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German Pages 366 [372] Year 2021
Johann August Schülein Psychoanalyse als gesellschaftliche Institution
Folgende Titel sind u. a. in der Reihe Psyche und Gesellschaft erschienen: Hartmut Radebold (Hg.): Kindheiten im Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen. 3. Aufl. 2012. Helmut Dahmer (Hg.): Analytische Sozialpsychologie. Texte aus den Jahren 1910–1980, 2 Bände. 2013. David Tuckett: Die verborgenen psychologischen Dimensionen der Finanzmärkte. Eine Einführung in die Theorie der emotionalen Finanzwirtschaft. 2013. Lea Schumacher, Oliver Decker (Hg.): Körperökonomien. Der Körper im Zeitalter seiner Handelbarkeit. 2014. Jan Lohl, Angela Moré (Hg.): Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien. 2014. Burkard Sievers (Hg.): Sozioanalyse und psychosoziale Dynamik von Organisationen. 2015. Carlo Strenger: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten. 2016. Uli Reiter: Form und Funktion des Krankhaften. Pathologie als Modalmedium. 2016. Dieter Flader: Vom Mobbing bis zur Klimadebatte. Wie das Unbewusste soziales Handeln bestimmt. 2016. Fritz Redlich: Hitler – Diagnose des destruktiven Propheten. 2016. Johann August Schülein: Gesellschaft und Subjektivität. Psychoanalytische Beiträge zur Soziologie. 2016. Tobias Grave, Oliver Decker, Hannes Gießler, Christoph Türcke (Hg.): Opfer. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2017. Felix Brauner: Mentalisieren und Fremdenfeindlichkeit. Psychoanalyse und Kritische Theorie im Paradigma der Intersubjektivität. 2018. Ulrich Bahrke, Rolf Haubl, Tomas Plänkers (Hg.): Utopisches Denken – Destruktivität – Demokratiefähigkeit. 100 Jahre »Russische Oktoberrevolution«. 2018. Bandy X. Lee (Hg.): Wie gefährlich ist Donald Trump? 27 Stellungnahmen aus Psychiatrie und Psychologie. 2018. Sascha Klotzbücher: Lange Schatten der Kulturrevolution. Eine transgenerationale Sicht auf Politik und Emotion in der Volksrepublik China. 2019. Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Ritual. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2019. Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Autoritarismus. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2019. Rolf Haubl, Hans-Jürgen Wirth (Hg.): Grenzerfahrungen. Migration, Flucht, Vertreibung und die deutschen Verhältnisse. 2019. Caroline Fetscher: Das Paddock-Puzzle. Zur Psychologie der Amoktat von Las Vegas. 2021.
Psyche und Gesellschaft
Herausgegeben von Johann August Schülein und Hans-Jürgen Wirth
Johann August Schülein
Psychoanalyse als gesellschaftliche Institution Soziologische Betrachtungen
Psychosozial-Verlag
Mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Soziologie und Empirische Sozialforschung (Department für Sozioökonomie) der Wirtschaftsuniversität Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2021 Psychosozial-Verlag, Gießen E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: basierend auf einem Werk von frank_kie (stock.adobe.com) Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar ISBN 978-3-8379-3099-3 (Print) ISBN 978-3-8379-7776-9 (E-Book-PDF)
Inhalt Vorwort oder: Was hat die Psychoanalyse vom Kontakt mit der Soziologie?
7
Freud 1
Freuds Vorstellung von Gesellschaft
2
Von der Neurophysiologie zur »wissenschaftlichen Weltanschauung« Über Struktur- und Funktionswandel von Freuds Wissenschaftstheorie
3
Professionelle Freundschaften Freud und seine Beziehungen
19
59
93
Psychoanalytische Sozialpsychologie 4
Das »Unbehagen in der Kultur« und die moderne Ökonomie
119
5
Das »Schicksal« Analytischer Sozialpsychologie
147
6
Von der »vaterlosen Gesellschaft« zum »flexiblen Menschen« Psychoanalytische Zeitdiagnosen und gesellschaftlicher Wandel
7
Hoffnung, Wut und Skepsis Über Problemlagen psychoanalytischer Gesellschaftskritik
159
181
5
Inhalt
8
Die Dialektik sozialer und psychischer Realität oder: Können moderne Gesellschaften mit sich selbst Schritt halten? Über Modernisierung und Innovation
201
Psychoanalyse als Institution 9
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Institutionalisierungsprobleme der Psychoanalyse oder: Wird die »autoerotische Periode des Vereinslebens« durch die der »Objektliebe« abgelöst? Warum es die Psychoanalyse in der Wissensordnung nicht leicht hat Erkenntnis- und institutionstheoretische Überlegungen
221
249
Psychoanalytische Theorien 11
»Ewige Jugend« – Warum psychoanalytische Theorie die Probleme hat, die sie hat
283
12
Try again, fail better Über die sinnvolle, aber schwierige Beziehung von Psychoanalyse und Soziologie
315
13
Psychodynamik und Gesellschaft Eine dialektische Beziehung und ihre Konzeptualisierung
327
Literatur
357
Textnachweise
365
6
Vorwort oder: Was hat die Psychoanalyse vom Kontakt mit der Soziologie?
In dem Aufsatz »Das Interesse an der Psychoanalyse« von 1913 schrieb Freud, »daß die Psychoanalyse […] Interesse beansprucht, indem sie verschiedene andere Wissensgebiete streift und unerwartete Beziehungen zwischen diesen und der Pathologie des Seelenlebens herstellt« (Freud, 1913j, S. 391). Nach einer kurzen Skizze, die darstellt, wie die Psychoanalyse dazu kam, unbewusste Psychodynamik anzunehmen, sich zur Konflikttheorie entwickelte und daraus »das Primat im Seelenleben für die Affektvorgänge in Anspruch nimmt« und zugleich den »Nachweis eines ungeahnten Ausmaßen von affektiver Störung und Verblendung des Intellekts bei den normalen nicht anders als bei den kranken Menschen« erbrachte (ebd., S. 402), wendet er sich der Frage zu, was diese Annahmen und Einsichten anderen Wissenschaften zu bieten haben. Er spricht auch die Soziologie an. Die Psychoanalyse könne, so Freud, ihr ein besseres Verständnis der »affektiven Grundlagen für das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft« (ebd., S. 418) anbieten. Gesellschaften basieren auch auf libidinösen Besetzungen, die störungsanfällig sind. Neurotische Störungen hätten jedoch prinzipiell einen »asozialen Charakter« und »streben, das Individuum aus der Gesellschaft zu drängen« (ebd.). »Andererseits deckt die Psychoanalyse den Anteil, welchen soziale Verhältnisse und Anforderungen an der Verursachung der Neurose haben, im weitesten Ausmaße auf. Die Kräfte, welche die Triebeinschränkung und Triebverdrängung von Seiten des Ich herbeiführen, entspringen wesentlich der Gefügigkeit gegen die sozialen Kulturforderungen« (ebd.).
Was Freud hier der Soziologie anbietet, ist allerhand: Nicht nur ein Konzept der Grundlage und Funktionsweise von Gesellschaften, sondern auch 7
Vorwort oder: Was hat die Psychoanalyse vom Kontakt mit der Soziologie?
noch eine Erklärung der individuellen Basis und der gesellschaftlichen Ursachen a-sozialen Handelns. Freud hat diese Gedanken immer wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Schon die Studie über den Witz von 1905 behandelt im Grunde das komplexe Verhältnis von gesellschaftlichen Normen, individueller Abwehr und (sozial lizensierter und zugleich getarnter) Form der Triebbefriedigung. Seine späteren kulturtheoretischen Schriften waren noch wesentlich ambitionierter und entwickelten dezidierte Vorstellungen über die Funktionsweise von Gesellschaft und Wissenschaft. Dass diese Vorstellungen bei Freud nur im Ansatz und in sehr spezieller Weise entwickelt waren (siehe dazu Kapitel 1 in diesem Band), dass er nicht eine soziologische, sondern eine lebensweltliche Vorstellung von Gesellschaft hatte und als Bezugspunkt nutzte, ist verständlich (ausführlich dazu Kapitel 1 in diesem Band). Und ebenfalls, dass er das Projekt als »angewandte Psychoanalyse« verstand – die Soziologie seiner Zeit kannte er naturgemäß kaum; interdisziplinäre Kooperation war zu seiner Zeit kein Thema. Das sieht man seinen sozialpsychologischen Arbeiten an. Aber seit seiner Pionierarbeit hat sich die von die ihm entwickelte Perspektive methodisch wie inhaltlich erheblich weiterentwickelt. Außerdem ist die psychoanalytische Sozialpsychologie interdisziplinärer geworden. Es gab und gibt eine große Zahl interessanter und produktiver Unternehmungen, in denen die Perspektiven der Psychoanalyse mit denen der Soziologie in Verbindung gebracht wurden. Projekte dieser Art haben bemerkenswerte Beiträge zum Verständnis des psychosozialen Geschehens geleistet (siehe dazu die Kapitel 4 bis 7 im vorliegenden Band). Dabei hat sich allerdings auch eine Fülle von Problemen gezeigt, die mit Interdisziplinarität im Allgemeinen und mit dem Verhältnis von Psychoanalyse und Soziologie im Besonderen zu tun haben. Einige davon werden in den hier gesammelten Texten ausführlich diskutiert (in den Kapiteln 9, 11 und 12). Dazu gehört beispielsweise, dass Interdisziplinarität ein Sich-Einlassen auf eine andere Sichtweise voraussetzt. Die eigene Perspektive muss sich öffnen für das, was eine andere sieht und wie sie vorgeht. Das ist leichter gesagt als getan – es ist in gewisser Weise noch viel schwieriger geworden als zu Freuds Zeiten. Denn inzwischen haben sich beide Disziplinen erheblich entwickelt und von ihren Anfängen weit entfernt. Schon in einem Fach ist es kaum mehr möglich, umfassend auf der Höhe der Diskussionen zu bleiben – erst recht nicht in zwei verschiedenen Fächern. 8
Vorwort oder: Was hat die Psychoanalyse vom Kontakt mit der Soziologie?
Daraus ergibt sich eine paradoxe Situation: Die Bedingungen der Kooperation von Psychoanalyse und Soziologie sind günstiger, aber sie sind zugleich schwieriger geworden. Wenn man schon Mühe hat, im eigenen Fach den Überblick zu behalten, ist es fast ausgeschlossen, dies auch noch in einem anderen zu schaffen. Freud konnte keine Vorstellung von dem haben, was Soziologie ist und tut, weil es sie zu seiner Zeit nur in Ansätzen gab. Heute ist es schwierig, einen Zugang zu gewinnen, weil sie inzwischen ein hochgradig komplexes und unübersichtliches Fach geworden ist. Es gibt die Soziologie ebenso wenig wie die Psychoanalyse. Auch Letztere stellt sich bei näherem Hinsehen als eine fast unübersehbare Vielfalt von unterschiedlichen Variationen und Zugängen dar. Dieses scheinbare Chaos ist kein Zeichen von Unfähigkeit, Unreife oder Zufall, sondern hängt mit der spezifischen Gegenstandskomplexität und den daraus resultierenden Problemen von Theorien zusammen (auch das wird im folgenden Text ausführlich behandelt, zum Beispiel in den Kapiteln 8 und 9). All dies wird deutlich, wenn man versucht, genauer zu bestimmen, womit es Soziologie zu tun hat: Mit dem Beginn der Aufklärung schärfte sich Blick auf soziale Realität. Wurde bis dahin relativ selbstverständlich hingenommen, dass Menschen zusammenleben, und darüber diskutiert, was denn die richtige Form dieses Zusammenlebens sei, stellte sich jetzt die grundlegende Frage: Wie ist Gesellschaft überhaupt möglich? Seit Hobbes wurde nach der Antwort gesucht – Soziologie ist letztlich der professionell organisierte, wissenschaftliche Versuch, diese Frage systematisch und detailliert zu beantworten. Dass sich dabei mit der zunehmenden Einsicht in die Komplexität des sozialen Geschehens auch die Vorstellungen verkomplizierten, ist nicht verwunderlich – und dass es nicht eine, sondern verschiedene Antworten gibt, ebenso wenig. Das verdeutlicht ein Blick auf Aufbau und Funktionsweise sozialer Realität. Ihr Aufbau ist bestimmt durch ein Spektrum von konkret bis abstrakt, von singulär bis aggregiert. Um das darzustellen, wird häufig zwischen verschiedenen Ebenen unterschieden. Etwa so: ➣ Mikroebene: Die Ebene der Fülle von einzelnen sozialen Situationen, die gleichzeitig stattfinden und aufeinander folgen. Jede Situation ist singulär, hat aber ein spezifisches Profil, das aus ihrer Eigendynamik und aus den sozialen Vorgaben stammt (zum Beispiel Eltern-Kind-Interaktionen, Schulunterricht, Einkaufen im Supermarkt); 9
Vorwort oder: Was hat die Psychoanalyse vom Kontakt mit der Soziologie?
➣ ➣ ➣
Mesoebene: Die Ebene der themen- oder personenzentrierten Aggregationen (Organisationen wie Schulen oder Firmen, Gruppen wie Familien, Peergroups oder die Lehrer1 einer Schule); Makroebene: Die Aggregation von empirischen Organisationen und Gruppen zu Subsystemen (Bildungssystem, Ökonomie) und Populationen (alle Schülerinnen, soziale Schichten); schließlich die Ebene der Gesellschaft als Gesamtsystem.
Der soziale Raum kennt also verschiedene »Stockwerke«, in denen soziale Realität jeweils verschieden prozessiert – Situationen folgen einer anderen Logik als Makrosysteme. Zwischen ihnen herrscht permanenter Austausch; sie konstituieren und treiben sich gegenseitig. Gleichzeitig muss man sich das soziale Geschehen auch geografisch differenziert vorstellen: Es gibt Zentren und Peripherien, es gibt Unterschiede in der Dichte und des Austauschs. Was hier passiert, sieht anders aus als das, was da passiert. Auch dadurch kommen Differenzen und Bewegung ins Spiel. Dies gilt erst recht in Bezug auf die thematischen Dimensionen. Gesellschaften müssen die Lebensbedingungen bereitstellen (was durch Technik, Arbeit, Ökonomie geschieht), sie müssen sich steuern und Entscheidungen treffen können (das leisten Macht und Politik), sie müssen eine innere Ordnung erzeugen (das geschieht durch Regeln, Muster und deren Kontrolle), sie müssen Wissen, Vorstellungen und Denkmöglichkeiten erzeugen, verteilen und sanktionieren (durch das Symbolsystem und seine Spezialisierungen) und last, but not least: Sie müssen das Erleben, die Gefühle und Bedürfnisse der Akteure stimulieren oder bremsen, kanalisieren und integrieren (in Form einer psychodynamischen Ordnung). Das sind natürlich abstrakte Unterscheidungen – empirisch gibt es stets Mischformen und Überschneidungen. Aber jede dieser thematischen Dimensionen hat eine eigene Logik und Dynamik, das heißt, je weiter sie sich entwickeln, desto mehr driften sie auseinander. Man hat es also mit einem Mehr-Ebenen-Geschehen mit beziehungsweise in unterschiedlichen thematischen Dimensionen zu tun, die interferieren, aber verschieden sind. Dadurch ergeben sich eine Fülle von Austauschprozessen und Transformationen. Sie unterscheiden sich nicht nur 1 Der besseren Lesbarkeit wegen und da auf diesem Gebiet zwar viel in Bewegung, aber noch keine einheitliche und elegante Lösung gefunden worden ist, verwende ich in weiterer Folge die männliche Schreibweise, die alle Geschlechter einschließen soll.
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Vorwort oder: Was hat die Psychoanalyse vom Kontakt mit der Soziologie?
in der Art der Beziehung und den Effekten, sie haben jeweils unterschiedliche Zeithorizonte – die Zeit, die Prozesse brauchen, ist nicht überall gleich (etwa die Geschwindigkeit, mit der sich Änderungen auf den Ebenen, in den Regionen, in den thematischen Dimensionen entwickeln). Die vielen Teilprozesse sind inhaltlich, sozial, geografisch und zeitlich häufig unkoordiniert und gegensätzlich. Gesellschaften funktionieren – existieren und entwickeln sich – dadurch, dass es ihnen gelingt, die für die Aufrechterhaltung ihrer Struktur und für deren Nutzung erforderlichen Leistungen zu erbringen. Es geht also um systemstabilisierende Leistungen, es geht aber auch darum, die Ziele, die sie generiert und die Mittel, die sie zu deren Realisierung produziert, zu steuern, zu kontrollieren und zu integrieren. Dies geschieht jedoch meist unter den Vorzeichen von Differenzen und problematischen Ungleichgewichten, von Konflikten, von unkontrollierten und unkontrollierbaren Entwicklungen und Widersprüchen, von defizitären, problematischen oder destruktiven Mitteln, die zur Steuerung benutzt werden. Anders gesagt: Komplexe Gesellschaften haben sich nur begrenzt im Griff, sie produzieren unentwegt Schwierigkeiten, Disparitäten, Krisen und sind mit mehr oder weniger Erfolg und mit mehr oder weniger schädlichen Mitteln damit beschäftigt, sie zu behandeln oder zu mildern. Und sie bringen in erheblichem Maß »Betriebskosten« mit sich, die typischerweise (ebenso wie das Profitieren von den Verhältnissen) ungleich verteilt sind. Deshalb »funktionieren« Gesellschaften selten perfekt, viel häufiger mehr schlecht als recht und manchmal so schlecht, dass sie kollabieren und auf ein primitiveres Niveau regredieren. Dabei sind auch die Funktionsniveaus ungleich verteilt – »optimales« Funktionieren in einer Dimension kann mit primitivem in anderen einhergehen oder sogar damit verbunden sein. Was sich daraus ergibt, ist ein erratischer, vieldeutiger, widersprüchlicher Gesamtprozess, der immer verschieden verläuft und immer neue Variationen und unerwartete Dynamik hervorbringt. »Gesellschaft« ist also immer verschieden, immer auch anders und erratisch. Sie als Ganzes zu erfassen, übersteigt das Leistungsvermögen von Theorien. Um die Komplexität ihres Themas zu bändigen, arbeiten alle diese soziologischen Theorien mit Modellen – von Max Weber als »Idealtypen« bezeichnet –, die die Logik des sozialen Geschehens rekonstruieren. Da es sich jedoch um eine multiple Logik handeln, ist eine logische Konsequenz, dass die Soziologie sich präsentiert als eine Pluralität von Theorien, die jeweils aus anderen Perspektiven und mit anderen Mitteln versuchen, soziale 11
Vorwort oder: Was hat die Psychoanalyse vom Kontakt mit der Soziologie?
Realität zu erfassen und zu verstehen. Diese Mittel und ihre Resultate sind zwangsläufig »esoterisch«: Außenstehende erleben sie als unverständlich, manchmal sogar als bizarr oder gar abwegig. Das kann nicht anders sein, weil sie sich an Gegenstandsvorstellungen und Diskursen orientieren, die oft weit weg sind von dem, was für die »Außenwelt« nachvollziehbar, relevant und verkraftbar ist. Dazu kommt, dass manche Mittel tatsächlich problematisch sind und manche Eigendynamik der Diskurse (etwa Theoriemoden) irrationale Züge hat. Auch das erschwert Anschlussmöglichkeiten. Hier ist eines dieser Mittel besonders folgenreich: Im Bemühen darum, unbewältigbare Komplexität zu bewältigen, tendieren viele soziologische Theorien dazu, zunächst alles auszuklammern, was nicht sozio-logischer Natur ist. Man verzichtet also dezidiert auf die Einbeziehung von Psychologie. Das Argument: Dass es Ampeln im Straßenverkehr gibt, erklärt sich aus der Notwendigkeit von Regulation. Und dass Menschen an der roten Ampel stehen bleiben, hängt damit zusammen, dass das Zusammenleben nur möglich ist, wo Regeln eingehalten werden. Zugespitzt gesagt: Um zu verstehen, wie Gesellschaften (nicht) funktionieren, betrachten viele soziologische Theorien Gesellschaften zunächst als eine Art Maschine, deren Mechanik ohne die Menschen, die sie betreiben, untersucht wird. Implizit werden dabei vereinfachende Menschenbilder verwendet (etwa der »homo sociologicus«, ein Typus, der gesellschaftliche Erwartungen versteht, verarbeitet und auf bestimmte Weise umsetzt, oder der »homo oeconomicus«, der den Nutzen von Handlungen berechnet und deshalb lieber stehenbleibt, als sich überfahren zu lassen). Das sind erklärungsschwache und im Kern tautologische Vorstellungen. Ein häufiger »blinder Fleck« der Soziologie ist (aus methodischen Gründen!) daher ihre subjekttheoretische Schwäche. Um also die »volle Wirklichkeit« zu erfassen, bietet sich eine Zusammenarbeit mit Psychologie und speziell Psychoanalyse geradezu an. Dem steht jedoch einiges im Weg. Denn gerade für Theorien, die auf schwachen Grundlagen stehen, ist der »blinde Fleck« oft auch stabilisierend und entsprechend hoch besetzt. Dann arbeitet man lieber mit Hilfskonstruktionen aus Eigenmitteln, statt sich auf das Abenteuer der Kooperation mit einem anderen Fach einzulassen. Das muss wiederum den potenziellen Partner (auch die Psychoanalyse) erstmal irritieren, weil sie die Abstraktion von der Psyche der Akteure als unverständlich und irreführend erleben. Dies ist jedoch häufig eine wechselseitige Sache. Denn auch die potenziellen Partner haben ihrerseits 12
Vorwort oder: Was hat die Psychoanalyse vom Kontakt mit der Soziologie?
»blinde Flecken«, die für ihr Denken konstitutiv sind (und mit deren Relativierung sie sich ebenso schwertun). Dieses Miss-Verstehen zwischen unterschiedlichen Fächern ist in gewisser Weise normal und geradezu unvermeidlich als Folge von an sich sinnvoller Arbeitsteilung und Spezialisierung. Man kann nicht alles zugleich und erst recht nicht alles zugleich differenziert thematisieren. Deshalb arbeiten Theorien mit Reduktionen, mit Vereinfachungen und mit Ausklammerungen. Dies ist eine unvermeidliche Funktionsbedingung, die zur Verständigungssperre werden kann, wenn die Abgrenzung als Stabilisierungsmechanismus genutzt wird. Und da, wo es gelingt, diese Hindernisse zu überwinden, stellt sich Interdisziplinarität als eine schwierige Sache dar (siehe Kapitel 9 im vorliegenden Band). Es reicht nicht, eine andere Sichtweise zu kennen und zu akzeptieren (was schon schwierig genug ist, wenn es sich um komplementäre »blinde Flecken« handelt). Man muss sich zudem noch mühen, ein gemeinsames Objekt zu finden und es in sein Herz aufnehmen. Und man muss aushalten, dass die eigenen Kompetenzen aus der Gegenperspektive skeptisch betrachtet werden – und dass in das gemeinsame Denken nicht das gesamte Repertoire der eigenen Möglichkeiten eingebracht werden kann (siehe Kapitel 11). Es sollte verfügbar und auf dem neusten Stand sein, weil es keinen Sinn mehr ergibt, Soziologie so zu betreiben, wie sie vor hundert Jahren war, ebenso wenig wie es Sinn macht, Psychoanalyse so zu verstehen, wie Freud sie entwarf. Das verlangt viel – Soziologen müssen verstehen, dass es nicht reicht, nur die Traumdeutung (oder gar nur die Gerüchte über die Psychoanalyse) zu kennen, um die moderne Psychoanalyse zu verstehen; Psychoanalytiker müssen sich damit auseinandersetzen, dass das, was im psychoanalytischen Blick als »Gesellschaft« erscheint, ebenso wenig ausreicht, um Gesellschaften zu verstehen wie bloßes Alltagswissen. Ein anderes Problem: Man muss sich einschränken, weil man in interdisziplinärer Kooperation nicht alles realisieren kann, was man kann – thematisch, aber auch in der Art, wie die Themen behandelt werden. Ein Großteil des intern verwendbaren Repertoires ist im Sinne eines gemeinsamen Diskurses so nicht in der Zusammenarbeit verwendbar. Diese Art der Selbstbeschränkung ist eine weitere Zumutung. Trotzdem: Die Zusammenarbeit lohnt sich, wenn und weil beide Paradigmen sich auf produktive Weise ergänzen können. Erst in der Kooperation mit Soziologie kann Psychoanalyse ihr gesellschaftstheoretisches Potenzial zur Wirkung bringen. Dann kann es zu im Wortsinn »aufklärenden« Interpretationen kommen. 13
Vorwort oder: Was hat die Psychoanalyse vom Kontakt mit der Soziologie?
Diese Art der Kooperation basiert auf Reziprozität und darauf, dass beide Blicke sich auf ein gemeinsames Drittes richten. Es gibt jedoch noch eine andere Art der Unterstützung, die die Soziologie der Psychoanalyse bieten kann (und an die Freud aus verständlichen Gründen nicht dachte). Sie besteht darin, dass sich der soziologische Blick auf die Psychoanalyse als soziale Realität richtet. Denn sie basiert – wie alles, was sozial existiert – auf der Nutzung beziehungsweise Entwicklung passender sozialer Formate, sie ist verstrickt in ihre soziale Umwelt und sie operiert mit Mitteln, die im Austausch mit ihrer sozialen Umwelt stehen (und daher auch von ihr abhängig sind). Es geht also nicht um Theorie und Praxis der Psychoanalyse, sondern darum, die Voraussetzungen, unter denen sie entstanden ist, sich entwickelt hat und arbeitet, zu verdeutlichen. Das kann dazu beitragen, besser zu verstehen, welche Folgeprobleme damit verbunden sind. Speziell wissenssoziologische Perspektiven (die sich unter anderem auch mit den Problemen der Institutionalisierung von Reflexion und Selbstreflexion beschäftigen) beleuchten typische Konflikte und neuralgische Punkte, mit denen sich (auch) die Psychoanalyse herumschlägt. Dazu gehören beispielsweise die Gründe und die Folgen der »Schulenbildung«, Schwierigkeiten der Standardisierung und Technisierung personengebundener Praxisformen, der institutionellen Balance, das Verhältnis von Organisationsform und Binnenstruktur, der Umgang mit Grenzen und vieles mehr (siehe dazu Kapitel 8 und 9). Externe Perspektiven sind für das Objekt der Betrachtung immer heikel – das betrifft die Anwendung psychoanalytischen Denkens ebenso wie die Soziologie. Das Betrachtete wird dezentriert, so gesehen, wie es sich selbst nicht sieht. Das ist doppelt unangenehm. Objekt zu sein, ist eine eventuell bedrohliche soziale Depotenzierung, und die fremde Sichtweise ist (aus der Binnenperspektive) unmittelbar nicht evident, erscheint unter Umständen als abwegig und kränkend. Andererseits: Die blinden Flecken, die Betriebsblindheiten der Binnenperspektive schränken die Möglichkeiten von Selbstreflexion ein. Daher ist es auch keine gute Idee, wenn beispielsweise von manchen Psychoanalytikern gefordert wird, die Psychoanalyse müsse ihre Probleme allein mit Mitteln der Psychoanalyse verstehen und bearbeiten. Wer so denkt, geht von einer Unabhängigkeit aus, die es nicht gibt und nicht geben kann. Der Imperativ überschätzt die Möglichkeit des eigenen Paradigmas. Keine Theorie kann alles gleichzeitig und gleich gut behandeln. Im Gegenteil: Die Fokussierung auf bestimmte Aspekte der Realität bedeutet zugleich, dass die erforderlichen Ein- und 14
Vorwort oder: Was hat die Psychoanalyse vom Kontakt mit der Soziologie?
Ausklammerungen die Beschäftigung mit anderen Aspekten erschwert, weil die auf ein bestimmtes Thema zentrierten Mittel eine ebenso differenzierte Einstellung auf einen anderen Aspekt erschwert. Vielleicht ist auch gar nicht so schlecht, wenn eine heikle Diagnose der Außenwelt zugeschrieben werden kann … Auf jeden Fall können ein externer Blick und seine Befunde nicht nur ein besseres Selbstverständnis mit sich bringen, sie können auch entlasten. Aus der Distanz wird sichtbar, dass institutionelle Probleme nicht das Resultat von (individuellem) »Versagen« sind, sondern Auswirkungen struktureller Schwierigkeiten, die aus der Logik des Themas und der Praxis resultieren. Nicht alles, was falsch läuft, ist also das Ergebnis von »Fehlern«, sondern kann als Ergebnis von nicht restlos lösbaren Konflikten gesehen werden, mit denen man sich dauerhaft herumschlagen muss. Als Soziologe habe ich mich mit beidem beschäftigt. Viele meiner soziologischen Fragestellungen sind durch psychoanalytische Theorien bereichert worden. Bei fast allen Themen der Sozialwissenschaften lassen sich beide Perspektiven sinnvoll verbinden (siehe zum Beispiel Schülein, 2016, 2017, 2018). Die hier versammelten Texte2 beschäftigen sich vor allem mit der anderen Perspektive: Sie bieten soziologische Anmerkungen zur Psychoanalyse – zu Freud, zur Psychoanalytischen Sozialpsychologie, zur Psychoanalyse als Institution und zu Aspekten psychoanalytischer Theorie. Das Ziel ist dabei ein besseres Verständnis von Entwicklungs- und Balanceproblemen. Meine Beschäftigung mit diesen Themen hat sich über einen längeren Zeitraum, an verschiedenen Themen und in verschiedenen Zugängen entwickelt. Das hat zur Folge, dass sich bestimmte Blickwinkel und auch die verwendete Terminologie hin und wieder verändert. Die Texte enthalten außerdem Wiederholungen und sie bilden auch kein zusammenhängendes Ganzes. Und sie unterscheiden sich im Stil. Der Vorteil: Sie lassen sich auch einzeln lesen – und sind insgesamt (m)eine Hommage an die Psychoanalyse, von der ich hoffe, dass dies so auch ankommt. Johann August Schülein Wien, im Juli 2021
2 Die im Verhältnis zu ihren ursprünglichen Fassungen (siehe »Textnachweise« am Ende des Bandes) überarbeitete und zuweilen erweiterte Versionen darstellen.
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Freud
1 Freuds Vorstellung von Gesellschaft
Zum Thema Freud war kein Gesellschaftstheoretiker. Er hat sich daher nie mit soziologischen Methoden und der Logik des Aufbaus, der Funktionsweise und der Entwicklung von Gesellschaften beschäftigt. Seine Arbeit hat ihn jedoch in mehrfacher Weise und unvermeidbar mit dem Thema Gesellschaft konfrontiert: ➣ Er beschäftigte sich zwar unmittelbar mit psychodynamischen Prozessen, aber da deren Logik von gesellschaftlichen Umständen mitbestimmt wird, musste Freud das Verhältnis von Psyche und Gesellschaft bestimmen. Dies ging nicht ohne inhaltliche Vorstellungen darüber, wie soziale Realität funktioniert. ➣ Zudem hat Freud bald nach der Konsolidierung der Psychoanalyse damit begonnen, ihre Leistungen für die Diskussion gesellschaftlicher zu nutzen. Auch dafür waren elaborierte Vorstellungen über Aufbau und Funktionsweise von Gesellschaften erforderlich. ➣ Schließlich wurde die Psychoanalyse ziemlich bald und ziemlich heftig zu einem umstrittenen gesellschaftlichen Thema, zum Kristallisationskern politischer und wissenschaftlicher Kontroversen. Daher musste Freud sich auch mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen beschäftigen (beziehungsweise seine eigenen Vorstellungen auf diese Problematik hin explizieren). Entsprechend hat Freud im Laufe seines Lebens eine Reihe von impliziten und expliziten Vorstellungen über das, was er sich unter »Gesellschaft« vorstellte, entwickelt. Um sie besser einordnen zu können, beschreibe ich zunächst die allgemeine Problemlage seiner Theorie und skizziere dazu ein 19
1 Freuds Vorstellung von Gesellschaft
Modell der Operationsniveaus von gesellschaftsbezogenem Denken. Im Anschluss daran stelle ich die Eckpunkte von Freuds Gesellschaftsvorstellungen und ihre Entwicklung dar und versuche dann, ihre Funktionen und Folgen einzuschätzen.
Freuds Situation Als Freud seine Berufslaufbahn als Neurologe begann, war überhaupt nicht abzusehen, wohin ihn sein Weg führen würde, obwohl es zweifellos eine innere Logik besitzt, dass er über die Neuropathologie zur Psychopathologie und von dort zur Begründung einer neuen funktions- und konfliktzentrierten Sicht auf die Psyche kam. Dabei wurde er naturgemäß von den Umständen beeinflusst – zunächst negativ, denn die Rahmenbedingungen waren eher hinderlich und die verfügbaren Ressourcen unmittelbar wenig hilfreich. Um nur die wichtigsten Aspekte anzusprechen: ➣ Freud befand sich in einer echten Pioniersituation. Zunächst operierte er weitgehend im Alleingang. Es gab daher wenig externen Halt seiner Arbeit, stattdessen viel Unverständnis und zum Teil Ablehnung. Dazu kam, dass die Themen, mit denen er sich beschäftigte, nicht unbekannt waren; es gab jedoch keine methodischen und theoretischen Konzepte, die ihn bei seiner Arbeit substanziell unterstützt hätten. So musste er eine neue Theoriewelt entwickeln. Dafür stehen in Pioniersituationen keine angemessenen Mittel zur Verfügung – weder kognitiv noch sozial. Reflexion muss mit entsprechend tastenden Groborientierungen arbeiten; sie improvisiert oder importiert themenfremde »Brückenannahmen«, um die Form der Theorie zu erreichen. Es stehen weder interne noch externe Stützen zur Verfügung. Es fehlt die Infrastruktur, die Arbeitsteilung, organisierte Kommunikation, die soziale Institutionalisierung ermöglicht. Es wird daher weitgehend soziale »Handarbeit« betrieben. ➣ Gravierend waren auch die Theorieprobleme, die sich aus dem Thema ergaben. Freud erkannte bald, dass der psychische Prozess einer multiplen Logik folgt: Er schließt Primär- und Sekundärprozesse ein, die ihrerseits in ihrer Entwicklung und ihrer Aktualität von somatischen wie von sozialen Faktoren beeinflusst werden. Diese Komplexität ist begrifflich nicht definitiv zu fassen. Das färbt ab auf die Theoriestruktur. Um die Verschiedenheit, die Bewegung und die wider20
Freuds Situation
➣
sprüchliche Komplexität zu erfassen, werden konnotative Theorien benötigt, Theorien, deren Begriffe untereinander mit der Welt nur lose verbunden sind, damit sie sich den jeweiligen Besonderheiten anpassen können. Sie dürfen sich daher nicht denotativ verfestigen (wie eine Kunstsprache), sondern müssen beweglich bleiben (wie die Umgangssprache), das heißt konnotativ verfahren.1 Dazu kommt noch, dass die Psychoanalyse nicht nur mit konnotativen Theorien arbeiten muss, sondern zudem noch in hohem Maß autoreflexiv ist. Es gibt kaum einen Punkt einer ausgeprägteren Überschneidung von Subjekt und Objekt als die Psychologie, es gibt keine Psychologie, die mit der gleichen Intensität Angst-, Scham- und Schuldgefühle aktiviert, die triebhaften Grundlagen der Psyche und ihre unbewusste Dynamik zum Thema macht. Das bringt jede Menge an Folgeproblemen mit sich. Wie immer wieder betont wurde, ist autoreflexive Theorie daher von ihrem Gegenstand nicht getrennt, sondern in ständigem Austausch: Sie bezieht ihre Möglichkeiten aus sozial verfügbaren, psychologisch basierten und vermittelten Ressourcen. Umgekehrt wirkt sich die in Wissen transformierte Erkenntnisleistung (mehr oder weniger intensiv) auf ihren Gegenstand aus. Von der Dynamik dieser wechselseitigen Konstitution werden die Abenteuer der Psychologie (wie die der Soziologie, der Geschichtswissenschaft und anderen Disziplinen) bestimmt – getragen wie kontaminiert.
Freud war, so gesehen, mehrfach überfordert: Er musste nicht zu bewältigende Probleme unter schwierigen Bedingungen mit unzulänglichen Mitteln bearbeiten. Dennoch gelang es ihm, einige entscheidende Schritte in Richtung auf eine Theorie psychodynamischer Prozesse zu unternehmen. 1 Das bedeutet große Belastungen für Theorien: Abstraktion wird wesentlich erschwert, weil und wo sie nicht mit algorithmischer Reduktion arbeiten kann. Konnotative Theorien können zudem nicht »abgeschlossen« werden. Weder erschöpft sich ihr Gegenstand noch können sie einen Gegenstand erschöpfend behandeln. Es gibt sie zudem nur im Plural, weil kein singuläres Paradigma imstande ist, alle Dimensionen und Faktoren zugleich (gleich) gut zu verarbeiten, sodass stets Alternativen möglich und nötig sind. Schließlich sind konnotative Theorien nutzungsabhängig, das heißt auch: ihre Leistungsfähigkeit ist von der Art der Verwendung abhängig. Konnotative Theorien leiden unter chronischen Balancedefiziten, die nicht zu heilen sind (siehe dazu ausführlich die Kapitel 6 und 7).
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1 Freuds Vorstellung von Gesellschaft
Unter diesen Umständen gelang ihm in mehrerer Hinsicht Außerordentliches: ➣ Er etablierte einen nicht nur respektierenden, sondern vor allem auch nüchternen Umgang mit Themen, die bis zu diesem Zeitpunkt tabuisiert, angst- und schambesetzt, mystifiziert oder gar dämonisiert wurden und entsprechend im öffentlichen Diskurs nicht auf rationale Weise thematisierbar waren. ➣ Er entwickelte ein methodisches Arrangement, mit dessen Hilfe eine Kontaktaufnahme mit einer erfahrbaren, aber nicht mit den Methoden der empirischen Forschung erfassbaren Dimension der Wirklichkeit möglich wurde.2 ➣ Er entwickelte theoretische Modelle, über die Struktur und Funktionsweise psychodynamischer Prozesse zumindest im Ansatz zugänglich wurden und die dadurch den Horizont subjekttheoretischer Möglichkeiten erheblich ausgeweitet haben.3 Wie war dies angesichts der Umstände möglich? Zunächst spielen hier Persönlichkeitsmerkmale mit Sicherheit eine wichtige Rolle. Freud war einerseits in hohem Maße identifiziert mit den Normen und Werten des Bildungsbürgertums, andererseits war dies keine unkritische Identifikation. Vor allem hatte er zudem ein hohes Maß an Eigensinn und Abenteuerlust, also »Anarchismus« im Sinn von Paul Feyerabend (1977). Diese Mischung erlaubte ihm, sich auf dem schmalen Grat zwischen dem Steckenbleiben in Konventionen und einem Abkippen ins Sektiererische zu halten. Ein Beispiel dafür ist sein Verständnis von Wissenschaft: Besonders interessiert hat Freud sich für die Begründung von Methoden und Theorien 2 Die volle Tragweite seiner methodischen Innovation blieb unerkannt. Aus heutiger Sicht ist deutlich, dass er sich tatsächlich auf den Weg machte zu einer logisch wie empirisch ausgearbeiteten Hermeneutik (Habermas), und dabei bereits weit über das hinausging, was viel später als »Dichte Beschreibung« (Geertz) bezeichnet wurde. 3 Insbesondere seine Theorie des biopsychischen Antriebspotenzials (Triebtheorie mit der Differenzierung von Triebziel und Triebobjekt sowie einem entwicklungslogischen Schema), die Unterscheidung unterschiedlicher Prozesstypen der Psyche (Primär- und Sekundärprozess) sowie die Bestimmung des Verhältnisses von bewussten und unbewussten Vorgängen im Kontext funktions- und konfliktlogischer Vorstellungen haben das Verständnis weit über die Psychoanalyse hinaus revolutioniert und stimuliert (allerdings dabei auch so manche eigenwillige Nutzung beziehungsweise Missbrauch erfahren).
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Freuds Situation
nicht. Dass seine Arbeit vom zeitspezifischen Methodenkanon abwich, war nicht zu übersehen. Freud schrieb: »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren« (Freud & Breuer, 1895d, S. 227).
Er sah darin jedoch eine schlichte Notwendigkeit: »Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen« (ebd.).
Was Freud anbot, war letztlich die Formel: Wissenschaft ist, was ein Wissenschaftler für richtig hält, weil die Sache es verlangt. Sein Umgang mit Theorien war entsprechend: Er blieb bei dem, was ihm als richtig erschien, ohne sich sonderlich um Korrektheit und Anerkennung zu kümmern. Dies war mit Blick auf die Sache ein pragmatischer Volltreffer (und mit Sicherheit die klügere Position als: Wissenschaft ist, was die Mehrheit darunter versteht) – in der Begründung aber eher defensiv und schwach. Dies war jedoch nicht der einzige Aspekt von Freuds Arbeit, in dem es aufgrund problematischer Vorannahmen bemerkenswerte Einsichten, aber auch problematische Feststellungen gab. Dazu gehören auch seine Vorstellungen von Gesellschaft, die vielfältig kritisiert worden sind.4 Im Folgenden geht es weniger um eine Kritik als um eine genauere Vorstellung davon, wie Freud die soziale Welt sah, wie sich dieses Bild im Lauf der Entwicklung der Psychoanalyse zur Theorie entwickelte und wie diese Entwicklung inhaltlich und funktional einzuschätzen ist. 4 Wobei das Niveau der Kritik erheblich schwankte. Seriöse Auseinandersetzungen finden sich beispielsweise bei Fromm (1935), Riesman (1968) oder Roazen (1971).
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Freuds Gesellschaftsbild Niveaus des kognitiven Umgangs mit sozialer Realität
Es gibt eine breite Diskussion darüber, welche Faktoren Einfluss auf Freuds Denken genommen haben. Immer wieder genannt werden dabei: ➣ die Tradition der Aufklärung: Fromm (1935) hat darauf verwiesen, in welchem Ausmaß sowohl die Hintergrundphilosophie als auch das praktische Vorgehen der Psychoanalyse in den Ansprüchen rationaler Lebensführung, objektiven Wissens und der Toleranz »abweichender« Formen ihren Ursprung hat. ➣ die Lebensweise des großstädtischen Bürgertums: Ebenfalls von Fromm (ebd.) stammt der Hinweis auf die städtische Lebenswelt und die damit verbundenen Milieustrukturen als Hintergrund der Entstehung der Psychoanalyse. Schorske (1981) hat dies für das Wien des Fin de Siècle ausführlich beschrieben und dokumentiert. ➣ die »wissenschaftliche Weltauffassung« der Naturwissenschaften – den neuen Leitwissenschaften – seiner Zeit: Bereits Dorer (1932) hat gezeigt, dass und wie Freuds Denken von den Vorstellungen der Neuen Wiener Schule der Medizin geprägt wurde, die ihrerseits einen konsequenten physiologischen und anatomischen Materialismus pflegte. ➣ das Erbe der Romantik: Marquard (1973) hat parallel (und im Gegensatz dazu) strukturelle Ähnlichkeiten im Denken von Schelling und Freud aufgezeigt und als Weg von der Ästhetik zur Therapeutik charakterisiert. In dieser Sichtweise ist die Psychoanalyse eine »säkularisierte Transzendentalphilosophie«. ➣ das Judentum: Eine ganze Reihe von Untersuchungen beschäftigen sich mit der Funktion von Freuds jüdischer Herkunft. Dabei spielt nicht unbedingt der Glaube eine Rolle, mit Sicherheit jedoch die soziale Exzentrik, die mit dem Leben als agnostischer Jude verbunden war: einerseits im »christlichen« Wien ein Außenseiter, andererseits nicht mehr dem Herkunftsmilieu verbunden. Dadurch war Freud in besonderer Weise exponiert, aber auch ungebunden. Diese Einflüsse sind zweifellos vorhanden und wichtig, sind aber in ihrer Wirkung relativ diffus. Um die Art und Weise, wie Freud seine sozialen Erfahrungen mit seinen theoretischen Einsichten in Verbindung brachte, genauer zu bestimmen, greife ich auf Unterscheidungen zurück, die mit 24
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Blick auf die Unterschiede im Denken drei Ebenen von Symbolisierung und Interpretation unterscheiden: ➣ Normalmodus des Alltagsbewusstseins (Ebene 1): Unter dem Vorzeichen des generellen Prinzips der Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit und der Balancierung der psychosozialen Identität werden verfügbare Informationen (stock of knowledge at hand), aber auch Interpretationen, Gewissheiten, Routinen (inklusive deren emotionaler Färbung) verwendet und auf bekannte wie unbekannte Situationen und Themen angewendet. Dieser laufende Betrieb im Fluss der Ereignisse funktioniert ökonomisch und ökologisch; seine assimilativen und akkomodativen Leistungen werden als selbstverständlich vorausgesetzt.5 ➣ Reflexion im Rahmen des Alltagsbewusstseins (Ebene 2): Störungen des Handlungsablaufs und der Identitätsbalance werden im Modus des Alltagsbewusstseins reflexiv bearbeitet. Durch Entlastung von Handlungszwängen und Konzentration auf Situationen und Themen werden Ressourcen freigesetzt, mit deren Hilfe sowohl deren Bestandteile als auch die Prämissen des Operierens reflektiert werden können. Auf der Basis des Alltagsbewusstseins entsteht dadurch die Möglichkeit seiner Relativierung. Allerdings geschieht dies in den Grenzen der verfügbaren Freiräume und mithilfe der operativen Möglichkeiten des Alltagsbewusstseins selbst. ➣ Institutionalisierung von Reflexion (Ebene 3): Durch die systematische Institutionalisierung reflexiver Praxis ergibt sich nicht nur eine Steigerung ihrer Reichweite, sondern vor allem ein Übersteigen ihrer Limitierungen. Bereits auf dem Niveau individueller Reflexion, erst recht jedoch auf dem ihrer sozialen Organisation steigen sowohl quantitative als auch qualitative Möglichkeiten in dem Maße an, wie situative Begrenzungen aufgehoben und ad-hoc-Leistungen durch Systematisierung, Differenzierung, Professionalisierung ersetzt werden können. 5 Damit ist nicht unterstellt, es handle sich um ein problem- und reibungslos funktionierendes System. Ganz abgesehen davon, dass sich soziale wie biografische Brüche in die Funktionslogik des Alltagsbewusstseins einschreiben, impliziert diese auch die ad-hocBewältigung von Unstimmigkeiten beziehungsweise die systemkonforme Bearbeitung von Problemen. Dies schließt ein breites Spektrum von Formen ein, die von Umdefinition bis zur Verleugnung reichen. Hier ist die Mitwirkung psychodynamischer Mechanismen (die Psychoanalyse spricht von »Abwehr«) eine zentrale Rolle.
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Das Alltagsbewusstsein ist also nur insofern reflexiv, als es zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit im Hier und Jetzt identifiziert, was der Fall ist und dazu auf vorhandene Bestände zurückgreift. Schon die »Krisenbewältigung« im Alltag ist dagegen auf Objektivierung von Interpretationen der Wirklichkeit ausgerichtet; sie ist jedoch auf den Rahmen dessen angewiesen, was Sondersituationen im alltäglichen Handeln an Möglichkeiten bieten. Erst die subjektive und objektive Institutionalisierung erlaubt ein (relatives) Übersteigen dieser Grenzen. Diese Unterscheidung ist zunächst funktional angelegt, bezieht sich also auf unterschiedliche Leistungen, die sich nicht wechselseitig ersetzen können. Außerdem bedeutet die Differenz noch nicht unbedingt eine Aussage über das Niveau der damit verbundenen kognitiven Leistungen, da die Routinen des Alltagsbewusstseins nicht nur von Naivität und Stereotypen, sondern auch von intensiver Milieukenntnis geprägt sein können (und auch das Wissenschaftssystem von tiefgreifenden Beeinträchtigungen). Grosso modo gewährleistet jedoch Institutionalisierung ein höheres Potenzial an Autonomie. Es liegt auf der Hand, dass Ebene 1 und 2 in wesentlich stärkerem Maße lebenspraktisch gebunden sind und unmittelbar von Funktionszwängen und vom Möglichkeitshorizont der Lebenswelt bestimmt werden. Auf der anderen Seite sind die dort vorhandenen Wissensbestände und Interpretationen unmittelbar (Ebene 1) und relativ leicht (Ebene 2) verfügbar. Sie können also bei Bedarf dort aktiviert werden, wo auf Ebene 3 keine entsprechenden Vorräte vorhanden sind: Wo keine Theorien (im Sinne von objektivem Wissen und begründeten Interpretationen) vorhanden sind, werden also unter Umständen vortheoretische Gewissheiten und ad-hocKonzeptualisierungen genutzt. Dabei gibt es eine bedeutsame Differenz: Wo es keine Überschneidung zwischen der Lebenswelt des erkennenden Subjekts und dem Gegenstand der Theorie gibt und/oder der Abstand so groß ist, dass es keinen unmittelbaren Austausch gibt (also bei Themen wie der Quantenphysik) hat das zur Folge, dass die Inhalte und Modi des Alltagsbewusstseins nicht tangiert werden.6 Anders sieht das Verhältnis von Ebene 1 und 2 zu Ebene 3 bei selbstreflexiven Themen aus: Wenn es um 6 Dies gilt in dieser Form nur für ein Entwicklungsniveau des Alltagsbewusstseins, auf dem es seine eigenen Grenzen kennt (also weiß, dass es davon nichts weiß). Anders sieht die Sache aus, wenn aus individuellen oder gesellschaftlichen Gründen diese Selbstkontrolle nicht vorhanden ist, also Ideologien oder neurotische Idiosynkrasien diese Trennung aufheben und auch solche Themen besetzen und in ihrem Sinn umformatieren.
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Politik, Moral, Normen, aber auch die dazugehörigen Wissenschaften (wie Psychologie oder Soziologie) geht, wird der Status quo des Alltagsbewusstseins mitthematisiert. Hier besteht zwischen vortheoretischen Gewissheiten und Theorien ein nicht leicht zu kontrollierender Austausch: Wo sich das Alltagsbewusstsein betroffen fühlt, reagiert es entsprechend, und wo es eigene Vorstellungen besitzt, mischt es sich in die Entwicklung von Theorien ein. Beim Thema Gesellschaft bilden sich also auf jeder Ebene entsprechende Vorstellungen, die verbunden sind und bleiben. Gesellschaftsbilder des Alltagsbewusstseins und Gesellschaftstheorien können sich gegenseitig beeinflussen und durchdringen. Das bedeutet auch, dass im Bedarfsfall Elemente der Ebenen 1 und 2 auf Ebene 3 neu formatiert und sozusagen in Theorieform gebracht werden können – mit allen Vor- und Nachteilen, die ein solcher Austausch hat. Wo also keine elaborierte Theorie zur Verfügung steht, wo die bestehenden Theorien abgelehnt werden oder wo eigene Erfahrungen und eigenes Erleben bestätigt und veredelt werden soll, können aggregierte Alltagserfahrungen und -interpretationen in Theorieform als Bezugspunkt genutzt werden. Das imprägniert die Theorien, kann aber auch ein Sprungbrett für deren (Weiter-)Entwicklung sein. Vortheoretische Gewissheiten und Interpretationen
Freud war ein wacher Beobachter seiner Zeit, der viele Überlegungen zu Themen anstellte, die ihm wichtig waren. Als er dann in die Situation kam, auf theoretisch formulierte Vorstellungen über das Funktionieren von Gesellschaften Bezug nehmen zu müssen, verfügte er entsprechend über einen breiten Vorrat vortheoretischer Gewissheiten (Ebene 1) und Interpretationen (Ebene 2). Sie sind (vor allem in seinem regen Briefwechsel) vergleichsweise gut dokumentiert. Deshalb ist es möglich, die Konturen dieses Hintergrunds seiner theoretischen Annahmen zu beschreiben. Ich versuche im Folgenden, einige der Eckpunkte seines Erlebens und seiner Interpretationen darzustellen. Eine zentrale Rolle in seinen persönlichen Äußerungen spielt die Familie. Vor allem in den Briefen an seine Braut beschäftigt er sich immer wieder mit ihrer Bedeutung und den damit verbundenen Beziehungsidealen. Was sich dabei zeigt, ist die stark besetzte Vorstellung einer idealen Liebe zwischen Mann und Frau als Kern der Familie. Er träumt davon, alle Schwie27
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rigkeiten des Lebens meistern zu können beziehungsweise zu wollen, wenn die Parzen »Unglück« und »Krankheit« sie verschonen. »Dann erreichen wir gewiß, wonach wir streben, ein kleines Haus, in das die Sorge vielleicht Einlaß findet, aber nie die Not, ein Beisammensein in allem Wechsel des Geschicks, eine stille Zufriedenheit, die uns die Frage erspart, warum wir eigentlich leben« (Freud, 1968, S. 77).
Diese Idylle bietet jedoch nicht nur eine in sich ruhende heile Welt, sie ist auch die Batterie für expansive Aktivitäten außerhalb: »Denke ich mir aber, wie ich jetzt gewesen wäre, wenn ich Dich nicht gefunden hätte, ohne Ehrgeiz, ohne viel Freude an den leichteren Genüssen dieser Welt, ohne im Banne des Goldzaubers zu stehen, und dabei mit ganz mäßigen und ganz ohne materielle Mittel, ich wäre so elend umhergeirrt und verfallen. Du gibst mir jetzt nicht nur Ziel und Richtung, auch so viel Glück, daß ich mit der sonst armseligen Gegenwart nicht unzufrieden sein kann, Du gibst mir Hoffnung und Sicherheit des Erfolgs« (ebd., S. 63f.).
Man darf diese (und viele ähnliche) Zitate natürlich nicht überinterpretieren – sie stehen in Briefen eines jungen, unter Wert beschäftigten Wiener Sekundararztes an seine Braut im fernen Hamburg, sodass Sehnsucht und Idealisierungsbedarf vermutlich die Feder geführt haben.7 Aber die Gegenüberstellung von Familienleben und (bedrohlicher) Außenwelt – die Familie als Trutzburg – findet sich in seinen frühen Äußerungen immer wieder. Dabei sind Freuds Vorstellungen darüber, wie die der Familie zugrundeliegende Beziehung zwischen Mann und Frau aussehen soll, recht eindeutig. Sie zeigen sich zunächst an den unterschiedlichen Idealen. Das Prädikat »ausgezeichnet« erhält ein Mann, wenn er einen »tadellosen Charakter« und »zielbewusste Lebensführung«, »sittlichen Ernst«, Intelligenz, Energie und »hohe Bildung« sowie »Wahrheitsliebe« besitzt. Mit »Bildung« meint Freud dabei die (griechische und europäische) Klassik, die den engen Horizont des Alltags überschreitet und transzendiert. 7 Die zitierten Briefe stammen aus dem Jahr 1883. Man findet in späteren Zeiten – nach der Hochzeit und vielen Jahren Ehe – auch eher Hinweise darauf, dass der Motor der Arbeit eher narzisstischer Natur ist. So schreibt er 1907 an Jung: »Man arbeitet doch wesentlich für die Geschichte« (Freud, 1968, S. 271).
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Sein Freund Fleischl von Marxowist ist für ihn die Inkarnation eines idealen Mannes: »Er ist ein ganz ausgezeichneter Mensch, an dem Natur und Erziehung ihr Bestes getan haben. Reich, in allen Leibesübungen ausgebildet, mit dem Stempel des Genies in seinen energischen Zügen, schön, feinsinnig, mit allen Talenten begabt und fähig, in den allermeisten Dingen ein originelles Urteil zu schöpfen« (ebd., S. 22).
Dagegen erscheint als »Dame erachtenswert« eine Frau, die durch die »gütige Vorsorge für alle ihr unterstehenden Personen«, durch »innere Bescheidenheit« und die »Feinheit der Umgangsformen« besticht (Freud & Breuer, 1895d, S. 160f.). Nicht gut weg kommt dagegen eine Frau, die sich vom »Ideal entfernte, welches man gern in einem Mädchen verwirklicht sieht« (ebd., S. 202): Sie war »von ehrgeizigen Plänen erfüllt, wollte studieren oder sich in Musik ausbilden lassen«. Freud beschreibt sie als »schroff«. Der Gedanke, dass Frauen arbeiten sollten, ist ihm fremd.8 Er schreibt an seine Braut: »Wir dürften einig darin sein, dass das Zusammenhalten des Hauses und die Pflege und Erziehung der Kinder einen ganzen Menschen erfordert und fast jeden Erwerb ausschließt, auch dann wenn vereinfachte Bedingungen des Haushalts das Abstauben, Zusammenräumen, Kochen und so weiter der Frau abnehmen. […] Es ist auch ein gar zu lebensunfähiger Gedanke, die Frauen genauso in den Kampf ums Dasein zu schicken wie die Männer. Soll ich mein zartes, liebes Mädchen zum Beispiel als Konkurrenten denken« (Freud, 1968, S. 81f.).
Freud übersieht nicht die sozial bedingten Ungleichheiten, aber resümiert: »Nein, ich bleibe hier beim Alten […]; Gesetzgebung und Brauch haben den Frauen viel vorenthaltene Rechte zu geben, aber die Stellung der Frau wird keine andere sein können, als sie ist; in jungen Jahren ein angebetetes Liebchen, und in reiferen ein geliebtes Weib« (ebd., S. 82f.).
8 Dies ist angesichts der Arten von Arbeit, zu denen Frauen zu seiner Zeit zugelassen wurden, in gewisser Weise verständlich.
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Auch in der Liebe sind aktiv und passiv deutlich verteilt: Als eine Patientin von einem nicht mehr ganz jugendlichem Herren plötzlich geküsst wird und sich deswegen ekelt, ist dies für ihn Anlass für folgende Überlegung: »Jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle hervorruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterica halten. […] Akzidentelle Ursachen hatte der Ekel Doras sicher nicht. […] Ich kenne Herrn K. zufällig; […] ein noch jugendlicher Mann von einnehmendem Äußeren« (1905e, S. 187).
Kinder gehören, so ist bereits angeklungen, zur Familie dazu. Über Kinder äußert sich Freud in seinen jungen Jahren wenig; in den späteren bereits im Rahmen seiner entwicklungstheoretischen Vorstellungen. Wo er sich allgemeiner äußert, geht es meist um die Diskrepanz zwischen dem Kind und den Anforderungen beziehungsweise Wünschen der Erwachsenen. Kinder sind anders. »Es ist nicht schwer zu sehen, daß […] der Charakter des […] Kindes ein anderer ist, als wir ihn beim Erwachsenen zu finden wünschen. Das Kind ist absolut egoistisch, es empfindet seine Bedürfnisse intensiv und strebt rücksichtslos nach seiner Befriedigung, insbesondere gegen seine Mitbewerber, andere Kinder, und in erster Linie gegen seine Geschwister. Wir heißen das Kind aber darum nicht ›schlecht‹, wir heißen es ›schlimm‹; es ist unverantwortlich für seine bösen Taten vor unsrem Urteil wie vor dem Strafgesetz. Und das mit Recht; wir dürfen erwarten, daß noch innerhalb von Lebenszeiten, die wir der Kindheit zurechnen, in dem kleinen Egoisten die altruistischen Regungen und die Moral erwachen werden« (1900a, S. 256).
Das Kind ist also hemmungslos triebhaft und greift nach allem, was ihm nicht zusteht. Freud schreibt in der Traumdeutung: »Auch das Große, Überreiche, Übermäßige und Übertriebene der Träume könnte ein Kindheitscharakter sein. Das Kind kennt keinen sehnlicheren Wunsch als groß zu werden, von allem so viel zu bekommen wie die Großen; es ist schwer zu befriedigen, kennt kein Genug; verlangt unersättlich nach der Wiederholung dessen, was ihm gefallen oder geschmeckt hat. Maß halten, sich bescheiden, resignieren lernt es erst durch die Kultur der Erziehung« (ebd., S. 274, Fußnote 1). 30
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Daraus ergibt sich zwangsläufig eine Konfrontation: Kinder wollen, was Erwachsene nicht wollen, und machen sie damit zu Kontrolleuren. »Wenn ein Kind die geballte Faust nicht aufmachen will, um zu zeigen, was es in ihr hat, dann ist es gewiß etwas Unrechtes, was es nicht haben soll« (Freud, 1916–1917a [1915–1917], S. 114). Das Festhalten-Wollen ist also selbstverständlich ein Zeichen von Unbotmäßigkeit, nicht etwa ein Zeichen von Widerstand gegen elterliche Kontrolle. Daher sind Eltern hier von vornherein nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die geballte Faust zu öffnen. Was Freud wenig bis gar nicht erwähnt, ist die kindliche Freude am Leben und die emotionale Teilhabe der Erwachsenen daran. Eltern sind vor allem die Zuchtmeister, und das ist mühsam, woraus sich zusätzliche Konfliktflächen ergeben: »In der Kindererziehung wollen wir nichts anderes als in Ruhe gelassen werden, keine Schwierigkeiten erleben, kurz, das brave Kind züchten, und achten sehr wenig darauf, ob dieser Entwicklungsgang dem Kinde auch frommt« (1909b, S. 374). Die Grundlage der familiären Existenz, ihre wichtigste Verbindung zur Außenwelt und ein zentraler Aspekt der (männlichen) Identitätsstabilisierung ist für Freud die Arbeit. Für Freud ist Arbeit zunächst eine objektive Notwendigkeit. Sie ermöglicht zugleich jedoch auch »Selbständigkeit«, ein Gefühl, dass für Freud die Grundlage von »Stolz« ist: »Leben ohne Arbeiten kann ich mir nicht recht behaglich vorstellen« (Freud & Pfister, 1963, S. 32) Dabei denkt er naturgemäß an seine eigene Arbeit, die für ihn das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet (»Phantasieren und Arbeiten fällt für mich zusammen, ich amüsiere mich bei nichts anderem«, ebd.). Von seiner Braut ließ er sich für sein Dienstzimmer einen Wandschmuck sticken, auf dem die Maxime Travailler sans raisonner stand. So sehr Arbeit also ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens und in gewisser Hinsicht sogar ein Narkotikum ist – die Welt, in der sie stattfindet, ist für Freud schwierig und gefährlich. Der unabänderliche »Wettkampf mit dem Nebenmenschen« (1915b, S. 326) ist immer auch antagonistisch und trennt.9 Das soziale Geschehen ist eine »unerbittliche Kausalverkettung« (Freud, 1900a, 9 Er schreibt an seine Braut: »Darum, mein Schatz, Zurückhaltung, Neutralität und Vorsicht und lerne von mir, gegen einen einzigen Menschen ganz aufrichtig zu sein, gegen die anderen nicht unaufrichtig, bloß reserviert« (zit. n. Jones, 1984c, S. 230). Dieses Prinzip hielt ihn allerdings nicht davon ab, zu seinem Freund Fließ eine Zeitlang ein regelrecht intimes Verhältnis einzugehen.
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S. 281)10 und tritt dem einzelnen als unbeeinflussbares »Schicksal« gegenüber: »Der Zustand unserer Zivilisation ist […] für den Einzelnen etwas Unabänderliches« (Freud, 1898a, S. 501). Auf der anderen Seite steht die soziale Welt auch für Stabilität und Sicherheit. Sie sorgt für die Aufrechterhaltung von Normen, Regeln und anderer notwendiger Voraussetzungen des Zusammenlebens. Diese schließen Notwendigkeiten, aber auch die Ästhetik ein. Freud sieht in der Kultur eine utilitaristische, aber auch eine darüberhinausgehende Dimension.11 In dieser Welt ist der »Kulturweltbürger« zu Hause, den Freud (ex post, vom Standpunkt der Desillusionierung durch die historische Entwicklung) so beschreibt: »Vertrauend auf [die Gemeinsamkeiten, J.A.S.] der Kulturvölker haben ungezählte Menschen ihren Wohnort in der Heimat gegen den Aufenthalt in der Fremde eingetauscht und ihre Existenz an die Verkehrsbeziehungen zwischen den befreundeten Völkern geknüpft. Wen aber die Not des Lebens nicht ständig an die nämliche Stelle bannte, der konnte sich aus allen Vorzügen und Reizen der Kulturländer ein neues größeres Vaterland zusammensetzen […] Dies neue Vaterland war für ihn auch ein Museum, erfüllt mit allen Schätzen, welche die Künstler der Kulturmenschheit seit vielen Jahr10 »Nachdem wir aufgehört haben, Schüler zu sein, sind es nicht mehr wie zuerst die Eltern und Erzieher oder später die Lehrer, die unsere Bestrafung besorgen; die unerbittliche Kausalverkettung des Lebens hat unsere weitere Erziehung übernommen« (Freud, 1900a, S. 281). 11 »[Wir] begrüßen es auch als kulturell, wenn wir sehen, dass sich die Sorgfalt der Menschen auch Dingen zuwendet, die ganz und gar nicht nützlich sind, sondern eher unnütz erscheinen, zum Beispiel wenn die in einer Stadt als Spielplätze und Luftreservoirs notwendigen Gartenflächen auch Blumenbeete tragen, oder wenn die Fenster an den Wohnungen auch mit Blumentöpfen geschmückt sind. Wir merken bald, das Unnütze, dessen Schätzung wir von der Kultur erwarten, ist die Schönheit; wir fordern, dass der Kulturmensch die Schönheit verehre, wo sie ihm in der Natur begegnet, und sie herstelle an Gegenständen, soweit seiner Hände Arbeit es vermag. […] Ähnlich ist es mit der Ordnung, die ebenso wie die Reinlichkeit sich auf das ganze Menschenwerk bezieht. […] Die Ordnung ist eine Art Wiederholungszwang, die durch einmalige Einrichtung entscheidet, wann, wo und wie etwas getan werden soll, so daß man in jedem gleichen Fall Zögern und Schwanken erspart. Die Wohltat der Ordnung ist ganz unleugbar, sie ermöglicht dem Menschen die beste Ausnützung von Raum und Zeit, während sie seine physischen Kräfte schont. […] Schönheit, Reinlichkeit und Ordnung nehmen offenbar eine besondere Stellung unter den Kulturanforderungen ein« (Freud, 1930a [1929], S. 451f.).
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hunderten geschaffen und hinterlassen hatten. Während er von einem Saale dieses Museums in einen andern wanderte, konnte er in parteiloser Anerkennung feststellen, was für verschiedene Typen von Vollkommenheit, Blutmischung, Geschichte und die Eigenart der Mutter Erde an seinen weiteren Kompatrioten ausgebildet hatten. Hier war die kühle unbeugsame Energie aufs höchste entwickelt, dort die graziöse Kunst, das Leben zu verschönern, anderswo der Sinn für Ordnung und Gesetz oder andere der Eigenschaften, die den Menschen zum Herren der Erde gemacht haben« (1927c, S. 326f.).
Neben dieser realen Kulturwelt steht für Freud noch die virtuelle, geistige Einheit der Kultur: »Vergessen wir auch nicht, daß jeder Kulturweltbürger sich einen besonderen ›Parnaß‹ und eine ›Schule von Athen‹ geschaffen hatte. Unter den großen Denkern, Dichtern, Künstlern aller Nationen, hatte er die ausgewählt, denen er das Beste zu Schulden vermeinte, was ihm an Lebensgenuß und Lebensverständnis zugänglich geworden war, und sie den unsterblichen Alten in seiner Verehrung zugesellt wie den vertrauten Meistern der eigenen Zunge« (ebd., S. 327).
Was Freud hier beschreibt,12 ist das Bild eines gemeinsamen Menschheitsbeziehungsweise Männerprojekts. Es steht neben der Vorstellung einer unberechenbaren, potenziell gefährlichen sozialen Wolfswelt. Tatsächlich hat Freud kein »monologisches« Gesellschaftsbild, sondern beschreibt verschiedene Dimensionen der sozialen Realität. Je nach Perspektive ergeben sich vier verschiedene Hervorhebungen: ➣ die Errungenschaften menschlicher Leistungen: die sinnstiftende Welt von Kunst, Literatur, Geist; ➣ die notwendigen Ordnungsleistungen: die für die Aufrechterhaltung des Lebens erforderliche Institutionen des täglichen Lebens; ➣ die »Not des Lebens« und das »Schicksal«: potenziell bedrohliche, unkontrollierbare Ereignisse; ➣ die Gemeinheiten und Bösartigkeiten: Irrationales, Destruktives und Zumutungen aller Art. 12 Die Desillusionierung bezieht sich auf den Ersten Weltkrieg, der nicht nur ein »ritterlicher Waffengang«, sondern ein destruktiver Vernichtungskrieg war, der von der Vorstellung einer einheitlichen Kulturwelt nicht viel übrig ließ (siehe Freud, 1927c, S. 328ff.).
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Soziale Realität erscheint daher in Freuds Überlegungen als je nach Perspektive in einem unterschiedlichen Licht. In seinen frühen Überlegungen ist »Gesellschaft« dabei vor allem der zweite Aspekt: ein notwendiges, nicht unbedingt erfreuliches, aber funktionales Geschehen, dem im Prinzip eine sachliche Logik zugrunde liegt. Die sachliche Notwendigkeit von sozialen Institutionen stiftet aber keinen Sinn, sondern ist nur das Skelett, das erforderlich ist, damit Sinn (konstituiert durch Privatleben und Teilhabe an Kultur) getragen wird. Kultur ist nicht Teil der Gesellschaft, sondern der umfassendere Begriff (Gesellschaft plus Sinn), aber auch deren Bedingung (ohne Kultur keine Gesellschaft). Schicksal und Zumutungen prima vista gesellschaftsexterne Prozesse, gesellschaftliche Fehler aber sorgen für zusätzliche (psychische) Probleme. »Gesellschaft« umfasst also nicht die gesamte soziale Realität, sondern ist in diesem Konzept eine funktionale Substruktur. Von »Gesellschaft« ist jedoch bei Freud nicht die Rede. Er unterteilt sie gewissermaßen in zwei Dimensionen: Die Summe der Institutionen erscheint als »Zivilisation«, die Summe der Bürger als »Gesamtheit«.13 Bemerkenswert ist dabei, dass und vor allem wie Freud von Anfang an »Gesellschaft« personalisiert und psychologisiert hat. Die Zivilisation zeigt sich zwar in Form von Institutionen als übermächtigen und zwingenden Einrichtungen, aber sie ist für Freud abhängig vom Denken und Handeln der Bürger. Sie besteht letztlich aus handelnden Menschen. Gleichzeitig ist sie selbst ein Akteur, ein »Großindividuum« (später spricht er von »Völkerindividuen«, 1927c, S. 325), das Motive hat und intentional handelt. Das Gesellschaftsbild von Freud ist daher doppeldeutig: Zunächst ist es »nominalistisch«, das heißt, er reduziert Gesellschaft auf die individuellen Akteure, zugleich aber sieht er sie auch als Makroakteur, nimmt also auch eine »realistische« Perspektive ein. 13 Im Zusammenhang mit der Kritik der Sexualmoral seiner Zeit schreibt Freud: »In Sachen Prophylaxis aber ist der einzelne ziemlich ohnmächtig. Die Gesamtheit muß ein Interesse an dem Gegenstande gewinnen und ihre Zustimmung zur Schöpfung von gemeingültigen Einrichtungen geben. Vorläufig sind wir von einem solchen Zustande, der Abhilfe versprechen würde, noch weit entfernt, und darum kann man mit Recht auch unsere Zivilisation für die Verbreitung der Neurasthenie verantwortlich machen. Es müsste sich vieles ändern. Der Widerstand einer Generation von Ärzten müsste gebrochen werden […]; der Hochmut der Väter ist zu überwinden […], die unverständige Verschämtheit der Mütter ist zu bekämpfen […]. Vor allem aber muß in der öffentlichen Meinung Raum geschaffen werden für die Diskussion der Probleme« (1898a, S. 508).
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Gesellschaft ist also auch eine eigenständige Dimension der Realität, aber nicht autonom. Ob handelnde Menschen oder Gesellschaft als Akteur: Der Kern von Gesellschaft ist in jedem Fall Psychologie. Der Mensch ist – bei aller »Übermacht« von Institutionen – der Anfang und der Kern des sozialen Geschehens. Auch die Kultur, auch das Böse der Welt hat seinen Ursprung in der Psyche. Das Einzige, was nicht auf Psychologie zurückgeführt werden kann, sind Zufälligkeiten des Schicksals. Alles andere ist (psychologisch) determiniert.14 Entsprechend wird die Entwicklung der sozialen Wirklichkeit weitgehend vom »Personal« bestimmt. Wen Freud zu den Trägern von Stabilität und Fortschritt hält, ist bereits angeklungen: Es sind die Männer, die den Werten der kulturellen Tradition und der Aufklärung verpflichtet sind. Dagegen gibt es – neben Kindern und Frauen, die nur bedingt kulturfähig sind –, eine Reihe von Gruppen, die als deren Feinde zu sehen sind. Zunächst gibt es eine Gruppe von Menschen, die zwar Rang und Würden innehaben, sie aber nicht ausfüllen. Freud schreibt: »Ein Offizier ist ein jämmerliches Wesen, jeder beneidet den Gleichgestellten, tyrannisiert den Untergebenen und fürchtet sich vor den Höheren, und je höher er selbst ist, desto mehr fürchtet er sich. Es ist mir überhaupt zuwider auf dem Kragen geschrieben zu haben, wie viel ich wert bin, als ob ich ein Stoffmuster wäre« (zit. n. Jones, 1984a, S. 233).
Ähnliche Äußerungen finden sich über Adlige, aber auch über akademische Größen, deren Leistung nicht ihrer Position entspricht. Eine zweite Problemgruppe sind Neurotiker. Sie können die Anforderungen des »Kulturweltbürgertums« nicht erfüllen, weil sie durch ihre Krankheit daran gehindert werden. Sie sind daher insgesamt (wie Freud später ziemlich rüde formuliert) »schwächliches Menschenmaterial« (1910c, S. 128). Eine Neurose bedeutet daher in gewisser Weise einen »Austritt aus der menschlichen Gemeinschaft« (1912–1913a, S. 92). Andererseits schließt die Neurose nach Freud nicht aus, dass der betroffene Mensch eine »wertvolle Person« ist, also gewisse Befähigungen zu kulturellen Leistungen besitzt. An Abraham schreibt Freud, dass zur Neurosenbildung ein solcher Hintergrund erforderlich ist – »sonst bekommen wir ja Lumpen und nicht Neurotiker« (Freud & Abraham, 1965, S. 28). 14 »Ich glaube zwar an äußeren (realen) Zufall, aber nicht an innere Zufälligkeit« (1901b, S. 33).
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Damit ist die Hauptproblemgruppe, die Freud sieht, angesprochen. Es handelt sich um die große Zahl derer, die ein nicht- oder gar anti-kulturelles Leben führen (müssen). Nach dem Besuch einer Carmen-Vorstellung schreibt Freud 1883 an seine Braut: »Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren. Wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten, wir sparen mit unserer Gesundheit, unserer Genußfähigkeit, unseren Erregungen, wir heben uns für etwas auf, wissen selbst nicht für was – und diese Gewohnheit der beständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung. Wir empfinden auch tiefer und dürfen uns darum nur wenig zumuten; warum betrinken wir uns nicht? Weil uns die Unbehaglichkeit und Schande des Katzenjammers mehr Unlust als das Betrinken Lust schafft; warum verlieben wir uns nicht jeden Monat aufs Neue? Weil bei jeder Trennung ein Stück unseres Herzens abgerissen werden würde. […] So geht unser Bestreben mehr darin, Leid von uns abzuhalten, als uns Genuß zu verschaffen. […] Unsere ganze Lebensführung hat zur Voraussetzung, daß wir vor dem großen Elend geschützt seien, dass uns die Möglichkeit offen stehe, uns immer mehr von den gesellschaftlichen Übeln frei zu erhalten. Die Armen, das Volk, sie könnten nicht bestehen ohne ihre dicke Haut und ihren leichten Sinn; wozu sollten sie Neigungen so intensiv nehmen, wenn sich alles Unglück, das die Natur und die Gesellschaft im Vorrat hat, gegen ihre Lieben richtet, wozu das augenblickliche Vergnügen verschmähen, wenn sie auf kein anderes warten können? Die Armen sind zu ohnmächtig, zu exponiert, um es uns gleichzutun. Wenn ich das Volk sich gütlich tun sehe mit Hintansetzung aller Besonnenheit, denke ich immer, das ist ihre Abfindung dafür, daß alle Steuern, Epidemien, Krankheiten, Übelstände der sozialen Einrichtungen sie so schutzlos treffen« (Freud, 1968, S. 56f.).
Während also unqualifizierte Autoritäten und Neurotiker der Klasse der Bürger angehören, aber ihren Maßstäben nicht genügen, ist »das Volk«, sind »die Armen«, ist »das Gesindel« eine andere Klasse (von Menschen) mit einer anderen Psychologie. Ihre Lebensführung ist verständlich, aber ein Risiko für Kultur und Gesellschaft. In Summe entwickelt Freud in seinen vor- und außertheoretischen Überlegungen ein facettenreiches und in der zugrundeliegenden Logik interessantes Bild. Es ist in seinen inhaltlichen Schwerpunkten erkennbar eine »bildungsbürgerliche« Sichtweise, zentriert auf das männliche Individuum mit kontrolliertem, moderatem Verhalten, mit kulturellen Interessen und standesgemäßem Einkommen 36
Folgen und Weiterentwicklungen
(und eher anti-ökonomischer Einstellung).15 Freud ist identifiziert mit den Traditionen der Klassik und der Aufklärung. Im Prinzip ist er auch identifiziert mit den Grundstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft beziehungsweise den ihr zugeordneten prinzipiellen Formen und Zielen des Zusammenlebens (Disziplin, Engagement, Leistungsadel, Respekt und Anerkennung, Distanz und Konvention), aber es handelt sich nicht um eine völlig unkritische Identifikation. Zwar ist sein sozialer Wahrnehmungsbereich eingeschränkt und lebensweltlich selektiv, aber Distanzierungsmöglichkeiten und Perspektivenwechsel sind vorhanden. Betrachtet man das Konstruktionsprinzip, so stellt sich soziale Wirklichkeit als ein mehrstufiges Gesamtsystem dar. Vortheoretische Gewissheiten (Ebene 1) sind die Erfahrungen des Gegensatzes von Familie und Außenwelt, von Geschlechts- und Altersrollen, von sozialen Kränkungen und Unberechenbarkeiten, von kleiner Elite und großer Zahl von geistig und/oder materiell Armen, die ein fremdes Leben führen. Integriert und ergänzt werden sie (auf Ebene 2) durch ein doppeltes Konstitutionsprinzip: durch die Logik von Funktionalität, Rationalität und Kontrollierbarkeit sowie durch die der Unberechenbarkeit, Irrationalität und Gefährlichkeit. Freud ordnet sie jedoch nicht eindeutig zu: Die Gesellschaft (als Makroindividuum) ist zu beidem fähig, ebenso die einzelnen Menschen, die direkt wie indirekt Schicksal ausmachen. Dies ist im Kern keine elaborierte, in gewisser Weise sogar überhaupt keine soziologische Theorie, aber eine ebenso folgenreiche wie leistungsstarke Konzeption.
Folgen und Weiterentwicklungen Die elaborierte Kulturtheorie
Freuds Arbeit erwies sich bald als Reizthema. Seine öffentlichen Auftritte und Äußerungen lösten teils Unverständnis, teils Ablehnung aus – sowohl seine Themen als auch seine Methoden waren für den Normalbetrieb von Wissenschaft und Gesellschaft seiner Zeit schwer verdaulich. Es war unübersehbar, dass die Thematisierung von Sexualität gravierende Probleme nicht nur des individuellen Lebens, sondern auch 15 Später schreibt Freud, dass Geld kein Kinderwunsch sei und daher nicht glücklich mache.
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der Öffentlichkeit traf, und dass diese Probleme untrennbar mit seinen Befunden interagierten. Freud hatte also gute Gründe, die bloße Psychodiagnostik zu überschreiten und sich mit gesellschaftlichen Hintergründen zu beschäftigen. Den ersten systematischen Schritt unternahm er in dem Aufsatz über »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität« (1908d). Dazu erarbeitete er ein theoretisches Bild von »Kultur«, welches nunmehr auf die bereits entwickelten Bestandteile psychoanalytischer Theorie aufgebaut ist. »Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut. Jeder einzelne hat ein Stück seines Besitzes, seiner Machtvollkommenheit, der aggressiven und vindikativen Neigungen seiner Persönlichkeit abgetreten; aus diesen Beiträgen ist der gemeinsame Kulturbesitz an materiellen und ideellen Beiträgen entstanden. Außer der Lebensnot sind es wohl die aus der Erotik abgeleiteten Familiengefühle, welche die einzelnen Individuen zu diesem Verzichte bewogen haben« (ebd., S. 149f.).
Freud kommt auf der Grundlage seiner Triebtheorie zu einem naturrechtlichen Konzept, welches den Weg von Hobbes zu Gehlen nachvollzieht beziehungsweise vorwegnimmt: Die primäre psychologische Ausstattung der Menschen ist nicht sozial, sondern egozentrisch; sie ist jedoch qua Sublimierung, die von der Kultur selbst erst erreicht und stabilisiert werden muss, kulturfähig. Es ist leicht zu sehen, dass und wie Freuds vortheoretische Gewissheiten hier in theoretische Argumentationen umgesetzt werden (und dabei durch Theoretisierung bestätigt werden): Die Psyche als Dreh- und Angelpunkt sozialen Geschehens, die Familie als einziger Ursprung genuin sozialer Bindung, die Ambivalenz menschlichen Verhaltens in der Öffentlichkeit, die notwendige Repressions- und Stimulierungsfunktion dessen, was jetzt unter dem Begriff »Kultur« zusammengefasst wird. Ausgehend von der These, dass Kultur vorrangig auf der Sublimierung von sexuellen Triebimpulsen beruht,16 entwickelt Freud nach Art der Aufklärung (Turgot, Saint-Simon) ein Evolutionsschema: 16 Die Sublimierungstheorie ist eine ungewöhnliche Mischung aus der mechanistischen Vorstellung einer Verschiebung von Energien auf der Basis der Repression ursprüng-
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Folgen und Weiterentwicklungen
»Mit Bezug auf [die] Entwicklungsgeschichte des Sexualtriebes könnte man also drei Kulturstufen unterscheiden: Eine erste, auf welcher die Betätigung des Sexualtriebes auch über die Ziele der Fortpflanzung hinaus frei ist; eine zweite, auf welcher alles am Sexualtrieb unterdrückt ist bis auf das, was der Fortpflanzung dient, und eine dritte, auf welcher nur die legitime Fortpflanzung als Sexualziel zugelassen wird. Dieser dritten Stufe entspricht unsere gegenwärtige ›kulturelle‹ Sexualmoral« (ebd., S. 152).
Freud sieht diese Entwicklung – und das unterscheidet ihn vom Aufklärungsoptimismus – jedoch nicht nur zwiespältig, er blickt auch auf ihre »Kosten«: »Nimmt man die zweite dieser Stufen zum Niveau, so muß man zunächst konstatieren, dass eine Anzahl von Personen […] den Anforderungen derselben nicht genügt« (ebd.). Sublimierung stößt an konstitutionelle Grenzen quantitativer und qualitativer Art; wo sie qua kultureller Norm erzwungen wird, kippt der Prozess ins Negative: »Die Neurotiker sind jene Klasse von Menschen, die es […] unter dem Einfluße der Kulturanforderungen zu einer nur scheinbaren und immer mehr missglückenden Unterdrückung ihrer Triebe bringen, und die darum ihre Mitarbeiterschaft an den Kulturwerken nur mit großem Kräfteaufwand, unter innerer Verarmung, aufrecht erhalten oder zeitweise als Kranke aussetzen müssen« (ebd., S. 154).
Bei näherem Hinsehen entpuppt sich dieses Problem als prinzipielle Aporie von »Kultur«: »Die Bewältigung durch Sublimierung, durch Ablenkung der sexuellen Triebkräfte vom sexuellen Ziele weg auf höhere kulturelle Ziele gelingt einer Minderzahl, und wohl auch dieser nur zeitweilig […]. Die meisten anderen werden neurotisch oder kommen sonst zu Schaden« (ebd., S. 156). Die »kulturelle Sexualmoral« (legitime Sexualität nur in der Ehe und nur für »Fortpflanzungszwecke«) ist daher »krankmachend« (ebd., S. 157). Auch wenn dies kein offizielles Thema ist beziehungsweise sein darf, ist das Problem bekannt. Als Indiz nennt Freud die Differenz zwischen Moral und realem Sexualverhalten. Die Tatsache, dass Männern licher Triebziele und der Annahme der qualitativen Transformierbarkeit von Impulsen. Es gehört zu den besonderen Fähigkeiten von Freud, dass er vorhandene Theorieressourcen auf unorthodoxe Weise mischt und dadurch flexible und entwicklungsfähige Perspektiven öffnet.
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»auch von der strengsten Sexualordnung, wenngleich nur stillschweigend und widerwillig« (ebd., S. 158) »ein Stück Sexualfreiheit […] eingeräumt wird; die für den Mann in unserer Gesellschaft geltende ›doppelte‹ Sexualmoral ist das beste Eingeständnis, dass die Gesellschaft selbst, welche die Vorschriften erlassen hat, nicht an deren Durchführung glaubt« (ebd.). Auch hier erscheint »Gesellschaft« –wie bereits oben sichtbar geworden ist – als Akteur, der aus (mehr oder weniger) rationalen Erwägungen heraus handelt, aber Fehler begeht.17 Sie macht damit (ohne es zu wollen) einen Strich durch die intendierte kulturelle Bilanz. Freud unterstreicht, »dass die Neurose, soweit sie reicht und bei wem immer sie sich findet, die Kulturabsicht zu vereiteln weiß und somit eigentlich die Arbeit der unterdrückten kulturfeindlichen Seelenkräfte besorgt, so daß die Gesellschaft nicht einen mit Opfern erkauften Gewinn, sondern gar keinen Gewinn verzeichnen darf, wenn sie die Gefügigkeit gegen ihre weitgehenden Vorschriften mit der Zunahme der Nervosität bezahlt« (ebd., S. 166).
Diese Skizze enthält in nuce bereits seine gesamte spätere Kulturtheorie. Dass sie in Form und Inhalt tief in Freuds vortheoretischen Gewissheiten verwurzelt ist, ist unverkennbar. Es zeigt sich die enge Korrespondenz zwischen den drei Ebenen des kognitiven Umgangs mit Gesellschaft. Freud hatte damit eine Argumentationsplattform erreicht und entwickelt, die einerseits seine Ausgangserfahrungen bündelte und integrierte, anderseits als Anknüpfung für Weiterentwicklungen dienen konnte. Was sich dabei zeigt, ist eine wechselseitige Stimulierung: Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theorie werden für Ausgestaltungen der Kulturtheorie genutzt, während gleichzeitig die Kulturtheorie nicht nur zum Medium von Freuds früh geäußerten lebensphilosophischen Ambitionen, sondern zum Rahmen der psychoanalytischen Theorie wird. Einige wichtige Schritte auf diesem Weg sind folgende Arbeiten:
17 Man könnte vermuten, dass Freud hier den Begriff »Gesellschaft« (statt »Kultur«) verwendet, um eine Unterscheidung zwischen der Größe und Bedeutung des »Gesamtprojekts« Menschheit und der Fallibilität der konkreten Ausführung zu treffen. Irrtümer sind dann eine Frage der Durchführung; Gesellschaft die praktische Organisation, die im Auftrag der kulturellen Evolution handelt, aber (hier: noch nicht) hinreichend weise ist.
