 44 Ebd., S. 251. 45 Vgl. ebd., S. 65 f. 46 Vgl. Arendt, »Über den Zusammenhang von Denken und Moral«, S. 133. 43
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ein Sein-bei einer Sache 47, die von »öffentlichem Interesse« ist. Im Gegensatz zur Privatangelegenheit betrifft die öffentliche Angelegenheit die politische Gemeinschaft als Ganzes. 48 Die öffentliche Angelegenheit verstattet die verschiedenen Meinungen, Urteile und Standpunkte vieler Menschen und ist auf diese angewiesen, um als solche zu erscheinen. Entscheidend für den Räumlichkeitscharakter des gemeinsamen Handelns in Bezug auf die öffentliche Sache ist, dass diese Form des Weltbezugs wie überhaupt jede Form des Bezugs zu einer Sache und ihrer Vergegenwärtigung ein Sein bei der Sache selbst ist. Wenn »die Sache« die Piraterie vor den Küsten Somalias, die Krise in der Ukraine oder der Bürgerkrieg im Südsudan ist und sich das politische Handeln und Reden in europäischen Ländern darauf bezieht, dann wird mit diesem Handeln ein Bezug »zur Sache selbst«, also zu den Angelegenheiten »vor Ort«, hergestellt. Um »bei der Sache zu sein«, müssen sich die Handelnden aber nicht vorstellen, dass sie selbst vor Ort seien. Arendt beschreibt die Vergegenwärtigung durchaus im Rahmen der traditionellen Terminologie als »Einbildung«, der Erzeugung eines Bildes von etwas im Geiste. 49 Das Eingebildete ist auf die Sache selbst bezogen, weil es für Arendt keine metaphysische Welt hinter den Erscheinungen gibt 50 und dennoch ist es auch Gedachtes. »Es ist etwas jenseits oder zwischen Denken und Sinnlichkeit; es gehört zu den Gedanken, insofern es nach außen unsichtbar ist, und es gehört zur Sinnlichkeit, insofern es so etwas ist wie ein Bild.« 51 Zwar wird das Vergegenwärtigte nicht direkt leiblichsinnlich wahrgenommen, dennoch ist die Sinnlichkeit an der Re-präsentation beteiligt, weil das Vergegenwärtigte als etwas Gesehenes gegeben ist. Die These, dass im Weltbezug die Sachen selbst und nicht bloß Vorstellungen der Sachen beziehungsweise Bewusstseinsgegenstände auftauchen 52, ist ein Grundgedanke der Phänomenologie. 53 Auf die Zur »Vergegenwärtigung« als ein Sein bei der Sache selbst vgl. Heidegger, Martin, Zollikoner Seminare. Protokolle – Gespräche – Briefe, Medard Boss (Hg.), Frankfurt a. M. 1987, S. 86–97. 48 Gemeint sind damit nicht nur Berufspolitiker, Medienvertreter oder Bürger. 49 Vgl. Arendt, »Über den Zusammenhang von Denken und Moral«, S. 133; Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 20 f. 50 Vgl. ebd., S. 40. 51 Arendt, Das Urteilen, S. 108 (Herv. i. O.). 52 Vgl. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 355 ff. 53 Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen 2006, S. 27–39. 47
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implizite Kritik an der metaphysischen Trennung von Sein und Schein und deren phänomenologischer Überwindung kann hier ebenso wenig eingegangen werden, wie auf jene Fragestellungen, die sich insbesondere dem politischen Denken aufdrängen. Die Selbstgegebenheit der Sache schließt die Modi ihrer Verstellung nicht aus, sondern ein – also dass die Handelnden sich in der Sache täuschen, partiell belogen werden 54 oder Sachzusammenhänge durch instrumentelles Handeln verdecken 55. Die Verräumlichung des Daseins hat Heidegger als »Ent-fernen«, ein »Verschwindenmachen der Ferne« beschrieben – wobei diese »Näherung« nicht als Überwindung eines messbaren Abstands vorgestellt werden darf. 56 Arendt spricht vom »Überbrücken der Abgründe zu anderen«, die entfernende Vergegenwärtigung wird im Zusammenhang mit dem Verstehen thematisiert. Allein die Einbildungskraft befähigt uns, Dinge in ihrer richtigen Perspektive zu sehen, das, was zu nahe ist, in eine gewisse Distanz zu rücken, so daß wir es ohne vorgefasste Meinung und Vorurteil sehen und verstehen können; sie ermöglicht es, Abgründe der Ferne zu überbrücken, bis wir alles, was zu weit von uns entfernt ist, so sehen und verstehen können, als ob es unsere eigene Angelegenheit wäre. Dieses ›Distanzieren‹ bestimmter Dinge und das Überbrücken der Abgründe zu anderen ist Teil des Verstehensdialogs, für dessen Zwecke die direkte Erfahrung einen zu nahen Kontakt herstellt und das bloße Wissen Barrieren errichtet. Ohne diese Art von Einbildungskraft, die tatsächlich Verstehen ist, wären wir niemals in der Lage, uns in der Welt zu orientieren. 57
Der Bezug zur Sache reißt ab, wenn Scheinrealitäten durch organisiertes Lügen, image-making oder Ideologien errichtet werden. Vgl. Arendt, Hannah, »Wahrheit und Politik«, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 355 ff. Zum Zusammenhang von Erscheinung und Verbergung vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 35. 55 Erst durch instrumentelles Verhalten verschwindet auch der Sach- und Wirklichkeitsbezug, sofern dieses Menschen nicht mehr als Initiative ergreifende Personen erscheinen lässt (vgl. dazu Arendts Kritik an der »Gesellschaft von Jobholders« und am Behaviorismus: Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 410 f.). Obwohl das Handeln von Arendt im Wesentlichen als Miteinander-Handeln bestimmt wird, gibt es auch ein instrumentelles Handeln, denn es »steckt ein Element des Handelns in allen menschlichen Tätigkeiten, die mehr sind als bloße Reaktionen.« Arendt, »Freiheit und Politik«, S. 222 f. Zum instrumentellen Handeln können zumindest alle Handlungen gerechnet werden, durch die ein anderer, mit Kant gesprochen, zwar als Mittel, aber nicht »bloß als Mittel« behandelt wird (vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1999, S. 54 f. (Herv. O. B.). 56 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 105. 57 Arendt, »Verstehen und Politik«, S. 127. 54
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Die Räumlichkeit des politischen Raums ist abgesteckt durch den Horizont der Perspektiven auf die politische Angelegenheit. Als »Weltbezug« beziehungsweise »Zwischen-Raum« 58 kennzeichnet diesen Raum, dass er nicht mittels der Kategorie der Ausdehnung (res extensa) darstellbar ist. Das Zwischen ist keine Relation von gesondert vorhandenen Subjekten oder von Subjekt und Objekt, sondern ein Bezug, das Sein-bei …, in dem das Hier-sein des Sprechenden zugleich ein Dort-sein bei der Sache und den Angesprochenen ist. 59 Die Pluralität ist im Miteinander erfahrbar, aber sie lässt sich nicht aus der Vogelperspektive des Theoretikers darstellen, weil das vorstellende Denken es bezüglich der Pluralität mit einem »Objekt« (den Personen) zu tun hat, das sich jeder Vergegenständlichung entzieht. 