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Totem und Tabu (1912–1913a): In dieser großflächigen Spekulation über Ursprung und Entwicklung der Kultur entwickelt Freud eine »phylogenetische« Theorie mit »lamarckistischen« Zügen. Aus strukturellen Ähnlichkeiten zwischen der psychischen Funktionsweisen von Kindern, Neurotikern und »Wilden« schließt er Parallelen der Entwicklung. Der Übergang zur Kultur hat sich ähnlich vollzogen wie dies ontogenetisch geschieht: durch die Verinnerlichung von Normen im Verlauf eines realen ödipalen Dramas, wobei Freud unterstellt, dass die so erreichten Entwicklungsschritte zum Bestandteil der Psyche der kommenden Generationen werden. Auf diese Weise wird die Evolutionstheorie begründet und die Schlüsselfunktion des Ödipuskomplexes bestätigt.18 »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (1915b): Dieser Text vollzieht eine Wende zur Schattenseite der Kultur. War Freud schon vorher nicht unbedingt optimistisch und in vieler Hinsicht ein Skeptiker, so löst der Weltkrieg bei ihm eine Akzentverschiebung aus. Bis dahin hatte er sozusagen die Lebendigkeit der Kultur beschrieben und begründet. Jetzt ergänzt er dieses Bild: Die Kultur ist nicht nur von mangelnder Kulturfähigkeit und mangelhaften Versuchen, sie zu erzwingen, bedroht; die humane Destruktionsneigung erscheint nun als Dauerbedrohung. Das Überleben der Kultur hängt nun mehr von der Frage ihrer Bändigung als von der der hinreichenden libidinösen Begründung ab. Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921c): Über diesen Text lieferte Freud einen wichtigen Baustein in seiner psychologischen Erklärung sozialen Geschehens. Seine Untersuchung der Psychologie der »Massen« erbrachte, dass in der strukturlosen großen Zahl das individuelle Über-Ich aufgehoben und auf triebhaftes Verhalten umgestellt wird. Im Prinzip gilt dies auch für Organisationen. Ihr sozialer Kitt ist die gemeinsame Unterwerfung unter ein und die Identifika-
18 Totem und Tabu ist aus verschiedenen Gründen (und zu Recht) heftig kritisiert worden: Der Text stützt sich auf unzuverlässige Daten, er generalisiert und spekuliert ziemlich ungeniert. Er gilt daher als »überholt«. In der Tat ist das Gesamtmodell eher ein Mythos als eine Theorie. Dennoch handelt es sich um einen eindrucksvollen Versuch, Gesellschaft, Geschichte und Psychologie auf einen Nenner zu bringen. Viele Überlegungen und die Fragen, die der Text aufwirft, sind nach wie vor klug und anregend. Sie harren noch der Weiterentwicklung.
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tion mit einem »väterlichen« – das heißt autoritären und autokratischen – »Prinzip«. Gehorsam ist nur an der Oberfläche Angst vor Gewalt und Nutzenkalkül; es ist in seiner Tiefenstruktur tief ödipal eingefärbt. Schließlich unternahm Freud eine erneute Ausformulierung und Weiterentwicklung der Kulturtheorie. In Die Zukunft einer Illusion (1927c) schreibt er bündig: »Die menschliche Kultur – ich meine all das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und worin es sich vom Leben der Tiere unterscheidet – und ich verschmähe es, Kultur und Zivilisation zu trennen – zeigt dem Beobachter […] zwei Seiten. Sie umfasst einerseits all das Wissen und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen, andererseits alle die Einrichtungen, die notwendig sind, um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung der erreichbaren Güter zu regeln. Die beiden Richtungen sind nicht unabhängig voneinander, erstens, weil die gegenseitigen Beziehungen der Menschen durch das Maß der Triebbefriedigung, das die vorhandenen Güter ermöglichen, tiefgreifend beeinflusst werden, zweitens, weil der einzelne Mensch selbst zu einem anderen in die Beziehung eines Gutes treten kann, insofern dieser seine Arbeitskraft benützt oder ihn zum Sexualobjekt macht, drittens aber, weil jeder einzelne virtuell ein Feind der Kultur ist, die doch ein allgemeinmenschliches Interesse sein soll« (ebd., S. 325f.).
Vor allem dieser letzte Punkt verstärkt den »Eindruck, daß die Kultur etwas ist, was einer widerstrebenden Mehrheit von einer Minderheit auferlegt wurde, die es verstanden hat, sich in den Besitz von Macht und Zwangsmitteln zu setzen« (ebd., S. 327). Freud hält fest: »Während die Menschheit in der Beherrschung der Natur ständige Fortschritte gemacht hat und noch größere erwarten darf, ist ein ähnlicher Fortschritt in der Regelung menschlicher Angelegenheiten nicht sicher festzustellen« (ebd.). Trotz aller nötigen und möglichen Verbesserungen der materiellen Bedingungen bleibt das Problem: »Man hat, meine ich, mit der Tatsache zu rechnen, daß bei allen Menschen destruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhanden sind 42
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und daß sie bei einer großen Anzahl von Personen stark genug sind, um ihr Verhalten in der menschlichen Gesellschaft zu bestimmen« (ebd., S. 328).
Das Bild einer möglichen positiven Entwicklung beschreibt Freud so: »Es wird entscheidend, ob und inwieweit es gelingt, die Last der den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit den notwendig verbleibenden zu versöhnen und sie dafür zu entschädigen« (ebd.). Das sind die revolutionärsten Töne, die Freud je schrieb, und sie lassen sich nicht im Pathos, aber im Ziel mit den großen Utopien einer gerechten, sicheren, humanen Welt vergleichen. Dann fährt er mit der bittersten Begründung für Repression fort: »Ebenso wenig wie den Zwang zur Kulturarbeit kann man die Beherrschung der Masse durch eine Minderzahl entbehren, denn die Massen sind träge und einsichtslos, sie lieben den Treibverzicht nicht, sind durch Argumente nicht von dessen Unvermeidlichkeit zu überzeugen und ihre Individuen bestärken einander im Gewährenlassen ihrer Zügellosigkeit« (ebd.).19
Freud entwickelt vor diesem Hintergrund einige Überlegungen genauer. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es mit der Verinnerlichung der Kulturleistungen nicht weit her ist. Selbst bei der Elite ist die Decke dünn: »Unendlich viele Kulturmenschen, die vor Mord oder Inzest zurückschrecken würden, versagen sich nicht die Befriedigung ihre Habgier, ihrer Aggressionslust, ihrer sexuellen Gelüste, unterlassen es nicht, den anderen durch Lüge, Betrug, Verleumdung zu schädigen, wenn sie dabei straflos bleiben können« (ebd., S. 333). Bei den »zurückgesetzten Klassen« ist dies verständlich, aber auch auf die oberen ist kein Verlass: »Wenn […] eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer ande19 Freud fährt fort: »Nur durch den Einfluß vorbildlicher Individuen, die sie als ihre Führer anerkennen, sind sie zu den Arbeitsleistungen und Entsagungen zu bewegen, auf welche der Bestand der Kultur angewiesen ist. Es ist alles gut, wenn diese Führer Persönlichkeiten von überlegener Einsicht in die Notwendigkeit des Lebens sind, die sich zur Beherrschung ihrer eigenen Triebwünsche aufgeschwungen haben« (Freud, 1927c, S. 328). Dies war leider nicht der Fall.
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ren, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, daß diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln. […] Die Kulturfeindschaft dieser Klassen ist so offenkundig, dass man über sie die eher latente Feindseligkeit der besser beteilten Gesellschaftsschichten übersehen hat. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient« (ebd.).
In einer Wendung von einer normativen zu einer funktionalen Sicht fragt Freud, wie denn Klassengesellschaften dennoch Stabilität gewinnen. Seine Antwort: nicht durch Gewalt(drohung), sondern vor allem durch Kompensationen – in der Sprache der Psychoanalyse: durch affektive Bindungen, die narzisstische Befriedigung bieten. Sie sind in ihrer Bilanz jedoch zwiespältig. Am Beispiel der Religion zeigt Freud, dass diese kollektive Projektion infantiler Bedürfnisse beziehungsweise Fantasien zwar Versöhnung, Vertröstung und Identifikation zur Folge hat (was den kulturellen Status quo stützt), aber in hohem Maße eine emotionale und kognitive Einschränkung nach sich zieht (was die Kultur auf Dauer gefährdet). Insofern ist die Bilanz auch hier negativ. Freud plädiert daher für eine Ersetzung von Religion durch die »wissenschaftliche Weltanschauung« – eine nüchterne Anerkennung der Welt, wie sie ist, inklusive aller ihrer negativen Seiten.20 Auch wenn nicht jedes Argument (so) haltbar ist und das Konzept insgesamt eine Art wissenschaftlicher Mythos ist, entwickelt Freud auf engstem Raum mit wenigen Strichen eine (psycho-)dynamische Theorie der Kultur, die weder dogmatisch noch naiv ist. Zweifellos diagnostiziert er relevante Problembestände und bietet relevante Beiträge zur Erklärung – und hat den Mut, daraus ein – trotz aller Probleme – anregendes und richtungsweisendes Modell zu entwerfen.
20 In Das Unbehagen in der Kultur (1930a [1929]) ergänzt er diese Argumentation durch den Hinweis, dass die menschliche Aggressionsneigung so bedrohlich sei, dass Kultur dauerhaft auf direkte und indirekte Repression (qua Über-Ich) angewiesen bleibe. Insofern vollzieht er hier einen Perspektivenwechsel von einer eher »optimistischen« zu einer eher »pessimistischen« Sicht der Zukunft.
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Das psychoanalytisch inspirierte Gesellschaftsverständnis
Im Konzept der »Kultur« ist zwar Gesellschaftliches enthalten, es wird aber abstrakt behandelt. Konkreter behandelt Freud Themen, in denen es um praktische gesellschaftliche Problemlagen geht. Beispielhaft dafür ist sein Umgang mit der Resonanz, den die Psychoanalyse ausgelöst hat. In seinem Aufsatz über »Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie« (1910d) ist er gedämpft optimistisch. »Ich habe […] vor, Ihnen zu zeigen, daß wir mit unseren Hilfsmitteln zur Bekämpfung der Neurosen keineswegs zu Ende sind, und daß wir von der näheren Zukunft noch eine erhebliche Besserung unserer therapeutischen Chancen erwarten dürfen. Von drei Seiten, meine ich, wird uns die Verstärkung kommen: 1.) durch inneren Fortschritt, 2.) durch Zuwachs an Autorität 3.) durch die Allgemeinwirkung unserer Arbeit« (ebd., S. 104).
Auch hier beginnt er mit einer eher düsteren Diagnose der Umstände: »Über die Bedeutung der Autorität brauche ich Ihnen nicht viel zu sagen. Die wenigsten Kulturmenschen sind fähig, ohne Anlehnung an andere zu existieren oder auch nur ein selbständiges Urteil zu fällen. Die Autoritätssucht und innere Haltlosigkeit der Menschen können Sie sich nicht arg genug vorstellen« (ebd., S. 109).21
Dadurch kommt »Autorität« jedoch eine Schlüsselfunktion in der gesellschaftlichen Entwicklung zu: »Diese Autorität und die enorme von ihr ausgehende Suggestion war bisher gegen uns« (ebd.). Die Psychoanalyse musste sich also gegen deren negativen Einfluss und ihre Sogwirkung entwickeln. Wie in anderen Bereichen auch (Freud nennt die Gynäkologie als Beispiel) können sich die Verhältnisse ändern. Mit dem Rückenwind von Autorität und Suggestion könnten die Leistungen der Psychoanalyse wesentlich weiterreichende Effekte haben. 21 Freud schreibt weiter: »Die Verarmung des Ichs durch den großen Verdrängungsaufwand, den die Kultur von jedem Individuum fordert, mag eine der hauptsächlichsten Ursachen dieses Zustandes sein« (1910d, S. 104).
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Aber: »Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autorität einzuräumen. Sie muß sich im Widerstande gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie an der Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hat. Wie wir den einzelnen durch die Aufdeckung des in ihm Verdrängten zu unserem Feinde machen, so kann auch die Gesellschaft die rücksichtslose Bloßlegung ihre Schäden und Unzulänglichkeiten nicht mit sympathischem Entgegenkommen beantworten; weil wir Illusionen zerstören, wirft man uns vor, daß wir die Ideale in Gefahr bringen« (ebd., S. 111).
Und genau so, wie der einzelne Patient auf die Dauer der Therapie nicht widerstehen kann, wird dies auf Dauer auch der Gesellschaft nicht gelingen: »So mächtig auch die Affekte und die Interessen der Menschen sein mögen, das Intellektuelle ist doch auch eine Macht. Nicht gerade diejenige, die sich zuerst Geltung verschafft, aber umso sicherer am Ende« (ebd.). Analog dazu beschreibt Freud die »Allgemeinwirkung« der Psychoanalyse. Als Therapie arbeitet sie damit, dass sie die Dinge beim Namen nennt und damit der Krankheit den äußeren Halt nimmt. »Nun setzen sie an die Stelle des einzelnen Kranken die ganze an den Neurosen krankenden, aus kranken und gesunden Personen bestehende Gesellschaft, an Stelle der Annahme der Lösung dort die allgemeine Anerkennung hier […]. Der Erfolg, den die Therapie beim einzelnen haben kann, muß auch bei der Masse eintreten. […] Die Mitteilung des Geheimnisses hat die ›ätiologische Gleichung‹, aus welcher die Neurosen hervorgehen, an ihrem heikelsten Punkte angegriffen, sie hat den Krankheitsgewinn illusorisch gemacht, und darum kann nichts anderes als die Einstellung der Krankheitsproduktion die endliche Folge sein« (ebd., S. 112f.).
Auch hier analogisiert Freud Individuum und Gesellschaft, psychologisiert deren Funktionsweise (und unterstellt eine strukturelle Fähigkeit zur Normalität). Auch die Gesellschaft leistet Widerstand, hat ein schlechtes Gewissen und so weiter, kann sich auf Dauer jedoch vernünftigen Argumenten nicht entziehen, da sie letztlich rationalen Zwecken folgt und einsichtsfähig ist. Später hat Freud diesen Argumentationstyp noch einmal systematisch begründet. In Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in 46
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die Psychoanalyse (1933a [1932]), worin er hauptsächlich den neuesten Stand der Psychoanalyse präsentiert, erneuert er seine Religionskritik und entwickelt daraus sein Konzept einer »wissenschaftlichen Weltanschauung« als einzig kulturkompatible Weltsicht. Zu deren Konkurrenten zählt er auch den Marxismus. Freud konzediert, dass er kein Experte für Marx sei und demonstriert dies auch in einigen Kommentaren: »In der Marxschen Theorie haben mich Sätze befremdet wie, daß die Entwicklung der Gesellschaftsformen ein naturgeschichtlicher Prozeß sei, oder daß die Wandlungen in der sozialen Schichtung auf dem Weg eines dialektischen Prozesses auseinander hervorgehen« (ebd., S. 191).22
Dagegen setzt er seine »Laienmeinung, […] die gewohnt ist, die Klassenbildung in der Gesellschaft auf die Kämpfe zurückzuführen, die sich seit dem Beginn der Geschichte zwischen den um eine Geringes verschiedenen Menschenhorden abspielten. Die sozialen Unterschiede, meinte ich, waren ursprünglich Stammes- oder Rassenunterschiede. Psychologische Faktoren, wie das Ausmaß der konstitutionellen Aggressionslust, aber auch die Festigkeit der Organisation innerhalb der Horde, und materielle, wie der Besitz der besseren Waffen, entschieden den Sieg. Im Zusammenleben auf demselben wurden die Sieger die Herren, die Besiegten die Sklaven« (ebd., S. 192).
Er führt also gegen das Bild, welches er von Marx’ Theorie hat, zunächst soziologische und »materialistische« Argumente ins Feld, um dann den ökonomischen Monismus zu kritisieren: »Man kann nicht annehmen, daß die ökonomischen Motive die einzigen sind, die das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft bestimmen. Schon die unbezweifelbare Tatsache, dass verschiedene Personen, Rassen, Völker unter den nämlichen Wirtschaftsbedingungen sich verschieden benehmen, schließt die Alleinherrschaft der ökonomischen Momente aus« (ebd., S. 193).
22 Er schreibt selbst: »Ich bin gar nicht sicher, daß ich diese Behauptungen richtig verstehe« (1933a [1932], S. 191).
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Vor allem aber moniert Freud das Fehlen eines psychologischen Verständnisses von Geschichte: »Man versteht überhaupt nicht, wie man psychologische Faktoren übergehen kann, wo es sich um die Reaktionen lebender Menschenwesen handelt, denn nicht nur, daß solche bereits an der Herstellung jener ökonomischen Verhältnisse beteiligt waren, auch unter deren Herrschaft können Menschen nicht anders als ihre ursprünglichen Triebregungen ins Spiel bringen, ihre Aggressionslust, ihr Liebesbedürfnis, ihren Drang nach Lusterwerb und Unlustvermeidung« (ebd., S. 193f.).
Freud ergänzt dieses Argument mit dem Hinweis auf die Autonomie der Kulturentwicklung: »Endlich wollen wir nicht vergessen, daß über die Menschenmasse, die den ökonomischen Notwendigkeiten unterworfen ist, auch der Prozeß der Kulturentwicklung […] abläuft, der gewiß von allen anderen Faktoren beeinflußt wird, aber sicherlich in seinem Ursprung von ihnen unabhängig ist, einem organischen Vorgang vergleichbar, und sehr wohl imstande, seinerseits auf die anderen Momente einzuwirken. Er verschiebt die Triebziele und macht, daß die Menschen sich gegen das sträuben, was ihnen bisher erträglich war; auch scheint die fortschreitende Erstarkung des wissenschaftlichen Geistes ein wesentliches Stück von ihm zu sein« (ebd., S. 194).
Aus dieser Konfiguration ergibt sich für Freud die Aufgabe einer »wirklichen Gesellschaftslehre«: »Wenn jemand imstande wäre, im einzelnen nachweisen, wie sich diese verschiedenen Momente, die allgemeine menschliche Triebanlage, ihre rassenhaften Variationen und ihre kulturellen Umbildungen unter den Bedingungen der sozialen Einordnung, der Berufstätigkeit und Erwerbsmöglichkeiten gebärden, einander hemmen und fördern, wenn jemand das leisten könnte, dann würde er die Ergänzung des Marxismus zu einer wirklichen Gesellschaftskunde gegeben haben« (ebd.).
Sie darf also nicht ökonomistisch sein, sie muss vielmehr die konkreten Bewegungen und Formierungen des psychischen Geschehens nachvollziehen. In diesem Verständnis ist »Gesellschaftslehre« eine Theorie, die 48
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konkretisiert, was sich aus dem vorausgesetzten allgemeinen Geschehen ergibt. Freud fährt fort: »Auch die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psychologie. Streng genommen gibt es ja nur zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde« (ebd.). Damit bestätigt sich, was Freud bereits die ganze Zeit praktisch angenommen hat: Gesellschaftliches Geschehen ist kein eigenständiger, sondern ein abgeleiteter Prozess. Psychologische Anthropologie und kulturelle Evolution sind ihre Determinanten; Soziologie ist entsprechend angewandte Psychologie. Dies kann vor dem Hintergrund der Annahme, sie sei ein »Makroakteur«, nicht anders sein.
Struktur und Funktionen von Freuds Gesellschaftsbild Man kann, so ein Ergebnis der Untersuchungen, zwischen Freuds Gesellschaftsbild und seiner Gesellschaftstheorie unterscheiden. Sein Gesellschaftsbild stammt aus Erfahrungen und Gewissheiten, die in seiner Lebenswelt verankert sind. Er vertritt ganz selbstverständlich viele Positionen des gebildeten Bürgertums seiner Zeit: Kinder sollen brav sein, Erziehung muss liebevoll, aber streng sein, Frauen sollen (im herkömmlichen Sinn) weiblich und passiv sein und ihre Männer unterstützen (statt aktiv zu sein und selbst Karrieren anzustreben), dann werden sie auch von ihnen als »Liebesobjekt« behandelt. Männer sind die breadwinner der Familie, sie müssen allein in der Welt zurechtkommen und selbstständig ihren Weg konsequent gehen. Die Familie ist der Hort des Vertrauens, die Welt draußen gefährlich und oft unverständlich. Geschäftemacherei ist eigentlich würdelos; man hat genügend Geld zu haben, sodass es zu standesgemäßem Leben reicht, und bescheidet sich in und mit seinen Möglichkeiten. Arbeit ist die unvermeidliche Bürde, die man (er)tragen muss, aber auch Lebenselixier. Geistig strebt man danach, sich die Kultur – das kulturelle Erbe der Menschheit aus der Sicht des gebildeten Mitteleuropäers – anzueignen und ein Kulturweltbürger zu werden. Über Modetorheiten schüttelt man den Kopf und orientiert sich an den klassischen Maßstäben der Ästhetik sowie an den Normen, die sich von selbst verstehen – Selbstdisziplin, Engagement für das Projekt des gesellschaftlichen Fortschritts, Einhaltung der nötigen Regeln, wechselseitige Anerkennung unter Gleichen, Verachtung des Pöbels und stoisches Ertragen der Zumutungen des Lebens. 49
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Die Entwicklung der Psychoanalyse bot ihm die Möglichkeit, seine Vorstellungen auf Ebene 3 zu reformulieren und in ein theoretisches Format zu bringen. Daraus ergibt sich eine allgemeine Theorie der Genese und Funktionsweise von dem, was er – nicht ganz zufällig – unter dem Stichwort »Kultur« analysierte. Zusammengefasst: Der Mensch erscheint als kulturfähig, aber nur bedingt als kulturgeeignet – seine triebhafte Ausstattung ist egoistisch und in gewisser Weise sogar asozial. Daher bedarf es externer Steuerung und Kontrolle, die jedoch nur begrenzt auf reine Repression setzen kann, sodass interne (Selbst-)Kontrolle erforderlich ist. Um zu erklären, wie dies möglich wird, entwickelt Freud einen Ursprungsmythos, der eine Externalisierung psychischen Geschehens postuliert: Die Unterdrückten der Urhorde realisierten ihre Fantasien und ermordeten den Vater; danach errichteten sie aus Schuldgefühl bewusste und daher sozial wirksame Tabus, die der Nukleus sozialer Normen und Organisation sind. Den weiteren Verlauf der Geschichte interpretiert Freud als einen Prozess, in dem die einmal erreichten Niveaus psychischer Kontrolle den folgenden Generationen sowohl als externer wie interner Ausgangspunkt für weitere Entwicklungsschritte dienen. Dabei erscheint Kultur als Hort der humanen Vernunft, als (schwacher, aber einzig möglicher) Schutz vor den Risiken des Zusammenlebens und als Basis für ein möglichst sinnvolles und autonomes Leben – von der Last des Schicksals kann sie nicht befreien. Gesellschaft ergibt sich im Wesentlichen aus der Psychologie; sie ist deren Konsequenz und Bearbeitung. Gesellschaftliche Entwicklung ist daher auch vorrangig ein Prozess, der von Emanationen psychischen Geschehens, von deren Wahrnehmung und der Art ihrer Behandlung bestimmt ist. Immer geht es um die Steuerung eines zugleich produktiven und destruktiven Potenzials; ein Unterfangen, welches für Freud historisch gesehen immer besser gelungen ist – aber die Risiken sind geblieben und verstärkt durch sekundäre Probleme, die sich aus den Formen der Steuerung ergeben. Die Geschichte der Kultur erscheint ähnlich wie bei vielen anderen Theoretikern (von Turgot bis Comte) als Fortschrittsgeschichte, die Gegenwart als höchster Entwicklungsstand, aber keineswegs als perfekt und zukunftslos. In diesem Zusammenhang verwendet Freud in Bezug auf Kultur und Gesellschaft (die er als deren politisch-organisatorischen Teil versteht) eine grundlegend funktionalistische Sichtweise: Es gibt sie, weil sie als Beantwortung der Problemlagen erforderlich sind. Sie sind also dazu da, Themen zu behandeln; ihre Leistungen haben ihren Sinn bezogen auf die Problemlagen des Menschen. Dabei werden Kultur und Gesellschaft 50
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als einheitliche Akteure adressiert. Es gibt nur die (eine) Kultur, die (eine) Gesellschaft, die in dieser Hinsicht vernünftig zu handeln versuchen – sie bemühen sich, ihre Funktion möglichst rational zu erfüllen, aber bei fehlender Information oder aufgrund von psychodynamischen Beeinträchtigungen wie etwa Angst, schlechtem Gewissen und Ähnlichem neigen sie zu Fehlern und Fehlverhalten. Daher sind sie strukturell funktionale und rationale Akteure, empirisch dagegen fallibel. Was sich weitgehend durchhält, ist die inhaltliche Ambivalenz: Freuds Überlegungen behandeln immer wieder (in unterschiedlichen Gewichtungen) die Janusköpfigkeit von Gesellschaft – die Mischung von Aufklärung und Destruktion, von Leistung und Qual, von Kontrolle und Schicksal, von Rationalität und Irrationalität. Diese tiefe Wurzel der Lebenserfahrung zeigt sich in allen Bereichen seines Denkens. Die Ambivalenz bleibt unversöhnt.23 Dies spiegelt sich in seinem »optimistischen Pessimismus«, wobei – wenig verwunderlich – in den frühen Phasen ersterer, in den späten Äußerungen letzterer dominiert. Der »frühe« Freud ist voller Tatendurst und Forscherelan, sieht die Möglichkeit der Entwicklung und Verbesserung der Welt durch Erkenntnis und Aufklärung – zu diesem Zeitpunkt sind seine pessimistischen Überlegungen eher in Briefzitaten zu finden. Der »späte« Freud, von Weltkrieg und Faschismus erschüttert (wie begründet auch immer, siehe Sulloway, 1982), von der Resonanz der Psychoanalyse in der wissenschaftlichen Welt enttäuscht und von schwerer Krankheit gezeichnet, äußert sich skeptischer: »Ich kann nicht bestreiten, dass in dem fröhlichen Pessimismus, der mir eigen war, das zweite Moment gelegentlich dominiert. […] Wir sind […] keine Zuschauer, auch nicht Schauspieler oder auch nur Chor, sondern nur Opfer« (zit. n. Jones, 1984c, S. 19). Die Fröhlichkeit ist verschwunden. An Pfister schreibt er anlässlich der Einführung des »Todestriebs«: »Es handelt sich gar nicht darum, was anzunehmen erfreulicher oder fürs Leben bequemer oder vorteilhafter ist, sondern was jener rätselhaften Wirklichkeit, die es doch außer uns gibt, näher kommen mag. Der Todestrieb ist mir kein Herzensbedürfnis, er erscheint nur als unvermeidliche Annahme aus biologischen wie psychologischen Gründen. Davon leite ich das Übrige 23 Dass Freuds »Lebensphilosophie« nicht in eine Richtung kippt, sondern die Spannung aufrechterhält, dürfte ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, dass es ihm gelingt, nüchtern und skeptisch in seinen Darstellungen und Beurteilungen zu bleiben.
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ab. Mein Pessimismus erscheint mir also als Resultat, der Optimismus meiner Gegner als eine Voraussetzung. Ich könnte auch sagen, ich habe mit meinen düsteren Theorien eine Vernunftehe geschlossen, die anderen leben mit den ihren in einer Neigungsehe« (Freud & Pfister, 1963, S. 144).
Auch diese Vernunftehe wird schließlich so strapaziert, dass Freud resigniert und verstummt: »Sie sollen keine Klagen hören. Ich stehe immer noch aufrecht und halte mich in keiner Hinsicht für das unsinnige Geschehen in der Welt verantwortlich« (Jones, 1984c, S. 18). In seinen späten Schriften wechselt er also unter dem Druck der Verhältnisse die Perspektive: Während Freud zu Beginn die historischen Fortschritte hervorhebt (ohne die Kosten dieses Fortschritts zu übersehen) und ihr Fehlerhaftigkeit, aber auch Lernfähigkeit und damit auch zukünftige Fortschrittsfähigkeit zubilligt, geht es in den Spätschriften darum, den erreichten Stand gegen regressive und destruktive Tendenzen zu verteidigen. Freud schwankt zwischen der Option, durch politische Repression letztere zu unterdrücken, und der Befürchtung, dass Katastrophen nicht zu verhindern sind, weil der Konflikt zwischen Anthropologie und Kultur nicht lösbar ist. In beiden Fällen spielt die psychologische Natur der Gesellschaft keine Rolle mehr. Betrachtet man den inneren Aufbau und die Funktionsweise von Freuds Vorstellungen, so zeigt sich, dass Freud in vieler Hinsicht von spezifischen Sachverhalten als Gegebenheiten ausgeht und sie ontologisiert, also als Dinge behandelt, die nicht kontingent sind, sondern so sind, weil sie so sein müssen. Daraus ergibt sich als Grundlage seiner Vorstellungen ein Konglomerat vortheoretischer Gewissheiten, die inhaltlich von den lebensweltlichen Bezügen und Orientierungen des gebildeten Bürgertums seiner Zeit bestimmt sind. Sie sind in mancher Hinsicht mehrdeutig und können in unterschiedliche Richtung »kippen«. Diese vortheoretischen Gewissheiten sind der Hintergrund, vor dem sich die Entwicklung des psychoanalytischen Denkens abspielt; sie werden umgekehrt durch die Mittel der Psychoanalyse systematisiert und in Richtung auf ein theoretisches Erklärungsmodell weiterentwickelt. Es liegt auf der Hand, dass Freuds gesellschaftstheoretische Überlegungen »unprofessionell« sind. Er verwechselt Soziologie weitgehend mit der Lehre von Marx24 und ist über diese nicht sehr genau informiert. 24 Freud kannte nur wenig genuin soziologische Schriften. Von Durkheim hatte er (für Totem und Tabu) dessen Les formes élémentaires de la vie religieuse und die Aufsätze
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Struktur und Funktionen von Freuds Gesellschaftsbild
Seine Äußerungen zur Soziologie wie auch seine eigenen Vorstellungen über Gesellschaft sind daher aus soziologischer Sicht nicht kompetent beziehungsweise überzeugend. Sein gesellschaftstheoretisches Denken präsentiert sich als reduktionistisch und wenig elaboriert. Aber dies ist unter bestimmten (und unter den beschriebenen) Umständen nicht das einzige und auch nicht das wichtigste Kriterium. Weiter oben wurde kurz sein wissenschaftstheoretisches Konzept angesprochen. Dass Freud den wissenschaftlichen Status seiner Arbeit systematisch verkannte, hing auch damit zusammen, dass ihm die zu seiner Zeit zur Verfügung stehenden Konzepte nur zum Teil bekannt waren (die »geisteswissenschaftliche« Diskussion kannte er nicht), aber vor allem damit, dass er davon überzeugt war, dass es nur eine Form von wissenschaftlicher Erkenntnis gäbe und dass deren Inkarnation die Naturwissenschaft seiner Zeit, sprich: der materialistische Positivismus war (ausführlich dazu Kapitel 2 in diesem Band). Diese Überzeugung bot ihm sicheren Halt in der von ihm als Fortsetzung und Realisierung der Aufklärung idealisierten Wissenschaft, eine Identifikation mit (salopp gesagt) der Avantgarde und den Leistungsträgern des Weltgeistes. Entscheidend war jedoch, dass er diese Identifikation nicht mit einer Idealisierung des Ist-Bestands an Methoden und Theorien, sondern mit einer Kautel versah, die einen persönlichen Freibrief enthielt: Wer mit der Wissenschaft identifiziert ist und ihre Prinzipien (und nicht ihre empirischen Gegebenheiten) wahrt, erfüllt ihre Aufgabe. Damit konnte Freud beliebige Expeditionen unternehmen, ohne jeden Kontakt mit seiner Basis zu verlieren; er konnte allen seinen Aktivitäten problemlos den absichernden Status »wissenschaftlich« zuweisen, ohne sich allzu sehr um die Buchstaben des gemeinten Bezugssystems kümmern zu müssen. Dies gilt auch da, wo Freud sich scheinbar am methodischen Repertoire seines Wissenschaftsideals orientierte. Er übernahm Methoden auf eine Weise, die nicht zum Gegenstand passten, die ihm jedoch in gewisser Weise über Totemismus und Inzesttabu gelesen. Er nutzt die dort vorgestellte Argumentation vor allem zur Konfrontation mit rein psychologischen Überlegungen, um daraus die Notwendigkeit einer psychodynamischen Evolutionstheorie zu begründen. Durkheims Interpretation, der Totem sei die Repräsentation der sozialen Einheit eines Stammes, ist ihm naturgemäß zu einseitig. Man muss bedenken, dass in der Zeit, in der Freud intensiv neue Literatur zur Kenntnis genommen hat, es mit einer öffentlichen Diskussion der Soziologie noch nicht so weit her war, sodass sie Freuds Aufmerksamkeit wohl weitgehend entgangen ist. Aber eine Lektüre etwa von Webers Schriften hätte ihn wohl ebenso wenig animiert, wie dies umgekehrt der Fall war.
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1 Freuds Vorstellung von Gesellschaft
weiterhalfen. So würde beispielsweise niemand mehr auf die Idee kommen, einen Traum so zu behandeln, wie Freud dies bei seinen Versuchen einer »vollständigen« Traumdeutung tat, wo er buchstäblich jede Silbe in Kausalzusammenhänge stellte. Aber es war nicht zuletzt dieser Versuch mit der Leitannahme, Träume ließen sich auf diese Weise restlos klären, die ihm dabei half, überhaupt konsequente Strategien der Traumdeutung zu entwickeln, in der auch die zentralen und richtungsweisenden Aspekte enthalten waren. Ein weiterer Effekt von Freuds Wissenschafts-Identifikation erschließt sich, wenn man sie in Beziehung setzt zur These von Devereux (1973 [1967]), dass (fast alle) Themen unter Umständen psychisch problematisch und problemauslösend sind. Dies gilt für eine ganze Reihe von Freuds Themen: Sexualität, Neurosen, Kleinkindforschung – fast alle seiner Zugänge zur Psychodynamik waren mit (mehr oder weniger ausgeprägten) gesellschaftlichen Tabus verbunden und blieben auch im praktischen Kontakt heikel. Devereux leitet daraus ab, dass im Kontakt mit potenziell angsterregenden Themen auch und gerade die Methoden und Theorien der Wissenschaft Strategien der Angstbewältigung sind: Sie sorgen für Distanz und verhindern Kommunikation. Mit der Selbstdefinition als rein objektiv vorgehender, als Person unbeteiligter Wissenschaftler ist, so könnte man folgern, bereits in die Rollendefinition eine Art Angstschutz eingebaut, der es dem Rolleninhaber ohne individuelle Leistungen ermöglicht, sich vor Überlastung durch Kontakt mit schwierigen Themen zu schützen. Auch in diesem Zusammenhang ist anzunehmen, dass gerade die Identifikation mit der distanzierenden, die Subjekt-Objekt-Trennung stark betonenden Position Freud dabei geholfen hat, sich auf massiv emotional aufgeladene Themen und heikle Aktivitäten einzulassen, weil sie deren Effekte gemildert und abgefedert haben. Freuds Vorstellung von Wissenschaft war also keine objektiv richtige Interpretation dessen, was er tat – insofern war die Habermas’sche Feststellung eines »szientistischen Selbstmissverständnisses« (1968a) objektiv richtig. Ihre zentrale Funktion lag jedoch nicht in einer wissenschaftstheoretischen Begründung, sondern in der Absicherung dessen, was er tat. Freud konnte mit dieser Einschätzung die Eigenheiten seines Vorgehens sowohl entwickeln als auch verleugnen (oder zumindest massiv unterschätzen). Daher lag ihre besondere Leistung gerade in dem, was objektiv falsch und daher zurecht kritisiert wurde: Das »Missverständnis« sicherte eine revolutionäre Vorgehensweise ab, die Freud – bei voller Realisierung 54
Struktur und Funktionen von Freuds Gesellschaftsbild
dessen, was sich abspielte – als eklatanten Widerspruch hätte einstufen müssen. Es ist fraglich, ob er dann noch so locker gegen viele der Regeln seiner Zunft verstoßen hätte. Die eigentliche Pointe von Freuds Wissenschaftsverständnis liegt daher eher in ihrem heimlichen Anti-Positivismus, dass Freud seinen zur damaligen Zeit exzentrischen Eingebungen folgte, und zugleich fast blauäugig annahm, im Reich der Wissenschaft, wie er es verstand, zu bleiben. In gewisser Weise hatte er damit auch Recht, aber er überschätzte die Identität seines Tuns mit den Regeln der (Natur-)Wissenschaft der Zeit erheblich – und so erfolgreich, dass er auf diese Weise unbekümmert voranschreiten konnte. In späteren Phasen der Entwicklung der Psychoanalyse – vor allem bei Bemühungen, sie zu kanonisieren und wissenschaftstheoretisch abzusichern – wurde dies naturgemäß zu einem gravierenden Problem. Hartmanns (1972 [1927]) Festschreibungen haben für lange Zeit ein angemesseneres Verständnis psychoanalytischer Theorie und Praxis stark beeinträchtigt und dazu beigetragen, dass sich die Schere zwischen offizieller Selbstinterpretation und tatsächlichem Geschehen weit und weiter öffnete, was die interne Thematisierungsfähigkeit erheblich beeinträchtigte. Wäre Freud besser dran gewesen, wenn er Dilthey gelesen und sich als Hermeneutiker verstanden hätte? Lorenzer (1974) verneint dies vehement, weil Freud damit aus seiner Sicht von wissenschaftstheoretischem Regen in die Traufe gekommen wäre – eine »idealistische« Hermeneutik sensu Dilthey hätte, so Lorenzer, den »materialistischen« Gehalt von Freuds Vorgehen (sein Insistieren auf realem, körpergebundenem Geschehen als Grundlage der Psychoanalyse) womöglich geschädigt und in Luft (Geist) aufgelöst. Aus der hier entwickelten Sicht ist ebenfalls Skepsis angebracht, aber aus anderen Gründen: Es ist fraglich, ob eine solche Identifikation Freud die vortheoretische Gewissheit geboten hätte, die er für seine Suchbewegungen, aber auch für die später entwickelten theoretischen Konstruktionen geboten hätte. Allein schon das Wissen um die Problematik des seit Schleiermacher deutlich gewordenen »hermeneutischen Zirkels« wäre Gift für jene Sicherheit des Vorgehens gewesen, die Freud suchte und brauchte – ganz abgesehen davon, dass er auch Probleme gehabt hätte, dort die Vorbilder für seine (wie auch immer problematischen) Modellkonstruktionen zu finden. Mutatis mutandis gilt dies für Freuds Gesellschaftsbild insgesamt. Bezieht man sie auf die Problemlage der Pioniersituation, so wird auch in dieser Beziehung deutlich, welche Leistung das selbstverständliche Über55
1 Freuds Vorstellung von Gesellschaft
nehmen von Überzeugungen aus dem Alltagsbewusstsein als Hintergrundsicherung für die notwendigen Interpretationen sozialer Sachverhalte erbrachte. Gänzlich ohne Hintergrundannahmen wäre überhaupt keine Expedition in die Psychodynamik möglich gewesen, weil dazu sowohl ein Normalitätskonzept als auch Annahmen über relevante Themen beziehungsweise Probleme vorhanden sein müssen. Eine elaborierte soziologische Theorie zu entwickeln, war Freud nicht möglich – und wäre vermutlich auch nicht produktiv gewesen. Das gilt schon deshalb, weil zum damaligen Zeitpunkt das entsprechende Repertoire beschränkt war, vor allem aber, weil eine elaborierte Gesellschaftstheorie nicht mehr ohne weiteres als fraglose Hintergrundannahme hätte fungieren können. Statt also orientierende thematische Fixpunkte zu bieten, hätte sie Kontingenz und Entwicklungsbedarf mit sich gebracht und Freuds eigentliche Arbeit nicht ent-, sondern belastet. In dieser Perspektive sind Freuds gesellschaftstheoretische Konstruktionen – die Einheitsbegriffe »Kultur« und »Gesellschaft«, die Betrachtung von Gesellschaft als eine Art menschlicher Akteur, der ziemlich direkte und teleologische Funktionalismus – problematische, aber erforderliche und unvermeidliche Mittel, Zusammenhänge zu erfassen, die anders nicht zugänglich waren. Freud brauchte Vorstellungen, die es ihm erlaubten, die soziale Bühne des psychischen Geschehens zu bestimmen. Seine vortheoretischen Gewissheiten konnten vor allem in der Pioniersituation sowohl als inhaltliche Referenz als auch als sicherer Halt dienen, wobei die Durchlässigkeit konnotativer Theorien für externe Einflüsse den Zugang bot. Die Ontologie des Sozialen versorgte ihn auch mit den erforderlichen normativen Absicherungen. Tatsächlich versteht sich das Moralische nicht von selbst, aber es ist unter dem Druck einer Pioniersituation vorteilhaft, davon auszugehen, als ob es so wäre. Das tat Freud mit voller Überzeugung und hatte so durch die Gefühlssicherheit des Alltagsbewusstseins abgesicherte moralische Maßstäbe für die reflexive Begründung seiner Praxis zur Verfügung. Selbst Freuds vielkritisierte Theorie weiblicher Sexualität bekommt in dieser Sichtweise noch eine weitere Bedeutung: Sicher hat Freud vergleichsweise unkritisch zeitbedingte (vergleichsweise moderat ideologische) Vorstellungen übernommen und sie normativ genutzt, was zu den bekannten Folgen in Bezug auf seine Theorie der weiblichen Identität und Sexualität führte. Angesicht der fehlenden Verfügbarkeit von ausgearbeiteten Alternativen war dies jedoch nicht nur naheliegend; es war zugleich 56
Struktur und Funktionen von Freuds Gesellschaftsbild
auch unvermeidlich, weil Freud ein Ausgangs- und Bezugsmodell brauchte. Zugespitzt: Erst durch die Verwendung einer sicheren Folie konnte er seine Expeditionen ins Unbekannte unternehmen. Ein beschränktes, objektiv unzulängliches, aber (nicht zu rigides) sicher leitendes Bild war für Startzwecke besser geeignet als ein diffuses zu komplexes beziehungsweise relativistisches Konzept. Allerdings war der Preis dafür der gerade in dieser Hinsicht problematische und irreführende theoretische Entwurf, den Freud entwickelte. Er enthielt eine Gemengelage aus sinnvollen Annahmen und Feststellungen (etwa über Bisexualität und geschlechtsspezifische Differenzen des »Triebschicksals«) mit nunmehr ex cathedra formulierten Unzulänglichkeiten. Die Probleme ergaben sich jedoch vor allem dadurch, dass Freuds Vorstellungen in der Konsolidierungsphase insgesamt dogmatisiert wurden – und das vorrangig von Männern, die in dieser Hinsicht Freuds lebensweltlichen Horizont weitgehend teilten. Beides schränkte die Freiheitsgrade für Korrekturen der Theorien erheblich ein und führte zum Mittransport von unhinterfragten Vorurteilen. Die Leistungen seinem Gesellschaftsbild basierender Gesellschaftstheorie gehen jedoch noch weiter: Auch (oder gerade weil) sie per se kein soziologisches Format bieten, haben sie den Horizont soziologischen Denkens erheblich erweitert (siehe dazu Schülein, 2015). Seine eigenen sozialpsychologischen Überlegungen waren der Startpunkt für die Entwicklung der Analytischen Sozialpsychologie,25 deren Beitrag zum Verständnis gesellschaftlicher Dynamik wesentlich sind. Es war Freud, dem es gelang, den Blick auf das psychodynamische Repertoire zu öffnen, das sowohl für gesellschaftliche Integration als auch für gesellschaftliche Desintegration sorgen kann. Und dies gelang ihm nicht zuletzt dadurch, dass er die eingangs angeführten Anregungen mithilfe seiner lebensweltlich basierten Überzeugungen in theoretische Anregungen umsetzen konnte, die zwar nicht eins zu eins verwendbar sind, deren Potenzial jedoch noch lange nicht ausgeschöpft ist.
25 Siehe dazu ausführlich Kapitel 4 bis 7 in diesem Band.
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2 Von der Neurophysiologie zur »wissenschaftlichen Weltanschauung« Über Struktur- und Funktionswandel von Freuds Wissenschaftstheorie
Zum Thema Obwohl gerade in letzter Zeit besonders intensiv um den wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse gestritten wird, ist eine Auseinandersetzung mit Freuds Wissenschaftstheorie kein sonderlich prominentes Thema.1 Dies hängt sicher damit zusammen, dass die Entwicklung von Freuds Theorie inzwischen sorgfältig analysiert wurde, aber auch damit, dass seine diesbezüglichen Vorstellungen widersprüchlich und in gewisser Weise auch sperrig und nicht ohne Weiteres mit modernen Sichtweisen kompatibel sind. Dies gilt auch für sein Konzept der »wissenschaftlichen Weltanschauung« – sie wurde vom späten Freud als wichtiges Basiskonzept (sozusagen als externe Absicherung von Metapsychologie) gesehen, taucht aber in neueren Diskussionen als Bezugspunkt kaum mehr auf. Nimmt man Freuds wissenschaftstheoretische Vorstellungen nur für sich, so ist dieses Verschwinden kein »Verlust«, weil sie (so) nicht mehr verwendet werden können: Sie sind zu sehr von den zeitgenössischen Vorstellungen und Einschränkungen und vom Problemstand der Anfangszeit geprägt. Aber eine darauf reduzierte Perspektive greift zu kurz. Die psychoanalytische Einsicht, dass objektiv »falsche« Vorstellungen zugleich eine immanente Wahrheit besitzen, gilt mutatis mutandis auch für die Entwicklung von Ideen und Theorien: Ihre Widersprüche und Defizite spiegeln das Verhältnis von Bedarf, Problembestand und Möglichkeiten der Bewäl1 Adolf Grünbaum (1988 [1984]) setzt sich gründlich mit Freuds Wissenschaftstheorie auseinander. Er konzediert ihm – zutreffend – ein originelles und produktives Vorgehen, wirft ihm jedoch vor, den Pfad der Tugend mit der Aufgabe der »Verführungstheorie« verlassen zu haben. Grünbaums Vorstellungen gehen nicht nur weit an den Problemen der Psychoanalyse, sondern auch an einem angemessenen Verständnis der Theorieentwicklung von Freud vorbei.
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2 Von der Neurophysiologie zur »wissenschaftlichen Weltanschauung«
tigung. In diesem Sinne geht es im Folgenden darum, zu untersuchen, mit welchen Problemen Freud konfrontiert war, als er thematisch und methodisch den Boden der Normalwissenschaft seiner Zeit verließ, wie er diese Abweichung legitimierte und welche Rolle dabei die Psychoanalyse spielte. Dabei geht es vor allem um die Entwicklung seiner wissenschaftstheoretischen Vorstellungen: Sie ändern sich, und das nicht zufällig, sondern im Kontext des Wandels der (Konflikt-)Konstellationen, das heißt, sie sind funktional auf deren Dynamik bezogen. Es geht also zunächst um eine wissenschaftssoziologische Perspektive: Wie wird ein so extremer Bruch mit dem gesellschaftlichen und normalwissenschaftlichen Status quo verarbeitet? Zu dem Zweck stelle ich die Entwicklung von Freuds wissenschaftstheoretischen Vorstellungen als eine Abfolge von Phasen mit jeweils spezifischem Profil dar und untersuche sie (wobei ich nichts inhaltlich Neues präsentieren werde und ausdrücklich keine Diskussion der inhaltlichen Entwicklung der psychoanalytischen Theorie intendiere). Dahinter steht jedoch unvermeidlich die Frage nach den Lehren, die aus Freuds Bewältigungsstrategien zu ziehen sind. Auch die gegenwärtige Psychoanalyse hat das Problem einer wissenschaftstheoretischen Begründung in keiner Weise gelöst (und kann sie, wenn die im letzten Abschnitt angestellten Überlegungen stimmen, auch nicht definitiv »lösen«). Da das Begründungsproblem selbst sich zwar ausweitet, im Kern aber nicht verändert hat, sind Freuds Vorstellungen ein Exempel, an dem man doppelt lernen kann: Es zeigt den Austausch von Theorie, Metatheorie und institutionellem Kontext, also das komplexe Verhältnis von Genese und Gültigkeit. Und außerdem hat Freud selbst eine ganze Reihe von Problemaspekten zwar mit unzulänglichen Mitteln, aber intuitiv adäquat behandelt.
Die Entwicklung von Freuds Wissenschaftstheorie Die Ausgangssituation
Die Ausgangssituation ist bekannt und hinreichend beschrieben:2 Freud war von Anfang an ein ambitionierter Wissenschaftler. Seine akademischen 2 Siehe dazu ausführlich zum Beispiel Dorer (1932), Bernfeld (1949), Jones (1984a–c), Kris (1962) und Lorenzer (1973).
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Die Entwicklung von Freuds Wissenschaftstheorie
Lehrer waren die prominenten Vertreter der sogenannten »Neuen Wiener Schule«: Brücke, Billroth, Chroback, Nothnagel und Meynert. Aus eher pragmatischen Gründen entschied er sich für die ärztliche Laufbahn, blieb aber der akademischen Forschung verbunden und habilitierte sich 1885 im Fach Neuropathologie. Von entscheidender Bedeutung wurden seine klinische Arbeit im neurologisch-psychiatrischen Bereich und nicht zuletzt der Kontakt mit Charcot und Breuer, die sich, jeder auf seine Weise, mit der Problematik psychopathologischer Phänomene auseinandersetzten. Dass diese Beschäftigung den Rahmen der normalen Wissenschaften seiner Zeit sprengte, wurde schnell deutlich. Der Gegensatz ergab sich aus den methodischen und inhaltlichen Festlegungen beziehungsweise Begrenzungen der zeitgenössischen Wissenschaft. Die »Neue Wiener Schule« bestand durchweg aus überzeugten Vertretern eines mechanisch-materialistischen Verständnisses von Wirklichkeit. Anerkannt wurden nur mehr quantitative empirische Methoden, was im Bereich der Medizin zu einer weitgehenden Reduzierung des Verständnisses von Krankheit und Gesundheit auf physiologisches Geschehen führte. Damit war kein Platz mehr für alternative Perspektiven. Billroth schrieb: »Die für den Mediziner brauchbare Psychologie ist fast ganz in Physiologie und Pathologie aufgegangen« (1876, S. 80). In der Psychiatrie dominierte entsprechend die sogenannte »Lokalisationstheorie«, die allem psychischen Geschehen einen anatomischen Ort zuweisen und sein Funktionieren auf dessen Physiologie zurückführen wollte. Flechsig – neben Meynert einer der wichtigsten Exponenten dieser Theorie – war davon überzeugt, »daß die Erforschung des Gehirns der Schlüssel zu einer wissenschaftlichen Erforschung des Seelenlebens bringen werde, und die heutige medizinische Psychologie will in der Tat nichts Anderes sein, als ein Abschnitt der Lehre von den Hirnfunktionen. Welche Hirnteile sind in Tätigkeit, wenn wir denken oder fühlen; welcherlei chemische und physikalische Vorgänge sind hierbei beteiligt?« (1896, S. 11)
Freud hat die Ursachen und »Kosten« dieser Position später so charakterisiert: »Die Mediziner waren in der alleinigen Hochschätzung anatomischer, physikalischer und chemischer Momente erzogen worden […]. In übermä61
2 Von der Neurophysiologie zur »wissenschaftlichen Weltanschauung«
ßiger Reaktion auf eine überwundene Phase, in der die Medizin von den Anschauungen der sogenannten Naturphilosophie beherrscht wurde, erschienen ihnen Abstraktionen, wie die, mit denen die Psychologie arbeiten musste, als nebelhaft, phantastisch, mystisch; merkwürdigen Phänomenen aber, an welche die Forschung hätte anknüpfen können, versagten sie einfach den Glauben. Die Symptome der hysterischen Neurose galten als Erfolg der Simulation, die Erscheinungen des Hypnotismus als Schwindel. Selbst die Psychiater, zu deren Beobachtung sich doch die ungewöhnlichsten und verwunderlichsten seelischen Phänomene drängten, zeigten keine Neigung, deren Details zu beachten und ihren Zusammenhängen nachzuspüren […]. In dieser materialistischen oder besser: mechanistischen Periode hat die Medizin großartige Fortschritte gemacht, aber auch das vornehmste und schwierigste unter den Problemen des Lebens in kurzsichtiger Weise verkannt« (1925e, S. 102).
Was Freud als »übermäßige Reaktion« bezeichnet, ist Ausdruck der für ein erfolgreiches Paradigma typischen Selbstüberschätzung und für die damit verbundene Tendenz, alles im eigenen Konzept definieren zu wollen (und was sich nicht fügt, auszugrenzen). Dass gerade die Psychiatrie hiervon besonders betroffen war, hängt auch mit ihrem labilen Status zusammen: Innerhalb der Medizin-Hierarchie befand sie sich ziemlich am Schluss und entwickelte umso stärkere Tendenzen der (Über-)Anpassung an das erfolgreiche Paradigma. Das wichtigste inhaltliche Reizthema von Freuds Arbeit war bekanntlich seine Beschäftigung mit der Sexualität. Auch dies braucht hier nicht ausführlich dargestellt zu werden: Sexualität war naturgemäß als Thema auf vielfältige Weise präsent, aber sowohl dem öffentlichen Bewusstsein als auch dem wissenschaftlichen Diskurs fiel es schwer, es unbefangen zu thematisieren. Es gehörte zum pragmatischen Wissen der ärztlichen Subkultur, war aber nicht offiziell themafähig. Sowohl Charcot als auch Breuer äußerten sich Freud gegenüber unmissverständlich über den Zusammenhang von Sexualität und Neurose, aber sie mochten in der (Wissenschafts-)Öffentlichkeit nicht dazu stehen. So blieb das Thema im Halbdunkeln von Andeutungen und Geraune, amalgamiert mit Peinlichkeit und dem Charakter von Herrenwitzen. Wie schaffte Freud nun den Schritt aus dieser doppelten Restriktion? Und welche Rolle spielten dabei seine wissenschaftstheoretischen Vorstellungen? Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich zunächst deren Entwicklung skizzieren und dabei eine Unterteilung in Phasen benutzen, 62
Die Entwicklung von Freuds Wissenschaftstheorie
die verdeutlichen soll, in welchem Kontext die jeweiligen Vorstellungen zu sehen sind. Diese Unterteilung ist naturgemäß abstrakt, das heißt, sie deckt sich nicht mit realen Zeitabläufen, da die jeweiligen Problemkonstellationen sich gewissermaßen überlappen und nicht einfach und widerspruchsfrei ineinander übergehen. Als Kontext hebe ich vor allem zwei Aspekte hervor: die Entwicklung der psychoanalytischen Theorie und die institutionelle Konstellation, in der sich die Entwicklung abspielt. Da die einzelnen Fakten hinreichend bekannt sind, beschränke ich mich auf kurze Hinweise. Die Geburt der Psychoanalyse aus der Neurophysiologie und ihr wissenschaftstheoretisches Echo
Bekanntlich hat Freud sich in den ersten Jahren seiner wissenschaftlichen Laufbahn mit Physiologie und Anatomie beschäftigt. Ich kenne diese Schriften nicht, vermute aber, dass sich in ihnen keine wissenschaftstheoretischen Erörterungen finden. In der Sekundärliteratur stößt man jedenfalls auf keine entsprechenden Hinweise. Dies ist nicht weiter verwunderlich, weil es nicht üblich war, Untersuchungen wie etwa »Über Spinalganglien und Rückenmark des Petromyzon« (Freud, 1878a, S. 464) mit wissenschaftstheoretischen Erörterungen zu versehen (ganz abgesehen davon, dass Wissenschaftstheorie kein Thema für ambitionierte Nachwuchs-Naturwissenschaftler war). Es genügte die Absicherung durch die Hintergrundphilosophie der empirischen Naturwissenschaft, die zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte zurückblicken konnte, tagtäglich ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellte und das führende Paradigma der Wissenschaft darstellte. Die Situation änderte sich, als Freud sich intensiver neuropathologischer und psychiatrischer Tätigkeit zuwandte. Dies bedeutete für ihn, die Position des »Naturwissenschaftlers« durch die des »Arztes« zu ergänzen – auch sie vergleichsweise stabil definiert, mit hohem Status versehen und fest eingebunden in einen sicheren Horizont von Handlungs- und Interpretationsmodellen. Die Tätigkeit als Arzt führte ihn näher an die für die Entstehung der Psychoanalyse relevanten Tätigkeitsfelder heran; das Festhalten an der Wissenschaftsposition verhinderte, dass er in der Pragmatik des Berufs aufging. Diese Amalgamierung der Rollen zeigt sich vor allem darin, dass und wie Freud sich buchstäblich »experimentell« den Themen zuwandte, die bis dahin als »Neu63
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ropathologie« falsch verstanden worden waren. »Experimentell« heißt, er probierte ohne Berührungsängste aus, was an Methoden bekannt war, und entwickelte diese weiter. Damit hatte er bereits eine Schwelle überschritten. Denn diese Methoden sprengten das durch das empirisch-positivistische Paradigma der Naturwissenschaften definierte Spektrum medizinischer Praxis. Freud dagegen ging davon aus, dass auch Hypnose, Suggestion oder Handauflegen wissenschaftlich begründbare Methoden sind, genauer gesagt: sein können, wenn sie entsprechend gehandhabt werden:3 »[I]ch bin, ich gestehe es, geneigt, meiner Methode des Hervorrufens versteckter Erinnerungen differentialdiagnostische Bedeutung beizulegen, wenn sie sorgfältig gehandhabt wird« (Freud & Breuer, 1895d, S. 243). Dieses »Geständnis« zeigt, dass Freud die Grenzüberschreitung registrierte, dass er aber davon überzeugt war, korrekt zu arbeiten – das Instrument erscheint als angemessen, wenn es seriös verwendet wird. Auch in Bezug auf die theoretischen Modelle, mit denen er arbeitete, trat Legitimationsbedarf auf. Freud arbeitete bekanntlich mit Modellvorstellungen, die sich eng an die Leitmotive von Mechanik und Physiologie anlehnten. Seine Interpretation der »Abwehr-Neuropsychosen« stützt sich etwa auf »die Vorstellung, daß an den psychischen Funktionen etwas zu unterscheiden ist (Affektbetrag, Erregungssumme), das alle Eigenschaften einer Quantität hat – wenngleich wir kein Mittel besitzen, dieselbe zu messen – etwas, das der Vergrößerung, Verminderung, der Verschiebung und der Abfuhr fähig ist und sich über die Gedächtnisspuren der Vorstellungen verbreitet, etwa wie eine elektrische Ladung über die Oberflächen der Körper« (1894a, S. 74).
Es sind also physikalische und physiologische Schemen, die er nutzt, um psychische Prozesse zu erklären. Sein Verhältnis zu diesen Erklärungsmodellen ist doppeldeutig: Zum einen erscheinen ihm diese Modelle als die einzig möglichen und richtigen, zum anderen sind es »Hilfsvorstellungen«, die pragmatisch begründet sind. Das Zitat geht weiter: »Man kann diese Hypothese […] in demselben Sinne verwenden, wie es die Physiker mit der Annahme des strömenden elektrischen Fluidums tun. Gerechtfer3 In dieser Konstellation zeigt sich, was die Prädestination zum Pionier neuen Denkens ausmacht: eine Mischung aus konventioneller Diszipliniertheit und der Bereitschaft zur (abenteuerlichen) Grenzüberschreitung.
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Die Entwicklung von Freuds Wissenschaftstheorie
tigt ist sie vorläufig durch ihre Brauchbarkeit zur Zusammenfassung und Erklärung mannigfaltiger psychischer Zustände« (ebd.). Diese Rechtfertigungsstrategie findet sich auch in der bekannten Passage der Studien über Hysterie, in der Freud explizit Stellung nimmt zu einer der auffälligsten Abweichungen vom naturwissenschaftlichen Modell: der Art der Darstellung. Die Stelle lautet: »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muss mich damit trösten, dass für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen« (Freud & Breuer, 1895d, S. 227).
Dieses Zitat demonstriert, wie Freud konsequent den Erfordernissen des Gegenstands folgt (und sich dabei nicht durch Konventionen irritieren lässt). Es zeigt auch, dass er die realen Differenzen verkleinert, indem er sein Vorgehen schlicht dem großzügig interpretierten naturwissenschaftlichen Paradigma zuordnet. Schließlich zeigt es auch, dass er hier noch an dem Ziel festhält, die psychologischen Prozesse zwar nicht mehr lokalisationstheoretisch, aber doch algorithmisch – in Form psychologischer Formeln – zu reduzieren. Er hält also am naturwissenschaftlichen Erfolgsrezept fest. Und er hält auch daran fest, dass die Naturwissenschaften sein Bezugspunkt, die Naturwissenschaftler sein Publikum sind.4 Was sich in dieser Phase abspielt, lässt sich so umreißen: Im Schutz herkömmlicher Formen bahnt sich radikal Neues – noch in herkömmlicher Sprache – an. Zwar ist das Ziel von Freud zunächst, Psychologie auf Physiologie zu reduzieren, aber er tut dies nicht wie die Lokalisationstheoretiker (die Psychologie in Physiologie auflösen), sondern indem er die Psychologie als eigenständigen Funktionszusammenhang betrachtet, der jedoch (noch) 4 Nur im Traum lässt er die Konsequenzen seiner Abweichung zu (Freud, 1900a, S. 454).
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in seiner Logik der Physiologie gleicht und auf physiologische Grundlagen zurückgeführt werden soll. Dieses Denken ist nicht mehr Neurophysiologie und noch nicht Psychoanalyse. Aber auf diese Weise ist der Psychologie – wenn auch in entfremdeter Gestalt – ein Weg in die Theorie gebahnt. Sie segelt noch unter falscher Flagge – und gerade diese Tarnung erlaubt ihre Entwicklung, erlaubt vor allem ein erfolgreiches (das heißt nicht ins Dogmatische zurück, beziehungsweise ins Sektiererische zur Seite kippendes) Überstehen auch der Phasen der Entwicklung, in denen in der Tat – zumindest aus heutiger Sicht – »unseriöse« Formen der Praxis und »spekulative« Theoriemodelle von Freud verwendet wurden, genauer: verwendet werden mussten, weil nur über diese – widersprüchlichen – Übergangsformen sich das tatsächlich Revolutionäre entwickeln konnte. Was aus heutiger Sicht sicher nicht zur Psychoanalyse gezählt würde, ist gewissermaßen das Missing Link zwischen zwei völlig verschiedenen Welten. Dies konnte und wollte Freud jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht sehen. Seine Identifizierung mit dem und Integration in den laufenden naturwissenschaftlichen Wissenschaftsbetrieb sind zunächst hochstabil. Als er sich aus dieser Position heraus mit Themen und Methoden beschäftigt, die dessen Kanon sprengen, wird seine Identifizierung nicht erschüttert; er sieht sich deshalb berechtigt, neue Wege im Namen der Wissenschaft zu gehen, und betrachtet diejenigen, die ihm dabei nicht folgen können, als inkonsequent. In seiner Studie über »Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen« (1898a) schreibt er – nach einigen einschlägigen Erfahrungen dieser Art: »Ich weiß, dass es an Bemühungen nicht fehlen wird, den Arzt durch ethisch gefärbte Argumente von der Verfolgung dieses Gegenstandes abzuhalten. […] Man darf wohl antworten: Das ist die Äußerung einer des Arztes unwürdigen Prüderie, die mit schlechten Argumenten ihre Blöße mangelhaft verdeckt. Wenn Momente aus dem Sexualleben wirklich als Krankheitsursachen zu erkennen sind, so fällt die Ermittlung und Besprechung dieser Momente eben hierdurch ohne weiteres Bedenken in den Pflichtenkreis des Arztes« (S. 492).
Selbstverständlich hatte Freud recht. Was er als falsch einschätzte, war die Hartnäckigkeit und vor allem die Systematik der Barrieren, mit denen er konfrontiert war. Er bleibt bei der Definition seiner Forschung als »normale« Naturwissenschaft und seiner Theorie als »normale« ärztliche 66
Die Entwicklung von Freuds Wissenschaftstheorie
Praxis und hält daher die Identifikation sowohl mit den Naturwissenschaften als auch mit der Arztrolle kontrafaktisch durch. Noch in der Traumdeutung heißt es in der Einleitung: »Indem ich hier die Darstellung der Traumdeutung versuche, glaube ich den Umkreis neuropathologischer Interessen nicht überschritten zu haben« (1900a, S. VII). Es sind also, wenn man so will, die erfolgreiche Überschätzung der Identität mit dem herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb und die damit verbundene Möglichkeit, sich der dominanten Wissenschaftlergemeinschaft zuzurechnen, die es ihm ermöglichen, beides zu überschreiten. Den Legitimationsbedarf seiner Praxis und der von ihm entwickelten Theorien deckt er entsprechend durch die selbstverständliche Behauptung der Zugehörigkeit, unterstützt durch eine beiläufige Expansion des Paradigmas. Seine Praxis vergleicht er an vielen Stellen mit der anderer ärztlicher Tätigkeiten, seine Theorien lehnen sich – offiziell – an die bewährten Modelle der Naturwissenschaften an, seine Arbeit insgesamt ordnet er deren »Umkreis« zu. Und wo Diskrepanzen deutlich werden, etwa dadurch, dass das übliche Kriterium der evidenten Intersubjektivität nicht greift, beruft er sich auf die Seriosität seiner Arbeit und beansprucht Glaubwürdigkeit: »[I]ch darf sie bitten, [meine Resultate, J.A.S.] nicht für die Frucht wohlfeiler Spekulation zu halten. Sie ruhen auf mühseliger Einzelforschung der Kranken, die bei den meisten Fällen hundert Arbeitsstunden und darüber verweilt hat« (1896c, S. 458). Dieser Appell ist bezeichnend: »Glaubwürdigkeit« ist sicher kein empirisch valides Kriterium – aber Freud hat keine Probleme, sich auf sie zu berufen, wo er empirische Evidenz im konventionellen Sinne nicht bieten kann. Dies alles reduziert die zu verarbeitenden Dissonanzen und bietet eine Deckung, in deren Schutz sich die »Verpuppung« von Theorie und Praxis relativ ungestört vollziehen konnte. Freuds wissenschaftstheoretische Bemühungen in dieser Phase beschränken sich daher auf die Beschwörung des naturwissenschaftlichen Paradigmas – und die Hoffnung auf Anerkennung »für das Verfahren, dessen ich mich bedient habe, das neuartig, schwierig zu handhaben und doch unersetzlich für wissenschaftliche und therapeutische Zwecke ist« (ebd.). Dass diese Anerkennung kommen musste, stand außer Frage: »Die Aufrichtigkeit der Ärzte und die Gefügigkeit der Laien wird sich auch für die Psychoneurosen herstellen, wenn erst die Einsicht in das Wesen dieser Affektionen ärztliches Gemeingut geworden ist« (Freud, 1898a, S. 516). 67
2 Von der Neurophysiologie zur »wissenschaftlichen Weltanschauung«
Die Übergangskrise
Die wirkliche Emanzipation der Psychoanalyse spielte sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. Wir verdanken die Dokumentation dieses kreativen Chaos dem erhaltenen Briefwechsel mit Fließ. »Kreatives Chaos« soll heißen, dass Freud hier ungeschützt und radikal alle Ideen ausprobiert, weiter- und zu Ende denkt. Dies ist die »heiße« Phase und der eigentliche Ort des Experimentierens, wo er ohne Rücksicht auf die wissenschaftliche Öffentlichkeit völlig unbefangenes Probedenken praktiziert. Die in den verschiedenen Mitteilungen und Manuskripten dokumentierten Überlegungen und Ansätze zeigen, wie intensiv und ausdauernd Freud arbeitete – und wie mühselig der Durchbruch war. Die wichtigste Funktion der Beziehung zu Fließ ist schon von Bernfeld, Jones, Kris und anderen betont worden: »Die Freundschaft mit Fließ trat in die Lücke, die durch die Lösung von Breuer entstanden war. Sie ersetzte Freud ältere, nicht mehr tragfähige Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen. Freud war des Verständnisses in seinem eigenen Kreis unsicher geworden und der Kollege in Berlin wurde, in Freuds Worten, zu seinem einzigen Publikum« (Kris, 1962, S. 18).
Dass Freud Fließ’ wissenschaftliche Bedeutung erheblich überschätzte, ist unverkennbar. Kris vermutet, »dass die Überschätzung von Fließ’ Persönlichkeit und Leistung einem inneren Bedürfnis Freuds entsprochen habe. Er machte den Freund und Vertrauten zum Bundesgenossen im Kampf gegen offizielle Wissenschaft, gegen die Medizin der hochmögenden Professoren und Universitätskliniken […]. Freud suchte Fließ, um ihn sich enger zu verbinden, zur eigenen Höhe zu heben, und idealisierte zuweilen das Bild des vermeintlichen Mitkämpfers zu dem eines Führers in den Naturwissenschaften« (ebd., S. 19).
Freud wurde von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit mit Skepsis betrachtet – bekanntlich tendierte er dazu, seine Isolation übertrieben darzustellen –, aber er suchte die Distanz auch selbst. In dieser Phase seiner Entwicklung löste er sich ein Stück weit von seiner bisherigen Bezugsgruppe. Er war so weit gegangen, dass seine Berufskollegen ihm nicht ohne Weiteres folgen konnten beziehungsweise wollten. Auf diese Gruppe konnte er sich – zumal seine Arbeit noch Experimentiercharakter hatte – nicht 68
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mehr selbstverständlich (und noch nicht selbstbewusst) beziehen. Die Beziehung zu Fließ hatte die Funktion einer zweiten, privaten Öffentlichkeit, in der die unkonventionelle, die unvermeidlich provokante Seite einer Tätigkeit voll ausgelebt werden konnte. In der Abgeschlossenheit dieser Privatöffentlichkeit konnte Freud alle Enttäuschung über die zögernde bis ablehnende Reaktion der wissenschaftlichen Öffentlichkeit unterbringen. Zugleich bot sich ihm die Möglichkeit einer uneingeschränkten Selbstidealisierung unter schwierigen Bedingungen. Wissenssoziologisch gesehen ist dieses »Doppelleben« von größter Bedeutung. Für alle sozialen Innovationen gilt, dass sie in ihrer »Pionierphase« besonders labil sind: Sie grenzen sich notwendig vom Status quo ab und verlieren dadurch auch die Sicherheit, die die Zugehörigkeit zur Normalität bietet. Abweichung bedeutet, exponiert zu sein. Daraus resultiert ein Polarisierungssog, der entweder zum Rückfall in die Normalität oder zum Herausfallen ins Exzentrische führen kann. Beides bedeutet: Verhinderung von Innovation. Auf diese Weise wird der Status quo stabilisiert, Abweichungen sind strukturell im Nachteil. Freud reduziert in dieser Situation durch das Wechseln zwischen zwei sich ergänzenden und gegenseitig stabilisierenden Welten beide Risiken. Unter diesen Umständen konnte auch die Doppeldeutigkeit der frühen Theorie – nicht mehr Neurophysiologie, noch nicht Psychoanalyse – vergleichsweise problemlos so lange durchgehalten werden, bis die innertheoretische Dynamik die wesentlichen Wendepunkte erreichte. Es ist bekannt, wie sich die Theorie der sexuellen Ätiologie der Neurosen aus kruden Anfängen heraus entwickelte, wie sein Interesse an Träumen entstand und zur Traumdeutung reifte, wie er Kategorien (wie Überdetermination, Verdrängung und so weiter) entwickelte, in denen sich psychoanalytische Theorie anbahnte, wie sein Versuch einer physiologisch begründeten und formulierten Psychologie schließlich im »Entwurf« von 1895 den Höhepunkt fand und wie durch dessen Scheitern der Weg für eine weiterreichende Emanzipation der Psychologie vorbereitet wurde, wie Freud über die »Selbstanalyse« Zugang zu wichtigen Themenbereichen fand und sein Experimentieren mit Methoden schließlich ins psychoanalytische Setting mündete. Dies alles fand weitgehend im geschützten Privatraum statt. Es liegt auf der Hand, dass Freud bei allen diesen Prozessen keinen Gedanken an wissenschaftstheoretische Fragen verschwendete. Es gab hier für Freud zwar den strengen Ernst der wissenschaftlichen Ambition, aber keine Kontrolle über die Einhaltung von Rollenerwartungen. Als Legitimation ge69
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nügte ihm hier die Borniertheit der Kollegen und die Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein. Es war daher eine spezifische Mischung aus Durchlässigkeit und Konsequenz, die die unvermeidlichen Übergangskrisen überhaupt zuließ und ihre Steigerung bis zur Transzendierung erlaubte. Diese wiederum basierte auf einer fundamentalen Identifizierung mit dem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideal, welches jedoch nicht im Sinne von Buchstabentreue, sondern als Prinzip der Orientierung verstanden wurde. Ohne diese lose Verbindung zum herrschenden Wissenschaftsbetrieb, ohne den Vorrang des Prinzips vor praktischen Normen und empirischen Verhältnissen, hätten die Irritationen, die durch Freuds Vorstoß ins Unbewusste ausgelöst wurden, möglicherweise eine andere Wendung erfahren. Die Konsolidierung der Psychoanalyse
Aus der Übergangskrise ging Freuds Psychoanalyse hervor, die verschiedenen Aspekte aggregierten sich zu einem in sich schlüssigen System von Prämissen und inhaltlichen Aussagen, welches er dann (nach einer gewissen Inkubationszeit) als ein von allen vorhergehenden Veröffentlichungen sich deutlich abhebendes neues psychologisches Konzept in der Traumdeutung vorstellte. Damit hatte die Psychoanalyse die Schwelle von einem improvisierten Bündel von nur locker verbundenen und noch disparaten Erfahrungen und Vorstellungen zu einer strukturierten Theorie überwunden; sie konnte auf eine Theorie-Geschichte zurückblicken, aus der sie sich nicht zufällig heraus entwickelt hatte. Das neue Theoriesystem enthält eine Reihe von wichtigen Differenzierungsschritten: Zunächst wird die Differenz von Physiologie und Psychologie festgeschrieben. Zwar bleibt als – offizielles – Ziel, letztere durch erstere zu »begründen«, aber es ist jetzt ein Fernziel, welches Raum für die Autonomie psychischer Prozesse lässt. In der Traumdeutung heißt es: »Selbst wo das Psychische sich bei der Erforschung als der primäre Anlass eines Phänomens erkennen lässt, wird ein tieferes Eindringen die Fortsetzung des Weges bis zur organischen Begründung des Seelischen einmal zu finden wissen. Wo aber das Psychische für unsere derzeitige Erkenntnis die Endstation bedeuten müsste, da braucht es darum nicht geleugnet zu werden« (Freud, 1900a, S. 45). 70
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Noch deutlicher wird dies in der Durchführung der Traumdeutung, in deren Kontext er schreibt: »Wir […] wollen der Versuchung sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen. Wir bleiben auf psychologischem Boden« (ebd., S. 541). Die theoretische Neuorganisation des Modells getrennter Systeme erreicht Freud mit der Einführung des Triebbegriffs in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Er fungiert als Konzept, mit dem er das Verhältnis von Soma und Psyche besser balancieren kann. Statt Physis und Psyche – wie im »Entwurf« – als Einheit zu beschreiben, die nach einheitlichen Prinzipien funktioniert, erscheinen beide nunmehr als getrennte, unabhängig voneinander existierende, sich jedoch wechselseitig beeinflussende Prozesse, wobei die Triebe das somatische Antriebspotenzial und die Basis des psychischen Geschehens darstellen. Lorenzer hat zu Recht darauf verwiesen, dass Freud mit dem Triebkonzept eine Grundlage gefunden hat, mit der das Projekt einer somatisch begründeten Psychologie wesentlich besser zu realisieren war (Lorenzer, 1973, S. 43). Tatsächlich konnte Freud mit dem Triebbegriff die Bedeutung somatischer Prozesse festhalten und präzisieren, sie zugleich aber von den psychologischen so weit trennen, dass diese in ihrer Eigendynamik thematisierbar waren, das heißt weder inhaltlich noch formal ständig an deren Logik gebunden waren. Die Psychologie emanzipierte sich endgültig von der Physiologie, auch wenn sie darauf – sich absichernd – bezogen blieb.5 Diese Basis ließ hinreichend Spielraum für die Berücksichtigung der spezifischen Besonderheiten psychischer Prozesse, das heißt, Freud konnte nun, ohne die somatische Fundierung aus dem Auge zu verlieren, das ausarbeiten, was sich an Theoriebedarf bereits in der Traumdeutung abgezeichnet hatte. Dort hatte er die »Frage nach der Bedeutung des Traumes« (1900a, S. 645) in den Vordergrund gerückt und festgestellt, »dass derselbe Trauminhalt bei verschiedenen Personen und in verschiedenem Zusammenhang auch einen anderen Sinn verbergen mag« (ebd., S. 109), die eigene »Sprache der Traumgedanken« (ebd., S. 283) 5 Die erste Definition des Triebbegriffs zeigt den revolutionären Schritt der Differenzierung und gleichzeitigen Koppelung: »Unter einem ›Trieb‹ können wir zunächst nichts Anderes verstehen als die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden innersomatischen Reizquelle […]. Trieb ist so einer der Begriffe der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen. Die einfachste und nächstliegende Annahme über die Natur der Triebe wäre, dass sie an sich keine Qualität besitzen, sondern nur als Maße von Arbeitsanforderung für das Seelenleben in Betracht kommen« (Freud, 1905d, S. 67).
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untersucht, sich mit dem Problem der »Überdetermination« beschäftigt und resümiert: »Die einzelnen Stücke dieses komplizierten Gebildes stehen natürlich in den mannigfaltigsten logischen Relationen zueinander. Sie bilden Vorderund Hintergrund, Abschweifungen und Erläuterungen, Bedingungen, Beweisgänge und Einsprüche […] die ganze Masse dieser Traumgedanken (unterliegt) der Pressung der Traumarbeit […], wobei die Stücke gedreht, zerbröckelt und zusammengeschoben werden, etwa wie treibendes Eis« (ebd., S. 316f.)
– ein Vorgang, der eben nur als Traum-Deutung rekonstruierbar war. Alle diese begrifflichen Aktivitäten konnten nun ohne die strikte Bindung an formale und inhaltliche Vorgaben vorangetrieben werden. Auf dieser konsolidierten Theoriebasis (und mit einer vieljährigen praktischen Erfahrung) konnte Freud sich verstärkt nicht nur der Ausarbeitung, sondern auch der Ausweitung seines psychologischen Modells widmen. Was nun folgte, war eine Zeit der Expansion und Differenzierung, der Stabilisierung der Psychoanalyse durch interne Konsolidierung und die Nutzung ihrer Möglichkeiten in nicht-therapeutischen Bereichen. Parallel dazu veränderte sich die institutionelle Basis. Nach der Veröffentlichung der Traumdeutung entstand ein informeller Kreis von Interessenten und Schülern, der seit 1902 zunächst locker als »Psychologische Mittwochsgesellschaft«, ab 1908 als »Wiener Psychoanalytische Vereinigung« figurierte: Aus der Ein-Personen-Organisation wurde eine Gruppe, mit der eine neue Binnenstruktur und eine neue Form von interner Öffentlichkeit entstanden, deren Funktion die – selbstverständlich auf Freud zentrierte – Elaborierung und Pflege der Psychoanalyse war, die zwar auch noch Züge von Abenteuer und Verschwörung trug, wie dies bei Freuds Privatöffentlichkeit in der »Pionierphase« der Fall war, aber nun expansiv agierte.6 Parallel dazu ändert sich die »Außenaktivität«. Dies geschah nicht nur, weil 6 Bemerkenswert ist die Selbstdefinition als »Bewegung«, die für die sich entwickelnde Psychoanalyse gewählt wird: In dieser Expansionsphase gehen die Ambitionen – und vielleicht auch der Stabilisierungsbedarf – weit über das hinaus, was etwa ein »akademisches Fach« oder/und eine »spezielle Therapieform« bieten (können). Dass die als Normalinstitution etablierte Psychoanalyse sich darauf nicht mehr bezieht beziehungsweise beziehen kann, ist evident.
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sich nun auch die Mitglieder der »Mittwochsgesellschaft« durch Publikationen, Vorträge und so weiter an der Präsentation der Psychoanalyse in der Öffentlichkeit beteiligten, sondern vor allem, weil in Freuds Arbeiten jetzt eine neue Position erkennbar wird. Vor dem Hintergrund eines in sich konsolidierten Theoriesystems vertritt Freud seine Vorstellungen offensiv. Statt zu begründen, warum die Psychoanalyse zur Naturwissenschaft gehöre, setzt er ihren Status als Wissenschaft als selbstverständlich voraus. Dieser Anspruch gründet auf einer Akzentverschiebung im Wissenschaftsverständnis, die mit dem neuen theoretischen Konzept einhergeht. Freud hält an den Prämissen des naturwissenschaftlichen Denkens insofern fest, als er weiterhin von Determinismus und Kausalität ausgeht – offiziell ändert sich sozusagen nichts. In der Einleitung zur Psychopathologie des Alltagslebens schreibt er beispielsweise über bestimmte Fehlhandlungen: »Meine Voraussetzung ist nun, daß diese Verschiebung nicht psychischer Willkür überlassen ist, sondern gesetzmäßige und berechenbare Bahnen einhält« (1901b, S. 6), und spricht von »strenger Determinierung« (ebd., S. 268). Dies könnte noch aus dem »Entwurf« stammen. Und eine ganze Reihe von Beispielen vermitteln den Eindruck, dass Freud in der Tat die Psyche als einen mechanischen »Apparat« versteht, in dem die Mechanismen – streng determiniert – technisch ablaufen. Dies und ähnliche kausaldeterministische Deklarationen werden jedoch konterkariert durch die Anpassung des praktischen Vorgehens an die Erfordernisse der Situation. Noch deutlicher ist dies in den Fallstudien erkennbar. Er schreibt im Vorwort zum »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«: »Ich lasse […] den Kranken selbst das Thema der täglichen Arbeit bestimmen« (1905e, S. 169), das heißt, er geht nicht von einem definitiven Funktionsmodell aus, sondern zentriert die Arbeit auf den biografischen Sinnzusammenhang. Das heißt nichts anderes, als dass die »Determination« des Falles sich aus seinen spezifischen Besonderheiten ergibt – die Nüchternheit der objektivierenden Darstellung transportiert de facto das Verständnis der subjektiven Biografie, des individuellen Triebschicksals. Erst recht sind seine kulturtheoretischen Analysen – Beschäftigungen mit dem kollektiven Triebschicksal – Unternehmungen, in denen von »strenger Determiniertheit« inhaltlich wie methodisch keine Rede ist. Kurz: Freud dehnt mit zunehmender Sicherheit seiner Theorie das Basiskonzept von Realität so aus, dass es alle seine Tätigkeitsbereiche umfasst, und versteht »Determination« gleichzeitig als flexibel, dass unterschiedliche Formen von Logik darunterfallen. Entscheidend ist daher weniger 73
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die aprioristische Festlegung des Gegenstands auf eine bestimmte Logik als vielmehr der korrekte Umgang mit Realität. Freud benutzt dafür den Begriff der »Erfahrung«, der die Enge des positivistischen Empirie-Konzepts vermeidet, aber an der Qualität des Realitätskontakts festhält. Den »Fachgenossen« bietet er seine Theorie der Beziehung zwischen Sexualität fortgesetzter und vertiefter Erfahrung« (1906a, S. 149), und spricht von der »auf Erfahrung gestützte[n] Überzeugung« (1914d, S. 104).7 Mit dieser Selbstdefinition erübrigen sich weitere Eigenlegitimationen. Freud dreht nun den Spieß um und kritisiert seine »Gegner«: Er hält ihnen vor, dass sie es sind, die den Pfad wissenschaftlicher Tugend verlassen. Schon in der Traumdeutung hatte er sich unmissverständlich zur Einstellung der Kliniker geäußert: »Die Herrschaft des Gehirns über den Organismus wird zwar nachdrücklichst betont, aber alles, was eine Unabhängigkeit des Seelenlebens von nachweisbaren organischen Veränderungen oder eine Spontaneität in dessen Äußerungen erweisen könnte, schreckt den Psychiater heute so, als ob dessen Anerkennung die Zeiten der Naturphilosophie und des metaphysischen Seelenwesens wiederbringen müsste. Das Misstrauen des Psychiaters hat die Psyche gleichsam unter Kuratel gesetzt […]. Doch zeugt dies Benehmen von nichts anderem als von einem geringen Zutrauen in die Haltbarkeit der Kausalverkettung, die sich zwischen Leiblichem und Seelischem erstreckt« (Freud, 1900a, S. 45).
Jetzt wird seine Kritik aggressiver. Die Unfähigkeit, sich mit der Intimität therapeutischen Geschehens korrekt – ohne Moralisierung und persönlichen Missbrauch – zu beschäftigen, wird jetzt als »ekelhaft« und »jämmerlich« (Freud, 1905e, S. 165f.) bezeichnet, die »Wohlanständigkeit dieser Herren« (ebd., S. 208) als satirereif eingestuft, eine Teilnahme am »wissenschaftlichen Gezänk« (1914d, S. 80) abgelehnt.8 7 Gelegentlich spricht Freud auch noch von »Beobachtung« als Grundlage seiner Theorie (siehe zum Beispiel Freud, 1923a, S. 229) – zumeist in dezidiert »offiziösen« Darstellungen. Die Verwendung des Erfahrungsbegriffs ist ein konsequenter und richtungsweisender Schritt, der die Perspektive auf die Psychoanalyse als »nichtempirische Erfahrungswissenschaft« (Lorenzer, 1974) öffnet. 8 Solche starken Worte hatte er bis dahin lediglich in Briefen geäußert, wo er seine Kollegen schon länger als »Schwachköpfe«, »Gauner«, »sterile Angsthasen« und so weiter titulierte (Freud, 1968, S. 274f.).
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Zugleich wendet sich Freud der Interpretation des »Schicksals« der Psychoanalyse zu und greift dabei zu »wissenschaftssoziologischen« Argumenten: Er entwickelt ein Evolutionsmodell von Erkenntnis, welches empirische Schwierigkeiten mit prinzipiellen Fortschrittsoptimismus verbindet. Das Verleugnen psychischer Prozesse wird ihm dadurch verständlicher: »Nach einer ziemlich unfruchtbaren Zeit der Abhängigkeit von der sogenannten Naturphilosophie hat die Medizin unter dem glücklichen Einfluß der Naturwissenschaften die größten Fortschritte als Wissenschaft wie als Kunst gemacht […]. Alle Fortschritte und Entdeckungen betrafen das Leibliche des Menschen, und so kam es infolge einer nicht richtigen, aber leicht begreiflichen Urteilsrichtung dazu, dass die Ärzte ihr Interesse auf das Körperliche einschränkten und die Beschäftigung mit dem Seelischen den von ihnen mißachteten Philosophen gerne überließen« (1890a, S. 290).