60 Insofern sich die Grenzen des politischen Raums mit dem sich wandelnden Bezug zu öffentlichen Angelegenheiten, mit den jeweiligen Gegenständen, die die Sprechenden in den Blickpunkt rücken wollen, ständig verschieben, ist der politische Raum kein statisches Gebilde. Offenkundig wird im politischen Streit nicht nur eine Sache vergegenwärtigt, sondern damit einhergehend über einen Sachverhalt – Handlungen, Handlungsvorschläge, Meinungen usw. – gestritten. Dieser Streit – unabhängig davon, ob in ihm nun die »vorgefasste Meinung« oder ein Urteil des »Verstehensdialogs« vorgetragen wird, setzt bereits einen Zusammenhang von Handeln und Denken voraus. Damit über das im Erscheinungsraum gesehene und gehörte Neue überhaupt ein Urteil gebildet werden kann, muss es, wie Arendt schreibt, »entsinnlicht« werden. 61 Wie die Re-präsentation ist auch die Entsinnlichung eine Funktion der Einbildungskraft. 62 Damit die Denktätigkeit, die nur mit Unsichtbarem zu tun hat, mit den Dingen der Erscheinungswelt umgehen kann, muss vom Sinnlich-Anschaulichen der Erscheinung abgesehen werden. Sofern das Denken bei der Vgl. Arendt, Was ist Politik?, S. 25. Zur Kritik an der cartesischen Raumvorstellung und des Zusammenhangs von Hier-sein und Dort-sein in der Verräumlichung vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 95– 113. 60 In diesem Zusammenhang habe ich aufzuzeigen versucht, dass in der Weltbezüglichkeit die Unantastbarkeit der Menschenwürde fundiert ist und diese durch das metaphysische, vorstellende Denken nicht verstanden werden kann (vgl. Bruns, Oliver, »›Die eigentliche Würde des Menschen ist noch nicht erfahren.‹ Heideggers Kritik an der Kantischen Würdekonzeption«, in: Paul Sörensen/Nikolai Münch (Hg.), Politische Theorie und das Denken Heideggers, Bielefeld 2013, S. 105–129). 61 Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 82. 62 Vgl. Arendt, Denktagebuch, S. 764. 58 59
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Sache bleibt und nicht in die Allgemeinheit von Begriffen und Ideen abdriftet, kann der Sinn von Erscheinungen, also Taten, Handlungen und Geschehnissen, hervortreten. Die Erscheinung wird ent-sinnlicht, das Sinnliche entzieht sich kurzweilig zugunsten des Sinnes und dennoch geht es um den Sinn der Erscheinungen, also von etwas Partikularem. 63 Repräsentation und Entsinnlichung werden als Funktionen eines Vermögens – der Einbildungskraft, dem Verstehen – dargestellt, weil das in der Vergegenwärtigung Gesehene stets zugleich in einem nicht-sinnlichen Bedeutungs- beziehungsweise Sinnzusammenhang erschlossen ist. Arendt differenziert scharf zwischen Erscheinung und Unsichtbarkeit 64, nicht um das Handeln auf der einen und das Denken auf der anderen Seite zu veranschlagen, sondern deren Zusammenspiel in einem Phänomen, dem »handelnden Denken« 65 zu erläutern. Ebenso wie das Handeln nur im Miteinander vollzogen werden kann, erschließt sich der Sinn nur im Zwischen der Erscheinungswelt, also wenn das unsichtbare Gedachte für das Erscheinen umgewandelt, zum Beispiel in Worte gefasst wurde, um sichtbar und hörbar zu sein. 66 Die im Zitat genannte »Art von Einbildungskraft« bezieht die Standpunkte und Urteile anderer ein und vertieft so das Verstehen. »An der Stelle eines anderen zu denken«, ist nur möglich, wenn das Gedachte als Meinung oder Urteil erscheint. Aus dem Verweis auf die Funktionen der Einbildungskraft ergibt sich, dass die Verräumlichung des Handelns als ein Bezug zu den öffentlichen Angelegenheiten und zu anderen zu verstehen ist. Der Raum ist ein »Bezugsgewebe«, das bis zu den vergegenwärtigten Erscheinungen und dabei mitvergegenwärtigten Menschen reicht. Aus dieser Beschreibung des Erscheinungsraums ist nun aber noch nicht klar geworden, inwiefern der Raum an einen Ort gebunden ist. Raum und Ort sind nicht dasselbe. Die Bindung an Orte wird durch die Erläuterung einer weiteren Dimension der Phänomenalität des Handelns möglicherweise deutlicher. Der politische Raum konstituiert sich durch das Erscheinen der gemeinsamen Angelegenheiten. Ein »Nebenprodukt« der Sorge um die Welt ist das Erscheinen der handelnden Personen. Nur in einem Erscheinungsraum kann sich die Person in ihrer Einzigartigkeit zei63 64 65 66
Vgl. Vollrath, »Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens«, S. 78. Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 77 ff. Vgl. Arendt, Denktagebuch, S. 689. Vgl. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 62 f.
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Der politische Raum als verborgener Grund metaphysischen Denkens
gen. Mit »Erscheinen« ist nicht ein bloßes Vorhandensein gemeint, sondern das Sich-zeigen der Person, sobald sie aktiv wird, das heißt anfängt zu sprechen und zu handeln. 67 Es wurde bereits erwähnt, dass das Sprechen im Hinblick auf die gemeinsamen Angelegenheiten eine offenbar-machende, enthüllende Qualität besitzt. Dass das Sich-zeigen der Person ein Randphänomen des Sprechens ist, wird auch dadurch ersichtlich, dass die enthüllende Qualität der Sprache versagt, wenn sie nicht auf Sachverhalte, sondern zur Beschreibung einer Person angewendet werden soll. Das Wer-jemand-ist entzieht sich der Sag- und Beschreibbarkeit. Wenn der Versuch unternommen wird, etwas über den Anderen zu sagen, fällt die Beschreibung auf dieses Etwas, also auf Eigenheiten oder Verhaltensweisen der Person, zurück, ohne wirklich das Personale einer Person zu erfassen. »Es stellt sich heraus, daß die Sprache, wenn wir sie als ein Mittel der Beschreibung des Wer benutzen wollen, sich versagt und an dem Was hängen bleibt, so daß wir schließlich höchstens Charaktertypen hingestellt haben, die alles andere sind als Personen […].« 68 Die aktive Präsenz der Person kann durch keine Repräsentation ersetzt werden. Insofern das Handeln stets auf eine Angelegenheit ausgerichtet ist, kann die Person als Handelnde nicht auf ihr Erscheinen fixiert sein. Die Person kann nur anderen erscheinen, ohne das Erscheinen selbst steuern oder kontrollieren zu können. Im Unterschied zu dem, was einer ist, im Unterschied zu den Eigenschaften, Gaben, Talenten, Defekten, die wir besitzen und daher so weit zum mindesten in der Hand und unter Kontrolle haben, daß es uns freisteht, sie zu zeigen oder zu verbergen, ist das eigentlich personale Wer-jemand-jeweilig-ist unserer Kontrolle darum entzogen, weil es sich unwillkürlich in allem mitoffenbart, was wir sagen oder tun. 69
Mit der Reflexion auf das Selbst würde der Bezug zur öffentlichen Angelegenheit und zu den anderen sofort abreißen. Das Erscheinen der Person, als die, die sie wesentlich ist, braucht eine Öffentlichkeit. Der politische Raum ist vor allen sozialen und gesellschaftlichen Bereichen prädestiniert für das Erscheinen von Personen, weil der Zweck um dessentwillen politisch gehandelt wird, nicht das In-Erscheinung-treten und Sich-Auszeichnen selbst ist, sondern die öf-
67 68 69
Vgl. ebd., S. 214 ff. Ebd., S. 222 f. Ebd., S. 219 (Herv. O. B).
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fentliche Angelegenheit, die Sache, die die Menschen zum Handeln bewegt. Als Person kann ein Mensch nur aktiv, in unmittelbarer Anwesenheit der anderen erscheinen. Kennzeichnend für den gemeinsamen Ort ist die Sicht- und Hörbarkeit dessen, was erscheint. Sichtund Hörbarkeit einer Sache werden von Arendt ausdrücklich als Merkmale der Öffentlichkeit angeführt. 70 Wie bereits erläutert wurde, heißt das nicht, dass der öffentliche Raum durch das begrenzt ist, was den Handelnden direkt in der sinnlichen Wahrnehmung erscheint. An der Vergegenwärtigung der Sache in der Einbildung ist die Sinnlichkeit beteiligt. Im Gegensatz zu allem, was am Ort erscheint, ist das in der Einbildung Gesehene aber nicht als leiblich Wahrgenommenes präsent. Direkt leiblich gehört und gesehen werden die handelnden Menschen und die Weltdinge. Der politische Raum ist kein freischwebendes Gebilde, sondern an eine Stätte, einen konkreten Versammlungsplatz gebunden, wie die Agora in der Polis Athen, die townhalls in den amerikanischen Kolonien oder Parlamentsgebäude. Der Platz selbst und die Weltdinge gehören den Menschen gemeinsam. Öffentliche Gebäude, Denkmäler oder historische Dokumente sind »Weltdinge«, weil sie von der gemeinsam geteilten Welt künden. In ihnen hat sich etwas von der im politischen Handeln erfahrenen Wirklichkeit »materialisiert«, insofern ihr Gesehen- und Gehörtwerden die Erinnerung auf vergangene Ereignisse und Wirklichkeiten lenkt. Darüber hinaus trennen und verbinden sie die Handelnden, etwa so wie ein Tisch die um ihn herum Sitzenden trennt und verbindet. 71 Solange öffentliche Räume da sind, erhält sich mehr oder weniger auch der durch die Weltdinge eröffnete, sinnvolle Bewandtniszusammenhang. Ein Ort ist ein solcher Bewandtniszusammenhang. Die Bedeutsamkeit von Orten lässt sich durch kein Aufgebot an Informationen sicherstellen, sie muss im Vorhinein durch den Ort selbst gegeben sein. Indem die technischen Revolutionen durch den »Ansturm der Geschwindigkeit« Ferne und Entfernung vernichten 72, drohen sie, Orte in »Nicht-Orte« 73 zu verwandeln. Diese entbehren nicht nur der Bedeutung, sondern verstellen
70 71 72 73
Vgl. ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 66. Vgl. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 320. Vgl. Augé, Marc, Nicht-Orte, München 2010.
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sie. Sie sind »gesichtslos«, weil sie keinen Einblick in eine Welt gewähren. Der politische Raum ist substanzlos, da er ein Erscheinungsraum ist. Das heißt, dass das Politische sich weder im Wesen des Menschen als zoon politikon noch in adäquaten Institutionen oder in moralischen Richtlinien lokalisieren lässt; ebenso wenig dient es nur dem Interessenausgleich. Der Sinn von Politik ist die Sorge um die Welt, diese Sorge unterliegt keiner Zweckgebundenheit. Das Phänomen des Politischen lässt sich folglich nicht verstehen, wenn es Zwecken – der Glücksmaximierung, Gerechtigkeit oder der Sicherung des Lebensstandards – untergeordnet wird. 74 Anhand dieser Merkmale des politischen Raumes wird deutlich, weshalb die philosophische Tradition von Platon bis Marx nicht dazu in der Lage war, das Politische zu denken. Die Tradition blieb dem Substanzdenken verhaftet. »Die Philosophie hat zwei gute Gründe, niemals auch nur den Ort zu finden, an dem Politik entsteht. Der erste ist: Zoon politikon: als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies gerade stimmt nicht; der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht im Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentlich politische Substanz.« 75 Eine Folge der metaphysischen Lehre vom Wesen des Menschen ist, dass die Pluralität der Menschen, also die absolute Verschiedenheit eines jeden vom anderen, die nicht mit der Individualität verwechselt werden darf, ebenso wie die Weltbezüglichkeit ungedacht blieben. 76
III. Wirklichkeit als Bezugsmitte von Denken und Handeln Oben war vom »Ende der Tradition« die Rede, der endgültige Bruch mit der Tradition wurde durch das Ereignis der totalen Herrschaft zu einem geschichtlichen Faktum. 77 Die totale Herrschaft bietet eine Art Negativfolie für den arendtschen Welt- und Politikbegriff. 78 Durch Vgl. Arendt, Was ist Politik?, S. 35 ff. Ebd., S. 11. 76 Zum Begriff der Pluralität vgl. Tassin, Étienne, »Pluralität/Spontaneität«, in: Wolfgang Heuer/Bernd Heiter/Stefanie Rosenmüller (Hg.), Arendt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart Weimar 2011, S. 306 f. 77 Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 207. 78 Dies betrifft auch die Anbindung des Politischen an einen Ort, denn die totale Herrschaft unterscheidet sich von allen früheren Herrschaftsformen gerade dadurch, 74 75
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diese Negativfolie kann auch ersichtlich werden, worin der innere Zusammenhang zwischen dem Denkvermögen und dem Vorhandensein eines politischen Raumes besteht. Diesen zerstört die totale Herrschaft durch Ideologie und Terror. Die Herrschaft ist total, weil sie über den Massenmord hinaus die Welt als gemeinsam geteilte Wirklichkeit, wie sie sich in Geschichten sammelt, zu zerstören beabsichtigt. Die »Feinde« werden nicht nur ermordet, sondern sie sollen aus der Erinnerung getilgt werden. Die abendländische Welt hat bisher noch immer, auch in ihren dunkelsten Zeiten, dem getöteten Feinde das Recht auf Erinnerung als eine selbstverständliche Anerkennung dessen, daß wir alle Menschen (und nur Menschen) sind, zugestanden. Nur weil Achill selbst sich zu Hektors Begräbnis rüstete, nur weil auch die despotischen Regierungen den toten Feind ehrten, nur weil die Römer den Christen erlaubten, ihre Märtyrergeschichten zu schreiben, nur weil die Kirche ihre Ketzer in der Erinnerung der Menschen erhielt, war und konnte nie alles schlechthin verloren sein. Sterben konnte man immer für seine Überzeugungen. Indem die Konzentrationslager den Tod selbst anonym machten […], nahmen sie dem Sterben den Sinn, den es immer hatte haben können. Sie schlugen gewissermaßen dem einzelnen seinen eigenen Tod aus der Hand, zum Beweise, daß ihm nichts mehr und er niemandem mehr gehörte. Sein Tod war nur die Besiegelung dessen, daß es ihn niemals gegeben hatte. 79
Die Konzentrationslager, die Arendt auch als »Höhlen des Vergessens« bezeichnet, sind das Zentrum der Zerstörung aller menschlichen, weltlichen Bezüge, die sich im gesamten Herrschaftsbereich des Totalitarismus abspielt. Auf die Mechanismen, mit denen durch Terror zwischenmenschliche Bezüge außer Kraft gesetzt werden und die Ideologie die Wirklichkeit durch eine Pseudowirklichkeit ersetzt, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 80 Von zentraler Bedeutung ist die Einsicht, dass es dieser Herrschaftsform tatsächlich gelang, total zu sein – also Menschen hervorzubringen, bei denen auch die »inneren« Vermögen, die für unverwüstlich gehalten worden waren, zum Beispiel der natürliche Selbsterhaltungstrieb, das Gedass sie eine ortlose Bewegung ist, deren Bewegungsgesetze natürliche oder geschichtliche Gesetze sind (vgl. Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 9. Aufl., München 2003, S. 950 ff.). 79 Ebd., S. 929 f. 80 Vgl. dazu ebd., Kap. 13.