Verständlich scheint so, warum der wissenschaftliche Fortschritt selbst »irrational« und diskontinuierlich verläuft. Aber er ist letztlich nicht aufzuhalten: »Man hatte in der Geschichte der Wissenschaften oft feststellen können, daß dieselbe Behauptung, die anfangs nur Widerspruch hervorgerufen hatte, eine Weile später zur Anerkennung kam, ohne daß neue Beweise für sie erbracht worden wären« (Freud, 1914d, S. 62). Die späte Wissenschaftstheorie: wissenschaftliches Handeln, wissenschaftliche Weltanschauung und die gesellschaftliche Evolution
In jedem Prozess der Institutionalisierung kommt es aus inneren wie äußeren Gründen zu einem Prozess der Normalisierung, das heißt, die dynamische (und exzentrische) Entwicklung der Frühzeit wird abgelöst durch einen (mehr oder weniger) stabilen Normalbetrieb mit geregelten Abläufen, Zuordnungen und Abgrenzungen. Auch die Psychoanalyse erlebte einen Strukturwandel dieser Art. Das theoretische System hatte sich weiter stabilisiert und (vor allem durch die Strukturtheorie) abgerundet beziehungsweise geschlossen. Freud widmete sich nunmehr, nachdem die wichtigsten klinischen und theoretischen Arbeiten geleistet waren, »Fein75
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arbeiten«, Gesamtdarstellungen und »Anwendungen«, zu denen vor allem seine kulturtheoretischen Überlegungen zu zählen sind. Zugleich war aus der »Psychoanalytischen Bewegung« nach einigen dramatischen und spektakulären »Entwicklungskrisen« eine internationale Einrichtung geworden, die Freuds Theorien verbreitete, pflegte und weiterentwickelte. Zeitschriften hatten sich etabliert, in denen eine Fülle von Autoren publizierten, Kongresse wurden veranstaltet, Vorträge gehalten und so weiter. Kurz: Die Psychoanalyse hatte die Form eines florierenden (Wissenschafts-)Betriebes mit einer elaborierten formalen Organisation angenommen. Das Verhältnis der Öffentlichkeit zur Psychoanalyse hatte sich ebenfalls verändert. Die Rezeptionsgeschichte ist ein Kapitel für sich und muss hier ausgeklammert werden. Auf jeden Fall aber hatte die Psychoanalyse nicht nur Aufmerksamkeit gewonnen, sie war in weiten Kreisen ein prominentes Thema geworden – wenn auch nicht immer so, wie Freud sich das gewünscht hatte. Von Ignorieren und Totschweigen konnte jedenfalls nicht die Rede sein. Schließlich war Freud inzwischen ein reifer Mann, der ein bemerkenswertes Lebenswerk weitgehend vollendet hatte und auf ein langes, intensives und dramatisches Arbeits- und Berufsleben zurückschauen konnte – und dies auf seine Weise auch tat. So haben seine späten Ausführungen zum Thema Wissenschaft sowohl den Charakter einer umfassenden Standortbestimmung beziehungsweise -interpretation als auch den eines Resümees der Erfahrungen, in dem vorherige Ansätze zusammengefasst, integriert und auf einen weiteren Horizont eingestellt werden. Es verändern sich also Form und Funktion der Überlegungen: Sie sind distanzierter und kontemplativer, haben dafür aber auch weiterreichende Ambitionen und sind entsprechend breit angelegt. Freud unternimmt nun ausführliche Darstellungen der wissenschaftlichen Praxis. Die Grundfigur ist, dass die Psychoanalyse – wie jede Wissenschaft –»nur die eine Absicht kennt, ein Stück der Realität widerspruchsfrei zu erfassen« (Freud, 1923a, S. 228). Insofern ist sie – wie die anderen Wissenschaften – »empirisch«. Was er nun noch stärker betont, ist die dauerhafte Vorläufigkeit der zur Interpretation der Realität verwendeten Theorien; begriffliche Eindeutigkeit wird von ihm jetzt als Signum nicht-empirischer, das heißt nicht-wissenschaftlicher Theorien betrachtet: »Die Psychoanalyse ist kein System wie die philosophischen, das von einigen scharf definierten Grundbegriffen ausgeht, mit diesen das Weltganze zu 76
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erfassen sucht, und dann, einmal fertiggemacht, keinen Raum mehr hat für neue Funde und bessere Einsichten. Sie haftet vielmehr an den Tatsachen ihres Arbeitsgebietes, sucht die nächsten Probleme der Beobachtung zu lösen, tastet sich an der Erfahrung weiter, ist immer unfertig, immer bereit, ihre Lehren zurechtzurücken oder abzuändern. Sie verträgt es so gut wie die Physik oder die Chemie, daß ihre obersten Begriffe unklar, ihre Voraussetzungen vorläufige sind, und erwartet eine schärfere Bestimmung derselben von zukünftiger Arbeit« (ebd., S. 229).
Dieses Wissenschaftsmodell hebt vor allem die Unabgeschlossenheit von Forschung und die Unschärfe der »obersten Begriffe«, die »ewige Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit« (Freud, 1925e, S. 100) der Wissenschaft als wesentliche Merkmale hervor. Damit konstruiert Freud geschickt eine Parallele zwischen jeder Wissenschaft in einer Umbruchs- und Krisensituation9 und der Psychoanalyse, und vermeidet es, Methoden oder Theoriestruktur als Maßstab zu verwenden. Mit dieser Akzentuierung von Wissenschaft als (ewigem) Prozess, die nur durch das enge Haften am Gegenstand – welches nicht weiter festgelegt ist – gekennzeichnet ist, hat Freud eine definitive Position gefunden. Gleichzeitig ist damit auch der wirkliche »Gegner« erkennbar: Es ist die unbelehrbare und wirklichkeitsferne »Spekulation«, die irrationale Funktionen erfüllt: »Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß eine Wissenschaft aus lauter streng bewiesenen Lehrsätzen besteht, und ein Unrecht, solches zu fordern. Diese Forderung erhebt nur ein autoritätssüchtiges Gemüt, welches das Bedürfnis hat, seinen religiösen Katechismus durch einen anderen, wenn auch wissenschaftlichen, zu ersetzen. Die Wissenschaft hat in ihrem Katechismus nur wenige apodiktische Sätze, sonst Behauptungen, die sie bis zu gewissen Stufengraden von Wahrscheinlichkeit gefördert hat. Es ist geradezu ein Zeichen von wissenschaftlicher Denkungsart, wenn man an diesen Annäherungen an die Gewissheit sein Genüge finden und die konstruktive Arbeit trotz der mangelnden letzten Bekräftigungen fortsetzen kann« (1916–1917a [1915– 1917], S. 44f.).
9 Dies ist insofern völlig richtig, als die Psychoanalyse als Theorietyp in der Tat von »ewiger Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit« geprägt ist (siehe ausführlicher dazu Kapitel 11 im vorliegenden Band).
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Umso mehr sind nun nicht mehr die fertigen Produkte, sondern ist die konkrete Praxis das entscheidende Kriterium von Wissenschaftlichkeit.10 Damit rücken Orientierungen und Verhaltensweisen der Wissenschaftler als Garanten der Wissenschaft in den Vordergrund.11 Sein eigener Weg ist nun ex post ebenso sanktioniert wie seine Art der Theoriekonstruktion: »In der Regel arbeitet sie [die Wissenschaft, J.A.S.] wie der Künstler am Tonmodell, wenn er am rohen Entwurf unermüdlich ändert, aufträgt und wegnimmt, bis er einen ihn befriedigenden Grad von Ähnlichkeit mit dem gesehenen oder vorgestellten Objekt erreicht hat« (Freud, 1933a [1932], S. 188f.).12
Das Problemverhältnis zur Physiologie erscheint nach wie vor mehrdeutig, aber abgeklärt. Nach wie vor finden sich – in quasi offiziösen Darstellungen – Äußerungen wie: »Das Lehrgebäude der Psychoanalyse, das wir geschaffen haben, ist in Wirklichkeit ein Überbau, der irgendeinmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden soll […]« (Freud, 1916–1917a [1915–1917], S. 403). Freud hält an der Verbindung fest, aber es ist keine Rede mehr davon, dass diese »Basis« den »Überbau« bestimmt. Und außerdem hat sich der Zeithorizont dieses »Aufbaus« erheblich ausgeweitet. 10 »Das wissenschaftliche Denken […] hat sich […] in einigen Zügen besonders gestaltet, […] interessiert sich auch für die Dinge, die keinen unmittelbaren, greifbaren Nutzen haben, es bemüht sich, individuelle Faktoren und affektive Beeinflussungen sorgfältig fernzuhalten, prüft die Sinneswahrnehmungen, auf die es seine Schlüsse baut, strenger auf ihre Zuverlässigkeit, schafft sich neue Wahrnehmungen, die mit den Mitteln des Alltags nicht zu erreichen sind, und isoliert die Bedingungen dieser Neuerfahrungen in absichtlich variierten Versuchen. Sein Bestreben ist, die Übereinstimmung mit der Realität zu erreichen, d. h. mit dem, was außerhalb von uns, unabhängig von uns besteht […]« (Freud, 1933a [1932], S. 184). 11 Freud zählt auch die Eigenschaften auf, die dazu nötig sind: »Kritik und Gründlichkeit« (1968, S. 67); »sanguinisch beim Versuch, kritisch bei der Arbeit« (ebd., S. 114); kontrolliert und mutig zu sein (»Wir dürfen unseren Vermutungen freien Lauf lassen, wenn wir dabei nur unser kühles Urteil bewahren […]«, Freud, 1900a, S. 541). 12 Diese Formulierung kann zwar wissenschaftstheoretisch nicht befriedigen, sie hebt jedoch zu Recht einen wesentlichen Aspekt der Arbeit mit konnotativen Theorien (zu denen die Psychoanalyse zählt) hervor: die besondere Funktion aktiver Gestaltung (siehe Schülein, 2015).
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»[Man darf ] vorhersehen, dass der Tag kommen wird, an dem sich Wege der Erkenntnis und hoffentlich auch der Beeinflussung von der Biologie der Organe und von der Chemie zu dem Erscheinungsgebiet der Neurosen eröffnen werden. Dieser Tag scheint noch ferne […]« (1926e, S. 264).
Bis zu jenem Tag bleibt es jedoch bei einer strikten Ablehnung jeder direkten beziehungsweise kausallogischen Kommunikation zwischen somatischen und psychischen Prozessen.13 Damit ist Freud zur medizinischen Selbstdefinition deutlich auf Distanz gegangen. Unmissverständlich hebt er jetzt die wesentlich weitere Fassung der Psychoanalyse als Allgemeine Psychologie und die grundsätzliche Differenz zur Medizin hervor. Schon in den Vorlesungen hatte er seinen Hörern – zumeist Medizinern – erklärt: »Ihre Vorbildung hat ihrer Denktätigkeit eine bestimmte Richtung gegeben, die weit von der Psychoanalyse abführt. Sie sind darin geschult worden, die Funktionen des Organismus und ihre Störungen anatomisch zu begründen, chemisch und biologisch zu erfassen, aber kein Anteil ihres Interesses ist auf das psychische Leben gelenkt worden, in dem doch die Leistung dieses wunderbar komplizierten Organismus gipfelt. Darum ist Ihnen eine psychologische Denkweise fremd geblieben […]« (1916–1917a [1915–1917], S. 12f.).
In der Laienanalyse schreibt er: »Die sogenannte ärztliche Ausbildung erscheint mir als ein beschwerlicher Umweg zum analytischen Beruf […]« (1926e, S. 228). 13 Den Hörern der Vorlesung eröffnet er: »Die Medulla oblongata ist ein sehr ernsthaftes und schönes Objekt. Ich erinnere mich ganz genau, wie viel Zeit und Mühe ich vor Jahren ihrem Studium gewidmet habe. Aber heute muß ich sagen, ich weiß nichts, was mir für das psychologische Verständnis der Angst gleichgültiger sein könnte als die Kenntnis des Nervenweges, auf dem ihre Erregungen ablaufen« (1916–1917a [1915– 1917], S. 408). Und über die Hoffnung, Neurosen wie Infektionen zu bekämpfen, schreibt er mit mildem Spott: »Der ideale Fall, nach dem sich der Mediziner wahrscheinlich noch heute sehnt, wäre der des Bazillus, der sich isolieren und reinzüchten läßt, und dessen Impfung bei jedem Individuum die nämlichen Affektionen hervorruft. Oder etwas weniger phantastisch: die Darstellung von chemischen Stoffen, deren Verabreichung bestimmte Neurosen produziert und aufhebt. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht nicht für solche Lösungen […]« (1926d, S. 184).
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Jetzt erscheint Psychoanalyse als Praxis sui generis, die entfernt Ähnlichkeiten mit anderen Formen hat – Freud nennt jetzt Chirurgie, Orthopädie, Pädagogik, und dehnt so das Spektrum ins Indifferente aus –, aber für sich steht. Was früher als Analogie Anlehnungsfunktion hatte, hat nun nur noch Illustrationscharakter. Es ist jedoch nicht nur die Nähe zur Medizin, die Freud aufgibt. Die Psychoanalyse hat sich im späten Konzept nicht nur definitiv emanzipiert; sie hat auch eine Beförderung erfahren. Sie wird nicht nur als eigenständige Wissenschaft konzipiert, sondern steht nunmehr als Grundlage der Humanwissenschaften gleichberechtigt neben den Naturwissenschaften. In der Neuen Folge schreibt er in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus, dem er vorhält, die wichtigsten »psychologischen Faktoren« und damit den Kern der »Kulturentwicklung« zu übergehen: »Wenn jemand im Stande wäre, im Einzelnen nachzuweisen, wie sich diese verschiedenen Momente, die allgemeine menschliche Triebanlage, ihre rassenhaften Variationen und ihre kulturellen Umbildungen unter den Bedingungen der sozialen Einordnung, der Berufstätigkeit und Erwerbsmöglichkeiten gebärden, einander hemmen und fördern, wenn jemand das leisten könnte, dann würde er die Ergänzung des Marxismus zu einer wirklichen Gesellschaftskunde gegeben haben. Denn auch die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psychologie. Streng genommen gibt es ja nur zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde« (1933a [1932], S. 194).
Freud geht noch weiter und arbeitet Modellvorstellungen aus, in denen seine Theorie zum inhaltlichen Kern und zum Instrument wissenschaftstheoretischer Vorstellungen wird. Die (rudimentären) wissenschaftssoziologischen Argumente werden jetzt zur »kulturpsychologischen« Interpretation weiterentwickelt. Diese Anwendung der Psychoanalyse transzendiert Wissenschaftstheorie zur systematischen »Kulturtheorie«, gleichzeitig schließt sich die Psychoanalyse nach außen ab und wird ein weitgehend autochthones Modell. Dieses kühne Projekt beginnt damit, dass Freud die ersten Andeutungen über das besondere Schicksal der Psychoanalyse nun systematisch ausbaut. Die Ablehnung der Psychoanalyse erscheint jetzt nicht mehr als Übertreibung an sich sinnvoller Einstellun80
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gen (reaktive Einseitigkeit der Orientierung, Misstrauen gegen Metaphysik). Nach Kopernikus’ Dezentrierung der Welt und Darwins Nachweis der biologischen Evolution (die beide die Vorstellung einer Sonderstellung des Menschen unterminieren) trifft den »menschlichen Narzissmus« nun der dritte, heftigste Schlag: »Aber die beiden Aufklärungen, daß das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist, und daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus. Sie stellen miteinander die dritte Kränkung der Eigenliebe dar, die ich die psychologische nennen möchte. Kein Wunder daher, dass das Ich der Psychoanalyse nicht seine Gunst zuwendet und ihr hartnäckig den Glauben verweigert« (1917a, S. 11).
Die Akzeptanzprobleme der Psychoanalyse erscheinen jetzt nicht mehr nur als Ausdruck der üblichen Kämpfe zwischen alt und neu, sondern sind Teil eines systematischen Konflikts, der für die menschliche Kultur und ihr Schicksal von zentraler Bedeutung ist. In »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse« greift Freud die bereits in der »Kulturellen Sexualmoral« (1908d, S. 149f.) skizzierte Theorie der kulturellen Grundlagen auf, die dort als Folie zur Unterscheidung zwischen notwendiger und rationaler sowie irrationaler und daher gefährlicher Triebunterdrückung gedient hatte. Jetzt schreibt er: »Die menschliche Kultur ruht auf zwei Stützen, die eine ist die Beherrschung der Naturkräfte, die andere die Beschränkung unserer Triebe. Gefesselte Sklaven tragen den Thron der Herrscherin. Unter den so dienstbar gemachten Triebkomponenten ragen die der Sexualtriebe – im engeren Sinne – durch Stärke und Wildheit hervor. Wehe, wenn sie befreit würden; der Thron würde umgeworfen, die Herrin mit Füßen getreten werden. Die Gesellschaft weiß dies und – will nicht, daß davon gesprochen wird« (1925e, S. 106).
Dies will sie vor allem deshalb nicht, weil sie »ein schlechtes Gewissen hat« (ebd.), weil sie »weiß«, dass sie überfordernde Ideale ausgestellt hat, die »einen Zustand von Kulturheuchelei« (ebd.) zur Folge haben, weil 81
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(zu) viele Menschen quasi über ihre psychischen Verhältnisse leben müssen und ihr »seelisches Gleichgewicht« prekär ist. Damit ist die Grundlage der Kultur labil und gefährdet, und die Gesellschaft versucht, sie »durch das Verbot der Kritik und Diskussion zu schützen« (ebd., S. 107). Genau darüber redet jedoch die Psychoanalyse und wird daher als gefährlich, als »kulturfeindlich« und »soziale Gefahr« (ebd.) eingestuft. Mit dieser Interpretation ist das Verhalten der Gesellschaft dynamisch einem neurotischen Konflikt vergleichbar: Sie leistet Widerstand gegen die schmerzhafte Aufdeckung dieses Konflikts. »Die starken Widerstände gegen die Psychoanalyse waren also nicht intellektueller Natur, sondern stammten aus affektiven Quellen. Daraus erklären sich ihre Leidenschaftlichkeit wie ihre logische Genügsamkeit. Die Situation folgte einer einfachen Formel: die Menschen benahmen sich gegen die Psychoanalyse als Masse genau wie der einzelne Neurotiker […]« (ebd., S. 108).
Und wie in der individuellen Therapie ist mit der Einsicht in den Konflikt auch seine Bewältigung in Sicht: »Diesem Widerstand kann keine ewige Dauer beschieden sein; auf die Länge kann sich keine menschliche Institution der Einwirkung gerechtfertigter kritischer Einsicht entziehen […]« (ebd., S. 107).14 Mit dem Schritt unternimmt die Psychoanalyse eine Schlüsselfunktion in der Erläuterung der Kultur und in deren Entwicklung. Das skizzierte Erklärungsmodell wird von Freud noch weiter generalisiert und umfasst schließlich die gesamte menschliche Kultur. Immer stärker tritt das Problem in den Vordergrund, dass sie auf Zumutungen basiert und dadurch ihre eigene Grundlage gefährdet. Dieses strukturelle Dilemma der Kultur, unheilbar repressiv sein zu müssen und dafür auf die Akzeptanz ihrer Mitglieder angewiesen zu sein, stellt er mal mehr, mal weniger schmerzhaft und aussichtsvoll dar (in den späten Schriften eher mehr). Je mehr jedoch 14 Freud kommentiert diese Anwendung der Psychoanalyse auf die Situation der Psychoanalyse so: »Diese Situation hatte gleichzeitig etwas Schreckhaftes und etwas Tröstliches; das erstere, weil es keine Kleinigkeit war, das ganze Menschengeschlecht zum Patienten zu haben, das andere, weil schließlich sich alles so abspielte, wie es nach den Voraussetzungen der Psychoanalyse geschehen mußte« (1925e, S. 109). »Tröstlich« ist wohl auch, dass er nun eine seiner Einschätzung der Psychoanalyse entsprechende großformatige Interpretation gefunden hat, in der sie nicht nur passiv, sondern aktiv vorkommt.
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Die Entwicklung von Freuds Wissenschaftstheorie
Kultur als notwendige, aber schwere Last erscheint, desto wichtiger werden die gesellschaftlichen »Versöhnungsangebote«. Unter diesen Möglichkeiten spielen »Weltanschauungen« eine wichtige Rolle: »[E]ine Weltanschauung ist eine intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme unseres Daseins aus einer übergeordneten Annahme einheitlich löst, in der demnach keine Frage offen bleibt und alles, was unser Interesse hat, seinen bestimmten Platz findet. Es ist leicht zu verstehen, dass der Besitz einer solchen Weltanschauung zu den Idealwünschen der Menschen gehört. Im Glauben an sie kann man sich im Leben sicher fühlen, wissen, was man anstreben soll, wie man seine Affekte und Interessen am zweckmäßigsten unterbringen kann« (Freud, 1933a [1932], S. 170).
Sie haben also nicht nur handlungssteuernde Funktionen, sondern sind immer auch wichtige psychodynamische Bewältigungsstrategien von Realität. Aus psychoanalytischer Sicht ist diese Funktion zwiespältig: Was unmittelbar in der Welt orientiert und mit ihr versöhnt, kann mittelbar – durch Verzerrung des Realitätskontakts – problemverschärfend sein. Es gibt nur eine einzige Weltanschauung, die dieses Risiko vermeidet: die »Wissenschaftliche Weltanschauung«. Sie ist als einzige mit Kultur gänzlich kompatibel, weil sie eine Generalisierung der wissenschaftlichen Praxis darstellt. Das bedeutet vor allem den Verzicht auf Allmachtsansprüche: »Die Einheitlichkeit der Welterklärung wird zwar auch von ihr angenommen, aber nur als Programm, dessen Erfüllung in die Zukunft verschoben ist. Sonst ist sie durch negative Charaktere ausgezeichnet, durch die Einschränkung auf das derzeit Wißbare und die scharfe Ablehnung gewisser, ihr fremder Elemente. Sie behauptet, dass es keine andere Quelle der Weltkenntnis gibt als die intellektuelle Bearbeitung sorgfältig überprüfter Beobachtungen, also was man Forschung heißt […]« (ebd., S. 171).
Mit dieser Forderung nach Einschränkung auf Anerkennung der objektiven Realität steht die »Wissenschaftliche Weltanschauung« quer zu Idealisierungsbedürfnissen und daher im Gegensatz zu allen anderen Weltanschauungen. Aber zugleich ist sie eine Weltanschauung, das heißt, sie bietet Orientierung und Interpretation. Insofern stellt sie eine Einheit von Distanz und Engagement dar. 83
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Damit war Freud ein umfassendes Modell gelungen, welches (fast) alles, was in – seiner – Welt bedeutsam schien, integrierte. Was ursprünglich als Legitimation der eigenen Tätigkeit begann (und dies durch eine geschickte Ausweitung und Akzentuierung des Verständnisses von Wissenschaft erreichte), entwickelte sich in seinem späten Denken zu einer systematischen Theorie, die nicht nur die Art der Wissenschaftsproduktion, sondern auch ihr Verhältnis zur Realität und die Verwendung von Wissen mit dem Gegenstand verbindet. Sie überspannt im Wissenschaftsbegriff die gesamte objektive Realität, nimmt dabei sowohl auf die Verbundenheit als auch auf die Besonderheit der humanen Entwicklung Bezug und erklärt Genese, Funktion und Entwicklung der darauf basierenden und darauf bezogenen Kultur sowie ihre Entwicklung durch ein strukturell analoges Problemprofil und ein Evolutionskonzept, welches Onto- und Phylogenese parallelisiert und integriert. Dadurch erscheint auch das Schicksal der Psychoanalyse als unvermeidlich, als Folge des Grundkonflikts der Kultur, dessen Dynamik und Perspektiven sie nicht nur interpretieren, sondern entscheidend beeinflussen kann. Das Problem des Gegensatzes zwischen der politischen Indifferenz der Wissenschaft und dem unvermeidlich politischen Gehalt der Psychoanalyse wird dadurch gelöst, dass die »Wissenschaftliche Weltanschauung« nicht nur als absolut objektiver Realitätsbezug die höchste Entwicklungsform humaner Kognition, sondern zugleich die einzige mit Kultur wirklich kompatible »Weltanschauung« darstellt: Freud gelingt auf diese Weise das Kunststück, Praxis und Objektivität, Weltinterpretation und Normativität auf einen Begriff zu bringen.
Von Freud zur Metatheorie der Psychoanalyse Es ist deutlich geworden, dass Freuds Vorstellungen in jeder Phase seiner Entwicklung darauf zentriert waren, seine Arbeit abzusichern. Man kann zweifellos feststellen, dass sie diese Funktion hervorragend erfüllten: Die »frühen« halfen ihm, wissenschaftliches Neuland zu betreten, ohne ins Bodenlose zu versinken; die »mittleren« stabilisierten die Autonomie der Psychoanalyse; die »späten« integrierten die wichtigen, aber disparaten Dimensionen seiner Perspektiven. Es ist fraglich, ob es überhaupt eine Alternative gegeben hätte, die zu seiner Expedition ins Unbewusste besser gepasst hätte. 84
Von Freud zur Metatheorie der Psychoanalyse
Allerdings kann das, was für Freud passend war, dem Bedarf der modernen Psychoanalyse nicht entsprechen. Seine Schlüsselkategorien beziehen sich auf eine Welt und auf Diskurse, die sich weiterentwickelt haben – ebenso wie die Psychoanalyse selbst: Nach hundert Jahren befindet sie sich als Therapie wie als Theorie und als soziale Institution nicht mehr im »Pionierstadium«. Unverkennbar ist allerdings, dass dieser Fortschritt theoretisch in mancher Hinsicht nicht zu definitiven »Lösungen« von Problemen geführt, sondern zunächst nur deren Ausmaße verdeutlicht hat. Dies zeigt sich beispielsweise in Bezug auf die psychoanalytische Theorie: Über viele Themenaspekte gibt es nur vagen, in mancher Hinsicht keinen Konsens. Man hat den Eindruck: Es gibt auch hier fast so viele Positionen wie Theoretiker. Dies gilt auch für die Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse. Inzwischen existiert eine ganze Reihe (verschiedener) Diskurse.15 Es mangelt nicht an Vorschlägen, aber keiner ist allgemein akzeptiert. Nun hat nicht nur die Psychoanalyse dieses Problem. Ein Blick ins Umfeld zeigt, dass Soziologie, Geschichte, Ethnologie und so weiter sich in einer analogen Situation befinden: Auch dort ist eine beachtliche Zahl verschiedener Theorien im Umlauf; auch dort sind Methoden und empirische Bezüge umstritten.16 Versuche, durch wissenschaftstheoretische Begründungen eine Integration zu erreichen, scheitern regelmäßig: Sie verringern die Differenzen nicht, sondern steigern sie eher – dies nicht zuletzt, weil es die Wissenschaftstheorie nicht gibt: Auch sie präsentiert sich als hetero15 Eine Diskussion der verschiedenen Diskussionsstränge sprengt den Rahmen dieser Arbeit und wird daher gar nicht erst versucht. Stattdessen sei erinnert an die grundlegenden Arbeiten von Ricœur (1965), Habermas (1968a), Lorenzer (1974), an die Auseinandersetzungen um Grünbaum (1988 [1984]), an die Diskussionen im angelsächsischen Raum von G. S. Klein (1976), Gill (1984), von Spence (1982), Strenger (1991), von Sherwood (1969), Edelson (1984), Steiner (1995) sowie an die mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum florierende Debatte (siehe zum Beispiel Thomä & Kächele, 1985; Tress, 1985; Schmidt-Hellerau, 1993; Kaiser, 1995a; König, 1996). 16 In der Soziologie gibt es beispielsweise seit Beginn immer wieder Auseinandersetzungen um ihren Status als Theorie: Vom klassischen »Werturteilsstreit« zwischen Weber und den »Kathedersozialisten« über die Debatte zwischen »Traditioneller« und »Kritischer Theorie«, den »Positivismusstreit« bis zur neueren (sehr verschieden ausgerichteten) Kritik aus ethnomethodologischer, konstruktivistischer und systemtheoretischer Sicht an der (welcher?) traditionellen Soziologie handelt es sich um eine immer wieder aufflackernde, aber auch dazwischen schwelende Kontroverse mit hochgradig verwickelten Frontlinien.
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genes und disparates Feld von Schulen und Strategien.17 Will man diese Konstellation nicht als bloßes »Reifungsproblem« betrachten (was bei der langen Geschichte der verschiedenen Diskurse wenig plausibel ist), muss man sie als Problemdruck ernstnehmen.18 Das bedeutet: Es ist nicht möglich, eine definitive Grundlage für bestimmte Arten der Erkenntnis zu entwickeln; oder umgekehrt: Es ist möglich, sie unterschiedlich zu begründen. Für die Psychoanalyse (wie für die anderen davon betroffenen Wissenschaften auch) gälte dann, dass sie zwar ein vektoriell bestimmbares Paradigma besitzt, dass dieses jedoch auf unterschiedliche Weise formulierbar ist und bleibt. Man kann und muss daher von einem multiplen Paradigma sprechen. Der Hintergrund der Problematik ist zunächst die Struktur des Gegenstands: Gemeinsam ist Psychoanalyse, Soziologie, Geschichte, Ethnologie und so weiter, dass sie keinen Gegenstand haben, der eine einheitliche und eindeutige nomologische Struktur besitzt. Die Realität, mit der sie sich beschäftigen, ist nicht immer und überall gleich, sondern folgt aktuell und potenziell unterschiedlichen Logiken. Sie ist auch nicht homogen und kontinuierlich strukturiert, sondern besteht als heterogener Gesamtprozess, der sich aus dem Zusammenspiel eigenlogischer Teilprozesse ergibt (die umgekehrt vom Gesamtprozess gesteuert werden). Dieser Prozess ist emergent und erzeugt Alternativen (das heißt, die Realität ist indefinitiv). »Autopoietische«19 Realität (so könnte man sie im Anschluss 17 Schon auf den ersten Blick zeigen sich unversöhnliche Differenzen zwischen Analytischer Philosophie und Hermeneutik, Phänomenologie und Konstruktivismus, genetischer und evolutiver Erkenntnistheorie und so weiter. Aber auch innerhalb der einzelnen Gruppen gibt es heftige Kontroversen – nicht nur zwischen Kritischen Rationalisten und sprachtheoretischen Ansätzen (in Anknüpfung an den späten Wittgenstein, Austin und Searle), sondern auch zwischen »reduktionistischen« und »eliminativen« Materialisten innerhalb des physikalistischen Ansatzes. Je differenzierter die Diskussion, desto mehr Abgründe tun sich auf. 18 »Ernst nehmen« heißt natürlich auch: »ausführlich diskutieren«. Dies ist hier nicht möglich; die folgenden Ausführungen sind daher extrem verkürzt. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung dazu siehe Schülein (1997). 19 Dieser Begriff ist ursprünglich von Maturana und Varela für die Charakterisierung der Selbststeuerungsfähigkeit neurobiologischer Vorgänge entwickelt worden (1987), dann vor allem durch konstruktivistische und systemtheoretische Autoren aufgegriffen worden. Ich verwende ihn hier (ohne die damit in der Diskussion häufig verbundenen Implikationen), weil er gut geeignet ist, die spezifische Qualität von Emergenz und Eigendynamik hervorzuheben. Es gibt eine Reihe von sicher ebenso qualifizierten
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an neuere Diskussionen nennen) besitzt eine dialektische Struktur und damit eine nicht-lineare Logik, die konkret immer verschieden ist: Jeder Einzelfall ist unterschiedlich konturiert, entwickelt sich (auch) auf besondere Art. Damit ist das strukturelle Theoriedilemma sichtbar, das auch für die Psychoanalyse gilt: Theorien sind eine symbolische Reproduktion der Logik von Realität. Nomologische Realität lässt sich in denotativen Theorien, die mit Zeichen operieren, reproduzieren. »Denotativ« heißt: Die Logik wird über die Ausgrenzung von Akzidenzien und die Reduktion auf abstrakte Strukturen eindeutig gefasst und abgegrenzt. Zeichen sind dabei Symbole, die in Bedeutung und Definition festgelegt sind. Denotative Theorien basieren auf einem von natürlichen Sprachen unabhängigen Symbolsystem, welches eine kontextfreie Algorithmisierung betreibt. Die dazu erforderlichen Leistungen sind vergleichsweise gut metatheoretisch bestimmbar und evaluierbar, weil Algorithmen genau umrissenen Kriterien entsprechen müssen. Aus diesem Grund können metatheoretische Kontexte in der theoretischen Arbeit selbst als verlässliche Hintergrundannahmen blass bleiben.20 Auch Theorien, die sich mit autopoietischer Wirklichkeit befassen, streben ein genaues logisches Verständnis an. Aber die skizzierte Wirklichkeitsstruktur verhindert die Verwendung rein denotativer Theorien. Eine prinzipiell »unberechenbare«, heterogene, vielgestaltige und eigendynamische Realität lässt sich mit einem algorithmisch reduzierenden Theorietypus nicht angemessen erfassen. Die Abstraktions- und Reduktionskosten werden zu groß: Jede Verallgemeinerung bedeutet auch einen Realitätsverlust; jede Festlegung auf bestimmte Muster impliziert die Ausblendung anderer Möglichkeiten. Außerdem kann mit dem Modus der starren Kopplung von Elementen und Strukturen nur begrenzt gearbeitet werden, wo diese sich eigendynamisch entwickeln (und verändern). Deshalb stoßen denotative Theorien hier an Grenzen. Das bedeutet: Theorien »Konkurrenten«, die von der Chaostheorie, der Theorie »dissipativer Strukturen« (Prigogine, 1985) oder des »Hyperzyklus« (Eigen & Schuster, 1979) verwendet werden. Nicht zuletzt drängt sich in diesem Zusammenhang eine Weiterentwicklung des Hegelschen Denkens (Günther, 1976ff.) auf. 20 Aus diesem Grund ist in den Wissenschaften, die vorrangig mit denotativen Theorien arbeiten, eine (wissenschaftstheoretische) Begründung kein sonderlich hervorragendes Thema. Für den Hausgebrauch reicht eine vage empirisch-analytisch ausgerichtete Orientierung (die Abgründe tun sich erst bei genauem Hinsehen auf – welches jedoch im laufenden Wissenschaftsbetrieb keinen Platz hat).
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müssen konnotativ angelegt sein. »Konnotativ« heißt, dass sie imstande sind, die jeweils erforderlichen Verbindungen zu stiften und zu stabilisieren. Statt Wirklichkeit auf definitive Kalküle zu reduzieren, besteht ihre Leistung darin, logische Reproduktion mit flexiblem Wirklichkeitskontakt zu verbinden. Ein nicht nur moving, sondern auch changing target bedarf einer Theorie, die sowohl Einheit als auch Differenz thematisieren kann. Dies ist nicht mithilfe von Zeichen möglich, deren Merkmal ja gerade die denotative Definition ist. Deshalb operieren konnotative Theorien mit Begriffen: mit Konzepten von Realität, die deren Heterogenität erfassen und ihre Bewegung nachvollziehen können. Konnotative Theorien sind dadurch jedoch auf mehrfache Weise belastet. Ein zentrales Problem ist die multiple Thematisierbarkeit autopoietischer Realität. Eine vielfältig vernetzte, heterogene Realität kann sinnvoll auf verschiedene Weise theoretisch reproduziert werden. Dies resultiert nicht nur aus der begrenzten Möglichkeit, in theoretischen Festlegungen die gesamte Fülle der Realität abzubilden, sondern ganz allgemein aus der Möglichkeit unterschiedlicher Relationierung: Konnotative Theorien verbinden und heben auf eine (ihre) Weise hervor, zu der Alternativen bestehen. Und auch innerhalb einer bestimmten Thematisierungsweise gibt es stets einen Korridor an Variationsmöglichkeiten (oder -zwängen?). Deshalb gibt es nicht eine Gesellschaftstheorie, Psychologie, Historik, sondern viele. Und deshalb präsentiert sich auch die Psychoanalyse als ein multitheoretisches Paradigma. Ein weiteres Thema ist die Theoriestabilisierung: Eine Theorie, die offenbleiben muss und mit Instrumenten arbeitet, die die Struktur des Gegenstandes teilen, kann weder über die Akkumulation von gesicherten empirischen Wissensbeständen noch durch die Generierung verbindlicher Theorierichtlinien dauerhaft verlässliche Sicherheit gewinnen. Sie bleibt letztlich so instabil und vielfältig, so widersprüchlich und erratisch wie ihr Gegenstand selbst. Daher ist auch die Entwicklung von Strategien der Theoriebegründung und -evaluation dazu verurteilt, die Probleme zu reproduzieren: Theoriekonsistenz und Gegenstandsbezug sind nur bis zu einem gewissen Grad kompatibel und zugleich optimierbar. In den genannten Wissenschaften sind deshalb metatheoretische Diskussionen über Selbstverständnis, Theoriestruktur, Gegenstandsbezug und so weiter endemisch und prinzipiell nicht abschließbar. Sie können daher auch nicht zu verlässlichen Hintergrundannahmen werden, sondern bleiben – mit der Multiparadigmatik der Theorie – als Problem virulent: Konnotative Theo88
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rien stehen daher nicht auf einem sicheren metatheoretischen Fundament, sondern bewegen sich auf chronisch unsicherem Grund. Noch einen anderen Aspekt möchte ich hervorheben: Er betrifft die Art der Theoriepraxis und die damit verbundenen Probleme. Während denotative Theorien durch ihre abstrakte Logik dem erkennenden Subjekt gebahnte Pfade und stabile Modi vorgeben, verlangt der Umgang mit konnotativen Theorien besondere subjektive Leistungen. Theoretische Konzepte und Begriffe sind unvermeidlich unscharf und müssen aktiv realisiert werden. Die Theorie ist daher nicht einfach, sie wird erst durch ihre Anwendung – und diese Anwendung ist eine »personengebundene Kompetenz« (Polanyi, 1965 [1958]), in die sich soziale Rahmenbedingungen unvermeidlich einschreiben. In diesem Sinne sind konnotative Theorien zugleich unheilbar in ihre Welt verstrickt, werden von Prozessen der subjektiven Aneignung und Integration sowie der Dynamik des Kontextes (soziale Zwänge, Ideologien, Theoriemoden und so weiter) mitgesteuert. Auch hier ergibt sich ein Dilemma: Einerseits ist genau dies der Modus, über den konnotative Theorien dynamisch und flexibel gehalten werden, andererseits ist der Preis dafür die chronische Verzerrung – auch hier ist das eine ohne das andere nicht zu haben. Alle diese Merkmale haben zur Folge, dass die Balance konnotativer Theorien instabil bleibt. Das gilt auch für ihre metatheoretische Begründung – daher die unendlichen wissenschaftstheoretischen Diskussionen. Die Psychoanalyse teilt dieses Schicksal konnotativer Theorien, aber sie hat – darauf wird immer zu Recht verwiesen21 – noch ihre besonderen Probleme, die sich aus der Thematisierung unbewusster psychischer Realität und der spezifischen Art der therapeutischen Praxis ergeben. Daraus entsteht eine Fülle von methodischen und theoriepragmatischen Problemen, die hier nicht diskutiert werden können. Daher nur zwei kurze Bemerkungen: ➣ Unbewusste Prozesse sind weder direkt noch in ihrer eigenen Logik identifizierbar. Sie werden indirekt erschlossen – in Übertragung und Gegenübertragung – und in die Logik von Theorie übersetzt. In 21 Allerdings sind die meisten Bestimmungen der Psychoanalyse als »Dritter Weg«, als Wissenschaft »between Hermeneutics and Science« (Strenger) oder als Sonderfall nicht hinreichend systematisch: Jede konnotative Theorie ist ein Sonderfall, aber alle teilen bestimmte Grundprobleme.
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➣
dieser vermittelten und kodierten Form ist jedoch die Eigenlogik nur begrenzt erfassbar. Deshalb muss das Begriffsinstrumentarium der Psychoanalyse verstärkt mit Modalitäten operieren, die diese Übersetzungsprobleme kompensieren. Dies geschieht durch die Ergänzung digitaler durch analoge Modi22, die die besondere Qualität des Themas piktografisch erfassen können – etwa in Begriffen wie »Verdrängung«, »Abwehr« und so weiter. Der Preis dafür ist allerdings, dass diese analogen Modi auf irreduzible Weise unscharf sind und bleiben – gelegentlich bis zum Kern des Verständnisses, immer im breiten konnotativen Feld der Begriffe. Damit erschwert sich sowohl der Innen- als auch der Außenkontakt der Theorie. Die Entwicklung und Verwendung von psychoanalytischer Erkenntnis in therapeutischen Prozessen implizieren eine schwierige Koppelung. Vor allem unterscheiden sich der pragmatische Theoriebedarf ebenso wie die Theorieverarbeitungskapazitäten, die situativ verfügbar sind. Therapiegebundene Theorie ist auf die Dynamik des Einzelfalls bezogen: Der Therapeut muss mit der je spezifischen (immer besonderen) Konfiguration und dem (ihm) verfügbaren Horizont an konnotativen Modi arbeiten. Was für den Einzelfall und die beteiligten Akteure konkret passt, kann jedoch verschieden ausfallen und ist in jedem Fall nicht identisch mit dem Bedarf einer systematischen Theorie. Daher gliedert sich psychoanalytische Theorie nicht nur in ein Feld von divergierenden Konzepten (von Freud’scher Orthodoxie bis zu Melanie Klein, von Lacan bis zu Kernberg), sondern stellt sich auf der Ebene der praktischen Anwender als eine Fülle von personengebundenen Konzepten dar – jeder hat seine eigenen pragmatischen theoretischen (oder paratheoretischen) Vorstellungen, deren Funktion in der (schwierigen) Balance zwischen dem eigenen Bedarf und den konnotativen Modellen der Zunft liegt.
Mit Blick auf diese Problembestände wird erst recht erkennbar, welche Leistung Freuds Wissenschaftstheorie nicht nur bezogen auf die »Pionierphase« der Psychoanalyse, sondern auch auf ihre strukturellen Be22 Diese Unterscheidung ist von Watzlawick und Kollegen (1969) zur Analyse von Kommunikationsprozessen verwendet worden. Sie eignet sich für diesen Zusammenhang, weil sie mit dem Hinweis auf unterschiedliche Qualitäten von Kommunikation auch auf die entsprechenden Leistungen von Begriffen verweist – Zeichen sind rein digitaler Art.
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gründungsprobleme darstellt. Er nimmt das Problem der Begründung von Theorie ernst, hält die Beziehung von Theorie und Metatheorie locker, er greift zu konnotativen Begriffen und analogen Modi, wo dies passend erscheint, er bemüht sich um theoretische Einheit, ohne sie zu erzwingen (etwa, indem er die Prinzipien der von ihm sogenannten Metapsychologie selbst nicht als striktes Kriterium und Verfahren benutzt). Auf diese Weise wurde produktive Theorie auch im unangemessenen Kontext möglich. Der modernen Psychoanalyse bleibt jedoch (will sie sich nicht in Dogmatik oder Diffusität flüchten) kaum etwas anderes übrig, als sich den Schwierigkeiten zu stellen und zu lernen, mit ihnen zu leben. Da eine definitive Theoriebalance nicht zu finden ist, muss sie ständig aufs Neue gesucht und für jeden Kontext erarbeitet werden. Es geht also um eine »Dauerreflexion«, die um ihre eigenen Grenzen weiß – eine unlösbare Aufgabe, deren Lösung immer wieder versucht werden muss.23 Dadurch werden Probleme und Kontroversen nicht erledigt. Aber ein diskursives Milieu bietet eher die Möglichkeit zu verhindern, dass Gegensätze entweder verleugnet oder zu Glaubenskriegen hochgespielt werden. Ziel müsste sein, das zu erreichen, was Freud auf pragmatischer Ebene gelang: eine stabilisierende und integrierende, die Produktivität der Theorie stützende metatheoretische Konzeption auf der Höhe des Problemniveaus zu gewinnen, das heißt, ohne den Preis zahlen zu müssen, der mit Freuds genialem Pragmatismus verbunden war.
23 Damit stellt sich jedoch die wichtige Frage der Institutionalisierung der Psychoanalyse: Die vorrangig klinische Ausrichtung bietet praktischen Halt und bindet an die Realität, kann aber ein institutionelles Arrangement, das systematische Forschung und Theorieentwicklung erlaubt, nicht allein tragen. Im Übrigen ist die Institutionalisierung (selbst-)reflexiver Prozesse prinzipiell ein soziales Problem, weil dafür keine problemlos funktionierenden instrumentellen Formen gefunden werden können. Da dies jedoch ein Thema für sich ist, habe ich es hier ausgeklammert (siehe Schelsky, 1957; Schülein, 1978).
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3 Professionelle Freundschaften Freud und seine Beziehungen
Dass Freud zu einer so wichtigen Persönlichkeit wurde, hatte auch den Effekt, dass seine Biografie ziemlich gründlich untersucht und in Briefen und Berichten von Zeitzeugen relativ gut dokumentiert ist. Dadurch wissen wir auch mehr von ihm, als er eigentlich der Öffentlichkeit von sich zeigen wollte. Er wäre gern nur in seinem Werk präsent gewesen, aber gerade weil er sein Werk in Form einer »Bewegung« sozial verankern wollte, trug er dazu bei, als deren Idol entsprechend erforscht, veröffentlicht und diskutiert zu werden. Dadurch wissen wir auch einiges über seine Freundschaften. Nicht über alle! Freud hatte sozusagen private Freunde – Freunde aus seiner Jugend, mit denen er viele, viele Jahre Kontakt hielt; Freunde, mit denen er regelmäßig »tarockierte«, auch einige Verwandte, mit denen er sich offensichtlich gut verstand. Über sie ist weniger diskutiert worden und sie scheinen Freud auch eine ganz andere Bedeutung gehabt zu haben als die Freunde, die er im Zusammenhang mit seiner Arbeit kennen- und schätzen lernte, zu denen er eine intensive Beziehung entwickelte – und die nach einiger Zeit mehr oder weniger dramatisch zerbrachen. Diese professionellen Freundschaften hängen eng mit dem jeweiligen Entwicklungsstadium von Freuds Projekt zusammen. Naturgemäß begann er seine Ausbildung nicht mit dem Ziel, Psychoanalytiker zu werden. Er begann 1873, Medizin zu studieren, ohne sich sonderlich für das Fach zu interessieren. In seiner »Selbstdarstellung« schreibt er: »Eine besondere Vorliebe für die Stellung und Tätigkeit des Arztes habe ich in jenen Jugendjahren nicht verspürt, übrigens auch später nicht. Eher bewegte mich eine Art von Wißbegierde, die sich aber mehr auf menschliche Verhältnisse als auf natürliche Objekte bezog und auch den Wert der Be93
3 Professionelle Freundschaften
obachtung als eines Hauptmittels zu ihrer Befriedigung nicht erkannt hatte. Indes, die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie eine außerordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach, und ich weiß, daß der Vortrag von Goethes schönem Aufsatz ›Die Natur‹ in einer populären Vorlesung kurz vor der Reifeprüfung die Entscheidung gab, daß ich Medizin inskribierte« (1925d [1924], S. 34).
Mit seinem Studium ließ er sich Zeit (er schloss es erst 1881 ab), aber er erwies sich als engagierter Student, der nicht nur bei seinen Professoren Beachtung fand, sondern auch in engeren Kontakt mit einem Kreis von bekannten beziehungsweise bedeutenden Medizinern kam. Zu diesem Kreis gehörte auch Josef Breuer. Breuer, Jahrgang 1842 (also 14 Jahre älter als Freud), galt als begabter Mediziner. Er forschte und habilitierte sich im Fach Physiologie, aber eine akademische Karriere blieb ihm, wie es heißt, durch Intrigen versagt (Freuds Biograf Ernest Jones spricht allerdings davon, er habe sich »in die Privatpraxis zurückgezogen«, siehe dazu Jones, 1984a, S. 264). Dafür etablierte er sich als prominenter (und als Prominenten-)Arzt, der seine sozialen Beziehungen pflegte und weiterhin seinen (wissenschaftlichen) Interessen nachging. Freud lernte ihn im Physiologischen Institut kennen und wurde von Breuer ein Stück weit »adoptiert«. Breuer wurde sein Karriereberater (Freud bewarb sich nur dann um Stellen und Stipendien, wenn ihm Breuer dazu riet), er intervenierte für Freud (etwa, als es darum ging, das prestigeträchtige Stipendium, das Freud 1885 nach Frankreich führte, zu erlangen) und er lieh dem chronisch klammen Freud Geld (im Lauf der Zeit eine erhebliche Summe, die Freud nach und nach zurückzahlte – was eine bestimmte Art von Beziehung aufrechterhielt, als ihre eigentliche Beziehung längst zu Ende war). Vor allem aber brachte Breuer Freud auf den Pfad, der ihn schließlich zur Psychoanalyse führte: Breuer behandelte von 1880 bis 1882 eine junge Dame aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, die im Verlauf der Erkrankung ihres Vaters und auch nach dessen Tod eine Fülle von dramatischen Symptomen entwickelte: Lähmungen, Seh- und Sprechstörungen, Essstörungen, schizoide Zustände, Halluzinationen. Dabei ergab sich – eher zufällig –, dass die Patientin in bestimmten Phasen klar über ihre Probleme und Erlebnisse reden konnte und dieses Reden die Symptome zum Verschwinden brachte oder sie linderte. Daraufhin versuchte Breuer, solche Zustände durch Hypnose zu unterstützen und systematisch mit der Patientin zu 94
3 Professionelle Freundschaften
reden. Die Patientin – es handelte sich bekanntlich um Bertha Pappenheim – nannte diese Art von Behandlung talking cure (zu ihren Symptomen gehörte auch, dass sie manchmal nur fremde Sprachen benutzte); Breuer erklärte den Erfolg der Behandlung mit dem Begriff »Katharsis« (griechisch: »Reinigung«). Tatsächlich war die Behandlung von »Anna O.« (Freud & Breuer, 1895d) nicht sonderlich erfolgreich. Es wird berichtet, dass sich zwischen Patientin und Arzt eine mehr oder weniger intensive Zuneigung entwickelte, mit der Breuer nicht umgehen konnte. Breuers Frau wurde eifersüchtig, er selbst geriet in Panik und brach die Behandlung überstürzt ab, was die Patientin in eine schwere Krise stürzte, aus der sie erst mühsam und nach langer Zeit wieder herauskam. Als Breuer ihm von dem Fall erzählte, war Freud alarmiert. Er begann, sich immer mehr mit der Thematik zu beschäftigen. Zusätzlichen Schub bekam sein Interesse durch seinen Paris-Aufenthalt, wo er mit Charcot einen der charismatischen Persönlichkeiten der frühen Forschung auf dem Gebiet der Psychopathologie kennenlernte. Schritt für Schritt arbeitete sich Freud in das Problemfeld ein, experimentierte mit verschiedenen Techniken und entwickelte theoretische Erklärungen (die zunächst noch relativ wenig Psychologie enthielten). Bei allen diesen Schritten war Breuer zunächst sein geistiger Mentor. Er unterstützte ihn, nahm ihn zu Behandlungen mit, beriet ihn – Breuer war anfangs führend, Freud ging hinterher. Der Unterschied war jedoch, dass Breuer an den Konventionen der Zeit festhielt und sich (siehe oben) zurückzog, wenn es heikel wurde. Ganz anders Freud: Nachdem er beispielsweise die Überzeugung gewonnen hatte, dass bei Hysterien sexuelle Themen im Spiel sind, zögerte er nicht, sich intensiv mit Sexualität, ihrer Rolle in der Ätiologie und ihrem biografischen Schicksal zu beschäftigen. So kam es, dass im Lauf der Jahre Freud immer mehr zum Zugpferd des gemeinsamen Projekts wurde, während Breuer sich immer mehr zurückhielt und zurückzog – Freuds riskantes Engagement wurde ihm zu steil. Dies galt auch für Freuds immer kühner und psychologischer werdenden Theorien, die Breuer nicht mehr akzeptierte. Für die erste gemeinsame Publikation (1893a) konnte Freud Breuer noch begeistern. Die folgende – die Studien zur Hysterie von 1895, die von vielen als erstes Dokument der Psychoanalyse gesehen wird – kam nur noch zustande, weil Freud den Älteren massiv bekniete und geradezu nötigte, seine Erfahrungen und Vorstellungen zu publizieren. Und sie demonstrieren auch, dass sich ihre Wege theoretisch wie praktisch bereits getrennt hatten. 95
3 Professionelle Freundschaften
Auch ihre persönliche Beziehung kühlte sich in der Folge erheblich ab. Die regelmäßigen Kontakte brachen ab. Es scheint, als sei dies vor allem von Freud ausgegangen. Verärgert schreibt er Anfang 1896, dass es mit Breuer kein Auskommen gäbe, später aber auch, dass es ihm leidtäte, dass Breuer aus seinem Leben verschwunden sei ( Jones, 1984a, S. 301). Diese Ambivalenz mündete schließlich in ziemlich abfällige und aggressive Bemerkungen über Breuer – 1897 schreibt er, wie froh er sei, mit ihm nichts mehr zu tun zu haben, sein bloßer Anblick würde ihn zur Auswanderung veranlassen; er spart auch sonst nicht mit Invektiven (ebd.). Aus dem »Verehrtesten Freund und liebsten aller Männer« (Freud, 1968, S. 235) war für Freud ein Angsthase geworden (ebd., S. 302). Was hier passiert ist, ist möglicherweise eine typische Variante von Lehrer-Schüler-Beziehungen. Sie ermöglicht beiden Seiten zunächst wechselseitige Identifizierung – der Lehrer kann seinen Narzissmus mit den Fortschritten des Schülers pflegen, der Schüler sich an Macht und Stärke des Lehrers anlehnen. Wenn der Schüler jedoch dem Lehrer über den Kopf wächst, wird er zur Bedrohung für den Lehrer und der Lehrer – stärker in Vergangenheit und Gegenwart verankert als auf die Zukunft gerichtet – wird zum Hemmschuh für den Schüler. Dazu kam bei Freud vermutlich die Verbitterung darüber, dass Breuer ihm die Anerkennung für seinen Mut und seine Themen verweigerte, vielleicht auch das nicht seltene Bedürfnis, sich gegen eine Zeit, die man hinter sich lässt, auch dadurch abzugrenzen, dass man die Leitfiguren dieser Zeit abwertet. Und vielleicht kommen letztlich auch die Ambivalenzen, die mit Abhängigkeit verbunden sind, im Nachhinein zum Vorschein. Wie auch immer – die Beziehung zu Breuer hatte für Freud ein unfreundliches, aber logisches Ende gefunden. Zugleich gewann eine andere Beziehung an Dynamik, die für ihn im nächsten Abschnitt seines Lebens (und der Entwicklung der Psychoanalyse) von zentraler Bedeutung sein sollte: die zu Wilhelm Fließ (1858–1928). Fließ war an sich HNO-Arzt, hatte aber ausgeprägte wissenschaftliche Ambitionen und einen ebenso ausgeprägten Hang zu großflächigen und größtenteils mystischen Spekulationen. Seine Forschungen hatten ihn dazu gebracht, einen Zusammenhang zwischen der Nasenschleimhaut und den Geschlechtsorganen anzunehmen. Die von ihm identifizierten »Nasenreflexneurosen« sah er als mögliches Resultat funktioneller Störungen mit sexuellem Hintergrund. Darüber hinaus entwickelte er ein fundamentales Modell biologischer Zyklen, in denen er die Zahlen 28 (Dauer des weiblichen Zyklus) und 23 (Zeit zwischen dem Ende der weiblichen Periode und dem Beginn der 96
3 Professionelle Freundschaften
nächsten) wirken sah. Beide zyklischen Komponenten waren in beiden Geschlechtern wirksam und Fließ bemühte sich, alles biologische Geschehen letztlich als durch diese Zahlen bestimmt zu beschreiben. Freud hatte Fließ bereits 1887 kennengelernt – ironischerweise durch die Vermittlung von Breuer. Seitdem hatten beide gelegentlich korrespondiert. Richtig in Fahrt kam ihre Beziehung jedoch erst zu Beginn der 1890er Jahre, als sich Freud von Breuer abwandte, und seine bis dahin noch rudimentären Vorstellungen über Psychopathologie sich in Richtung auf eine komplexe Theorie der Psyche zu entwickeln begannen. Aus dem »geehrten Freund und Kollegen« wurde der »verehrte Freund«, der »liebe Freund« und schließlich der »liebste Freund« und der »teure Wilhelm«. Man fing an, sich regelmäßig zu treffen, anfangs en famille, später zu sogenannten »Kongressen«, die Gelegenheit zum ausführlichen Gespräch und Gedankenaustausch boten. Nach solchen Anlässen war Freud stets euphorisiert. Die ohnehin schon sehr schwärmerischen Bewunderungen des Freundes und seiner Theorien nahm geradezu hymnische Formen an, und Freud berichtet immer wieder über die ungeheure Bedeutung dieser »Kongresse« und die Energie, die sie bei ihm freisetzten. Tatsächlich wurde die Beziehung zu Fließ für Freud für viele Jahre nicht nur persönlicher Bezugspunkt; Fließ war auch der Mann, an den er seine wissenschaftlichen Versuche adressierte – sein »einziges Publikum«, wie er sich ausdrückte. Er schickte Fließ viele der Manuskripte, in denen er sich tastend in neue Bereiche der Theorie wagte. Offensichtlich hat er diese Manuskripte nie zurückverlangt und Fließ hob sie auf. Nach seinem Tod hat seine Gattin den Briefwechsel mit samt Manuskripten verkauft – sie landeten bei Marie Bonaparte. Diese enge Freundin und Förderin von Freud erwarb sie für 100 Pfund. Dadurch wurden diese Entwürfe schließlich veröffentlicht. Sie sind vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie die schrittweise Entwicklung von Freuds Denken von noch stark mechanistisch-materialistischen Vorstellungen zur Entwicklung einer neuen Konzeption der Funktionsweise der Psyche und, parallel dazu, die Entwicklung der klassischen psychoanalytischen Methode dokumentieren. Fließ’ Briefe an Freud sind leider nicht erhalten. Es wäre sehr interessant, zu erfahren, was Fließ zu Freuds Entwürfen gesagt hat. Und es wäre noch interessanter, zu erfahren, wie Fließ mit dem zweiten zentralen Thema des Briefwechsels umgegangen ist. Denn die Entwicklung zur Psychoanalyse vollzog sich in einem Wechselspiel von voranschreitenden Überlegungen zum Verhältnis von frühkindlichen Erlebnissen, sexuellen Traumen und 97
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Neurosen, von akuten neurotischen Symptomen, die Freud an sich selbst bemerkte, und einer zuerst tastenden, dann immer konzentrierter betriebenen Selbst-Analyse. Er macht sich zu seinem eigenen Fall und stellt fest: »Alles, was ich als Dritter bei den Patienten miterlebe, finde ich hier wieder.« Er wird »sein wichtigster Patient« ( Jones, 1984a, S. 381); ihm widmet er sich mit großer Intensität. Freud begann nun, seine eigenen Träume, aber auch sein neurotisches Erleben (erhebliche Stimmungsschwankungen, Todesängste, Reiseängste) mithilfe der ihm zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Mitteln zu analysieren. Die Hypothese des sexuellen Ursprungs von Neurosen brachte er mit biografischen Erfahrungen zusammen, was unter anderem zu der Vermutung führte, sein Vater habe seine Geschwister und auch ihn in frühester Kindheit sexuell missbraucht. Da die empirischen Befunde die Annahme eines manifesten Missbrauchs nicht bestätigten, gelangte er von da aus zu der wichtigen Einsicht, dass in der Erinnerung reales Geschehen und Fantasien verschwimmen und dass nicht ein reales Trauma, sondern die Verdichtung von erlebten Konflikten in Form von Fantasien den »Familienroman der Neurotiker« bestimmt. Die Beschäftigung mit dem Verhältnis zu seinem Vater führte schließlich zur Entdeckung tiefsitzender, unbewusster Aggressionen – also zum ersten Entwurf des »Ödipuskomplexes«. Dass Fließ Freud bei der Entwicklung genuin psychoanalytischer Theorien und bei seiner Selbstanalyse direkt besonders hilfreich war, ist unwahrscheinlich. Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, lagen die Vorstellungen von beiden weit auseinander. Fließ’ Hang zu Zahlenmystik und Biophilosophie ohne empirische Erdung stand in massivem Gegensatz zu Freuds Arbeiten an empirischen Phänomenen. Aber Freud wurde nicht müde, Fließ’ zum Teil ziemlich wirre Vorstellungen zu idealisieren; er nahm sie über die Maßen ernst, versuchte Fließ’ Theorien anzuwenden und empirisch zu bestätigen, obwohl er im Ernst nichts mit ihnen anfangen konnte. Das muss ihm selbst auch klar gewesen sein. 1897 schreibt er: »In der einen Hinsicht bin ich besser daran als Du. Was ich Dir vom Seelenende dieser Welt erzähle, findet in Dir einen verständnisvollen Kritiker, und was Du mir von ihrem Sternenende mitteilst, weckt in mir nur unfruchtbares Staunen« (ebd., S. 355). »Sternenende« – das spielte darauf an, dass Fließ mittlerweile das ganze Universum in seine Zahlenspiele einbezog. Dechiffriert heißt »unfruchtbares Staunen« wohl auch: »Ich verstehe kein Wort von dem Unsinn«, was eine vernünftige Reaktion war. Offiziell blieb es jedoch dabei, dass Freud den Freund 98
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in den Himmel hob, ihn bewunderte und überlegte, wo er denn dessen Statue aufstellen würde. Sich selbst machte er dagegen klein und geradezu unscheinbar. Mehr noch: Die Erklärungsstrategien von Fließ und Freud waren von Anfang an aus prinzipiellen Gründen inkompatibel. Wenn man – wie Fließ – alles auf biologische oder gar kosmologische Konstanten reduziert, ist kein Platz für psychologische Erklärungen. Wenn man (auch) Neurosen aus Zahlenzyklen erklärt, kann man sie nicht psychologisch erklären. Es gelang offensichtlich beiden, diesen fundamentalen Konflikt lange Zeit auszublenden – keine geringe Leistung. Aber auf die Dauer konnte das nicht gut gehen. Ende der 1890er Jahre tauchten erste Unstimmigkeiten auf: Fließ befand, dass Freud in seinen Publikationen die Periodengesetzlichkeiten nicht genügend heranzog. Später war er verärgert, weil Freud auf seine Theorie der Linkshändigkeit (die er auf die Bisexualität des Menschen bezog) nicht genügend begeistert reagierte. Auf dem letzten »Kongress« in Achensee im Sommer 1900 kam es zum Bruch: Fließ berichtet, Freud sei ihm gegenüber plötzlich aggressiv geworden; Jones schreibt (ebd., S. 366f.), Fließ habe Freud als »Gedankenleser« und als jemanden, der Patienten das suggeriere, was er selbst denke, bezeichnet. Freud versuchte zwar noch eine Weile, den Kontakt weiter zu pflegen; er schlug Fließ sogar vor, gemeinsam ein Buch über »Bisexualität« zu schreiben. Das war vermutlich keine gute Idee, denn zu diesem Zeitpunkt gab es auf Fließ’ Seite bereits den Verdacht, Freud wolle sich auf diese Weise das aneignen, was er für seine ureigene Entdeckung hielt (in Wahrheit war die Idee schon häufiger geäußert worden). Es wurde nichts draus. Stattdessen kam es noch zu einem von Fließ angezettelten gerichtsnotorischen Streit um die Frage, wem die Idee der »Bisexualität« gehört, in den Freud verwickelt war und wurde. Am Ende stufte Freud den ehemaligen Busenfreund als »paranoid« ein (in einem Brief an Jung vom 3. Oktober 1910). Auch die Beziehung zu Fließ ging also schließlich in die Brüche. Diesmal war es jedoch der Freund, der sich zurückzog, während Freud versuchte, an der Beziehung festzuhalten. Darin spiegelt sich auch die Struktur der Beziehung – es war Freud, der die meisten Briefe schrieb, der sich intensiv bemühte und den Freund umwarb. Seine Briefe sind voller Zuneigung, intimer Vertraulichkeit und Offenherzigkeit – es war für ihn eine echte Herzensfreundschaft mit gediegenen homoerotischen Zügen. Zumindest in Freuds Erleben muss die Beziehung zu Fließ ihm das geboten haben, was er zu dieser Zeit brauchte und suchte. Freud muss genügend 99
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Anerkennung, (kritische) Unterstützung, vor allem aber auch einen Verbündeten im Kampf gegen eine profane und als abweisend erlebte Umwelt gefunden haben. Man wird an das pairing in gruppendynamischen Stresssituationen erinnert. Hier zeigen sich zugleich wesentliche Differenzen zwischen den Beziehungen zu Breuer und Fließ. War Breuer in guten Zeiten Freuds väterlicher Freund, zu dem er auf respektvoller Distanz blieb, so war Fließ im gleichen Alter, in einer ähnlichen Entwicklungsphase und einer vergleichbaren Situation. Was beide gemeinsam hatten, war eine gewisse Anmaßung und die Exzentrik ihres Denkens. Darin fanden sie sich, darin unterstützten sie sich – wenn auch nicht auf die gleiche Weise. Gemeinsam konnten sie eine Art Verschwörergemeinschaft bilden, die die eigene Bedeutung hervorhob und zugleich einen Schutzschirm, eine Art soziale Nische bot, in der sie vieles ausleben und ausprobieren konnten, was sie sich nach außen (noch) nicht trauten. Besonders für Freud war dies ein ideales Brutklima für seine Arbeit – ein abgeschottetes Sondermilieu von intimer Zweisamkeit, in der er sich geborgen fühlte und in dem er ungehemmt experimentieren konnte. Genau aus dem Grund musste es jedoch zum Bruch kommen. Um die Jahrhundertwende war Fließ immer noch ein Sektierer, während Freud im letzten Jahrzehnt enorme Entwicklungen durchgemacht hatte. Aus den frühen Versuchen hatte sich ein pointiertes theoretisches Modell entwickelt, in dem die Begriffe »Triebschicksal«, »Abwehr«, »der psychische Apparat«, »das Unbewusste« und weitere in einem kohärenten Modell organisiert sind. Ende 1899 erschien seine Traumdeutung, welches die Grundlagen der Psychoanalyse in systematischer Weise darstellte. Sein Werk hatte Kontur und Gewicht bekommen. Damit war innerlich wie äußerlich die Zeit gekommen, aus der Verpuppung herauszukommen und die demonstrativ unterwürfige Beziehung zu Fließ zu lösen. Jetzt, wo sein »Kind« auf die Welt gekommen war, ging es Freud darum, es wachsen und gedeihen zu lassen. Dazu brauchte er keine weltabgewandte Freundschaft – eigentlich überhaupt keine Freunde, sondern Schüler, Propagandisten, Kollegen. Seine Bemühungen um Verbreitung und Institutionalisierung der Psychoanalyse begannen damit, dass Freud einige seiner Studenten und Interessenten zu sich nach Hause (also nicht im Bereich akademischer Einrichtungen) einlud. Man traf sich jeweils mittwochs, weshalb dieses noch eher informelle Treffen den Namen »Mittwochsgesellschaft« bekam. Dieser Diskussionszirkel wuchs im Lauf der Zeit. 1908 wurde die Wiener 100
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Psychoanalytische Vereinigung gegründet. Schon vorher hatten Freuds Lehren auch außerhalb von Wien Anhänger gefunden; es bildeten sich »Ableger«, die schließlich 1910 zur Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung führten. Diese Entwicklung brachte Freud in eine gänzlich neue Situation. Er war jetzt Oberhaupt einer zwar umstrittenen, aber expandierenden Gruppe von engagierten und ambitionierten Wissenschaftlern und Therapeuten. Dies verstärkte die Hoffnung, die er schon lange hatte: dass die Psychoanalyse die Welt ändern würde (was sie auch tat). Er sah sie als eine Wissenschaft, die die Aufklärung mit neuen Mitteln fortsetzt und damit auf ein neues Niveau hebt. Sie war für ihn deshalb mehr als »nur« eine Theorie und eine Therapie: Er sah die Psychoanalyse als »Bewegung«. Um aber etwas bewegen zu können, musste ihre wissenschaftliche und institutionelle Basis verfestigt und auf Dauer gestellt werden. Freud war jetzt über Fünfzig und sah sich in der Pflicht, die Zukunft der Psychoanalyse zu bahnen und zu sichern. Vor diesem Hintergrund kam es zum dritten und letzten Mal in seinem Leben zu einer intensiven, Persönliches und Sachliches auf ungewöhnliche Weise verbindenden Beziehung zu einem anderen Mann: zu Carl Gustav Jung (1875–1961). Jung war Mediziner und arbeitete als Oberarzt an der von Eugen Bleuler geleiteten psychiatrischen Heilanstalt »Burghölzli« in Zürich. Er hatte schon früh Freuds Schriften gelesen und seine Anregungen in seine eigene (experimentelle) Forschung eingebaut. Ab 1906 begann ein reger Briefwechsel und bald auch eine schnell intensiv werdende persönliche Beziehung zwischen Freud und Jung. Aus der Anrede »geehrter Herr Kollege« wurde in Freuds Briefen an Jung bald »lieber Freund und Kollege« und dann nur noch »lieber Freund« (um dann gegen Ende wieder zum »lieben Herrn Doktor« zu mutieren); Jungs Anreden entwickelten sich immerhin vom »hochgeehrten Herrn Professor« zum »lieben Herrn Professor« (um zum Schluss wieder zum »sehr geehrten Herrn Professor« zu mutieren). Dazwischen lag eine stürmische Entwicklung, die zwar nie zum vertrauten »Du« führte, aber weit über den Austausch von sachlichen und privaten Informationen hinausging. Zumindest bei Freud hat man den Eindruck, dass er geradezu darauf gewartet hatte, (jemanden wie) Jung kennenzulernen. Dass Jung (wie auch sein Chef Bleuler) mit der Psychoanalyse sympathisierten, war für ihn natürlich sehr erfreulich. Aber während der Kontakt zu Bleuler distanziert blieb, entwickelte sich die Beziehung zu Jung rasant – auch, weil sich Jung seinerseits dem Älteren als gelehriger Adept präsentierte. Jung 101
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war zu diesem Zeitpunkt ein aufstrebender Nachwuchswissenschaftler, der seine Qualifikation und seine Ambitionen bereits demonstriert hatte. Und er war – für Freud ganz wichtig – kein Jude und kein Wiener, stammte also »von außen« und gehörte nicht zum engen Kreis der »Mittwochsgesellschaft«, die Freud zwar sehr schätzte, deren Mitglieder ihm jedoch mit ihrer Erratik wohl auch auf die Nerven gegangen sind. Im ständigen Kontakt waren die Beziehungen möglicherweise schwieriger und dadurch schwerer, etwa das Talent von Adler anzuerkennen. Auf jeden Fall konnte Freud Jung von Anfang an ungestörter idealisieren – obwohl von Anfang unverkennbar war, dass Jungs Haltung zur Psychoanalyse nicht die war, die Freud sich wünschte und vorstellte. Betrachtet man nur die themenbezogene Seite der Freud-Jung-Beziehung, so zeigt sich nämlich, dass Jung zwar immer wieder die große psychologische Leistung von Freud anerkannte und hervorhob. Jung schwärmte vom »unerschöpflichen Gewinn«, den sie bringen würde (Freud & Jung, 2000, S. 4), und konstatierte: »Wer Ihre Wissenschaft kennt, hat […] vom Baume des Paradieses gegessen und ist sehend geworden« (ebd., S. 24). Aber in Bezug auf bestimmte Kernannahmen blieb er deutlich reserviert. Schon in den ersten Briefen wird dies deutlich, was auch beiden klar ist. Jung kommentiert die Übersendung einer eigenen Publikation damit, dass der »hochverehrte Herr Professor vielleicht nicht ganz einverstanden« (ebd., S. 3) mit seinen Anschauungen sei, was Freud umgehend bestätigt, aber klein schreibt: »Daß Sie die Schätzung für meine Psychologie nicht voll auf meine Anschauungen in der Hysterie- und Sexualitätsfrage ausdehnen, habe ich nach Ihren Schriften längst vermutet, verzichte aber nicht auf die Erwartung, Sie würden mir im Laufe der Jahre viel näher kommen, als Sie es jetzt für möglich halten« (ebd., S. 4).
In gewisser Weise tritt dies auch ein. Zumindest zeitweise zeigt sich Jung als begeisterter Anhänger und auch als gelehriger Schüler. Immer wieder präsentiert er Freud Erfahrungen und theoretische Überlegungen, die Freud stets sehr freundlich, aber nicht unkritisch kommentiert. Und immer wieder zelebrieren beide die grundlegende Übereinstimmung und die Vorstellung, jeder auf seine Weise an einem großartigen Projekt zu arbeiten. Jung berichtet, dass er auf Kongressen Freuds Lehre gegen ignorante Fachvertreter verteidigt – und Freud mahnt ihn, bei seinen Aktivitäten doch die 102
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ganze Psychoanalyse zu vertreten (und nicht aus Opportunismus nur die vermeintlich harmlosen Theoreme zu präsentieren). Jung schreibt dazu am 4. Dezember 1906: »Wenn ich mir gewiße Einschränkungen zu machen erlaube, so geschah es nicht etwa, um Kritik an Ihrer Lehre zu üben, sondern aus Politik. […] Wie Sie richtig sagen, lasse ich den Gegnern den Rückzug offen, mit der bewußten Absicht, die Revokationen nicht allzu sehr zu erschweren« (ebd., S. 8). Freud äußert sich am 1. Januar 1907 zu diesem Thema: »Wenn ich versuchen darf, Sie zu beeinflußen, so möchte ich Ihnen nahelegen, dem Widerstand, dem Sie wie ich begegnen, keine besondere Bedeutung und nicht so viel Wirkung auf ihre Publikationen einzuräumen. […] Ich bitte Sie, geben Sie aus pädagogischer Schonung und Liebenswürdigkeit nichts Wesentliches preis und entfernen Sie sich nicht zu weit von mir, wenn Sie in Wirklichkeit mir so nahestehen« (ebd., S. 13).
Trotz dieser Unterschiede verdichtete sich der Kontakt zunächst. Dazu trug vermutlich auch bei, dass die Beziehung auch eine deutliche therapeutische Seite hatte. Denn der fachliche Diskurs enthielt immer wieder sehr persönliche Themen, die Jung präsentierte. Er schickt Freud eine Traumanalyse, die Freud kommentiert und korrigiert. Im nächsten Brief schreibt Jung: »Der Träumer ist mir genau bekannt: ich bin es selber« (ebd., S. 11). Und er schickt weitere Erklärungen, die noch tiefer ins Persönliche gehen – zumindest ein Stück weit. Im Nachhinein ist jedoch klar, dass Jung sich nicht immer an die Wahrheit, zumindest nicht an die ganze Wahrheit hielt und gelegentlich wichtige Aspekte für sich behielt oder auf eine Weise darstellte, die nicht ganz der Realität entsprachen. Trotzdem: Die Mischung aus sachlicher Nähe (und Belehrung) und intensivem paratherapeutischem Diskurs beflügelte die Beziehung und stiftete eine Gemeinsamkeit, die beiden bestätigte, etwas Besonderes zu haben und sich in einer besonderen Situation zu befinden. Die Besonderheit der Situation hing auch damit zusammen, dass bald klar wurde, worauf zumindest Freuds Planung hinauslief: Schon bald sprach man von gemeinsamen »Gegnern« (und Jung von »unserer Sache«; ebd., S. 128) und man diskutierte über Strategien, ihre Widerstände zu überwinden. Die Vertraulichkeit der »Strategiediskussionen« brachte es mit sich, dass die Äußerungen oft sehr affektiv sind und häufig auch aus dem Nähkästchen geplaudert wird. Man diskutiert über Vorlie103
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ben und Abneigungen, kommentiert Akteure sehr persönlich. So erfährt man von Jungs Fehde mit seinem Vorgesetzten Bleuler (inklusive ziemlich beleidigender Attributierungen), wir erfahren, dass Freud Ernest Jones – den späteren getreuen Paladin und Biografen – zunächst freudig erwartete, weil er Engländer sympathisch fand, dann aber wenig mit ihm anfangen konnte: »Jones ist gewiß ein sehr interessanter und wertvoller Mensch, aber ich habe gegen ihn ein Gefühl. Beinahe sagte ich, der Rassenfremdheit. Er ist ein Fanatiker und ißt zu wenig. […] Er erinnert mich fast an den hageren Cassius. Er leugnet alle Heredität; ich bin ihm schon ein Reaktionär« (ebd., S. 71).
Auch Karl Abraham (zu der Zeit mit Jung im »Burghölzli« in einen Konkurrenzkampf verwickelt und später einer seiner getreuen Anhänger) kommt bei Freud zunächst nicht gut weg: »[…] etwas Gehemmtes, nichts Fortreißendes. Im wichtigen Moment findet er nicht das richtige Wort […]« (ebd., S. 51). Das verdeutlicht auch, was Freud an Jung schätzte: seine expressive, überschäumende Art, seinen Schwung, seine Begeisterungsfähigkeit. Freud schreibt an Jung, »[…] daß Sie der Tauglichere für die Propaganda sind, denn ich habe immer gefunden, daß etwas an meiner Person, meinen Worten und Ideen die Menschen wie fremd abstößt, während Ihnen die Herzen offenstehen« (ebd., S. 33). Man trifft sich, kommt sich noch näher, und nach einem Treffen in Zürich beginnt der nächste Brief von Freud mit: »Lieber Freund und Erbe!« (ebd., S. 85) Er sieht in Jung tatsächlich (s)einen Nachfolger und Erben und beginnt, ihn im internen Umfeld und nach außen in den Vordergrund zu schieben, was Jung auch nicht ungern geschehen ließ. Man kann sich vorstellen, welche große Hoffnungen Freud auf Jung setzte. Er schrieb wenig später: »So kommen wir doch unzweifelhaft vorwärts, und Sie werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der Psychiatrie, das ich nur aus der Ferne erschauen darf, in Besitz nehmen« (ebd., S. 93). Moses, mit dem sich Freud häufig beschäftigte (und verglich), war bekanntlich die Figur, die der Legende nach die Juden aus der Gefangenschaft führte und ihnen die Gesetze brachte – Joshua war in der Legende sein Nachfolger, der sie ins gelobte Land führte. Der nächste Besuch von Jung in Wien im Jahr 1909 brachte noch eine Steigerung der gemeinsamen Fantasie, ließ jedoch auch eine Neudefinition 104
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der Beziehung durch Jung erkennen – und brachte ein Thema auf die Tagesordnung, an dem sich ein Grund für den späteren Bruch bereits zeigte. Nach dem Besuch schrieb Jung: »Der letzte Abend bei Ihnen hat mich innerlich glücklichst befreit vom drückenden Gefühl Ihrer Vaterautorität. […] Ich hoffe, nun aller unnötigen Beschwernisse ledig zu sein. Ihre Sache soll und wird blühen, das sagen mir meine Schwangerschaftsphantasien, die Sie zu guter Letzt noch glücklich erwischt haben« (ebd., S. 104).
Man kann dem entnehmen, dass Jung zu diesem Zeitpunkt bereits unter Freuds Größe und Anspruch gelitten hat. Und er scheint seine Lösung vom Abhängigkeitsverhältnis in eine Fantasie verpackt zu haben, die suggeriert, dass jetzt etwas Neues zur Welt kommen kann – eine auslegungsfähige Fantasie. Freud war nicht ganz so glücklich, hielt aber Kurs. Er antwortet: »Es ist bemerkenswert, daß an demselben Abend, an dem ich Sie förmlich als ältesten Sohn adoptiert, Sie zum Nachfolger und Kronprinzen […] salbte, daß gleichzeitig Sie mich der Vaterwürde entkleideten, welche Entkleidung Ihnen ebenso gefallen zu haben scheint wie mir im Gegenteil die Einkleidung Ihrer Person« (ebd., S. 105).
Jung war also jetzt Kronprinz (aber sah sich wohl eher in die Rolle eines gleichberechtigten Mitregenten erhoben). Freud hatte aber kaum vor, zur Gänze abzudanken. Dazu gab es aus seiner Sicht (noch) zu viel in Jungs Denken, womit er sich nicht anfreunden konnte. Dies betraf nicht nur dessen Skepsis in Bezug auf das theoretische Verständnis von Sexualität, welches Freud vertrat, sondern auch noch einen weiteren markanten Punkt: Jung hatte schon immer ein intensives Interesse an Transzendentalität in allen Formen gezeigt – bis hin zu reger Beschäftigung mit Okkultismus. Schon früh hatte er Freud geschrieben: »Ich bin wegen meiner Verdienste als Okkultist ›Honorary Fellow ofthe American Society for Psychical Research‹ geworden. In dieser Eigenschaft habe ich mich in letzter Zeit wieder etwas mehr mit Spuk abgegeben. Ihre Entdeckungen bewähren sich auch hier aufs glänzendste. Wie denken Sie über dieses Gebiet?« (ebd., S. 45). 105
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Freuds Antwort ist nicht veröffentlicht. Vermutlich war er wenig begeistert, stellte seine diesbezüglichen Vorbehalte jedoch zurück. Während Jungs Besuch in Wien kam das Thema zur Sprache. In seinen Erinnerungen ( Jung, 1962, S. 159f.) berichtet Jung, dass während ihrer Diskussion über Präkognition und Parapsychologie – von Freud als »Unsinn« abgelehnt – aus der Bücherwand ein Knall zu hören war, und Jung sagte voraus, dass es noch mal knallen würde – es knallte tatsächlich. Freud überprüfte nach Jungs Abreise den »Klopfgeisterspuk« und kam zu dem Befund, dass nichts dran sei. »Meine Gläubigkeit oder wenigstens gläubige Bereitwilligkeit schwand mit dem Zauber Ihres persönlichen Hierseins dahin; es ist mir wieder aus irgendwelchen inneren Motiven ganz unwahrscheinlich, daß irgendetwas der Art vorkommen sollte […]« (ebd., S. 105).
Das bringt ihn dazu, erneut mahnende Worte an den Kronprinzen zu richten: »Ich setze wieder die hörnerne Vater-Brille auf und warne den lieben Sohn, kühlen Kopf zu behalten und lieber etwas nicht verstehen zu wollen als dem Verständnis so große Opfer zu bringen, schüttle auch über die Psychosynthese das weise Haupt und denke: Ja, so sind sie, die Jungen, eine rechte Freude macht Ihnen1 doch nur das, wo sie uns nicht mitzunehmen brauchen, wohin wir mit unserem kurzen Atem und müden Beinen nicht nachkommen können« (ebd., S. 105f.).
Trotz der Beschwichtigungsversuche war dies ein ernster Dissens. Schon früher hatte Freud Jung nahegelegt, die Sexualtheorie als unerschütterliches Bollwerk »gegen die schwarze Schlammflut des Okkultismus« zu errichten (ebd., S. 154f.). Jung ließ sich jedoch nicht davon abbringen und hatte auch sonst Kontakte mit Gruppierungen und Vereinen, die aus Freuds Sicht vermutlich eher dubios waren. So schlug Jung vor, die Psychoanalytiker sollten einem neu gegründeten »Internationalen Orden für Ethik und Kultur« beitreten. In seiner Begründung entwickelte er assoziativ seine Vorstellungswelt: 1 Ob diese großgeschriebene »Ihnen« – das wäre eine direkte Adressierung an Jung – im Original steht oder ein Übertragungsfehler ist, war nicht zu ermitteln.
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»Glauben Sie, daß dieser Orden irgend praktischen Nutzen haben könnte? Ist es nicht eine jener […] Koalitionen gegen die Dummheit und das Böse. […] Soll eine Koalition ethisch etwas bedeuten, so darf sie nicht künstlich sein, sondern muß von den tiefen Instinkten der Rasse unterfüttert sein. Also etwa Christian Science, Islam, Buddhismus. Religion kann nur durch Religion ersetzt werden.«
Und weiter: »Ich denke mir für die [Psychoanalyse] eine weit schönere und umfänglichere Aufgabe als ein Einmünden in einen ethischen Orden. Ich denke, man müsse der [Psychoanalyse] noch Zeit lassen, von vielen Zentren aus die Völker zu infiltrieren, bei Intellektuellen den Sinn fürs Symbolische und Mythische wiederzubeleben, den Christum sachte in den weissagenden Gott der Rege, der er war, zurück zu verwandeln, und so jene ekstatischen Triebkräfte des Christentums aufzusaugen, alles zu dem einen Ende, den Kultus und den heiligen Mythos zu dem zu machen, was sie waren, nämlich zum trunkenen Freudenfeste, wo der Mensch in Ethos und Heiligkeit Tier sein darf. Wie unendlich viel Wonne und Wollust liegt doch in unserer Religion bereit, wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt zu werden!«
Und schließlich: »Die [Psychoanalyse] macht mich ›stolz und unzufrieden‹ […]. Ich möchte sie verschwägern mit allem, was je wirksam und lebendig war« (ebd., S. 135f.).
Dies waren Vorstellungen, die überhaupt nichts mehr zu tun hatten mit Freuds Aufklärungsphilosophie. Er reagierte entsprechend distanziert: »In Ihnen stürmt es heute wieder und grollt entfernt zu mir herüber« (ebd., S. 137), und meint zum Thema Religion: »An Ersatz für die Religion denke ich nicht; dies Bedürfnis muß sublimiert werden. Der Orden sollte so wenig eine Religionsgenossenschaft werden wie etwa die freiwillige Feuerwehr!« (ebd.) Das war Anfang 1910. Es ist schwer zu übersehen, dass hier ein massiver Konflikt bereits direkt unter der Oberfläche köchelte. Trotzdem ging es zunächst – wenn auch nicht friktionsfrei – planmäßig weiter. Auf dem »Nürnberger Kongress«, auf dem sich die verstreuten Anhänger der Psychoana107
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lyse trafen, sollte aus den informellen Kontakten eine formale Organisation werden und Jung formell die Führung übernehmen. Dieser Vorschlag führte zu heftigen Konflikten. Vor allem die »Wiener« – die Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, die 1908 gegründet wurde und deren Präsident Freud war – fühlten sich übergangen und protestierten heftig. Erst ein kompliziertes Arrangement ( Jung wird Präsident der Internationalen Vereinigung, Freud tritt als Präsident der Wiener Vereinigung zurück, Adler übernimmt sein Amt, es wird eine neue Zeitschrift gegründet, die von den »Wienern« geleitet wird) konnte die Wogen glätten. Jetzt war Jung also nach außen und innen sichtbar der offizielle »Erbe« von Freud. Bis hierhin hatte Freud Jung immer wieder die Treue gehalten – trotz aller inhaltlicher »Abweichungen« von dem, was für ihn die richtige Lehre war, und trotz aller Schwierigkeiten, die Jungs exzentrische Persönlichkeit für ihn mit sich brachte. Ein berüchtigtes Beispiel dafür ist die »Spielrein«-Affäre. Jung war zwar verheiratet – »in jeder Beziehung glücklich« (ebd., S. 11), wie er Freud schrieb –, aber das hinderte ihn nicht daran, immer wieder mehr oder weniger intensive Beziehungen zu anderen Frauen zu pflegen – und das manchmal gleichzeitig. Das führte später zu einer veritablen, von Jung geforderten und sogar theoretisch begründeten »Dreierbeziehung« zwischen ihm, seiner Frau und seiner Mitarbeiterin Toni Wolff. Schon lange vorher hatte er eine Liebesbeziehung zu seiner Patientin Sabrina Spielrein angefangen und ihr wohl auch mehr versprochen, als er halten konnte oder wollte. Das hielt ihn nicht davon ab, über den »Fall« zu referieren und zu publizieren (wenn auch nicht in vollem Umfang). Sowohl Emma Jung als auch Sabrina Spielrein waren jedoch mit der Situation unzufrieden und setzten Jung unter Druck, sich zu entscheiden. Als die Sache durchsickerte (nicht zuletzt, weil Emma Jung einen anonymen Brief an Spielreins Mutter schrieb, die ihrerseits drohte, Bleuler – Jungs Chef – zu informieren), schrieb er Freud einen Brief, in dem er sich als Opfer seiner Gutmütigkeit darstellte und jede tiefere Verstrickung abstritt: »Ich hielt mich […] für moralisch verpflichtet, ihr meine Freundschaft weitgehend zu vertrauen. […] sie hatte es natürlich planmäßig auf meine Verführung abgesehen, was ich für inopportun hielt. Nun sorgt sie für Rache. Jüngst hat sie über mich das Gerücht ausgestreut, ich werde binnen kurzem mich von meiner Frau scheiden lassen […]. Sie ist […] ein Fall […], den ich gratissime (!) und mit soundsoviel Zentnern Geduld in Dreiteufelsnamen heilen wollte und dazu selbst die Freundschaft mißbrauchte. […] Spielrein 108
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[ist] eine bittere Erfahrung. Keinem von meinem Patienten habe ich dieses Maß an Freundschaft gegeben und von keinem habe ich ähnlichen Schmerz geerntet« (ebd., S. 110f.).