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wissen, das moralische Gefühl oder das Denken, verschwanden. Nach Arendt war mit diesem Befund auch erwiesen, dass die vermeintliche Souveränität des Subjekts über sich selbst, die mit der Selbstvergewisserung im cogito ergo sum begründet worden war, illusionär ist. 81 Im politischen Raum eröffnet sich die »Wirklichkeit der Welt«, deren Tiefe denkend erschlossen wird. Eben dieser Bezug zur Wirklichkeit war durch die totale Herrschaft untergraben worden. 82 Für Arendt ist »Wirklichkeit« keine ständige Gegebenheit, keine Modalität des Seins, sondern mit der Kontingenz politischen Handelns verbunden. Was wirklich ist, erschließt sich nur im »Licht der Öffentlichkeit«, also zwischen den Menschen. Aus diesem Grunde grenzt Arendt den Öffentlichkeitsbegriff scharf von allen inneren Vermögen des Menschen ab. Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt. Verglichen mit der Realität, die sich im Gehört und Gesehenwerden konstituiert, führen selbst die stärksten Kräfte unseres Innenlebens – die Leidenschaften des Herzens, die Gedanken des Geistes, die Lust der Sinne – ein ungewisses, schattenhaftes Dasein, es sei denn, sie werden verwandelt, gleichsam entprivatisiert und entindividualisiert, und so umgestaltet, daß sie eine für öffentliches Erscheinen geeignete Form finden. 83
Das Denken ist vom politischen Raum abhängig, weil es ohne ihn den Bezug zur Wirklichkeit verliert. Deshalb ist es so »verletzbar«, wie kaum ein anderes Vermögen. Das denkende Ich kann sich nicht von der »Wirklichkeit als Wirklichkeit« überzeugen und daher auch nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. 84 Wirklichkeit eröffnet sich in der Vielfalt von Perspektiven zu einer Sache. »Erst in solcher Allseitigkeit kann ein und die selbe Sache in ihrer vollen Wirklichkeit in Erscheinung treten, wobei man sich vergegenwärtigen muß, daß jede Sache so viele Seiten hat und in so vielen Perspektiven erscheinen kann, als Menschen an ihr beteiligt sind.« 85 An anderer Stelle heißt es: »In-einer-wirklichen-Welt-Leben und Mit-
81 82 83 84 85
Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 14 u. 55–62. Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 963 ff. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 62 f. Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 194. Arendt, Was ist Politik?, S. 96.
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Anderen-über-sie-Reden sind im Grunde ein und dasselbe, und den Griechen erschien das Privatleben ›idiotisch‹, weil ihm diese Vielfältigkeit des Über-etwas-Redens versagt war und damit die Erfahrung, wie es in Wahrheit in der Welt zuging.« 86 Die Behauptung, dass den Vielen »ein und die selbe Sache« erscheint und etwas »von anderen genauso, wie von uns selbst« gesehen wird, gründet im Phänomen selbst. Der Sachbezug resultiert nicht aus einem Konsens, denn ein solcher setzt das Erscheinen einer öffentlichen Angelegenheit bereits voraus. Der »Allseitigkeit« der Sache können nur Meinungen gerecht werden. Das Verstehen, die Bildung von Meinungen, setzt das Vermögen der Urteilskraft voraus, das es erlaubt, »an der Stelle jedes anderen zu denken«. 87 Im Miteinander-Sprechen versteht der Einzelne zunächst das Bekannte. 88 Das primäre Verstehen ermöglicht es, neue Phänomene im Sinne des Bekannten aufzufassen. Die dabei zur Geltung kommenden Vorurteile sind insofern legitim und notwendig, als sie auf vergangene Urteile zurückgehen und das Dasein vom Anspruch des Wirklichen partiell abschirmen, damit es sich zu den Geschehnissen überhaupt in Beziehung setzen kann. 89 Das politische Denken hinterfragt die Vorurteile, indem es den Sinn der ihnen inhärenten Urteile aufweist und dadurch verdeutlicht, dass die Ereignisse mit ihnen nicht mehr adäquat zu verstehen sind. Das Denken als »außer der Ordnung stehende Tätigkeit« wird politisch relevant, indem es die Selbstverständlichkeit der legitimen Vorurteile aufbricht. Sowohl das primäre Verstehen als auch das »wahre Verstehen« sind auf den Sinn der Ereignisse bezogen. Die Metaphysik hat die Frage nach dem Sinn mit der Frage nach der Wahrheit gleichgesetzt und dadurch verstellt. 90 Im Gegensatz zur Wahrheit bleiben die dem Verstehen entspringenden Urteile, da sie auf Taten und Ereignisse gerichtet sind, partikular und können nicht zugunsten einer verallgemeinerbaren Erkenntnis aufgehoben werden. Nur so kann das politische Denken ein Denken von dieser Welt sein. Indem es die eigenen Bedingungen bedenkt, gelangt es zu einer Verortung der abendländischen Philosophie. Durch diese Verortung kann die Herr-
86 87 88 89 90
Ebd., S. 52. Arendt, Denktagebuch, S. 570. Vgl. Arendt, »Über den Zusammenhang von Denken und Moral«, S. 129. Vgl. Arendt, Was ist Politik?, S. 78. Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 25.
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schaft des »traditionellen Begriffsgerüsts« durchbrochen und ein Horizont für Orte des Denkens eröffnet werden.
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Das politische Denken unter den Bedingungen der medialen Öffentlichkeit
Denken bedarf eines Raumes, um sich zu entfalten. Denken war schon immer auf Öffentlichkeit hin ausgelegt: In der Erprobung eines Gedankens im sozialen Raum, im Diskurs mit anderen kommen wir zu uns selbst. Nun spielt im politischen Bereich und in der politischen Philosophie die Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle. Sie bildet den Raum, in welchem Ideen entwickelt, Argumente ausgetauscht und die öffentliche Meinung geformt wird. Die Öffentlichkeit ist dabei keineswegs als eine unstrukturierte Leerstelle zu verstehen, sondern befindet sich in einem Kräftefeld von ökonomischen Interessen, staatlicher Regulierung und medialer Dynamik. Diese Parameter bilden die Rahmenbedingungen innerhalb derer sich das politische Denken entfalten kann. Dieser Artikel geht den strukturellen Bedingungen der Öffentlichkeit vor allem in Rücksicht auf mediale Transformationen nach. Dabei wird (1) der Begriff Öffentlichkeit in seiner Bedeutung für die politische Philosophie skizziert werden, (2) die medientheoretischen Hintergrundbedingungen des öffentlichen Diskurses offengelegt und schließlich werden (3) einige Aspekte der Veränderung der politischen Kommunikation unter den Bedingungen der Medien der Gegenwart thematisiert.
1.