Freud stützte den Freund bedingungslos und verbucht die Affäre als Lernprozess: »Solche Erfahrungen, wenngleich schmerzlich, sind notwendig und schwer zu ersparen. […] Es schadet aber nichts. Es wächst einem so die nötige harte Haut, man wird der ›Gegenübertragung‹ Herr« (ebd., S. 113). Und selbst als Jung ihm in zarten Andeutungen die (immer noch nicht ganze) Wahrheit beichtete, fordert er Spielrein auf, nichts publik werden zu lassen, damit Jung keinen Schaden erleide, und schreibt an Jung: »Sie aber bitte ich, jetzt nicht zu stark in Zerknirschung und Reaktion zu gehen. Denken sie an das schöne Gleichnis von Lassalle von der zersprungenen Eprouvette in der Hand des Chemikers: ›Mit einem leisen Stirnrunzeln über den Widerstand der Materie setzt der Forscher seine Arbeit fort.‹ Kleine Laboratoriumsexplosionen werden bei der Natur des Stoffes, mit dem wir arbeiten, nie zu vermeiden sein« (ebd., S. 134).
Hier zeigt sich Freud als ungewöhnlich kaltschnäuzig, bereit, mit dem Freund und Thronfolger quasi über Leichen zu gehen, wenn es notwendig ist, den Plan einzuhalten. Doch als das Ziel erreicht ist, beginnt die fragile inhaltliche und auch die persönliche Beziehung zwischen beiden zu bröckeln. Der Briefwechsel bleibt lebhaft, aber er verliert ab 1910 an Dynamik, an Intensität, vielleicht an Perspektive. Ab und zu findet man Jung noch mal in der Rolle des Schülers, der noch auf dem Weg ist (»Haben Sie Geduld mit mir«, ebd., S. 153) und Freud versichert ihm, dass alles in Ordnung ist (»Glauben Sie ja nicht, daß ich mit Ihnen die ›Geduld verliere‹; ich weiß keine Anwendung dieser Worte auf unsere Beziehung. Lassen Sie uns in all den Schwierigkeiten, die sich gegen unsere Arbeit erheben, sicher zusammenhalten und hören Sie mich, den Älteren, manchmal gegen Ihre Neigungen an«, ebd.). Aber es kam anders: Als Präsident der Internationalen Vereinigung (und damit als Herausgeber des Zentralblatts) agierte Jung anscheinend manchmal ungeschickt, manchmal auch eigensinnig, sodass Freud sich bald beschwerte und mahnte: »Ich werde alle Ihre Worte in einem ›getreuen und aufrichtigen‹ Herzen bewahren« (ebd., S. 164) – so oder ähnlich fiel dann Jungs Antwort aus. 109
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Und auch der inhaltliche Dissens wurde immer deutlicher und unüberbrückbar. In Jungs Brief vom 18. Januar 1911 finden sich folgende Zeilen: »Immerhin ein bedenkliches Unterfangen, wenn das Ei klüger sein will als die Henne. Schließlich muß aber das, was im Ei steckt, doch den Mut haben auszukriechen« (ebd., S. 171). Genau so kam es. Der Hauptstreitpunkt wurde – neben den fundamentalen Differenzen im Umgang mit Religion, Mystik und Esoterik – die »Libidotheorie«. Noch präsentiert sich Jung als Verfechter der Freud’schen Überzeugungen und verspricht, ihnen treu zu bleiben: »Wir werden auch den Okkultismus zu erobern haben. Es scheint mir, von der Libidotheorie aus. Ich tue mich gegenwärtig in der Astrologie um, deren Kenntnis für das Verständnis der Mythologie unumgänglich erscheint. In diesen dunklen Ländern gibt es wunderseltsame Sachen. Lassen Sie mich bitte ohne Besorgnis in diesen Unendlichkeiten herumschweifen. Ich werde reiche Beute für die Erkenntnis der menschlichen Seele heimbringen. Ich muß mich eine zeitlang an magischen Düften berauschen, um ganz verstehen zu können, was für Geheimnisse das Unbewusste in seinen Abgründen birgt« (ebd., S. 182).
Dieses Zitat zeigt nicht nur Jungs identifizierte Einstellung zu den Themen, sondern auch seinen spezifischen Duktus: Eintauchen in die Dinge, Mitagieren, um dann das Erlebte in theoretische Form zu bringen. Was noch nicht offiziell ist (aber schon durchschimmert), ist, dass Jung mit »Libido« etwas ganz Anderes als Freud meint – eine Art Vitalkraft, die sich universell äußert und deren individuelle Ausformungen tief im »kollektiven Unbewussten« verankert sind. Ohne dass dies deklariert wird, beginnen beide gegeneinander zu arbeiten. Endgültig unübersehbar wird dies mit Jungs Arbeit Wandlungen und Symbole der Libido, die in zwei Teilen im Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen 1911 und 1912 erschien. Schon den ersten Teil nahm Freud sehr reserviert auf (»Manchmal habe ich den Eindruck, als begrenze das Christentum allzu eng den Horizont. Es scheint mir auch gelegentlich mehr über den Dingen als in ihnen zu stecken«, ebd., S. 204) – auf Deutsch: »Sie schreiben von einem identifizierten religiösen Standpunkt aus und argumentieren nicht an der Sache.« Im zweiten Teil kritisiert Jung expressis verbis Freuds Auffassungen und skizziert seine eigene Lehre. Freud antwortet auf seine Weise. Er hatte sich ebenfalls 110
3 Professionelle Freundschaften
schon länger auf seine Weise mit Fragen der Kulturentwicklung beschäftigt und setzt Jungs Vorstellungen einen eigenen ambitionierten Entwurf entgegen: Totem und Tabu. Dieses Buch (es entstand ebenfalls 1912) enthält eine Theorie der Evolution der menschlichen Psyche, die lamarckistisch argumentiert und sich dezidiert gegen einen phylogenetischen Determinismus (wie ihn Jung vertritt) wendet – der Bruch ist definitiv; aus der Gemeinsamkeit ist eine offene Konkurrenz geworden. Was folgt, ist eine schrittweise Distanzierung, die sie quälend zieht. Man bescheinigt sich zwar immer wieder den gegenseitigen Respekt, aber Freud wird immer kritischer und reservierter. Er beschwert sich über Jungs Amtsführung beziehungsweise Nicht-Amtsführung als Präsident, und in seinen Bemerkungen über Jungs Arbeiten dominieren mehr und mehr Zurechtweisungen und Tadel. Jung wehrt sich auf seine Weise. Durch den gesamten Briefwechsel zog sich eine spezifische Asymmetrie: Freud schrieb regelmäßig und sofort; er zeigt sich besorgt, wenn er länger auf eine Antwort warten musste und war geradezu abhängig von Jungs Nachrichten, während Jung längere Pausen einlegte (und sich dann dafür entschuldigte). Die Pausen häufen sich jetzt, die Entschuldigungen von Jung erwecken den Eindruck, dass er mit der Abhängigkeit von Freud leicht sadistisch spielt (»Ich habe Sie wieder warten lassen, da ich meiner schlechten Gewohnheiten noch immer nicht Herr zu werden vermag«, ebd., S. 209 –»Meine Schreibfaulheit ist diesmal eine komplizierte«, ebd., S. 217 – »Ich glaube wohl nicht fehl zu raten, wenn ich annehme, daß Sie mir etwas gram sind um meiner Schreibfaulheit willen«, ebd., S. 219). Freud zieht sich offiziell auf eine nüchterne Geschäftsbeziehung zurück: »Es ist sicher, daß ich ein anspruchsvoller Korrespondent war, und ebenso wenig kann ich ableugnen, daß ich Ihre Briefe mit besonderer Ungeduld erwartet und besonders schnell beantwortet habe. Ihre früheren Signale von mangelnder Bereitwilligkeit habe ich unbeachtet gelassen. Diesmal erschien es mir endlich ernsthafter […]. So habe ich mich denn in die Hand genommen und jenen Libidoüberschwang rasch abgetan. Ich war nicht erfreut, aber doch befriedigt, wie bald dies gelang. Seitdem bin ich anspruchslos und (habe) wenig zu fürchten« (ebd., S. 220).
Die Trennung wird zum dominanten Thema im Briefwechsel. Jung zitiert jetzt Nietzsches Zarathustra: »Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn 111
3 Professionelle Freundschaften
man immer nur Schüler bleibt. […] Nun heiße ich euch, mich zu verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren« (ebd., S. 222). Mit Freuds Psychoanalyse haben seine Texte immer weniger zu tun, sie werden mehr und mehr Darstellungen seiner eigenen Theorie. Seine Vorträge in den USA heißen zwar noch »Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie«, aber Freud erkennt (zu Recht) seine Psychoanalyse darin nicht mehr wieder. Er kehrt in seiner Antwort zur Anrede »Lieber Herr Doktor« zurück und schreibt Jung, dass ihm in dessen Arbeiten »einzelnes vortrefflich gefallen hat – das ganze nicht« (ebd., S. 137). Das Ende kommt schließlich nach einem dramatischen Zwischenfall (nachzulesen bei Jones, 1984a, S. 370, und in Jungs Erinnerungen): Bei einer Krisensitzung der Präsidenten der psychoanalytischen Ortsvereine in München wirft Freud Jung und seinem Assistenten Riklin vor, dass sie Aufsätze über Psychoanalyse veröffentlichten, ohne ihn zu erwähnen. Jung meinte, das sei nicht nötig, weil jedermann wüsste, wer der Begründer der Psychoanalyse sei. Freud steigert sich in seinen Ärger und fällt plötzlich in Ohnmacht. Seine ersten Worte nach dem Erwachen: »Es muß süß sein zu sterben.« Im Briefwechsel bringt Freud seinen »Münchner Zustand« mit einem »Stückchen Neurose« in Verbindung (Freud & Jung, 2000, S. 242f.), was Jung die Gelegenheit gibt, den Spieß umzukehren. Während es vorher immer Freud war, der Jungs Agieren analysierte, analysiert jetzt Jung Freuds Neurose. Es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Austausch von Deutungen. Als Jung (ebd., S. 250) schließlich vom »beträchtlichen Balken, den mein Bruder Freud im Auge trägt« spricht, sich selbst bescheinigt: »Ich bin nämlich gar nicht neurotisch« und Freud vorwirft, er behandle »Schüler wie […] Patienten« (was ein »Missgriff« sei, der an den Spaltungen der Psychoanalyse schuld sei), antwortet Freud: »Ich schlage […] vor, daß wir unsere privaten Beziehungen überhaupt aufgeben. […] Ersparen Sie mir also die angeblichen ›Freundschaftsdienste‹« (ebd., S. 253). Im gleichen Jahr tritt Jung als Redakteur des Jahrbuchs zurück, nach heftigen Auseinandersetzungen bei einem Kongress in München auch als Präsident der Internationalen Vereinigung und verlässt selbige im folgenden Jahr mitsamt der Züricher Ortsgruppe. Die Beziehung von Freud und Jung ist deutlich davon geprägt, dass der eine – inzwischen etabliert und über 50 – sein Lebenswerk befestigen will, während der andere – 21 Jahre jünger – noch auf der Suche nach seinem Thema und seiner Position ist. Freud sieht in dem vielversprechenden 112
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jungen Mann aus Zürich den Hoffnungsträger für seine Psychoanalyse – weil er als Schweizer und Protestant (und nicht als »Wiener Jude«) nach seiner Meinung zumindest von dieser Seite unangreifbar war. Er schätze an Jung auch dessen »einnehmendes Wesen«, seine sprühende Intellektualität, seine Begeisterungsfähigkeit und Überzeugungskraft. Umgekehrt war Freud für Jung (zumindest anfangs) eine Leitfigur, die ihm den Ausbruch aus dem traditionellen Wissenschaftsbetrieb erleichterte und ihm Formate bot, die er letztlich als Steigbügel für sein eigenes Projekt nutzen konnte. Zudem dürfte es ihm gut gefallen haben, schnell als Kronprinz an der Seite des Meisters inthronisiert zu werden. So war die Beziehung von beiden Seiten narzisstisch aufgeladen. Das gab ihr Schwung und Halt – und trübte zugleich die Selbstwahrnehmung. Denn Jung war nie das, was Freud in ihm sehen wollte, und Freud konnte für Jung nur ein »Übergangsobjekt« auf seinem Weg, der in eine ganz andere Richtung führte, sein. Im Nachhinein ist unverkennbar, dass die Differenzen von Anfang an viel größer sind, als beide dies sehen. Freuds geduldige Korrektur von »Abweichungen« und Fehlern von Jung und Jungs Bitten um Vergebung für »Fehltritte« und »Besserungs«-Versprechen suggerierten eine Gemeinsamkeit, die keine war. Dass beide – vor allem Freud – sich so täuschten, zeigt, wie sehr auch hier der Wunsch Vater des Gefühls war und wie und was für starke Fehleinschätzungen eine narzisstische Kollusion zur Folge haben kann. Die Beziehung zu Jung war die letzte exklusive persönliche Beziehung, die Freuds professionellen Weg prägte. Es ist sicher kein Zufall, dass sie von einer ganz anderen Konstruktion abgelöst wurde. Angesichts der Krise in und zwischen den Ortsvereinen hatte Jones 1912 zusammen mit Sándor Ferenczi – der Freud persönlich nahestand, in dem Freud jedoch nie (und das wegen Ferenczis Impulsivität aus guten Gründen) einen Nachfolger sah, sodass seine Beziehung zu ihm dadurch nicht belastet war – die Idee entwickelt, ein »geheimes Komitee« zu gründen. Es sollte eine Art »Personenschutz« für Freud sein und ihn bei der weiteren Entwicklung der Psychoanalyse entlasten und unterstützen. Zu dieser Zeit war der Bruch mit Adler nach langem Streit vollzogen, und der Bruch mit Jung war absehbar. Freud sah damit offenbar die herkömmlichen Mittel der Stabilisierung seiner »Bewegung« gescheitert und setzte jetzt seine Hoffnungen trotz leiser Skepsis auf dieses Komitee. Er schrieb an Jones: »Ich weiß, daß in diesem Projekt auch ein Element von knabenhafter Romantik liegt, aber es läßt sich vielleicht realitätsgerecht machen. […] Ich 113
3 Professionelle Freundschaften
möchte sagen, es würde mir das Leben und das Sterben leichter machen, wenn ich wüßte, daß eine solche Gemeinschaft zum Schutz meiner Schöpfung existiert« ( Jones, 1984b, S. 187).
Das Komitee, das sich aus Jones und Ferenczi, Sachs, Rank, Abraham und Eitingon zusammensetzte, spielte in den folgenden 15 Jahren tatsächlich eine bedeutende Rolle – aber der Bund der Getreuen zerbrach schließlich. Rank, lange Jahre Sekretär der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, wandte sich nach der Veröffentlichung von Das Trauma der Geburt (1924) von Freud ab und ging eigene Wege (die ihn in die USA führten); Ferenczi experimentierte in den 1920er Jahren mehr und mehr mit Formen der Therapie, die Freud ablehnte (im Nachruf schrieb Freud, »daß uns der Freund langsam entglitt«, Freud, 1933c, S. 269; Abraham starb früh. Sachs und Eitingon blieben eher am Rand – und am Ende war es nur noch Jones, der Freud mit Rat und Tat treu ergeben blieb). Das Komitee war in gewisser Weise die logische Konsequenz aus dem Scheitern der vorausgehenden persönlichen Beziehungen, die für Freud ins Zentrum seiner beruflichen Hoffnungen gerieten und scheiterten. Es war auch ein Abschluss (s)einer Geschichte von gemischten Beziehungen, von der Amalgamierung persönlicher und beruflicher Beziehungen. In der Beziehung zu Breuer war Freud noch selbst ein Suchender, der sich an einen väterlichen Freund anlehnen wollte und konnte, dessen Scheu, etwas Neues zu versuchen, ihn jedoch enttäuschte und verbitterte. In der Beziehung zu Fließ hatte Freud schon etwas in der Hand (oder im Kopf ), aber es war noch unklar, was wie daraus werden würde. Er suchte ein exklusives Sondermilieu, in dem er geschützt probieren konnte und dabei unterstützt wurde. Dafür war Fließ, der mit einem Bein fest im Leben, mit dem anderen im Sektiererischen stand, die richtige Figur. In der Beziehung zu Jung war Freud bereits der Schöpfer eines Werkes, das er auf eine sichere Basis stellen wollte – daher die Suche nach einem Nachfolger. Das Komitee schließlich war, nach dem Scheitern des Versuchs einer geregelten und öffentlichen Hofübergabe, der Versuch, durch verdeckte Aktivitäten die Fäden in der Hand zu behalten. Es war zugleich auch eine Rückkehr zu Verschwörungsfantasien, zur Vorstellung, die Widrigkeiten der Verhältnisse mithilfe einer geheimen Vereinigung zu überwinden. Was Freuds – jeweils unterschiedlich akzentuierte – professionell-persönliche Beziehungen auszeichnet, ist nicht zuletzt seine Begeisterungsfähigkeit, vielleicht auch die Fähigkeit, im Zweifelsfall die Gemeinsamkeit 114
3 Professionelle Freundschaften
über die Differenz zu stellen (auch wenn dies oft genug nahe an eine Verleugnung heranreicht). Freud ist ein hingebungsvoller Freund, ein Freund, dessen narzisstische Übertragung die Persönlichkeit seiner Partner ein Stück weit auch so werden lässt, wie er sie braucht (wenn auch immer nur partiell und vorübergehend). Selbst Jung wird ihm streckenweise zum Quell von Anregungen, und er bringt ihn dazu, sich ein Stück weit in den Dienst einer Sache zu stellen, die eigentlich nicht seine ist. Das ist es auch, was man von Freuds kunstvollen Mischbeziehungen aus funktionaler Sicht sagen kann: Auch wenn sie mehr oder weniger schmerzvoll scheitern, auch wenn sie von Anfang widersprüchlich waren und von Freud falsch eingeschätzt wurden – die kontrafaktische Überschätzung von persönlichen Gemeinsamkeiten und die darauf aufbauende Überschätzung fachlicher Nähe bringt sein Lebenswerk voran. Vielleicht braucht Arbeit mit so hohem Engagement und solcher Exzentrik einen solchen Einsatz der eigenen Psyche. Insofern hat die psychoanalytische Einsicht, dass die Partnerwahl in gewisser Weise ein Symptom ist, noch eine andere, eine funktionale Seite – Breuer, Fließ und Jung haben auf ihre Weise zur Entwicklung der Psychoanalyse beigetragen. Freud hat sozusagen auch in dieser Hinsicht keinen Einsatz und kein Risiko gescheut und buchstäblich Leib und Seele für sein Werk eingesetzt.
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Psychoanalytische Sozialpsychologie
4 Das »Unbehagen in der Kultur« und die moderne Ökonomie
Freuds Unbehagen in der Kultur Freuds Unbehagen in der Kultur ist eines der letzten kulturtheoretischen Schriften von Freud. Ernest Jones, sein getreuer Schüler, schrieb darüber: »Es ist leichter, diese Schrift zu lesen, als sie zu resümieren. In leichtem Unterhaltungston lässt Freud seine Gedanken in verschiedene Richtungen schweifen, Perlen der Weisheit streuend, und wenn die Betrachtungen auch nicht sehr Originelles bringen, so sind sie doch in seinem unnachahmlichen Stil formuliert« (1984c, S. 396).
Zumindest in deutscher Sprache klingen diese Worte sehr zwiespältig. Jones konnte, so scheint es, mit Freuds großflächigem Versuch der Erklärung der Funktionsweise und der Aporien von Kultur wenig anfangen. In einem Punkt hatte Jones sicher recht: Der Text enthält in der Tat wenig Neues, Freud hatte die meisten seiner Argumente bereits lange vorher entwickelt. Die grundlegenden Vorstellungen über die Funktionsweise von »Kultur« stammen bereits aus dem Jahr 1908. Schon im Aufsatz »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität« findet sich das »Dampfmaschinen«-Modell von Kultur. Es enthält zwei Komponenten: die Repression (»Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut. Jeder einzelne hat ein Stück seines Besitzes, seiner Machtvollkommenheit, der aggressiven und vindikativen Neigungen seiner Persönlichkeit abgetreten; aus diesen Beiträgen ist der gemeinsame Kulturbesitz an materiellen und ideellen Gütern entstanden«, Freud, 1908d, S. 149) und die Transformierbarkeit (»Der Sexualtrieb […] stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, 119
4 Das »Unbehagen in der Kultur« und die moderne Ökonomie
und dies […] infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel zu verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität zu verlieren«, ebd., S. 150). Was sich auch schon findet, ist die Idee einer kulturellen Evolution, die dann in Totem und Tabu auf den Ödipuskomplex zentriert wird. Schließlich verwendet Freud auch die grundlegende Figur seiner Kulturkritik: Das kulturpsychologische Kosten-Nutzen-Kalkül, hinter dem die Vorstellung einer optimalen kulturellen Balance steht. Diese kulturelle Balance ist allerdings bereits in dieser Schrift weder ein sich von selbst einstellendes Niveau noch eine restlos aufgehende Gleichung – er diskutiert ausführlich die Möglichkeiten von Fehlentwicklungen und Scheitern sowie die Labilität der Balance. Dieses Exposé wird in späteren Schriften nur noch variiert und auf die Neuerungen der psychoanalytischen Theorie umgestellt; in seinen Grundzügen behält Freud es bei. Insofern ist das Freud’sche Spätwerk in seiner Anlage keineswegs konservativer als seine frühe Kulturkritik. Dies zeigt sich schon daran, dass der nur kurze Zeit vor dem Unbehagen erschiene Text Die Zukunft einer Illusion einen Freud zeigt, der im Kampf gegen einen alten Gegner – die Religion – noch voller Angriffslust ist, der der Kultur Fortschritt zutraut und sich energisch für dessen Beschleunigung einsetzt. Was sich im Unbehagen zeigt, ist nur die andere Seite des »pessimistischen Optimismus«, der von Anfang Freuds kulturtheoretisches Denken prägt: Hier geht es um die Frage, ob eine kulturelle Balance überhaupt gelingen kann – also um die strukturelle Ambivalenz von Kultur. Es steht außer Frage, dass es die Zeitumstände waren, die Freud diese Perspektive nahegelegt haben. Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges und die fatale Dynamik der Nachkriegszeit in Mitteleuropa (einschließlich der Vorboten des kommenden Faschismus) mussten berechtigte Zweifel am Bestand dessen, was für Freud »Kultur« war, wecken. Was verstand Freud eigentlich unter »Kultur«? Im Unbehagen definiert er Kultur dreifach: »Als kulturell anerkennen wir alle Tätigkeiten und Werte, die dem Menschen nützen, indem sie ihm die Erde dienstbar machen, ihn gegen die Gewalt der Naturkräfte schützen u. dgl.« (1930a [1929], S. 449) Neben der Technik stehen kognitive und ästhetische Leistungen (»Durch keinen anderen Zug vermeinen wir aber die Kultur besser zu kennzeichnen als durch die Schätzung und Pflege der höheren psychischen Tätigkeiten, der intellektuellen, wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen, der führenden Rolle, welche den Ideen im Leben der Menschen eingeräumt wird«, 120
Freuds Unbehagen in der Kultur
ebd., S. 453). Dazu kommt für Freud die Sozialstruktur: »Als letzten, gewiß nicht unwichtigsten Charakterzug einer Kultur haben wir zu würdigen, in welcher Weise die Beziehungen der Menschen zueinander, die sozialen Beziehungen, geregelt sind« (ebd., S. 454). »Kultur« ist für Freud also eine (positive) Leistungsbilanz. Sie ist der Inbegriff und Parameter von Humanität, also wesentlich normativ bestimmt. Dieses Kulturkonzept hat dogmengeschichtlich seine Wurzeln in der Aufklärung und in seiner Formulierung eine enge Beziehung zum bildungsbürgerlichen Weltbild des späten 19. Jahrhunderts. Eine solche spätaufklärerische Position ist zwangsläufig skeptischer als die der frühen Aufklärung; sie ist zugleich stärker gebunden an das lebensweltliche Konzept einer bürgerlichen Leistungselite. Freud hat dies selbst skizziert, als es in die Krise geriet. In »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (1915b) umreißt er den Erwartungshorizont des Weltbildes und spricht dabei von den »großen weltbeherrschenden Nationen weißer Rasse, denen die Führung des Menschengeschlechts zugefallen ist, die man mit der Pflege umspannender Interessen beschäftigt wusste, deren Schöpfungen die technischen Fortschritte in der Beherrschung der Natur wie die künstlerischen und wissenschaftlichen Kulturwerte sind« (ebd., S. 325f.), und davon, dass sie »hohe sittliche Normen für den einzelnen aufgestellt« hätten. Es ist dies also eine einheitliche Welt der Wissenschaft, Kunst und Ästhetik. In dieser Welt hatte sich der »Kulturweltbürger« eingerichtet: »Wen […] die Not des Lebens nicht ständig an die nämliche Stelle bannte, der konnte sich aus allen Vorzügen und Reizen der Kulturländer ein neues größeres Vaterland zusammensetzen. […] Dies neue Vaterland war für ihn auch ein Museum, erfüllt mit allen Schätzen, welche die Künstler der Kulturmenschheit seit vielen Jahrhunderten geschaffen und hinterlassen hatte« (ebd., S. 326).
Diese »Kulturweltbürgertum« – inklusive der damit verbundenen Moral – hatte Freud stets als selbstverständlich betrachtet. Freud spricht im Text davon, dass alle diese Erwartungen durch den Ersten Weltkrieg bitter enttäuscht wurden. Diese Enttäuschung muss in einem weiteren Zusammenhang interpretiert werden. Was Freud registriert, ist tatsächlich der Untergang einer Welt – der »Welt von gestern« (wie Stefan Zweig dies ausdrückte). Der Weltkrieg hatte in Europa einen katastrophalen Modernisierungsschub zur Folge. In kurzer Zeit brach die 121
4 Das »Unbehagen in der Kultur« und die moderne Ökonomie
Vorkriegsordnung komplett zusammen: Monarchien, traditionelle Sozialordnungen und die gesamte bürgerliche Lebenswelt zerfielen in einer unkontrollierten und katastrophalen Entwicklung. Dadurch wurden zugleich gesellschaftliche Modernisierungstendenzen erheblich beschleunigt. Für Freud bedeutete dies vor allem: die Welt, in der er seine grundlegenden Sozialerfahrungen gemacht hatte, in der er seine Orientierungen entwickelt hatte und auf die er sich in seinem Denken bezog, existierte nicht mehr. Das Bildungsbürgertum, der eigentliche Träger und Adressat seines Kulturbegriffs, war weitgehend verschwunden; die Selbstverständlichkeit der Moral war gebrochen. Für die nachfolgenden Generationen mussten seine Überlegungen – die Hypostasierung eines »Kulturweltbürgers« beispielsweise – daher in Form und Inhalt fremd klingen. Dieser abrupte Modernisierungsschub hatte noch eine weitere Seite: Freuds kulturtheoretisches Exposé hatte sich – im Gegensatz zu seinen klinischen und metapsychologischen Vorstellungen, an denen er jahrelang tagtäglich arbeitete – kaum weiterentwickelt. Anders gesagt: Freud blieb nicht nur ein Dilettant auf dem Gebiet der Kulturtheorie, er operierte auch weiterhin mit den psychosozialen Kalkülen, die er in seiner Frühzeit entwickelt beziehungsweise übernommen hatte. In der »Endzeit« der alten Sozialordnung war Freud damit auf der Höhe seiner Zeit gewesen: Es gab noch keine institutionalisierten Sozialwissenschaften und daher auch keine professionellen Theorien, sodass der bildungsbürgerliche Diskurs mit seiner amateurhaften Beschäftigung mit »kulturellen« Themen die fortschrittlichste Form der Thematisierung war. Dass Freud strukturell amateurhaft argumentierte und dabei (wie er an anderer Stelle einmal sagte) mit »einigen wenigen psychologischen Formeln« arbeitete, war unter diesen Umständen keine Besonderheit und der einzig gangbare Weg, psychoanalytische Perspektiven zur Geltung zu bringen. Naturgemäß waren diese selbst noch unausgegoren. Freud standen also nur wenige und vergleichsweise undifferenzierte Mittel der Argumentation zur Verfügung. Entsprechend waren seine Vorstellungen zwar konzeptuell revolutionär, in der Ausführung jedoch unzulänglich. Die Mängel in der Theoriestruktur und die Restriktionen des Empirie-Bezugs führten dazu, dass die verwendeten Modelle sehr vereinfachten, dass die Verbindung der verschiedenen Theorieelemente unterentwickelt blieb, dass den verwendeten Argumenten zu viel Beweislast aufgebürdet wurde – ganz abgesehen davon, dass seine Vorstellungen von Moral, Familie und so weiter nicht ganz so selbstverständlich waren, wie er dies annahm. 122
Das Thema Ökonomie in Freuds Kulturtheorie
Freuds »Kulturtheorie« war deshalb zwangsläufig ein Unternehmen, welches ihrem Thema in vieler Hinsicht nicht gerecht werden konnte. Dies wurde mit der zunehmenden Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften deutlicher. Während also seine Psychologie und klinische Praxis nach wie vor revolutionär waren, wirkten seine kulturtheoretischen Versuche in der Nachkriegszeit vergleichsweise dilettantisch. Freuds an Hobbes und das frühe Naturrecht erinnernden anthropologischen und naturrechtlichen Grundannahmen, seine Vorstellungen einer »richtigen Ordnung«, sein universalistischer und rationalistischer Kulturbegriff, die unvermittelte Gegenüberstellung beziehungsweise Verbindung von »Kultur« und »Mensch« sowie die Tendenz zu Ontologie und psychologischem Reduktionismus konnten den Ansprüchen einer Theorie, die auf der Höhe der Zeit war, nicht mehr genügen.
Das Thema Ökonomie in Freuds Kulturtheorie Es ist symptomatisch, dass »Ökonomie« in Freuds Kulturtheorie als eigener Topos kaum vorkommt. Genauer gesagt: Sie kommt vor allen in Form von Arbeit vor – Kultur basiert auf Triebverzicht und dem Zwang zur Arbeit (1927c, S. 331). Ökonomie ist nur die Organisationsform von Arbeit. Sie hat – wie andere Einrichtungen – zweckrational zu sein. Dazu gehört auch eine vernünftige und angemessene Verteilung von Gütern und Einkommen. Hier sah er durchaus Verbesserungsmöglichkeiten.1 In Bezug auf den Zwang zur Arbeit zeigte Freud sich skeptischer (er konstatierte »eine weit verbreitete Eigenschaft der Menschen […] nämlich, dass sie spontan nicht arbeitslustig sind«, ebd., und deshalb zur Aufrechterhaltung der Kultur ein gewisser Zwang zur Arbeit erforderlich bleiben werde). Er selbst arbeitete gern – zumindest seine wissenschaftliche Arbeit diente ihm als Lebenssinn und Antidepressivum. Seine therapeutische 1 In diesem Zusammenhang äußert Freud pointiert Sozialkritik: »Wenn […] eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, daß diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln […]. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient« (1927c, S. 333).
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4 Das »Unbehagen in der Kultur« und die moderne Ökonomie
Tätigkeit sah er dagegen als ärztliche Dienstleistung, für die ein angemessenes Honorar zu zahlen war, weil der Arzt etwas verdienen will, aber auch, weil der Patient sonst nicht genügend diszipliniert ist. Sein eigenes Interesse am Honorar war bestimmt von der Vorstellung eines standesgemäßen Ein- und Auskommens. Gelderwerb war für ihn ein unvermeidliches Übel, Geld immer nur Mittel zum Zweck. Von daher war ihm die Welt der Wirtschaft fremd; Plutokraten hatten in seiner Vorstellung einer Meritokratie keinen Platz. Im Grunde orientierte er sich an einem geregelten, gewissermaßen vorindustriellen Modell von Arbeit und Einkommen – Arbeiten mit Geld erschien ihm nicht als seriöse Tätigkeit. (Auch) in dieser Hinsicht zeigte sich Freud als Exponent einer bildungsbürgerlichen Lebensphilosophie – ohne inneren Bezug zur modernen Ökonomie. Von daher sah er auch die Beschäftigung mit dem Thema im Rahmen der Kulturtheorie mit Skepsis. Der ökonomisch orientierten Geschichtsphilosophie von Marx hält er eine Art von »psychologischem Materialismus« entgegen: »Die sozialen Unterschiede […] waren ursprünglich Stammes- oder Rassenunterschiede. Psychologische Faktoren, wie das Ausmaß der konstitutionellen Aggressionslust, aber auch die Festigkeit der Organisation der Horde, und materielle, wie der Besitz der besseren Waffen, entschieden den Sieg. Im Zusammenleben auf demselben Boden wurden die Sieger die Herren, die Besiegten die Sklaven. […] Der Einfluß [ist] unverkennbar, den die fortschreitende Naturbeherrschung auf die sozialen Beziehungen der Menschen übt, indem sie die neugewonnenen Machtmittel immer auch in den Dienst ihrer Aggressionen stellen und gegeneinander verwenden« (Freud, 1933a [1932], S. 192).
Dass Ökonomie eine Rolle spielt, erkennt Freud an. »Aber man kann nicht annehmen, daß die ökonomischen Motive die einzigen sind, die das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft bestimmen. Schon die unzweifelbare Tatsache, daß verschiedene Personen, Rassen, Völker unter den nämlichen Wirtschaftsbedingungen sich verschieden benehmen, schließt die Alleinherrschaft der ökonomischen Momente aus. Man versteht überhaupt nicht, wie man psychologische Faktoren übergehen kann, wo es sich um die Reaktion lebender Men124
Das Thema Ökonomie in Freuds Kulturtheorie
schenwesen handelt, denn nicht nur daß solche bereits an der Herstellung jener ökonomischen Verhältnisse beteiligt waren, auch unter deren Herrschaft können Menschen nicht anders als ihre ursprünglichen Triebregungen ins Spiel bringen, ihren Selbsterhaltungstrieb, ihre Aggressionslust, ihr Liebesbedürfnis, ihren Drang nach Lusterwerb und Unlustvermeidung« (ebd., S. 193f.).
Deutlich wird, dass Freud hier nicht nur die Ökonomie, sondern auch soziale Wirklichkeit als Derivat und abhängige Variable sieht. Sie sind für ihn immer nur Verhaltensformen von Individuen. Daher auch seine conclusio: »Auch die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psychologie. Streng genommen gibt es ja nur zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde« (ebd., S. 194). Entsprechend ergibt es für ihn wenig Sinn, sie auf einer allgemeinen, kulturtheoretischen Ebene als zentrale Themen aufzuführen. Mit dieser Abwertung ökonomischer und sozialer Faktoren gehen die spezifischen Verwendungen dessen einher, was er unter ökonomischem Denken versteht, und seine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Medium moderner Ökonomie: dem Geld. Die begriffliche Verwendung von »Ökonomie« findet sich in seinen »metapsychologischen« Überlegungen. Die Metapsychologie war Freuds Versuch, eine allgemeine Logik psychischer Prozesse zu begründen. Was er bereits im 7. Kapitel der Traumdeutung begann, entwickelte sich schließlich zur Vorstellung einer »dreidimensionalen« Perspektive: »Ich schlage vor, daß es eine metapsychologische Darstellung genannt werden soll, wenn es uns gelingt, einen psychischen Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomischen Beziehungen zu beschreiben« (1915e, S. 281). Vordergründig bedient sich Freud bei der »ökonomischen« Betrachtung der Sprache der klassischen Mechanik: Er argumentiert in (Energie-) Quanten, die verteilt und verwandelt werden, und aus denen sich eine Art Kräfte-Parallelogramm ergibt (obwohl er ironischerweise hier dem rationalistischen Ansatz der modernen Ökonomie sehr nahekommt). Er nennt das Ganze jedoch nicht »physikalisch«, sondern »ökonomisch«. Das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass Freud realiter kein physikalistisches Erklärungsprogramm verfolgt. Er sieht die Aufgabe der »ökonomischen« Betrachtung darin, »die Schicksale der Erregungsgrößen […] [zu] verfolgen und eine wenigstens relative Schätzung derselben […] [zu] ge125
4 Das »Unbehagen in der Kultur« und die moderne Ökonomie
winnen […]« (ebd., S. 280). »Schicksal« ist jedoch keine physikalische und auch keine ökonomische Größe. Gemeint ist eigentlich eine »psychoökologische« Perspektive, die neben dem »Motor« und dem Ort des Geschehens die Balance des Prozesses untersucht. Freud lehnt sich also an die Sprache der modernen quantifizierenden Wissenschaften an, er versteht aber unter »Ökonomie« im Grunde den ursprünglichen Wortsinn: (geordnete) »Haushaltsführung« – passend zu seinem persönlichen Ökonomieverständnis. Der Gedanke einer psychoökologischen Perspektive war und ist richtungsweisend und zentral für jede Theorie psychischer Prozesse. Die Art, wie Freud sie formulierte, war jedoch noch unzulänglich. Die Bezeichnung »ökonomisch« wies in eine falsche Richtung. In dogmatisierter Form musste dies dazu führen, dass Theorieform und -bedarf nicht zusammenpassten. Man konnte den Anspruch in dieser Form nicht erfüllen. In der Folge wurde die »Metapsychologie« daher zum Prokrustes-Bett der Theorie, was dann zu den heftigen Attacken bis hin zu ihrer kompletten Ablehnung in den 1960er Jahren führte. Heute ist sie auch eine Art Museumsstück und wartet noch auf ihre Weiterentwicklung. Freuds Geldtheorie war dagegen von Anfang an ein innovativer Beitrag zur psychoanalytischen Theorie und bot einen fast schon zu gut passenden Pfad zur Verbindung von psychischer Dynamik und Sozialverhalten. Freud hatte in seinem Aufsatz »Charakter und Analerotik« die Charaktereigenschaften Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn mit dem Triebschicksal der analen Phase der Libido in Verbindung gebracht und sie entsprechend als sublimierte Analerotik charakterisiert (1908b, S. 205). Im Zentrum dieser Überlegungen standen die unbewusste Gleichung »Geld = Kot« und sich daran anschließende Konnotationen. Auch hier geht es in keiner Weise um Ökonomie, sondern um deren psychodynamische Instrumentalisierung.
Dimensionen der Konzeptualisierung Freud selbst hat also der Ökonomie keine besondere Bedeutung zugemessen und sich auch nicht um eine differenzierte Verbindung von Kulturtheorie und Ökonomie bemüht. Das änderte sich in der nächsten Generation. Zumindest die »Linksfreudianer«, die das Potenzial der Psychoanalyse auch auf gesellschaftliche Prozesse und Konflikte anwenden wollten, 126
Dimensionen der Konzeptualisierung
standen vor der Aufgabe, entsprechende Konzepte zu entwickeln.2 Die Diagnosen der psychoanalytischen Sozialpsychologie versuchen daher von Anfang an, Antworten zu geben auf die Fragen: ➣ Was sind die psychodynamischen Kosten des Lebens in modernisierten Gesellschaften und ➣ welche Rolle spielt dabei die Ökonomie? Bei der Beurteilung der entsprechenden Versuche muss man sich ihres Problemprofils bewusst sein. Sie sind ebenso schwierig wie riskant und bedürfen daher großer methodischer Sorgfalt. Man bewegt sich wegen der Großflächigkeit der Fragestellung und der methodologischen Schwierigkeiten, die Komplexität eines komplexen und heterogenen Geschehens abzubilden, immer am Rand des Noch-Verarbeitbaren und ist stets in Gefahr, (zu) reduktionistisch, monologisch, kausallogisch zu verfahren oder die Dinge ins Normativ-Moralische zu wenden (was ebenfalls eine Vereinfachungsstrategie ist). Man kann also nicht einfach Psyche und Ökonomie verbinden – man muss die verschiedenen Dimensionen und das Prozessieren auf den verschiedenen Ebenen mitbedenken, man muss die Interferenz und Interaktion der Teilprozesse berücksichtigen und man darf nicht in den Fehler verfallen, nur singuläre Aspekte herauszugreifen und sie isoliert zu bewerten.3 In diesem Sinne ist auch nicht möglich, einfach Psyche und Ökonomie in Verbindung zu bringen. Ökonomie ist nicht gleich Ökonomie. Eine systematische Perspektive müsste zunächst einmal die relevanten Formen von Ökonomie unterscheiden, auf die sich Psyche bezieht. Man könnte dabei mit Blick auf die »Evolution« von Ökonomie zunächst idealisiert unterscheiden zwischen 2 Fenichel (1976 [1938/1934]) hat Freuds Anregungen dazu genutzt, das Verhältnis zum Geld in einen weiteren, historischen Zusammenhang zu stellen. Er demonstriert, dass und wie dieses Verhältnis von den sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig ist. Dagegen hat Harsch (1995) denselben Ausgangspunkt zu einer systematischen Ausarbeitung einer weit ausgreifenden »psychoanalytischen Geldtheorie« genutzt. 3 Gerade kritische Texte sind gefährdet. Polemik kann in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen sinnvoll und zur Illustration von Tendenzen sogar notwendig sein. Viele Texte münden jedoch in Anklagen gegen bestimmte Entwicklungen, ohne dass ihre Maßstäbe wirklich transparent sind und ohne die Gesamtdynamik hinreichend einzubetten.
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4 Das »Unbehagen in der Kultur« und die moderne Ökonomie
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Subsistenzwirtschaft, Tauschökonomie, Marktökonomie und Kapitalismus.
Diese Unterscheidung bezeichnet zunächst nur allgemeine logische Unterschiede; sie stellt zugleich eine Art Entwicklungsschema dar, da jede der Formen eine Transzendierung der vorherigen bedeutet. Beides – Logik und »Evolution« der Ökonomie – sind Abstraktionsprodukte. Denn Ökonomie muss selbstverständlich immer im Kontext gesellschaftlicher Strukturen und Entwicklungen gesehen werden, da sie ein gesellschaftliches Subsystem ist. Ökonomie steht im Austausch und im Zusammenhang mit psychischen und sozialen Konfigurationen. Sie spiegelt daher die jeweiligen gesellschaftlichen und psychodynamischen Verhältnisse in ihren Zwängen, Möglichkeiten und Grenzen. Empirisch ergibt sich daraus ein komplexer und heterogener Gesamtprozess, dessen kurzfristige Dynamiken im Rahmen von mittelfristigen Tendenzen und langfristigen Entwicklungen stattfinden. Dieser Gesamtprozess, die Interaktion von Gesamtsystem und Subsystem, das Zusammenspiel ökonomischer, sozialer und psychischer Prozesse ist daher vielfältig: Was sich hier und jetzt abspielt, ist verschieden von dem, was dort und dann passiert. Und ein solcher Gesamtprozess ist keineswegs konfliktfrei, da er unterschiedlichen, unter Umständen widersprüchlichen Imperativen folgt. An der Modellierung dieser Dynamik arbeiten Sozialwissenschaftler seit Generationen. Sie sprengt in gewisser Weise die Möglichkeiten von Theorien. Man muss damit rechnen, dass man mit jedem Zugang, der bestimmte Aspekte erfasst, zugleich auch andere vernachlässigt. Der Versuch einer umfassenden Konzeptualisierung mündet schnell in leeren Abstraktionen oder führt zu einer unüberschaubaren Matrix von möglichen Verbindungen, die methodisch überhaupt nicht mehr kontrollierbar ist. Es hat entsprechend auch wenig Sinn, Präzision über Vollständigkeit möglicher Beziehungen zu erreichen. Auch und gerade ein sozialpsychologischer Blick muss sich daher seiner Möglichkeiten und Grenzen bewusst sein. Man muss diese Komplexität und ihre Folgen deshalb im Auge behalten, damit man weiß, wo – auf welchen Vermittlungsebenen – man sich argumentativ befindet und die Gefahren der Kurzschlüssigkeit, der pars-pro-toto-Interpretation und so weiter zumindest eindämmt. Ich versuche im Folgenden zunächst allge128
Gesellschaftlicher und ökonomischer Wandel
meine Entwicklungstrends und ihre Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung zu skizzieren, um dann auf die besondere Situation der »New Economy« einzugehen.
Gesellschaftlicher und ökonomischer Wandel Ich komme zurück auf die oben verwendeten Unterscheidungen und versuche, sie mit der Entwicklung von Gesellschaften und ihrer Akteure in Verbindung zu bringen. Subsistenzwirtschaft ist auf die Versorgung von Haushalten zentriert. Entsprechend ist sie funktional an den Bedarf und die Möglichkeiten der Einheiten gebunden. Das ist mit Autarkie verbunden; es besteht also kein Austausch zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Einheiten. Dagegen ist Tauschwirtschaft ein Prozess zwischen unterschiedlichen Haushalten. Die singuläre Bedarfslogik wird erweitert durch die des Austauschs, damit eines neuen Niveaus von Arbeitsteilung und entsprechender Möglichkeiten, aber auch Abhängigkeiten, sowie die Notwendigkeit und Möglichkeit von (Tausch-)Kalkülen. Aus psychodynamischer Sicht ist bedeutsam, dass durch den Tausch ein psychisch wie sozial relevanter Beziehungstyp entsteht, der vielfältig verwendbar ist und zum Baustein innerer wie äußerer Realität wird. Marktökonomie bedeutet, dass keine vorhandenen oder überzähligen Objekte getauscht werden, sondern dass für den Tausch produziert wird. Damit entsteht ein professionalisiertes System der Planung und Kontrolle von Produktion und Distribution. Aber auch der Konsum, die Anschaffung und der Verbrauch von Gütern können sich »professionalisieren«. Das bildet sich auch in der Formalisierung der sozialen Positionen (und der entsprechenden Identifikationen) ab. Es entstehen »Händler« und »Kunden« (und damit entsprechende Felder an psychosozialen Ausstattungsmöglichkeiten und Weiterungen). Differenziert wird dadurch auch das Spektrum der tauschbaren und getauschten Produkte, was zumindest indirekt zu einer Veränderung der Versorgung und Ausstattung der Lebenswelt führt. Zugleich werden die Produkte selbst und die Tauschvorgänge zu relevanten, das heißt psychosozial formatierbaren Themen. Traditionelle Gesellschaften schwanken zwischen lokalen Formen von Subsistenzwirtschaft, Tauschwirtschaft und (limitierter) Marktökonomie. Es dominiert weitgehend Primärproduktion; produziert wird mit wenig Technik; Hauptenergiequelle ist menschliche Handarbeit. Das Produkti129
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vitätsniveau ist dabei (gemessen an heutigen Möglichkeiten) niedrig; gearbeitet (und gelebt) wird – im Rahmen einer strikt zentralisierten und hierarchisierten Welt mit fester Traditionsbindung – nach strikten Regeln. Soziale Mobilität ist gering; der soziale Horizont der meisten Menschen ist beschränkt auf Nahweltstrukturen. Unter diesen Umständen vollzieht sich Identitätsbildung in einem restringierten, homogenen, wenig persönlich variierten Sozialisationsmilieu. Die Mittel sind knapp, sodass (auch) in Sozialisation wenig investiert werden kann. Entsprechend sind die Methoden wenig elaboriert. Das gesamte Personal der Nahweltgruppe handelt nach den traditionellen Regeln; die Beziehungen sind kaum bis gar nicht individualisiert. Vater und Mutter sind mächtige soziale Figuren, aber nicht unbedingt persönliche. Kinder sind wichtig als Arbeitskräfte und als Kranken- und Altersversicherung. Sie kamen und gingen in großer Zahl, von den Übrigen verließen viele bereits mit acht Jahren ihre Familie und sahen sie nie wieder. Eine wichtige Konsequenz ist, dass das soziale und persönliche Ich weitgehend identisch sind. Das soziale Ich wird im Wesentlichen zugeschrieben. Mit der sozialen Position wird das soziale Ich fast vollständig bestimmt, Wahlmöglichkeiten fehlen. Von daher lassen sich Sozial- und Individualverhalten weitgehend auf der Grundlage von Status und Normen vorhersagen. Gleichzeitig muss man davon ausgehen, dass es typischerweise frühe Traumatisierungen gibt, dass das Milieu nicht sehr annehmend ist und dass die frühen Introjekte intrusiv und gefährlich sind, die späteren dagegen kaum entwickelt. Handeln, Denken und Fühlen werden von einem oral-analen Syndrom beeinflusst – der Dynamik an der Grenze zwischen Abhängigkeit und Abgrenzung, Angst, Wut und Unterwerfung, Durchlässigkeit und Erstarrung. Das ödipale Niveau wird strukturell erschwert bis verunmöglicht. Dies ist aus Sicht des Sozialsystems funktional: Hierarchisierung und Zentralisierung benötigen eine subjektive Unterwerfungsbereitschaft, die durch Angst, projizierte Wut, Masochismus und ein zerstörtes Ich sehr gefördert wird. Umgekehrt fungiert die Hierarchisierung als (primitiver, aber außerordentlich wirksamer) sozialer Modus der Integration und Ordnung und kann auf diese Weise über weite Strecken stabile Identifikation und Anlehnung, vor allem aber verlässliche Regelung der sozialen Interaktion gewährleisten. Ritualisierung gibt dem Zusammensein von mehreren Personen und dem dauerhaften Zusammenleben Halt und Richtung. 130
Gesellschaftlicher und ökonomischer Wandel
Der Preis, der dafür gezahlt wird, ist – sozial wie psychisch – eine erhebliche Beschränkung der Flexibilität, geringe interne Kontrollmöglichkeiten (psychodynamisch: primitive Abwehr), eine geringe kognitive Autonomie (aber starke Introjektion), die Tendenz zum Agieren von Konflikten. Bezahlen müssen nach dem Gesetz der sozialen Schwerkraft vorrangig die Armen und Außenseiter. Ein Unbehagen dürfte daher nicht unbekannt sein, ein spezielles Leiden an der Ökonomie stammt dabei am ehesten von harter Arbeit, geringem Ertrag und extremer Ungleichheit. Die frühe Neuzeit der europäischen Geschichte hat eine Systemdynamik in Gang gesetzt, in deren Verlauf sich Gesellschaft und Ökonomie radikal veränderten. Ökonomisch ist dieser Prozess vor allem durch das Vordringen des Kapitalismus geprägt. Damit kommt eine andere Logik ins Spiel. Kapitalismus bedeutet, dass Produktion und Distribution von Produkten opportunistisch erfolgen. Es geht nicht mehr um die primären Motive der Ökonomie, sondern um Gewinn: Geld – bis dahin im Wesentlichen ein Tauschmittel – wird zum Kapital, das investiert wird, um am Ende mehr Kapital zu haben. Das hat weitreichende Folgen. Ökonomie wird dadurch tendenziell zu einem eigenständigen sozialen System, dessen Logik von einer spezifischen Art von Zweckrationalität bestimmt ist und dadurch eine neue interne Dynamik (und externe Effekte) hervorbringt. Auch der Markt wird zumindest theoretisch nur noch von der Logik von Angebot und Nachfrage gesteuert, was auch heißt, dass Kunden über Nachfrage das Angebot und damit die Produktion bestimmen.4 Von zentraler Bedeutung ist, dass die Rationalisierung der Ökonomie, die Herauslösung aus externen Bindungen und die Ertragsorientierung im Zusammenwirken mit anderen Modernisierungseffekten (zum Beispiel dem Fortschritten der Technik) zu einer erheblichen Expansion und Differenzierung der Ökonomie und in der Folge zur Ökonomisierung immer größerer Bereiche geführt haben. Ökonomie ist ein komplexes Subsystem, in dem unterschiedliche Teilprozesse auf vielfältige (und krisenanfällige) Weise ineinandergreifen, welches eine extreme Leistungssteigerung zur Folge hat – im Guten wie im Bösen. Von den revolutionären Effekten des Kapitalismus sollen hier nur drei Punkte angesprochen werden. Zunächst führt die kapitalistische Ökonomie dazu, dass die Akteure als Einzelne im System eine Position, genauer: 4 Praktisch sind die Dinge natürlich wesentlich komplizierter. Hier kommt es nur darauf an, die prinzipiell geänderten Bedingungen anzudeuten, die psychosozial von besonderer Relevanz sind.
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in allen Funktionsbereichen Teilpositionen (vor allem als Berufstätige und als Konsumenten) erwerben und »professionalisieren« müssen. In gewisser Weise individualisiert der Kapitalismus das Verhältnis zur Ökonomie (und damit auch die psychische Organisation des Verhältnisses zu ihr). Der zweite Punkt: Der durchrationalisierte ökonomische Prozess schreibt sich in die Produkte und Prozesse ein. Dazu können alle Ressourcen mobilisiert werden – auch Psychodynamik, auch soziale Präferenzen. Das heißt auch, dass Produkte und Prozesse psycho- und soziodynamisch »imprägniert« werden, Konsumobjekte werden beispielsweise mit manifesten und latenten Bedeutungsan- und zumutungen aufgeladen. Die Kehrseite der Reduktion auf Zweckrationalität ist daher die Entstehung einer Welt, die einerseits offen für individuelle Besetzungen, andererseits aufgeladen ist mit synthetischen, heterogenen (und oft unverdaulichen und inkompatiblen) Verführungen, Aufforderungen, Imperativen. Schließlich ist der Kapitalismus akkomodations- und assimilationsfähig, was ihn zu einem Treibmittel, Medium und opportunistischen Begleiter jeder Form von Entwicklung moderner Gesellschaft macht. Kapitalismus ist daher nicht gleich Kapitalismus. Das gilt auch in historischer Perspektive. Es hat einige Jahrhunderte gebraucht, bis er sich in seine heutigen Formen entwickelt hat. Jede dieser Entwicklungsphasen hat ihr eigenes Profil und ist mit jeweils spezifischen Zumutungen und Möglichkeiten verbunden, was sich auch in den darauf beziehenden sozialpsychologischen Studien spiegelt. Mit der zunehmenden Dominanz der bürgerlichen Gesellschaft und der Ausbreitung vor allem des Industriekapitalismus war eine Schwelle überschritten, die dazu führte, dass sich grundsätzlich veränderte Arbeits- und Lebensbedingungen durchsetzten, die weitreichende Auswirkungen auf Identitätsbildung und -balance hatten. Die meisten Interpretationen heben folgende Gesichtspunkte hervor: ➣ Trennung von Arbeit und Lebensorganisation: Während in vorindustriellen Gesellschaften die überwiegende Zahl der Menschen am Arbeitsplatz und in einer »Arbeitsgemeinschaft« lebt, entsteht mit der Fabrik sowohl eine Spezialisierung der Arbeitsplätze als auch der Wohnorte, wobei beide nicht nur räumlich getrennt, sondern auch logisch verschieden sind. ➣ Trennung der Ökonomie von anderen Bereichen der Gesellschaft: Traditionelle Gesellschaften sind zentriert und homogenisiert; in Industriegesellschaften verselbstständigt sich die Ökonomie und entwickelt 132
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eine Eigenlogik, die von externen Faktoren nicht beeinflusst wird und auf sie auch keine Rücksicht mehr nimmt. Technisierung der Arbeit: Zunächst wird das Handwerk in vieler Hinsicht ersetzt durch maschinelle Produktion, dann entstehen Neoprodukte, die nur durch technisierte Produktion möglich sind. Beides erfordert eine systematische Anpassung der Arbeitsleistungen an die Erfordernisse der technisierten Abläufe. Organisation der Arbeit nach zweckrationalen Prinzipien: Moderne Ökonomie basiert auf hochgradig arbeitsteilig organisierten und in ihrem Ablauf zeitlich, sachlich und sozial abgestimmten Formen. Die Erfordernisse der Organisation (Standardisierung, Berechenbarkeit) bedingen die Einhaltung von heteronomen Regeln. Steuerung der Ökonomie nach den Prinzipien von Markt und Kapital: An die Stelle des Prinzips der »Nahrung« (das heißt der standesgemäßen Versorgung) tritt als Leitmotiv das Verwertungsprinzip und das Profitmotiv der kapitalistischen Wirtschaft, welches opportunistisch den Gegebenheiten folgt, die der Markt bietet.
Für die erste Phase des Industriezeitalters galt, dass sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch traditionelle Lebensbedingungen hielten. Empirisch ergab sich vor allem eine neue Klassenstruktur, die nicht mehr (ausschließlich) über Herkunft, sondern über ökonomischen Erfolg (und Misserfolg) definiert war. Ein Großteil der Bevölkerung kam dabei zunächst vom Regen (ländliches Elend) in die Traufe (Elend des städtischen Proletariats). Langfristige strukturelle Effekte sind, bezogen auf die Identitätsentwicklung, vor allem die schärfere Trennung von sozialer und persönlicher Identität, die »Parzellierung« vor allem der sozialen Identität und eine deutliche Verschiebung von zugewiesenen Identitätsmustern zu erworbenen Teilidentitäten, die leistungsabhängig sind, ständig neu bestätigt und – als neue Leistung – individuell integriert werden müssen. Dabei verlangt die Position des abhängig Arbeitenden in hohem Maße Anpassung an heteronome Abläufe, also Selbstdisziplinierung und -abstraktion, während es die persönliche Identität zunehmend erfordert, alle relevanten Themen selbst zu behandeln, kurz- und langfristig Entscheidungen zu treffen, Konflikte autonom zu bearbeiten. Die Klassenverhältnisse und ihre sozialen Auswirkungen, die Dynamik des »Manchester-Kapitalismus« und des Imperialismus, auf die der Erste Weltkrieg und die zum Faschismus tendierende Nachkriegsordnung in Mitteleuropa folgten, waren zunächst 133
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die drängenden Probleme, mit denen sich vor allem die »linksfreudianischen«, gesellschaftskritisch eingestellten Psychoanalytiker beschäftigten. Es war nicht zu übersehen, dass Freuds eigene Versuche für ein umfassendes Verständnis dieser Entwicklung wenig geeignet waren. Seine Kulturtheorie war weder von ihrer Konzeption noch von ihren inhaltlichen Angeboten geeignet, auf die Problemlagen moderner Gesellschaften und ihrer Ökonomie angewandt zu werden. Die »Linksfreudianer« (die wichtigsten sind dabei sicher Bernfeld, Fenichel, Fromm und Reich) versuchten daher – auf unterschiedlichen Wegen und mit wechselndem Erfolg – ein marxistisches Gesellschaftsverständnis mit den psychoanalytischen Perspektiven der Zeit zusammenzubringen. Damit sollte die psychodynamische Blindheit des Marxismus ebenso kuriert werden wie die politisch-ökonomische Indifferenz von Freuds Werk. Daraus ergaben sich vor allem folgende Diagnosen: ➣ Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft beeinträchtigt die menschliche Entwicklung durch materielles und psychosoziales Elend. Identitätsentwicklung und Beziehungsfähigkeit werden durch Deprivation und katastrophale Lebensbedingungen gestört. ➣ Auch die Ersetzung von menschlichen Maßstäben der Arbeit in der traditionellen Wirtschaft durch das Verwertungsprinzip führt zum Entstehen von psychoökologisch destruktiven Milieus. ➣ Die Zerstörung der Nahweltstrukturen kappt die erforderlichen psychosozialen Bindungen. Daraus ergeben sich einerseits Isolationsschäden und Orientierungsdefizite, andererseits eine problematische Form der Individualisierung. Die Entfremdung der Menschen von der Arbeit und von deren Produkten führt zum Verlust stabiler Objektbeziehungen; Arbeit wird entsubstanzialisiert und entwertet, Gegenstände verlieren ihren Gebrauchswert und werden zum Material marktförmiger Verwertungszyklen. Thematisiert wurden also vor allem Repressionsschäden mit Blick auf ihre psychodynamischen Konsequenzen. Materielles und soziales Elend setzen sich qua Unterentwicklung und Verwahrlosung in psychisches Elend um und beeinträchtigen jede Dimension von Beziehungen zur Welt, zu anderen und zu sich selbst. Diese Analysen öffneten tatsächlich neue Perspektiven. So gab es im Marxismus eine starke Tendenz, die Arbeiterklasse zu idealisieren und zu unterstellen, sie müsse quasi aus objektiven Gründen so etwas wie ein welthistorisches, heldenhaftes Bewusstsein ihrer Mission – Ab134
(Post-)Moderne Gesellschaft und »New Economy«
schaffung von Herrschaft, Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft und so weiter – entwickeln. Die intelligenteren der orthodoxen Marxisten trafen zwar eine subtile Unterscheidung zwischen »Klassenbewusstsein« als Kategorie und dem empirischen Arbeiterbewusstsein, aber sie konnten nicht verstehen, warum auch und gerade Arbeiter anfällig waren für die Unterstützung autoritärer, rechtsradikaler Parteien. Hier bot die psychoanalytische Sozialpsychologie Erklärungsmöglichkeiten. Fromm (1936) skizzierte eine Konfiguration, in der im Rahmen restriktiver Lebensbedingungen sich ein Sozialisationsmilieu entwickelt, welches vor allem von strikter Hierarchisierung und Idealisierung von Stärke bestimmt wird. Dies setzt sich um in ein primitives Über-Ich und eine strukturelle Ich-Schwäche. Beides bedingt ein hohes Angstniveau, eine Tendenz zur Verwendung primitiver Abwehrmechanismen wie Spaltung (in Gut und Böse) und Projektion (des Bösen auf Andere) sowie eine starke Tendenz zur Identifikation mit dem Aggressor und zur Anlehnung an ein fantasiertes mächtiges Objekt. Die Folge sei ein Persönlichkeitstypus, der den Umgang mit inneren und äußeren Problemen dadurch bewältigt, dass Wut und Hass auf Fremde projiziert und dort bekämpft werden und zugleich durch Identifizierung mit (und Unterwerfung unter) Macht eigene Stabilität (und Freiräume zum Agieren von triebhaften Impulsen) gewonnen wird. Auf diese Weise konnte ein Beitrag zum Verständnis faschistischer Bewegungen geleistet werden.
(Post-)Moderne Gesellschaft und »New Economy« Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Verhältnisse in jeder Hinsicht radikal verändert. Eine zentrale Veränderung, die sich vor allem in den USA schon lange vorher sehr deutlich abzeichnete, bezog sich darauf, dass die Gebrauchsgüterproduktion quantitativ und qualitativ revolutioniert wurde. Die industrielle Produktion von Gütern des täglichen Bedarfs und die Erzeugung von immer neuen Produkten führte dazu, dass immer größere Bevölkerungsgruppen nicht nur als Produzenten, sondern auch als Konsumenten bedeutsam wurden. Entsprechend verbreitete sich das Schlagwort »Konsumkapitalismus«, und die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Bedingungen und Folgen dieser Entwicklung. Das bedeutete keineswegs, dass die Industrie keine Rolle mehr spielte – im Gegenteil: die – weitgehend automatisierte –Industrialisierung der Kon135
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sumgüterproduktion war und ist eine zentrale Voraussetzung der »Konsumgesellschaft«. Diese Entwicklung ist Teil einer Dynamik, die in der Soziologie als zunehmende und weitgehende Durchsetzung »funktionaler Differenzierung« beschrieben wird. Damit wird hervorgehoben, dass alle gesellschaftlichen Bereiche ihre Eigenlogik voll entfalten. Die gilt auch für die Ökonomie: Der moderne Kapitalismus ist Ökonomie, die (wenn sie nicht gesteuert wird) nur noch der Logik der Ertragsorientierung folgt und dabei völlig opportunistisch verfährt. Die Bezeichnungen für die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen variieren; sie tun das auch deshalb, weil die Entwicklung so dynamisch ist, dass sie ständig neue Tendenzen hervorbringt. Die meisten Bezeichnungen heben bestimmte Aspekte hervor (»McDonaldisierung der Gesellschaft«, »The-Winner-takes-it-allSociety«, »moderne«, »postmoderne«, »post-post-moderne« Gesellschaft und viele andere). Auf jeden Fall haben sich im Zuge der Entwicklung das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft und das psychosoziale Profil der Ökonomie strukturell verändert. Grundlegend verändert hat sich (als Bedingung und Folge) die Art der Arbeit. Schwere körperliche Arbeit kommt kaum mehr vor, weil beziehungsweise wo andere Energiequellen verfügbar und billiger sind. Primärproduktion nimmt nur noch einen verschwindend geringen Anteil an der Gesamtproduktion ein, die Sekundärproduktion – in der Phase der Industriegesellschaft dominant – verliert an Bedeutung, weil viele Produktionszweige automatisiert, andere in Niedriglohnländer exportiert wurden. Individualisierte Arbeitsverhältnisse haben kollektive Formen des Erwerbs von Lebensunterhalt abgelöst. Dafür verlangen die Temposteigerung und die interne Differenzierung von Produktion und Reproduktion ein hohes Maß an individueller psychischer Aktivität, Beweglichkeit und (Selbst-)Kontrolle. Prototypisch dafür ist der Dienstleistungssektor. Neben den Anforderungen der Produktion haben sich auch die Reproduktionsbedingungen fundamental verändert. Funktionale Differenzierung bedeutet vor allem auch, dass sich die multifunktionalen Nahweltgruppen auflösen. Ihre Leistungen werden von arbeitsteilig spezialisierten Organisationen übernommen, professionell angeboten und individuell in Anspruch genommen, sodass sich parallel zur Individualisierung der Arbeit ein mehr oder weniger privates Individualleben entwickelt, welches ebenso spezialisiert ist wie alle anderen Lebensbereiche. Dies hat weitrei136
(Post-)Moderne Gesellschaft und »New Economy«
chende Konsequenzen für jede Form von Beziehung. Während im traditionellen Exposé Primärbeziehungen kein Wahlgegenstand waren und unter der Kontrolle traditioneller Angemessenheit standen, muss nun ausgewählt und begründet werden, warum man diese Option und nicht eine andere wählt. Und die individuell konstituierten Beziehungen, die nun nicht mehr durch äußeren Druck und Einbindung in externe funktionale Erfordernisse gebunden sind, müssen von innen stabilisiert werden. Dies Unterfangen verlangt neue (Beziehungs-)Kompetenzen und wird erschwert dadurch, dass sich zugleich das Anspruchsprofil verändert und das Anspruchsniveau vor allem in Hinsicht auf persönliche Zufriedenheit verschiebt. Diese grundlegenden Veränderungen wirken sich erheblich auf Identitätskonstitution und -entwicklung aus: Das höhere Maß an materiellen und sozialen Ressourcen reduziert die Wahrscheinlichkeit früher Traumatisierungen und sekundärer Repressionseffekte (etwa des »autoritären Charakters«). Dies erhöht den Spielraum für individuelle Entwicklungen; Beziehungen werden persönlicher und differenzierter. Die Sozialisation fördert und fordert die aktive Beteiligung aller Akteure; das Spektrum von Themen weitet sich aus, der Umgang mit ihnen wird ausgehandelt. Diese Umstellung von dominant instruktiven auf eher interaktive Muster reduziert die Heteronomie der frühen Introjekte und entwickelt sie weniger intrusiv; die späteren sind subjektzentrierter, differenzierter und flexibler. Entsprechend ändert sich die Basisstruktur von Identität. Die Handlungsautonomie nimmt ebenso zu wie das Spektrum der intrapsychischen Verarbeitungsformen und das der verfügbaren Handlungsstrategien. Damit eng verbunden sind Veränderungen im Selbstkonzept und den Objektbildern. Das Selbstkonzept wird reflexiver; es muss sich selbst auf offene Situationen und Veränderungen hin definieren können, was ein höheres Maß aktiver Anpassung des Selbst und der Situationen verlangt. Das soziale Ich und das persönliche Ich unterscheiden sich stärker; beide sind aus vielen (und nicht unbedingt kompatiblen) Teilidentitäten zusammengesetzt Die daraus resultierende Heterogenität der Teil-Identitäten muss eigenständig integriert und situations- und kontextunabhängig auf Dauer gestellt werden. Die Welt der materiellen Objekte verlangt ebenfalls ein höheres Maß an instrumenteller Anpassungsfähigkeit, das heißt »Selbstabstraktion«. Die Fülle der Objekte hat durch Produktdifferenzierung, Expansion der Infrastruktur und Professionalisierung von Produktion und Reproduktion 137
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enorm zugenommen, wobei extrem unterschiedliche Objekte – vom Fahrscheinautomaten bis zur Lebensmittelzusatzverordnung – entstanden sind. Sie müssen in ihrem Verbindlichkeitsgrad eingeschätzt und mit entsprechenden Fähigkeiten behandelt werden. Wo entsprechende Spielräume vorhanden sind, muss ihnen eine Bedeutung (ein passendes Maß an Identifikation) aktiv zugewiesen werden. Soziale Objekte werden auf andere Weise wesentlich komplizierter. Soweit sie Funktionsträger und Medium der Vermittlung von Status sind, müssen sie entschlüsselt und passende Umgangsformen entwickelt werden. Hier geht es um soziale Einordnung und strategisches Sozialverhalten. Soweit sie als persönliches Objekt wählbar sind, muss Kontakt selbst hergestellt, abgestimmt und auf Dauer gestellt werden, was angesichts der Tatsache, dass auch die Anderen eigenwillige, aktive Subjekte sind, die Einstellung auf fremde Eigen-Willigkeit und Perspektivenübernahme verlangt. Die »New Economy« ist vor diesem Hintergrund sowohl die radikale Konsequenz einer funktional differenzierten Ökonomie und Gesellschaft als auch der Effekt einer bestimmten Konfiguration, in der verschiedene konkrete Entwicklungsschritte interferieren. Man muss unterscheiden: ➣ den generellen Prozess der Globalisierung; das heißt die tendenzielle Auflösung von lokaler und regionaler Autonomie und die Herausbildung einer »Weltgesellschaft«, in der sich die Themen, die Zahl und die Reichweite von Kontakten und Austausch erheblich ausweiten. Die Möglichkeiten insularer Besonderheiten nehmen ab, der Import externer Themen nimmt zu; ➣ den technischen Innovationsprozess, den vor allem die neuen Medien auslösen. Vor allem die Zugänglichkeit und Geschwindigkeit des Austauschs von Information haben zur Folge, dass ein exponentieller Möglichkeitshorizont an Nutzung, Verteilung und Zugänglichkeit entstanden ist; ➣ die Zunahme von Tätigkeiten, die – im Gegensatz zu Primärproduktion (Landwirtschaft) und Sekundärproduktion (Industrie) – nicht mehr mit Produktion, sondern mit Menschen (beziehungsweise damit, Menschen und Produkte in Verbindung zu bringen) zu tun hat. Dafür hat sich der Name »Dienstleistung« eingebürgert, was eine Fülle von Leistungen auf allen Niveaus und in allen Lebensbereichen umfasst; ➣ die besondere Art der Ökonomie, die durch die Möglichkeit der Lösung der Finanzwirtschaft von der materialen Produktion der Re138
Über das »Unbehagen« an der modernen Ökonomie …
alwirtschaft entsteht. Damit entsteht eine Ökonomie, die keine zeitliche, örtliche und thematische Bindung mehr besitzt und entsprechend eine Fülle von neuen Optionen (und entsprechenden Risiken) mit sich bringt. Die »New Economy« ist also das Ergebnis des Zusammenspiels bestimmter Faktoren zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ein zentraler Effekt ist die enorme Temposteigerung und die höhere interaktive Verdichtung von Prozessen. Sie setzt damit die allgemeinen Trends fort, stellt zugleich jedoch eine Sondersituation dar, weil und wo sie plötzlich neue Betätigungsfelder mit neuen Regeln zur Folge hat und die vorhandenen in mancher Hinsicht vor völlig neue Anforderungen stellt. Wie jeder neue Möglichkeitshorizont bietet sich ein Betätigungsfeld für Pioniere und Goldgräber, für findige Köpfe und Freibeuter. Die Karten werden neu gemischt; es gibt Gewinner und Verlierer.
Über das »Unbehagen« an der modernen Ökonomie: Die Diagnosen der Analytischen Sozialpsychologie Die nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Arbeiten reagieren auf die zunehmend deutlicher werdenden Modernisierungstendenzen und -auswirkungen.5 1950 erschien Die einsame Masse von David Riesman, der vor allem mit dem Kontrast zwischen dem »innengeleiteten Menschen« 5 Nur am Rande erwähnt werden sollen hier die vielen – meist populärwissenschaftlichen – Studien, die sich mit bestimmten populationsspezifischen Phänomenen beschäftigen. Viele Autoren – allerdings meist ohne systematischen theoretischen Hintergrund – setzen sich mit »klinischen« Beobachtungen des Geschehens auseinander. Allerneueste Diagnosen betreffen die Effekte, die sich vorrangig auf die Protagonisten der »New economy« beziehen (die »Opfer« – Arbeitslose, ältere Arbeitskräfte und so weiter – sind weitaus weniger Thema der Reflexion). Es geht dabei um yuppies (young urban professionals), yetties (young entrepreneurial, techbased professionals), DINKs (double income, no kids), BoBos (bourgeoise Bohemiens) und ihre speziellen Probleme – etwa um das Problem, dass junge Leute plötzlich zu viel Geld kommen und (ähnlich wie Lottogewinner) daraus keinen Lebensgewinn ziehen können (sudden wealth syndrome), dass extreme Arbeitszeiten nach einiger Zeit zum Burnout oder aber zu Stresssucht führen können oder gar dazu, dass die berüchtigte Midlife-Crisis dann zur earlylife-crisis wird.
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4 Das »Unbehagen in der Kultur« und die moderne Ökonomie
des bürgerlichen Zeitalters und dem »außengeleiteten Menschen« der Gegenwart arbeitete. Während der »Innengeleitete« von einem starken Über-Ich und funktionierender Abwehr gekennzeichnet war und so in festliegenden Beziehungen zur Welt die implementierten Programme kontextunabhängig realisierte, sah Riesman den »außengeleiteten« Typus als Produkt einer Welt, in der Zwänge abgebaut, Strukturen gelockert und Dinge verfügbarer geworden sind. Dafür ist Persönlichkeit zum Rohstoff von Produktion und Reproduktion geworden. Unter der Fülle der Konsequenzen hebt Riesman vor allem hervor, dass der »Außengeleitete« keine genuine Stabilität und keinen inneren Kompass mehr besitzt. Stattdessen ist er chronisch auf die Anerkennung von außen angewiesen, was dazu führt, dass er sich intensiv um Anpassung, um Unauffälligkeit, um Aufder-Höhe-der-Zeit sein, bemüht. Autonomie wird durch Konformität ersetzt. Der Außengeleitete ist – im Rahmen der Ersetzung von Zwang durch Manipulation – freundlicher, heiterer gestimmt, aber opportunistisch und ohne Moral. Auch politische Überzeugungen habe er keine eigenen. Charakteristisch sei insgesamt die Einstellung eines acquisitive consumer, dem die Dinge unmittelbar nichts bedeuten und der sie nur ihres Erfahrungsund Erlebnisgehalts schätzt. Dies ist jedoch eine Dauerhaltung – Riesman spricht vom »unersättlichen Selbst« und seiner »Gier ohne Gegenstandsbezug« (1958 [1950], S. 136, 92). Riesman Studie betont also den Abbau des Über-Ichs, die Instabilität des Selbst und dessen inflationäre Ausdehnung. Erich Fromm unterstreicht in seinen Schriften der 1950er Jahre (siehe vor allem Fromm, 1960) diesen Aspekt. Er zitiert C.W. Mills’ Beschreibung der modernen Ökonomie, nach der weniger Menschen Dinge und mehr Menschen andere Menschen und Symbole manipulieren (Mills, 1951, S. 63). In dieser Welt erscheinen, so Fromm, die wesentlichen Geißeln des Industriezeitalters – materielles Elend und Herrschaft – prinzipiell beherrschbar. Sie braucht jedoch standardisiertes, integrierbares und konsumfähiges Personal, welches sich dem Prinzip der radikalen Verwertung aller Ressourcen unterwirft. Dieses entstehe durch einen weniger autoritären, aber auf die Angst vor Versagen und Nicht-Entsprechen orientierten Sozialisationsprozess. Deren typisches Produkt ist auch für ihn »Markt-Orientierung«: An die Stelle innerer Vorstellungen und Ziele treten Konformität und Opportunität; statt starker Gefühle und Konflikte herrschen emotionale Armut und Flüchtigkeit; innere Stabilität ist ersetzt durch ständige Bewegung. Das Verhältnis zu Dingen wie Personen wird dadurch gelockert; sie werden beherrscht 140
Über das »Unbehagen« an der modernen Ökonomie …
(Fromm spricht von »Druckknopf-Machtgefühl«), aber nicht verstanden, »verschlungen« und verbraucht, aber nicht gehalten. Politik ist für den Handelnden ebenfalls ein Marktgeschehen, welches er mit einer Verbraucherhaltung betrachtet. Fromm interpretiert Konsum als Abwehr von Unsicherheit und Ängsten und als Mittel zur Kompensation fehlenden intensiven Kontakts zur Außenwelt, aber auch zur eigenen Innenwelt. Der »taylorisierte« Mensch lebt und funktioniert gut, aber hat keine Möglichkeit beziehungsweise Fähigkeit zur Persönlichkeitsentwicklung. Ähnlich scharfe Töne schlägt Alexander Mitscherlich in seiner Studie über die »vaterlose Gesellschaft« (1973 [1963]) an (siehe dazu auch Kapitel 6 im vorliegenden Band). Sein Fokus sind der Strukturwandel der Produktion, der dazu führt, dass die Tätigkeiten abstrakter und anonymer werden, sowie die moderne Art des Konsums. Die Folgen diskutiert er am Beispiel der Vater-Sohn-Beziehung: Der Vater verliert seine sachliche und soziale Vorbildfunktion, was die ödipale Auseinandersetzung und damit die Entwicklung des Über-Ichs erheblich schwächt. Gleichzeitig wird auch soziale Autorität durch abstrakte Systemstrukturen ersetzt, die zugleich versorgen und entmündigen. Das Bild von »Vater Staat« wird damit auf der Fantasieebene ersetzt durch das einer Muttergottheit, an deren Brüste sich die Menschen legen. Sozialer Erfolg ist unter diesen Umständen darauf konzentriert, möglichst viel und möglichst früh versorgt zu werden. Mitscherlich sieht darin eine »Regression in die Stillordnung«. Auch er registriert durch die Konzentrierung auf Oralität einen Verlust an innerer Autonomie und spricht von der Entstehung einer »Momentpersönlichkeit«, die von Situation zu Situation lebt. Zwanzig Jahre später sah Christopher Lasch (1978) ein Zeitalter des Narzissmus heraufziehen, in der Leistung durch Publicity und Image ersetzt sind, in dem speziell Manager wie moderne Janitscharen – Elitekämpfer ohne familiäre Bindung – und alle als egozentrische Selbstdarsteller agieren. Wieder 20 Jahre später (1998) unternahm Richard Sennett eine erneute sozialpsychologische Analyse der Entwicklungen: In wesentlicher Hinsicht bestätigte er die Diagnosen seiner Vorläufer und konstatierte eine corrosion of character durch die Entwicklung der Ökonomie. Anders als die beschriebenen Vorgänger sieht er jedoch darin weniger Regression oder Verführungseffekte, sondern nackten Zwang. Die Entwicklung der Technik hat dazu geführt, dass Produktionsprozesse weitgehend automatisiert und standardisiert wurden. Damit ändern sich individuelle Karrierebedingungen erheblich. Sennett skizziert das Beispiel einer New Yorker Bäcke141
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rei: In den 1950er Jahren gehörte sie einem griechischen Einwanderer, der als Bäcker lauter Griechen beschäftigte – man war unter sich, produzierte in Handarbeit, hatte die Perspektive einer lebenslangen Beschäftigung und lebte einen massiven Ethnozentrismus, »Fremde« hatten keine Beschäftigungschance. In den 1990er Jahren ist die Bäckerei eine Filiale einer großen Kette, man bekommt Material und Produktionsziele von der Zentrale. Produziert wird maschinell, die Zahl der Mitarbeiter ist geschrumpft, es herrscht eine hohe Fluktuation unter den beschäftigten Hilfskräften, die keine Ahnung vom Backen haben und ihre Tätigkeit als vorübergehenden Job auf dem weiteren Karriereweg sehen. Sennett beschreibt an anderen Beispielen, wie sich auch Karrieren strukturell geändert haben. Die Eskalation der Konkurrenz verlangt mittlerweile die Bereitschaft, das Privatleben der Karriere vollständig zu unterwerfen. Es geht nur noch um Beweglichkeit im Netz der Möglichkeiten – und die Fähigkeit, diese Netze herzustellen und zu pflegen. Bewegung und Beweglichkeit sind die (aufgezwungenen) Ziele. Getrieben von der Angst, den Anschluss zu verpassen und die Kontrolle zu verlieren, werden nur noch flüchtige Bindungen mit erniedrigender Oberflächlichkeit eingegangen, die zudem auf den jeweiligen Verhaltenscode getrimmt sind (was weitere Anstrengungen verlangt). Unter diesen Umständen, so Sennetts Einschätzung, zerfallen Ich-Identität ebenso wie Solidarität; das typische Zerfallsprodukt ist der »Drifter«, der (auf unterschiedlichen sozialen Niveaus) ziellos dahintreibt beziehungsweise sich treiben lässt. Zu Beginn dieses Jahrhunderts erschienen einige Studien, die sich mit der »Verwissenschaftlichung« der Dienstleistungen und der Durchrationalisierung von Beziehungen beschäftigten. Bereits 1990 hatte Arlie R. Hochschild in ihrer Arbeit Das gekaufte Herz ausführlich beschrieben, wie und in welchem Ausmaß inzwischen nicht nur im Marketing instrumentalisiert, sondern auch in Dienstleistungen Gefühle kommerzialisiert werden. Geschultes Personal, das fähig ist, eine emotional anheimelnde oder verführende Situation herzustellen, indem professionell Gefühle eingesetzt werden, ist zu einem wichtigen Mittel der Absatzsteigerung geworden. Eva Illouz konstatierte in ihrer Adorno-Vorlesung (Illouz, 2006) eine doppelte Form der Beeinträchtigung von Identität durch Ökonomie. Wie andere auch bezog sie sich auf eine zunehmende Ökonomisierung von Beziehungen – sie werden bewertet und von Bewertung abhängig. Zudem fokussierte sie die Ausbreitung von professionell betriebener Psychologie und die daraus abgeleiteten Formen von psychotrophen Techniken als Signum 142
Zur Einschätzung der Diagnosen
der Postmoderne. Die Herrschaft der Psychologie sieht sie als Teil einer allgemeinen Tendenz zur kühlen Verwertung und Kontrolle der Psyche.6
Zur Einschätzung der Diagnosen Sozialpsychologische Interpretations- und Extrapolationsversuche sind stets schwierig und belastet. Dazu gehören nicht nur die genannte Komplexitätsproblematik, sondern auch methodische Schwächen, aber auch die besonderen Bedingungen, unter denen sie entstehen. Ganz abgesehen davon, dass viele Argumente wesentlich besser abgesichert werden müssten, ist erkennbar vieles zeitbedingt übertrieben und in der Extrapolation von Entwicklungen viel zu linear: Es werden bestimmte Tendenzen generalisiert, ohne die Gesamtdynamik zu berücksichtigen. Von daher muss man gerade die älteren Darstellungen auch als Zeitdokument lesen. Fromms Entsetzen über die Vermarktung auch der (eigenen) Psyche und die Marktorientierung als dominanter Modus der Selbstorganisation hängt auch 6 Der »Dienstleistungskapitalismus« ist nicht unbedingt das erste System, welches die Probleme, die es provoziert, sekundär nutzt – schon immer gehörte es zum Repertoire von repressiven Systemen, bestimmte Repressionseffekte (etwa gestörte Formen von Denken und Wahrnehmung) für projektive Ablenkungen zu nutzen. Was jedoch neu ist, ist die Professionalisierung nicht nur der von Nutzung der psychischen Ressourcen für instrumentelle Zwecke, sondern auch die genauso professionelle Analyse der Auswirkungen und professionelle Entwicklung von passgenauen Angeboten. Ein Heer von Beratern, Trendforschern und Scouts hat sozusagen immer die Hand am Puls des Geschehens und reicht Einsichten weiter an ein noch größeres Heer an Experten, die damit beschäftigt sind, entsprechende Strategien der Behandlung und Verwertung zu entwickeln. Das sieht dann in etwa so aus: Forscher finden heraus, dass manisch-depressive Störungen weit verbreitet sind. Das bietet zunächst die Möglichkeit schöner Schlagzeilen in vielen Publikationsorganen, was wiederum einer ganzen Reihe von Menschen gibt, ihren Problemen einen Namen zu geben. Gleichzeitig entwickelt ein breites Spektrum von therapeutischen und paratherapeutischen Experten Hilfe an. Aber auch Industrie, Dienstleistungen und Marketingexperten sind nicht untätig. Wiederum mit Expertenhilfe lässt sich nicht nur herausfinden, welche Art von Urlaub oder Wellness Depressionsgeplagte sich wünschen, man kann auch analysieren, welches Kaufverhalten bei milder Depression vorherrscht. Vor allem der milde manische Kunde ist interessant, weil und wo er relativ geringe Hemmschwellen, erhöhte Ansprechbarkeit und auch eine hohe Bereitschaft, schnell zum nächsten Produkt zu wechseln, an den Tag legt. Spätestens an dieser Stelle greifen die Mechanismen des Marktes; alles weitere ist dann unter www. depression.com und in den einschlägigen Marketingexpertisen nachzulesen.