Umstrittene Öffentlichkeit
Das Nachdenken über die Öffentlichkeit erlebt in den letzten Jahren eine Renaissance. Sie steht im Zentrum von ausführlichen philosophischen, soziologischen, politikwissenschaftlichen und medientheoretischen Theorien und Debatten über die Organisation einer demokratischen Gesellschaft und ihrer Legitimität. Von spezieller Bedeutung wird die Frage nach der Öffentlichkeit im Kontext des europäischen Einigungsprozesses und angesichts der medialen Transfor-
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mation diskutiert. 1 Denn Öffentlichkeit, dieser Raum des Austausches von Argumenten und Ideen, ist nicht bloß eine unstrukturierte Sphäre, sondern gibt durch soziale, ökonomische und technologische Rahmenbedingungen die Form des Diskurses (eben der Argumente und Ideen, die ausgetauscht werden) vor. Idealtypisch wird die Öffentlichkeit als Sphäre jenseits von staatlichen und wirtschaftlichen Eigeninteressen konzipiert, über die eine Gesellschaft sich selber steuert. Sie bildet daher die diskursive Infrastruktur eines demokratischen Gemeinwesens, welche durch die individuellen Freiheitsrechte – Freiheit der Meinungsäußerung, der Versammlung, der Rede, der Presse, etc. – ermöglicht wird und in modernen Gesellschaften nicht ohne die Massenmedien als Vehikel dieses Diskurses funktionieren kann. Der gesellschaftliche Diskurs beeinflusst durch die öffentliche Meinung die politischen EntscheidungsträgerInnen und leistet dadurch einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Selbststeuerung der Gesellschaft. Emphatisch gesprochen ist die Öffentlichkeit die Bedingung dafür, dass sich die BürgerInnen einer Gemeinschaft zugleich als (potentielle) AutorInnen der politischen Ordnung verstehen können. In diesem Sinne spricht Heribert Prantl von der Zeitung als »Brot der Demokratie«, die für dieses gleichermaßen systemerhaltend sei, wie die Banken für den Kapitalismus. 2 Spricht man philosophisch von Öffentlichkeit, so führt kaum ein Weg an Jürgen Habermas vorbei. Jedoch zerfällt sein Öffentlichkeitsbegriff in mindestens zwei, wenn nicht drei unterschiedliche Versionen. Der »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (1962) konzipiert die Öffentlichkeit im Theoriehorizont der Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno als Verfallsgeschichte vom liberalen Ideal des 18. und 19. Jahrhunderts, in welchem die öffentlichen Diskussionen in den Foren der bürgerlichen Gesellschaft wie Kaffeehäuser, Salons und Tischgesellschaften stattfindet. 3 In diesem Kontext bildet sich der Kern einer prinzipiell egalitären Gesellschaft, in der nicht der Status entscheidet, sondern das bessere Argument – »veritas non
Zur Frage der Bedingungen europäischer Öffentlichkeit vgl. Kantner, Cathleen: Kein modernes Babel. Kommunikative Voraussetzungen europäischer Öffentlichkeit, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2004. 2 Vgl. Prantl, Heribert: »Die Zukunft des Qualitätsjournalismus«, Der Standard, 20. Juni 2013. 3 Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt: Suhrkamp, 1990. 1
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auctoritas facit legem« wie (der frühe) Habermas wiederholt darlegt. 4 Dem Ideal der Öffentlichkeit inhärent sei nicht nur eine Transformation der Herrschaft, sondern ihre Auflösung. Dieser Raum der Öffentlichkeit ist sowohl frei von den Interessen des Staates und seiner Verwaltung als auch von ökonomischen Eigeninteressen. Dieses Versprechen des Ideals der Öffentlichkeit wurde jedoch nie eingelöst und die historische Tendenz ging hin zu einer vermachteten Öffentlichkeit, wie Habermas sie für die Mitte des 20. Jahrhunderts angesichts des Aufkommens von Mechanismen zur gezielten Steuerung und Manipulation der öffentlichen Meinung mittels Public Relation diagnostiziert. Dieser Öffentlichkeitsbegriff geht noch von dem radikaldemokratischen Ideal aus, dass sich die Gesellschaft im Ganzen über die Öffentlichkeit selber steuert. Von diesem Ideal nimmt Habermas in »Faktizität und Geltung« (1992) Abschied. 5 Das radikaldemokratische Ansinnen einer Selbststeuerung im Medium des öffentlichen Diskurses weicht einer systemtheoretischen Perspektive, welche den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen ihre eigene Organisationsform zugesteht. Die nach eigener Logik operierenden gesellschaftlichen Subsysteme können nicht mehr unmittelbar durch die Öffentlichkeit gesteuert werden. Fehlleistungen dieser Subsysteme werden in der Lebenswelt als Probleme wahrgenommen, problematisiert und verstärkt und – idealerweise – in das politische System eingespeist und so einer Lösung zugeführt. Öffentlichkeit ist im Zuge dessen nicht mehr der große egalitäre Diskurs aller über alles, sondern ein komplexes Netzwerk von Kommunikation. Habermas nimmt hierbei eine Reihe von Differenzierungen in seiner Bestimmung des Begriffs der Öffentlichkeit vor. Erstens wird die Öffentlichkeit auf Inhalte und Stellungnahmen beschränkt, also ein kleiner Teil der öffentlich stattfindenden Kommunikation, da nur diese Eingang in die öffentliche Meinung finden. Darauf macht Volker Gerhardt aufmerksam und konstatiert, dass Habermas die Öffentlichkeit vor sich selber schützen wolle, indem er einen numerus clausus für öffentliche Beiträge einführe, woraus ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit spreche. 6 Zweitens steht für ihn die Diskursqualität eher als die InHabermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 153. Vgl. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt: Suhrkamp, 1992. 6 Vgl. Gerhardt, Volker: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München: C. H. Beck 2012. 4 5
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klusion aller im Vordergrund. »Bei öffentlichen Kommunikationsprozessen kommt es nicht nur, und nicht in erster Linie, auf die Diffusion von Inhalten und Stellungnahmen durch effektive Übertragungsmedien an.« 7 Entscheidend für die Legitimität der öffentlichen Meinung seien einerseits die Erschöpfung des Diskurses und andererseits dessen Rationalität. Drittens geht es in der Öffentlichkeit wesentlich um Einfluss – sowohl um den Einfluss der einzelnen Akteure als auch um den Einfluss der öffentlichen Meinungen. Einflusschancen sind jedoch nicht gleich verteilt, sondern abhängig von vorgängig erlangtem Ansehen in der Öffentlichkeit, der Politik oder einem Teilsystem der Gesellschaft. Spätere Schriften fügen diesem Begriff nur noch Feinjustierungen hinzu. Beispielsweise im Bezug auf die viel diskutierte Übersetzung von religiösen Gehalten in die säkulare Sprache des öffentlichen Diskurses, in welchem eine bedeutende moralische Ressource für die Gesellschaft gesehen wird. 8 In einem Artikel zur deliberativen Demokratie weist Habermas in aller Kürze auf die Möglichkeit des Internets hin, als Korrektiv gegenüber klassischen Medien zu fungieren, wobei er in liberalen Demokratien der Internet-Kommunikation keine Funktion zuerkennt. 9 Schließlich stellt sich die Frage nach dem Begriff und der Bedeutung der Öffentlichkeit seit geraumer Zeit angesichts der zurückgedrängten Bedeutung des Nationalstaates und der europäischen Integration; hier spielt jedoch die Konstitutionalisierung transnationaler Beziehungen und Souveränitätsverschiebungen eine größere Rolle als das Nachdenken über eine »europäische Öffentlichkeit«. 10 Das Zutrauen in die Selbststeuerung im Medium des öffentlichen Diskurses ist einer Integration von oben gewichen, was sich unter anderem darin zeigt, dass in der europäischen Krise primär ein Versagen der politischen und medialen Eliten diagnostiziert wird. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, 438. Vgl. Habermas, Jürgen: »Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den »öffentlichen Vernunftgebrauch« religiöser und säkularer Bürger«, in: Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt: Suhrkamp, 2005, 119– 154. 9 Vgl. Habermas, Jürgen: »Does Habermas Understand the Internet? The Algorithmic Construction of the Blogo/Public Sphere«, in: gnovis: a journal of communication, culture, and technology 10:1 (2009). 10 Vgl. Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin: Suhrkamp 2011. 7 8
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Wenn ich hier von umstrittener Öffentlichkeit spreche, dann deswegen, weil das skizzierte Modell von Habermas zwar eine gewisse hegemoniale Position im Diskurs einnimmt, aber gleichzeitig mannigfaltiger Kritik ausgesetzt ist. So zeigte die grundsätzlich dem Habermas-Modell wohlgesonnene Nancy Fraser angesichts der Transnationalisierung politischer Themen und der Globalisierung politischer Governance überzeugend die nationalstaatliche Konzipierung des Öffentlichkeitsbegriffs auf: Habermas’ Öffentlichkeitskonzeption gehe von der Annahme einer (homogenen) Gruppe von Bürgern aus, die über nationale Medien die politische Führung eines Gemeinwesens hinsichtlich eines klar reglementierbaren Themas zu beeinflussen suchen. 11 Dass dieses Modell unter den Bedingungen der derzeit herrschenden Finanz- und Wirtschaftspolitik, der Klimaerwärmung und Migration nicht mehr direkt anwendbar ist, liegt auf der Hand. Axel Honneth zeigt unter Rückgriff auf John Dewey auf, dass die Basis der Öffentlichkeit nicht in der Kommunikation, sondern der Kooperation liege. 12 Öffentlichkeit entsteht dann, wenn eine Kooperation indirekte Handlungsfolgen zeitigt, welche unbeteiligte Dritte betrifft. Daher wird eine Öffentlichkeit bzw. werden Öffentlichkeiten themenspezifisch angesichts von konkreten Kooperationen und ihrer Handlungsfolgen konstituiert. Jedoch lässt sowohl Dewey als auch Honneth offen, welche Art von »Betroffenheit« von indirekten Handlungsfolgen hierbei gemeint ist. So wichtig zwar die Rückbindung des Politischen an die soziale Kooperation ist, so bleibt doch die Ausführung dazu, was als »indirekte Handlungsfolge« zu gelten hat, dürftig. Schließlich kann aus einer globalen Perspektive darauf verwiesen werden, dass es sich um eine eurozentrische Sicht der Öffentlichkeit handelt, welche als normatives Modell »im Rest der Welt« nicht so übertragbar ist, da sich die primären Parameter der sozialen Ordnung grundlegend anders gestalten. 13 Hinsichtlich der Bestimmung Vgl. Fraser, Nancy: »Transnationalizing the Public Sphere: On the Legitimacy and Efficacy of Public Opinion in a Post-Westphalian World«, in: Theory Culture Society, 24:7 (2007), 7–30. 12 Vgl. Honneth, Axel: »Democracy as Reflexive Cooperation: John Dewey and the Theory of Democracy Today«, in: Political Theory, 26, 1998, 763–783. Dewey, John: The Public and Its Problems, Pennsylvania: Pennsylvania State University Press, 2012. 13 Chakrabarty, Dipesh: Provinzializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton: Princeton University Press 2008; Chatterjee, Partha: The Poli11
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der Öffentlichkeit als Ort des Denkens sei hier auf Volker Gerhardt (2012) verwiesen, der die Öffentlichkeit als notwendiges Korrelativ des Bewusstseins bestimmt. Ohne die Ausrichtung auf Öffentlichkeit kann sich demnach kein menschliches Bewusstsein bilden; erst in der Ausrichtung auf Andere und im Aussetzen des Eigenen im öffentlichen Allgemeinen entstehe das Einzelbewusstsein. 14 Öffentlichkeit erschließt sich unter der jeweiligen Fragerücksicht anders, nämlich als anthropologische Bedingung menschlicher Existenz. Auffallend am skizzierten (deutschsprachigen) Öffentlichkeitsdiskurs ist jedoch eine gewisse »Blindheit« bezüglich medialer Transformationen bzw. den Konstitutionsbedingungen der politischen Öffentlichkeit. 15 In welchen Medien der öffentliche Diskurs stattfindet und welcher Art die massenmedialen Rahmenbedingungen sind, wird weitgehend ignoriert. Dem soll zumindest im Ansatz mit dem Blick auf die medialen Bedingungen politischer Öffentlichkeit Abhilfe geschaffen werden.
2.
Medientheorie und Öffentlichkeit
Gerade angesichts dieser weiteren Fassung der Öffentlichkeit als Korrelat des Bewusstseins – wie sie bei Gerhardt präsentiert wird – stellt sich die Frage, wie die veränderten medialen Strukturen der Öffentlichkeit die Form des Denkens verändern und welche politischen Konsequenzen dies hat. Folgt man Neil Postman (1987), so hat jedes Medium seine ihm eigene Form der Wahrheit. Differenziert man diese vereinfachte Position, so muss man Postman zumindest zugestehen, dass das Kommunikationsmedium mittels Form einen entscheidenden Einfluss auf den Inhalt hat. 16 So unterscheiden sich Rauchzeichen, mündliche Kommunikation, Print-Kommunikation und Twitter-Nachrichten nicht nur hinsichtlich der Komplexität der tics of the Governed. Reflections on Popular Politics in Most of the World, New York: Columbia University Press 2004; Kaelin, Lukas: Strong Family, Weak State, Quezon City: Ateneo de Manila University Press 2012. 14 Gerhardt, Volker: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München: C. H. Beck, 2012. 15 Kaelin, Lukas: »Virtual Ignorance. The Blind Spot in German Public Sphere Theory«, in: New German Critique 124 (2015), forthcoming. 16 Vgl. Postman, Neil: Amusing Ourselves to Death. Public Discourse in the Age of Show Business, London: Methuen, 1987.
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Das politische Denken unter den Bedingungen der medialen Öffentlichkeit