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4 Das »Unbehagen in der Kultur« und die moderne Ökonomie
mit dem clash of cultures zusammen, dem besonders Emigranten ausgesetzt sind. Mitscherlichs heftige Affekte gegen eine Nachkriegszeit, die auf Vergangenheitsbewältigung weitgehend verzichtete und stattdessen eine wenig lebendige Welt des Wohlstands-Biedermeier hervorbrachte, spiegeln sich in den Bezeichnungen, die er verwendet. Ein weiteres Problem ist, dass selten verdeutlicht wird, von wo aus die Kritik geübt wird. Implizit liegt den meisten Studien die Vorstellung einer reifen, gesunden Persönlichkeit zugrunde – Variationen dessen, was Freud als »genitalen Charakter« bezeichnete: ein mit starkem Über-Ich, funktionsfähigem Ich ausgestatteter Mensch, der vom Realitätsprinzip gesteuert wird und (in Freuds Worten) »liebes- und arbeitsfähig« ist. Dies ist zwar ein einleuchtender, aber empirisch nicht unbedingt sinnvoller Vergleich. Es handelt sich um ein Konstrukt von Möglichkeiten. Empirisch sind Entwicklungsprozesse jedoch immer (mehr oder weniger) umständebedingt beeinträchtigt. Zudem variiert von Gesellschaft zu Gesellschaft, was als – unter besonderen Bedingungen – als besonders passend zu definieren ist. Von daher ist es unpassend, dem empirischen Sein einfach ein (nur) logisch Mögliches gegenüberzustellen beziehungsweise konkretes Geschehen an abstrakten Idealen zu messen. Dem (schlechten) Sein ein gewünschtes Sollen gegenüberzustellen, ist verführerisch, aber irreführend. Dadurch wird Realität an idealisierten Vorstellungen gemessen, die entweder unpassend oder unrealistisch sind – und es fehlt meist die Perspektive, wie das Sein dem Sollen angenähert werden kann. Schließlich fehlt in vielen Fällen die »Gesamtbilanz«, das heißt eine Zusammenstellung der Leistungen, Kosten und Risiken, die eine bestimmte Konfiguration mit sich bringt. Psychodynamik ist in gewisser Weise ein Nullsummenspiel: Was sich entwickelt, entwickelt sich auf Kosten von anderen Optionen und auf der Basis von psychischen Investitionen. Da Kosten häufig (aber nicht immer) die Kehrseite von Leistungen sind, sodass das eine ohne das andere nicht zu haben ist, muss beides im Kontext gesehen werden. Eine isolierende Betrachtungsweise verzerrt nicht nur das Bild; sie verkennt auch, dass beides zusammenhängt (und man daher auch nicht das eine ohne das andere beseitigen kann). Es ist also erforderlich, das Zusammenspiel aller Faktoren und das Gewicht der einzelnen Faktoren konsequent zu bestimmen. So gesehen sind auch Freuds Nachfolger leicht kritisierbar, weil sie häufig den einen oder alle diese Gesichtspunkte nicht genügend berücksichtigen. Dennoch erfassen die Diagnosen auch und gerade in ihren Zu144
Zur Einschätzung der Diagnosen
spitzungen die Schattenseiten, die Kosten der Modernisierung und vor allem auch die Tatsache, wer diesen Preis in welcher Form zu zahlen hat, und sie tun dies in Dynamik und Funktionsweise wesentlich intelligibler, als dies bloße Kultur- und Gesellschaftskritik vermag. Was dabei sichtbar wird, birgt in der Tat erhebliche Gründe für ein Unbehagen an der modernen Gesellschaft und ihrer Ökonomie. Dazu gehören jedenfalls folgende Aspekte (siehe dazu zum Beispiel Fromm, 1960; Haubl, 1998): ➣ die spezifische Rationalität der kapitalistischen Ökonomie, die immer weitere Lebensbereiche beeinflusst und Entwicklung und Balance von Psyche und Beziehungen erfasst; ➣ die Effekte von Temposteigerung, Intensivierung des persönlichen Einsatzes und der Heterogenität der Anforderungen; ➣ die Zahl der zu verarbeitenden Themen nimmt zu, das Niveau, auf dem sie bearbeitet werden müssen, steigt, die Stabilität der Vorgaben, die dabei genutzt werden können, nimmt ab; ➣ die Probleme von Überfluss und Unbegrenztheit, die damit zusammenhängende Tendenz zur Sucht (Abhängigkeit von Hochdosierungen) sowie die Betonung von (beziehungsweise Regression in die) Oralität und die Abwehrfunktion des Konsumierens; ➣ die stärkere Ausprägung der narzisstischen Problematik, insbesondere in Form von Egozentrik und Schwierigkeiten der Selbstwertbalance; ➣ die Störungen in Beziehungen zu Objekten beziehungsweise die Tendenz zu passageren und wenig haltbaren Objektbeziehungen; ➣ das Folgen der Instrumentalisierung von psychischen Faktoren in Produktion und Reproduktion; ➣ die Probleme der Integration von Identität, der autonomen Steuerung und der externen Orientierung (inklusive konjunkturunabhängiger Moral). Dass unter diesen Umständen die traditionellen Repressionsprobleme von Balanceproblemen abgelöst werden und dass der Kompetenzbedarf im Umgang mit den Leistungen als auch mit den Risiken der modernen Ökonomie zunimmt, liegt auf der Hand. Allerdings sind dies alles nicht nur ökonomisch bedingt und es handelt sich auch nicht um nur negative Erscheinungen. In einem weiteren Kontext wird deutlich, dass ➣ die fehlende Stabilität auch als Effekt und Bedingung von Emanzipation zu sehen ist, weil individuelle Entwicklung aus strikten Umwelt145
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bindungen herausgelöst wird; ohne Unsicherheit und ihre Risiken kann es keine eigenständige (das heißt nicht importierte und erzwungene) Sicherheit geben; bestimmte Probleme narzisstischer Art ebenfalls eine Auswirkung der veränderten Regulation von Identität sind: Je mehr sie dem Einzelnen als Aufgabe zugewiesen und unter Leistungsdruck gesetzt wird, desto größer sind nicht nur die Möglichkeiten von Individualisierung, sondern auch die des Scheiterns; der Abbau von zwingenden Objekten und Objektbeziehungen die Bedingung eines selbstregulierten Beziehungssystems ist, aber Fehlentwicklungen ermöglicht; eine komplexe und heterogene Umwelt insgesamt den Möglichkeitshorizont innerer Differenzierungen und des Repertoires von Außenkontakten erweitert, aber Stabilität reduziert und den Aufwand für Aufbau und Regulation erhöht.
Anders gesagt: Es ist ein und dieselbe Entwicklung, die überhaupt die Möglichkeit eröffnet, heteronome Identität durch selbstreflexive Steuerung zu ersetzen, die sie zugleich erschwert durch die Art und Weise, wie diese Option möglich wird, und sie in bestimmter Weise – vermittelt über defiziente Sozialisationsmilieus und destruktive Lebensbedingungen – behindert bis verhindert. Es ist aber auch die gleiche Entwicklung, die einerseits die Möglichkeit der Thematisierung der Probleme bietet und sie zugleich für Verwertungszwecke instrumentalisiert, wie das Beispiel »Abwehr durch Konsum« zeigt. Dass sozialpsychologische Diagnosen die negativen Seiten stärker hervorheben und überspitzt zum Ausdruck bringen, liegt in der Natur der Sache – an dem Leiden und den Risiken, welches die Entwicklungen erzeugen, aber auch dem Leiden von (enttäuschten) Kritikern, die diese Entwicklungen bedauern. Auf jeden Fall ist es wichtig, diese sozialpsychologischen Diagnosen zur Verfügung zu haben. Sie bieten durch ihre Sensibilität und ihr Instrumentarium Zugänge, die wichtig sind für das Verständnis der komplexen Beziehung von Ökonomie, Gesellschaft und psychosozialer Identität. Die Schärfe der Kritik stammt häufig gerade aus den Einsichten, die die sozialpsychologischen Diagnosen ermöglichen: ihrem vertieften Verständnis gerade der destruktiven Seiten der historischen Entwicklung. Aber damit muss Kritik leben. Freud hat mit seiner Arbeit vor allem auch eins verdeutlicht: Eine kosten- und problemlose Welt ist nicht zu haben. Ein besseres theoretisches Verständnis trägt jedoch dazu bei, sie zu verbessern. 146
5 Das »Schicksal« Analytischer Sozialpsychologie
Die »Psychoanalytische Sozialpsychologie« ist in gewisser Weise ein Versprechen geblieben. Es sind viele Anläufe unternommen worden, ohne dass es je zu einer kontinuierlichen Entwicklung oder auch nur zu einer Fortführung der Diskussionen geführt hätte. Wie ist dies möglich? Am Anfang schien es sich bei der Verbindung von tiefenpsychologischen und sozialen Perspektiven um eine sich geradezu aufdrängende Aufgabe zu handeln. Freud selbst hat die Psychoanalyse zwar als Individualpsychologie begründet und formuliert, sie jedoch nicht als bloße Individualpsychologie verstanden. In der Einleitung zu Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921c) steht das bekannte Zitat, in dem er feststellt, dass sie immer schon auch Sozialpsychologie gewesen sei und gar nichts anderes sein könne: »Der Gegensatz von Individual- und Sozial- oder Massenpsychologie, der uns auf den ersten Blick als sehr bedeutsam erscheinen mag, verliert bei eingehender Betrachtung sehr viel von seiner Schärfe. Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten aber durchaus berechtigten Sinne« (S. 72).
Dies ist ein relativ speziell gefasstes, aber sehr deutliches Votum für ein interaktives Verständnis auch der psychischen Realität. Dieses interaktive 147
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Verständnis psychischer Realität nutzte er zum Verständnis sozialer Realität, indem er die von ihm gewonnenen Einsichten über Struktur und Dynamik individualpsychologischen Geschehens auf makroskopische Zusammenhänge übertrug – mit Berücksichtigung der Differenzen, aber unter Beibehaltung der psychodynamischen Perspektive. Dieses Prinzip der psychoanalytischen Interpretation sozialer Sachverhalte erschien ihm so evident (und so ergiebig), dass er sich von der »Kulturellen Sexualmoral« bis zum Mann Moses – meist unter dem Titel »Kulturtheorie« – mit Themen beschäftigte, die sozial-psychologisch zu verstehen sind. Dieses sozialpsychologische Œuvre hat sich jedoch als schwer verdaulich erwiesen. Es enthält eine Fülle von Anregungen und Einsichten, aber es ist zugleich methodisch wie theoretisch problematisch. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich Freud buchstäblich amateurhaft mit Sozialpsychologie beschäftigte. Ein »Amateur« ist jemand, der sich engagiert und kenntnisreich Themen zuwendet, dem jedoch die professionellen Mittel für diese Beschäftigung fehlen. Damit ist zwangsläufig das Risiko mangelnder Kontrolle und Disziplin der Aussagen verbunden (was allerdings nicht heißt, dass »professionelle« Analysen notwendig besser beziehungsweise fehlerfrei wären!). Dieses Manko ist natürlich nicht als persönliches Defizit zu verstehen, es stand im Grunde nichts Anderes zur Verfügung. Sein eigener Ausbildungshorizont enthielt wenig Anregungen für die notwendigen Vermittlungsleistungen, der zeitgenössischen Psychologie war wenig zu entnehmen und die Soziologie weit weg von seinem Arbeitsfeld. Außerdem war die volle methodische wie theoretische Konsequenz der Psychoanalyse noch nicht erkennbar und also auch nicht reflektierbar. Freuds Sozialpsychologie war also ein Anfang, der Beginn eines schwierigen Weges voller Probleme und Tücken, die bis heute nicht bewältigt sind. Sie enthielt wichtige Perspektiven, aber in verstellter, unterentwickelter, verzerrter Form. Freud bediente sich eben der Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen (beziehungsweise zur Verfügung gestellt wurden). Das musste im Ergebnis zu Formulierungen und Denkweisen führen, die durch ihr Changieren, ihren exzentrischen Charakter, ihre Mischung aus Reflexion und Spekulation irritierten und polarisierten. Für viele der externen Beobachter waren Freuds kulturtheoretische Überlegungen nicht nachvollziehbar und verstärkten die Skepsis gegenüber der Psychoanalyse. Aber auch innerhalb der psychoanalytischen Bewegung lösten sie kein großes Echo aus. Die meisten Analytiker bereits der zweiten und erst recht der nächsten Generation konzentrierten sich auf die 148
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klinische Seite der Psychoanalyse und ließen Freuds allgemeinpsychologische und sozialpsychologische Ambitionen auf sich beruhen. Eine kleine »rechtsfreudianische« Gruppe nahm seine ontologisch angelegten Vorstellungen sozusagen wörtlich und versuchte beispielsweise (wie Róheim) die Universalität des Ödipuskomplexes empirisch nachzuweisen oder dogmatisierte (wie Glover) die Verbindung von Todestrieb und Krieg. Eine kaum größere »linksfreudianische« Gruppe sah die Aporien von Freuds Ansätzen schärfer und versuchte, die sozialpsychologischen Perspektiven der Psychoanalyse vor allem mithilfe der Marx’schen Theorie zu entwickeln. Das Schicksal dieser Debatte ist bekannt. Die »Freudo-Marxisten« gerieten zwischen die Fronten: Die sich als klinische Institution konsolidierende Psychoanalyse tendierte dazu, sie auszugrenzen. Waelder etwa konstatierte, es handle sich bei Texten dieser Art um Politik, nicht um Psychoanalyse. Und auch der parteioffizielle Marxismus konnte mit der Psychoanalyse nichts anfangen und erteilte der »Woge bürgerlicher Reaktion und Dekadenz«, als die sich die »freudistischen Abweichungen« darstellten, die »gebührende Abfuhr« (Stoljarov). Damit war der Diskurs marginalisiert. Das Übrige besorgten die historischen Umstände. »Überlebt« als Theorie hat die Analytische Sozialpsychologie die danach folgenden Turbulenzen vor allem in Form der Aktivitäten im Umfeld der »Kritischen Theorie«. Obwohl recht bald untereinander zerstritten und sehr verschiedene Wege gehend, haben Autoren wie Fromm, Adorno oder Marcuse und die von ihnen angeregten Diskussionen von Riesman bis Mitscherlich sozusagen in singulären Aktivitäten am Projekt einer Analytischen Sozialpsychologie festgehalten – allerdings ohne dass daraus eine systematische, in der Psychoanalyse und/oder Soziologie verankerte theoretische und methodische Auseinandersetzung entstanden wäre. Dies lag einerseits daran, dass die »Nachfrage« eher gering war, aber auch daran, dass viele dieser singulären Entwürfe psychoanalytische Vorstellungen in sehr spezielle theoretische Zusammenhänge stellten und den Zugang erschwerten (wie etwa Adornos ebenso komplizierte wie eigenwillige Mischung aus Kritik und Festhalten an Freud’scher Orthodoxie). Genauso erratisch steht in der Entwicklung der Soziologie der einzige ernsthafte Versuch ihrer theoretischen Integration, der von Talcott Parsons unternommen wurde. Fast alles, was Parsons vorschlug, sorgte für ein breites Echo – sein Versuch, Psychoanalyse in eine strukturfunktionalistische Gesellschaftstheorie einzubauen, blieb ohne jede Resonanz. Für Psy149
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choanalytiker waren seine Vorstellungen vermutlich zu abstrakt, während Soziologen ohnehin mit dem »Persönlichkeitssystem« Schwierigkeiten hatten und nur ungern das Integrationsprinzip in solchem Ausmaß an eine psychische Instanz – das Über-Ich – binden wollten. Auch die Neuauflage der »freudo-marxistischen« Debatte in den späten 1960er Jahren verpuffte letztlich wirkungslos. Hier waren die meisten Exponenten Theoretiker der Studentenrevolte (beziehungsweise aus ihrem Umfeld), einer Bewegung, die nach einer Phase, in der sich strukturelle Revolutionen im Gesellschaftsaufbau unter einer mehr und mehr erstickenden Decke politischen Autoritarismus und zunehmend veraltender Normen vollzogen, Modernisierung und politische Emanzipation einklagte. Ihre Kritik des Status quo bezog viele Anregungen aus der Psychoanalyse. Zwar fand die Auseinandersetzung insgesamt auf höherem Niveau als in den 1920er Jahren statt, aber sie verlief hektisch und war zu sehr in die politisch-strategischen Auseinandersetzungen der Zeit eingebettet, um sich thematisch hinreichend emanzipieren zu können. Auch war der Kontakt zur Psychoanalyse bei manchen Autoren nur flüchtig und viele Vorstellungen (deshalb) abstrakt-idealistischer Art. Beides führte dazu, dass die Psychoanalyse auf diese Art der Zuneigung eher verängstigt und abgrenzend reagierte und ihrerseits wenig Bereitschaft und Fähigkeit zeigte, dieses plötzliche Interesse aufzugreifen und produktiv zu beeinflussen – falls diese Möglichkeit überhaupt bestand. Seitdem ist es wieder relativ still geworden um die Analytische Sozialpsychologie. Das Ende der Kritischen Theorie und der Studentenrevolte hat sie als Diskurs nicht überlebt. Im Gegenteil: Die kurzzeitige Prävalenz der Freud-Marx-Diskussionen hatte einen Bumerang-Effekt. Die verschreckte Zunft rächte sich auf ihre Art – innerhalb der Soziologie ist die Psychoanalyse genau wie der Marxismus seit den Jahren 1968ff. so gut wie tabuisiert. Zumindest sollte man jedem, der Karriere machen will, abraten, sich mit ihr zu beschäftigen. Wieder sind wenige Psychoanalytiker (genauer gesagt: Randfiguren der psychoanalytischen Szene), die sich für die Entwicklung der Analytischen Sozialpsychologie interessieren, weitgehend unter sich. Die Geschichte der Analytischen Sozialpsychologie stellt sich dar als eine Abfolge von immer wieder gescheiterten, steckengebliebenen, erratischen, von themenfremden Einflüssen überlagerten Versuchen und Auseinandersetzungen. Sollte man daraus die Konsequenz ziehen, dass das ganze Projekt sinnlos ist? Dies hätte zwar eine erhebliche Vereinfachung 150
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und »Frontbegradigung« zur Folge, wäre jedoch mit Sicherheit ein fataler Schluss. Schwierigkeiten sind kein Kriterium für die Relevanz einer Arbeit. Wenn es stimmt, dass unbewusste Prozesse für die Identitätsbalance, das Handeln und Denken von Subjekten von zentraler Bedeutung sind, und wenn es stimmt, dass gesellschaftliche Realität in ihre Eigenkomplexität immer auch die direkten und indirekten Probleme, Ausdrucksformen und Folgen der Identität der Akteure aufnimmt und bearbeitet, dann ist die Dialektik – die wechselseitige Konstitution und Selektion – von Sozialstruktur und Biografie nach wie vor ein wichtiges, ein zentrales Thema für eine Theorie gesellschaftlicher Entwicklung. Und »schwierig« heißt nicht »aussichtslos«. Auch wenn es bisher nicht gelungen ist, die Analytische Sozialpsychologie so zu entwickeln, dass sie eine stabile Basis, klare Perspektiven und einen funktionierenden Diskurs hervorbringen konnte, zeigt doch eine Fülle von Texten – von Fromms »Christusdogma« über Adornos Studies in Prejudice bis zu Mitscherlichs vaterloser Gesellschaft und Lorenzers Kulturanalysen –, dass die Verbindung von Psychoanalyse und Soziologie produktive Erkenntnisse ermöglicht. Es ist daher sinnvoller, einen anderen Problemzugang zu suchen: Wenn so viele bemerkenswerte Theoretiker sich so lange mehr oder weniger vergeblich um eine Fundierung und Stabilisierung eines Diskurses bemühen, dann muss man möglicherweise daraus den Schluss ziehen, dass dieses Projekt an Grenzen der Bewältigung stößt, das Ziel vielleicht gar nicht erreichbar ist, auch wenn der Weg dorthin gegangen werden muss. Dann empfiehlt sich jedoch eine genauere Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten selbst, die ein solches Projekt belasten. Zunächst ist hier naturgemäß an die Verständigungsprobleme zwischen Psychoanalyse und Soziologie zu denken. Und in der Tat: Der Diskurs ist schwierig. Ein bisschen ähneln diese Schwierigkeiten denen von Hund und Katze, für die dasselbe Signal – Schwanzwedeln – angeblich völlig konträre Bedeutungen hat. Derselbe Sachverhalt wird von beiden Wissenschaften völlig anders methodisch angegangen und theoretisch aufbereitet. Wo die Soziologie als Hauptmodus die Abstraktion von subjektiven Intentionen und Handlungen verwendet, um Strukturprobleme gesellschaftlicher Art anzuvisieren (das heißt, sie soziologisiert auch psychisches Geschehen), nutzt die Psychoanalyse bei allem Geschehen die ihm subjektiv zugewiesene Bedeutung als Zugang zur biografischen Idiosynkrasie (das heißt, sie psychologisiert radikal soziales Geschehen). Allein dadurch ergeben sich methodische und theoretische Kontaktprobleme in Hülle und Fülle. Aber 151
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dies ist noch kein hinreichender Grund für ein Scheitern des Kontakts. Schließlich besteht die Möglichkeit, die jeweiligen Strategien in einem weiteren Schritt neu zu kontextualisieren, das heißt, sie in einem dezidiert auf Vermittlung angelegten Rahmen zu verwenden, der Soziologie auf Themen der Psychoanalyse und Psychoanalyse auf Perspektiven der Soziologie einstellt. Der Teufel steckt hier allerdings im Detail. Und er steckt auch deswegen im Detail, weil es nicht nur um Methoden- und Theoriefragen geht: Eine weitere, wichtige Ursache sind Institutionalisierungsprobleme und -folgen, auf die ich etwas näher eingehen möchte (wobei ich mich auf einige – grob skizzierte – Aspekte beschränke, die sich aus Bedingungen und Folgen der Institutionalisierung eines solchen Diskurses ergeben). Was Psychoanalyse und Soziologie gemeinsam haben, ist, dass sie eine Institutionalisierung einer Art von Theorie und Praxis darstellen, die sich mit »autopoietischen« Prozessen beschäftigen. Zugleich sind sie selbstreflexiv, das heißt, Subjekt und Objekt überschneiden sich. Die beiden Merkmale haben weitreichende Konsequenzen. Zunächst: »Autopoietisch« heißt, dass es sich um ein Thema handelt, welches nicht konstant und eindeutig, sondern dynamisch und heterogen, das bedeutet auch: »eigen-willig«, sich selbst auf unvorhersehbare Weise entwickelnd, wozu eine emergente Binnenkomplexität wie auch ein entsprechender Austausch mit seinem Kontext gehören. Die daraus resultierende Realität ist nicht in eindeutigen Algorithmen festzuhalten, die denotativ ihren Gegenstand auf eine stabile Logik reduzieren. Sie bedarf eines konnotativen Symbolsystems, welches Bestimmungen und Verbindungen offenhält und imstande ist, den (widersprüchlichen) Bewegungen des Gegenstands zu folgen. Konnotative Theorien haben zwei systematische Probleme: Sie können ihren Gegenstand nie vollständig und definitiv »fassen«, sondern sich immer nur asymptotisch und partiell annähern. Und: Es gibt sie nicht im Singular, sondern im Plural. Keine Theorie kann alle Aspekte eines autopoietischen Prozesses erfassen; er ist unvermeidlich auf multiple Weise thematisierbar, das heißt, es gibt immer die Möglichkeit verschiedener Theorien. Mutatis mutandis gilt dies auch für die Praxis: Auch hier kann weder über die Ziele noch über die Wege, auf denen sie erreicht werden können oder sollen, definitive Klarheit beziehungsweise Eindeutigkeit erreicht werden. Deshalb gibt es nicht eine, sondern viele soziologische Theorien, nicht eine Psychoanalyse, sondern eine Fülle von unterschiedlichen Konzeptualisierungen. Multiple Thematisierbarkeit und heterogene Praxis sind für die soziale Institutionalisierung jedoch eine schwere Belastung. »Institutionalisie152
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rung« heißt, dass ein Thema sachlich, zeitlich und sozial auf Dauer gestellt wird, was durch Abgrenzung nach außen, Regulierung des Austauschs mit der Umwelt und soziale Strukturbildung nach innen geschieht. »Strukturbildung« bedeutet, das Themen definiert, Funktionen zugewiesen, Personal und Publikum selegiert und sozialisiert, Interaktion und Kommunikation geregelt, Macht und Kontrolle definiert werden. Dies alles ist besonders schwierig, wenn das Thema schlecht abgrenzbar ist und seine Interpretation verschieden aussehen kann, wenn die damit verbundene Tätigkeit nicht instrumentalisierbar und nur begrenzt in Routinen überführbar ist. Dazu kommen die Folgen der Selbstthematisierung oder, anders gesagt, der Überschneidung von Subjekt und Objekt. Dies bedeutet zunächst, dass die Abgrenzbarkeit nach außen gering ist, weil die Institution unvermeidlich mitthematisiert wird, das heißt, die thematischen Erkenntnisse wirken sich auch intern aus. Das kann die Binnenstruktur erheblich belasten (was generell die Balance von pädagogischen, politischen und therapeutischen Institutionen erschwert). Wichtiger ist in diesem Zusammenhang jedoch die (partielle) Identität zwischen der Entwicklungslogik autopoietischer Realität (etwa sozialer oder psychischer Prozesse) und der theoretischen Reflexion: Theorie muss die Möglichkeiten nutzen, die aus (den Problemen) der Realität stammen und ist beziehungsweise wird Teil der thematisierten Realität. Damit besteht zwischen Selbstregulierungen der Realität und den begrifflichen beziehungsweise praktischen Modi der Beschäftigung mit der Realität ein nicht-reduzierbares Austausch- und Beeinflussungsverhältnis: Die institutionelle Praxis mischt sich ein und wird ihrerseits beeinflusst von den empirischen Modi, die in der Realität vorherrschen. Die »Emanzipierungsmöglichkeiten« von Theorie und Praxis sind daher beschränkt, sie bleiben verstrickt in ihren Gegenstand, abhängig von dessen Bewegung und anfällig für von ihm ausgehende Zwänge. Dies färbt auch ab auf die Binnenstruktur: Die Unsicherheit in Bezug auf die Themendefinition und vieles mehr wird verstärkt durch den Druck von externen Moden und Imperativen, aber auch dadurch, dass die relevanten Aspekte, die am Thema untersucht und behandelt werden, auch das Innenleben der Institution beherrschen (können), ohne dass sie dort professionell kontrolliert und neutralisiert werden können. Ideologien gibt es nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Soziologie, agiert wird nicht nur vom Alltagsmenschen, sondern auch vom Analytiker als Mit153
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glied von Organisationen. Die Dynamik solcher Prozesse kann wiederum vergleichsweise ungefiltert in Theorie und Praxis durchschlagen – eben in Form von institutionsspezifischen Thematisierungszwängen oder Selbstdefinitionen: Wenn etwa die Systemtheorie die zunftspezifische Diskussion beherrscht, besteht ein massiver Sog, sich an ihr zu orientieren und sie zu nutzen, sodass andere Modelle in die Defensive geraten, auch wenn sie sachangemessener sind. Kurz: Die institutionelle Balance und auch die Identitätsbalance der Akteure sind bei Institutionen dieser Art chronisch instabil und gefährdet. Es sind daher nicht nur die – letztlich unlösbaren – Probleme des Gegenstandsbezugs, sondern auch die institutionellen Schwierigkeiten, eine sichere Basis zu finden, die dazu führen, dass sie sich in einem permanenten Schlingerkurs befinden, dass die Krise nicht die Ausnahme, sondern der Normalzustand ist. Da weder die Sache noch die Sozialstruktur sicheren Halt und selbstverständliche Orientierung bieten, steht das Bemühen um hinreichende Stabilität unvermeidlich zwischen komplementären Risiken, ➣ entweder sie lassen zu viel Differenzen und Kontingenz zu (und gefährden damit die institutionelle Identität erst recht) oder ➣ sie unterdrücken zu viel Differenzen und Kontingenz (und führen zu Isolations-, Reduktions- und Repressionsschäden). Entsprechend sind Bewältigungsstrategien immer belastet und belastend und bedingen unter Umständen eine zusätzliche Einschränkung oder Verzerrung des Paradigmas. Interpretiert man die Kontaktprobleme von Psychoanalyse und Soziologie in diesem Zusammenhang, so ist zunächst das Diffusitätsproblem evident – sowohl die Psychoanalyse als auch die Soziologie lösen sich bei näherem Hinsehen auf in eine Fülle von gegensätzlichen und unterschiedlich konzipierten Ansätzen. Ein geordneter Kontakt ist schon deshalb unmöglich: Es sind immer nur bestimmte Teilperspektiven beziehungsweise Variationen, die sich aufeinander einstellen, ohne dass jeweils »der Rest« diesen Kontakt mitmachen oder gar fördern könnte und wollte. Damit exponiert sich ein solcher Außenkontakt unvermeidlich auch intern, weil er noch mehr Heterogenität aufnimmt und den fragilen internen Konsens belastet. Dabei hatten es die frühen Diskussionen noch »leichter«: Solange Psychoanalyse im Wesentlichen das war, was Freud schrieb, und sich der Kontakt der Psychoanalyse nicht auf die (zu der Zeit bereits erheblich dif154
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ferenzierten) Soziologie, sondern nur auf die marxistische Theorie bezog, konnte quasi versucht werden, einen Eins-zu-eins-Diskurs zu etablieren. Dies stellte eine erhebliche Vereinfachung dar. Aber ganz abgesehen davon, dass diese Bemühungen (wie angedeutet) die institutionellen Toleranzgrenzen bereits überschritten, waren sie naturgemäß auch entsprechend restringiert und erfassten nur den geringen Ausschnitt an Kontaktmöglichkeiten, der diese doppelte Filterung passieren konnte. Auch die Neuauflage 1968ff. nutze weitgehend diese Reduktion von Komplexität – und litt entsprechend darunter. Und Ähnliches gilt überall da, wo Psychoanalyse und Soziologie unter monologischer Perspektive in Kontakt gebracht werden – etwa da, wo sie beide a priori auf eine »kritische« Perspektive festgelegt werden und daraus quasi eine natürliche Gemeinsamkeit abgeleitet wird. Das Problem der multiplen Struktur und Heterogenität der möglichen Verbindungen zwischen den (multiplen und heterogenen) Paradigmen hat seine Entsprechung auf der Rollenebene: Es ist evident, dass für eine labile Rollenkonfiguration jeder zusätzliche Kontakt – erst recht, wenn er neben Kooperation auch Konkurrenz impliziert – eine Belastung darstellt. Die für Institutionen dieser Art typischen Rollen werden nicht als »additive« Ergänzungen beziehungsweise Erweiterungen der psychosozialen Identität hinzugefügt, sie sind – wegen der genannten Überschneidung – »invasiv«, sie tangieren die Identität, verändern ihre Struktur und Dynamik. Die Diffusität der Erwartungen erschwert daher nicht nur die Rollenübernahme, die labilisiert auch die Balance von Zugehörigkeit, Tätigkeit und Persönlichkeit. Die Position eines Psychoanalytikers wie auch eines Soziologen ist daher in jeweils verschiedener Hinsicht eine Belastung, die nicht einfach neutralisiert werden kann (oder besser: wenn dies geschieht, dann auf Kosten der Kompetenz), sondern dauerhaft erhalten bleibt. Das heißt aber auch, dass sich die positionsspezifischen Imperative und Bewältigungsstrategien quasi in die Identität der Positionsinhaber »einschreiben«: Der Soziologe sieht die Welt als gesellschaftlichen Zusammenhang (und lehnt einen psychologischen Reduktionismus energisch ab), der Psychoanalytiker versteht dagegen in seinem Kontext gesellschaftstheoretische Exkurse als Abwehr, als Intellektualisierung. Beides ist zumindest unmittelbar konträr und bedroht sich gegenseitig. Der Versuch, die Grenzen der eigenen Kompetenz nicht einfach nur durch Expansion des eigenen Paradigmas, sondern durch tatsächliche Kontaktaufnahme mit einem anderen zu erweitern, läuft daher auf die Zumutung hinaus, zwei labile und in gewisser Weise inkompatible Positionen zugleich zu haben, gegeneinander zu ver155
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treten und trotzdem miteinander zu vermitteln. Zu dem überall auftretenden Problem interdisziplinärer Diskurse – dass es schwierig bis unmöglich ist, in zwei ausgewachsenen Disziplinen Experte zu sein – treten hier die Balanceprobleme, die aus dem Kontakt zwischen unterschiedlichen (und unterschiedlich labilen) selbstreflexiven Positionen resultieren. Zu den strukturellen Konflikten kommen die empirischen: Die Verstricktheit in ihre Umwelt erschwert beiden Seiten den Kontakt, weil sie (auch in dieser Hinsicht) nicht synchronisiert sind, also in verschiedene Ereignisse hineingezogen werden (beziehungsweise sie verarbeiten) müssen. Während die Psychoanalyse zum Spielball kulturpolitischer Auseinandersetzungen wurde, geriet die Soziologie in den Sog der Studentenrevolte und ihren Folgen; wo die Soziologie an ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung leidet, setzt der Psychoanalyse der Streit um Kassenfinanzierung zu; während die Soziologie um ein »postmodernes« Selbstverständnis ringt, muss sich die Psychoanalyse mit der Dominanz pragmatischer Psychotechniken und dem Vordringen therapeutischer Kulte auseinandersetzen. Auch dies erschwert eine gemeinsame Fokussierung von Themen. Bedeutsam sind jedoch auch bestimmte Institutionalisierungsdifferenzen: Die Psychoanalyse hat sich vor allem als klinische Institution entwickelt, das heißt, sie orientiert sich an entsprechenden Funktionen und Erfordernissen. Alle anderen möglichen produktiven Leistungen sind dagegen eher randständig. Das bedeutet vor allem: Forschung wird als Forschung kaum betrieben, weil es an entsprechenden Einrichtungen und auch an »Planstellen« fehlt – psychoanalytische Forschung ist eine quasi »nebenamtliche« Tätigkeit von hauptberuflichen Therapeuten. Sie bleibt daher notwendig »dilettantisch« und nur begrenzt anschlussfähig an das, was außerhalb vor sich geht. Entsprechend ausgeprägt sind die damit einhergehenden »Isolationsschäden« der Psychoanalyse: Vieles von dem, was sich um sie herum in den letzten Jahrzehnten abgespielt hat, konnte sie nicht oder nur begrenzt zur Kenntnis nehmen und mit dem eigenen Denken in Verbindung bringen. Umgekehrt ist die Soziologie fast nur als akademische Disziplin institutionalisiert (und kennt – von empirischer Sozialforschung abgesehen – keine eigene Praxis). Damit tendiert sie zum Akademismus, hat zwar mehr Kapazitäten für externes Geschehen, aber operiert auf einem unverbindlichen, theoretisch bestimmten Niveau der Auseinandersetzung. Ein »Missverständnis« zwischen Psychoanalyse und Soziologie resultiert daher aus den mit diesen Differenzen verbundenen unterschiedlichen Zentrierungen und Loyalitäten. 156
5 Das »Schicksal« Analytischer Sozialpsychologie
Es sind also nicht nur methodische und theoretische Kontaktprobleme, die den Diskurs hemmen. Sie werden verstärkt oder überhaupt erst zum Problem, weil es strukturelle und empirische Institutionalisierungsprobleme gibt, die in ihnen und im sozialen Kontext des Diskurses zum Ausdruck kommen. Unter Umständen entsteht so ein Teufelskreis: Institutionell bedingte Berührungsängste führen zum (methodisch beziehungsweise theoretisch begründeten) Kontaktabbruch, der sowohl die Kontaktfähigkeit verarmen lässt als auch die Distanz verstärkt, was den Kontakt noch mehr erschwert, wodurch wiederum die Berührungsängste zunehmen und so weiterund so weiter. Dies mündet in eine Situation, in der die Seiten voneinander kaum mehr wissen, als dass der Kontakt keinen Sinn ergibt, aber mangels Erfahrung und Kenntnis dies nicht begründen können (und daher Situationen vermeiden, in denen dies zum Thema werden kann). Genau dies trifft für weite Bereiche zu: Innerhalb der Psychoanalyse herrscht weitgehend Unkenntnis über die Soziologie, die PsychoanalyseKenntnisse von Soziologen beschränken sich auf äußerst vage Vorstellungen aus zweiter bis dritter Hand. Dieses System das wechselseitige System von Abgrenzungen und Gegenidentifikationen hat stabilisierende Funktion und ist deshalb auch nicht beliebig aufzubrechen. Es ist daher auch nicht zu erwarten, dass sich die Probleme in absehbarer Zeit in Luft auflösen. Selbst unter optimalen Bedingungen bleibt die Vermittlung von konnotativen Theorien ein doppelt riskantes Vorhaben. Erst recht jedoch ist dies unter den angesprochenen erschwerten Bedingungen der Fall. Es steht daher zu vermuten, dass es das Schicksal der Analytischen Sozialpsychologie bleibt, immer wieder am Rand und zwischen den eingemauerten Wissenschaften aufzutauchen, um wieder unterzutauchen (oder auch untergetaucht zu werden …). Das ist jedoch kein Grund, die Verbesserung der Bedingungen anzustreben, um damit (um Marcuses Unterscheidung zu variieren) die unvermeidlichen von den zusätzlichen Belastungen zu befreien. Naturgemäß gibt es dafür keine Rezepte. Sicher wäre es jedoch hilfreich, wenn die thematische Arbeit sich (auch) darauf konzentrieren könnte, das Verhältnis von Soziologie und Psychoanalyse auf eine »normalwissenschaftliche« Basis zu stellen. Damit ist gemeint, dass die bisherigen Kontakte weitgehend unter spezifischen Fragestellungen und/oder Perspektiven abliefen. Was bisher noch fehlt, ist eine Art »Allgemeine Sozialpsychologie«, in der das Themenspektrum des Zusammenspiels von sozialen und unbewussten Prozessen in der alltäglichen Realität, im perma157
5 Das »Schicksal« Analytischer Sozialpsychologie
nenten Vermittlungsprozess untersucht wird: in Normalinteraktionen und ihren Standardvariationen, in typischen Gruppen und Organisationen, auf abstrakteren Ebenen der sozialen Realität. Das könnte beispielsweise heißen, dass die (vielen) mikrosoziologischen Ansätze (von der Phänomenologie über den Interaktionismus bis zu Systemtheorie und Konstruktivismus) mit ihren Blickweisen in Verbindung gebracht würden mit den (vielen) Angeboten der Psychoanalyse für die Interpretation von Handlungen. Ein solches Durchbuchstabieren hätte den Vorteil, dass (im Idealfall) eine Matrix von Konzeptualisierungen und Vorstellungen entstünde, auf die für bestimmte Fragestellungen zugegriffen werden könnte und die für spezifische Problemkonfigurationen als Referenz verfügbar wäre. Unabdingbare Voraussetzung dafür wäre jedoch ein wesentlich höheres Maß an Informiertheit. Solange es beim heutigen Stand der wechselseitigen (Un-)Informiertheit bleibt, scheitert das Projekt einer Analytischen Sozialpsychologie schlicht an fehlenden Kenntnissen. Vorrangig ist daher eine Informationspolitik, die dafür sorgt, dass die themenfremden Fragestellungen und Perspektiven kennengelernt und verstanden werden – nach allem, was angedeutet wurde, kein leichtes Unterfangen, an dem jedoch kein Weg vorbeiführt. Und der Weg zu einem höheren Grad an Informiertheit und intensiverem Austausch führt nur über dichtere Kontakte, die ihrerseits stabile und differenzierte institutionelle Bedingungen voraussetzen. Nötig wäre daher vor allem eine Institutionalisierungspolitik – idealiter der Aufbau von Einrichtungen, die dezidiert dem Projekt der Vermittlung gewidmet sind, und in der jene erforderliche Doppelqualifikation erzeugt, geübt entwickelt und anschlussfähig angeboten wird. Solche Forderungen sind gegenwärtig aus strukturellen wie aktuellen Gründen reine Utopie. Aber: »Damit das Mögliche wirklich wird, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden« (Hesse).
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6 Von der »vaterlosen Gesellschaft« zum »flexiblen Menschen« Psychoanalytische Zeitdiagnosen und gesellschaftlicher Wandel
Zwischen den Wissenschaften Manchmal feiert die mit gesellschaftlicher Anerkennung nicht unbedingt verwöhnte Psychoanalyse Erfolge, wo sie nicht erwartbar sind – und manchmal tut sie sich schwer, dies überhaupt als Erfolg zu sehen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Werk von Alexander Mitscherlich. Speziell sein Buch Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, das zuerst 1963 erschien, gehört zu den echten Bestsellern wissenschaftlich fundierter und ambitionierter Literatur. Inzwischen sind davon über 160.000 Exemplare verkauft. Und zumindest den Titel kennt fast jede(r). Ein Blick ins Internet zeigt, in welchem Ausmaß auch heute noch auf das Buch Bezug genommen wird. Bei näherem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass diese Referenzen Mitscherlichs aufklärerischen Intentionen häufig sehr fernstehen. So hat auch ein findiger Kämpfer für die angeblich entrechteten geschiedenen Väter sich ausgiebig dieses Titels bedient (Matussek, 2006) – ungeachtet der Tatsache, dass sein Feldzug mit Mitscherlichs Theorie überhaupt nichts zu tun hat. Ansonsten fällt auf, dass das Stichwort »vaterlose Gesellschaft« oft und gern in theologischen Argumentationen benutzt wird – mit Bezug auf den »himmlischen Vater« oder den göttlichen Auftrag des Vaters. In der psychoanalytischen Literatur hingegen wird Mitscherlichs Buch so gut wie nie zitiert. Überhaupt ist Mitscherlichs Ruf innerhalb der deutschsprachigen Psychoanalyse nicht sonderlich gut – sein Werk wird eher als randständig und nicht bedeutsam eingestuft. Darin spiegelt sich möglicherweise, dass er sich mit solchen aus der Sicht des Mainstreams exzentrischen Themen beschäftigte (und damit enormen externen Erfolg hatte). Freud selbst hatte jedenfalls keinerlei Bedenken, seine Erkenntnisse auch auf soziale – wie er sie nannte: »kulturelle« – Sachverhalte 159
6 Von der »vaterlosen Gesellschaft« zum »flexiblen Menschen«
anzuwenden. Er hat von der »Kulturellen Sexualmoral« bis zum Mann Moses immer wieder Themen behandelt, die mit Therapie im eigentlichen Sinne nichts zu tun haben. Und er schätzte bekanntlich psychoanalytische Therapie als eine unter vielen (wenn auch als prima inter pares, siehe Freud, 1916–1917a [1915–1917], S. 169); als Instrument der Aufklärung hielt er die psychoanalytische Theorie für einzigartig. Ein Blick auf die Entwicklung nach Freud zeigt, dass diese Ambitionen im Zuge einer dominanten Therapeutisierung der Psychoanalyse – bis auf Ausnahmen – kaum weiterentwickelt wurden. Insbesondere der Diskurs mit den Sozialwissenschaften liegt ziemlich danieder – zumindest gemessen an seiner Relevanz. Denn Freuds gesellschaftstheoretische Bemühungen sind weitgehend in Vergessenheit geraten und sie sind – genau wie spätere psychoanalytische Beiträge zur Gesellschaftsanalyse – von den Kultur- und Sozialwissenschaften kaum aufgegriffen worden. Das liegt nicht nur an deren methodischen und theoretischen Schwächen, sondern verweist auf die objektiven Schwierigkeiten des Projekts einer psychoanalytischen Sozialpsychologie. Da sind zunächst institutionelle Barrieren: Interdisziplinarität ist immer ein schwieriges Geschäft und verlangt von den Akteuren eine Doppelkompetenz – zumindest müssen die Sichtweisen der anderen Seite nachvollziehbar und sinnvoll auf die eigenen bezogen werden. Das setzt entsprechende Ausbildungen und Arbeitsmöglichkeiten voraus. Dazu bedarf es vor allem auch der Fähigkeit, die Dezentrierung der eigenen Sichtweise durch einen fremden Blick und dessen autonomen Erklärungsanspruch in Bezug auf die eigene Thematik auszuhalten. Schon diese Konstellation ist eine vorprogrammierte Bruchstelle, vor allem, wenn sich die Erklärungsansprüche überschneiden und wenn sie konkurrieren. In diesem Zusammenhang ergibt sich noch ein weiteres strukturelles Problem. Ein altes Sprichwort sagt: »Wer in der Mitte der Straße geht, kann von beiden Seiten mit Steinen beworfen werden.« Anders gesagt: Man begibt sich mit interdisziplinären Themen leicht zwischen die Fronten und wird als weder zur einen noch zur anderen Seite gehörig etikettiert. Dies ist nicht nur als Problem der Überschreitung von Zunft- und Identifikationsgrenzen zu sehen, sondern in einem ganz konkreten Sinne auch als methodisches Problem: Man kann im interdisziplinären Diskurs die jeweiligen Disziplinen nur selektiv und begrenzt abbilden. Ganz abgesehen von der Frage, welche Psychoanalyse eigentlich gemeint ist – die von Freud, von Lacan oder doch von Klein oder Bion (und welche Soziologie, die uti160
Theoretische Umrisse
litaristische, interaktionistische oder systemtheoretische Soziologie?) –, können deren jeweilige Angebote immer nur reduziert verwendet werden. Das hat den Effekt, dass aus Sicht der beteiligten Theorien der interdisziplinäre Diskurs zwangsläufig defizient erscheint – eben als irgendetwas, aber nicht mehr als Psychoanalyse (oder nicht mehr als Soziologie). Grenzüberschreitungen exponieren also, und man muss mit entsprechenden Problemen rechnen. Aber sie lohnen sich. Damit bin ich wieder bei Mitscherlichs vaterloser Gesellschaft. Denn das Buch ist eines der wenigen Dokumente einer kritisch gewendeten psychoanalytischen Sozialpsychologie in der »Spätphase« der Nachkriegszeit. Es enthält eine ambitionierte und systematisch argumentierte Analyse säkularer Trends und ihrer aktuellen Ausformulierung, und integriert dabei eine ganze Reihe von bemerkenswerten theoretischen und methodischen Exkursen. Und es ist zudem (aus heutiger Sicht) auch ein Dokument, welches einen produktiven Blick auf die Zeit, die Situation der kritischen Intelligenz, die Lage der Psychoanalyse und nicht zuletzt auf die Entwicklung beziehungsweise den Entwicklungsstand der psychoanalytischen Sozialpsychologie erlaubt.
Theoretische Umrisse Bevor ich den Text aus heutiger Sicht kommentiere, versuche ich eine kurze Zusammenfassung, was allerdings nicht ganz einfach ist. Denn wer eine klare Gliederung, saubere Definitionen und gradlinige Argumentationen erwartet, wird vom Buch strapaziert. Es umkreist sein Thema und setzt sich aus einer Fülle von Exkursen und Variationen zusammen. Dem eigentlichen Thema selbst sind von den zwölf Kapiteln nur zwei direkt gewidmet – die anderen tragen Überschriften wie »Von der Hinfälligkeit der Moralen«, »Exkurs über Triebdynamik« oder »Gehorsam – Autonomie – Anarchie«. Eine Zusammenfassung gibt also nicht unbedingt wieder, was das Buch bietet.1 1 Der Versuch ist sowohl mühselig als auch problematisch, weil Mitscherlich an keiner Stelle ein klares, eindeutiges Modell entwirft, sondern das Thema immer wieder umkreist, wobei er meist ex negativo argumentiert, also von den Veränderungen ausgeht, die das Konzept der traditionellen Gesellschaft in der Gegenwart erfahren hat. Auf dieses Vorgehen komme ich noch zurück.
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6 Von der »vaterlosen Gesellschaft« zum »flexiblen Menschen«
Mitscherlich verbindet die anthropologischen Konzepte der »Instinktreduktion« und des Homo sapiens als eines »sekundären Nesthockers« (Bolk, Portmann) mit der Triebtheorie und Ich-Psychologie, und sieht vor diesem Hintergrund die Fähigkeit zur kritischen Reflexion als sekundäre Ich-Leistung, die von günstigen Bedingungen abhängig ist: Ohne eine fördernde soziale Nische, ohne kompetente primäre Bezugspersonen, die stützen und schützen (vor äußeren, aber auch inneren Gefahren und Konflikteskalationen), bleibt sie unterentwickelt. Die Psyche funktioniert dann auf präreflexivem Niveau (A. Mitscherlich, 1973 [1963], Kapitel I). Vor diesem Hintergrund entwickelt Mitscherlich sowohl die politische Stoßrichtung als auch den inhaltlichen Schwerpunkt seiner Argumentation. Das Buch ist – wie viele seiner Schriften – als psychoanalytische Aufklärung gedacht – vor allem und ausdrücklich als Kampfschrift gegen den »anti-psychologischen Affekt« (ebd., S. 37) seiner Zeit und als Begründung eines systematischen Programms der Affekt-Bildung (ohne die Sach- und Sozialbildung blind bleiben). Freuds Motto »Wo Es war, soll Ich werden« heißt bei Mitscherlich sozusagen: »Wo Abwehr herrscht, sollen Affektbildung und kritisches Bewusstsein werden.« Dieses Ziel versucht er mit einer psychoanalytisch fundierten Kritik der Entwicklung der Sozialisationsbedingungen zu erreichen. Kernthema ist für ihn dabei der säkulare Wandel in der Eltern-Kind-, genauer: der Vater-Sohn-Beziehung. Versucht man, ihn zu rekonstruieren, so ergibt sich dieses Bild: In traditionellen Gesellschaften, die von Knappheiten limitiert und von einem autoritativen Regelsystem gesteuert werden, hängt viel von der väterlichen Funktion ab. Der Vater vertritt die Ordnung, er regelt die Verteilung, er ist vor allem das Arbeits- und Affektvorbild. Am Vorbild des Vaters lernen die Söhne, was wie getan wird; in der Auseinandersetzung mit dem Vater entwickelt sich ihre eigene Identität: »Vom Vater kann man lernen, man kann von ihm eingeführt werden in die Praxis des Umgangs mit den Dingen« (ebd., S. 175). Und: »Den Vater kann man bewundern; man kann bei ihm geborgen sein oder ihn fürchten – schließlich ihn mißachten. Man kann in verschiedenen Augenblicken alles zusammen tun« (ebd.). Dazu kommt die »kulturpsychologische« Funktion des Vaters: »Kulturpsychologisch ist […] zu bedenken, dass der größte Teil des kultischen und praktischen Wissens an die Überlieferung durch die Väter und Vaterfiguren geknüpft war. An der Erfüllung dieser Aufgabe bewährte sich 162
Theoretische Umrisse
das Ansehen des Vaters. Es war augenscheinlich kontrollierbar. Im Beieinandersein, Miteinanderarbeiten vermittelte sich das Wesen, die Art, wie er mit Stoff und Regel umging, das erreichte Maß seiner Übersicht und wo die Grenzen seiner Fähigkeiten liegen mochten – kurz, wohin er in der aufsteigenden Linie der Kultivierung gelangt war« (ebd., S. 183).
Damit ist die väterliche Autorität an den Maßstab kultureller Entwicklung gebunden – und vice versa. Mitscherlich ist weit davon entfernt, dieses Modell einer intensiven persönlichen Bindung im Rahmen fest gefügter sozialer Verhältnisse zu idealisieren. Er weist ausdrücklich auf dessen Probleme und Grenzen hin: auf die Folgeprobleme von Konformitätszwängen, einengenden Strukturen, unbeständiger Vorbilder und vieles mehr (ebd., S. 193). Aber er insistiert darauf, dass es – im besten Fall – die Möglichkeit affektiver und sachlicher Bildung, damit von Autonomie bot. Exklusive und zugleich eindeutige Orientierungsmöglichkeiten erleichtern die Persönlichkeitsentwicklung, weil sie zugleich Halt und Abgrenzung bieten. Entsprechend werden Ambivalenzen besser ausgehalten, verläuft die Pubertät problemloser (A. Mitscherlich & M. Mitscherlich, 1967, S. 289), die soziale Positionsübernahme vereinfacht sich (A. Mitscherlich, 1973 [1963], S. 262), soziales und persönliches Ich sind besser aufeinander abgestimmt (so implizit ebd., Kapitel VI). Die gesellschaftliche Entwicklung hat dieses Modell aufgelöst. Entscheidend sind aus seiner Sicht zwei eng verbundene Entwicklungen: der Übergang von der vorindustriellen Produktionsweise zur technisierten Massenproduktion und von der autoritär-zentralen Herrschaft zur zweckrationalen Verwaltung: »Die Revolutionierung der Praktiken des tätigen Lebens [besteht] in einer Fragmentierung der Arbeitsleistung und in einem Anwachsen ›nicht-anschaulicher‹ Verwaltungsarbeit« (ebd., S. 180). Dies hat zunächst Auswirkungen auf die Arbeitenden selbst: Starre Arbeitsrhythmen, hochgradige Arbeitsteilung, die Trennung von Arbeitsnormen von sozialen Spielregeln (A. Mitscherlich & M. Mitscherlich, 1967, S. 323) unterminieren den Produktionsstolz, der mit Arbeit verbunden ist. Stattdessen fördern sie »Artistik« und leerlaufende Perfektion (A. Mitscherlich, 1973 [1963], S. 24f.). Lohn ist unter diesen Bedingungen nicht Gegenwert für Leistung, sondern Entschädigung für Entfremdung, Ersatzbefriedigung, um sich weitere Ersatzbefriedigungen leisten zu können (ebd., S. 25). 163
6 Von der »vaterlosen Gesellschaft« zum »flexiblen Menschen«
Durch die zunehmend abstrakter und entfremdeter werdende Arbeit kann zugleich kein Sohn mehr vom Vater das lernen, was er zum Leben braucht und von ihm Beruf und Lebenserwerb übernehmen. »Das Arbeitsbild des Vaters verschwindet, wird unbekannt« (ebd., S. 177). »Die Trennung der väterlichen von der kindlichen Welt in unserer Zivilisation läßt eine […] anschauliche Erfahrung auf beiden Seiten nicht zu; das Kind weiß nicht, was der Vater tut; der Vater nicht, wie das Kind in seinen Fertigkeiten heranwächst« (ebd., S. 194).
Dies erschwert den kindlichen Entwicklungsprozess: »Die Identität ist für das Kind schwierig zu finden, weil es zuviel seinen Phantasien über den Vater überlassen bleibt, statt ihn in einer Welt erfahren zu können, in der es ihn durch Mittätigkeit kennen lernt. Für den Jugendlichen in der Pubertätskrise wiederholt sich diese Verlassenheit. Er kann seine Identität nicht leicht in Rollen finden, die schon der Vater oder die Vorväter innehatten […]. Alles das muß ihm das Gefühl der Vereinsamkeit geben und legt ihm den Schluß nahe, daß der Vater schwach, unfähig ist, daß man mit ihm nicht rechnen kann« (ebd.).
Gleichzeitig wird durch die neue Art der Sozialorganisation Herrschaft durch Verwertbarkeit und Konkurrenz ersetzt, was auch bedeutet, dass »tradierter Besitz, der ›Signalbesitz‹, […] materiell und geistig […] fortwährend umgeschichtet, neu verteilt – und verwüstet […]« (ebd., S. 146) wird. Damit verliert der Vater auch seine soziale Bedeutung als Träger von Ordnung und Macht, was – so Mitscherlich – »ein Defizit an Sozialbildung« (ebd.) zur Folge hat. Er zitiert in diesem Zusammenhang Gorers völkerpsychologische Studie über die US-Amerikaner (1956). Dort wird dargestellt, dass sich in der amerikanischen Kultur die Vater-Sohn-Beziehung gewissermaßen umgekehrt hat: Der Sohn ist hier gewissermaßen immer im Recht, weil er die Welt der Zukunft vertritt; der Vater muss bereitwillig Platz machen. Diese Entwicklung wird (so Mitscherlich) von einer – allerdings affektarmen – »Vaterverachtung« begleitet. Entsprechend kippt die Bewertung: »Der hymnischen Verherrlichung des Vaters – und des Vaterlandes! – folgt in der Breite ein ›sozialisierter Vaterhaß‹, die ›Verwerfung des Vaters‹, die Entfremdung und deren seelische Entsprechungen: ›Angst‹ und ›Aggressivität‹« (A. Mitscherlich, 164
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S. 177).2 Als funktionslos gewordene Figur mutiert der Vater im kindlichen Erleben immer häufiger zum »Schreckgespenst« (ebd., S. 187f.) – zur immer noch übermächtigen, aber erratischen Gestalt. Parallel zur Veränderung des Arbeitsprozesses wandelt sich auch die Familienstruktur insgesamt und damit das Sozialisationsmilieu. »Die Kleinfamilie (Eltern/Kinder) lebt oft auf engstem Raum, relativ insulär, zellenhaft neben gleichen anderen Familien. Das erzwingt eine enge Zusammenpferchung und bringt eine stärkere Belastung der emotionellen Beziehungen […] mit sich« (ebd., S. 77). Damit sind Eltern, speziell Mütter, überfordert, besonders, wenn sie berufstätig sein müssen und unter dem gleichen Druck stehen wie die Väter. Zugleich dringen Standardisierung und Technisierung auch in den Sozialisationsprozess ein.3 Alle diese Tendenzen führen zu einem strukturellen Wandel, den Mitscherlich mit dem Begriff »doppelte Vaterlosigkeit« bezeichnet: »Die fortschreitende Spezialisierung hat […] zur Vaterlosigkeit ersten Grades geführt, zum Unsichtbarwerden des leiblichen Vaters oder, weniger einseitig pointiert: zur Schwächung der ersten Objektbeziehungen überhaupt. Der Eingriff des technischen Routinebetriebes schon in die früheste Mutter-Kind-Beziehung ist nicht weniger folgenreich als das Verschwinden des Hand-in-Hand-Handelns zwischen Vater und Kind. Der zweite Grad der Vaterlosigkeit löst die personale Relation der Machtverhältnisse überhaupt auf: Man kann sich, obwohl man sie ungemildert erfährt, ›kein Bild‹ von ihnen machen. Das vaterlose (und zunehmend auch mutterlose) Kind wächst zum herrenlosen Erwachsenen auf, es übt anonyme Funktionen aus und wird von anonymen Funktionen gesteuert« (ebd., S. 338). 2 Es wäre genauer zu überlegen, ob diese Überlegungen psychodynamisch und sozialpsychologisch stimmen – immerhin wird aus dem »Vaterland« zumindest in den USA God’s own country – was die Vaterfigur eher noch erhöht als erniedrig. Andererseits ist die Interpretation von God’s own country eigentlich: Hier darf ich machen und nehmen, was ich will. Das kommt Mitscherlichs Bild deutlich näher. 3 Mitscherlich zitiert in diesem Zusammenhang die Rationalisierung der Säuglingspflege durch Handbücher, in denen Zeitpläne, Stilltechniken und so weiter vorgeschrieben werden (wie zum Beispiel in Leiber & Schlack, 1969) (A. Mitscherlich, 1973 [1963], S. 330). Nicht nur das Vaterbild verblasst und wird zum reinen Fantasieprodukt – auch »die Mutter wird ihm bald in sein Reich der Schattenhaftigkeit nachgefolgt sein« (ebd., S. 195).
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Dem entspricht die Umstrukturierung der Sozialwelt: Die Umstellung von Produktion und Sozialorganisation und der Übergang von Herrschaft zu Verwaltung führen dazu, dass Macht ihre sinnliche Qualität verliert. Nicht nur die väterliche, auch die gesellschaftliche Autorität wird »entleert« (ebd., S. 183). Die neuen Eliten sind Technokraten der Macht, gesichtsund geschichtslos. Sie stellen eher »subhumane Phantasiegestalten des Gewalthandelns« (ebd., S. 100) dar, die ziellos über enorme Möglichkeiten verfügen. Für das von diesen »Massenplanern« (ebd., S. 273f.) gelenkte System findet Mitscherlich Ausdrücke wie »Mammutbürokratie« (ebd., S. 277), »gigantische Maschinerie« (ebd., S. 278), »selbsttätige Maschinerie« (ebd., S. 328), »verwaltete Großgesellschaft« (ebd., S. 191), »technisierte, zweckrationalisierte Massengesellschaft« (ebd., S. 99), »industrielle Massengesellschaft« (ebd., S. 310). Die Leistungen dieses Systems sind zwiespältig: Es hält die Entwicklung der »Erfindungszivilisation« (A. Mitscherlich & M. Mitscherlich, 1967, S. 285) in Gang, es sorgt für institutionelle Absicherung, aber es bietet keine Identifikationsmöglichkeiten und treibt den Auflösungsprozess von kulturellen Bindungen (A. Mitscherlich, 1973 [1963], S. 221) massiv voran. Die Sitten »verwildern« im kulturellen Synkretismus (ebd., S. 147). Dies zerstört letztlich den gesellschaftlichen Vorrat an Ritualisierungen, das heißt das funktionale Äquivalent für artspezifische Instinkte.
Vaterlosigkeit und Identitätsprobleme Diese Mischung aus technischer Produktivität und sozialer Destruktivität wirkt sich naturgemäß auf die typische Identitätsentwicklung aus. Mitscherlich beschreibt einige der Schlüsselsyndrome, die mit den sozialen Verhältnissen einhergehen. Ein zentraler Punkt ist der Gegensatz zwischen Autonomie und Abhängigkeit; zwischen Konformität und Individualität. Mitscherlich kommt in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass die Sozialordnung beides betreibt und fördert – aber beides halbherzig. Die Herauslösung aus stabilen Bindungen erhöht die Mobilität, was individuelle Beweglichkeit voraussetzt. Gleichzeitig fordert das System Anpassung, was »teils verbietend, teils achtlos geschieht«, ohne die Absicherung durch »haltgebende Kontakte«, mit Schuldgefühlen, aber ohne Verständnis für Schuld, mit dem Ziel, »auf einem kleinen Sektor kritisch denken, sonst aber in unauffälligem Konfor166
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mismus Gehorsam [zu] zeigen« (ebd., S. 241). Der daraus resultierende Strukturkonflikt führt zu problematischen Bewältigungsstrategien: »Der zeittypische Konflikt […] liegt [in der] Widersprüchlichkeit von Streben zur subjektiven Autonomie in den sinngebenden Entscheidungen des Lebens und andererseits der Notwendigkeit, sich bürokratischen Überorganisationen, spezialistischer Einschränkung der Verantwortlichkeit einfügen zu müssen und dabei einen oft unangemessenen Anspruch auf soziale Fürsorge zu entwickeln« (ebd., S. 249).
Als Belohnung für konformes Verhalten bietet das System dazu passend Bereiche, in denen Triebimpulse zwanglos befriedigt werden können. Daraus ergibt sich eine Art funktionaler Schizophrenie: »Auf dem einen Schauplatz beugt sie sich schärfster Restriktion im Befehlsverband, auf dem anderen ergeht sie sich in zügelloser Vernichtungswut. […] Die Triebverzichte im Rollenzwang werden durch die unbeschnittene Triebbefriedigung […] im Gleichklang gehalten« (ebd., S. 284). Diese Art des Konsumierens ist kein Genießen: »Die reichlichen Triebverzichte, die langen Aufschübe von Befriedigung, die eine hochspezialisierte Leistungskultur verlangt, […] frustrieren in vieler Hinsicht. […] Dies erweckt zugleich Angst und setzt Aggressionen frei. […] Aggression dieser Art hat ausdrücklich den Zusammenhalt mit libidinösen Regungen verloren und erscheint als Missgunst, Brotneid. Solche unzufriedene Gespanntheit überschattet schließlich die Fähigkeit zum Genuss überhaupt. Einfache Befriedigung genügt dann nicht mehr. Man kann es nicht genießen, in der Sonne zu liegen, sondern man muss dabei ein illustriertes Journal lesen und gleichzeitig ein Transistorgerät laufen lassen. Der übergroße Anspruch auf Befriedigung entspringt einem verdeckt bleibenden Entbehrungserlebnis. Eben daher kommt es offenbar zu keiner befriedigenden Entspannung. Der Anteil an aggressiver Gier durchkreuzt permanent die regressive Beruhigung auf Zeit, die in jeder libidinösen Befriedigung liegt« (ebd., S. 210).
Dazu kommt die Abwehrfunktion des Konsums: »Die Werbung zum Genuß gibt sich naiv und verheißt Verringerung der unlustvollen Bürden. Die verborgenere Dynamik, die ihr erst den durch167
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schlagenden Erfolg verschafft, ist ganz anderer Herkunft. Sie entsteht aus der Angst, welche die Frustrationserlebnisse der Massenexistenz hervorrufen. Der einzelne muß für sie wenig gewappnet sein, sonst bliebe unerklärlich, warum diese Angst so heftig abgewehrt werden muß. Das süchtige Aufgreifen der Ersatzfreuden ist nur als Reaktionsbildung gegen eine Angst zu erklären, die vom Ich nicht beherrscht werden kann« (ebd., S. 211).
Mitscherlich spricht deshalb auch von neurotischer Präokkupierung mit Geld und Sexualität (ebd., S. 89), was auch bedeutet, dass es keine Befriedigung geben kann: »Entsprechend der Sättigungskurve bei Sinnesreizen erlischt das Interesse bald und muß durch neuere Objektangebote wieder gereizt werden« (ebd., S. 311). Was daraus entsteht, ist ein negativer Zyklus: »Hektische Beweglichkeit in der Befriedigungssuche und gähnende Langeweile im Zustand des Sattseins sind zwei Zustandsformen, zwischen denen die Zuständlichkeit des Konsumenten schwankt, sobald er aus der Unlust der Produktion entlassen ist« (ebd.). Anpassung und Freiheit ergeben so keine Einheit. Was entsteht, ist eine opportunistische Persönlichkeit, die ständig schwankt, die je nach Situation, in der sie sich befindet, verschieden ist. Sie lebt daher in der Gegenwart von Situation zu Situation, bildet aber keine Kontinuität aus. Mitscherlich spricht von »Momentpersönlichkeit«, von »Menschen also, die von den situativen Bedingungen ihre Impulse entlehnen, und sich ebenso wie diese proteushaft ändern, ohne dass die einzelnen Momente zu einer einheitlichen Geschichte zusammenwüchsen. Geschichte setzt Gedächtnis voraus; dieses scheint unter den extremen Anforderungen unserer Großzivilisation auf das Fachwissen beschränkt zu sein; es entspricht ihm kein ebenso geschärftes Gedächtnis für die eigene Affektgestalt, für das Selbst, für die unumgänglichen Krisen seiner Entwicklung« (ebd., S. 276).
Auf der Strecke bleibt dabei auch die Fähigkeit zu Objektbeziehungen: »Man hängt sein Herz nicht mehr an etwas« (ebd., S. 311). Zwar werden Gegenstände schnell (im Doppelsinn) »besetzt«, aber die »Objektlibido [findet] keinen festen Halt, nicht in Mitmenschen, nicht in Dingen« (ebd., S. 197). Das erhöht zwar die Anpassungsgeschwindigkeit, führt in der Folge jedoch zur Kritikunfähigkeit und zu »ungestilltem Identifikationshunger« (ebd., S. 199), ständiger Unruhe und Unsicherheit. In Extremform entsteht daraus ein »Kaspar-Hauser-Komplex«. Hier do168
Vaterlosigkeit und Identitätsprobleme
miniert unterschwellig eine »wahnähnliche Weltverarbeitung« vor dem Hintergrund einer »absolut gewordenen Unzuverlässigkeit, Fremdheit und Bedrohlichkeit von Mensch und Ding« (ebd., S. 200). Aus dem Ausgeliefertsein an eine unverständliche Welt ohne die Stütze stabiler Internalisierungen entsteht der »Prototyp eines Menschen mit von Geburt an verarmten Beziehungen zu einer kulturellen Menschenwelt. […] Kaspar Hauser steht dann für ein passives Verharren in sprachloser unterentwickelter Phantasiewelt, also in den seelischen Primärprozessen. In ihnen hat die Außenwelt nichts als unmittelbaren Reizcharakter für die auf der Suche nach Sättigung befindlichen Triebwünsche, noch nicht aber den komplizierten Signalwert der kulturellen Symbole. Zugespitzt formuliert: Welt ist im Primärprozeß genießbar, oder sie ist nicht. Es gibt hier kaum Angst, sondern nur Unlust. Auf dieses primärprozeßhafte Welterleben stellen sich viele der ›künstlichen Paradiese‹ unserer Zeit mit technischer Perfektion ein. Nach diesen Paradiesen sucht der Gegentypus des rücksichtslos Aggressiven, dem die Außenwelt ebenso dschungelhaft fremd bleibt. Das Parasitäre, Unproduktive ist beiden Verlassenen gemein.«
»Zombies« und »Desperados« sind zwei Seiten der Isolierung und des Kontaktverlusts. Ihr Leben unter Kontrolle haben beide nicht – es lebt sie. Die soziale Seite der »Momentpersönlichkeit« ist der »klassenlose Massenmensch« (ebd., S. 186), wobei »klassenlos« für die soziale Ortslosigkeit, »Massenmensch« für ein indifferentes Nebeneinander ohne strukturierte Beziehungen steht. Dieser Menschentypus ist genuin orientierungslos, zu seinem »Lebensraum […] gehört der überraschende Zuruf neuer kurzfristiger Ziele, die er schnell ergreift und aufgibt« (ebd., S. 186f.). Gleichzeitig ändert sich auch das psychodynamische Profil der Sozialorganisation: Die neuen Verhältnisse bieten kaum Identifizierungsmöglichkeiten (ebd., S. 329). »Es entsteht ein Orientierungsdefizit im Sinne einer Orientierungsschwäche, die zur Regression in sehr archaische Erfahrungen der Befriedigung zurücktreibt, in die Märchenordnung des ›Tischlein, deck dich‹, in die Stillordnung« (ebd., S. 330). Gesellschaftliche Ordnung entsteht sozialpsychologisch nicht mehr durch Auseinandersetzung, sondern durch Verteilungsmuster. »Ihr Hauptkonflikt ist nicht durch die ödipale Rivalität, die mit dem Vater um die Privilegien des Genußes von Macht und Freiheit ringt, bezeichnet, 169
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sondern durch Geschwisterneid auf den Nachbarn, den Konkurrenten, der mehr bekommen hat. […] Anlehnungshungriges Neidverhalten ist das Strukturmerkmal unserer Konkurrenzgesellschaft« (ebd., S. 328).
Das ändert die Art sozialer Konflikte und das psychodynamische Bild des Staates erheblich: »Der Staat wird zwar gewohnheitsmäßig immer noch als ›Vater Staat‹ angesprochen. Die passiv fordernde Einstellung zu ihm läßt aber ein tieferes Abhängigkeitsverhältnis erraten: Man legt sich ihm an wie einer Muttergottheit mit ungezählten Brüsten. […] Man traut der Perfektion der Technik die Herstellung eines Brutklimas zu. […] So sehr sich Politiker und Unternehmer darum bemühen, das paternitäre Prinzip am Leben zu erhalten […], die Millionen der Untergebenen sind an ihm nicht mehr interessiert. […] Ihrer Erwartungshaltung ist selbständiges Leisten, kämpferische Konkurrenz als Ziel des Lebens fremd; und die Verhältnisse sind so, dass das ein Ziel mit wenig realen Chancen geworden ist. Deshalb haben auch zum Beispiel Lohnkämpfe nicht mehr den Charakter der harten Auseinandersetzung mit einem harten Vater; die Regression geht tiefer, sie läßt die Struktur des Über-Ichs, der Pflicht, der Verantwortung, der Beschränkung hinter sich. Es wird reichlich produziert und reichlich an der Brust getrunken. Was erstrebt wird, ist die Dämmerhaltung der Sattheit« (ebd., S. 306f.).
Entsprechend ändern sich auch die Kriterien sozialer Anerkennung und sozialen Erfolgs erheblich: »In der bürgerlichen Gesellschaft gipfelten die Konflikte um das Nachfolgeproblem, die jüngere rang mit der älteren Generation um die Übernahme von auctoritas, um ihre Rollenprivilegien, von denen das höchste die Verfügung über Besitz war. In der industriellen Massengesellschaft wird um eine ganz andere definitive Sicherheit gerungen: Definitive Sicherheit bedeutet lebenslangen Anspruch auf Versorgung. Das erzeugt eine völlig verschiedene öffentliche Meinung darüber, was als lebenstüchtig gilt. Tüchtig ist, wer sich möglichst früh seinen Platz an den Brüsten der Verwaltungsgottheit sichert« (ebd., S. 310).
Dieser Zug zum »Pensionistendasein« (ebd., S. 249) erzeugt eine neue Art von »›Artigkeit‹ der Landeskinder« (ebd.), aber die Anpassung ist 170
Aus heutiger Sicht
oberflächlicher Natur; dahinter lauern die Abgründe, die das »paranoide, euphorische, depressive, aggressive Gesamtklima« (ebd., S. 308) mit sich bringt.
Aus heutiger Sicht Mitscherlichs Darstellung ist eine Mischung aus präziser Analyse, Übertreibungen, und unvollständigem Problemverständnis. Um das zu verdeutlichen, möchte ich ein Kontrastmittel benutzen: Richard Sennetts Essay Der flexible Mensch, der 1998 publiziert wurde. Ein Vergleich zwischen Mitscherlich und Sennett ist allerdings nur begrenzt sinnvoll – Sennett ist kein Analytiker, er setzt sich vor allem mit der US-amerikanischen Gesellschaft auseinander – aber seine Problemskizze spricht eine Reihe der Themen an, die auch Mitscherlich behandelte. Auch Sennett bezieht seine Argumentation auf einen Strukturwandel der Arbeitswelt – nicht in den Zeithorizonten, die Mitscherlich behandelt, aber doch fundamentaler Art. Er verdeutlicht die Veränderungen am Beispiel einer Bäckerei: In den 1960er Jahren war der Betrieb ein Nahversorger; die Mitarbeiter verstanden sich als Handwerker, die sich mit ihrem Beruf identifizierten. Die Arbeit war körperlich anstrengend, die Hitze in der Backstube höllisch. Alle waren griechischer Herkunft, das soziale Netz innerhalb und außerhalb des Betriebs war identisch. Ein Geselle, der betrunken zur Arbeit kam, wurde nicht vom Chef, sondern von der ethnischen Gruppe unter Druck gesetzt. 30 Jahre später ist der Betrieb Zulieferer einer großen Kette. Die Produktion läuft vollautomatisch und computergesteuert, sodass die Mitarbeiter keinerlei Backkenntnisse brauchen. Entsprechend gibt es keine Bäcker mehr, sondern fast nur angelernte Hilfskräfte, die sich mit nichts (außer ihren Aufstiegshoffnungen) identifizieren und nur kurz im (inzwischen vollklimatisierten) Betrieb verweilen – eine multiethnische Gruppe, in der sich kein einziger Grieche mehr befindet. Sennett will damit zeigen, wie aus Berufstätigkeit mit festen Identifizierungen und stabilen Bindungen ein »Job« in einer hochtechnisierten, vom abstrakten Marktgeschehen gesteuerten Umwelt wird. Im modernen Kapitalismus sieht er vor allem eine Tendenz zur Flexibilisierung der Produktion und Steuerung, die auch die Struktur von Macht ändert: Sie wird anonymer, versteckt sich in »Sachzwängen« und überlässt es den Ein171
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zelnen, wie sie mit ihren Vorgaben umgehen. Das erhöht das Tempo von Wandel. Diese berufsbedingte »Flexibilisierung« verlangt ständige Anpassung an ständig wechselnde Verhältnisse, die zu kurzfristigen Manövern zwingt. Daraus ergeben sich neue sozialpsychologische Problemlagen. War bei Mitscherlich das Thema »Entfremdung« noch gebunden an die Tätigkeit selbst, so ist sie bei Sennett ein Effekt mangelnder Kontinuität. Viele Arbeitsplätze, die früher Identifizierung und Fachkompetenz verlangten, werden heute von allen Beteiligten als Positionen gesehen, die ebenso beliebig gewechselt wie angenommen werden (müssen). Es ist daher weniger das Festgenagelt-Sein auf einen öden Job, das Sennetts Probanden plagt, es ist eher der Zwang zu permanenten Anpassungen und zu hoher Mobilität, und die daraus resultierende Disparität der Lebensbereiche. Der Flexibilitätszwang sabotiert die Fähigkeit und Möglichkeit, persönliche Beziehungen unabhängig von funktionalen Zwängen zu stabilisieren. Die Auswirkungen sieht Sennett besonders ausgeprägt in der Beziehung zu Kindern: Die Schreckensfantasie der Akteure, die Sennett vorstellt – soweit sie nicht Beziehungsnomaden sind –, ist die Sorge, dass ihre Kinder »Drifter« werden könnten – ziel- und haltlose Individuen im Strom des sozialen Geschehens. Sennetts Zeugen versuchen intensiv gegenzusteuern, aber ihre Versuche, durch Festhalten an strikten Moralvorstellungen festzuhalten, werden unterminiert von den Medien und von der Tatsache, dass ihre Arbeitswelt keine Moral kennt. Während Mitscherlich noch eine Komplementarität zwischen Arbeit und Freizeit sah, sind bei Sennett beide Bereiche systematisch getrennt – und in beiden gibt es keinen wirklichen Halt mehr: »Ein Verhalten, das Erfolg oder zumindest Überleben im Beruf verspricht, trägt […] wenig zu einem elterlichen Rollenmodell bei« (Sennett, 1998, S. 31). Eltern stehen vor dem Problem, »die familiären Beziehungen vor dem auf Kurzfristigkeit basierenden Verhalten, der Diskussionswut und vor allem dem Mangel an Loyalität und Verbindlichkeit schützen« (ebd.) zu wollen, ohne dafür Halt finden zu können. Schließlich erreicht der destruktive Sog der modernen Arbeits- und Lebensbedingungen den Kern der Identität selbst: »Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln? Die Bedingungen der neuen Wirtschaftsordnung befördern […] die Erfahrung, die in der Zeit, von Ort zu Ort und von Tätigkeit zu Tätigkeit driftet. […] Der kurzfristig agierende Kapitalismus [bedroht den] Cha172
Aus heutiger Sicht
rakter, besonders jene Charaktereigenschaften; die Menschen aneinander binden und dem einzelnen ein stabiles Selbstgefühl vermitteln« (ebd.).
Nun darf man Sennetts Ausführungen auch nicht in jeder Hinsicht für bare Münze nehmen – es handelt sich nicht um eine seriöse Untersuchung, sondern um eine eher impressionistisch begründete Polemik, die sich weitgehend auf bestimmte Teilpopulationen konzentriert. Aber sie sprechen wichtige Trends an, die zeigen, dass und wo Mitscherlichs Modell der gesellschaftlichen Entwicklungen zeitbedingt zu kurz greift.4 Zunächst wird deutlich, dass Mitscherlichs Vorstellungen über die Entwicklung der Arbeit, die Funktion des Staates und die Dynamik der Ökonomie von einem überstarken Eindruck der Umstände bestimmt sind. Arbeit in modernen Gesellschaften ist für ihn vor allem repetitive Teilarbeit, parzelliert und sinnentleert. Der Staat erscheint als übermächtig, fast schon in Orwell’schen Größenordnungen. Der Kapitalismus wird dagegen kaum erwähnt, vermutlich, weil Mitscherlich an dessen schaumgebremste Variante der Nachkriegszeit dachte. Im Zeitalter der Dienstleistungsgesellschaft, des Rückzugs des Staats und des Turbo-Kapitalismus (das Sennett skizziert) wirkt dies Bild nicht mehr passend. Es wäre natürlich unsinnig, Mitscherlich dies vorzuwerfen. Aber die Schräglage einiger seiner Diagnosen hängt auch damit zusammen, dass er bestimmte Aspekte einer bestimmten Situation fortschreibt und übergeneralisiert. Dahinter steht jedoch ein insgesamt verkürztes Bild des gesellschaftlichen Wandels. Dies zeigt sich, wenn man einen näheren Blick auf Mitscherlichs Interpretation der historischen Vater-Sohn-Beziehung wirft. Bei Mitscherlichs historischer Rekonstruktion ist nicht genau identifizierbar, wo man das traditionelle Modell der Vater-Sohn-Beziehung verorten soll. Die Betonung der praktischen Sichtbarkeit, der Anleitung und der Übernahme sprechen für eine Bauern- und Handwerker-Situation. Mitscherlichs (sehr knapp gehaltene) Skizze trifft das psychodynamische Profil dieser Konfiguration 4 Die methodologischen Probleme sind ein Thema für sich. Mitscherlich beruft sich auf langjährige und intensive Therapieerfahrungen, aber er nennt keine methodischen Verfahren, um von dort zu sozialpsychologischen Hypothesen und deren Unterstützung zu kommen. Dies müsste geklärt werden. Aber vermutlich hätte Mitscherlich das Buch nicht geschrieben, wenn er erst eine methodologische Begründung seiner Arbeit unternommen hätte …
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jedoch nicht genau. In traditionellen Agrargesellschaften ist die Situation von Bauern und Handwerkern massiv geprägt durch die zwingenden sozialen Normen. Die patriarchalische Struktur bedeutet nicht, dass der Vater als Person bedeutsam wäre. Ganz im Gegenteil: Da das Strukturierungsrepertoire traditioneller Gesellschaften begrenzt ist, basiert soziales Funktionieren auf der Zuweisung und strikten Festlegung individuellen Handelns. In der Mann-Frau-Beziehung wie in der Eltern-Kind-Beziehung dominieren daher die vom Nahweltmilieu insgesamt getragenen und kontrollierten Formen der Steuerung und Kontrolle. Vater und Mutter sind also im Wesentlichen Exekutoren unpersönlicher Regeln – persönliche Ausgestaltung und persönliches Engagement sind nicht vorgesehen. Sozialisation ist daher ein von außen definierter und dadurch stabiler, aber rigider und nur wenig subjektivierbarer Prozess. Entsprechend sind die Beziehungen und deren intrapsychische Abdrücke wesentlich unpersönlicher, sie beziehen ihr Profil aus der Sozialstruktur und können nur begrenzt autonome Individualität fördern. Es scheint daher, dass Mitscherlich das Modell des direkten Transfers von praktischen und sozialen Kompetenzen, das in traditionellen Agrargesellschaften vorherrscht, inhaltlich vermischt mit der Situation im städtischen Bürgertum im Übergang zur (beziehungsweise in der ersten Phase der) Industriegesellschaft, wenn er die außerordentliche ökonomische und politische Bedeutung des Vaters unmittelbar koppelt mit einer persönlichen Beziehung zum Vater und mit der Notwendigkeit beziehungsweise der Möglichkeit der Genese persönlicher Autonomie. In dieser Perspektive muss Modernisierung als einseitiges Verlustgeschäft erscheinen: Das Verblassen des väterlichen Vorbilds, das Schwinden der väterlichen Autorität, die Stupidität der Fließbandarbeit, die Übermacht des anonymen Staates erscheinen entsprechend als Symptome eines fundamentalen Verlusts an Struktur, Kontrolle und Orientierung, die letztlich zur Regression zwingen. Bei Sennett sind diese Gefahren nicht verschwunden. Auch bei ihm sind Ökonomie und Macht zwingend und unkontrollierbar – sie erscheinen mehr denn je als reißender Fluss, in den die Akteure geworfen sind. Aber anders als bei Mitscherlich erscheinen diese Akteure als fleißige Schwimmer – sie haben Ziele und sie bemühen sich, sie zu erreichen. Die »Momentpersönlichkeit« erscheint als »Durchschnittsprodukt«, der »Drifter« ist eher der Modernisierungsverlierer – und das zum Kummer der Eltern, die sich bemühen, aber es nicht schaffen, die Kinder genügend zu behüten und gegen den nivellierenden Sog Moral und Orientierung zu 174
Aus heutiger Sicht
vermitteln. Insofern sind auch sie »Loser« – aber sie sind dies, wo sie auf verlorenem Posten sozusagen versuchen, gegen den Strom zu schwimmen. Auch hier ist der Vater machtlos, aber er ist nicht orientierungslos. In Sennetts Bild geht es also nicht um einen Zerfall des Über-Ichs; es geht eher um die Schwierigkeiten, reife Über-Ich-Strukturen zu vermitteln. Damit ändert sich zunächst die Perspektive auf das, was Mitscherlich als orale Regression zeichnet. Prima vista ist dazu zunächst zu sagen, dass das Repertoire der Regressionsangebote sich extrem ausgeweitet hat. Im modernen Konsumkapitalismus – Mitscherlich hat nur dessen Anfänge kennengelernt – gibt es nicht nur noch viel mehr Regressionsangebote, es gibt auch eine hochgerüstete Regressionspropaganda. Trotzdem will das Bild von der »Regression in die Stillordnung« nicht so recht passen – die Beschreibung passt auf bestimmte (Opfer-)Gruppen (etwa auf Couch-Potatoes). Bei Sennett ist dies jedoch nicht das Hauptproblem. Man könnte dies darauf zurückführen, dass die USA den Konsumkapitalismus kreiert und daher auch stärker normalisiert haben. Auf jeden Fall geht es bei ihm viel stärker um eine Veränderung des Leistungsprofils. Das gilt zunächst für den Bereich der Arbeit. Es sei dahingestellt, ob Arbeit heute weniger »entfremdet« ist. Von einer exklusiven Dominanz durchstandardisierter und monotoner Tätigkeit (wie bei Mitscherlich) kann jedoch kaum die Rede sein – diese Art von Arbeit ist im Zuge der Globalisierung in großem Umfang in die sogenannte »Dritte Welt« ausgelagert worden. Soweit Arbeit geblieben ist, verlangt sie dagegen wesentlich mehr persönliche Leistungen – nicht nur Disziplin. Die Studien von Goffman (1971), Hochschild (1990 [1983]) und ihren Nachfolgern haben verdeutlicht, in welchem Maß Individuen unter zunehmendem psychosozialen Druck stehen. Moderne Dienstleistungen verlangen von ihren Anbietern korrekte Selbstdarstellungen sowie sozial und emotional angemessenen Ausdruck. Beziehungen verlangen Beziehungsarbeit (also die Fähigkeit, psychosoziale Themen aufgreifen und angemessen bearbeiten zu können). Entsprechend hat die Wissenschaft sich diesen Themen zugewandt und ihre Ergebnisse in den öffentlichen Diskurs eingespeist. Das hat den doppelten Effekt, dass einerseits das Informations(und damit Aspirations-)Niveau gestiegen ist, andererseits eine Fülle von Verwertungsstrategien entstanden sind, die psychosoziale Techniken und Themen für partikulare Zwecke nutzen. Mitscherlichs Wunsch nach dem Abbau des »antipsychologischen Affekts« hat sich also in gewisser Weise erfüllt, aber nicht nur in der Weise, wie er sich dies vorgestellt hat – psy175
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chodynamische Kenntnisse fungieren auch (und manchmal vorrangig) als Teil von Instrumentalisierungs- und Selbst-Instrumentalisierungstechniken. Auch im Privatleben setzt sich fort, was für die Arbeitswelt gilt: Sennetts Akteure sind Getriebene, ständig unter Leistungsdruck. Dies ist eine wichtige Akzentverlagerung gegenüber Mitscherlichs Skizze: die psychosoziale Anstrengung, die erforderlich ist, um mithalten zu können, um die geforderten Leistungen zu erzeugen und sie unter einen Hut zu bringen. Was beiden Bildern jedoch gemeinsam ist: Sie entwerfen eine »entödipalisierte« Welt. Dies verweist auf einen tiefgreifenden Wandel in der Struktur. Diese Interpretation hat einiges für sich. Sie wird gestützt durch ein allgemeineres Bild des historischen Wandels. Der Prozess, den die Soziologie als »Modernisierung«, als »funktionale Differenzierung« bezeichnet, ersetzt traditionelle durch sachliche Kriterien und personengebundene durch systemlogische Kontrolle und bringt damit neue Anforderungen und Möglichkeiten mit sich. In professionell organisierten Subsystemen zählt Leistung, nicht Herkunft oder Zugehörigkeit. Das hat tiefgreifende Änderungen auch in Bezug auf persönliche Beziehungen und Identitätsstruktur zur Folge: Die soziale Identität ist nicht mehr mit der persönlichen identisch, Akteure werden nicht mehr durch Gruppenzugehörigkeit definiert. An die Stelle einer zugewiesenen Zentralposition, die das Leben der Akteure weitgehend bestimmt, tritt ein Spektrum von Teilpositionen, die erworben und verteidigt werden müssen. Dies führt zu einem – wie man früher gern sagte – »Funktionsverlust« der Primärgruppe, weil sie jetzt nicht mehr unmittelbar für die Stabilisierung von Sozialstruktur und Biografien zuständig ist. Man sollte eher von einer funktionalen Spezifizierung der Primärgruppe sprechen – sie wird sozusagen zum Ort der Professionalisierung persönlicher Beziehungen, denn diese Entwicklung impliziert einen enormen Bedeutungszuwachs der Beziehungsfähigkeit. Da Beziehungen wie Positionen kontingent und damit leistungsabhängig werden, entscheidet Beziehungsfähigkeit über Lebenschancen – und die Primärgruppe wird mehr denn je der soziale Ort der Vermittlung der entsprechenden psychischen Struktur und Kompetenzen. Hierarchisierung als Organisationsprinzip reicht dafür nicht mehr. Es ist klar, dass damit die Stellung des Vaters nicht nur ökonomisch, sondern in einem umfassenden Sinn verändert wird: Er ist nicht mehr das Gesetz, sondern selbst den Gesetzen des Marktes und der Leistung unterworfen. Das bedeutet zunächst einen Statusgewinn für Frauen und Kinder. Bedeutsamer ist jedoch, dass für alle gilt, dass sich ihre persönliche Identi176
Aus heutiger Sicht
tät von ihrer sozialen emanzipieren kann und muss, und dass der Sozialstatus (zumindest teilweise) von der persönlichen Performanz abhängig wird. Damit ändert sich die Interaktionsordnung (und auch die Struktur der Sozialisation!) systematisch: Es gibt keine festen Zuständigkeiten und Regulationen, sondern ein offenes Milieu, welches nicht mehr unter dem Druck der Einhaltung von rigiden Vorgaben, aber dafür unter dem Druck des Managements von divergierenden Erwartungen und Leistungsansprüchen steht. »Funktionale Differenzierung« bedeutet daher tatsächlich die Trennung von Funktionen, die in traditionellen Gesellschaften in der Person des Vaters gebündelt und im autoritativen Handeln des Vaters fixiert waren. Sie bedeutet aber auch eine Eröffnung von Handlungsspielräumen und eine Aufwertung der Handlungskompetenz. Das Problem von Mitscherlichs Diagnose ist daher weniger, dass er den Blick nur auf die Risiken dieser Entwicklung richtet, es liegt in der Art der Rekonstruktion. Dabei sind die Einseitigkeiten seines Gesellschaftsmodells und die Art der Verwendung des psychoanalytischen Instrumentariums zwei Seiten derselben Medaille – besonders, wo er die Dinge ausschließlich vater- und ödipuszentriert sieht.5 Hier folgt er Freud, der dem Ödipuskomplex sehr viel theoretische Begründungs- und Beweislast aufgebürdet hatte, weil ihm noch kein differenzierteres Instrumentarium zur Verfügung stand – und weil er in hohem Maße mit den spezifischen Lebensbedingungen des Bürgertums identifiziert war.6 Mitscherlich geht zwar wichtige theoretische Schritte weiter, wo er die historische Bedingtheit und soziale Relativität der väter5 Das heißt nicht, dass er die Bedeutung anderer Faktoren ignoriert (siehe seine Ausführungen über die Bedingung der Entstehung von Ich-Funktionen, 1973 [1963], S. 153ff.). Er lässt etwa anklingen, dass die Entstehung des Über-Ichs auf frühere Introjekte aufbaut. Außerdem betont er – allerdings ohne weitere Ausführung – den Systemcharakter der Entwicklung. Im Kapitel über den »Unsichtbaren Vater« schreibt er beispielsweise: »Hier sei angefügt, dass wir […] nur eine soziale Beziehung, die zwischen Vater und Sohn, behandeln. Sie steht beispielhaft für die anderen Verhältnisse in der Familiengruppe. […] Wenn wir gerade die Kommunikation von Vater und Sohn herausgegriffen haben, so hat dies seine Ursache in der gesellschaftlichen Sonderstellung dieser Beziehung in einer paternistischen Gesellschaft. An der Veränderung, welche die gesellschaftlichen Prozesse in diesem Verhältnis erzwungen haben, kann man mit besonderer Deutlichkeit ablesen, wie die paternitäre Gesellschaftsordnung sich selbst in eine kritische Lage manövriert hat« (ebd., S. 175). 6 Daher stammt die »ödipale Fixierung« der frühen Psychoanalyse. Viele neuere Theorien haben diese Zentrierung aufgegeben; von einer besonders hervorgehobenen Rolle des Themas ist nur noch selten die Rede.