Nachricht, die übermittelt werden kann, sondern sie bringen auch eine andere Form dessen mit, was beispielsweise als Wissen oder Weisheit gilt oder verändern das bestehende Kommunikationsverhalten nachhaltig. Schon Horkheimer und Adorno stellten vor 70 Jahren fest, dass die Flut an Informationen und Amüsement zu einer gleichzeitigen Gewitztheit und (!) Verdummung führt. 17 Bei Postman äußert sich dieser Einfluss der Medien auf den öffentlichen Diskurs als Verfallsgeschichte. Während mit der Typographie eine Form des öffentlichen Diskurses erzeugt wurde, welche dem Inhalt der Mitteilung die größtmögliche Bedeutung zumisst, folgt der durch die elektronischen Medien geformte Diskurs den Regeln des Erheischens von Aufmerksamkeit durch Show und Unterhaltung. Politische Überzeugung wird nicht mehr durch die Stringenz des Arguments geleistet, sondern durch oberflächliche Show-Effekte, denn – so seine These – Fernsehen »macht Unterhaltung zum natürlichen Format für die Repräsentation aller Erfahrung«. 18 Schon die durch den Telegraphen erzeugte Kommunikation ändert den Diskurs in Richtung Irrelevanz, Machtlosigkeit und Inkohärenz. Man muss Postmans Verklärung der Argumentation des 19. Jahrhunderts und seiner Skepsis gegen das Bild nicht vorbehaltlos zustimmen, um die Bedeutung der veränderten Medien(-nutzung) für die Kommunikationsbedingungen in der politischen Öffentlichkeit zu sehen. Paradigmatisch räumt Marshall McLuhan in seinem Standardwerk »Understanding Media« mit der These von der Neutralität des Mediums gegenüber dem Inhalt auf. Medien versteht McLuhan, umfassend aber auch unterkomplex, als jede »Ausweitung unserer eigenen Person«. 19 Inhalt (so denn überhaupt von Inhalt zu sprechen ist) jedes Mediums ist wieder ein anderes Medium und jedes dieser Medien hat – mit McLuhan und (!) Wittgenstein gesprochen – seine eigene Grammatik, d. h. das Medium legt ein bestimmtes Verhalten, einen bestimmten Umgang und einen bestimmten Nutzen nahe. So zeigt sich im Verständnis der Funktionsweise der Medien (eben der Grammatik) die Fähigkeit, eine Situation oder Kultur (!) zu »lesen«: McLuhan attestiert Napoleon, dass er die »Grammatik des Schieß-
Vgl. Horkheimer, Max and Adorno, Theodor, W.: Dialektik der Aufklärung (Adorno: Gesammelte Schriften Band 3), Frankfurt: Suhrkamp 1997, 15. 18 Postman, Neil: Amusing Ourselves to Death, 89 (eigene Übersetzung). 19 McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle (Understanding Media), Düsseldorf/ Wien: Econ, 1968, 13. 17
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Lukas Kaelin
pulvers« verstehe; wie eben unter diesen medialen Bedingungen Krieg geführt wird; gleichermaßen habe De Tocqueville die Grammatik des Drucks verstanden, was ihm erst erlaubte, seine treffende Diagnose zur Entwicklungen Amerikas zu verfassen. Schließlich deutet McLuhan das Versagen der britischen Appeasement-Politik von intellektuell weit überlegenen Briten gegenüber Hitler als ein MedienVersagen; die Chamberlain-Regierung befand sich in einem anderen medialen Paradigma und konnte nicht hören, welche Gefahren für Europa heraufzogen. 20 Das Medium transportiert nicht nur einen Inhalt als neues Medium, sondern hat stets eine Wirkung als Medium: »Derselbe« Inhalt, gäbe es ihn denn, wird durch die Aufbereitung in einem Film, in einem Buch, in einem Comic, in einem Lied ganz unterschiedlich aufgenommen und vermittelt. Wenn Medien allgemein die Ausweitung unseres Selbst sind, so handelt es sich stets um eine Steigerung gewisser Sinneswahrnehmungen und je nach Medium werden dadurch unterschiedliche Sinne geprägt und geschult. Dies geschieht durch den Buchdruck und die Presse in einer anderen Weise als durch das Radio und das Fernsehen. Hier unterscheidet McLuhan nicht unproblematisch zwischen heißen und kalten Medien, d. h. zwischen solchen, die gezielt nur einen Sinn erweitern und etwas detailreich veranschaulichen (heiß) und solchen, die weniger sinnesspezifisch und detailarm sind (kühl). Demzufolge verlangen kühle Medien, da sie wenige Sinnesdaten hergeben, eine größere persönliche Beteiligung als heiße; die Vervollständigung muss durch den Rezipienten geschehen, während heiße Medien durch die Menge an Details eine vergleichsweise passive Rezeption ermöglichen. In dieser Kategorisierung gelten nach McLuhan das Telefon gegenüber dem Radio und der Fernseher gegenüber dem Film als kühle Medien. 21 Sandbothe deutet diese Unterscheidung zwischen kalten und heißen Medien pragmatisch als zwei unterschiedliche Mediennutzungsstile, wobei »heiß« und »kalt« sich nur jeweils im Verhältnis von zwei Medien zueinander aussagen lässt. 22 Je detailarmer und damit kühler ein Medium im Vergleich zu anderen ist, desto mehr bedarf es der Ergänzung durch den/die RezipientIn.
McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle, 20 und 24. Ebd., 28. 22 Sandbothe, Mike: Pragmatische Medienphilosophie, Weilerswist: Velbrück, 2001, 158. 20 21
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Das politische Denken unter den Bedingungen der medialen Öffentlichkeit
Nun steht sowohl bei Postmans kulturkritischen Reflektionen als auch bei McLuhans Überlegungen noch der Fernseher als hegemoniales Medium im Zentrum. Auch wenn McLuhan zuweilen große Dichotomien thematisiert (heiße vs. kühle, auditive vs. visuelle, schriftliche vs. mündliche Medien), so gilt beiden das »elektronische Zeitalter« als der entscheidende epochale Umbruch. In systematischer Weise weist Mike Sandbothe mit Blick auf das Internet auf dessen transmediale Verfassung hin: Die primäre Funktion bestehe in der Vernetzung unterschiedlicher Medien. Daher ist das Internet »kein radikal neues Medium, [sondern] ein digitales Geflecht aus bereits bekannten Medien.« 23 Die über das Internet miteinander vernetzten Computer und mobilen Endgeräte verbinden und transformieren schon zuvor bekannte Medien wie Zeitungen, Fernseher, Radio und Face-to-face Kommunikation. Daraus jedoch abzuleiten, das Internet wäre bloß die Summe dieser Medien und ließe sich aus deren Analyse erklären, ist verfehlt. Vielmehr entsteht durch die Fusion der verschiedenen Medien ein Transmedium, in dem die unterschiedlichen Medien in teilweise neuer Nutzung sich zu einem neuen Medium verdichten. 24 Aus pragmatischer Sicht spielt bei der Einschätzung des Internets als Transmedium der tatsächliche Mediengebrauch die entscheidende Rolle. Dabei sind drei Merkmale der medialen Veränderung der Kommunikationsbedingungen hervorzuheben. Erstens führen sowohl die gewachsene Bedeutung der sozialen Netzwerke wie auch der verstärkte mobile Gebrauch zu einer Beschleunigung und Verkürzung der Kommunikation. Angelehnt an die Textnachricht (sms) bestehen tweets oder Statusmeldungen bei Facebook aus wenigen Zeichen. Das Primat der Kürze wird in der Regel auch dann eingehalten, wenn keine formale Beschränkung vorhanden ist. Dieser Druck zur Kürze ist abgeschwächt auch bei »traditionellen« Nachrichtenmedien wie dem Onlineauftritt von Zeitungen zu konstatieren. Zweitens nimmt die Veranschaulichung von Sachverhalten über visuelle Mittel zu. Mit der Zunahme technischer Möglichkeiten der Bildgenerierung und Bilderbearbeitung geschieht die Kommunikation über das Transmedium Internet zunehmend mit Unterstützung von Bildern und Videos. Drittens – und maßgeblich – bildet das Internet durch seine
23 24
Ebd., 152. Ebd.
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Verlinkungsstruktur eine verstärkte Selbstreferentialität. Die verschiedenen Plattformen und Medien beziehen sich wechselseitig aufeinander, was die Homogenität des Internets als ein Transmedium verstärkt.
3.
Konsequenzen für das politische Denken im öffentlichen Raum
Nun bleiben die Veränderung der Medien und deren Nutzung nicht ohne Konsequenzen für die Diskursbedingungen in der politischen Öffentlichkeit. In der hier gebotenen Kürze möchte ich drei Phänomene der durch die Medien-Transformation verursachten, veränderten politischen Kommunikationsbedingungen hervorheben. Erstens verursachen die neuen (sozialen) Medien gegenüber den elektronischen eine nochmalige Beschleunigung, die dazu führt, dass immer mehr Informationen in immer kleineren Portionen vermittelt werden, was zu einer Dekontextualisierung der Information führt, die wiederum eine ironisierende Wahrnehmung des politischen Diskurses zur Folge hat. Die Trennung von politischen Informationen und anderen Bereichen der Berichterstattung, welche in traditionellen Medien (Zeitungen, Radio, Fernsehen) noch klar kenntlich ist, verschwimmt im Internet und in den Social Media. Nicht nur fehlt die klare Kennzeichnung einer Information als politisch; politische Beiträge passen sich auch in ihrer Form an das jeweilige Medium an, etwa in der Form von Aperçus, Beobachtungen und Meinungen. Die politische Kommunikation verliert die Aura der neutralen Seriosität, welche ihr durch die Formate gegeben wird, in denen politische Inhalte noch eindeutig erkennbar sind. Angesichts dieser Veränderung der Kommunikationsformen erscheint die Bestimmung der rationalen Argumentation von Inhalten und Stellungnahmen, wie sie Habermas vorschwebt, notwendigerweise zu einer Deutung der Öffentlichkeit als Verfallsgeschichte zu führen. Eine solche Deutung verkennt jedoch das Potential der neuen Medien, Aufmerksamkeit zu erzeugen, welche zur Steuerung des politischen Systems beiträgt. Zweitens findet der Austausch politischer Informationen zunehmend in halb-privaten, halb-öffentlichen Netzwerken statt, in welchen AkteurInnen weder eine klar private, noch eine klar öffentliche Rolle übernehmen. Dabei geht es um mehr als die Vermischung der ehemals getrennten Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit; es 402 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
Das politische Denken unter den Bedingungen der medialen Öffentlichkeit
geht um das Verschwimmen der Rollen. 25 So nimmt die Kommunikation in der Öffentlichkeit immer stärker die Form privater Kommunikation an: Kommentare in Zeitungen gleichen eher spontanen privaten Kommunikationen als argumentierenden Leserbriefen, Tweets sind hauptsächlich öffentliche Kommunikationen über private Ereignisse und persönliche Emotionen werden mit dem ganzen Netzwerk von FreundInnen geteilt. Explizit politische Themen werden dabei in den breiten Fluss privater Informationen eingespeist und nehmen deren Form an. Die Hegemonie des Privaten in der Öffentlichkeit eliminiert nicht die politische Kommunikation, aber führt häufig dazu, dass die politische Kommunikation die Form persönlicher Überzeugungen und einzelner Beobachtungen übernimmt. Der »Fall of Public Man« (Sennett) ist gleichzeitig der Aufstieg einer in den sozialen Medien aktiven Persona, welche die privat-öffentliche Unterscheidung aufhebt. Drittens nimmt die virtuelle Öffentlichkeit immer mehr die Form einer Blase (bubble) an. Der naive Beobachter wird möglicherweise das Internet als virtuelles Pendant der Öffentlichkeit verstehen, wo es »Kaffeehäuser« (Chats, Foren), Buchläden (z. B. amazon), Fernsehen (z. B. youtube) gibt und man mit Freunden reden (z. B. twitter) und Dinge teilen kann (z. B. facebook). Aber eine solche Parallelisierung vergisst die kommerziellen Interessen der jeweiligen AnbieterInnen, die dazu führen, dass die persönlichen Daten zur Erstellung eines Benutzerprofils angegeben werden müssen, was den/die zum User gewandelte/n BürgerIn immer häufiger und immer stärker mit den eigenen Interessen und Vorlieben konfrontiert. Je smarter die Umgebung wird, in der wir uns bewegen, desto mehr wird diese virtuelle Öffentlichkeit zu einer virtuellen Privatheit (sofern die Begriffe in diesem Kontext – siehe oben – noch sinnvoll sind). Damit verringert sich die Möglichkeit, von Unverhofftem überrascht zu werden. Je mehr Daten verknüpft werden, desto mehr wird das Internet zu einer privaten Blase als zu einem öffentlichen Raum. Je mehr zudem der öffentliche Raum für die Kommunikation in privaten Netzwerken genutzt wird, desto mehr verschwindet er. Das heißt nicht, dass Unterbrechungen und Störungen nicht passieren können, aber es heißt, dass die Offenheit für das Unerwartete abnimmt. Damit findet die Auseinandersetzung mit divergierenden Ansichten oder die
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Sennett, Richard: The Fall of Public Man, New York 1974.
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Konfrontation mit unbekannten oder unerwarteten Inhalten immer weniger statt. Diese drei Verschiebungen in der medial vermittelten Öffentlichkeit verändern nicht nur die Bedingungen, unter denen das politische Denken stattfindet, sondern auch die Form des politischen Denkens und schließlich die Möglichkeit, dass politische Gedanken gehört, d. h. in reale gesellschaftliche Veränderungen übersetzt werden. Denken ist zwar immer schon auf Öffentlichkeit angelegt, wie eingangs geschrieben, doch die Form, die es dabei annimmt und die Möglichkeit, auf Resonanz zu stoßen, verändert sich.
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405 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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Murat Ates ist u.a. wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes, Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Wien sowie Redaktionsmitglied der Zeitschrift Polylog. Oliver Bruns ist Mitarbeiter des Hannah Arendt-Zentrums und Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Eveline Cioflec ist Dozentin für Philosophie an der Lucian-BlagaUniversität in Hermannstadt/Sibiu, Rumänien. Christoph Dittrich lebt und arbeitet in Köln und übersetzte zuletzt Werke von Jean-Luc Nancy, René Schérer und Enrique Dussel. Jessica Dömötör promovierte zum Thema »Eine interkulturelle Wirtschaftsethik der globalen Gerechtigkeit. Der Einsatz Julius Nyereres« an der TU Berlin und ist derzeit Referentin für internationale Studienbewerbungen bei uni-assist e.V. Madeleine Elfenbein is a Ph.D. Candidate in the Department of Near Eastern Languages and Civilizations at the University of Chicago. James Garrison ist Teaching Fellow am Department of Philosophy der University of Bristol und war zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Wien. Anke Graneß ist Elise-Richter-Fellow am Institut für Philosophie der Universität Wien und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Polylog. Choong-Su Han lehrt an der Seoul National University und ist dort Forscher am Institute of Philosophical Research. 406 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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Karin Hostettler taught at the Centre for Gender Studies, University of Basel and currently holds a research associate position at the University of St. Gallen. Her research is located at the intersection of Philosophy, Gender Studies and Postcolonial Theories. Hannah Holme ist Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung und promoviert an der Universität Leipzig. Christoph Hubatschke ist Research Fellow der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Projektmitarbeiter am Institut für Philosophie sowie Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien. Takashi Ikeda ist a.o. Professor für Philosophie an der Meiji Universität in Tokio, Japan. Bruce Janz is Professor in the Department of Philosophy, co-director of the Center for Humanities and Digital Research, and core faculty in the Texts and Technology program, all at the University of Central Florida. Lukas Kaelin ist Assistenz-Professor am Institut für Praktische Philosophie/Ethik an der Katholischen Privat-Universität Linz. Karin Kuchler ist Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie an der Universität Wien. Giuseppe Menditto is a Research Fellow at the University of Rome Sapienza and a member of Euroikia – Association for Humanities. He holds a Phd in Intercultural Philosophy from the Italian Institute for Human Sciences (SUM) in Naples. Pritika Nehra is a research scholar in the Department of Humanities & Social Sciences (H.U.S.S), Indian Institute of Technology (I.I.T.) Delhi, India Britta Saal ist Philosophin und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Polylog. Sie ist aktuell freiberuflich als Autorin und Lektorin tätig und außerdem aktiv im Bereich Philosophieren mit Kindern in Wuppertal. 407 https://doi.org/10.5771/9783495817674 .
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Annika Schlitte ist Inhaberin der Juniorprofessur mit dem Schwerpunkt Sozial- und Kulturphilosophie an der Johannes GutenbergUniversität Mainz und war zuvor Sprecherin des Graduiertenkollegs »Philosophie des Ortes« an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt. Georg Stenger ist Inhaber der Professur für »Philosophie in einer globalen Welt« am Institut für Philosophie der Universität Wien und Präsident der »Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie« (GIP). Fabian Steinschaden hat an der Universität Wien Philosophie und Germanistik studiert. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, Technikphilosophie und Bildungsphilosophie. Tsutomu Ben Yagi studierte in Berkeley, Dublin und Budapest. Derzeit ist er Stipendiat im Graduiertenkolleg »Philosophie des Ortes« an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sophie Vögele is research associate at the Institute for Art Education (IAE) at the Zurich University of the Arts (ZHdK). She is currently pursuing a PhD in Sociology from York University (Toronto) on social inequality, processes of Othering, and theories of critique grounded in the field of Higher Art Education.
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