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lichen Funktion sieht und sich damit vom Konzept einer ahistorischen psychischen Repräsentanz trennt. Damit öffnet sich eine Perspektive, die Psychodynamik im systematischen Zusammenspiel mit sozialen Gegebenheiten sieht. Allerdings geht Mitscherlich diesen Weg nicht weit genug: Bei ihm bleiben präödipale und nicht-vaterbezogene Aspekte blass und werden im weiteren Argumentationszusammenhang kaum verwendet.7 Die weibliche Seite der Psyche (Mütter, Frauen) und Weiblichkeit als Prinzip werden – obwohl diese Themen unbedingt dazugehörten! – so gut wie nicht behandelt. Stattdessen schimmern sie mehr als regressive Gefahr, als Zerfallsprodukt der verschwindenden Väterlichkeit durch. In einer umfassenden Sicht muss man davon ausgehen, dass an der Herausbildung der inneren Objektwelt alle relevanten Beziehungen, Akteure und Akteurinnen sowie – im Hintergrund – soziale Systemstrukturen beteiligt sind. Die Triangulierungsphase ist – ebenso wie die Beziehung zum Vater – ein wichtiges Thema von Entwicklung und Strukturbildung, aber eben nur ein Teil. Es wäre daher auch unsinnig, anzunehmen, das »Verschwinden des Vaters« würde bedeuten, es entstünde kein Über-Ich mehr. Mitscherlich tut dies auch nicht. Er streut immer wieder Bemerkungen über ein moderneres Vaterbild ein, dessen Profil man zumindest indirekt entnehmen kann, dass die klassische Konfiguration kein wirklich autonomieförderndes Über-Ich hervorgebracht haben kann. Diese historisch neue Option – ein reflexiver, emotional kompetenter, lernfähiger Vater – wird von ihm dem (schlechten) Sein unvermittelt als Sollen gegenübergestellt (und nicht daraus entwickelt).8 Dies ist ein Resultat der Engführung der 7 Auch wenn er dies nur als Beispiel verstehen will: Die Über-Ich-Bildung wird von ihm fast ausschließlich an der Beziehung zum Vater festgemacht und an den Söhnen exemplifiziert, wobei diese Beziehung erst in der ödipalen Konstellation beginnt. Das ist noch ganz freudianisch gedacht. 8 Eine evolutive Perspektive könnte versuchen, das von Mitscherlich aus agrargesellschaftlichen und bürgerlichen Modellen herausdestillierte Verhältnis als Modus zu interpretieren, der begrenzte Autonomie im Rahmen fixierter Vorgaben ermöglichte. Dieser Modus trug zu Entwicklungen bei, die seine eigenen Grundlagen destabilisierte und ihn selbst dysfunktional werden ließen. Die Bedingungen der modernen Gesellschaft erzwangen einen intensiveren Austausch zwischen Innen und Außen sowie wesentlich mehr aktive Anpassungsleistungen. Entsprechend verlangt sie prozessuale Autonomie (wie dies auch Mitscherlich beschreibt) und impliziert damit auch ein höheres Risiko an prozessualer Dysfunktion.
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Lohnt sich die Lektüre noch?
Diskussion auf einen bestimmten Typ von (besitzenden, lehrenden) Vater. In einer weiteren Perspektive, in der die Genese intrapsychischer Steuerung und Kontrolle nicht allein am Vater (und einem bestimmten Typ von Vater) hängt, ist diese Option nicht ganz so aufgesetzt. Denn die funktionale Differenzierung auch von Primärbeziehungen bietet die Chance des Heraustretens aus Rollenzwängen. Ohne externe Vorschriften und auf der Basis individueller Beziehungskompetenz können Frauen und Männern in aller Konsequenz Beziehungspartner, das heißt auch: persönliche Mütter und Väter werden, weil sie einerseits den nötigen Definitionsspielraum, andererseits auch die nötigen »Professionalisierungs«-Chancen bietet. Um Hegel abzuwandeln: Erst das Verschwinden des Vaters »an sich« ermöglicht den Vater »für sich«. Es gibt also auch Chancen für Autonomie. Das ist allerdings eine Option, keine Garantie. Im Gegenteil: Mit den Chancen nehmen auch die Risiken zu. Insofern hatte Mitscherlich recht, wo er in dramatischen Bildern die Gefahren einer halbierten Moderne zeichnet. Wo nur alte Strukturen abgebaut werden, aber keine besseren an ihre Stelle treten, schlagen die Risiken voll durch: Männer und Frauen, die von der Fülle der Erwartungen und Ansprüchen überfordert sind und dann möglicherweise zusammen mit ihren Kindern in die »Stillordnung« regredieren; Eltern, die ihre eigenen Aufstiegswünsche und Abstiegsängste ungebremst an die Kinder weitergeben – oder angesichts der Opportunitätskosten ganz auf Kinder verzichten. Soweit es überhaupt noch Kinder gibt, haben sie jedoch nicht nur eine gute Chance, zum Konsumjunkie zu werden, sie haben auch eine Chance, die Lockerung von Zwängen und die Verfügbarkeit von Beziehungen in mehr Autonomie umzusetzen.
Lohnt sich die Lektüre noch? Aus der Distanz ist also leicht zu sehen, dass dieses starke Stück psychoanalytische Sozialpsychologie Mängel aufweist und in mancher Hinsicht »veraltet« wirkt. Nun ist dies kein Privileg dieses Buches, sondern das Schicksal jeder sozialwissenschaftlichen Forschung. Dafür gibt es zwei Gründe: die Dispariät zwischen Theorie und Gegenstand und die Verstricktheit der Theorie in die Thematik. Soziale Realität gehört zu den Themen, die so komplex, heterogen und widersprüchlich sind, dass sie nicht auf einen einzigen Nenner, schon gar nicht auf einen Algorithmus reduziert werden 179
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können. Damit sind empirische Methoden wie auch Theorie überfordert, da sie ihre Leistungen im Wesentlichen durch Fixierung und logische Reduzierung erbringen. Anders als bei denotativen Theorien, die einen nomologischen Sachverhalt ohne Informationsverlust reduzieren können, stehen Theorien hier vor einem Dilemma: Entweder sie beschränken sich auf Themenaspekte, die relativ eindeutig erfassbar und verarbeitbar sind (um den Preis von Informationsverlust und – manchmal – Langweile) oder sie setzen sich dem Risiko aus, mit spekulativer Unsicherheit und Irritierbarkeit Komplexität zu erhalten. Auf der anderen Seite sind hier Theorien, in dem, was sie bieten und was daraus gemacht wird, Teil der Realität, der sie entstammen und auf die sie sich beziehen – Zeitdiagnosen sind in ihre Zeit verstrickt, der Zeitgeist infiltriert die Denkmöglichkeiten und deren Nutzung. Die Folge ist oft eine Gemengelage von Erkenntnis und Ideologie, von Verständnis und perspektivischer Verzerrung. Dadurch haben diese Theorien jedoch noch eine wichtige indirekte Funktion: Sie versuchen nicht nur, Wirklichkeit zur erklären; sie bringen in der Art der Erklärung zugleich zum Ausdruck, was ihre Zeit geprägt hat und welche Möglichkeiten der Thematisierung (und des praktischen Umgangs) es gab. Theorien sind, so gesehen, Erklärungen und Dokumente der Gegenstandsdynamik. Mitscherlichs Buch zeigt in seiner Sprunghaftigkeit und unausgearbeiteten Systematik, im Umkreisen der Themen und der Fülle der Assoziationen die Stärken und Schwächen dieses Theorietyps: Er erfasst mit zeitspezifisch verfügbaren und formatierten Mitteln und »agiert« in gewisser Weise die thematisierte Problemlage. Der Zeit-Punkt dominiert die Sicht; in der Beurteilung dominiert der spontane Affekt – aber auf diese Weise kommen wichtige Trends in überspitzter, manchmal verzerrter Form zum Vor-Schein. Deshalb ist die vaterlose Gesellschaft nicht nur eine heute noch relevante und lohnende Lektüre, sondern zugleich ein doppelter Auftrag an die psychoanalytische Sozialpsychologie: weiter dran zu bleiben und es – methodisch wie theoretisch – besser zu machen. Das ist allerdings nicht ganz so leicht getan wie gesagt.
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7 Hoffnung, Wut und Skepsis Über Problemlagen psychoanalytischer Gesellschaftskritik
Freud und die »wissenschaftliche Weltanschauung« Freud hat in seinen Arbeiten stets versucht, sehr unterschiedliche Facetten einer engagierten bürgerlichen Position unter einen Hut zu bringen. Bekanntlich wohnten von Anfang an zwei Seelen in seiner Brust: Einerseits identifizierte er sich schon früh mit dem Idealbild, welches er in den Naturwissenschaften seiner Zeit realisiert sah, andererseits fühlte er sich auch als Abenteurer, als Eroberer neuer Welten und auch als Verbesserer der alten. Beides waren Identifikationsangebote, die ihren Ursprung in der Aufklärung und ihren Weiterentwicklungen hatten. Die Aufklärung war ihrerseits eine spezifische Form der Verbindung von Reflexion und Politik. Ihre primäre Waffe war Erkenntnis, wo sie objektives Wissen gegen irrationale Vorstellungen setzte und damit direkt die Grundlagen traditioneller Herrschaft bekämpfte. Und ihr psychodynamischer Antrieb waren Hoffnung und Wut – Wut über das Bestehende und Hoffnung darauf, dass sich das Bestehende abschaffen oder wenigstens positiv verändern lässt. Im 18. Jahrhundert herrschte europaweit noch der Absolutismus – jenes Herrschaftssystem, in dem der Adel für sich die völlige Kontrolle beanspruchte und sie vor allem im eigenen Interesse nutzte, sodass alle anderen sozialen Klassen ökonomisch, sozial und politisch marginalisiert wurden und blieben. Vor allem das zunehmend selbstbewusste Bürgertum begann, sich dagegen zu wehren. Da der Absolutismus auch mit geistiger Zensur einherging, war die Reflexion des gesellschaftlichen Status quo ein Mittel der Auflehnung. Bereits die sachliche Darstellung dessen, was der Fall war, wurde dadurch automatisch zur politischen Waffe. Die Aufklärung brauchte sich eigentlich nicht politisch zu positionieren, weil sie es immer schon war – sozusagen eine Waffe, die sich nicht als solche deklarieren 181
7 Hoffnung, Wut und Skepsis
musste und die Hoffnung auf Heilung vom kognitiven und damit sozialen Elend versprach. Trotzdem (oder deswegen) war Aufklärung auch ein Kampf, der persönliches Engagement und Mut verlangte. Sie ist eine Bewegung, die die Emanzipation des Bürgertums aktiv betrieb. Kants »Sapere aude!« ist ein Aufruf, der das Überwinden von Widerständen – inneren wie äußeren – impliziert. Zu Freuds Zeiten waren die Verhältnisse allerdings komplizierter geworden. Die Vorstellungen der frühen Aufklärung hatten sich als zu einfach erwiesen. Auch die Emanzipation des Bürgertums hatte nicht zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle geführt. Angesichts der sozialen, politischen und ökonomischen Entwicklung war es nicht mehr so leicht, für sich in Anspruch zu nehmen, (nur) durch besseres Wissen eine bessere Welt realisieren zu können. Die Ideale der Aufklärung hielten sich jedoch (oder deswegen) in wichtigen Lebensbereichen in entsprechend adaptierter Form. Es gab allerdings nur eine Institution, in der sich die Identifizierung mit dem Selbstverständnis der frühen Aufklärung fast bruchlos halten konnte: Die Wissenschaften, insbesondere die neuen Naturwissenschaften, sahen sich nach wie vor als Pioniere, die den Weg nicht nur zum besseren Verständnis der Welt, sondern dadurch auch zu einer besseren Welt bahnten. Sie konnten dies, weil zu diesem Zeitpunkt das voranschreitende Verständnis natürlicher Prozesse nach wie vor Licht ins Dunkel und potenziellen Fortschritt, sprich: die generelle Verbesserung der Lebenschancen mit sich brachte. Zwar wurde auch schon daran gearbeitet, beispielsweise physikalisches Wissen in Waffentechnik umzusetzen, aber der eigentliche »Sündenfall« (die Entwicklung von Vernichtungswaffen und so weiter) stand den Naturwissenschaften noch bevor.1 Man konnte sich als Naturwissenschaftler also noch relativ ungebrochen als Erbe und Verwirklicher der Aufklärungsideale verstehen. Allerdings gehörte zu den Bedingungen dieser Identifizierung von Erkenntnis und Fortschritt, dass Wissenschaft und Politik deutlicher und strikter getrennt werden mussten als in der frühen Aufklärung. Nicht nur die voranschreitende Arbeitsteilung und die Professionalisierung der Berufstätigkeit führten zu dieser Trennung. Um die Vorstellung einer »unbefleckten« 1 Zumindest zu Beginn seiner Arbeit zeigte sich auch Freud in diesem Sinne »fortschrittsoptimistisch«: In seinen späten kulturkritischen Schriften – nach dem Ersten Weltkrieg und während des Siegeszugs des Faschismus in Europa geschrieben – wird sein Denken immer skeptischer; seine politischen Ziele werden immer defensiver (siehe unten).
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Freud und die »wissenschaftliche Weltanschauung«
Wissenschaft aufrechterhalten zu können, musste sie sich konsequent distanzieren von den Kontingenzen und Aporien der Politik. Das Festhalten am Ideal der Aufklärung nach dem Ende ihres naiven Optimismus gelang nur um den Preis der Verleugnung des realen politischen Charakters der Wissenschaft. Die Fortsetzung der Aufklärung in Form von Wissenschaft funktionierte daher im Sinne der Idealisierung von Nüchternheit und Abstinenz. Damit konnte Freud sich gut identifizieren. Das Selbstbild des Forschers, der sich um nichts kümmert als um seine Arbeit – und in gewisser Weise auch den damit verbundenen stolzen Habitus und die heldenhafte Selbstinszenierung des (Natur-)Wissenschaftlers seiner Zeit – übernahm Freud gern. Aber dies konnte weder seinen mundanen Ehrgeiz noch seine Abenteuerlust befriedigen. In den Jahren der Entwicklung der Psychoanalyse hielt er sich zwar immer im Rahmen dessen, was er als nüchterne wissenschaftliche Forschung verstand, aber was ihn trieb, war nicht zuletzt die Suche nach dem Un-Gewöhnlichen, dem Durchbruch in neue Welten. Spätestens mit der Traumdeutung war ihm dies auch gelungen. In einem Brief an Fließ stellt er mit Genugtuung fest, dass seine Theorie des Traums einen »Sturz aller Werte« darstelle ( Jones, 1984a, S. 413). In der Traumdeutung kommen auch beide Seiten (wieder) zusammen, und die Relation kehrt sich gewissermaßen um. Musste er bis dahin seine Ambitionen ins Format der Wissenschaft bringen, so konnte er jetzt seine Ergebnisse nutzen, um seine Ambitionen zu realisieren. Freud schreibt kurz nach dem Erscheinen des Buches in einem Brief: »Ich bin eigentlich gar kein Wissenschaftler, kein Beobachter, Experimentator oder Denker. Dem Temperament nach bin ich nichts als ein Konquistador, ein Abenteurer, mit der Neugier, Kühnheit und Hartnäckigkeit, die diesem Menschentyp eignen« (Freud, 1968, Umschlag).2 Tatsächlich erlaubte ihm die Psychoanalyse, abenteuerliche Reisen durch die Welt zu unternehmen und sich mit allem, was ihn interessierte, auf neue Weise zu beschäftigen. Ob Kultur oder Sexualmoral, ob Geschichte oder Literatur, ob Religion oder Krieg, ob Armee oder Marxismus – es gab kaum ein Thema, zu dem er (beziehungsweise die Psychoanalyse) nichts zu sagen hatte. Damit konnte Freud Reflexion und Politik auf kreative Weise wieder verbinden. Allerdings hatten ihn seine Wege zu einer Art der Reflexion ge2 Es ist einigermaßen skurril, dass in der publizierten Sammlung von Freuds Briefen (Freud, 1968) die auf dem Umschlag zitierte Stelle sich im Band selbst nicht findet.
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führt, die in gewisser Weise in Gegensatz zur klassischen Aufklärungshoffnung stand. Die Hoffnung, die Welt verändern und verbessern zu können, basierte auf der impliziten Annahme, dass die bis dato unaufgeklärten Akteure durch Aufklärung – wenn man so will: durch Steigerung ihrer kognitiven Leistungen – zu vernünftigem und kompetentem Handeln fähig werden. Damit wird der von Restriktionen befreite Verstand zum Hoffnungsträger der Entwicklung. Im Prinzip widersprachen Freuds Erkenntnisse dem nicht. Auch und gerade psychoanalytische Erkenntnis braucht einen Referenzpunkt, das heißt bestimmte Freiheitsgrade der Kognition, ohne die sie nicht nachvollziehbar ist. Eines ihrer Kernargumente betrifft jedoch die Bedingungen der Möglichkeit kognitiver Autonomie. Das Funktionsmodell der Psyche, welches Freud entwarf, sah in Kognitionen eine weitgehend abhängige Variable eines Prozesses, der von Trieben und Konflikten sowie deren Bewältigung bestimmt wird. In diesem Kontext sind Kognitionen im Wesentlichen Teil der Gesamtlogik und nur begrenzt autonomiefähig. Sie werden in ihrer Entwicklung gehemmt durch unbewältigte Konflikte und sind eingespannt in deren (neurotische) Verarbeitung, dienen also auch (gelegentlich fast ausschließlich) der Verleugnung, der Uminterpretation und ähnlichem, und sind in ihrer Reichweite begrenzt durch systematische Thematisierungsschranken. Je weiter Freud sein Konzept ausarbeitete, desto deutlicher wurde also, dass und wie Kognitionen systematisch in ihren Möglichkeiten beschränkt sein können. Mehr noch: Kognitive Autonomie erschien im Rahmen psychoanalytischer Theorie in gewisser Weise als Illusion, als Selbsttäuschung im Dienste der Bewältigung neurotischer Konflikte – der tatsächlichen Autonomie sind in dieser Perspektive vergleichsweise enge Grenzen gesetzt. Auf seinem Gebiet führte gerade die konsequente Fortsetzung der Aufklärung dazu, dass die Grundannahmen der Aufklärung in einem skeptischen Licht erscheinen. Zwar will auch die Psychoanalyse als Therapie eine Art von Aufklärungsarbeit leisten. Freud nennt als Ziel für psychoanalytische Therapie bekanntlich das Motto »Wo Es war, soll Ich werden« (Freud, 1933a [1932], S. 85). Das ist im Prinzip nichts anderes als die Ersetzung von Heteronomie durch Autonomie, wobei Freud die Spielräume prinzipiell als begrenzt ansah – und dies nicht nur, weil die Möglichkeiten von Therapie eingeschränkt sind, sondern vor allem, weil auch »Gesunde« – psychodynamisch gesehen – von ihren Triebimpulsen getrieben und von ihren Konflikten gesteuert werden. 184
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Die Psychoanalyse ist also Aufklärung, aber skeptische, um nicht zu sagen: misstrauische Aufklärung, die davon ausgehen muss, dass der Kontrolle des Weltgeschehens vergleichsweise enge Grenzen gesetzt sind. Was sich an der Psychoanalyse (aber nicht nur an ihr) zeigt, ist, dass die Gleichsetzung von Wissen und Fortschritt naiv ist. Mehr Wissen verdeutlicht immer auch die Komplexität und Heterogenität der Verhältnisse. Zugleich bedeutet mehr Wissen auch nicht bessere Kontrolle; im Gegenteil kann sie zeigen, wie schwierig die Kontrolle bestimmter Risiken und Probleme ist. Dadurch unterminiert besseres Wissen jedoch die psychodynamischen Grundlagen von Hoffnung, weil Skepsis dem Vorschuss an Optimismus, den sie braucht, den Boden entzieht. Wie viele Spätaufklärer stand Freud daher vor dem Problem, seine Weltverbesserungsambitionen mit der Einsicht verbinden zu müssen, wie schwierig – wenn nicht gar unrealistisch – Fortschritt ist und wie wenig er voluntaristisch hergestellt werden kann. Freud hat sich schrittweise der Beschäftigung mit dieser Aporie genähert: Seine ersten gesellschaftskritischen Texte (zum Beispiel »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität«, 1908d) beschränken sich noch auf die Identifizierung eines irrationalen und daher dysfunktionalen Sachverhalts, dessen Beseitigung ohne Einschränkung eine Verbesserung der Verhältnisse darstellt. Je mehr er sich mit der Thematik beschäftigte, desto mehr drängte sich ihm die Auseinandersetzung mit der Frage auf, wer denn Adressat und Träger psychoanalytischer Aufklärung sein könnte, wenn sie davon ausgehen muss, dass »der Mensch nicht Herr im eigenen Haus« ist, also nur begrenzt rational handeln kann und adressierbar ist. Er bearbeitet das Problem schließlich evolutionstheoretisch. Mit Blick auf die Entwicklung der Menschheit und unter vager Anlehnung an die Dreistadientheorien, die Turgot, Comte und viele andere verwendet hatten, entwirft er eine Entwicklungstheorie, die von substanziellen Fortschritten nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der Psyche ausgeht. In Totem und Tabu (1912–1913a) behandelt er die Anfänge der gesellschaftlichen Entwicklung. Seine (keineswegs abwegige) Idee: Die Implementierung von stabiler Moral ist die Bedingung für soziale Integration. Er meint damit vor allem das Problem der Bändigung von primär asozialen Triebimpulsen und bietet eine Art psychodynamische Urknall-Theorie an: Ein realisierter ödipaler Konflikt habe qua Schuldgefühle zur Verinnerlichung von Normen geführt. Die so pazifizierte Welt habe dann eine fortschreitende Autonomie sowie differenzierte Anpassungsfähigkeit ermöglicht. 185
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In Die Zukunft einer Illusion (1927c) präzisiert er den aktuellen Stand dieser Evolution. Danach sei die frühe, noch schwache Kultur noch darauf angewiesen gewesen, das individuelle Über-Ich durch ein externes zu stützen. Religion ist in dieser Sicht vor allem ein externalisiertes Stück interner Kontrolle, das vor Unterfunktionen schützt – allerdings um den Preis der Beeinträchtigung von individuellen Entwicklungschancen. Mit der Entstehung der modernen Kultur und Wissenschaft stünden nun Mittel zur Verfügung, die es erlauben, die Autonomie der individuellen Moral auf eine reflexive Basis zu stellen. Dadurch werde, so die Annahme, Religion längerfristig überflüssig und obsolet, und könne ersetzt werden durch ein konsequentes Realitätsprinzip, welches keine irrationalen Stützen mehr brauche. Freud sieht also eine Entwicklung vom bloßen (vorkulturellen) Agieren von Triebimpulsen über die Frühphase der Kultur, in der Kultur auf einer kollektiven Neurose (Religion) basiert, hin zur kulturellen Vollendung auf der Basis von systematischer (psychoanalytischer) Erkenntnis. Was leistet diese Evolutionstheorie? Sie bietet eine Erklärung dafür, warum die Entwicklung so schwierig ist, und sie erlaubt es, gewissermaßen unabhängig von aktuellen Schwierigkeiten an einem generalisierten Optimismus festzuhalten. Trotz aller Skepsis besteht Hoffnung darauf, dass die kulturelle Evolution weitergeht. Dabei zeigt Die Zukunft einer Illusion noch einen im Sinne der kulturellen Evolution engagierten und zuversichtlichen Freud. Das zeigen die bekannten Zeilen: »Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und Recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch« (ebd., S. 377).
Die Hoffnung beruht hier, wenn man so will, auf der Sublimierungsfähigkeit der Libido. In seinen späteren Schriften kippt das Bild allerdings: In der wenig später erschienenen Arbeit Das Unbehagen in der Kultur (1930a [1929]) tritt ein anderer Aspekt der conditio humana stärker in den Vordergrund, nämlich, dass der Mensch auch unter günstigen Bedingungen ein Stück weit »kulturfeindlich« ist und bleibt. Der Erhalt der Kultur ist daher davon abhängig, »ob und in welchem Maße es […] gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressionsund Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden« (ebd., S. 506). Damit er186
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scheint kultureller Fortschritt nicht mehr als Automatismus, sondern als ständig bedrohter Prozess – zu dessen Verteidigung Freud auch wieder voraufklärerische Mittel und Mächte aufrufen muss.3 Wie auch immer: Die Evolutionstheorie versöhnt Nüchternheit und Hoffnung, sie relativiert den Ärger über eine reale Gegebenheit durch die Versicherung des langfristigen Fortschritts. Es gab jedoch noch ein zweites Problem, das Freud zu lösen hatte: Er überschritt mit seinen kulturtheoretischen Schriften deutlich das formale Neutralitätsgebot der Wissenschaft; er mischte sich ein und nahm Partei. Dies kam seinem (moderaten) Konquistadoren-Temperament entgegen, brachte ihn aber auf Kollisionskurs mit dem Wissenschaftler-Status, der für ihn von zentraler Bedeutung war. Freud reagierte darauf mit zwei verschiedenen »Strategien«: Aus der Not fehlender Akzeptanz im herrschenden Wissenschaftsbetrieb machte er die Tugend einer eigenständigen Organisationsform, die er ausdrücklich als »Bewegung« (1914d, S. 44ff.) verstand. Eine Bewegung ist von Anfang an mehr als nur ein Verein oder eine Interessensgemeinschaft. Die psychosoziale Aura einer Bewegung unterscheidet sich erheblich von der einer (staatlichen) Institution. Bewegungen wollen bestimmte Ziele erreichen und sind sich ihrer Sache sicher; sie verlangen mehr persönlichen Einsatz und bieten dafür Sendungsbewusstsein (und entsprechend starke Identifikationsangebote) sowie soziale Kohärenz. Das scheint auf den ersten Blick nicht ganz zur Geschichte der »psychoanalytischen Bewegung« zu passen, die ja von einer Fülle von Sezessionen und Ausgrenzungen begleitet war. Aber ganz abgesehen davon, dass dies gerade wegen des hohen Verbindlichkeitsgrades und des Leistungsdrucks typisch für »Bewegungen« ist, muss man die Institutionalisierungsprobleme der Psychoanalyse vor allem damit in Verbindung bringen, dass sie eine außerordentlich exzentrische Art von Praxis in einer frühen Phase ihrer Entwicklung auf Dauer zu stellen hatte – was unvermeidlich mit erheblichen Friktionen verbunden ist. Die Definition der Psychoanalyse als »Bewegung« erlaubte Freud, sie dezidiert als Möglichkeit zur Realisierung von Zielen zu betrachten. Sie sollte also, so sein Verständnis, wissenschaftlich fundiert agieren, aber über den üblichen Aktionsradius von Wissenschaft hinausgehen. Damit stellte 3 Am Ende zögerte Freud sogar, den Moses-Text zu publizieren, um nicht die Kirche als letzten Hoffnungsträger (!) gegen den Nationalsozialismus zu verärgern (siehe Freud, 1939a [1934–1938], S. 159).
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sich jedoch auf doppelte Weise das Problem, die Zugehörigkeit zur Wissenschaft aufrechtzuerhalten: Sowohl die Exzentrik von Freuds Methoden und Theorien als auch ihr politisches Engagement bedurften einer ausführlicheren Begründung. Den ersten Teil dieser Aufgabe löste Freud durch eine Neuakzentuierung des Wissenschaftsbegriffs: Vor allem hob er – gegen die Fixierung auf einen festen Methodenkanon und die ausschließliche Akzeptanz feststehender Ergebnisse – den Such- und Experimentcharakter, das Unabgeschlossene von Forschung hervor. Näher an Feyerabend als an Popper argumentiert er, dass die Spezifizität des Gegenstands die Auswahl angemessener Methoden verlangt.4 Damit verlagert sich die Leistung des Wissenschaftlers in Richtung eines kreativen Umgangs mit Methoden beziehungsweise Methodenkreativität. Parallel dazu argumentiert Freud, dass die Grundbegriffe einer Theorie unvermeidlich unklar sind, weil sie zunächst noch nicht definitiv ausgearbeitet sein können und vorrangig eine Leitfunktion haben (1933a [1932], S. 188, 1940b [1938], S. 143).5 Auf diese Weise versucht Freud eine Assimilation seiner Methoden und Theorien und der Normen der Naturwissenschaft seiner Zeit: Psychoanalyse ist in seiner Sicht nichts anderes als die Fortsetzung der (Natur-)Wissenschaft mit anderen beziehungsweise mit neuen Mitteln. Für diese Mittel ist nicht die Psychoanalyse, sondern der Gegenstand verantwortlich. Und was die Validität dieser Mittel betrifft, so berief sich Freud auf die Erfahrung mit dem Material, die er gemacht habe und die jeder nachvollziehen könne, der sich auf das Material einlässt, und die Seriosität der Schlüsse, die 4 Siehe dazu das bekannte Zitat aus den Studien zur Hysterie: »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, dass für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang der Hysterie zu gewinnen« (1895d, S. 227). 5 Das Argument unterschlägt allerdings, dass sich die Grundbegriffe, die er meint – »Gravitation«, »Energie« und so weiter – in den Naturwissenschaften algorithmisch formulieren lassen, während die der Psychoanalyse – »Abwehr«, »Widerstand«, »Übertragung« und andere – aus prinzipiellen Gründen un-formuliert waren und sind (siehe dazu zum Beispiel Schülein, 1999).
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er aus diesen Erfahrungen gezogen hat. Es kommt also – so das Argument – wesentlich auf die Haltung des Wissenschaftlers an.6 Den zweiten Teil der Problematik behandelt Freud mit dem Konzept der »Wissenschaftlichen Weltanschauung«. Der Titel bezeichnet das Programm: Freud versucht, die Normen der Wissenschaft mit normativem Engagement zu verbinden. Der Begriff selbst taucht in seinen Schriften relativ spät auf; die Vorstellung selbst ist älter. In vielen Variationen betont er immer wieder, dass Wissenschaft per se neutral, »tendenzlos« sei (1923a, S. 228f.), dass sich aber, wenn sie objektive Ergebnisse gefunden habe, sich aus dem Wissen auch Können ergäbe (1916–1917a [1915–1917], S. 262f.), das dann zweifellos praktische Auswirkungen habe. Diese Einheit von Wissensproduktion und Effekt trennt er scharf von »Weltanschauung« und »Spekulation«, die er Philosophen (und, mit Heine, »den Spatzen«) zuordnet. In der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933a [1932]) bringt er beides zusammen, aber auf eine Weise, durch die eine exklusive Sonderform von Weltanschauung entsteht. Eine »Weltanschauung« definiert er als »intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme unseres Daseins aus einer übergeordneten Annahme einheitlich löst, in der demnach keine Frage offen bleibt« (ebd., S. 170). Vor diesem Hintergrund erscheint die Psychoanalyse »ganz ungeeignet, eine eigene Weltanschauung zu bilden, sie muß die der Wissenschaft annehmen« (ebd., S. 170f.). Und die sieht so aus: »Die Einheitlichkeit der Welterklärung wird zwar auch von ihr angenommen, aber nur als ein Programm, dessen Erfüllung in die Zukunft verschoben ist. Sonst ist sie durch negative Charaktere ausgezeichnet, durch die Einschränkung auf das derzeit Wißbare und die scharfe Ablehnung gewisser, ihr fremder Elemente. Sie behauptet, dass es keine andere Quelle der Weltkenntnis gibt als die intellektuelle Bearbeitung sorgfältig überprüfter Beobachtungen, also was man Forschung heißt, daneben keine Kenntnis aus Offenbarung, Intuition oder Divination« (ebd., S. 171). 6 Es ist bemerkenswert, dass Freud an die Stelle der in den Naturwissenschaften üblichen Objektivität auf der Basis denotativer Formulierungen (sowie der dahinterstehenden abstraktiven Logik) den Nachvollzug von Erfahrungen und das Vertrauen in die Seriosität seines Vorgehens setzt. Gerade er, dessen organisierte Skepsis das naive Vertrauen in die Zurechenbarkeit von Handlungen erheblich relativierte, muss sich letztlich wieder auf intersubjektives Vertrauen berufen, weil es nur begrenzt substituierbar ist.
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Wissenschaftliche Erkenntnis ist für Freud einzig und als einzige objektiv gültig. Deshalb kann sie zwar keine Werte setzen, aber Verhältnisse kritisieren. Wissenschaftliche Weltanschauung hat daher das Privileg, eine nüchterne Weltsicht darzustellen, die nicht relativ und nicht relativierbar ist. Sie wirkt allein über ihre Gültigkeit, nicht über affektive Bindungen und/oder moralische Imperative. Damit kommt Freud wieder zurück zu der ursprünglichen Einheit von Wissen und Engagement – in reduzierter Form, aber mit der Evolution auf seiner Seite. Und damit können seine kulturtheoretischen Analysen als angewandte Wissenschaft für sich beanspruchen, nichts als der Versuch zu sein, objektives Wissen zu verwenden und zu gewinnen.7 Damit hatte der späte Freud eine Balance gefunden, die ihm plausibel erschien. Er konnte seine Skepsis beibehalten, ohne seine Hoffnungen aufgeben zu müssen; seine themenspezifische Skepsis dazu verwenden, seine Hoffnung in reduzierter Form aufrechtzuerhalten und seinen Ärger über das Geschehen in eine Form zu bringen, die die Affekte gewissermaßen sublimierte.
Psychoanalyse und politische Hoffnungen nach Freud Wer sich heute mit psychoanalytischer Forschung beschäftigt, findet wenig bis keinen Rekurs auf Freuds Kulturanalysen – sie sind in vieler Hinsicht mehr Dokument einer Epoche und einer Entwicklungsphase der Psychoanalyse als nach wie vor verwendbare Interpretation. Auch von »Wissenschaftlicher Weltanschauung« ist in der psychoanalytischen Literatur nach Freud nicht mehr die Rede gewesen. Nach Freud findet seine Lösung der Problematik keine Zustimmung mehr. Schon der erste große Kanonisierungsversuch (Hartmann, 1972 [1927]) sieht die Psychoanalyse als »strenge Wissenschaft«8, aber bringt Wissenschaft nicht mehr mit Welt7 Die Begründung ist im Detail etwas komplizierter. Im Schriftwechsel mit dem Schweizer Pfarrer Pfister argumentiert Freud so: An sich ist die Psychoanalyse neutral, also weder religiös noch anti-religiös. Von daher könne sie jeder benutzen. Aber als Wissenschaft muss sie die Ansprüche der Religion bestreiten und als wissenschaftliche Psychologie die Funktionsweise von Religion analysieren, was bedeutet, dass ihr Geltungsanspruch abgelehnt und sie als Objekt behandelt wird (Freud & Pfister, 1963, S. 13, 126). 8 Dieser Pleonasmus – Wissenschaft kann nicht »permissiv« sein – kommt nicht nur hier, sondern auch sonst zum Einsatz, wenn unsichere Grenzen verteidigt werden müssen.
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anschauung in Verbindung. Freud breites und ambitioniertes Werk findet keine einheitliche Fortsetzung. Waelder (1962) unterteilt Freuds Werk schließlich in verschiedene Ebenen mit unterschiedlicher Relevanz. Das Herz der Psychoanalyse sind für ihn klinische Beobachtungen und Interpretationen; sie bedienen sich dazu psychoanalytischer Theorien (die erforderlich sind). Dagegen ist bereits die Metapsychologie für Waelder eben Meta-Psychologie – ein allgemeiner Rahmen, auf den man sich beziehen kann oder auch nicht, der jedoch nicht zum Kern der Psychoanalyse gehört und daher auch in keiner Weise verbindlich ist. Erst recht sind Freuds kulturtheoretische Schriften für Waelder Ausdruck von Freuds persönlichen Präferenzen und daher ein eindrucksvolles, aber irrelevantes Hobby von Freud. Die offizielle Psychoanalyse zog sich also mehr oder weniger zurück auf die Therapie und entwickelte vor allem therapeutische Praxis und klinische Theorie weiter. Gleichzeitig »professionalisiert« sich jedoch auch die psychoanalytische Gesellschaftskritik – allerdings außerhalb ihrer offiziellen Einrichtungen, und dies nicht nur, weil die klinifizierte Psychoanalyse mit dieser Art der Fortsetzung von Freuds kulturtheoretischen Ambitionen nichts mehr anfangen konnte oder wollte, sondern auch, weil dabei die Grenzen psychoanalytischen Denkens überschritten wurden beziehungsweise werden mussten. Bernfeld, Fenichel, Fromm und Reich – sie alle vollzogen eine Wendung von der auf Kultur angewandten Psychoanalyse zur Verwendung von psychoanalytischen Perspektiven zur Kritik der Gesellschaft beziehungsweise zur Verwendung psychoanalytischen Denkens im Rahmen von Gesellschaftskritik. Damit hatten diese Autoren ein Problem prinzipiell gelöst: Die Identifizierung mit dem klassischen Bild der Wissenschaft stand nicht (mehr) im Mittelpunkt. Wissenschaft wird Mittel zum Zweck. Für Gesellschaftskritik ist es legitim, sich die erforderlichen Mittel aus den Möglichkeiten der Wissenschaft herauszusuchen und sie so zu verwenden, wie dies im Rahmen einer kritischen Perspektive sinnvoll erscheint. Statt also darauf zu hoffen, dass gute Wissenschaft per se kritisch wirkt, wird hier dezidiert Wissenschaft für die Zwecke der Kritik genutzt. Entsprechend finden sich bei diesen Autoren ebenfalls keine Verweise auf die »wissenschaftliche Weltanschauung«. Für sie ist Kritik angesichts der Umstände legitim und notwendig, und wo sich ihre Leistung methodisch wie theoretisch verbessern lässt, greift sie entsprechende Angebote auf. Was immer man von den frühen Weiterentwicklungen der Freud’schen Kulturkritik halten mag – sie sind bekanntlich im Niveau sehr unterschied191
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lich: Sie emanzipieren sich vom Freud’schen Neutralitätsgebot und erweitern zugleich den Horizont dessen, was mit psychoanalytischen Mitteln thematisierbar ist, und zwar vor allem dadurch, dass sie nicht »angewandte Psychoanalyse« betreiben, sondern Psychoanalyse in anderen Kontexten verwenden, was die Freiheitsgrade der Kombination und Integration deutlich erhöht. Die Einheit, die Freud für »Wissenschaft« und »Politik« gefunden hatte, zerfiel also bei seinen Nachfolgern. Die »unpolitische« Psychoanalyse wurde dadurch zunächst befreit von den expliziten Ambitionen, die Freud mit der Begründung einer »Bewegung« verband. Für diejenigen, die das gesellschaftskritische Potenzial der Psychoanalyse verwenden und entwickeln wollten, bot die Trennung dagegen unmittelbar den Vorteil, nicht mehr an die Zwänge einer klinischen Institution gebunden zu sein. Längerfristig wurde diese Trennung für beide Seiten zum Problem. Die Beschränkung auf Therapie bedeutete für die Psychoanalyse eine Art institutionelle Ich-Einschränkung und führte dazu, dass die Kompetenzen im Umgang mit nicht-klinischen Fragestellungen unterentwickelt blieben. Die Trennung von klinischen Erfahrungen implizierte für die gesellschaftskritischen Anwendungen dagegen das doppelte Risiko, einerseits den Anschluss an (Weiterentwicklungen der) psychoanalytische(n) Theorie zu verlieren, andererseits in das zu verfallen, was Freud als »wilde Psychoanalyse« (1910k, S. 118ff.) kritisiert hatte. Es wäre ein Thema für sich, die Dynamik, die sich daraus innerhalb wie außerhalb der institutionalisierten Psychoanalyse ergab, zu diskutieren. Hier geht es um die Frage, was denn aus der anderen Problemlage wurde, die mit dem kritischen Potenzial der Psychoanalyse verbunden war. Psychoanalyse blieb und bleibt inkarnierte Skepsis und verkörpert die Seite der Aufklärung, die warnt und enttäuscht. Psychoanalytisches Wissen stellt sich gegen naive und irrationale Vorstellungen und Hoffnungen. Sie ist Aufklärung, aber Aufklärung, die auch deren Grundlagen kritisiert und infrage stellt. Damit mussten auch und gerade die Autoren umgehen, die ihr kritisches Potenzial nutzen wollten und wollen. Für einen Typ der Verwendung von psychoanalytischen Einsichten im Rahmen von Gesellschaftskritik stellt(e) sich diese Problematik allerdings nicht oder nicht in dieser Schärfe: Überall da, wo es vorrangig darum ging und geht, bestimmte Verhältnisse nicht nur zu kritisieren, sondern mit Mitteln der Theorie zu bestrafen, wo also Wut oder Verzweiflung die Kritik treiben, wird (auch) psychoanalytisches Denken pejorativ und zum Vernichtungsmittel – wie jede 192
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Kritik kann auch psychoanalytische Kritik (oder Kritik mithilfe psychoanalytischer Perspektiven) zum Kampfmittel werden, wenn sie nicht mit Selbstkritik verbunden ist. In Ansätzen findet sich dies sogar bei Adorno.9 Hier ist der Konflikt zwischen Skepsis und Hoffnung nach einer Seite aufgelöst. Ohne Hoffnung wird Skepsis allerdings hybrid. Und der Umgang mit Psychoanalyse bleibt dadurch auch, pointiert formuliert, Missbrauch auf hohem Niveau. Niedriger im Niveau waren manche Texte der neo-freudo-marxistischen Diskussion der Jahre 1968ff. So sinnvoll die Idee war, das Instrumentarium von Gesellschaftskritik mithilfe psychoanalytischer Perspektiven zu verbessern, so improvisiert und dilettantisch waren die meisten der oft eilig produzierten Texte. Einerseits waren manche Autoren sich (zu) schnell sicher in der Einschätzung der Psychoanalyse als »bürgerliche Ideologie«, andererseits wurde recht freihändig mit ihren Kategorien jongliert. Da der Schurke – der Kapitalismus – in den meisten Fällen ohnehin feststand, ging es dann häufig nur noch darum, ihn noch mit weiteren Mitteln zu geißeln. Anders gesagt: In Bezug auf die eigene Aktivität war von Skepsis nichts mehr zu bemerken, in Bezug auf den Umgang mit dem Gegenstand auch nicht. Es dominierte mehr oder weniger das Agieren der Wut auf den Kapitalismus (siehe zum Beispiel Duhm, 1972; Schneider, 1973). Auch hier wurde also das prekäre Verhältnis von Skepsis, Kritik und Affekt nach einer Seite aufgelöst. Dies geschieht (in genauem Gegensatz zu Adorno) dadurch, dass unterstellt wird, dass das inkriminierte System keine großen Überlebenschancen hat.10 Es muss also nicht gehofft werden, sondern man ist sicher, dass bestimmte Entwicklungen unvermeidlich sind. Der mehr oder weniger stabile Glaube an den sicheren Sieg erleichterte in 9
Und zwar an den Stellen, wo er das Projekt der Aufklärung für gescheitert und ins Gegenteil gekippt erklärt: Die Kultur ist nicht mehr zu retten. Was auch immer geschieht, verschlimmert die Verhältnisse. In diesem Zusammenhang trägt Psychoanalyse dazu bei, das Verhängnis besser zu verstehen, aber auch sie wird Teil des Verblendungszusammenhangs. Psychoanalyse kann daher nur die Aufgabe haben, den Zerfall des Speziellen im Untergang des Allgemeinen zu dokumentieren (Adorno, 1955). Zur Widersprüchlichkeit von Adornos Denken gehört, dass er an vielen anderen Stellen (in der Analyse der Authoritarian Personality oder der Struktur der faschistischen Propaganda) nicht nur fleißig Aufklärung betreibt, sondern dazu die Erkenntnisse der Psychoanalyse intensiv nutzt. 10 Hier dominiert also die weltgeschichtliche Gewissheit, die das Marx’sche Werk zumindest latent bietet.
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gewisser Hinsicht den Umgang mit der Psychoanalyse, weil die Komplikationen von Aneignung und Anwendung ausgeblendet werden – ob es der Kritik (und der Psychoanalyse) gut bekommen ist, ist fraglich. Anders liegen die Dinge bei Autoren, die mit der Psychoanalyse besser vertraut sind und an ihren Leitmotiven festhalten oder sich intensiver mit ihr auseinandergesetzt haben. Zu Letzteren gehört Herbert Marcuse. Zwar sind auch die Texte, die sich dezidiert mit Psychoanalyse beschäftigen oder mit psychoanalytischen Kategorien arbeiten (Marcuse, 1967, 1970) aus heutiger Sicht selbst ein Stück weit das, was er der Psychoanalyse bescheinigte (nämlich »veraltet« zu sein, Marcuse, 1965). Aber sie basieren auf gründlicher Rezeption des Werkes von Freud (und auf nicht ganz so gründlicher Auseinandersetzung mit den sogenannten »Revisionisten«) und bemühten sich um eine aktive Weiterentwicklung bestimmter Vorstellungen. Das Gesellschaftsbild, dass auf diese Weise (vor allem im One-Dimensional Man; Der eindimensionale Mensch, 1970) entstand, basierte nicht zuletzt auf dem Argument, moderne Herrschaft operiere durch die Unterminierung der individuellen Fähigkeit, die Bedrohungen des Systems zu erkennen und sich dagegen zu wehren. Unterminiert wird sie durch »repressive Entsublimierung«, durch die Fixierung auf pathologische Bedürfnisse und ein niedriges Funktionsniveau. Ein durchrationalisiertes System der Kontrolle und Verarbeitung verhindert, dass sich aus erlebtem Leiden Widerstandspotenzial bilden kann – »jedes Entrinnen [ist] vereitelt« (Marcuse, 1970, S. 91). Angesichts einer solchen Diagnose stellt sich die Frage, wie denn dann noch eine Überwindung der Verhältnisse möglich sein soll. Marcuse setzt seine Hoffnung bekanntlich auf Marginale und Marginalisierte, die dem Sog der repressiven Entsublimierung weniger ausgesetzt seien. Und Marcuse hofft auf die »Große Weigerung« – darauf, dass von den Geächteten und Außenseitern, die nicht mitspielen können, eine Bewegung ausgeht, die mitreißt und das System aufbricht. Hoffnung spenden ihm dabei ausdrücklich entsprechend interpretierte psychoanalytische Einsichten und Methoden. Psychoanalyse beruhe auf der »Einsicht einer spezifischen Rationalität des Irrationalen […]; umgeleitet, wird die begriffene Phantasie zu einer therapeutischen Kraft« (ebd., S. 260). In der Studentenrevolte und den Befreiungsbewegungen der »Dritten Welt« schien sich eine Zeitlang die Umwandlung von Elend in Emanzipation tatsächlich zu realisieren. Die undialektische Vorstellung eines Ausbruchs aus der Systemlogik durch Negation hat sich aus heutiger Sicht jedoch nicht bestätigt. Im Gegenteil: 194
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Eigentlich hat sich bestätigt, was Marcuse über die Assimilationsfähigkeit einer bestimmten Systemlogik schrieb. Auch in Marcuses Modell tritt das Problem auf, dass psychoanalytische Perspektiven die Problemlage besser verständlich machen, damit jedoch zugleich naive Hoffnungen torpedieren und prima vista aussichtslos erscheinen lassen. Wenn man in dieses Fahrwasser gerät, ohne die Hoffnung ganz aufgeben zu wollen (Adorno) oder keine zu brauchen, weil sie als Gewissheit enttäuschungsfest vorausgesetzt wird, bleibt nur noch die Hoffnung auf Programmfehler und/oder Nischen im System. Man könnte sagen: In dem Maße, wie die Skepsis in Richtung Verzweiflung wächst – wie sollen Entmündigte sich emanzipieren können? – wird auch die Hoffnung verzweifelter. Dieser Sog hat auch mit der Radikalität der Kritik zu tun. Wenn man dem System gewissermaßen nichts zutraut (oder aus Enttäuschung über die Zustände der Wut auf das System freien Lauf lässt), findet Kritik im System auch keinen Halt mehr und muss Hoffnung aufgeben oder utopisch werden. Daher stellt sich die Problematik etwas anders dar, wo Kritik zwar systematisch, aber nicht fundamentalistisch angelegt ist. Ein Beispiel dafür ist Mitscherlichs Auseinandersetzung mit der »vaterlosen Gesellschaft« (1973 [1963]). Sie kommt in vieler Hinsicht zu vergleichbaren Befunden wie Marcuse und Adorno, aber sie ist anders fundiert und akzentuiert. Auch für Mitscherlich steht »der Wunsch nach Emanzipation« (ebd., S. 368) am Anfang, aber er wird fokussiert durch den Bezug auf therapeutische Erfahrungen als empirisches Material,11 welches er in einen anthropologischen und soziologischen Rahmen einbettet. Mitscherlich geht dabei von einem modifizierten Freud’schen Exposé aus und identifiziert es als ein Problem, das auf der Basis der humanen »Trieboffenheit« Sachbildung sich leichter entwickeln lässt als Sozialund Affektbildung. Diese allgemeine Problematik bringt er in Verbindung mit einer sozialpsychologischen Interpretation säkularer Entwicklungen und aktueller Zustände. Er beschreibt den Zerfall der traditionellen VaterSohn-Beziehung als Risiko, wo an die Stelle von Bindung und Auseinandersetzung Struktur- und Orientierungslosigkeit treten. Die bloße Ersetzung von autoritären Abhängigkeiten durch gesichtslose und unkontrollierbare Sachlogik korrespondiert mit einer zunehmenden »Domestizierung durch Lusterfahrung«, also der Verführung zur Regression in präödipale 11 »Insgesamt sind rund 30.000 Stunden der Erfahrung (in der Beziehung Analysand/Analytiker) der Rohstoff dieses Buches« (A. Mitscherlich, 1973 [1963], S. 371).
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Beziehungsmuster und Abhängigkeiten. Mitscherlich geißelt in scharfen Worten12 die darauf basierende Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft in Deutschland: die Fixierung auf Arbeit und Konsum, die Unfähigkeit und Unwilligkeit zur politischen Auseinandersetzung und, komplementär, die Entwicklung eines Systems technisierter Steuerung und Kontrolle. Es geht hier nicht um die Stimmigkeit und um die Frage der methodischen Angemessenheit von Mitscherlichs Diagnosen,13 sondern um die Frage, wie Mitscherlich das Problem des Verhältnisses von (psychoanalytischer) Skepsis und notwendigen beziehungsweise unvermeidlichen Affekten behandelt. Erkennbar sind seine Analysen getrieben vom Ärger über die Nachkriegsentwicklung. Der kritische Intellektuelle hätte sich gewünscht, dass die Katastrophe der NS-Diktatur Lern- und Entwicklungsprozesse zur Folge hat. Stattdessen entwickelte sich (aus seiner Sicht) eine neue Katastrophe, oberflächlich friedlicher, aber strukturell noch bedrohlicher, weil und wo sich »Vaterlosigkeit« in Regression, Infantilisierung und Abhängigkeit umsetzt. Und diesem Ärger lässt er ziemlich freien Lauf. Auf der anderen Seite hält er an der Möglichkeit von Sozial- und Affektbildung fest, skizziert (abstrakt), wie ein zeitgemäßes väterliches Prinzip aussehen könnte und was dazu erforderlich wäre. Auch bei ihm ist der Adressat seiner Wünsche nicht deutlich – schließlich sind die Väter unfähig und die Söhne regrediert. Aber die Heftigkeit des Pamphlets zeugt von dem energischen Wunsch, sich einzumischen und der Gesellschaft ihre Probleme zu spiegeln. Auch Mitscherlichs Theorie ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass sie durch die Einbeziehung psychoanalytischer Perspektiven eine vertiefte Einsicht in die sich abspielenden Dramen bietet. Das bessere Verständ12 Zum Beispiel so: »So sehr sich Politiker und Unternehmer darum bemühen, das paternitäre Prinzip am Leben zu erhalten […], die Millionen der Untergebenen sind an ihm nicht mehr interessiert, sie leben in andere Stimmungen. Ihrer Erwartungshaltung ist selbständiges Leisten, kämpferische Konkurrenz als Ziel des Lebens fremd; und die Verhältnisse sind so, dass das ein Ziel mit wenig realen Chancen geworden ist. Deshalb haben auch zum Beispiel Lohnkämpfe nicht mehr den Charakter der harten Auseinandersetzung mit einem harten Vater; die Regression geht tiefer, sie läßt die Struktur des Über-Ichs, der Pflicht, der Verantwortung, der Beschränkung hinter sich. Es wird reichlich produziert und reichlich an der Brust getrunken. Was erstrebt wird, ist die Dämmerhaltung der Sattheit. Ansprüche werden auf einer Ebene vertreten, die das differenzierte Welterleben überflüssig macht« (ebd., S. 307). 13 Siehe dazu auch Schülein (2009) sowie Kapitel 6 in diesem Band.
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Psychoanalyse und politische Hoffnungen nach Freud
nis der Vermittlung von sozialem und psychischem Geschehen verdeutlicht das Bild und zwingt zugleich dazu, von der Hoffnung Abschied zu nehmen, man müsse nur den Schleier der Verblendung wegreißen und fände dann automatisch den Weg zu Vernunft und Rationalität. Der genauere Blick verdeutlicht, dass »Sapere aude!« bereits vieles voraussetzt, was nicht selbstverständlich, sondern eher unwahrscheinlich ist. Insofern gerät Mitscherlichs Analyse in ein vergleichbares Dilemma: Psychoanalytische Aufklärung verdüstert jede Hoffnung auf einfache Lösungen. Was bleibt dann? Auch Mitscherlich geht davon aus, dass unter bestimmten Bedingungen – ähnlich wie in psychoanalytischer Therapie –Selbstheilungskräfte aktiviert werden können: »Die Aufgabe der Emanzipation liegt […] in der Analyse des Zirkels von sozialen Bedingungen und seelischen Reaktionsbildungen auf diese. Um uns befreien zu können, müssen wir erst die Bedingungen namhaft machen, die sich die Gesellschaft selbst erschaffen hat, die sie aber in ihrem Bewusstsein vorerst nicht zuzulassen bereit ist. Erst die sorgfältige Durcharbeitung dieses Feldes […] schafft einen Ansatz, von dem aus Zustände sich zur Ordnung strukturieren lassen« (A. Mitscherlich, 1973 [1963], S. 370).
Mitscherlich hält also auch auf der Stufe fortgeschrittener und entsprechend skeptischer Aufklärung an deren Möglichkeit fest. Die Orientierung an psychoanalytischer Praxis (»Durcharbeitung«) ist evident, und in der Tat ist denkbar, dass hier die praktische Erfahrung der Veränderbarkeit versteinerter Verhältnisse durch Therapie eine Rolle spielt. Das, was die (theoretische) Hoffnung belastet, stabilisiert sie zugleich in gewisser Weise – auch ohne die Sicherheit, die Gesetze der Evolution hinter sich zu haben. Dazu gehört allerdings auch, dass er selbst den schwer belasteten Vätern und Söhnen doch noch die Fähigkeit zutraut, bei entsprechender Behandlung sich weiterentwickeln zu können – im Prinzip also eine ähnliche Konfiguration, aber die Erdung durch psychoanalytische Praxis und die (etwas) stärkere Bindung an die bestehenden Verhältnisse halten ihn auf dem schmalen Grat zwischen Hoffnungslosigkeit und Utopie. Und auch hier will beides trotzdem nicht so recht zusammenpassen: Die Analyse gibt wenig bis keinen Anlass zu Optimismus, und therapiebezogener Optimismus ist kein Anlass für gesellschaftspolitische Hoffnung. Andererseits: Die Geschichte ist weitergegangen. Bestimmte Diagnosen wären heute noch pointierter zu formulieren. Aber auf der anderen Seite 197
7 Hoffnung, Wut und Skepsis
hat gerade die Jugend, der Mitscherlich Über-Ich-Schwäche und Unfähigkeit zu politischem Handeln attestierte, kurz darauf (nicht zuletzt unter Berufung auf Mitscherlich und mit seiner wohlwollenden Unterstützung!) die herrschenden Verhältnisse heftig attackiert und dabei einiges erreicht (wenn auch nicht unbedingt das, was sie erreichen wollte …).
Zur Dialektik von Reflexion und Affekten Damit stellen sich zwei Fragen, die zumindest indirekt miteinander verbunden sind. Die erste betrifft die Gültigkeit: Wie valide sind eigentlich die Zeitdiagnosen? Die zweite greift den roten Faden der bisherigen Diskussion auf: In welchem Verhältnis stehen die Entstehungsbedingungen und die verwendeten Mittel der Diagnosen zum Ergebnis? Lassen sich Skepsis, Wut und Hoffnung überhaupt auf einen (sinnvollen) Nenner bringen? Die Antwort auf die erste Frage ist klar: Auch für psychoanalytisch inspirierte Gesellschaftsdiagnosen und Prognosen gilt, dass sie heikel sind, weil sie eine komplexe, mehrdeutige Gegenwart und die Zukunft betreffen (»Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen« – so bereits Mark Twain). Sie bearbeiten auf der Basis von riskanten Selektionen und Verallgemeinerungen einen sich entwickelnden, das heißt nicht-kalkulierbaren Möglichkeitshorizont und bleiben daher zwangsläufig unzulänglich. Es kommt immer anders. Das ändert nichts an der Notwendigkeit, dieses Risiko einzugehen; es steht nichts Besseres zur Verfügung, und nur aus dem Scheitern von Versuchen ergeben sich Verbesserungsmöglichkeiten. Mehr noch: Die Einseitigkeit zeitgebundener Perspektiven, die Schärfung der Sinne durch Affekte kann dazu beitragen, die Tiefenschärfe der Analysen zu erhöhen, was es ermöglicht, die Grenzen des Wahrnehmungshorizonts zu erweitern. Insofern sind unter widersprüchlichen Bedingungen die Versuche ihrer Reflexion selbst widersprüchlich; die Auseinandersetzung mit diesen Widersprüchen ist das Medium der Entwicklung von theoretischen Leistungen. Auf der anderen Seite ist Wut ein riskanter Antrieb, weil sie die Perspektive zugleich verengt und vereinseitigt. Das zeigt sich schon daran, dass alle die (hier nur flüchtig erwähnten) Beispiele der Nutzung psychoanalytischer Kategorien für Gesellschaftsanalysen das Entwicklungspotenzial des von ihnen kritisierten Systems unterschätzen. Die Kritik tendiert dazu, abstrakt normativ zu werden und zu übersehen, dass die inkriminier198
Zur Dialektik von Reflexion und Affekten
ten Probleme in gewisser Weise der Preis für bestimmte Errungenschaften beziehungsweise notwendige Folgeerscheinungen einer spezifischen Entwicklungslogik sind. Von daher lässt sich Wut auch nicht bändigen – und wenn, dann fehlt der Druck, der von ihr ausgeht. Ähnliches gilt auch für das Verhältnis von Skepsis und Hoffnung. Sie müssen sich widersprechen: Konsequente Skepsis ist das Gegenteil von dem Optimismus, von dem die Hoffnung lebt. Insofern kann die Gleichung von Skepsis, Wut und Hoffnung nicht aufgehen – es bleibt bei einem chronischen Ungleichgewicht, aus dem Unausgewogenes entsteht. Auch deshalb gelingt es den Versuchen einer psychoanalytischen Sozialpsychologie von Freud bis Mitscherlich nicht, ein unversöhntes Nebeneinander von Depression und kontrafaktischer Überschätzung von Möglichkeiten zu überwinden. Genau damit muss jedoch fortgeschrittene Aufklärung rechnen. Je mehr man weiß, desto mehr wird Wissen auch zur Last. Dies gilt auch und gerade für psychoanalytische Aufklärung, die die volle Konfrontation mit den Zerstörungen der Psyche und dem damit verbundenen Destruktionspotenzial verlangt. Aber allein schon das Aushalten dieses Blicks in die Abgründe stellt einen Reifegrad von Aufklärung dar, die angesichts ihrer Einsichten eben auf alle Naivität und Sicherheit verzichten muss – und letztlich nur darauf hoffen kann, dass ihre Leistungen zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle zur Verfügung stehen.
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8 Die Dialektik sozialer und psychischer Realität oder: Können moderne Gesellschaften mit sich selbst Schritt halten? Über Modernisierung und Innovation
Das Problem Gleich am Anfang der Entwicklung des Lebens entsteht soziale Realität – automatisch, als (Resultat der) Biozönose, biologisch durch Hormone und Instinkte determiniert und getragen und durch die Logik von Ökosystemen balanciert. In dieser prototypischen Form hatte und hat sie daher auch keine Eigenständigkeit, sondern ist Ausdruck biologischer und ökologischer Gesetzmäßigkeiten. Dies änderte sich schrittweise, als die Natur anfing, Lebewesen hervorzubringen, deren Überleben nicht mehr auf der optimalen Anpassung an eine bestimmte ökologische Nische beruhte, sondern darauf, dass sie sich an unterschiedliche Nischen anpassen konnten. Solche Lebewesen müssen Entscheidungen treffen, deren Auswirkungen evaluieren und Strategien entwickeln, kurz: aktive Anpassungsleistungen erbringen. Dazu brauchen sie ein entsprechend manipulierbares Antriebspotenzial sowie Reflexions- und Steuerungspotenzial. Diese Fähigkeiten verdichteten und konzentrierten sich im Lauf der Evolution zu der eigenständigen Instanz zwischen Physiologie und Außenwelt, die »Psyche« genannt wird. Die Entwicklungsgeschichte der Psyche von prä- und protopsychischen Mechanismen bis zur (bisher) weitesten Entwicklung bei der Gattung Homo sapiens ist mindestens so kompliziert wie der Mythos, der beschreibt, wie aus der sogenannten »Königstochter« eine Unsterbliche wird, aber bei Weitem nicht so gut bekannt. Aber außer Frage steht, dass mit der Psyche auch für soziale Realität eine neue Dialektik in Gang kommt, die weitreichende Folgen hat. Je mehr differenzierte Psyche zur Verfügung stand, desto mehr konnte soziale Realität deren Leistungen zur Entwicklung und Unterstützung ihrer eigenen Komplexität nutzen, wäh201
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rend umgekehrt ein differenziertes soziales Milieu die Autonomie und eigenständige Funktionsweise der Psyche stützte. Beide Seiten stellten sich Raum und Material für den Aufbau einer spezifischen Form von Autopoiesis zur Verfügung. Diese Konfiguration war revolutionär, weil sie – auf biologischer Basis – die Grenzen der Biologie sprengte. Sie erwies sich (dadurch) als extrem erfolgreich: Die Eigengestaltung der ökologischen Nische (zur sozialen Welt) inklusive der Instrumentalisierung von ganzen Ökosystemen hat die Gattung Homo sapiens bis ins 21. Jahrhundert gebracht – ein Erfolgsmodell also, zugleich jedoch auch eine Aufgabe, an der Gesellschaften immer wieder scheitern. Soziale wie psychische Differenzierungsprozesse sind nicht nur voraussetzungs- und anspruchsvoll, das heißt, sie verlangen besondere Bedingungen und verbrauchen viel Ressourcen. Ihr laufender Betrieb ist nicht zuletzt anfällig, weil das Zusammenspiel von sozialer und psychischer Realität heikel ist und bleibt. Von einem reibungslosen Funktionieren kann keine Rede sein. Daher müssen Gesellschaften, um überleben zu können, Modi finden, mit deren Hilfe sie beide Seiten verbinden und den Austausch stabilisieren. Dies Problem stellt sich in modernen Gesellschaften auf besondere Weise. Sie haben zu großen Teilen die Modi aufgegeben, mit deren Hilfe sich diese beiden – auf unterschiedliche Weise autopoietischen, in jedem Fall exzentrischen – Prozesse in prämodernen Gesellschaften stabilisiert haben. Um dies zu verdeutlichen, soll zunächst skizziert werden, wie archaische und traditionelle Gesellschaften die Beziehung zwischen sozialer und psychischer Realität strukturiert haben. Dies geschieht in Anlehnung an eine gern verwendete Dreiteilung, die oft und zu Recht kritisiert worden, aber nützlich ist – vor allem, wenn man die dabei verwendeten Inhalte (Ökonomie, Politik, Sozialstruktur) erweitert und kognitive und psychodynamische Strukturen miteinbezieht (und nicht vergisst, dass Grobtypisierungen dieser Art – siehe Max Weber – keine empirischen Gesellschaften charakterisieren).
Archaische und traditionelle Gesellschaften Unter archaischen Gesellschaften versteht man zahlenmäßig kleine, das heißt überschaubare Lokalgesellschaften mit geringen Ressourcen (aller Art). Sie sind gekennzeichnet durch Kopräsenz in einem auch sozial engen 202
Archaische und traditionelle Gesellschaften
Raum und (aus heutiger Sicht) geringe soziale Stratifizierung. Das, was geschieht, geschieht im Prinzip kollektiv und diese kollektive Praxis wird verstärkt durch massiv bindende Rituale (siehe dazu ausführlich Gehlen, 1975) und einer Vorstellungswelt, die von einer holistischen Metaphysik beherrscht wird – einer Erzählung, die alles Relevante erfasst und es in Verbindung bringt und hält, die aus heutiger Sicht un-logisch erscheint, aber insofern logisch ist, als sie Zusammenhalt gewährt. Dazu passt eine gering individualisierte Psyche, die in der Literatur als »Gruppen-Ich« – also an die Gruppe gebunden – charakterisiert wird (siehe zum Beispiel Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy, 1963). Genetisch ist diese Abhängigkeit das Resultat eines alternativlosen Prozesses der Enkulturation: der selbstverständlichen Einübung in selbstverständliches Denken, Erleben und Handeln. Enkulturation hat zur Folge, dass sich intrapsychisch ausgesprochen starke Introjekte (externe Objekte, die die Innenwelt besetzen und strukturieren) bilden und das psychische Geschehen prägen. Gleichzeitig (und damit zusammenhängend) werden wichtige psychische Funktionen (Beziehungssteuerung, Affektkontrolle) vom sozialen Institutionsgefüge importiert beziehungsweise dorthin ausgelagert. Das funktioniert dauerhaft nur, wenn die externen Objekte ihrerseits dem Bedarf der Akteure nicht nur entgegenkommen, sondern entsprechende Anknüpfungsmöglichkeiten direkt anbieten. In den Objekten begegnen sich die Akteure selbst, ihren Hoffnungen, Ängsten, Konflikten und deren Abstrahlungen – allerdings nicht gespiegelt, sondern auf komplementäre Weise agiert –, in den Institutionen ist und wird psychisches Geschehen mit-inszeniert, sodass die Introjekte passend psychodynamisch imprägniert sind. Das heißt insgesamt: Das Ich funktioniert nach den herrschenden Regeln, weil es ihre Funktionsweise für Eigenzwecke nutzt, und die herrschenden Regeln repräsentieren massiv intrapsychisches Geschehen. Soziale Exklusivität, soziales »Containing«, die Verschränkung von Objekten und Introjekten stützen eine fast geschlossene Gesellschaft, die affektiv versiegelt ist. »Archaische« Gesellschaften sind daher »autochthon«, sie sind nicht konflikt- und problemfrei, aber sie leben in einer eigenen, balancierten Welt und erzeugen psychisch wie sozial keinen unverdaulichen »Überschuss«. Allein auf dieser Basis können traditionelle Gesellschaften nicht funktionieren, da es sich um expandierte und differenzierte Regionalgesellschaften handelt, in denen lokale Nahwelten in einem und durch ein entsprechend abstraktes (Herrschafts-)System gebunden sind. Solche 203
8 Die Dialektik sozialer und psychischer Realität …
Gesellschaften sind imstande, eine Makrostruktur zu etablieren, aber die Mittel, um sie – ebenso wie die lokalen Nahwelten – zu erhalten, sind beschränkt. Sie müssen daher basale Mittel nutzen. Dies sind vor allem: ➣ eine zentralisierte Hierarchie, ➣ Traditionsbindung und ➣ organisierte Metaphysik. Hierarchien sind prinzipiell ein einfaches Mittel, um Differenzen zu erhalten, weil sie sie durch Über- und Unterordnung festhalten und zugleich einen universell operationsfähigen Entscheidungsmodus bereitstellen. Die Zentralisierung auf eine Spitze sorgt dafür, dass dabei keine Differenzen entstehen. Traditionsbindung bindet Gegenwart und Zukunft an die Vergangenheit und bietet dabei nicht nur klare Orientierungen, sondern filtert Abweichungen heraus. Und eine organisierte Metaphysik (die von Experten entwickelt und betreut wird) ist potenziell ein Instrument der Absicherung und Legitimierung herrschender Verhältnisse, indem sie Wissensbestände begrenzt, zuteilt, überwacht und das Ganze dadurch versiegelt. Solche sozialen Strukturen ermöglichen und erzwingen auch psychisch Unterschiede angesichts von möglichen Alternativen. Sozial geregelt werden diese Differenzen durch eine zugewiesene Zentralposition, die dauerhaft einordnet und alle wichtigen Beziehungen regelt. Diese soziale Zuweisung vollzieht sich über Formen von Sozialisation, die stark instruktiv und kontrollierend sind. Psychische Entwicklung vollzieht sich so unter den Vorzeichen einer intrusiven Objektwelt, die psychisches Funktionieren an externe Vorgaben bindet – die ein Stück weit verselbstständigte Psyche ist darauf programmiert und begrenzt, innerhalb der (engen) gesellschaftlichen Leitplanken selbstständig zu operieren. Erikson benutzte für die daraus resultierenden Beziehungen zur sozialen Welt den Ausdruck »inzestuöse Objektwahl« – gemeint ist also die Reproduktion dessen, was als Modell von der Nahwelt vorgegeben und von Hierarchie und Traditionen abgesichert ist. Sowohl die soziale als auch die psychische Realität sind in traditionellen Gesellschaften daher wenig autonom. Die soziale Realität besteht im Kern aus engen Pfaden in einem ansonsten unwegsamen und sozialen Raum, die scharf kontrolliert werden. Unterschiedliche soziale Funktionen sind dabei gebündelt und parallelisiert. Auch der psychische Raum ist eng und enthält nur wenig (und wenig reflexive) Optionen; es dominieren daher eher rigide Operationsmodi. Beide Seiten sind dabei eng verklammert und halten sich 204
Moderne Gesellschaften
gegenseitig so fest, dass potenzielle Abweichungen herausgefiltert werden (und sich gelegentlich eruptiv Bahn brechen, aber dann wieder eingefangen werden). Gemeinsam ist beiden Modellen, dass sie die Beziehung von sozialer und psychischer Realität strikt verschränken – archaische Gesellschaften durch symbiotische Geschlossenheit und vollständige Inklusion, traditionelle durch starre Asymmetrie und repressive Limitierungen (also eine Art von Inklusion durch interne Exklusionen). Beide provozieren, nutzen und fixieren basale psychische und soziale Mechanismen und die Bündelung von Funktionen, wodurch keine Alternativen entstehen oder andere Möglichkeiten ausgeblendet werden.
Moderne Gesellschaften Moderne Sozialstruktur
Moderne Gesellschaften brechen radikal mit diesen Prinzipien – sie müssen dies tun, weil weder definitive Sozialordnungen noch eingeschränkte Akteure zu ihren Prinzipien passen. Bevor man sich der Frage zuwendet, wie sie das fragile Verhältnis von sozialer und psychischer Realität so gestalten, dass sie den Prinzipien der Modernität entsprechen, muss zumindest vektoriell geklärt werden, was damit gemeint ist. Es gibt jede Menge von (zutreffenden) Charakterisierungen (etwa die der »funktionalen Differenzierung«), aber keine allgemein akzeptierte Definition. Außerdem gibt es inzwischen einige begriffliche Weiterentwicklungen (»Zweite Moderne«, »Postmoderne« und so weiter). Beides verweist auf ein zentrales Merkmal: Dynamik. »Funktionale Differenzierung« impliziert, dass etwas (immer) weiterentwickelt wird, und die Abfolge von Typisierungen zeigt, dass die Entwicklung weiter voranschreitet. Die folgenden Überlegungen beziehen sich also auf eine Dynamik, die aus Veränderungen besteht. Verbunden ist mit moderner Dynamik zunächst ein Strukturwandel des sozialen Raumes. Aus engen, verregelten und exklusiven sozialen Räumen wird ein expandierendes und offenes Feld der Mobilität von Akteuren, Themen und sozialen Formen. Der soziale Raum ist dabei »multizentrisch« und enthält nur wenige Vorab-Präferenzen. An die Stelle hierarchisch verteilter Rechte treten einerseits generalisierte, andererseits spezifizierte Normen – beides ist themenbezogen (und nicht statusabhän205
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gig). Der Effekt: Unterschiedliches kann unterschiedlich behandelt, ausgearbeitet und unterschiedlich kombiniert werden (was die Möglichkeit partikularer Leistungen und Kombinationseffekte exponentiell steigert). Analog dazu ändert sich die soziale Zeit: An die Stelle zyklischer Reproduktion tritt ein Prozess mit Vergangenheit (die vorbei ist) und Zukunft, die offen ist, das heißt, sie wird zum Ort von Planungen, Erwartungen und Auseinandersetzungen. Revolutioniert wird entsprechend auch die kognitive Struktur. Die herrschende Metaphysik wird ersetzt durch ein differenziertes Symbolsystem, welches Platz für eine Fülle verschiedener »Sinnprovinzen« mit unterschiedlicher Logik und Zugänglichkeit hat. Diese kognitiven Subsysteme stehen zur Verfügung, bilden jedoch keine Einheit mehr, sodass sie auch keine direkten Verbindungen herstellen oder Integrationsleistungen erbringen. Stattdessen bilden sie einen reflexiven Resonanzraum, in dem alles auf unterschiedlichen Niveaus thematisierbar ist. Mit diesen Umstrukturierungen verbunden ist eine neue Funktionslogik: An die Stelle bindender und reduzierender Modi treten öffnende und stimulierende Prinzipien. Hierarchien und Traditionen verlieren ihre Dominanz und werden größtenteils durch Leistung und Macht ersetzt. Es gilt also dasjenige, was (gemessen an spezifischen Kriterien) besser ist oder was sich unter gegebenen Umständen am besten durchsetzen kann. Das Gesamtsystem inszeniert in diesem Sinne eine permanente Konkurrenz und lässt zu, dass die Karten neu gemischt werden. Auf diese Weise entstehen dynamische Asymmetrien, die neue, unerwartete Optionen und Alternativen hervorbringen. Entsprechend sehen allerdings auch die Kosten und Risiken aus. Zu den Kosten gehört, dass die für den Erhalt des Gesamtsystems erforderlichen reproduktiven Leistungen prinzipiell aufwendiger und komplizierter (und damit auch anfälliger) werden. Differenzierung – die partikulare Behandlung und Optimierung von Teilen – hat zur Folge, dass immer mehr Unterschiede entstehen, die dann stabilisiert, verkraftet und integriert werden müssen. Das gilt für gesellschaftliche Funktionen und Strukturen ebenso wie für Themen und Populationen: Alles entwickelt sich eigenständig und driftet auseinander. Da es keine feststehende Zuordnungs- (und erst recht keine Unter- beziehungsweise Über-Ordnungs-)Matrix gibt, ergibt sich daraus ein vielstimmiges, dissonantes Konzert. Etwas prosaischer: Alle relevanten Faktoren mischen sich mit ihren Interessen, Intentionen und Produkten ins Geschehen ein. 206
Moderne Gesellschaften
Anders gesagt: Differenzierung bedeutet auch eine Ausweitung von Teilhaberechten und Ansprüchen. Das erweitert und erschwert die Inklusionsproblematik (weil jetzt geklärt werden muss, was legitime Ansprüche sind und wie knappe Mittel verteilt werden) und führt unvermeidlich dazu, dass es zu flächendeckenden Aushandlungsprozessen kommt. Im Prinzip steht alles zur Disposition, sodass es nicht nur zu einer »Ausweitung der Kampfzone«, sondern auch zur Auseinandersetzung um die Aushandlungsregeln kommt. Dabei ist dieses permanente bargaining nicht unbedingt eine wohlgeordnete Abstimmung, sondern über weite Strecken ein mit allen Mitteln geführter Kampf um Definitions- und Entscheidungsmacht. Begleitet wird das Ringen um Richtung und Verteilung von ständigen Diskussionen und Kommentaren und, damit verbunden, von Selbst- und Fremdbeobachtungen. Diese Institutionalisierung von Dauerreflexion führt zu einem wesentlich differenzierteren (Selbst-)Verständnis, aber auch zu einer kognitiven Hochrüstung des bargaining. Ergebnisse dessen sind nicht unbedingt sachangemessen und rational. Zudem erzeugt bargaining stets Gewinner und Verlierer, also Folgeprobleme (anders als prämoderne Gesellschaften, in denen von vornherein feststeht, wer was und wer was nicht bekommt). Selbst »reife« Formen der Konfliktbewältigung sind im Endeffekt Kompromisse, die selten alle Beteiligten zufrieden stellen (und im schlechtesten Fall »faul« sind und dann Konflikte prolongieren oder verstärken). Die Bemühungen um Integration und Ausgleich sind aus strukturellen Gründen unabschließbar und unzulänglich. Moderne Gesellschaften basieren auf einer Form von dynamischer Autopoiesis, die ständig Selbstüberraschungen und Selbstüberforderungen mit sich bringt. Sie können sich nur begrenzt kontrollieren und steuern, weil sie (bisher jedenfalls) kaum über produktive Mittel des Dimensionierens, des »Bremsens« verfügen, und jede steuernde Intervention immer auch Nachteile hat. Jede Optimierung bringt Risiken und Kostensteigerungen mit sich, geht auf Kosten anderer Optionen, und nicht alles ist zugleich optimierbar. Und: Nicht jede Optimierung ist auch sinnvoll (besonders, wenn sie nur partikulare Interessen optimiert). Daher ist der soziale Prozess moderner Gesellschaften aus strukturellen Gründen nicht perfektionierbar. Gleichzeitig sorgt das – ebenfalls aus strukturellen Gründen – teilweise erratische Zusammenspiel der eigendynamischen und eigenwilligen Faktoren für eine opportunistische Gesamtdynamik, für einen Schlingerkurs, der mal besser, mal schlechter und mal beides zugleich mit den Gegebenheiten zurechtkommt. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass moderne Gesellschaf207
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ten prämoderne Modi weder zur Gänze aufheben noch auf sie verzichten können. Sie müssen daher versuchen, sie sinnvoll zu entwickeln und einzubetten. Auch das gelingt (bisher) nur teilweise. Das kann zur Folge haben, dass sich solche Modi in das moderne Geschehen einmischen und es beeinträchtigen. Gleichzeitig ist eine nicht-gekonnte Modernisierung besonders unter dem Druck von Belastungen und Komplikationen einsturzgefährdet und tendiert dann zur Regression in Richtung prämoderner Muster. In Summe heißt das: Moderne Gesellschaften sind immer nur begrenzt wirklich modern beziehungsweise nur partiell modernisiert; empirisch hat man es (bisher) mit mehr oder weniger belasteten Hybridgesellschaften mit hohen Risiken und einem chronischen Mangel an passenden Strukturen zu tun. Die Psyche der Moderne
Moderne Gesellschaften sind, zugespitzt ausgedrückt, nicht vollständig modern und modernisierbar. Dies gilt mutatis mutandis auch für ihre Mitglieder. Manche Theoretiker (vor allem Biosoziologen und Ethologen) vertreten die These, Adam bliebe immer der (gute, böse) alte Adam und sei gar nicht »modernisierbar«. Das stimmt wohl in Bezug auf die biologischen Grundlagen, das biopsychische Antriebspotenzial und vermutlich auch die basalen Schritte und Etappen der psychischen Entwicklung. Auf der anderen Seite ist unverkennbar, dass die psychische Entwicklung und ihr Funktionsniveau in hohem Maße variabel sind. Von entscheidender Bedeutung sind dabei die gesellschaftlichen Bedingungen und der gesellschaftliche Bedarf. Der hat sich auf dem Weg zur Moderne dramatisch verändert. Wo prämoderne Gesellschaften möglichst viele Bereiche individuellen Handelns determinieren und kontrollieren, verlangen moderne ein wesentlich höheres Maß an subjektiver Eigenaktivität. Der Differenzierung der sozialen Welt entspricht die Erwartung, den jeweils unterschiedlichen Ansprüchen gerechtzuwerden. Das heißt auch: Es gibt kaum mehr zugeschriebenen (also unveränderlichen) und einheitlichen Sozialstatus, sondern kontextspezifische Teil-Positionen und Statusfragmente, die erworben, ausgestaltet und durch erfolgreiches Handeln im jeweiligen Kontext verteidigt werden müssen. Dies gilt nicht nur für die Welt der sozialen Organisationen und Subsysteme, sondern in dramatischer Zuspitzung auch für die soziale Nahwelt. Der Übergang zur Moderne hat auch zur Folge, dass viele Funktionen der 208
Moderne Gesellschaften
Nahwelt – Überleben, Ausbildung, Kranken- und Altersfürsorge – weitgehend von entsprechend differenzierten Makrostrukturen übernommen werden. Das erlaubt ein Überleben außerhalb von Nahweltgruppen, wodurch Zwangsmitgliedschaften aufgelöst werden. Dies öffnet den Horizont für frei gewählte und individualisierte Beziehungen. Die Kehrseite dieser Befreiung der Akteure ist, dass sie auch in Primärbeziehungen unter Leistungsdruck geraten: Sie müssen selbst entwickelt, stabilisiert und koordiniert werden – und das unter den Vorzeichen erhöhter Ansprüche. Partnerschaften, Eltern-Kind-Beziehungen, Freundschaften stehen also unter doppelten Druck: Sie verlangen kompetente Investitionen und sollen beziehungsspezifische Leistungen (sprich: Glück) erbringen. Damit ist der workload moderner Akteure erkennbar: Sie müssen aktiv mit einer heterogenen Sozialwelt, mit einer ebenso, aber auf andere Weise fordernden Nahwelt leben, sie müssen ihre unterschiedlichen Lebensbezüge auf einen Nenner bringen und nicht zuletzt mit sich selbst in einer komplexen Welt zurechtkommen. »Selbst« heißt dabei nicht »allein«, da diese Welt zwar keine klaren Richtlinien, aber jede Menge Orientierungsangebote enthält, die nicht immer seriös sind und gelegentlich mit problematischen Mitteln arbeiten oder sie anbieten. Dazu kommen die vielfältigen aktuellen und strukturellen Zumutungen die (auch und gerade) moderne Gesellschaften mit sich bringen. Deshalb geht es für die Akteure nicht nur ums Mithalten, es geht auch ums Aushalten – von Zumutungen, Belastungen, von toxischen Einflüssen, die mit den Gegebenheiten verbunden sind, und den eigenen Problemen und Unzulänglichkeiten. Auf der anderen Seite haben sich die Bedingungen, unter denen Akteure sich entwickeln und leben, erheblich verbessert. Materieller Fortschritt, die Spezialisierung von Primärgruppen auf Beziehungsfragen sowie die Erweiterung von Wissen und Kompetenzen haben die Möglichkeit eröffnet, dass aus prämodernen Formen der Erziehung eine kindzentrierte Sozialisation werden kann. Im günstigen Fall setzt sich das expandierte und qualitativ differenzierte Milieu in entsprechenden psychischen Raum um: in die Fähigkeit zu kompetentem Trieb- und Bedürfnismanagement, zur reflexiven Umwelt- und Innenweltkontrolle, zu stabilen und flexiblen Objektbeziehungen. Auch hier erlauben also die Umstände einen Ausbau der psychischen Autopoiesis – aber dies ist alles andere als selbstverständlich. Zwischen der »Investition« und dem »Ertrag« von Sozialisationsprozessen besteht gerade wegen der zunehmenden Autopoiesis kein lineares Verhältnis. Vor allem aber ist ihre Balance schwieriger. Die »Betriebskosten« 209
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sind insofern höher, als eine auf diese Weise modernisierte Psyche wesentlich mehr differente Impulse integrieren, mehr um sich selbst kümmern muss. Auch hier ist eine restlose und widerspruchsfreie, sprich: perfekte Entwicklung schon deshalb nicht möglich, weil nicht alle erforderlichen und möglichen Kompetenzen zugleich optimierbar sind – es ist schwierig, »achtsam« und »durchsetzungsfähig« zu sein, situativ angemessen und strategisch zu handeln und so weiter; es ist kaum zu schaffen, ein angemessen sublimierungsfähiges und sublimiertes Antriebspotenzial mit zugleich starken und flexiblen Ich-Leistungen und einem zugleich reifen und stabilen Über-Ich zu verbinden. Vollständige und permanente Dauerreife ist vermutlich weder erreichbar noch auszuhalten. Auch psychische Entwicklung bleibt daher auch unter günstigen Bedingungen in vieler Hinsicht unzulänglich. Die Bedingungen sind jedoch meist nicht passend, biografisch sind Beschädigungen und Beeinträchtigungen kaum vermeidbar. Partielles biografisches Scheitern, mehr oder weniger ausgeprägte neurotische Verzerrungen sind daher ein Stück weit normal. Dabei haben diese Beschädigungen systematische Züge und korrespondieren mit sozialen Problemlagen, wie die lange Mängelliste der sozialpsychologischen Literatur (von Riesman bis zu Sennett) demonstriert. Und unabhängig von zeittypischen Beeinträchtigungen entsteht unter systematisch ungünstigen Bedingungen eine neue soziale Klasse von Sozialisations-Verlierern: Teil-Populationen, die wegen der Defizite ihrer psychosozialen Kompetenzen gesellschaftlich zu Opfern (und entsprechend: Tätern) werden. Die moderne Psyche ist also ebenfalls eine Art mission impossible: Ihre anspruchsvolle und komplexe Autopoiesis ist aus strukturellen Gründen nicht perfektionierbar. »Individualisierung« heißt wegen der damit verbundenen Belastungen und Ansprüche daher nicht-gekonnte Individualität – eher im Gegenteil. Der Normalfall ist auch in dieser Hinsicht eine mehr oder weniger belastete Psyche. Über die Interferenz von sozialer und psychischer Realität in modernen Gesellschaften
Modernisierung bringt soziale und psychische Realität auseinander. Anders wäre ihre jeweils besondere Autopoiesis nicht möglich: Nur wenn sie nicht mehr an Psychodynamik gekoppelt ist, kann sich soziale Realität autonom 210
Moderne Gesellschaften
entwickeln; nur wenn sie vom sozialen Druck ein Stück weit entlastet ist, kann die Psyche Freiheitsgrade gewinnen. Aber diese Differenzierung hat auch zur Folge, dass sich zwei verschiedene, aus strukturellen Gründen nicht-perfektionierbare und empirisch nicht-perfekte Formen von Autopoiesis gegenüberstehen. Damit gewinnt ihr Austausch auch eine neue Dynamik. An die Stelle des (mehr oder weniger) identischen Zirkulierens von Themen – gesellschaftliche Imperative werden in psychische Struktur umgesetzt, die diese Imperative spiegelt – tritt ein mehrstufiger Prozess von Transformationen. Denn das, was die eine Seite erzeugt, wird von der anderen Seite nicht konsonant umgesetzt, sondern eigendynamisch – eben autopoietisch – verarbeitet. Soziale Impulse werden also von den Akteuren nicht umgesetzt, sondern in innere Realität übersetzt, das heißt, ins eigene System des Erlebens und Bewertens umformatiert. Soziales wird dabei selektiv gefiltert oder verstärkt, mit psychischen Konnotationen versehen und so angereichert in Handlungen umgesetzt. Was dabei zurückgespielt wird, sind also keine konformen, sondern eigenwillige Themenbehandlungen. Zugleich impliziert dieser Transformationsprozess eine weitere Form von Dynamik. Da Transformationen Zeit brauchen, kommen ihre Resultate in einer Welt an, die sich inzwischen verändert und weiterentwickelt hat. Selbst wenn sie zu der Welt, in der sie entstanden, gepasst hätten, passen sie nicht mehr zu der Welt, die inzwischen entstanden ist. Die Normen, die eine Generation gelernt hat, sind veraltet, wenn sie dazu kommt, sie anzuwenden. Das zwingt zur permanenten Neu-Anpassung mit allen Folgen und Problemen, die damit verbunden sind. Daraus ergeben sich spezifische psycho-soziale Konfigurationen. Prämoderne Gesellschaften basieren weitgehend auf direkter Verschränkung. Neu sind die Differenzen, die im Transformationsprozess ins Spiel kommen, und die daraus resultierenden Kombinationsmöglichkeiten. Denn auf diese Weise importiert die soziale Realität zwangsläufig Anderes und mehr als das Erhoffte oder Passende. Darauf reagiert sie ihrerseits aktiv und eigendynamisch, in Form des Aufgreifens, Umsetzens, Anreicherns mit sozialen Funktionen und Themen und nicht zuletzt qua Instrumentalisierung für spezifische Interessen und Zwecke. Die andere Seite impliziert, dass Gewicht und Bedeutung der mitgelieferten Psychodynamik soziale Realität auch zu Reaktionen nötigen können. Mächtige Impulse sind kaum sozial geordnet genutzt worden – sie werden »kanalisiert«, um ihre Wirkung abzuschwächen. Wo dies nicht möglich ist, wird die soziale Realität über211
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flutet und mitgerissen. Anders als solche mächtigen Wellen (von Hysterie, Paranoia, Enthemmung) ist der Effekt von intrusiven Formen von Psychodynamik, die die sozialen Funktionen und Themen infiltrieren. Sie werden dabei manifest oder latent aufgeladen, transportieren sie mit und agieren sie unter Umständen. Dass etwa Politik massiv von Psychodynamik bestimmt wird, ist nicht neu – die Verfolgung von Andersgläubigen war (und ist) immer zumindest aufgeheizt von Ängsten und Projektionen. Neu sind allerdings partikulare Koalitionen und opportunistische Kombinationen und damit ein vielfältiges Neben-, Durch- und Gegeneinander solcher Verschränkungen. Ebenfalls nicht neu ist, dass auch scheinbar neutrale Regelungen Strafaktionen sein können, Zuwendung eine Form von Repression sein kann, das heißt, soziale Prozesse psychodynamisch aufgeladen sind und Psychodynamik unter falscher Flagge segelt. »Sachzwänge« eröffnen jedoch ein neues Betätigungsfeld für Rationalisierungen und andere Formen der Umarbeitung. Gesellschaftlich ist also mit jeder Menge von neuen Hybridprodukten zu rechnen, in denen sich Soziales und Psychisches in Raum und Zeit auf komplexe Weise verbinden. Diese Hybridprodukte sind unberechenbare und schwer zu kontrollierende Momente eines hochdynamischen Prozesses. Alles in Allem: Moderne Gesellschaften wie moderne Akteure sind aus inneren wie äußeren, aus strukturellen wie empirischen Gründen chronisch überfordert, überfordern sich gegenseitig und durchdringen sich auf intensive, aber heikle Art und Weise. Das ist unvermeidbar und nötig, weil erst die Interferenz von Eigendynamiken modernes Prozessieren ermöglicht. Insofern ist die schwierige Balance von sozialer und psychischer Realität Bedingung und Preis der Moderne. Die Frage, ob moderne Gesellschaften mit sich selbst Schritt halten können, lässt sich daher mit einem eindeutigen »Ja und Nein« beantworten: »Nein«, weil die Dialektik von sozialer und psychischer Realität weder steuerbar noch perfektionierbar ist. Sie erzeugen Überschüsse, Abweichungen und Innovationen und (über)fordern sich damit gegenseitig. »Nicht-Identität als Modus der Moderne« heißt, dass Gesellschaften vor sich hertreiben und von sich getrieben werden. Die andere Seite der damit verbundenen chronischen Balanceprobleme ist ein chronisches Defizitproblem: Ständige Veränderungen erfordern soziale und psychische Kompetenzen, die ihrerseits nicht leicht zu entwickeln und zu stabilisieren sind. Wo sie fehlen, schlagen die Risiken durch (was dann die Entstehung passender Kompetenzen erst recht behindert). 212
Moderne Gesellschaften
Auf der anderen Seite gilt: Der gleiche Prozess hat die Möglichkeit der Reflexion und der Problembehandlung ebenso gefördert. Und nicht nur das Verständnis der Problematik und die Strategien ihrer Bändigung haben sich weit entwickelt, sondern auch die Fähigkeit, mit Situationen umzugehen, die überfordernd sind – das, was Marquard als »Inkompetenzkompensationskompetenz« bezeichnet hat. Innovationen
Anders als prämoderne Gesellschaften sind moderne Gesellschaften auf Innovation angewiesen und darauf ausgerichtet, sie zu erzeugen. Innovationen sind nicht nur der Treibstoff, der das Gesamtsystem am Laufen hält, sie sind auch die Art und Weise, wie Probleme behandelt werden – ähnlich wie Seiltänzer, die mit immer neuen Schritten Schieflagen ausgleichen (und anders als prämoderne »Statuen«, die sie durch Standhaftigkeit zu lösen versuchen). ➣ Innovationen sind Elemente von (beziehungsweise ein Sonderfall von) Prozessen und noch allgemeiner: Bewegungen. Die Modellierung von sozialen Prozessen ist schwierig, weil es jede Menge Unterschiede gibt: lineare und zyklische, kurze und lange, moderate und heftige und so weiter – von thematischen und funktionalen Differenzen ganz abgesehen. Ein Beispiel für eine eher kurze und wenig bedeutsame Bewegung ist die Mode: ➣ Am Anfang stehen ein erwartendes Publikum und ambitionierte Produkte, die dafür erzeugt oder geeignet sind. ➣ Wenn Trendsetter etwas davon aufgreifen (und die Aufmerksamkeit des Publikums darauf lenken), bekommen Produkte den Status einer Novität. ➣ Bei entsprechender Anerkennung wird das Produkt zur herrschenden Mode, zieht Identifikationen auf sich, wird zum relevanten Statusmerkmal. Der Sog, der von dieser doppelten Idealisierung ausgeht, ist selbstverstärkend und überhöht (kurzfristig) Relevanz und Erfolg. ➣ Der Verschleiß des Novitätsbonus führt dazu, dass Idealisierungen schrumpfen. Trendsetter sind schon woanders, die Identifizierten wenden sich ab und die nächste Generation des Publikums braucht ohnehin etwas Anderes (um sich abzugrenzen). 213
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Das Produkt ist als Mode verbraucht und verschwindet, wenn es nicht eine Funktion im Normalbetrieb übernimmt oder eine Nische für eine Zweitkarriere als Randthema findet. Moden sind gewissermaßen harmlose Wellen, die Systeme in Gang halten. Besonders in modernen Gesellschaften sind sie die Form, in denen ausprobiert und selegiert wird; zugleich agieren sie jedoch auch die Schwierigkeiten, Objekte zu halten, und die Tendenz, Objektverbrauch als soziales wie individuelles Mittel der (problematischen) Problembewältigung zu nutzen. Andererseits sind Moden eine milde Droge, quantitative und qualitative Kosten sind vergleichsweise gering. Anders verlaufen (naturgemäß) dramatische und relevante Bewegungen: ➣ Ausgangspunkt sind massive Konflikte und Krisen, die der Status quo nicht lösen kann oder die er verschärft. Zuspitzungen (und Tropfen, die ein Fass zum Überlaufen bringen) oder zufällige Auslöser führen zum manifesten Ausbruch. ➣ Die daraus resultierende Ausnahmesituation wird zum Ort der Konzentration und Expression bereitliegender Impulse, die auf der Suche nach Ausdruck sind. Das gibt der Bewegung – erratische – Durchschlagskraft; von ihrer Dominanz geht ein weiterer Identifikationssog aus, was den Status quo in die Defensive zwingt und den gesamten sozialen Raum erfasst. ➣ Die Expansion der Bewegung gerät aus inneren wie äußeren Gründen an ihre Grenzen. Intern kommt es zu destruktiven Steigerungszwängen. Extern verliert sie die Aura des Besonderen und kann den Mangel an Fundament nicht mehr durch Charisma überspielen. Zudem erholt sich der Status quo, assimiliert kompatible Anteile des Geschehens und nutzt die Schwächen der Bewegung für Restauration. Manchmal enden heftige Bewegungen mit der Zerschlagung des Status quo, manchmal mit der Niederschlagung dessen, was sich bewegt hat. In manchen Fällen ist das Ergebnis neuer Wein in alten Schläuchen, in anderen alter Wein in neuen Schläuchen. Auf jeden Fall werden die Verhältnisse aufgewirbelt, es gibt meist erhebliche Kosten und viele Opfer – oft so viel, dass danach Erschöpfung eintritt und viel Zeit vergeht, bis sich wieder etwas bewegt. Man sieht: Die unterschiedlichen Möglichkeiten von sozialen Prozessen sind kaum auf einen Nenner zu bringen. Versucht man es trotzdem, besteht 214
Moderne Gesellschaften
eine Möglichkeit darin, die Phasen ihres Verlaufs abstrakt zu charakterisieren. Das könnte so aussehen: ➣ Pionierphase: Wo Bedarf und Ressourcen vorhanden sind, bildet sich Veränderungs- und Entwicklungspotenzial. Damit es Form gewinnt, bedarf es einer Gruppe von hochengagierten Exzentrikern, die aus der Marginalität heraus den Übergang von noch nichts zu etwas mit improvisierten Mitteln bahnen. ➣ Phase der Expansion und Differenzierung: Nach einer Zeit kristallisieren sich Formen der Praxis zu stabilen Produkten. Zu den Pionieren gesellen sich early adopters und change agents. Wenn es dem Thema und seinen Protagonisten dann gelingt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und sie die Unterstützung von relevanten Personen beziehungsweise Gruppen erhalten, ändert sich der Status in Richtung der »(vielversprechenden) Novität«. Da es damit noch keine Erfahrungen und auch keine passenden Formate gibt, zieht die Entwicklung heftige positive wie negative Idealisierungen auf sich; die Attraktivität, die damit verbundene Zufuhr und die »Anomie« der Verhältnisse öffnen innere wie äußere Räume, Expansion und Differenzierung. ➣ Normalisierung: Nach einer Zeit der dynamischen Entwicklung kommt es aus inneren wie äußeren Gründen zur Beruhigung. Intern trägt dazu bei, dass die Grenzen spontaner Entwicklungen erreicht und die soziale Organisation verfestigt wird. Gleichzeitig tritt Gewöhnung an die Stelle des Anpassungsvorsprungs der ehemaligen Novität, soziale Strukturen wie Akteure haben sich auf das Thema eingestellt, heiße Idealisierungen werden wieder abgezogen, extreme Zuschreibungen durch Standardisierungen ersetzt. Wenn der Rauch sich verzieht, wird erkennbar, was dauerhaft bleibt und welche Sekundäreffekte sich ergeben. »Normalisierung« heißt dabei nicht: Alles ist (wieder) gut, sondern nur: Einordnung in den Normalbetrieb. Trägt das Phasenmodell auch zum Verständnis technischer Innovationen bei? Dazu muss zunächst an das Besondere am Verhältnis von Technik und Moderne erinnert werden. Beides ist untrennbar verbunden – ohne technische Revolutionen (von der Dampfmaschine zum Computer) ist Modernisierung nicht denkbar. Dabei bildet vor allem die Dialektik von Dynamik, Differenzierung und technischem Fortschritt einen außerordentlichen Treibsatz. Allerdings gibt 215
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es einen wesentlichen Unterschied: Technik ist akkumulierbar, das heißt, sie entwickelt sich in Richtung auf Verbesserung und schickt Vorläufer ins Museum, während – wie skizziert – soziale und psychische Autopoiesis aus einer Mixtur von Entwicklung und Reproduktion bestehen und daher sich weder so schnell entwickeln noch so weit von ihren Ursprüngen entfernen können. Diese unterschiedliche Logik spielt bei »geringfügigen« technischen Veränderungen – etwa beim Übergang von der Taschen- zur Armbanduhr – keine große Rolle. Hier liegt der Prozess der sozialen Formatierung näher bei der Mode als bei einer Revolution – anders bei technischen Revolutionen, die (wie seit den Überlegungen von Marx zur Funktion der »Produktivkräfte« immer wieder diskutiert worden ist) auch die Bedingungen der sozialen und psychischen Reproduktion revolutionieren. Pointiert lassen sich einige der Besonderheiten in der Beziehung von technischen Revolutionen und modernen Gesellschaften so umreißen: ➣ Die Pionierphase ist dadurch gekennzeichnet, dass sie institutionell gestützt und von kommerziellen, politischen oder wissenschaftlichen Interessen angetrieben wird. Die »Pioniere« sind daher häufig Experten. Auch hier gilt jedoch, dass die Anfänge oft improvisiert und in ihren Effekten unabsehbar sind (sieht man von Visionären ab, deren Ideen öffentlich weitgehend unbekannt bleiben). ➣ Die Phase der Expansion und Differenzierung ist auch hier davon gekennzeichnet, dass sich das Thema plötzlich ausbreitet, erste Wirkungen auslöst und – wegen der noch unabsehbaren Folgen und der noch fehlenden Erfahrungen – erhebliche positive und negative Idealisierungen, übertriebene Hoffnungen und Ängste, auf sich zieht. Sowohl Nutzen als auch Schäden werden dramatisiert, beides wird zugleich geplant ausgebaut und breitet sich in allen tangierten gesellschaftlichen Bereichen aus. ➣ Normalisierung heißt hier vor allem: Die Innovation hat die Lebenswelt großflächig infiltriert und die Struktur vieler Lebensbereiche grundlegend verändert, damit die Funktionsbedingungen von sozialen und psychischen Prozessen beeinflusst. Deutlicher sind auch Kosten und Risiken; unter günstigen Umständen sind sie kontrollierbar, unter ungünstigen nicht. Auf jeden Fall ist revolutionäre Technik immer etwas, das als Ich-Erweiterung Allmachtsfantasien und Größenwahn Anhaltspunkte liefert und 216
Moderne Gesellschaften
die Frage nach sozialer Dominanz und Kontrolle neu stellt. Während der Verlauf von technischen Innovationen sich noch (mithilfe starker Idealisierungen) einigermaßen gut modellieren lässt, ist dies bei psychosozialen Entwicklungen wesentlich schwieriger. Gerade die komplexe Interferenz und die Ungleichzeitigkeit sorgen für eine komplexe und mehrdeutige Dynamik. Vielleicht könnte man es so versuchen: ➣ Pionierphase: Aus Widersprüchen, Konflikten, neuen Möglichkeiten und psychosozial unformatierten Themen entsteht eine neue Leitideologie beziehungsweise Fantasie. Sie hat zwangsläufig utopischen Charakter und tritt auf als Negation des Bestehenden. Getragen wird sie von Betroffenen, von Gruppen, die sich mit dem Thema identifizieren, die den erforderlichen Problemdruck erleben und/oder genügend Handlungsspielraum besitzen. Diese marginalen Minderheiten oder Avantgarden schwanken zwischen Irrationalität und transzendierender Rationalität. ➣ Expansion und Differenzierung: Wo solche Bewegungen und Initiativen nicht im Keim erstickt werden, können sie bereitliegende Identifizierungsbedürfnisse und unter Umständen auch diffuses Unbehagen mobilisieren und bündeln und sich durch Innovationsvorsprung, durch den Entwurf einer Gegen-Realität und entsprechende Legitimitätsansprüche etablieren und Terrain gewinnen. Theorie und Praxis sind zu diesem Zeitpunkt noch ungekonnt und unpraktisch, leben aber von Charme des Unverbrauchten und vom hohen psychosozialen Einsatz, den eine neue Gegenposition ermöglicht. Zugleich entsteht Widerstand: Die (noch) herrschende Normalität stellt sich auf die Bewegung ein, fasst sich und mobilisiert Gegenkräfte. Es kommt daher zu Konfrontationen mit Steigerungszwängen, das heißt auch zu Radikalisierungen und entsprechenden Auseinandersetzungen. ➣ Normalisierung: Es ist möglich, dass sich diese Konflikte über einen längeren Zeitraum ziehen (und dann gewissermaßen der Konfliktzustand normalisiert wird). Konflikte enden jedoch häufiger mit dem Sieg einer Seite oder mit Kompromissen. »Sieg« würde hier heißen: Es kommt zu einer Durchsetzung einer neuen Moral und Sichtweise, zur Legalisierung der Ansprüche, zu einer Neuverteilung von Ressourcen und Macht – oder es kommt zu einer Restauration, wenn sich die alte Normalität durchsetzt und den Anspruch auf Veränderung unterdrückt, verfolgt und (zumindest für einige 217
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Zeit) qua Restauration die Uhr zurückdreht. »Kompromiss« heißt hier: Bestimmte Themen werden aufgenommen, neu formatiert und (eventuell unterschwellig) Teil der Normalität, wodurch der Oppositionsbewegung die Luft aus den Segeln genommen wird – oder die Oppositionsbewegung normalisiert sich ihrerseits, indem sie ins Spiel der Normalität einsteigt und dort (mehr oder weniger erfolgreich) eine angepasste Politik betreibt. Auch Kombinationen von beiden Formen der Normalisierung sind möglich. Was sich daraus entwickelt, hängt vom Thema und den jeweiligen Bedingungen ab. Wie weit es gelingt, Chancen zu nutzen und Risiken zu kontrollieren, ist nicht vorhersehbar. Positive Utopien tendieren dazu, die Möglichkeiten zur Erlösung von Übeln hochzurechnen, negative sehen dagegen die definitive Katastrophe kommen. Vielleicht gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Weder das eine noch das andere tritt ein, sondern beides. Oder, wie es Lem bildlich ausdrückt: »In einem gewissen Sinne ist die Welt wie ein Kranker, der glaubt, er müsse entweder alsbald gesunden oder in Kürze sterben, und dem es nicht einmal in den Sinn kommt, daß er – bei zeitweiligen Besserungen und Verschlechterungen seines Zustands – kränkelnd ein hohes Alter erreichen könnte« (1981, S. 16).
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Psychoanalyse als Institution
9 Institutionalisierungsprobleme der Psychoanalyse oder: Wird die »autoerotische Periode des Vereinslebens« durch die der »Objektliebe« abgelöst?
Im Folgenden möchte ich versuchen, einige Probleme der Institutionalisierung der Psychoanalyse aus soziologischer Sicht zu diskutieren. Es geht also um die soziale Balance der Psychoanalyse (und nicht um ihre Praxis und Theorien selbst) – um es etwas pathetisch auszudrücken: um das Schicksal einer Institution, die versucht, eine spezifische Art von Reflexion auf Dauer zu stellen.
Sándor Ferenczis Organisationsanalyse Auf dem II. Psychoanalytischen Kongress, 1910 in Nürnberg, hielt Sándor Ferenczi einen Vortrag mit dem Titel »Zur Organisation der psychoanalytischen Bewegung«, in dem er anregte, »daß sich die wissenschaftlichen Arbeiter der Psychoanalyse zu einer ›Internationalen Vereinigung‹ zusammenschließen« mögen (Ferenczi, 2004 [1910], S. 48). Der Vortrag beginnt so: »Die Psychoanalyse ist zwar eine noch junge Wissenschaft, ihre Geschichte aber schon reich genug an Ereignissen, die es der Mühe wert erscheinen lassen, für einen Augenblick in der Arbeit innezuhalten, die bisherigen Ergebnisse zu überblicken, Erfolge und Misserfolge abzuwägen« (ebd.). Dies sei nötig, um »unzweckmäßige Arbeitsweisen« durch »zweckmäßige Methoden« zu ersetzen und »wissenschaftspolitische Probleme« lösen zu können (ebd.). Die bisherige Geschichte der Psychoanalyse sei ein ständiger Kampf, sogar ein Krieg gewesen: »So wurden wir, sehr gegen unseren Wunsch, in einen Krieg verwickelt« (ebd.). Dabei habe es bisher zwei Phasen gegeben: »Die erste, ich möchte sagen, heroische Periode der Psychoanalyse waren die ersten zehn Jahre, in welchen Freud ganz allein den Angriffen begegnen musste, die man von allen Seiten und 221
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mit allen erdenklichen Mitteln gegen die Psychoanalyse richtete« (ebd., S. 49). In dieser »heroische[n] Phase« sei der Krieg eigentlich eine einseitige Sache gewesen, denn Freud habe sich um die Angriffe nicht viel gekümmert und »im Schatten der Verkanntheit […] ruhig arbeiten können« (ebd.). Die »zweite Periode« begann damit, dass Freud Mitstreiter fand, und führte zu einer Veränderung der Strategie: »Neue Arbeiter [strömten] auf das von Freud erschlossene wissenschaftliche Gebiet, und ähnlich den Pionieren der neuen Welt führten und führen sie einen Guerillakrieg. Ohne einheitliche Leitung, ohne taktische Zusammenarbeit kämpft und arbeitet jeder auf dem von ihm eroberten Stück Land. Nach Gutdünken besetzt jeder den Teil des riesigen Gebietes, der ihm gefällt, und wählt die ihm zusagende Art der Arbeit, des Angriffs und der Verteidigung« (ebd., S. 50).
Diese Nicht-Organisation passte zu den Umständen: »Unermesslich waren die Vorteile dieses Guerillakrieges, solange es nur darum zu tun war, gegen den übermächtigen Gegner Zeit zu gewinnen und die neugeborenen Ideen davor zu schützen, im Keime erstickt zu werden. Die freie, durch keine Rücksicht auf andere gehemmte Bewegung erleichtert jedem die Anpassung an die gerade gegebenen Verhältnisse, an das Maß des Verständnisses, an die Stärke des Widerstandes. Auch daß jede Autorität, jede Bevormundung, jede Disziplin fehlte, steigerte nur die Selbständigkeit, die bei solcher Vorpostenarbeit unentbehrlich ist« (ebd.).
Diese Guerillataktik hatte jedoch auch Nachteile: »Der vollständige Mangel jeder Führung brachte es mit sich, daß bei einzelnen das spezielle wissenschaftliche und persönliche Interesse zum Schaden der Gesamtinteressen, ich möchte sagen, der ›zentralen Ideen‹, überhand nahm« (ebd., S. 51). Daher sei ein »gewisses Maß an gegenseitiger Kontrolle« und die »Respektierung gewisser Kampfregeln« sinnvoll (ebd.) – schon deswegen, weil, wie Ferenczi sich ausdrückt, »Irregularität« und »undisziplinierte Schwärmerei« abschreckend wirkten und nicht jeder potenzielle Anhänger an Guerillatätigkeit interessiert sei. Außerdem könne so die »Massenwirkung« der Psychoanalyse nicht nachhaltig gefördert werden. Seine Folgerung: »Ich wage die Behauptung, daß unsere Arbeit durch […] Or222
Sándor Ferenczis Organisationsanalyse
ganisation mehr gewinnen als verlieren würde« (ebd., S. 52) – und das, obwohl die »Auswüchse des Vereinslebens« bekannt sind: »Ich […] weiß, daß in den meisten politischen, geselligen und wissenschaftlichen Vereinen infantiler Größenwahn, Eitelkeit, Anbetung leerer Formalitäten, blinder Gehorsam oder persönlicher Egoismus herrschen« (ebd.). Dies erklärt Ferenczi mit der ödipalen Struktur von Organisationen: »Die Vereine wiederholen in ihrem Wesen und ihrem Aufbau die Züge des Familienlebens. Der Präsident ist der Vater, dessen Aussprüche unwiderlegbar, dessen Autorität unverletzbar sind; die anderen Funktionäre sind die älteren Geschwister, die die jüngeren hochmütig behandeln und dem Vater zwar schmeicheln, aber ihn im ersten geeigneten Moment von seinem Thron stürzen wollen, um sich an seine Stelle zu setzen. Die große Masse der Mitglieder, soweit sie nicht willenlos dem Führer folgt, gibt bald diesem, bald jenem Aufwiegler Gehör, verfolgt mit Haß und Neid die Erfolge der Älteren und möchte sie aus der Gnade des Vaters ausstechen« (ebd.).
Die Psychoanalyse befähige jedoch dazu, die ödipale Dynamik einzudämmen: »Gerade psychoanalytisch geschulte Mitglieder wären am besten dazu berufen, einen Verein zu gründen, der die größtmögliche persönliche Freiheit mit den Vorteilen der Familienorganisation verbindet. Dieser Verband wäre eine Familie, in der dem Vater keine dogmatische Autorität zukommt, sondern gerade so viel, als er durch seine Fähigkeiten und Arbeiten wirklich verdient; seine Aussprüche würden nicht blind wie göttliche Offenbarungen befolgt, sondern wie alles andere Gegenstand einer eingehenden Kritik; und er selbst nähme diese Kritik nicht mit der lächerlichen Überhebung des Pater familias auf, sondern würdigte sie entsprechender Beachtung. Auch die in diesem Verband vereinigten jüngeren und älteren Geschwister würden ohne kindische Empfindlichkeit und Rachsucht ertragen, daß man ihnen die Wahrheit ins Gesicht sagt, so bitter und ernüchternd sie auch sei. Daß man auch bestebt wäre, die Wahrheit zu sagen, ohne überflüssigen Schmerz zu verursachen, versteht sich bei dem heutigen Stand der Kultur und im zweiten Jahrhundert der Anästhesie von selbst. […] [Wenn] die wirklichen Fähigkeiten anerkannt werden und auf die Empfindlichkeit der Eingebildeten keine Rücksicht genommen wird, dort wird es wohl unmöglich sein, daß einer, der zwar ein feines Gefühl für Einzelheiten hat, aber 223
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in abstrakten Dingen unbegabt ist, sich in den Kopf setzt, die Wissenschaft theoretisch zu reformieren; ein anderer wird sein Bestreben, die eigenen, vielleicht wertvollen, aber recht subjektiven Bestrebungen, alle andere Erfahrungen außer acht lassend, zur Grundlage der ganzen Wissenschaft machen zu wollen, unterdrücken; der dritte wird zur Kenntnis nehmen, daß die überflüssige Aggressivität seiner Schriften nur den Widerstand steigert, ohne der Sache zu dienen; den vierten wird der freie Meinungsaustausch überzeugen, daß es töricht ist, auf etwas neues sofort mit seinem Besserwissenwollen zu reagieren. […] Die Autoerotische Periode des Vereinslebens würde allmählich durch die fortgeschrittene der Objektliebe abgelöst, die nicht mehr im Kitzel der geistigen erogenen Zonen (Eitelkeit, Ehrgeiz), sondern in den Objekten der Beobachtung selbst Befriedigung sucht und findet« (ebd., S. 53f.).
Ferenczi schlug also vor, eine »nach diesen Prinzipien arbeitende psychoanalytische Vereinigung« zu gründen, die »günstige innere Bedingungen« auch dazu nutzt, »sich nach Außen Achtung zu verschaffen« (ebd.). Trotz dieses im Wortsinn vielversprechenden Entwurfs soll sein Vortrag, so zumindest Jones (1984b, S. 90), einen »Sturm des Protests« entfacht haben. Dies dürfte auch dazu beigetragen haben, dass Ferenczis Äußerungen nur kurz im Zentralblatt erwähnt und erst 1927 im ersten Band der Bausteine vollständig veröffentlicht wurden. 1 Was ist aus seinen Ideen geworden? Immerhin gibt es die IPV, und die Psychoanalyse hat sich seit Ferenczis Vortrag institutionell erheblich weiterentwickelt. Aber in Bezug auf die Fragen innerer Reife und äußerer Anerkennung muss Ferenczis Diagnose weiterentwickelt werden.2 Seine Form des »Innehaltens« nutzt nur einige der Möglichkeiten einer institutionstheoretischen Sicht und mündet in eine – aus heutiger Sicht etwas altbacken wirkende – Analogie aus dem Repertoire der frühen Psychoanalyse (verbunden mit einer zeittypischen Idealisierung von 1 Es sind vielleicht nicht nur Ferenczis – von Freud gebilligte – inhaltliche Vorschläge gewesen (etwa die Konzipierung der IPV als eher elitäre, autoritative Organisation und die Betreuung der »Züricher« mit der Leitung), die heftige Turbulenzen auslösten. Dazu beigetragen hat vermutlich auch, dass er in der Charakterisierung des »wissenschaftlichen Betriebs« und der »Typen, die […] auch unter uns auftauchen«, sich recht drastisch ausdrückte und dabei wunde Punkte traf (und trifft). 2 Heutige Interpreten bescheinigen Ferenczi Naivität und Wunschdenken (siehe dazu die Texte in Wiesse, 1992).
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Sándor Ferenczis Organisationsanalyse
Hierarchie).3 Nicht, dass der Vergleich von Organisation und Familie gänzlich unsinnig wäre, aber bei Ferenzci wird daraus eine reduktionistische Gleichsetzung (siehe dazu ausführlich Buchinger, 1993). Sein Vortrag enthält jedoch (neben scharfen Beobachtungen) auch Sichtweisen, an die eine sozialwissenschaftliche Perspektive anknüpfen können: ➣ Ferenczi zeigt, dass sich »Bewegungen« entwickeln und sich in dieser Entwicklung die Art der zu bewältigenden Aufgaben, die Typologie des Personals und die Form der Organisation ändern (müssen). ➣ Er beschreibt die Entwicklung zugleich als eine Auseinandersetzung um eine angemessene Positionierung in einem Umfeld, welches externe Kriterien zur Beurteilung verwendet, und spricht damit die System-Umwelt-Interaktion an. ➣ Er analysiert das Innenleben von Organisationen als Prozess, in dem die sozialen Rahmenbedingungen dem Verhalten der Akteure Raum und Sinn geben und die Struktur der Organisation von der Dynamik des Themas bestimmt wird. ➣ Er weist darauf hin, dass Institutionen – abhängig von den Rahmenbedingungen und ihrer internen Dynamik – auf unterschiedlichen Niveaus operieren können (die er entwicklungspsychologisch formuliert). ➣ Ferenczi sieht, dass ein Verständnis von Prozessen dieser Art ein Unterbrechen des laufenden Betriebs und ein Umstellen auf eine quer dazu liegende Sichtweise voraussetzt. Er argumentierte also soziologisch und das ziemlich scharfsinnig. Und er sah die Zukunft so voller Optimismus, wie es seinem Naturell entsprach. Aber nicht nur die Reaktionen auf dem Kongress selbst waren gänzlich anders, als er sich das vorgestellt hatte. Auch das, was dann passierte und was seitdem die Entwicklung der Psychoanalyse prägte, findet sich in seinen Vorstellungen nicht wieder. Anders konnte es selbstverständlich nicht sein. Schließlich war er kein Prophet, und seine Vorstellungen von den Problemlagen mussten umständebedingt limitiert bleiben – selbst, wenn er geahnt hätte, was aus der Psychoanalyse wird (was unmöglich war), hätte er in der Soziologie seiner Zeit (die er nicht kannte) kaum angemessene Konzepte 3 Es entbehrt nicht einer leisen Ironie, dass ausgerechnet der Freigeist Ferenczi (allerdings noch zu einem relativ frühen Zeitpunkt) die Einrichtung eines »Zentralkommitees« mit extremer Machtfülle forderte – quasi eine Art übermächtiger Vaterimago.
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gefunden, sie zu interpretieren. Inzwischen ist es möglich, aus dem Rückblick und mit differenzierten Mitteln die Entwicklung der Psychoanalyse besser zu verstehen.
Entwicklung der Psychoanalyse Was passiert ist, ist gut dokumentiert und vielfach dargestellt worden und muss daher nicht im Einzelnen rekapituliert werden. Einige Stichworte müssen genügen: ➣ Freuds Theoriegebäude war zu Beginn der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen und konnte in dieser Form als Referenz genutzt werden. Damit begann eine neue Phase der Konsolidierung und Expansion. Beispielhaft für Ersteres steht die Studie von Hartmann (1972 [1927]), in der eine Art Kanonisierung der Theorie unternommen wurde. Gleichzeitig setzte sich die Geschichte der Abspaltung und Dissidenz fort, die bereits kurz nach dem Nürnberger Kongress begonnen hatte. Abweichende Vorstellungen führten zu Abkehr oder Ausschluss, was darauf schließen lässt, dass die Möglichkeit zur internen Verarbeitung von Differenzen noch gering und/oder die Differenzen zu groß waren. Das hatte zur Folge, dass es anfangs nur die Wahl gab, in den Grenzen der Freud’schen Theorie zu bleiben oder sich von der Psychoanalyse zu trennen. Es dauerte fast zwei Generationen, bis auch intern über mögliche Weiterentwicklungen und Alternativen nachgedacht werden konnte. Inzwischen präsentiert sich die Psychoanalyse als multiples Paradigma, als eine Thematisierungsstrategie, die mehr und anderes umfasst als das, was Freud dachte – mit dem Effekt, dass es unterschiedliche Schulen gibt, deren Beziehung bestenfalls ungeklärt ist, die sich jedoch meistens mehr oder weniger massiv gegenseitig kritisieren. ➣ Auch die Praxis hat sich erheblich weiterentwickelt, aber dabei – ähnlich wie die Theorie – an Eindeutigkeit verloren. Falls Freuds Konzept von Therapie überhaupt jemals konzeptuell wie praktisch eindeutig war und von seinen frühen Schülern getreulich kopiert wurde (was fraglich ist), wurden nach und nach Unterschiede im Verständnis unübersehbar. Nach einer längeren Phase, in der zumindest offiziell von seinen Vorstellungen nicht abgewichen werden durfte (also empirische Abweichungen entweder inoffiziell stattfinden mussten oder 226
Entwicklung der Psychoanalyse
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zum Ausschluss führten), begann auch hier eine manchmal mühsame, aber intensive Diskussion, in deren Verlauf eine ganze Reihe von innovativen Vorstellungen und Formen entstanden. Das therapeutische Geschehen wurde dadurch in seinen vielfältigen Facetten wesentlich deutlicher. Allerdings zeigt sich auch hier, dass die Diskussionen keineswegs zu einem einheitlichen Konzept, sondern zu permanenten Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Ansätzen geführt haben. Als Therapie ist die Psychoanalyse dennoch einigermaßen etabliert, aber ständig unter Druck – nicht zuletzt dadurch, dass andere Verfahren ihre Leistungen abkupfern und instrumentalisieren. Die organisatorische Entwicklung der Psychoanalyse zeigt ein vergleichbares Profil. Zu Beginn von Freuds Arbeit entstand zunächst eine eindeutig zentrierte Gruppe, die in ihrer nächsten Stufe ein größerer Personenverband blieb. Mit zunehmender Größe wurde die Organisation (durch Gründung von Ortsgruppen und internationalen Verbänden mit entsprechenden Formen der Behandlung von Themen und der Formalisierung von Beziehungen) abstrakter und »bürokratischer«. Erst recht erzwang die Internationalisierung der Psychoanalyse die Genese einer entsprechenden Makrostruktur, die mit und gegen die lokalen und regionalen Besonderheiten eine Einheit erhalten muss und will. Dass eine abstrakte Einheitlichkeit überhaupt existiert, ist alles andere als selbstverständlich. Denn unter diesem Dach bestehen erhebliche Differenzen zwischen den und innerhalb der (nord- und südamerikanischen, englischen, französischen, deutschen und anderen) kulturspezifischen Varianten, was permanente Reibungen und Konflikte zur Folge hat. Das Verhältnis zur akademischen Welt war von Anfang an problematisch. Freud selbst zweifelte keine Sekunde an der Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse, viele seine Kollegen taten sich da schwerer. Manche reagierten mit mehr oder weniger heftiger Ablehnung oder mit Unverständnis. Dennoch kam es vor allem in den USA zu einer breiteren Rezeption und zur Nutzung psychoanalytischer Perspektiven (vor allem in Ethnologie und Kulturanthropologie). Allerdings kam es bald auch zu einer Gegenbewegung: Das quantitative Forschungsparadigma setzte sich auch in diesen Fächern zunehmend durch; die psychoanalytische Therapie wurde kritisiert und bedrängt von anderen (pflegeleichteren) Paradigmen. Dieser Trend setzte sich fort. Heute ist Psychoanalyse als Erkenntnisstrategie konsolidiert, 227
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aber in den Wissenschaften ein eher marginales Phänomen: Es gibt sie und ihre Leistungen sind beachtlich, aber sie ist weitgehend unbekannt oder ausgegrenzt. Das Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt ist mehrdeutig. Von Anfang an gab es großes Interesse, aber auch hochgradig ambivalente Reaktionen. Das Interesse hatte nicht selten Missbrauchscharakter. Da das Thema Sexualität inzwischen kein Tabu mehr ist, ist die Psychoanalyse das Etikett »unanständig« inzwischen losgeworden. Geblieben ist jedoch das Etikett »anrüchig« und ein öffentlicher Ruf, der stark von Angst und Abwehr geprägt ist: Man fürchtet sich vor ihr und ihren exzentrischen, bedrohlichen Perspektiven, weil sie intuitiv als Bedrohung des eigenen (prekären) Gleichgewichts erlebt werden. Daraus resultiert schnell ignorante Ablehnung. Auf der anderen Seite besteht kein Zweifel, dass die Psychoanalyse wie kaum eine andere Theorie das öffentliche Verständnis von Psychologie erweitert und geprägt hat. Wenn auch selten korrekt gebraucht, sind Begriffe wie »Verdrängung«, »unbewusst« oder »Fehlleistung« Teil des öffentlichen Diskurses geworden und haben damit erheblich zur Aufklärung und Reflexion beigetragen. Alle diese Entwicklungen haben einerseits dazu beigetragen, dass die Selbstreflexion der Psychoanalyse quantitativ wie qualitativ außerordentliche Ausmaße angenommen hat und noch hat. Dieser Theorie, Praxis, Organisation und Situation ständig begleitende Reflexionsprozess hat viele Einsichten, aber keine Verständigung gebracht. Ob es um den wissenschaftlichen Status, die »richtige« Theorie oder die korrekte Praxis geht – zu allem finden sich unterschiedliche und unterschiedlich begründete Positionen und Gegenpositionen. Noch nicht einmal die Definition der Psychoanalyse ist über endlose Diskussionen hinausgekommen. Auf der anderen Seite ist die Psychoanalyse für die meisten ihrer Angehörigen nach wie vor eine wichtige, hochbesetzte Sache. Es gibt nur wenig Zünfte mit so ausgeprägtem Stolz und, komplementär, so deutlicher Distanzierung zur profanen Umwelt.
Die Entwicklung der Psychoanalyse ist also eine Erfolgsgeschichte, belastet mit erheblichen Problemen. Das hat eine ganze Reihe von Denk-Würdigkeiten mit sich gebracht. Es gibt es inzwischen auch schon eine ebenso lange Geschichte nicht nur der externen, sondern auch der internen Kritik 228
Entwicklung der Psychoanalyse
ihrer Entwicklung und ihres Zustands. Viele prominente Vertreter der Zunft haben immer wieder – im Ton mehr oder weniger heftig – Mängellisten und Desiderate für die Zukunft erstellt – so viele, dass dies ein Thema für sich wäre.4 Dabei wird mit großer Ernsthaftigkeit und Vehemenz darum gerungen, wie eine Fülle von umstrittenen Fragen richtig zu sehen und zu behandeln sind (Wie viel Wochenstunden machen eine Psychoanalyse aus? Wie steht es mit der Finanzierung? Sollte es andere Formen der (psychoanalytischen) Psychotherapie geben und wenn ja: welche?) Womit Psychoanalyse zurechtkommen muss
Oft wird sie dafür kritisiert, dass sie sich falsch entwickelt, wobei die Zielscheiben wie die Richtung der Kritik variieren. Dabei leidet manche Kritik daran, dass sie stark affektiv aufgeladen ist und dass die jeweiligen Themen sehr hoch gehängt werden. Manche Kritik ist zudem vorwurfsvoll und geht dabei zumindest implizit davon aus, dass da Fahrlässigkeit oder Versagen im Spiel sind. Dann gibt es Schuldige, die für die Zustände verantwortlich sind.5 Diese Art von Kritik (sie ist kein Alleinstellungsmerkmal der Psychoanalyse) ist meist perspektivisch verengt. Sie sieht ihr Thema im Gegensatz von Sein und Sollen und nicht – wie es für ein systematisches Verständnis nötig wäre – im Gesamtkontext. Nur wenn die Bedingung der Möglichkeit sowohl des Kritisierten als auch möglicher Alternativen im Zusammenhang gesehen werden, bringt Kritik nicht nur Ablehnung zum Ausdruck, sondern erlaubt ein besseres Verständnis und damit eine objektive Beurteilung. Es sind allerdings nicht nur Versäumnisse und Fehler, die Probleme verursachen, und es sind nicht nur Affekte, die Kritik verzerren und vereinseitigen. Es sind auch Mängel im Verständnis und fehlende Kriterien; es 4 Eine Übersicht bietet Cremerius (1995); siehe zum Beispiel auch Erdheim (1991) und Kernberg (1998). 5 Zum Teil wird die Kritik in einer Schärfe geäußert, die vielleicht von enttäuschter Liebe befeuert wird. Das hat zur Folge, dass auch berechtige Kritik zum Schlaginstrument wird: Sie habe in der Vergangenheit versagt, wenn es um den Umgang mit Themen wie Homosexualität oder der Gleichberechtigung von Frauen geht; sie habe – speziell in Deutschland – auch politisch versagt; sie funktioniere autoritär, repressiv, irrational und vieles mehr. Mancher Beobachter sieht sie als ziemlich gescheitert an – als »ver-endende Institution« (Erdheim).
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fehlen gelegentlich empirische Vergleiche und begriffliche Instrumentarien. Und auch das ist kein hausgemachtes Problem, denn es fehlt an externe Unterstützung. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich beispielsweise, dass die klassische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie auf die Problemlagen der Psychoanalyse schlecht vorbereitet war. Exkurs zur Erkenntnistheorie
Um dies in aller Kürze anzudeuten: Mit der Emanzipation von metaphysischer Dogmatik stellte sich das Problem der Begründung von Aussagen – ein Problem, das von Anfang an und bis heute kontrovers behandelt wurde. In der Fülle der Vorschläge, die von ontologischen Begründungen bis zur Annahme prinzipieller Unbegründbarkeit reichten, gab es eine Reihe von immer wieder in neuem Gewand auftretenden typischen Strategien. Eine solche Leitstrategie versuchte, sich an das empirisch Erfassbare zu halten und daraus die Logik der Dinge abzuleiten. Eine andere ging davon aus, dass es eine (transzendente) logische Ordnung der empirischen Vielfalt gibt, die es zu erfassen gilt. Erstere hielt sich gern an die materiale Objektivität der Welt und die Ordnung in den Dingen, letztere dagegen daran, dass die Dinge per se nichts über sich sagen und es die Ordnung jenseits der Dinge ist, die es (geistig) zu erschließen gilt. Diese Perspektiven vertrugen sich nicht gut; ihre Gegensätze wurden in verschiedenen Varianten (zum Beispiel Platon versus Aristoteles, Universalisten versus Nominalisten) immer wieder ausgetragen. In klassischer Form wurde der Konflikt in der frühen Neuzeit durch den Dissens zwischen »Empirismus« und »Realismus« offenbar. Der Empirismus stützte sich auf die (scheinbare) Sicherheit sinnlicher Erfahrungen und die Möglichkeit, sie mathematisch weiter zu verarbeiten. Galilei war sich sicher, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist. Der Rationalismus kritisierte die Unzuverlässigkeit von Wahrnehmungen. Descartes sah letztlich nur in der kritischen Funktion und der logischen Operationsweise des Verstandes die Möglichkeit, Erkenntnis zu begründen. Unabhängig von diesem Gegensatz waren sich beide Seiten darin einig, dass objektive Erkenntnis im Sinne einer Übereinstimmung mit der Realität möglich ist. Kant versuchte, die hoffnungslos zerstrittenen Rationalisten und Empiristen an einen Tisch zu bringen und den von ihnen produzierten künstli230
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chen Gegensatz von Theorie und Empirie zu überwinden. Dazu unternahm er jedoch eine fundamentale Kehrtwende: Er stellte fest, dass Realität niemals unmittelbar zugänglich ist, sondern immer nur formatiert durch die Mittel, mit denen Erkenntnis arbeitet. Er selbst hatte dabei die Hoffnung, dass durch eine sinnvolle Kooperation von Theorie und Methoden dennoch ein objektives Bild von Realität entstehen kann und fasste dies in der berühmten Maxime: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauung ohne Begriffe ist blind« (1971 [1781], S. 126). Sein eigener Versuch, Erkenntnis ohne einseitige Bindung an Erfahrung oder Denken zu begründen, führte ihn zu einer systematischen Trennung von Realität (des »Dings an sich«) und Wirklichkeit (der Form ihrer symbolischen Reproduktion), und der Einsicht, dass Erkenntnis nie das erkennt, was tatsächlich der Fall ist, sondern das, was das Erkenntnisinstrument erfasst. Damit beschrieb er als erster den unvermeidlichen »blinden Fleck« jeder Erkenntnis. Schon sein Schüler Fries kam von da aus zu der Feststellung, dass wegen dieser prinzipiellen Differenz Erkenntnis nie abschließend begründbar ist, sondern nur die Wahl hat, ob sie dogmatisch abgeschottet wird, ob sie tautologisch argumentiert oder auf die schiefe Bahn eines regressus ad infinitum gerät. Dieses »Fries’sche Trilemma« enthält die Einsicht, dass es keine voraussetzungsfreie (und damit auch keine universell gültige) Erkenntnis geben kann (Fries, 1839). Tatsächlich ging es seitdem steil bergauf mit der Ausweitung von Wissen, aber bergab mit dem Glauben an die Begründbarkeit von Erkenntnis. Sie hat es längst aufgegeben, zu beurteilen, was »wahr« ist, und will schon lange nicht mehr den Wissenschaften vorschreiben, wie sie vorzugehen haben. Dies begann bereits mit Hegels Kant-Kritik. Hegel brachte die Dialektik von Gegenstand und Erkenntnis ins Spiel – die Tatsache, dass sich beide gegenseitig beeinflussen können. Damit öffnete er den Blick auf das, was heute als Wissenschaftsforschung breit betrieben wird; er trug jedoch zugleich (gegen seine eigenen Intentionen) entscheidend zur Relativierung der Vorstellung von objektiver Erkenntnis bei: Streicht man die idealistischen Absicherungen seines Denkens, so zeigen seine Überlegungen nämlich vor allem, dass bestimmte Formen von Erkenntnis immer auch ein Produkt der Umstände und in die Entwicklung ihres Gegenstandes verstrickt sind. Diese Einsicht wurde bei seinen Nachfolgern, also beispielsweise bei Marx und Dilthey, noch deutlicher. Aber nicht nur sie förderten die Kritik am Wahrheitsanspruch, auch die Vertreter des modernen Empirismus, die zunächst noch von der Möglichkeit der Erkenntnis von 231
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Wahrheit überzeugt waren, brachten diese Sicherheit gerade durch ihre Bemühungen, den Nachweis dafür zu erbringen, ins Wanken. Der Positivismus scheiterte in seinem naiven Glauben an die Objektivität von Messverfahren ebenso wie der Wiener Kreis mit seinem intensiven Bemühen um eine logisch unbezweifelbare Begründung von empirischen Aussagen. Diese Versuche demonstrierten letztlich vor allem die Undurchführbarkeit des Projekts, was jedoch die Vertreter der Analytischen Philosophie nicht daran hindert, weiter auf logischen Pfaden nach einer tragfähigeren Grundlage von Erkenntnis zu suchen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten führten dazu, dass Ludwig Wittgenstein, anfangs ein begeisterter Anhänger des Logischen Positivismus, später eine Wendung um 180 Grad vollzog und in seiner Theorie der systemspezifischen Gebundenheit von Wahrheit dem modernen Konstruktivismus den Weg bahnte. Dagegen blieb Karl Popper, der Begründer des Kritischen Rationalismus, weiter auf dem Weg des Empirismus und hielt daran fest, dass es eine objektive Wahrheit gäbe. Sie sei für uns jedoch aus prinzipiellen Gründen unerreichbar. Unsere Theorien seien daher stets nur vorläufig akzeptierte Vorstellungen. Sie gelten, weil sie noch nicht falsifiziert wurden; sie können verbessert, aber nicht perfektioniert werden. Diese Relativierungen hatten der Idee der Wahrheit schon ziemlich zugesetzt. Der moderne Konstruktivismus demolierte sie vollends mit einer modernisierten Version des Arguments, jede Interpretation sei eine partikulare, standort- und prämissengebundene Veranstaltung. Radikale Konstruktivisten ziehen daraus die Konsequenz, dass es überhaupt keine Möglichkeit gibt, Entscheidungen darüber zu treffen, was richtig oder falsch ist. Zwar teilen nicht alle diesen radikalen Relativismus, aber der Optimismus, Wahrheit begründen zu können, ist weitgehend verschwunden. Wahrheit ist in dieser Perspektive das, was in einem bestimmten Rahmen als wahr definiert wird. Von definitiver »Wahrheit« ist in neueren erkenntnistheoretischen Diskursen daher nicht mehr die Rede.6 6 Das klingt nach Scherbenhaufen, ist es aber nicht. Man kann diese Entwicklung auch als Entlastung (und als Erreichen der »depressiven Position«) sehen: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien stehen nicht mehr unter dem Zwang, etwas Unbegründbares begründen zu müssen und den einzelnen Wissenschaften vorzuschreiben, was sie tun sollen (also besser zu sein, als sie es sind). Sie können sich ganz darauf konzentrieren, Bedingungen und Problemlagen von Erkenntnis und die Versuche, mit ihnen umzugehen, zu analysieren.
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Dass mit diesen Angeboten psychoanalytische Theorie und Praxis nicht gut erfassbar sind, ist evident. Aus erkenntnistheoretischer Sicht besteht die Psychoanalyse darauf, dass es eine eigenständige psychische Realität gibt, die sich im empirischen Geschehen äußert und die ihrerseits empirisch im Triebgeschehen »geerdert« ist. Sie geht zugleich davon aus, dass es ein mehrdeutiges, dabei zugleich logisch geordnetes und idiosynkratisches psychisches Geschehen ist, das nicht nur funktional, sondern dynamisch unbewusst operiert, sodass es systematische Zugangssperren gibt. Und sie geht davon aus, dass es einen Zugang zum psychischen Geschehen gibt, der empirischer Natur, aber nicht objektivierbar ist. Auf solche Komplexität ist keines der gängigen erkenntnistheoretischen Paradigmen eingestellt. Der logische Empirismus hat sich von Gegenständen und ihren Besonderheiten zu weit entfernt, um überhaupt auf themenbezogene Besonderheiten gut eingehen zu können. Poppers Kritischer Rationalismus disqualifiziert die psychoanalytischen Prämissen als Metaphysik. Und der Konstruktivismus kann zwar mit der psychoanalytischen Konzeption von mentalen Konstruktionen leben, aber nicht mit der psychoanalytischen »Triebontologie« und anderen Vorstellungen von der Funktionsweise der Psyche. Exkurs zur Organisationstheorie
Mutatis mutandis gilt dies auch für die Frage der Organisation. Passende Theorien und Formen der Organisation waren in der Frühzeit der Psychoanalyse nicht vorhanden. Über die gute Organisation wurde schon lange nachgedacht und geschrieben – teils in Form von Herrschaftswissen (Macchiavelli), teils in Ordnungs- und Verwaltungsanleitungen (die »Hausväterliteratur«, die die Organisation des »Ganzen Hauses« beschrieb und vorschrieb). Erste Schritte in Richtung Organisationsentwicklung und Entwicklungstheorie entstanden im Zusammenhang mit der Aufklärung (als Reflexion des Bestehenden) und der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie, die das Ideal reiner Zweckrationalität forcierte, aber auch – wie etwa Adam Smith – ein theoretisches Verständnis von der Selbstorganisation von Systemen hervorbrachten. Max Webers Modell der »bürokratischen Herrschaft« war ein erster Versuch, diese Entwicklungen im Rahmen einer Modernisierungstheorie zu systematisieren. »Bürokratische Herrschaft« ist 233
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für ihn der Idealtyp (nicht: das Ideal) legaler Herrschaft, weil sie Abläufe formalisiert, auf festgelegte Ziele hin ausrichtet und die Funktionsweise von jeglicher Willkür befreit. Dazu dienen feste Rollen und Zuordnungen, geregelte Abläufe und Beziehungen, Kontrollen und Sanktionen. Dass die Wirklichkeit anders aussieht, war Weber natürlich klar, und auch, dass sie, wenn so aussähe, vermutlich kein schönes Bild abgäbe. Aber er hatte damit eine Folie entwickelt, mit der reales Organisationsgeschehen gemessen werden und die Suche nach Faktoren, die dafür verantwortlich gemacht werden konnten, beginnen konnte. Betrieben wurde diese Suche allerdings zunächst und vor allem aus der Perspektive der (ökonomischen) Effizienzsteigerung. Grob und primitiv zusammengefasst ging es dabei immer darum, Arbeitskraft noch besser zu auszunutzen. In der Bewegung des scientific managements ging es zunächst um ergonomische Verbesserungen, dann – im Zuge der human relations – um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen (ebenfalls mit dem indirekten Ziel, die Leistung der Arbeitenden dadurch zu steigern, dass sie sich wohler fühlen). Diese beiden Zugänge kennzeichnet diese Diskurse bis heute (auch wenn sie inzwischen hochgradig professionalisiert und differenziert sind). Es geht direkt und indirekt um die Steigerung von Effizienz von Arbeit und um die optimale Führung, also um das, was bei Weber »Zweckrationalität« heißt, und es geht meist um Arbeits- und Verwaltungsorganisationen. Daneben und dagegen haben sich jedoch auch andere und kritische Formen der Organisationsforschung etabliert. Sie beschäftigen sich mit Fragen der Machtverhältnisse und der Machtausübung, mit dem komplizierten Innenleben, mit Mikropolitik und latenten Programmen. Und es gibt zudem – nicht zuletzt angeregt durch psychoanalytische Perspektiven – einen breiten Diskurs zur Psychodynamik von Organisationen (siehe dazu Fineman, 2000; Haubl, 2018). Auch hier lässt sich feststellen, dass vieles, was die Organisationsforschung entwickelt hat, auch mit Gewinn auf die Psychoanalyse angewendet werden kann. Was jedoch fehlt, sind systematische Analysen dessen, was die Psychoanalyse in ausgeprägter Form betreibt: Sie interveniert in den laufenden psychosozialen Prozess mit psychosozialen Mitteln, auf denen sie selbst basiert. Dies ist ein zugleich reflexiver und selbstreflexiver Prozess oder, etwas abstrakter gesehen, eine Intervention in die Selbststeuerung der psychosozialen Realität mit dem Ziel, sie mit daraus abgeleiteten – sekundären und spezifizierten – Mittel der Selbststeuerung zu verändern. 234
Entwicklung der Psychoanalyse
Besonderheiten der Psychoanalyse
Ein angemessenes Verständnis der Situation der Psychoanalyse muss sich deshalb mit der speziellen Problemlage beschäftigen, die mit der Institutionalisierung von Reflexion und reflexiver Praxis verbunden ist und dabei passende erkenntnistheoretische Perspektiven nutzen. Das ist in den hier zusammengestellten Texten in mehreren Anläufen versucht worden. Das Ergebnis stellt sich kurz zusammengefasst7 wie folgt dar: ➣ Der Gegenstand der Psychoanalyse ist ein sich permanent selbst herstellender und stabilisierender, dabei die eigene Entwicklung und externe Rahmenbedingungen aufgreifender und in Eigenlogik übersetzender Prozess, der generelle, typische und idiosynkratische Faktoren und Ausprägungen kombiniert. Daraus ergibt sich eine spezifische Mischung von zugleich ähnlichen und verschiedenen, multilogischen und heterogenen Mehrebenen-Geschehen, die zugleich manifest und latent wirksam sind. Psychische Realität ist in Bewegung, ändert sich, ist getrieben und aktiv, widersprüchlich und einheitlich zugleich. ➣ Die Psyche und ihre Dynamik sind daher theoretisch nicht auf einen einfachen Nenner zu bringen. Sie kann so, aber auch anders funktionieren (und beides zugleich); ist nicht unlogisch, aber operiert nicht linear und gesetzmäßig. Deshalb entstehen im Umgang mit ihr Begriffe, die »unscharf« sind und die vor allem imstande sind, verschiedene Formen der Verbindung und des Austauschs zu erfassen. Dies gilt auch für die Theorien, die Begriffe verbinden und ordnen. Die Komplexität ihres Gegenstands hat zur Folge, dass es keine Theorie gibt, die alle Aspekte psychischer Realität zugleich und gleich gut erfassen kann. Daher sind prinzipiell unterschiedliche Thematisierungsstrategien möglich, deren Leistungsvermögen mit Nachteilen und Grenzen verbunden sind. Sie lassen sich daher verbessern, aber nicht abschließen. Außerdem gibt es keine absichernde Metatheorie, an dem die verschiedenen Theorien gemessen werden könnten – jede verwendet ihre eigene Metatheorie. Daher sind Auseinandersetzungen um die Art der Theoriebildung und -balance sowie die ständige Reflexion der Theorieentwicklung unvermeidlich und endemisch. 7 In den Texten werden dafür die Begriffe »autopoietische Realität« und »konnotative Theorien« verwendet.
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➣
Praktische Interventionen in die Psyche sind immer ein dialektischer Vorgang, weil sie sie eigendynamisch verarbeitet, so dass sie ständig neu balanciert werden müssen. Die Art der Praxis ist daher nicht instrumentalisierbar, sondern bleibt eine personengebundene Kompetenz8; die Art der Intervention in psychische Prozesse bleibt wegen deren Eigendynamik ein Stück weit unkalkulierbar, riskant. Auch hier gilt, dass im Prinzip unterschiedliche Formen der Praxis möglich und denkbar sind – mit unterschiedlichem Leistungsprofil und unterschiedlichen Grenzen. Praktische Strategien können auch nicht direkt aus der Theorie abgeleitet werden, sondern bedürfen ihrerseits sozusagen einer Theorie der Praxis, einer Konzeption, wie konkret Ziele begründet und umgesetzt werden. Praktische Kompetenzen können auch nicht instrumentell erworben und vermittelt werden, sie müssen mit der psychischen Funktionsweise der Praktizierenden vermittelt werden. Es handelt sich daher um nicht-lineare Lernprozesse mit offenem Ausgang (dessen Beurteilung wiederum Thema von Auseinandersetzungen werden kann).
Damit ist die Last beschrieben, mit der Akteure wie soziale Organisation zurechtkommen müssen: unsichere und instabile, riskante Formen von Theorien und Praxis, die es im Plural gibt. Das ist eine chronische Belastung und Überforderung, also nicht definitiv und konfliktfrei zu bewältigen. Eine solche Situation führt zwangsläufig zu Bewältigungsstrategien, die versuchen, eine überfordernde Komplexität so zu vereinfachen, dass sie handhabbar wird (und die ihrerseits sekundäre Probleme mit sich bringen können). Auch dies ist häufiger angesprochen worden. Bewältigung von Komplexität
Hier sollen zwei Aspekte etwas näher betrachtet werden. Ein immer wieder angesprochenes Thema ist das, was als »Schulenbildung« bezeichnet wird. Was ist das eigentlich genau und wie kommt es dazu? Gemeint ist, dass ein (Sub-)Paradigma exklusive Autorität im Umgang mit einem Thema behauptet und/oder zugewiesen bekommt. Das bedeutet, dass es (unbedingte) Anerkennung verlangt und dafür Sicherheit und Orientierung 8 Siehe zu den Besonderheiten personengebundener Kompetenz Polanyi (1965 [1958]).
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bietet. Hintergrund der Entstehung von Schulen sind die beschriebene Unschärfe und Unbestimmbarkeit von Theorie und Praxis und, damit verbunden, die multiple Thematisierbarkeit. Längerfristig gibt es zwei Möglichkeiten der Entwicklung eines solchen Themenfeldes: Entweder wird eine (von vielen) Möglichkeiten privilegiert und zur allein richtigen erklärt oder es gibt ein Nebeneinander von (disparaten, konkurrierenden) Angeboten. Thomas Kuhn hat in seinen Überlegungen zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen den ersten Fall so dargestellt: Ausgangspunkt ist eine unentschiedene Situation, in der verschiedene Optionen entstehen, von denen sich eine durchsetzt. Nach Kuhn ist das siegreiche Modell nicht unbedingt tatsächlich besser. Vielmehr spielen dabei Zufall und Opportunitäten, aber auch situative Passung eine Rolle – was sich durchsetzt, entspricht besser den Erwartungen und hat die besseren Ressourcen, um sich durchsetzen zu können. Wenn diese eine Option sich durchsetzt hat, etabliert sie sich als »herrschendes« Paradigma, von dem ein starker Sog und formativer Druck ausgeht: Das Feld wird zentriert sich auf diesen Mittelpunkt, alle anderen Optionen werden marginalisiert. Das herrschende Paradigma benutzt die so gewonnene Definitions- und Steuerungsmacht, um Alternativen auszugrenzen, sie zu absorbieren oder sie in ihrem Sinne umzuinterpretieren. Dadurch entsteht eine Dogmatik mit Filter- und Verstärkereffekt. Das Kuhn’sche Modell ist eigentlich für andere Zwecke gedacht. Er denkt an eine unentschiedene und unentscheidbare Nullsituation, in der es ein Nebeneinander von verschiedenen Zugängen gibt. Man kann es aber auch dafür verwenden, das Dilemma der Psychoanalyse (und ähnlich gelagerter Fälle) zu erhellen. Denn Indifferenz ist generell für die beteiligten Personen als auch institutionell auf Dauer nicht zu verkraften und zudem keine Basis für die Entwicklung einer Wissenschaft. Um in Gang zu kommen, brauchen Theorien wie Praxisformen vor allem Robustheit und Stehvermögen, um angesichts der eigenen Unterentwicklung und eines unzivilisierten Umfeldes erhalten zu bleiben. Hier ist Dogmatik ebenso unvermeidlich wie hilfreich, das heißt, mit Hilfe der Festlegung auf ein »herrschendes« Paradigma kann eine Innovation sich konsolidieren. Die oben angedeutete Entwicklung der Psychoanalyse ist also insofern nachvollziehbar, als sie die Emanzipationsbedingungen eines innovativen Paradigmas spiegelt. Auch hier gibt es markante thematische Differenzen. Ein wichtiger Punkt in der weiteren Entwicklung ist jedoch, dass ein instrumentelles Thema sich durch Akkumulation sowohl theoretisch als auch praktisch von ihren Anfängen lösen und einen Zustand der Reife – eine inhaltlich 237
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eindeutige und begründete Theorie und eine funktionierende Praxis – erreichen kann (wozu Arbeitsteilung und Technisierung beitragen). Genau das kann die Psychoanalyse aus den skizzierten Gründen nicht. Sie entwickelt sich weiter, aber nicht additiv und akkumulativ, sondern durch ständige Restrukturierung und Reformulierung auf der Basis neuer Erkenntnisse – »Altes« muss »erneuert« und neu eingebunden werden. Wo der Umgang mit instrumentellen Themen (»nur«) differenzierter wird, muss sie (wie ähnliche Paradigmen auch) die Konfiguration reorganisieren und erweitern. Damit wird der innere Zusammenhalt des Paradigmas eher noch schwieriger, weil sich die Darstellungs- und Interventionsmöglichkeiten weiter differenzieren. An dieser Stelle kommt das Thema »Schulenbildung« ins Spiel. Wo Kuhn in der Entwicklung die Entstehung von unterschiedlichen Subparadigmen als eine Art Ausscheidungswettbewerb konzipierte, der in den Sieg eines Subparadigmas mündet, welches dann zur »Normalwissenschaft« wird, ist die Entwicklung in der Psychoanalyse quasi umgekehrt verlaufen: Zunächst »herrschte« Freud allein (und wer beziehungsweise was nicht dazu passte, verließ sein Reich); erst später kam es dazu, dass sich auch innerhalb der Psychoanalyse unterschiedliche Subparadigmen (sowie Subsubparadigmen) dauerhaft etablieren konnten. Dies ist in diesem Kontext ein Zeichen von Reifung: Es bedeutet, dass Differenzen auf Dauer gestellt werden können und nicht mit Ausgrenzung beziehungsweise dem Ausscheiden enden. Die Institution erträgt Unterschiede und praktiziert »Konvivialität« (so das von Illich in ähnlichem Kontext propagierte Ideal). Illich versteht darunter allerdings (normativ) ein harmonisches Zusammenwirken. Ganz so problemlos funktioniert das Ganze in der Psychoanalyse bisher nicht. Zum einen herrscht zwischen den »Schulen« über weite Strecken Funkstille oder gar »Krieg« (wo sie sich gegenseitig die Legitimität und Qualifikation absprechen). Das hängt vor allem damit zusammen, dass das Problem der Instabilität angesichts von Alternativen doppelt brisant ist – man muss trotz der Relativität der eigenen Perspektive deren Vorrang behaupten. Das geschieht vor allem dadurch, dass man die Konsistenz und Leistungsfähigkeit des eigenen Subparadigmas überschätzt und die der anderen unterschätzt. Ein überschätztes Paradigma, das damit seine Schwächen abschwächt, bleibt jedoch empfindlich und muss seinen Bestand ständig absichern – durch dogmatische Betonung des inneren Zusammenhalts, die exklusive Nutzung von eigenen Mitteln und die 238
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Wahrung des Abstands von anderen. An Instabiles muss man sich stärker klammern, damit es Halt gibt. Schulenbildung ist daher ein unvermeidlicher, systemstabilisierender Prozess, der es erlaubt, Disparates zusammenzuhalten – mit gewissen Nebenwirkungen. Der »Herrschaftsanspruch« von Schulen führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu internem Gerangel um Macht und Einfluss und mit Sicherheit zur Konfrontation mit anderen Schulen. Wer dauerhaft in einem Subparadigma lebt und zu Hause ist, hat es trotzdem normalisiert und nutzt es selbstverständlich. Das ist anders für diejenigen, die neu dazu kommen oder das Ganze von außen betrachten. Novizen müssen sich angesichts einer Vielfalt zuordnen, ohne über sachliche Entscheidungskriterien zu verfügen. Das bringt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zufällige Entscheidungen mit sich, beeinflusst von den Opportunitäten der Situation. Gerade aus psychoanalytischer Sicht ist unverkennbar, dass dabei subjektive Identifikationen und/oder soziale Identifikationszwänge eine große (und nicht unproblematische) Rolle spielen. Auch Außenstehende sind mit einer inhaltlichen und institutionellen Komplexität konfrontiert, die sich nicht ohne Weiteres erschließt. Die von den Subparadigmen gepflegten und gelegentlich hochgespielten Differenzen sind von außen oft kaum erkennbar und verständlich, und bei dem, was besonders hochgehalten wird, ist gelegentlich nicht recht ersichtlich, warum. Das liegt natürlich auch an der fehlenden Kompetenz des Blicks von außen – aber nicht nur. Schulenbildung ist also ein Modus der Erhaltung von Komplexität, der hilft, Dogmatik und ihre Folgeprobleme zu vermeiden in einer Situation, in der ein höheres Niveau an Integration nicht möglich oder noch nicht in Sicht ist. Sie behindert durch ihre Nachteile jedoch auch die Entwicklung des Paradigmas und erschwert den Kontakt nach außen. Damit ist ein weiteres neuralgisches Thema angesprochen: die Beziehung zur Umwelt. Ein wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang, dass sich Psychoanalyse prominent mit Themen beschäftigt, die auch im Alltag bedeutsam sind. Aber sie tut dies auf – aus Sicht des Alltagsbewusstseins – auf exzentrische Weise. Freud hatte dazu bereits einige wichtige Argumente entwickelt. Bekanntlich ging er – zu Recht – davon aus, dass psychoanalytische Aufklärung nicht auf begeisterte Zustimmung stoßen kann, weil sie eine »Kränkung« darstellt. Etwas allgemeiner kann man sagen, dass sie kontraintuitiv mit Themen umgeht, die im Alltag mit Zugangssperren versehen oder konventionell geregelt sind. Sie beschäftigt sich also nicht nur mit Tabu239
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Themen, sondern sie beschäftigt sich mit ihnen auf eine Weise, die dem Alltagsbewusstsein fremd ist und bedrohlich erscheinen muss. Das führt zu Konkurrenz und Konfrontation, auf die das Alltagsbewusstsein häufig mit spontaner Zurückweisung und abwertender Kritik reagiert. Der reflexive Umgang mit Problemlagen kollidiert also prinzipiell mit der Art und Weise, wie Alltagsbewusstsein und gesellschaftliche Ideologien prozessieren. Diese Sabotage führt zu mehr oder weniger qualifizierten Reaktionen. Während kein Chemiker befürchten muss, dass »Laien« seine Formel bezweifeln, müssen Psychoanalytiker (Soziologen, Historiker, Pädagogen und andere) nicht nur mit interner (wissenschaftlicher) Kritik rechnen, sondern auch damit, dass diejenigen, denen die Befunde nicht gefallen oder sich provoziert fühlen, ihnen Legitimität oder Qualität absprechen. Damit kehrt sich die Kränkung um: Die gekränkte Welt kränkt diejenigen, von denen sie sich ertappt, entlarvt oder provoziert fühlt. Das provoziert zwangsläufig eine Abwendung von einer Welt, die nicht nur nicht hören will, was man zu sagen hat, sondern auch noch dreist die eigenen Leistungen abwertet. Grenzüberschreitungen und Konflikte dieser Art tragen dazu bei, dass das ohnehin schon schwierige Verhältnis zur Umwelt weiter belastet wird. Die für Außenkontakte wichtige Erwartung, respektiert zu werden, sinkt. Das hat zur Folge, dass man sich noch mehr auf sich selbst zurückzieht, die Mauern nach außen verstärkt und die Grenzen bewacht. Nolens volens ist die Psychoanalyse zur Festung geworden – die Distanz zur Außenwelt ist groß, der Austausch in gewisser Weise reduziert. Diese Art von aktiver und passiver Marginalisierung findet sich nicht bei Paradigmen, die selbstverständlich in ihrer Umwelt anerkannt werden.9 Trotzdem kann die Psychoanalyse – wie andere ähnliche Fächer auch – die Invasion von externen Impulsen nur schwer verhindern. Das liegt an der strukturellen Identität und Interferenz von Thema und Paradigma: Sie beschäftigt sich zumindest indirekt mit der Welt, in und von der sie lebt. Thema, Institution und Außenwelt ähneln sich logisch und enthalten Überschneidungen. Daher lösen externe Gegebenheiten interne Resonanzen aus. Das betrifft beispielsweise die Selektionswirkung des sozialen Status und die Effekte, die mit der Akquisition von Ressourcen verbunden 9 Die Frage »Ist das noch Physik?« wird daher nicht zufällig wesentlich seltener gestellt als die Frage »Ist das noch Psychoanalyse?«. Und auch die Forderung, institutionelle Probleme nur mit Eigenmitteln zu lösen, wird außerhalb der Psychoanalyse kaum erhoben.
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sind. Auch Physiker brauchen Geld, aber sie müssen nicht darüber nachdenken, ob die Art der Finanzierung ihre Ergebnisse beeinflusst. Dagegen stellt sich der Psychoanalyse die Frage, wie sich Kassenfinanzierung und Preise auf Klientel und Therapieverläufe auswirken. Auch Physiker können von externen Ideologien beeinträchtigt werden (was die lange Geschichte von der Inquisition bis zur »Deutschen Physik« belegt). Aber sie können prinzipiell ihr Thema von den institutionellen Zwängen trennen – letztlich haben Kirche und Nazis die Gesetze der Physik nicht ändern können. Dagegen war (und ist) beispielsweise der gesellschaftliche Umgang mit Fragen wie Homosexualität, mit Themen der Gleichberechtigung und so weiter für die Psychoanalyse etwas, dass sich auf ihre eigenen Theorien und Formen der Praxis ausgewirkt hat und auswirkt. Trotz aller Filter wirken sich also Zeitgeist und Bedingungen auf die Art aus, wie Theorie und Praxis definiert und betrieben werden (müssen), und in jedem Fall kommt es dadurch zu normativen Problemen: Wie geht man – angesichts von Alternativen – damit um, ohne dass dabei immer problemlose Entscheidungen getroffen werden können? Ob man an der vierstündigen Analyse festhält oder nicht – beides hat unter Umständen (hier oder da) negative Auswirkungen. Ein strukturell unsicheres Paradigma zeigt typischerweise (nicht immer gleichzeitig und an gleicher Stelle) zwei komplementäre Mechanismen der Stabilisierung: einerseits ein konzentriertes Festhalten und eine kontrafaktische Überschätzung der eigenen Wahl, andererseits eine gewisse Bereitschaft, Innovationen aufzugreifen und zu idealisieren. Innerhalb der Psychoanalyse ist Letzteres eher gering ausgeprägt – nicht zuletzt, weil Theorie und Praxis eine gewisse Resistenz gegen plötzlichen Wandel besitzen. Dennoch gibt es (im Rückblick besser erkennbar) so etwas wie »Moden«, also aufschießende Prominenz und Karrieren von Begriffen und Namen, die nicht immer wirklich Neues bieten und bringen. Deren Funktion ist vor allem, Diskurs und Betrieb am Laufen zu halten und eine Neuverteilung von Status zu ermöglichen. Gleichzeitig können sie dazu beitragen, dass relevante Themen neu fokussiert werden, auch wenn dabei nur gelegentlich das Rad neu erfunden wird. Ausgeprägter ist die konservative Tendenz: das Festhalten an dem, was als bewährt und richtig eingeschätzt wird, und, damit verbunden, eine ablehnende Reaktion auf das, was nicht dazugehört. Das hat viel mit der angesprochenen Instabilität des Paradigmas und der Subparadigmen zu tun – ein Heimspiel ist leichter, als sich auf fremdes Terrain zu begeben. Ein besonderes Thema sind in diesem Zusammenhang die spezifischen 241
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Methoden. Generell sind für Wissenschaften ihre Instrumente naturgemäß wertvolle Objekte, die hoch besetzt sind. Das ist kein Problem, solange damit keine Einschränkung der Kritikfähigkeit verbunden ist. Dies Risiko ist dort besonders ausgeprägt, wo es prinzipiell Alternativen gibt und wo Theorien und Methoden sekundäre Funktionen aufgebürdet werden. Wo sie jedoch fetischisiert und ideologisch verwendet, als Stütze fragiler Positionen und als Konfliktmanagement genutzt werden, werden sie nicht nur missbraucht, sondern auch in ihrer Verwendung eingeschränkt und verzerrt. Georges Devereux hat diesen Aspekt in seiner Studie Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften (1973 [1967]) genauer untersucht. Er kam zu dem Ergebnis, das Methoden und Theorien ein Mittel sein können, um psychodynamische Probleme zu behandeln, die die Reflexion mit sich bringt. Sie sind zunächst ein Heilmittel gegen das, was er die »Stummheit der Materie« nennt – also gegen die Bedrohlichkeit des diffusen »Rauschens« der Realität. Theorien stiften Ordnung, Methoden bieten die Möglichkeit der Kontrolle – aus Rauschen wird Sinn. Darüber hinaus – und das ist seine Hauptthese – sind Methoden und Theorien ein Schutz dagegen, von angsterregenden Themen überwältigt zu werden. Er beschreibt, wie Forscher brisante Aspekte des Themas durch die Anwendung disziplinierender Methoden und abkühlender Theorien zu neutralisieren versuchen. Exkurs zu Methoden
Speziell quantifizierende Methoden und Theorien können im Bereich der Humanwissenschaften, so Devereux, Abwehrfunktionen übernehmen. Wer also etwa (genitalverstümmelnde) Subinzisionsrituale durch die nüchterne Brille eines »Naturforschers« betrachtet, der zählt und misst und dabei persönlich weit weg ist, erspart sich Angst und Ekel, blendet aber die psychosoziale Dynamik des Geschehens aus und verhindert so die konsequente Erfassung des Geschehens (ebd., S. 73ff.). Damit spricht Devereux eine wichtige Dimension der Funktionalisierung von Theorien und Methoden an, allerdings beschränkt auf eine Variante – Angstabwehr durch Anklammern an Quantifizierung. Man kann und muss diese Perspektive noch erweitern: Unabhängig von ihrer sachlichen Richtigkeit kann jede Theorie, jede Methode, aber auch jede Kritik an Theorien und Methoden mit sekundären psychischen und 242
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sozialen Funktionen beladen sein. Und es geht nicht nur um Angstbewältigung, sondern um ein breites Spektrum psychodynamischer Funktionen. Dafür ist Devereux’ Arbeit selbst ein Beispiel, weil er seine Befunde erkennbar dafür nutzt, seine akademischen Widersacher (zum Beispiel Erikson, ebd., S. 118) niederzumachen. Auch konnotative Theorien können psychodynamisch aufgeladen sein. Sie eignen sich sogar besonders gut dafür, weil der Spielraum, den sie bieten, dem Selbst erhebliche Expansionsmöglichkeiten eröffnen. Typisierend könnte man sagen, dass empiristische Theorien und Methoden wegen ihrer strikten Festlegung gewissermaßen mit masochistischer Unterwerfung und analsadistischer Disziplinierung korrespondieren und die Anlehnung an ein starkes Objekt erlauben, während psychoanalytische (soziologische, historische und andere) Theorien ein Feld für narzisstische Expansion sind, weil es relativ leicht ist, sich einen Schrebergarten privater Theorien und Begründungen anzulegen. Auch qualitative Mittel können also von latenten Programmen gesteuert sein. In diesem Zusammenhang dient dann Kritik am jeweils anderen Paradigma (oder Subparadigma) auch da, wo sie sachlich berechtigt ist, zugleich der Unterstützung dieser Programme (mit entsprechenden Auswirkungen). In der Psychoanalyse herrscht über weite Strecken die Vorstellung, dass sie methodologisch qualitativ (und nur qualitativ) vorgehen kann. Das ist insofern angemessen, als Interpretationen unmittelbar stets qualitativer Natur sind und ihre Theorien mit Begriffen arbeiten. Allerdings ist dies häufig einhergegangen mit einer mehr oder heftigen Ablehnung und Abwertung quantitativer Methoden. Diese Abneigung beruht bekanntlich auf Gegenseitigkeit – von kaum einer Seite ist die Psychoanalyse so geschmäht worden wie von den ideologisierten Vertretern einer quantitativen Psychologie. Diese Kontroverse scheint auf den ersten Blick sachliche Gründe zu haben. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass – getreu der Kant’schen Maxime – beide aufeinander angewiesen sind. Das Alltagsbewusstsein kennt aus gutem Grund keine säuberliche Trennung von Quantifizierung und Qualifizierung und arbeitet ständig mit »Mischkalkülen«. Zur Bestimmung von Bedeutung wird das Was mit dem Wieviel kombiniert. Wenn jemand als »reich« (oder »dumm« und so weiter) bezeichnet wird, geht es um die Größenordnung einer Sache. Bezugspunkt ist dabei eine bestimmte Qualität – etwa Besitz oder Intelligenz. Die Qualifizierung ergibt sich jedoch erst durch ihr Ausmaß. Umgekehrt setzt jedes Abschätzen einer Menge eine identifizierbare Einheit voraus – ohne Bestimmung 243
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einer Qualität kann ihre Menge nicht bestimmt werden. Gewicht und Bedeutung sind daher zwei Seiten einer Medaille. Die Bestimmung der Qualität (Besonderheit) wird mit der Quantität (der Menge) verbunden. Im Alltagsbewusstsein arbeiten beide Modalitäten daher pragmatisch zusammen, zum Beispiel in Form von (warum auch immer) bewährten Typisierungen und Zuordnungen, über Schätzungen und andere vereinfachende Methoden. Die unterschiedlichen Realitätsdimensionen und kognitiven Kategorien bleiben also unscharf. Das bedeutet jedoch, dass sie in dieser Form nicht differenzierungsfähig sind. Die Institutionalisierung von Reflexion verlangt dagegen Präzisierung. Dabei zeigt sich jedoch schnell, dass beide Strategien nicht gleichzeitig professionalisierbar sind. Quantifizierung bedeutet stets, dass Qualitäten als gegeben und konstant vorausgesetzt werden müssen. Ein Quantum ist eine bestimmte Menge einer Größe, die als Mehrfaches dieser Menge beschrieben werden kann. Dazu muss diese Menge selbst gleichbleiben. Damit eine mathematische Weiterverarbeitung möglich ist, bedarf es daher vorab festgeschriebener und vor allem auch operationalisierter Entitäten. Erst dann (und nur dann) sind weitere mathematische Operationen möglich. Man kann also die Qualitäten im laufenden Prozess nicht mitbearbeiten. Umgekehrt ist Qualität immer nicht-identisch (in Kants Kategoriensystem hat sie die Eigenschaft »Negation«, ist also der Bestimmung entzogen), sie ist nicht direkt mengenmäßig identifizierbar, entzieht sich also unmittelbarer Kalkulierbarkeit. Beide Erkenntnisoperationen unterscheiden sich also systematisch. Um ihre spezifische Leistung erbringen zu können, müssen sie sich zumindest phasenweise gegenseitig ausschließen. Zugleich sind beide gerade wegen ihrer Leistungen auch limitiert – weil sie etwas gut können, können sie etwas Anderes nicht. Dies ist in Bezug auf systematisch quantifizierbare Realität kein Problem. Hier werden Qualitäten externalisiert und intern nicht weiter thematisiert. Außerdem können sie ohne Verlust an Information aus ihrem empirischen Kontext herausgelöst und mathematisch prozessiert werden. Der Name »Schwerkraft« und ihre praktische Bedeutung sind für die empirische Untersuchung und die mathematische Verarbeitung der Ergebnisse daher irrelevant. Die Auseinandersetzung mit Themen, wie sie die Psychoanalyse behandelt, braucht jedoch beides, da Sinn über das Zusammenspiel von Bedeutung und Ausmaß entsteht. »Abwehr« ist (ebenso wie etwa »Reichtum«) ein funktionaler Begriff, der zu einem Verständnis eines spezifischen Zu244
Entwicklung der Psychoanalyse
sammenhangs gehört. Hier spielen der Kontext und das Ausmaß eine wichtige Rolle. Daher ist keine der beiden methodologischen Paradigmen allein imstande, alle Dimensionen der Realität vollständig zu erfassen. Sie müssen zwar ein Stück weit getrennte Wege gehen, sie müssen sich aber auch wieder treffen. Genau hier liegt ein entscheidendes Problem: Quantität und Qualität gehören zusammen, aber sie können nicht zugleich und auf die gleiche Weise behandelt werden. Was auf dem Niveau des Alltagsbewusstseins pragmatisch funktioniert, gelingt daher nicht mehr ohne Weiteres, wenn mit ausgearbeiteten Konzepten gearbeitet wird, die durch professionelle Behandlung die Differenzen zunächst verstärken – und dann Schwierigkeiten haben, wieder in Kontakt zu kommen.10 Trotzdem spricht nichts dagegen (beziehungsweise alles dafür), nach einer Phase der Differenzierung wieder eine der Reintegration im Kontext systematischer Reflexion zu unternehmen. Hier erweisen sich jedoch die angedeuteten sekundären Funktionen und ideologischen Besetzungen als häufig unüberwindbares Hindernis.11 Wenn sich die Positionen und Akteure bedroht fühlen, befestigen sie die Mauern. Das impliziert das Risiko, dass aus einer unvermeidlichen Differenz eine Spaltung in unterschiedliche Lager entsteht, die sich feindlich gegenüberstehen. Üblicherweise werden solche Konfrontationen mit einem äußeren Feind dann noch für interne Stabilisierungszwecke genutzt, also eingesetzt, um intern Fragilität und Limitierungen zu überspielen, was die kollusive Dynamik noch verstärkt. Ein solches System von 10 Allerdings ergeben sich dabei für die beteiligten »Lager« unterschiedliche Konsequenzen. Denn quantitative Methoden sind nicht nur stabiler, sie sind auch universell verwendbar – jede Art von Realität, auch autopoietische, hat Regelmäßigkeiten und – mehr oder weniger – feste Strukturen. Man ist daher mit quantitativen Methoden gewissermaßen immer auf der richtigen Seite, weil in jedem Fall – mehr oder weniger relevante – Ergebnisse herauskommen, die zudem als Fertigprodukt stets eindeutig und damit (in dieser Hinsicht) unkritisierbar erscheinen. Dagegen sind qualitative Methoden und konnotative Theorien mehrfach im Nachteil: Weder bieten sie Halt und Sicherheit, noch sind sie unkritisierbar – im Gegenteil. Es ist daher kein Wunder, dass manche Wissenschaftler und auch Wissenschaftstheoretiker Wissenschaft gern mit denotativen Theorien und quantifizierenden Methoden identifizieren – und dabei die Grenzen dieses Typs übersehen. Und es ist auch nicht verwunderlich, dass die Vertreter der dadurch in die Defensive geratenen Exponenten qualitativer Methoden und konnotativer Theorien sich einbunkern und davon überzeugt sind, mit relevanten Mitteln zu arbeiten, aber den Kontakt mit der als feindlich erlebten Außenwelt meiden und sie lieber abwerten. 11 Das bekamen innerhalb der Psychoanalyse vor allem die Proponenten des Einsatzes von quantitativen Methoden zu spüren.
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9 Institutionalisierungsprobleme der Psychoanalyse …
Gegenidentifikationen verhindert nicht nur den Kontakt, es fördert auch die Sklerotisierung der Lager. Bezogen auf quantitative und qualitative Verfahren hat Max Weber das Ergebnis einmal so charakterisiert: »Es gibt […] ›Stoffhuber‹ und ›Sinnhuber‹. Der tatsachengierige Schlund der ersteren ist nur durch Aktenmaterial, statistische Folianten und Enqueten zu stopfen, für die Feinheit des neuen Gedankens ist er unempfindlich. Die Gourmandise der letzteren verdirbt sich den Geschmack an Tatsachen durch immer neue Gedankendestillate« (1968b, S. 64).
Hinzuzufügen wäre, dass sie sich gegenseitig brauchen beziehungsweise missbrauchen, um ihre Abwehrformationen zu stabilisieren. Mutatis mutandis gilt dies ganz allgemein für Versuche, über Grenzen hinweg zu kooperieren. Kooperation funktioniert nur gut bei wechselseitiger Anerkennung und der Konstitution von Gemeinsamkeit. Über Gräben hinweg ein gemeinsames Objekt zu finden, welches von beiden Seiten geliebt wird, setzt zudem voraus, dass beide Seiten Einschränkungen – um nicht zu sagen: Kränkungen – hinnehmen. Sie können in einem Kompromiss (was wörtlich heißt: »sich gemeinsam einem Dritten unterwerfen«) nicht mehr ungehemmt dominieren und sich breitmachen, sondern jede muss die andere Perspektive anerkennen, muss sie respektieren und ihr Platz machen. Das ist meist schon schmerzhaft genug. Dazu kommt gelegentlich noch die Konkurrenz der Erklärungsansprüche. Unterschiedliche Sichtweisen, die sich auf denselben Sachverhalt beziehen, aktualisieren unter Umständen – besonders, wenn keine externen Kriterien der Entscheidung zur Verfügung stehen – Auseinandersetzungen darüber, welches die bessere oder gar welches die (einzig) richtige Theorie ist. Vor allem, wenn diese Fragen psychodynamisch und sozial aufgeladen sind, wird die ohnehin fragile Identität der Perspektiven bedroht und verhärtet sich, die Abwehrleistungen werden hochgefahren und verstärkt durch den Kampf um Vorrang.
Zurück zu Ferenczi Mit diesen Überlegungen zu den komplexitätsbedingten Problemen, die die Psychoanalyse aufgrund der Logik ihres Gegenstands hat und den Institutionalisierungsschwierigkeiten und Folgen, die damit verbunden sind 246
Zurück zu Ferenczi
(von Schulenbildung bis Kontakthindernissen), lässt sich Ferenczis frühe Institutionsanalyse aus heutiger Sicht betrachten. Womit er Recht hatte: Die Zeit der »Guerilla«-Aktivitäten ist vorbei und es gibt mittlerweile tatsächlich ein höheres Maß an Ordnung und Kontrolle. Andererseits: »Irregularität«, »undisziplinierte Schwärmerei« und andere »Auswüchse des Vereinslebens« sind keineswegs verschwunden und durch eine Art reife Ödipalität abgelöst, in der jeder an seiner Stelle der Sache dient und auf kindisches Verhalten verzichtet. Wenn man Ferenczis Bilder verwenden will: Die Stufe der »Objektliebe« wurde erreicht, aber »die autoerotische Phase des Vereinslebens« ist deshalb nicht beendet. Die Psychoanalyse hat sich entwickelt und ist gereift, aber in gewisser Weise gleich geblieben. Das lässt sich mit Blick auf die angestellten erkenntnis- und institutionstheoretischen Überlegungen erklären: Ihr Gegenstand lässt Theorien, Methoden und Organisationen keine Ruhe und zwingt dazu, sich mit prinzipiellen Unzulänglichkeiten zu arrangieren. Ein ruhiger Normalbetrieb kommt kaum zustande. Es gibt überhaupt kein einfaches Rezept für die Institutionalisierung von Reflexion und Selbstreflexion. Gerade weil sie sich entwickelt hat, muss sie mit den damit verbundenen Problemen dauerhaft leben. Und so muss es bleiben, weil das der Modus ist, durch den Sklerotisierung verhindert und Weiterentwicklung ermöglicht wird. Anders gesagt: Es ist kein Zeichen von Schwäche, Versagen oder Inkompetenz, wenn sich Schulen streiten, wenn praktisch alles ständig bezweifelt und kritisiert wird und werden kann – und das zu Recht, weil jede Problembehandlung selbst problematisch ist. Wenn Schwierigkeiten auftreten, ist alles in Ordnung; wenn sie sich nicht beseitigen lassen, ist das kein schlechtes Zeichen. Sie lassen sich besser behandeln, aber nicht lösen. Und vielleicht ist eine schlechte Lösung schon die beste, die möglich ist. Die Phase der »Objektliebe« ist, so stellt sich heraus, keine reine Hingabe an ein ideales Objekt, sondern eine schwierige Beziehung. Man ist im Übrigen nicht allein mit diesen Problemen: Mutatis mutandis gelten viele der angesprochenen Punkte auch für andere Formen der Reflexion und reflexiven Praxis. Diese Feststellungen machen die Sache nicht besser, haben aber auch etwas Erleichterndes. Wenn etwas nicht perfektionierbar ist, muss man keinem Perfektionsideal nachlaufen. Allerdings ist die Forderung von Ferenczi, mit den Problemen aktiv umzugehen, nach wie vor aktuell. Man wird den Herausforderungen nicht gerecht, wenn man sich selbstgenügsam von der Außenwelt zurückzieht. Auch wenn das Verlassen der eigenen Höhle zunächst viel Angst und Frust mit sich bringt, 247
9 Institutionalisierungsprobleme der Psychoanalyse …
gibt es keine Alternative. Sich nicht heraus zu bewegen, bietet nur eine trügerische Sicherheit, weil die dadurch auftretenden Isolationsschäden längerfristig viel problematischer sind. Außerdem führt Verharren sicher nicht nur Realisierung der großen Erwartungen, die Freud – mit Recht – mit der Psychoanalyse verband. Große Ziele verlangen entsprechende Leistungen. Und das betrifft nicht nur die Ausarbeitung von Theorie, Methoden und Praxis, sondern auch die Bewältigung der Folgeprobleme, die sich aus der Struktur des Paradigmas und seiner Institutionalisierung ergeben. Der produktive Umgang mit ihren Problemen liegt stets bei den Wissenschaften selbst. Sie sind es, die Konstanz, Kreativität, Kritik und Kooperation auf einen vernünftigen Nenner bringen müssen. Aber sie sind gut beraten, den Blick zu heben und zu versuchen, die Zusammenhänge, in denen sie leben und die Zwänge, denen sie unterliegen, besser zu verstehen. Das erhöht die Chance, dass Probleme nicht nur agiert, sondern durchgearbeitet werden.
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10 Warum es die Psychoanalyse in der Wissensordnung nicht leicht hat Erkenntnis- und institutionstheoretische Überlegungen
Zur Diskussion über den erkenntnistheoretischen Status der Psychoanalyse Das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Psychoanalyse ist immer noch nachhaltig gestört – von beiden Seiten. Dies hat verschiedene Gründe. Unübersehbar ist, dass beide ausgesprochen binnenorientiert operieren. Der Effekt: Die innerpsychoanalytischen Selbstinterpretationen werden von Erkenntnistheoretikern wenig bis gar nicht zur Kenntnis genommen, während innerhalb der Psychoanalyse die Tendenz besteht, die epistemologischen Befunde nur selektiv in ihre Arbeit einzubeziehen. Man gewinnt den Eindruck eines relativ hartnäckigen Ignorierens der herausfordernden Probleme psychoanalytischer Erkenntnis seitens der »professionellen« Erkenntnistheoretiker und eines gewissen Maßes an Selbstgenügsamkeit unter Psychoanalytikern, die sich mit erkenntnistheoretischen Themen beschäftigen.1 Das erzeugt systematische Schräglagen. Beide Seiten haben es schwer – mit der jeweils anderen, aber auch mit sich selbst. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es – nach über 100 Jahren Diskussion – die Psychoanalyse nicht mehr beziehungsweise noch nicht gibt, ebenso wenig – 1 Die wenigen Erkenntnistheoretiker, die sich mit Psychoanalyse beschäftigen, haben häufig ein eher unklares Bild von ihr − nachzulesen etwa in vielen der Beiträge in Hook (1958) oder bei Popper (1963). Andere Zugänge sind hochselektiv und binnenorientiert (zum Beispiel Toulmin, 1948). Auch Grünbaum (1988 [1984]), dessen intensive Kritik psychoanalytischer Erkenntnis eine große Ausnahme darstellt, hat ein sehr eigenwilliges Verständnis von Psychoanalyse; seine Arbeiten sind in der erkenntnistheoretischen Diskussion zudem weitgehend ohne Resonanz geblieben. Unter Psychoanalytikern gibt es nur wenige Autoren, die (wie etwa Warsitz, 1997) in beiden Diskursen zu Hause sind oder externe Perspektiven systematisch einbeziehen (zum Beispiel Buchholz, 1999).
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10 Warum es die Psychoanalysein der Wissensordnung nicht leicht hat
nach über 2.500 Jahren Diskussion – die Erkenntnistheorie. Stattdessen findet man eine Fülle von prima vista disparaten Vorstellungen und Konzepten. Wenn man nicht Unwilligkeit und/oder Unfähigkeit unterstellen will, muss man davon ausgehen, dass diese Situation ein fundamentum in re hat: Beide besitzen eine bestimmte Art von Komplexität, die mit den (bisher) verfügbaren Mitteln nicht in ein geschlossenes theoretisches Modell zu übersetzen ist. Wenn man sich auf die Thematik einlassen will, führt dies sofort zu der Frage: Welche Psychoanalyse soll mit welchem Modell (erkenntnistheoretisch) diskutiert werden – und wie? Die Antwort auf diese Frage ist meist schon eine Vorentscheidung in der Sache. Um das zu vermeiden, möchte ich nicht eine weitere Interpretation der Psychoanalyse neben die vorhandenen stellen, sondern versuchen, ein Konzept zu entwickeln, das es erlaubt, besser zu verstehen, warum es diese Unübersichtlichkeiten und Vieldeutigkeiten gibt – ohne sie auflösen zu wollen. Es geht also nicht darum, welche Sichtweise richtig (und welche falsch) ist, sondern um die Bedingung der Möglichkeit von Differenzen und Heterogenität. Dass die Psychoanalyse nicht ganz dem entspricht, was er in seiner Ausbildung als Wissenschaftler gelernt hatte, war Freud schon früh klar. Schon in den Studien über Hysterie hat er dieser Diskrepanz einige Überlegungen gewidmet. Die bekannte Stelle lautet: »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen beim Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang der Hysterie zu gewinnen« (Freud & Breuer, 1895d, S. 227).
Diese Argumentation wirkt auf den ersten Blick eher schlicht, entpuppt sich jedoch bei näherem Hinsehen als außerordentlich geschickt und informativ. Sie ist gespickt mit Mehrdeutigkeiten – und das nicht zufällig 250
Zur Diskussion über den erkenntnistheoretischen Status der Psychoanalyse
bei einem scharfsinnigen Denker wie Freud. Der Ausdruck »ernstes Gepräge« verweist indirekt darauf, dass dies (»sozusagen«) die Attitüde, die Inszenierung ist; die »Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln« ist eine Mimikry, die dafür sorgen will, dass die psychologische Interpretation so klingt wie ein Algorithmus; »eine Art von Einsicht« hält am Modell der Kausalerklärung fest und distanziert sich vorsichtig davon. Auf diese Weise kann Freud an seiner festen Identifizierung mit einem bestimmten Wissenschaftsverständnis festhalten und zugleich dessen Grenzen überschreiten, ohne dies als Grenzverletzung deklarieren zu müssen. Freud musste sich daher keine großen erkenntnistheoretischen Sorgen machen, weil das, was er tat, in dieser Perspektive nichts anderes war als die Fortsetzung der Wissenschaft mit passenden Mitteln. Er konnte zudem an Interpretationsmodellen festhalten (»Anwendung von Formeln«), die ihm aber vertraut waren. Und er konnte trotzdem mit Vorgehensweisen experimentieren, für die es kein Vorbild gab und die er daher nur tentativ und zeitspezifisch verkürzt benennen konnte. Aus heutiger Sicht war es eine pragmatisch gelungene Lösung eines Mehrfach-Konflikts.2 Wir wissen heute vieles besser. Unübersehbar ist, dass seine Selbstinterpretation defizitär war und die von ihm unterstellten Ähnlichkeiten und Analogien die tatsächlichen Probleme eher verdeckten. Habermas (1968a) diagnostizierte daher zu Recht ein »szientistisches Selbstmissverständnis« in Freuds erkenntnistheoretischen Vorstellungen. Deren Pointe liegt jedoch weniger in ihrem objektiven Gehalt, sondern in ihrer Funktion: Sie entlastete ihn von aufwendigen und kaum zu erbringenden Legitimationen seiner Forschung und erlaubte ihm, das zu tun, was er für notwendig hielt. Freud war also mit praktisch sinnvollen, aber inhaltlich unzulänglichen erkenntnistheoretischen Vorstellungen unterwegs. Genauso unzulänglich war jedoch fast alles, was an erkenntnistheoretischer Kritik an der Psychoanalyse geäußert wurde. Aus empiristischer Sicht wurde sie gern und schnell als bloße Spekulation abgetan. Diese Kritik wurde von Karl Popper auf den Begriff gebracht: Sie könne keine falsifizierbaren Hypothesen her2 Es ist kein Zufall, dass seine späteren erkenntnistheoretischen Überlegungen differenzierter, aber nicht unbedingt besser ausfallen. Wo Freud versucht, präziser zu werden, werden die Aporien seiner Sichtweise deutlicher – seine Festlegungen sind unpassender als die auf produktive Weise vage bleibenden frühen Überlegungen.
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vorbringen und sei daher keine Wissenschaft. Viel mehr ist seitdem in der externen Beurteilung der Psychoanalyse seitens der Vertreter eines empiristischen Paradigmas nicht passiert – weder Grünbaums (zwiespältiger) Einspruch gegen Popper (1988) noch Stegmüllers (1986, S. 432) formallogischer Nachweis, dass Poppers Verdikt nicht schlüssig ist, haben daran viel geändert. Vertreter eines kritischen beziehungsweise eines interpretativen Paradigmas konnten sich eher mit dem Vorgehen der Psychoanalyse anfreunden. Habermas (1968a) sah in der Psychoanalyse sogar (vorübergehend) den Prototyp eines gänzlich neuen Theorietyps. Allerdings hält sich das praktische Interesse an der Psychoanalyse und ihrer Methodologie auch bei Vertretern dieser Perspektive in Grenzen (ablesbar an den – fehlenden – Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Begründung und Verwendung qualitativer Methoden).3 Auch innerpsychoanalytisch führte Freuds Umgang mit erkenntnistheoretischen Aspekten seiner Arbeit längerfristig nicht zu einem Konsens. Zwar entwickelte sich zunächst eine mehr oder weniger akzeptierte Leitvorstellung, die die Psychoanalyse mit einer von Freuds Formulierungen als »Naturwissenschaft des Seelischen« verstand (pointiert ausformuliert bei Hartmann, 1972 [1927]). Zum expliziten Thema wurde die Thematik nach dem Zweiten Weltkrieg – parallel zu den zunehmenden Diskussionen des inhaltlichen Profils psychoanalytischer Theorie. Rapaports Studie über den Status psychoanalytischer Theorie (1960) war der Startschuss zu einer neuen, seitdem intensiv geführten Diskussion über den erkenntnisund wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse. In den 1970er Jahren war diese Diskussion häufig zentriert auf den Gegensatz zwischen einer natur- und geisteswissenschaftlichen, einer sprach- und handlungstheoretischen Begründung, und sie kreiste um die Frage, ob die Psychoanalyse eine Normalwissenschaft (oder nicht), eine hermeneutische Wissenschaft (oder nicht) sei, ob sie so sei wie andere oder etwas ganz Anderes.4 Seit 3 Zwar wird psychoanalytische Methodologie in vielen Lehrbüchern für qualitative Methoden erwähnt, meist aber ohne auf ihre Möglichkeiten näher einzugehen oder sie mit anderen Methoden in Verbindung zu bringen – eine eigenartige Mischung aus Respekt und Ausgrenzung. 4 In der mitteleuropäischen Diskussion spielten vor allem Ricœur (1993 [1965]), Habermas (1968a) und Lorenzer (1974) eine wichtige Rolle. Daraus entwickelte sich in Deutschland eine rege Kontroverse (siehe zum Beispiel Buchholz, 1999; Kaiser, 1995a; Thomä & Kächele, 1985; Tress, 1985; Warsitz 1997). Etwa zeitgleich erschien im angelsächsischen Sprachraum – häufig in der Nachfolge von Rapaports Arbeit – eine Fülle von Ansätzen
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den 1990er Jahren ist – nicht zuletzt durch den verstärkten Legitimationsdruck auf dem Psychotherapie-Markt – vor allem die Auseinandersetzung um Funktionsweise und Effekt der Psychoanalyse hinzugekommen, wobei auch früher verpönte quantitative Methoden einbezogen wurden (und sich neuerdings wieder eine zaghafte Renaissance qualitativer Methoden abzuzeichnen scheint). Vor allem die genauere Analyse von psychoanalytischen Dialogen mittels konversations- beziehungsweise diskursanalytischer Verfahren scheint ergebnisträchtig (Peräkylä, 2004, 2008; Frommer, 2008; Buchholz, 2010). Beide Diskurse haben eine Fülle von bemerkenswerten Aufklärungen, aber auch von Kontroversen hervorgebracht; sie haben dazu beigetragen, eine ganze Reihe von Problemlagen deutlicher werden zu lassen. Unverkennbar ist: Die innerpsychoanalytische Diskussion über Fragen der Begründung hat einen Professionalisierungsschub erlebt. Dennoch: Auch und gerade diese Diskurse vermitteln den Eindruck einer »neuen Unübersichtlichkeit« – genaueres Hinsehen hat zu einer differenzierteren Problemsicht geführt, aber auch mehr, zumindest prima vista, inkompatible Sichtweisen und Einsichten hervorgebracht. Am Anfang ihrer Entwicklung stand ein (in seiner Einheitlichkeit zunächst überschätztes und in seinen Möglichkeiten beschränktes) Modell mit einer erkenntnistheoretischen Begründung; die vertiefte Erfahrung hat die Schwierigkeiten psychoanalytischer Erkenntnis deutlich werden lassen und dazu geführt, dass unterschiedliche Modelle entwickelt wurden. Nach mehr als einem Jahrhundert Theoriearbeit kann man dies nicht mehr mangelnder Reife zuschreiben: Wie andere Fächer auch lebt die Psychoanalyse eine besondere Form der Multi-Paradigmatik. Will man diesen Effekt verstehen, so macht es wenig Sinn, ihn als bedenkliches Symptom oder als Ausdruck von Unzulänglichkeit und/oder Scheitern zu verdammen. Stattdessen muss er als eine logische Konsequenz bestimmter Problemlagen, die mit dem »Projekt Psychoanalyse« zusammenhängen, behandelt werden.5 zur Reformulierung (auch) der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Psychoanalyse. Um nur einige der wichtigsten zu nennen: Holt (1967a); Klein (1976); Peterfreund (1971); Rubinstein (1976); Sherwood (1969); Edelson (1984); Eagle (1988 [1984]); Farrell (1981); Schafer (1976); Spence (1982) und Strenger (1991). 5 Weiter unten wird diskutiert, dass eine bestimmte Gegenstandsstruktur auf unterschiedliche Weise thematisiert werden kann – und muss, weil jede Thematisierungsstrategie mit Restriktionen verbunden ist und daher kein singulärer Zugang alle relevanten Aspekte gleich gut erfassen kann. Insofern handelt es sich, strukturell gesehen, um eine
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An die Stelle einer Abqualifizierung muss dazu die Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Möglichkeit eines Phänomens treten.
Theorie und Gegenstand Dazu möchte ich zunächst auf die eingangs schon angesprochenen Problemlagen der Erkenntnistheorie zu sprechen kommen. Auch sie zeigt eine der Psychoanalyse vergleichbare Struktur: Eine einheitliche Konzeption oder einen Konsens über erkenntnistheoretische Fragen hat es nie gegeben. Von einer generell akzeptierten Erkenntnistheorie kann keine Rede sein – von Anfang an bis heute herrscht systematischer Dissens. Mehr noch: Die Entwicklung der Diskurse hat zum Rückzug vom ursprünglichen Anspruch, Wahrheit umfassend erkennen zu können, geführt. In der (allerdings ganz anders konzipierten und interpretierten) Annahme, dass Theorien immer begrenzt gültig sind, sodass man sich von der Vorstellung, Wahrheit erreichen zu können, verabschieden muss, besteht selbst zwischen Popper und seinen konstruktivistischen Kritikern Einigkeit. Parallel zum Abschied vom emphatischen Wahrheitsbegriff haben sich in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Zweifel an ihrer normativen Funktion entwickelt. Viele Beiträge zeigen eine Verschiebung von präskriptiven zu (dafür wesentlich weiter verstandenen) deskriptiven Funktionen.6 Man kann dies auch als Entlastung (vom Begründungsdruck) und als Erweiterung der Möglichkeiten verstehen und nutzen: Erkenntnistheorie steht selbst nicht mehr unter dem (selbst gesetzten) Erwartungsdruck einer positiven Begründung und kann sich stärker darauf konzentrieren, Erkenntnis als Prozess im Kontext zu verstehen – moderne Erkenntnistheo-
sinnvolle Antwort auf Gegenstandskomplexität (siehe dazu auch Steiner, 1995). Das ändert nichts an den Schwierigkeiten der Handhabung von Multi-Paradigmatik. 6 Dazu haben vor allem die empirische Wissenschaftsforschung und die modernen Varianten des Konstruktivismus beigetragen. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen hat Luhmann (1990) gezogen, der davon ausgeht, dass in funktional differenzierten Gesellschaften jeder präskriptive Anspruch überholt sei und Wissenschaftstheorie nur von außen beschreiben könne, wie das Subsystem Wissenschaft verfährt – ohne vorgeben zu können, was es mit den entsprechenden Informationen anfängt.
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Theorie und Gegenstand
rien und empirische Wissenschaftsforschung erschließen den Horizont, den Hegel auf idealistische Weise geöffnet hatte.7 Die Erkenntnistheorie selbst hat sich im Verlauf dieser Entwicklung auch von der Begründung der Erkenntnis zur Analyse der Bedingungen, Voraussetzungen und Umstände verlagert. Ein zentraler Pfad der neueren Erkenntnistheorie, der nach dem Scheitern des frühen Positivismus vor allem von Vertretern der Analytischen Philosophie beschritten wurde, war (und ist) sprachtheoretischer Art. Der gemeinsame Ansatzpunkt ist die Überlegung, dass Erkenntnis eine Form braucht, die sie transportiert, die sie jedoch nicht selbst generiert, sondern voraussetzen muss. Diese Form ist Sprache als universelles Kommunikationsmedium. Viele Autoren (von Wittgenstein bis zu den Autoren der Hermeneutik) sehen sie als nichtübersteigbare Grenze für jede Symbolisierung und damit als Nadelöhr, durch das jede kognitive Leistung hindurchmuss. Diese Annahme führte zu sprachtheoretischen Begründungsversuchen, die sich vor allem in zwei Richtungen entwickelten: Einerseits wurde versucht, den wahrheitsfähigen Kern der Umgangssprache herauszuarbeiten, andererseits wurde nach einer auf der Umgangssprache basierenden »Kunstsprache« gesucht, die nicht die Schwächen der Umgangssprache (Unklarheiten, Mehrdeutigkeiten und so weiter) besitzt. An beiden Projekten wird noch gearbeitet, ohne dass ein Ende abzusehen ist.8 Dennoch pflegen Vertreter einer empiristischen Position zu argumentieren, dass es nur eine Wissenschaft geben könne und dass daher auch nur eine Form der Theorie angemessen sei – und die könne nur in der Kunstsprache der empiristischen Methodologie bestehen. Folgerichtig müssen sie allen Theorien, die diese Form nicht oder nicht ausschließlich benutzen, die Wissenschaftlichkeit absprechen. Diese Position lässt sich nur durchhalten, wenn man sich von der Entwicklung der erkenntnistheoretischen Diskurse abkoppelt und die Augen vor den Erfordernissen bestimmter Erkenntnisprojekte verschließt. Sie im7 Und zwar auf doppelte Weise, indem er die Dialektik von Gegenstand und Theorie als Referenz für Theorieentwicklung betrachtete und indem er mit dem Prinzip der Vermittlung den Weg für das Konzept einer nicht-linearen Systemdynamik als Gegenstandslogik bahnte. 8 Man könnte auch sagen, dass beide Projekte an prinzipiellen Problemen gescheitert sind: Umgangssprache ist, wie der späte Wittgenstein feststellte, eine Praxisform, die immer auf eine spezifische Lebenswelt bezogen – also relativ – gültig ist. Dagegen gilt das Hilbert-Programm (Begründung einer mathematischen Metatheorie als axiomfreie Grundlage von Erkenntnis) seit Gödels »Unvollständigkeitstheorem« als nicht durchführbar.
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pliziert, dass im Namen der Empirie wesentliche Erfahrungen und damit Dimensionen der Realität unzugänglich und unverarbeitbar werden. Man kann gerade Freud kaum unterstellen, dass er ohne Not dazu überging, »Novellen« zu verfassen, denen im Sinn dieser Position »das ernste Gepräge der Wissenschaftlichkeit« fehlte: Er sah sich gezwungen, sich der Form der Umgangssprache zu bedienen, statt die formalisierte Fachsprache (der Naturwissenschaften) zu benutzen. Mit diesem Problem stand und steht die Psychoanalyse nicht allein. Auch in dieser Beziehung gibt es Fächer, die dieses Schicksal teilen: Historiker, Sozialwissenschaftler oder Pädagogen »erzählen« in dem Sinne, dass sie im Einzelfall die besonderen Konfigurationen darstellen (müssen), weil sie ihn nicht in einer kausallogischen Formel fassen können. Was bedeutet es, wenn bestimmte Theorien zwar eine Fachterminologie entwickeln, aber in ihrer Grammatik (und in gewisser Weise auch in ihrer Semantik) sozusagen mit einem Bein in der Umgangssprache verbleiben, während andere sich auf eine Einheitssprache verständigen können? Wenn der Anspruch (der objektiven Erklärung) gleich, der Weg dorthin jedoch verschieden ist, empfiehlt es sich, von der Gleichzeitigkeit von Einheit und Differenz (in diesem Fall: von Theorien) auszugehen.9 Beides ergibt sich aufgrund unterschiedlicher Referenzen: Als Theorien (im Gegensatz zu Formen des Glaubens) sind sie gleich, in Bezug auf die Art, wie sie ihr Thema erfassen, unterscheiden sie sich. Dies ist nur dann ein Problem, wenn man die Einheit der Erkenntnis mit der Annahme einer einheitlichen Form gleichsetzt. Wenn man sich darauf einlässt, die Einheit der Erkenntnis als Einheit von Differenzen zu begreifen, bietet sich die Möglichkeit, zu unterscheiden, was Theorien gemeinsam und was sie (warum) nicht gemeinsam haben können und müssen. Man kann sie nach Einheit und Differenz klassifizieren, wenn man eine entsprechende Typisierung unternimmt. Die könnte so aussehen: ➣ Allgemeinheit: Es gibt Merkmale, die jede Theorie hat (weil sie Theorie ist). Jede Theorie vertritt den Anspruch auf Richtigkeit, Objektivität und Wahrheit, das heißt, sie behauptet, korrekt und frei von idio9 Das kann eine (beziehungsweise in einer) dialektisch operierende(n) Analyse nicht überraschen. Einer ihrer Ecksteine ist die Annahme, dass binäre Schematisierungen und lineare Kausalität immer dann unangemessen sind, wenn es sich um komplexe und heterogene Problemlagen handelt. Daher hat sie (von Hegel bis Günther) Prozessmodelle entwickelt, in denen gerade nicht von einem Ausgangspunkt (der dann vorausgesetzt werden müsste) und einem binären Entweder-oder (das keine Festlegungen auf die eine oder die andere Seite erlaubt) ausgegangen wird.
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synkratischen Verzerrungen zu argumentieren und die Wirklichkeit logisch angemessen abzubilden. Besonderheit: Es gibt Merkmale, die einige Theorien gemeinsam haben. Differenz- und Zuordnungskriterien sind dabei Methodologie und Theoriestruktur. Singularität: Es gibt Merkmale, die nur einer bestimmten Theorie eigen sind, weil sie Methodologie und Theoriestruktur am besonderen Thema entwickelt und auf das Thema zuschneidet.
Die Einheit von Theorien besteht in ihrer Allgemeinheit, die Differenzen ergeben sich aus Besonderheit und Singularität. Die Referenzebenen sind insofern hierarchisiert, als alle Theorien die Allgemeinheitsbedingungen erfüllen müssen und singuläre Theorien immer auch die Merkmale der Gruppe zeigen, zu der sie gehören. Aber nicht jede Theorie muss die Merkmale haben, die andere haben. Umgekehrt gilt jedoch auch, dass die Allgemeinheitsbedingungen noch keine hinreichende Bestimmung dessen sind, was singuläre Theorien leisten müssen – es muss vor Ort am Gegenstand bestimmt werden, was in diesem besonderen Fall Angemessenheit und Objektivität an Form und an Kriterien verlangt. Die Vorstellung, Wissenschaft sei eine Einheit, ist also zugleich korrekt wie problematisch. Richtig ist sie dort, wo es um die Differenz zu Glauben und Meinen geht. Daraus geht jedoch keineswegs logisch hervor, dass es nur eine Art von Theorie geben könne. Als Konsequenz müssen die Differenzen als objektiv bedingt angenommen werden. Die Frage nach der systematischen Differenz von Theorien verweist damit auf ihren Gegenstand. Wenn man nicht die Art der Symbolisierung als Ursache für Differenzen nehmen will und kann, weil sich Theorien in ihrer Differenz zu anderen Formen der Symbolisierung nicht unterscheiden (und wenn Fehler, ideologische und subjektive Verzerrungen als systematische – nicht als empirische! – Ursache irrelevant sind10), können Unterschiede nur aus der Logik ihres Gegenstandes stammen. Die einheitswissenschaftliche Annahme, es gäbe nur eine Wirklichkeit und ergo nur einen Gegenstand der Wissen10 Empirische Fehler, also Schwächen und Irrtümer, können kein systematischer erkenntnistheoretischer Bezugspunkt sein. Sie sind daher auch nicht geeignet, Unterschiede zwischen Wissenschaften zu erklären. Man müsste dann unterstellen, dass es ganze Wissenschaftszweige gibt, die sich systematisch irren, während andere davon frei sind – ein wenig überzeugendes Argument.
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schaft, bedarf (auch hier) einer Differenzierung: Es stimmt, dass alles – wie vermittelt auch immer – mit allem zusammenhängt und eine Einheit bildet. Insofern hängt letztlich alle Realität von der Funktionsweise der Quantenphysik ab. Gleichzeitig stimmt aber auch, dass die Einheit – wie in Bezug auf Theorien – die Differenzen nicht erfasst und jeder Versuch des dogmatischen Festhaltens an einer Einheits-Logik zum Reduktionismus führt. Daher ist es erkenntnistheoretisch notwendig, eine Theorie der Differenzen der Gegenstandslogik zu entwickeln.
Differenzierende Gegenstandslogik Wie kann man – ohne in ontologisches Fahrwasser zu geraten und hinter Kant zurückzufallen – das Problem einer vorauszusetzenden Objektvorstellung lösen? Es hat immer wieder Versuche gegeben, Erkenntnistheorien auf der Basis von Objektlogik zu entwickeln. Allerdings mündeten sie oft in einer binären Unterscheidung in unterschiedliche (unvereinbare, getrennte) Welten. Es zeigt sich jedoch, dass die Annahme, es gäbe zwei getrennte Welten, nicht haltbar ist. Empirisch zeigt sich eine Fülle von Verbindungen und Mixturen; logisch lässt sich ein einfaches Nebeneinander verschiedener Welten kaum begründen. Die Versuche, Differenzen auf der Ebene empirischer Differenzen zu begründen, führen in eine Sackgasse: Es muss empirisch festgelegt werden, was zur einen oder zur anderen Seite gehört (Dilthey), was zu massiven Zuordnungsproblemen führt oder es muss (Popper), dann doch wieder eine Einheit postuliert werden, die die Differenz wieder unbegründet lässt. Hier hilft es weiter, wenn man die Unterscheidung abstrakter behandelt, sie also nicht an konkrete empirische Sachverhalte (materiale Welt, Produkte des Geistes und so weiter) bindet, sondern logisch fasst: als Differenz zwischen logischen Prinzipien, die sich im Rahmen der empirischen Realität auf unterschiedliche Weise vermischen.11 Es geht dann nicht mehr um »Natur«, »materielle Rea11 Mit dieser Verschiebung spielen sich die folgenden Überlegungen nicht mehr auf der Ebene empirischer Sachverhalte, sondern jener der logischen Ordnung ab. Es ist daher eine Frage der logischen Opportunität (und nicht der empirischen Stimmigkeit), welche Differenzen verwendet werden. Der Bezug zur empirischen Realität ergibt sich nicht aus der Identität mit phänomenalen Einheiten und Zusammenhängen, sondern aus den in ihnen identifizierbaren logischen Prinzipien.
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lität«, »Geist« (oder andere empirische Konfigurationen), sondern um logische Typen von Realität. Das verhindert Festlegungen auf bestimmte Arten von empirischer Realität (die, so gesehen, als Mischtypen mit Überschneidungen gesehen werden müssen) und setzt an ihre Stelle eine Matrix von Kombinationsmöglichkeiten logischer Typen. Damit ist zunächst erreicht, dass die Gegenstandsdifferenzen, die Theoriedifferenzen ausmachen, von empirischen Gegebenheiten entkoppelt sind und abstrakt formuliert werden können. Welche Kandidaten kommen als logische Prinzipien infrage? Lange wurde Aristoteles’ Unterscheidung von natura naturata und natura naturans – erzeugende versus erzeugte Natur – diskutiert. Dreht man diese (wegen ihrer Implikationen nicht-verwendbare) Form von der Achse des Erzeugens in Richtung von Beweglichkeit und Unbeweglichkeit und verbindet sie mit der Zielrichtung der von Heinz von Förster (polemisch) verwendeten Unterscheidung zwischen trivialen und nicht-trivialen Maschinen (Maschinen, die nur einer Regel folgen, und komplexen Maschinen),12 so gelangt man zu der grundlegenden logischen Differenz von Regelmäßigkeit (Unbeweglichkeit) und Unregelmäßigkeit (Veränderlichkeit) oder, in der Sprache der idealistischen Philosophie, von Identität und Nicht-Identität. Damit hat man Anknüpfungspunkte für zwei der genannten Probleme: ➣ Die dichotomische Teilung der empirischen Realität wird aufgelöst: Durch die abstrakte Fassung impliziert die Ausgangsunterscheidung keine ontologische Festlegung auf bestimmte Formen von empirischer Realität. Deren Differenzierung kann dann als Ergebnis der unterschiedlichen Kombination unterschiedlicher logischer Typen analysiert werden. ➣ Die Festlegung auf eine inhaltliche Ontologie wird vermieden: Das Verhältnis von Einheit und Differenz lässt sich dialektisch fassen: als Identität von Identität und Nicht-Identität, bei der die eine Seite Negation und Bedingung der anderen Seite ist. Ohne Differenz keine Einheit (die nur auf Differenz bezogen Einheit ist), ohne Einheit 12 »Eine triviale Maschine ist durch eine eindeutige Beziehung zwischen ihrem ›Input‹ (Stimulus, Ursache) und ihrem ›Output‹ charakterisiert. […] Da diese Beziehung ein für allemal festgelegt ist, handelt es sich […] um ein deterministisches System […]. Nichttriviale Maschinen sind […] ganz andere Geschöpfe. Ihre Input-Output-Beziehung ist nicht invariant, sondern wird durch den zuvor erzeugten Output der Maschine festgelegt« (von Foerster, 1993, S. 206f.).
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keine Differenz (weil das Unterschiedene einheitlich sein und sich auf einen Kontext beziehen muss, der Verschiedenes verbindet).13 Damit lassen sich Ansätze, die Differenzen und ihre Einheit zugleich erklären wollen beziehungsweise müssen, aporiefrei(er) reformulieren: Statt von sich gegenüberstehenden Welten auszugehen, kann man auf der Basis einer rein logischen Dichotomie den Möglichkeitshorizont von empirischer Realität öffnen und ordnen. Zugleich erlaubt diese Fassung, dass nicht mehr immer binär schematisiert werden muss (Natur oder Geist), sondern auch eine Sowohl-als-auch-Option gegeben ist. Damit kann Realität zugleich unterschiedlichen Logiken folgen – die »Welten« müssen nicht sortenrein und sauber getrennt gedacht werden. Realität kann also zugleich identisch und nicht-identisch sein. Allerdings ist dabei die Bezeichnung »nicht-identisch« noch zu weit, weil es unterschiedliche Formen und Stufen von Nicht-Identität (Nicht-Trivialität) gibt. Zudem ist es erforderlich, die aristotelische Konzeption der Produktion (die in der Dialektik von Identität und Nicht-Identität noch nicht deutlich ist) wieder aufzugreifen. Da es keinen Sinn mehr ergibt, im Sinne der klassischen Metaphysik von natura naturans zu sprechen, bietet es sich an, das neue Konzept der Autopoiesis14 aufzugreifen, welches den Aspekt der Selbsterzeugung schärfer hervorhebt und an die Stelle einer externen Stiftung Emergenz und Eigendynamik setzt. Man hat dann als Ausgangsunterscheidung für die Bezeichnung von Realitätsdifferenzen das Begriffs13 Dieser Punkt kann und muss hier nicht weiter diskutiert werden. Er führt zurück zu dem nicht zu lösenden Problem eines Anfangs, der keiner sein darf. Hegel hat an dieser Stelle so argumentiert: Reines Sein (oder auch reines Nichts) kann nur durch seinen Gegenpol identifiziert werden und setzt ihn daher voraus – egal, wo man beginnt, hat man das jeweils andere schon gedacht. Luhmann umgeht (mit Bezug auf Spencer Browns Logic of Form) diese inhaltliche Prämisse und ersetzt sie durch die konstruktivistische, dass ein unmarked space durch eine (passende) Unterscheidung erst operationsfähig wird. Nimmt man beides zusammen, so ergibt sich ein prozessuales Gegenstandskonzept, in dem Einheit und Differenz logisch wie kategorial auseinander folgen. 14 Ursprünglich von Maturana und Varela für biologische Fragestellungen (Selbstorganisation von Zellen) entwickelt, wurde das Konzept schließlich zu einer allgemeinen systemtheoretischen Perspektive und einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie ausgebaut (Maturana & Varela, 1987). Unprätenziös verwendet steht der Begriff »Autopoiesis« für eine aktive Form von operativer Geschlossenheit und Selbstorganisation.
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paar Nomologie und Autopoiesis.15 Ersetzt man gleichzeitig die Dichotomisierung (ein Entweder-oder) durch die Annahme eines Spektrums von Kombinationsmöglichkeiten, so lässt sich Wirklichkeit idealisiert so typisieren: ➣ Der eine Endpunkt ist reine Nomologie, die immer und überall gleich ist, die keine Geschichte hat und sich nicht verändert. Dieser Typ von Realität ist regelmäßig beziehungsweise »trivial« im von Förster’schen Sinne, weil sie stets (wie kompliziert auch immer sie sein mag) bestimmten Regeln folgt. Er ist daher unbeeinflussbar, vollständig determiniert und vorhersehbar. ➣ Schon die Interferenz von nomologischen Abläufen führt zu zyklischer Autopoiesis – einer Art von Komplexität, die Variations- und Konfigurationsspielräume eröffnet. Die beteiligen Prozesse bestimmen sich in ihrer Selektivität gegenseitig (etwa physikalische und chemische Gesetzmäßigkeiten). Daraus entwickeln sich unterschiedliche Systemebenen und Prozesse (beispielsweise das, was dann als »Wetter« bezeichnet wird), die einen geschlossenen Möglichkeitshorizont auf nur noch begrenzt vorhersehbare Weise variieren. ➣ Auf der nächsten Komplexitätsstufe führt die Interferenz von synthetischen und analytischen Abläufen zum Aufbau von Systemstrukturen, die Akteurslogik und Akteure hervorbringen können. Akteure können (im Rahmen ihres Möglichkeitshorizonts) Entscheidungen treffen und Strategien verfolgen. Dies führt zu dynamischer Autopoiesis, einer Systemlogik, die offen ist für spezifische Variationen (spezifische Ökosysteme) und innovative Formen (neue Lebensweisen), welche nicht vorhersagbar sind. ➣ Wenn die Akteursqualität die Fähigkeit zur Selbstrepräsentanz und Selbststeuerung einschließt, wird die allgemeine Systemlogik nicht aufgehoben, aber transzendiert in Richtung auf reflexive Autopoiesis.16 15 Gegenüber der klassischen Gegenüberstellung von Nomologie und Idiografie hat diese den Vorteil, dass sie die Eigendynamik des Nicht-Identischen stärker hervorhebt und, statt Logik (»Nomologie«) und Beschreibung von Besonderheit (»Idiografie«) zu konfrontieren, zwei Formen von Logik verwendet, die ein Spektrum bilden können. 16 Es ist kein Zufall, dass man sinnvoll von »reiner Nomologie« sprechen kann, während »reine Autopoiesis« keine sinnvolle Kategorie ist. Diese Asymmetrie hängt damit zusammen, dass Nomologie eine Abstraktion aus dem Prozess der empirischen Realität ist, die wegen ihrer Logik kontextfrei formulierbar ist und daher ein eigenständiges Leben in Lehrbüchern führen kann. Dagegen ist Autopoiesis eine Abstraktion des Prozesses,
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Damit dominieren die spezifische Eigenlogik und Besonderheiten die Systemlogik und öffnen den Möglichkeitshorizont von Realität durch Idiosynkrasie und Emergenz. Reflexive Autopoiesis ist (und entwickelt sich) daher sinnhaft (operiert nach innen wie außen nach eigener Logik) und (damit) immer verschieden. Dieses Spektrum verdeutlicht, dass es sinnvoll ist, mit der Unterscheidung von logischen Realitätstypen zugleich von einem Kontinuum von empirischen Realitätskonfigurationen auszugehen (und dass die bloße Gegenüberstellung von Typen scheitern muss). Bringt man dieses Spektrum von Realitätstypen mit den weiter oben angesprochenen Differenzen von Theorietypen in Verbindung, so lässt sich erkennen, dass damit unterschiedliche Vorgaben und Aufgaben verbunden sind: ➣ Wo Realität nomologisch strukturiert ist, besteht die Aufgabe darin, die Regelmäßigkeiten zu identifizieren, ihre Logik zu erfassen und auf widerspruchsfreie Weise zu integrieren. ➣ Überall da, wo Autopoiesis ins Spiel kommt, muss Theorie zusätzlich die Logik von Selbststeuerung und Selbstreproduktion erfassen. Wo Aktionsfähigkeit und Akteure ins Spiel kommen, bedarf es zusätzlich der Thematisierung von Handlungslogiken und aktionsfähiger Systeme. ➣ Wo Akteure reflexionsfähig sind, muss deren aktive Selbststeuerung durch Reflexion, allgemeiner: die Logik sinnhaft prozessierender Systeme, begreifbar werden.
Theorietypen Folgt man der Argumentation, so ergibt sich ein genaueres Verständnis der angesprochenen Differenzierung von Theorien. Jenseits der allgemeinen Verpflichtung auf das Ideal einer Theorie müssen Theorien typspezifische Leistungen erbringen. Theorien, die nomologische Sachverhalte behandeln, müssen das gültige Kalkül und dessen Logik finden. Das bestimmt auch die Form, in der die Erkenntnisse aggregiert und interpretiert werden. welche logisch Differenzen voraussetzt und daher nicht kontextfrei definiert werden kann. Im Lehrbuchformat kommt sie daher auch nicht so zur Geltung wie Nomologie (siehe unten).
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Theorietypen
Nomologische Realität wird in Theorien erfasst, die den nomologischen Sachverhalt in Kalküle, die keinen Interpretationsspielraum haben, übersetzen. Daher beziehungsweise dazu verwenden sie Symbole mit exklusiver Definition – Zeichen, die kontextunabhängig gültig sind. Das Ergebnis ist, bei Erfolg (!), eine nomologische Reduktion in eindeutiger Form – eine denotative Theorie, die Zeichen mit geschlossener Semantik und Grammatik zu Algorithmen verbindet. Das spiegelt sich auch im methodologischen Profil: Denotative Theorien haben einerseits die Freiheit, jede beliebige Methode verwenden zu können (methodische Zugriffe ändern die Logik nicht), andererseits können sie einen Kanon von Standardmethoden entwickeln. Kontrolliertes Experimentieren und formalisierte Dokumentation (Messen, Zählen) von vergleichenden Beobachtungen können Merkmale und Beziehungen isolieren und ermöglichen damit eine mathematische Bearbeitung von Ergebnissen. Auf diese Weise ist Realität algorithmisch reduzierbar – man kann sie auf eine Formel bringen, die für alle Einzelfälle gilt. Es gibt viele Ansätze, die diesen Typ von Theorien idealisieren und zum Leittyp jeder Theorie ernennen. Wo nicht nur von Wissenschaft, sondern (pleonastisch) von »strenger« Wissenschaft die Rede ist, wird immer wieder auf diesen Typ verwiesen. Tatsächlich können Theorien dieses Typs – wegen ihrer denotativen Logik – den höchsten Grad interner Validität und externer Überprüfbarkeit erreichen. Allerdings ist dafür ein Preis zu zahlen: Denotative Theorien können nur erfassen, was in ihrem Sinn gesetzmäßig geschieht. Sie sind daher nur für den Umgang mit nomologischer Realität geeignet. Wenn autopoietische Logik ins Spiel kommt, braucht Theorie noch andere Fähigkeiten. Schon die Analyse des Wetters muss also auswählen, von welchen Voraussetzungen und Festlegungen sie ausgeht – sie operiert mit offenen Kalkülen und Interpretationen. Dem entspricht, dass klassische empirische Methoden das Thema nicht vollständig erfassen und unproblematisch behandeln können. Daher reicht reine Denotation nicht mehr aus; es kommt auf eine zusätzliche Theorieleistung an, die man als »Konnotation« bezeichnen kann, als spezifische, das heißt den besonderen Bedingungen angemessene Definition allgemeiner Annahmen und als Vorstellung der spezifischen Art der Verbindung und Interferenz beteiligter Faktoren. Konnotative Theorien enthalten also ein Definitions- und Verbindungspotenzial, das einerseits kondensierbar, andererseits konkretisierbar ist. Dies impliziert eine besondere Art von Aktivität, die einerseits aus einem virtuellen Möglichkeitshorizont die jeweils besonde263
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ren Konfigurationen auswählt, andererseits den Möglichkeitshorizont so strukturiert und adaptiert, dass daraus logisch strukturierte Muster für typische und besondere Verläufe gewonnen werden können. Hier werden also – zunächst noch begrenzt – zusätzliche Leistungen erforderlich, die nicht im Kalkül selbst festgelegt sind: die Verwendung des Kalküls mit Blick auf potenzielle Variationen unter Einbezug von praktischen Erfahrungen mit der Verwendung des Kalküls.17 Diese Veränderung im erforderlichen Leistungsprofil von Theorien wird noch deutlicher, wenn dynamische Autopoiesis thematisiert wird – Realität, die einen prinzipiell offenen Entwicklungshorizont hat (auch wenn die Spielräume regelgesteuert genutzt werden). Das Methodenspektrum kann naturgemäß nicht einen offenen Horizont erschließen, sondern nur das, was war und ist, rekonstruieren, soweit es sich erfassen lässt (was immer unvollständig bleiben muss – die »Beschaffungskosten« übersteigen das verfügbare Zeit- und Energiebudget). Für die Theorie ergibt sich insofern eine zusätzliche Problemlage, als schon hier die allgemeine Logik und ihre konkrete Realisierung auseinanderdriften – Theorie muss die allgemeinen Prinzipien im empirischen Geschehen auffinden und ihre spezifischen Ausformulierungen im konkreten Einzelfall erfassen können, das heißt, aus vielen Sonderfällen eine allgemeine Logik entwickeln und diese allgemeine Logik in eine besondere Logik übersetzen können.18 Diese besondere Logik folgt einem praktischen Kalkül, das umständebedingte Besonderheiten aufweist, die zu unvorhersehbaren Entwicklungen führen. Sie kann die allgemeine Logik nicht (beziehungsweise nur als abstrakten Möglichkeitshorizont) enthalten. Theorie muss sich also nicht nur auf das, was immer gilt, sondern auch auf das, was nur hier gilt und was sich auf besondere Weise – subjektiv – 17 Anders gesagt: Komplexität und Geltungsbereich des Kalküls ändern sich, weil der thematisierte Sachverhalt einer nicht mehr ohne Verlust algorithmisch reduzierbaren Hybridlogik folgt, sodass das Kalkül – gezielt oder gezwungenermaßen – Relevantes ausklammern muss und zugleich die Möglichkeit der Prognose eingeschränkt wird. Auch aufwendige Verfahren können Wetter und Klima nur beschränkt vorhersagen und müssen sich entweder damit begnügen oder in einem Schätzverfahren hochgerechnet werden. 18 Beides ist nicht identisch mit den Verfahren denotativer Theorien, deren Leistung vorrangig im Herausfinden von Regelmäßigkeiten aus empirischen Variationen besteht. Die Logik des Einzelfalls unterscheidet sich nicht von der allgemeinen und folgt daher direkt aus ihr – der Einzelfall variiert nur in Randbedingungen.
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entwickelt, einstellen können. Sie bekommt dadurch eine Doppelform und operiert als Theorie der abstrakten ebenso wie als Theorie der besonderen Logik (wobei letztere nicht vollständig aus ersterer gewonnen werden kann). Diese Problemlage ist gegeben, wenn es sich um die Analyse von entwicklungsoffenen Systemen (Ökosystemen, Evolution) beziehungsweise von Akteurssystemen mit der Fähigkeit, Welt eigenlogisch zu verarbeiten, handelt. Hier kommt systematisch Subjektivität ins Spiel.19 Solange dabei die allgemeine Logik unveränderlich bleibt (also durch Entwicklungen nicht substanziell verändert wird) und Subjektivität sich auf nicht (oder limitiert) intentionale Eigendynamik beschränkt, bleibt die konnotative Aufgabe der Theorie eingebettet in denotative Rahmenbedingungen.20 Dieses Verhältnis ist bei reflexiver Autopoiesis erneut verschoben. Der Subjektcharakter von Realität verstärkt sich weiter. Reflexivität impliziert, dass die Bezugspunkte von Steuerungsprozessen nicht mehr extern festgelegt sind, sondern intern entwickelt und ausgearbeitet werden können. Der Repräsentations- und Handlungshorizont, der mit Reflexivität und Reflexion verbunden ist, weitet sich aus und kann aktiv ausgeweitet werden. Diese Effekte werden durch die Interaktion zwischen Subjekten und Ebenen der Subjektivität verstärkt. Was dadurch entsteht, ist eine Welt, die nur noch aus Singularitäten besteht – ist eine dezentrierte, selbstreferenzielle und strukturell innovative Realität. Damit entsteht eine neue Problemlage. Sie besteht vor allem darin, dass reflexive Autopoiesis als Vielfalt von Optionen, Kombinationsmöglichkeiten und Entwicklungen existiert, deren Subjektivität ebenso erklärungsbedürftig ist wie ihre Objektivität. Einzelfall und allgemeine Logik sind jedoch nicht identisch. Was die Singularitäten bewegt (beziehungsweise wie sie sich im Kontext autologisch bewegen), kann daher nicht aus einer allgemeinen Logik (die alle Einzelfälle gemeinsam haben) abgeleitet 19 Man kann den Begriff ersetzen durch »Eigenlogik«, oder, wie es auch geschieht, von »Autologik« und »Selbstreferenz« sprechen. Löst man den traditionellen Subjektbegriff von der Bindung an Substrat (Aristoteles) oder Personen (Descartes) und erweitert ihn entsprechend zu einem allgemeinen Konzept von Subjektivität als Systemkompetenz, so lassen sich klassische und moderne Sicht verbinden (was hier versucht wird). 20 Hier beginnt jedoch bereits die strukturelle Problematik der Methodologie konnotativer Theorien: Sie kann ihren Gegenstand nicht isolieren und fixieren und hat erhebliche Mühen, der damit verbundenen Komplexität gerecht zu werden. Zukunft kann nur noch über Entwürfe von Möglichkeiten erfasst werden.
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werden, sondern muss jeweils spezifisch erschlossen werden. Umgekehrt ist eine allgemeine Logik nicht in der des Einzelfalls vorhanden. Der theoretische Umgang mit dieser Art von Realität steht damit vor verschiedenen Aufgaben: ➣ Er muss versuchen, mit den immer verschiedenen Entwicklungen der Einzelfälle Schritt zu halten und deren Entstehung als Auswahl aus einem spezifischen Möglichkeitshorizont zu erfassen. ➣ Er muss versuchen, die gemeinsame Logik vieler Besonderheiten herauszuarbeiten. Dazu bedarf es einer begrifflichen Typisierung, die eine produktive Balance zwischen nichtssagender Allgemeinheit und überreichlicher Festlegung finden und halten kann. ➣ Er muss versuchen, das Verhältnis von Allgemeinheit und Festlegung als Entwicklung zu begreifen und anzugeben, wie das eine in das andere umgesetzt wird beziehungsweise werden kann. Dazu ist die Fähigkeit zur logischen und empirischen Rekonstruktion ebenso erforderlich wie die zur Vermittlung von Allgemeinheit und Festlegung. Dazu werden Theorien benötigt, die die Bewegungen ihres Gegenstandes mitmachen können (statt ihn zu fixieren) und dabei den Spagat zwischen Allgemeinheit und Besonderheit, zwischen der »toten« Logik und dem »lebendigen« Geschehen aushalten und die erforderlichen Verbindungen herzustellen vermögen. Es ist evident, dass für dieses Anforderungsprofil nomologische Theorien gerade wegen ihrer Tugenden nur begrenzt geeignet sind.21 Ihr Hauptmodus – algorithmische Reduktion – kann aus dem Geschehen nur das hervorheben, was festgelegt ist (beziehungsweise was sie durch ihr Vorgehen festlegen). Dies bringt einen erheblichen Realitätsverlust mit sich: Relevante Faktoren, Ereignisse, Zusammenhänge und Abläufe werden herausgefiltert, sodass das autopoietische Geschehen tendenziell auf Statik und Mechanik reduziert wird. Auch konnotative Theorien müssen Realität reduzieren und können nicht alles, was relevant ist und 21 Freuds methodologischer und theoretischer Schritt weg von der Physiologie reagierte auf diese Problematik und war daher angemessen (wenn auch noch nicht konsequent entwickelt). Es spricht für die Qualität seiner Identifikation mit dem Wissenschaftsverständnis seiner Zeit, dass er genau an der richtigen Stelle nicht deren Vorschriften folgte, sich aber weder von der Kritik, die er dafür erntete, noch in seiner Identifikation selbst irritieren ließ.
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sein könnte, auf- und mitnehmen. Sie müssen dies jedoch so tun, dass sie ihre Reduktionsregeln offenlassen und so anlegen, dass sie die Dynamik ihrer Thematik erhalten.
Autopoietische Realität und konnotative Theorien Autopoietische Realität impliziert also eine Art von Komplexität, die von Theorien ein spezifisches Leistungsprofil verlangt. Entsprechend unterscheiden sich konnotative Theorien nicht nur in ihrer Form von denotativen. Ein unterschiedliches Leistungsprofil und unterschiedliche Beziehungen zum Gegenstand haben auch unterschiedliche Problemlagen zur Folge. Ein relevantes Problemfeld sind die Schwierigkeiten der Theorie selbst: ➣ Grenzen der Thematisierbarkeit: Prinzipiell stellt die Gegenstandskomplexität autopoietischer Realität eine Überforderung von Theorien und Methoden dar – sie sprengt das Fassungs- und Verarbeitungsvermögen symbolischer Reproduktion. Während nomologische Realität ohne Verlust an Gegenstandslogik algorithmisch reduziert werden kann, ist jede Thematisierung von autopoietischer Realität eine logisch relevante (und problematische) Reduktion. Weil sich konnotative Thematisierungsstrategien auf bestimmte Dimensionen ihres Themas konzentrieren müssen, erkaufen sie ihre Stärken mit Schwächen – nicht alle Dimensionen lassen sich gleich, zugleich und gleich gut thematisieren.22 ➣ Multiparadigmatik: Das hat zur Folge, dass es – im Gegensatz zur Exklusivität denotativer Theorien – konnotative Theorien im Plural gibt. Die Selektivität von Theorien und die Heterogenität autopoietischer Realität führen zu unauflösbaren Disparitäten. Ein mixtum compositum kann (und muss!)23 von unterschiedlichen Perspektiven 22 Es können also nicht alle möglichen und erforderlichen Leistungsmerkmale konnotativer Theorien zugleich optimiert werden: Eine Theorie, die die Psychologie einer Wirtschaftskrise analysiert, kann nicht zugleich und gleich gut deren ökonomische, ökologische, soziale Seite reflektieren. Dies gilt jedoch auch innerhalb von differenzierten Paradigmen: Es treten unter Umständen Spezialisierungsfolgen auf – ein Trieb-AbwehrModell kann sich nicht gut auf Fragen der Identitätsbalance einlassen (und umgekehrt). 23 Angesichts der Logik autopoietischer Realität ist es notwendig, dass sie auf unterschiedliche Weise betrachtet wird. Theorie bedeutet Engführung, sodass ein singulärer
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ausgehend behandelt werden, die jeweils verschiedene Aspekte hervorheben. Aber auch eine homogene Dimension, die in Interaktion und Bewegung ist, kann unterschiedlich thematisiert werden. Reflexion führt daher zur Entwicklung eines heterogenen Theoriefeldes, in dem Gemeinsames different behandelt wird. Begriffsarbeit: Die Mittel konnotativer Theorien können keine denotativen Zeichen sein, die exklusiv festlegen. Stattdessen müssen sie mit Begriffen operieren, die eine Balance zwischen der Struktur der Theorie und der Vielfalt der empirischen Konfigurationen, zwischen den unterschiedlichen Erscheinungsformen und der gemeinsamen Dynamik und Funktion halten müssen. Dazu brauchen sie semantische und grammatikalische Assimilations- und Akkomodationsfähigkeit. Um die Reduktionsverluste durch Symbolisierung zu vermeiden oder gering zu halten, müssen sie zudem über analoge Qualitäten verfügen, also Realität in Modellen fassen können.24 Beides hat den Nachteil, dass Begriffe ein Stück weit unscharf und unbestimmt bleiben (müssen), was Dissens ermöglicht und Diskurse belastet. Methodologie: So schwierig der Zugang zu nomologischer Realität auch immer ist – es gibt Entscheidungskriterien für Validität und Reliabilität der Ergebnisse und Beurteilungskriterien für die Gültigkeit und Reichweite von Theorien. Dagegen ist und bleibt der Gegenstandskontakt konnotativer Theorien mehrdeutig und labil. Ihn zu halten, bleibt daher eine (nicht definitiv lösbare) Daueraufgabe; die zur Verfügung stehenden Methoden sind strukturell unsicher – die Methoden geben der Theorie nicht Halt, sondern brauchen Halt. Ihre Ergebnisse sind nicht verlässlich, sondern riskant; ihre Verwendung führt zu spekulativen Ergebnissen und verführt zur Spekulation.
Zugang den Gegenstand logisch reduziert. Daher ist eine Pluralität von Perspektiven ein produktiver Modus, durch den ein Theoriefeld entsteht, das insgesamt eine höhere Komplexität der Reflexion erreichen kann (Steiner, 1995). Andererseits lassen sich die unterschiedlichen Sichtweisen weder aufeinander reduzieren noch gehen sie in einem gemeinsamen Nenner auf. Die Suche nach einem common ground (Wallerstein, 1990; Gabbard 1995) ist daher nötig (zur Verständigung über das Profil des Paradigmas), kann (beziehungsweise: darf!) aber zu keinem definitiven Ergebnis führen. 24 »Ödipuskomplex« sind ebenso wie »depressive Position« und so weiter Begriffe mit vorrangig analoger Qualität. Ihre Leistung erkaufen solche Termini unvermeidlicherweise mit Diffusität. Langer (1984 [1942]) hat diese Leistung in Anlehnung an Cassirer mit dem Stichwort »Präsentative Symbole« ausführlich dargestellt.
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Theoriestruktur: Konnotative Theorien sind daher nicht einfach eine bereitliegende Form, in die nach bestimmten Regeln gewonnene Daten eingebracht werden. Ihre Leistungsfähigkeit ergibt sich durch ihre Beweglichkeit, durch die Fähigkeit, zu erfassen, was im Einzelfall relevant ist, und durch das Vermögen, den jeweils passenden Zugang zu entwickeln und darüber die allgemeine Logik zu adaptieren. Es wird typisiert und die Typisierungen werden rückvermittelt – konnotative Theorien haben keine fixierte Form und keinen festen Ort, sie müssen prozessieren, um ein Fließgleichgewicht zu halten.25 Anwendungsabhängigkeit: Denotative Theorien sind in ihrer Verwendung festgelegt, sodass jede Verwendung auf die gleiche Weise erfolgt. Konnotative Theorien sind dagegen anwendungsoffen. Sie enthalten keine Anwendungsbestimmung, sondern werden erst durch sinnvolle aktive Nutzung produktiv. Es hängt daher von der Qualität der Nutzung ab, welche Leistungsfähigkeit sie entwickeln. Theoriekompetenz hat hier zwei Seiten: Es geht nicht nur um die symbolische Verfügbarkeit, sondern auch darum, ihre praktische Anwendung angemessen steuern zu können. Theoriepragmatik ist eine Kunst für sich mit vielen Möglichkeiten des Scheiterns. Theoriebalance: Weil ihr Thema in Bewegung ist, weil keine perfekte Behandlung des Themas möglich ist und weil ihre Anwendungen umstritten bleiben, sind konnotative Theorien selbst in Bewegung und nicht abschließbar. Sie müssen ständig neu balanciert werden. Dies wird dadurch erschwert, dass es keine externen Kriterien (Axiome) gibt, die selbstverständlich als Maßstäbe verwendet werden können, und die Grenzen der Theorie nicht eindeutig sind. Damit wird Theoriebalance zu einer Daueraufgabe.
Zu den Besonderheiten konnotativer Theorien gehört auch das Verhältnis von Gegenstand und Praxis. Prinzipiell öffnen denotative Theorien Nutzungschancen, haben jedoch (wegen des Charakters ihres Gegenstandes) keine Möglichkeiten der Beeinflussung beziehungsweise Veränderung. Bereits bei zyklischer Autopoiesis enthält Theorie Interventions- und damit Veränderungsmöglichkeiten, sie wirkt also auf ihren Gegenstand zurück. 25 Sie bewegen sich daher ständig zwischen Axiomatik, begrifflicher Konzeptualisierung und Kritik der Ergebnisse hin und her. Dies wird im klassischen Begriff des »hermeneutischen Zirkels« zu wenig als methodologisches Prinzip gesehen.
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Bei reflexiver Autopoiesis kommt ein weiterer Punkt hinzu: Theorie ist ein reflexiver Mechanismus, eine elaborierte Form von Reflexion. Soweit sie sich auf eine humane Welt bezieht, geht sie aus dem Reflexionspotenzial ihrer Thematik hervor und wird Teil von dessen Dynamik. Gegenstand und Reflexion sind (ein Stück weit) identisch. Diese Identität hat erhebliche Folgen. ➣ Überschneidung: Zunächst sind konnotative Theorien (anders als denotative Theorien, die systematisch geschieden sind von ihrem Gegenstand) in diesem Fall eine Fortsetzung einer Modalität der Realität selbst, auf die sie sich beziehen. Sie professionalisieren deren Leistungen, bleiben aber zugleich ein Stück weit im gleichen Modus, was Interferenzen und Abhängigkeiten zur Folge hat: Reflexion wird zu einer Funktion der Selbststeuerung der Realität, überlagert deren basale Mechanismen, bleibt jedoch selbst an deren Logik gebunden. Als Form der Selbstthematisierung ist sie von den entsprechenden Paradoxien geprägt und mit den damit verbundenen Überschneidungsfolgen konfrontiert.26 ➣ Verstricktheit: Methoden und Theorien sind und bleiben daher Emanationen bestimmter Umstände. Definition und Verwendung von Begriffen bleiben ihrem Ursprung verbunden. Anders als Zeichen, die kontextfrei definierbar sind,27 können sich Begriffe nur beschränkt vom genetischen Kontext lösen. Ebenso wird ihre Verwendung vom Kontext beeinflusst. In gewisser Weise reproduzieren sie daher die zeitund umständebedingten Möglichkeiten und Probleme der Symbolisierung. Theorien und Methoden sind daher ein Stück weit dazu verdammt, externe Vorgaben, Abhängigkeiten und Aufträge zu agieren, was oft erst ex post erkennbar und nur beschränkt kontrollierbar ist. ➣ Einmischung: Das gilt auch und in besonderer Weise für die Art von Praxis, die mit der Theorie verbunden wird. Sie wird von Um26 Auch ganz konkret: Die reflexiven Kompetenzen können auf den Reflexionsprozess zurückwirken und in ihn zurückgeführt werden – wenn Soziologen fremde Theorien unter Ideologieverdacht stellen oder Psychoanalytiker andere Argumente als Ausdruck von »Störungen« einstufen. 27 Was nicht bedeutet, dass Zeichen und Zeichensysteme in ihrer Verwendung »neutral« wären – auch sie mischen sich ein und steuern Selektionen. In diesem Sinn kann es sogar sinnvoll sein, von Technik als »Ideologie« zu reden (Habermas, 1968b). Sie können jedoch vom genetischen Kontext gelöst werden, weil sie isoliert und semantisch reduziert werden können.
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ständen substanziell beeinflusst und setzt in gewisser Weise deren Prinzipien um – und wo sie dies nicht tut, gerät sie in Gegensatz zur herrschenden Normalität, was entsprechende Reaktionen zur Folge hat. Während denotative Theorien von ihrem Thema keinen Widerstand erwarten müssen und – zumindest vor dem Hintergrund einer allgemeinen Akzeptanz – auch nicht bestritten werden, müssen konnotative Theorien, die sich in ihr Thema einmischen, damit rechnen, dass sie bestritten, kritisiert und/oder abgelehnt werden. Damit ist es möglich, zunächst die besondere Situation von konnotativen Theorien insgesamt und dann die Sondersituation der Psychoanalyse systematisch zu interpretieren. Es ist jetzt deutlich, worin die Differenz zwischen konnotativen und denotativen Theorien besteht und bestehen muss: ➣ Geht man davon aus, dass zwar Theorie (als Erklärungsanspruch) gleich Theorie ist, dass aber aufgrund der unterschiedlichen Sachlogiken Theorie nicht gleich Theorie sein kann, ist evident, dass Theorien sich in Form, Umgang mit ihrem Thema und im Prozessieren unterscheiden müssen, weil von ihnen verschiedene Leistungen verlangt werden. Zugespitzt: Denotative Theorien sind verbindliche Pläne nomologischer Realität, konnotative Theorien sind vektorielle Bauanleitungen, mit denen Interpretationsmöglichkeiten generiert werden können; denotative Theorien können nur verdauen, was abstraktiv in Regeln erfassbar ist (und sind überfordert, wo Realität in idiografischer und erratischer Form existiert); konnotative Theorien können sich auf Differenzen einstellen, bleiben aber selbst indifferent und unscharf. ➣ Nomologische Realität kann beliebig behandelt werden, weil sie in ihrer Logik nicht beeinflusst wird. Sie kann zudem in jeden Kontext gesetzt, aus jedem Kontext herausgelöst und algorithmisch reduziert werden, ohne dass damit eine Veränderung der Gegenstandslogik oder ein Informationsverlust verbunden wäre. Der Gegenstandszugang kann daher auf die passende Methode zentriert werden, die ihrerseits durch die (geschlossene) Logik formaler Reproduktion orientiert ist. Autopoietische Logik verlangt dagegen spezifische Anpassungsleistungen, weil Methoden diese Art von Gegenstand beeinflussen und seine Logik auf spezifische Weise konstituieren. Was an Deutlichkeit der Ergebnisse gewonnen wird, kann dadurch 271
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an Komplexität des Verständnisses verloren gehen – und umgekehrt: Was in einer Hinsicht verdeutlicht, kann in anderer Hinsicht verdunkeln. Denotative Theorien bilden eine von ihrem Thema getrennte symbolische Welt. Ihre Darstellung der Logik erlaubt praktische Nutzungen in Form von Technik (»Handwerk«, »Kunstfertigkeit«), die der Logik des Gegenstandes selbst äußerlich bleiben. Wie sie selbst ist auch ihr Gegenstand zeit- und bedingungslos. Dagegen stehen konnotative Theorien in einem Austauschverhältnis zu ihrem Gegenstand. Wo Alternativen bestehen, kann Theorie die Auswahl steuern; wo Entwicklungsmöglichkeiten existieren, werden sie von Theorie geöffnet und erweitert. Theorie mischt sich in den laufenden Prozess ein, wird ein Faktor der laufenden Praxis mit entsprechend komplexen Effekten. Bei reflexiver Autopoiesis besteht darüber hinaus eine strukturelle Identität zwischen dem Selbststeuerungsprozess der Realität und der Theorie – Mittel (und Probleme) der Theorie stammen aus der Realität und sind daher eine Weiterentwicklung und Überlagerung ihrer Modalitäten.
Kurz: Die prinzipiell verschiedenen Formen und Problemlagen von verschiedenen Theorietypen haben ihren Ursprung in der Logik ihres Gegenstandes und in den Leistungen, die er ihnen abverlangt. Während denotative Theorien sich von ihrer Genese lösen und im Rahmen der Axiomatik ihrer Grammatik eindeutige Kriterien der Evaluation und der Gültigkeit entwickeln können und so die schwierige Arbeit an der Ausweitung der Grenzen des Wissens betreiben können, leiden konnotative Theorien unter der multiplen Logik ihres Themas und der Instabilität ihres Gegenstandskontakts.
Primäre und sekundäre Risiken von Theorien Im Umgang mit reflexiver Autopoiesis treten eine ganze Reihe von primären Risiken auf. Primäre Risiken sind strukturelle Probleme der Theorie – Unsicherheiten, Unschärfen, Äquivokationen und so weiter. Konnotative Theorien können sie nicht vermeiden. Mehr noch: Sie müssen sie eingehen, um ihre Leistungen erbringen zu können. Sie können dabei von denotativen Theorieanteilen – die diese Risiken nicht kennen – unterstützt 272
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werden, ihre Risiken abnehmen können diese ihnen jedoch nicht.28 Die ausgeprägten primären Risiken, die aus Schwierigkeiten der Theorie selbst stammen, tragen zur Verstärkung von sekundären Risiken bei, die mit der sozialen Formatierung zusammenhängen. Sekundäre Risiken können auch denotative Theorien betreffen – etwa, wenn Erkenntnisse absichtlich oder unabsichtlich verfälscht, verheimlicht, missbraucht werden, wenn Konkurrenz, Neid und so weiter dafür sorgen, dass Möglichkeiten verhindert und Richtungen bevorzugt werden oder wenn ideologische Sperren ihre Entwicklung behindern. Sie werden jedoch nicht in der Substanz ihrer Kontrollmöglichkeiten beeinträchtigt.29 In dieser Hinsicht besteht für konnotative Theorien ein ganz anders gelagertes Risikopotenzial. Die Instabilität ihrer Leistungen, die Unsicherheit ihrer Resultate und die Verstricktheit in ihre Thematik haben erhebliche Auswirkungen auf ihre soziale Formatierung, und die soziale Formatierung hat ihrerseits erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Paradigmas: 28 Denotative Theorien kennen keine primären Risiken, weil sie per definitionem stets axiomatisch geschlossen und eindeutig sind; man kann – identifizierbare – Fehler bei ihrer Anwendung machen. Wie riskant es ist, wenn man autopoietische Realität insgesamt so behandelt, als sei sie nomologisch, zeigt sich spätestens, wenn sie dynamisch wird. Solange »der Markt« störungsfrei läuft, kann man ihn – vereinfacht – in einem mathematischen Modell abbilden und simulieren. Tatsächlich handelt es sich um eine Fehlkonstruktion: Die wirkliche Entwicklung zeigt im Austausch mit ihrer Umwelt eine empirische Dynamik, die damit nicht erfasst wird – Krisen, Zusammenbrüche, Lerneffekte und so weiter bleiben ausgeblendet. Fatal ist dabei nicht die Nutzung von Modellierungen, die von Regelmäßigkeits-Unterstellungen ausgehen, sondern die Annahme, sie könnten die (autopoietische) Realität abbilden. Dieses Problem ist weit verbreitet. Zahlen und Algorithmen gelten als »harte« Wissenschaft, mit ihnen scheint man immer auf der sicheren Seite zu sein, sodass es verführerisch ist, auch autopoietische Realität so zu behandeln – man kann sich als »richtiger« Wissenschaftler präsentieren und hat (scheinbar) sichere Daten und Theorien in der Hand. 29 Spätestens seit Kuhns Studien ist deutlich, dass alle Wissenschaften von sekundären Risiken befallen werden können. Auch die Naturwissenschaften haben eine hohe Anfälligkeit für die Verzerrungen, die durch die »herrschende Normalität« verursacht werden, gezeigt, und die fortlaufenden Skandale um absichtliche und unabsichtliche Fälschungen demonstrieren, dass dies auch noch die Gegenwart betrifft. Allerdings ist auch deutlich, dass im ausdifferenzierten Wissenschaftsbetrieb nur noch die Bereiche anfällig sind, in denen Pionierarbeit stattfindet, wo also noch kein Kontrollkanon theoretischer und praktischer Art verfügbar ist. Der Kontrollkanon selbst ist davon nicht betroffen, das heißt, die Theoriekriterien werden in ihrer Gültigkeit durch Irrtümer, Fälschungen und so weiter nicht beeinträchtigt.
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Der nicht kontrollierbare Austausch zwischen der sozialen Institution und ihrer Umwelt und die angesprochene Überschneidung von Theorie und gesellschaftlichen Mechanismen der Reflexion können zu einem prekären Innen-Außen-Verhältnis führen. Externer Druck kann zur Folge haben, dass Importe kontaminiert sind, dass externe Ideologien importiert werden (müssen) und die Leistungen der Theorie verzerren (was auf die von ihr geleitete Praxis durchschlägt). Theorien agieren dann, was ihre Umwelt ihnen zuweist. Tun sie es nicht, ergeben sich Probleme der Akzeptanz und Statuszuweisung, weil sie sich querlegen. Reflexion mischt sich ein, engagiert sich gegen und für bestimmte Entwicklungen. Das ist unvermeidlich ein normativer Vorgang. Von der Umwelt (und speziell von anderen möglichen Perspektiven und Interessen) wird eine solche Einmischung mit einer gewissen Zwangsläufigkeit als irritierend beziehungsweise als gefährlich angesehen – als Bedrohung des Status quo. Das provoziert Ausgrenzung und Gegenwehr. Entsprechend schwierig ist es, Anerkennung und Ressourcen zu gewinnen, entsprechend kompliziert und aufgeladen ist der Sozialstatus, entsprechend heftig sind die Attacken auf Theorie und Praxis.30 Instabile Theorie und riskante Formen der Praxis bringen besondere Probleme: Sie lassen sich mit Standardmethoden der Organisation nur begrenzt formatieren (und umgekehrt: Reflexion ist organisationsavers und belastet die Organisationsstruktur).31 Daher ist eine reibungslose Organisation von Theorie und Praxis sowie deren Tradierung (in Lernprozessen und Konservierung des Paradigmas) nur begrenzt möglich. Aneignung, Vermittlung und Verwendung von konnotativen Theorien sind selbst ein autopoietischer Prozess, der verkompliziert wird durch die Vielzahl von Optionen. Unentscheidbare Alternativen führen zu internem Dissens, der nicht lösbar ist, sondern nur über
30 Die »Kränkungstheorie« von Freud wäre in diesem Sinne weiter zu fassen: Es gibt Konfigurationen, in denen die Leistungen eines Subsystems die Funktionsprinzipien des Systems tangieren, was zum Abblocken und/oder Aufgreifen der Anregung zur Weiterentwicklung führen kann. Die Abweichung selbst kann als Ausdruck innerer Widersprüchlichkeit des Systems, als Selbstgefährdung, aber auch als indirekte Form der Selbststimulierung gesehen werden. Allerdings ist nicht jede abweichende Systemleistung, nicht jeder Widerspruch zum Normalbetrieb ein »Fortschritt« – es kann sich auch um einen Mechanismus der Regression handeln. 31 Weick (1992) demonstriert, welche Komplikationen sich aus dem Verhältnis von Thematik und Organisationsform ergeben können (siehe darüber hinaus auch Schülein, 1999).
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Primäre und sekundäre Risiken von Theorien
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prekäre Mechanismen wie Ausgrenzung, Dogmatik, kontrafaktische Überschätzung der eigenen Position und so weiter überhaupt funktionsfähig gehalten werden kann. Sachliche Entscheidungen hängen damit mehr oder weniger von den reproduktiven Bedingungen ab, das heißt, Machtverhältnisse und Beziehungsmuster entscheiden über die Akzeptanz von Lehrmeinungen, Didaktik und so weiter.32 Generell haben konnotative Theorien daher Schwierigkeiten, eine angemessene und funktionsfähige soziale Balance zu entwickeln. Die Grenzen der Institution bleiben unscharf und sind schwer kontrollierbar; produktiver und reproduktiver Prozess bleiben eng verbunden; Funktionen und Personen sind schwer zu trennen; die üblichen Mittel formaler Organisation (Arbeitsteilung, Hierarchisierung, Auslagerung von Leistungen und so weiter) bleiben heikel. Statt eine verlässliche Normalität zu erreichen, bleibt die Institution daher in wichtigen Hinsichten quasi ständig im Pionierstadium. Ohne Halt in einer sicheren Praxis und ohne die Möglichkeit, neutrale Organisationsformen hervorzubringen, bleibt es bei der Entwicklung einer sogenannten phantom normalcy (Goffman, 1972), einer Art Simulierung von Normalität, die gerade deshalb besonders gefährdet ist.33 Dies alles belastet den institutionellen Prozess – nichts funktioniert problemlos. Das hat auch zur Folge, dass Institutionen dieses Typs chronische Legitimationsprobleme haben. Von außen müssen sie aus den genannten Gründen immer mit unqualifizierten Einmischungen und der Zuweisung eines prekären Sozialstatus rechnen – anders als Institutionen, die nomologische Realität mit denotativen Theorien behandeln. Aber auch intern kann ihr prekäres Gleichgewicht zu Recht problematisiert werden – es gibt immer etwas, das nicht stimmt und nicht passt; es gibt immer andere Sichtweisen und Be-
32 Es ist daher normal, wenn innerhalb des Paradigmas Entscheidungen auf der Basis von gewählten oder realen Abhängigkeiten getroffen werden, also etwa die Zugehörigkeit zu einer Theorierichtung von den Präferenzen der Lehrer (positiv oder negativ!) abhängt, wenn sich lokal und translokal Netzwerke und Seilschaften bilden, die nicht nur auf individuelle Karrieren, sondern auch auf das Schicksal von Theorieentscheidungen und Praxisformen Einfluss nehmen und so weiter (ebd.). 33 Entsprechend entwickeln sich sekundäre Formen der Stabilisierung und präformale Modalitäten (zum Beispiel Personenbindungen), die die »Professionalisierung« der Institution belasten und umgekehrt: Professionalisierungsschritte im organisationslogischen Sinn werden zur Belastung der Institution.
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wältigungsstrategien. Daraus kann ein Dauerdisput entstehen, der ohne klare Kriterien der Entscheidung darüber, was das bessere Argument, die bessere Strategie, die beste Politik ist, leicht eskaliert. Die institutionelle Balance steht unter Dauerstress. Das besondere Problemprofil institutionalisierter Reflexion besteht daher in ihrer exponierten und fragilen sachlichen wie sozialen Identität. Wo instrumentelle Praxis sachlich wie sozial bis zum erreichbaren Perfektionsgrad reifen kann (also die anfänglichen Problemlagen definitiv hinter sich lassen), bleibt reflexive Praxis dauerhaft mit ihrer inneren und äußeren Balance beschäftigt und chronisch instabil. Institutionelle Entwicklung führt gerade nicht zur Entlastung, sondern erhöht noch die Ansprüche. Jeder Versuch, dem gerecht zu werden, ist seinerseits riskant. Das kann den Effekt haben, dass eine Mischung aus Problemausdruck und ebenso problematischer Problembewältigung die institutionelle Normalität belastet und den institutionellen Prozess ins Schlingern bringt.
Zur Situation der Psychoanalyse34 Nach diesen relativ langen (jedoch hier nur in Umrissen skizzierten) Vorüberlegungen35 kann man auf die Behauptung (dass es die Psychoanalyse geben muss) und die Frage der Überschrift (warum sie es so schwer hat) näher eingehen. Geben muss es die Psychoanalyse, weil es ihr Thema gibt: die Psyche als komplexen »Prozessor«, der zwischen der Biologie des Körpers und der sozialen Umwelt aktiv vermittelt. Die Psyche entwickelt sich als eigenständiges System und eröffnet dadurch neue Möglichkeiten des Denkens und Handelns, die sie mithilfe von (manifester und latenter) Psychodynamik – Umsetzung des biopsychischen Antriebspotenzials in sozialen Formen, affektive Besetzung sozialer Themen – auf komplexe Weise 34 Man könnte an dieser Stelle auch abzweigen in die Sondersituation der Erkenntnistheorie – auch sie ist eine konnotative Theorie, die sich mit einer besonderen Art von autopoietischer Realität beschäftigt. Es verwundert nicht, dass sie (ebenso wenig wie Psychoanalyse) mit einem sicheren Bestand eindeutiger und akzeptierter Interpretationen aufwarten kann und dass sie strukturell dem Profil der Psychoanalyse ähnelt. 35 Für eine ausführlichere Darstellung der allgemeinen Problematik siehe Schülein (2002); zur Sondersituation der Psychoanalyse siehe Schülein (1999).
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Zur Situation der Psychoanalyse
bearbeitet. Dieser autopoietische Prozess bedarf spezifischer Zugangsweisen und Thematisierungsstrategien. Insbesondere latente Psychodynamik ist nur mit spezifischen Methoden erschließbar und folgt einer besonderen Logik – Psychoanalyse ist eine (bisher in mancher Hinsicht die einzig seriöse) Antwort auf diese Herausforderung. Wenn es sie noch nicht gäbe, müsste sie entwickelt werden. Daher sind prinzipielle Zweifel – ob affektiv geladen oder (nur) ignorant – am »Projekt Psychoanalyse« unangemessen. Sie verkennen die Notwendigkeit, eine solche Theorie haben zu müssen. Ebenso unangemessen ist es, die Psychoanalyse unvermittelt an den Maßstäben zu messen, die für denotative Theorien gelten. Wenn man die Psyche als komplexen autopoietischen Prozess sieht, braucht man Theorien, die dessen Emergenz und Nicht-Linearität begreifen und ausbalancieren können. Es ist zwar prinzipiell möglich, auch autopoietische Prozesse denotativ zu modulieren – jede Theorie muss auf doppelte Weise reduzieren, indem sie Sachverhalte isoliert und indem sie sie in vereinfachte Formen übersetzt, mit denen weiter prozessiert werden kann.36 Bis zu einem bestimmten Grad ist es auch sinnvoll, autopoietische Realität auf diese Weise zu behandeln. Allerdings setzt dies eine konnotative Einbettung des Vorgehens voraus und ist zudem als alleiniges Programm aus den genannten Gründen unzulänglich und ungeeignet. Wer darauf besteht, nur im denotativen Paradigma zu bleiben, unterliegt daher einem prinzipiellen Missverständnis über die Natur des Gegenstandes (das verschiedene Gründe haben kann) und die begrenzten Möglichkeiten der Methodologie. Es muss die Psychoanalyse also geben. Warum sie es so schwer hat, bedarf einer differenzierten Antwort. Vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussion gibt es sie gewissermaßen mehrfach – bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass (mindestens) drei Dimensionen, in denen der Begriff verwendet wird, unterschieden werden müssen. Psychoanalyse ist ➣ eine Art der Reflexion, die methodisch verfährt und Theorien über ihren Gegenstand entwickelt, ➣ eine Art der Praxis, die versucht, bestehende, als Problem identifizierte Sachverhalte zu bearbeiten, und ➣ eine soziale Institution, die die Bedingungen von Reflexion und Praxis bereitstellt und steuert. 36 In dieser Hinsicht gehen Typenbildung sensu Weber und statistische Verfahren, die mit Durchschnittswerten und Korrelationen arbeiten, ähnlich vor. Das sagt jedoch noch nichts über die erforderlichen und möglichen Methodologien aus.
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Diese drei Dimensionen haben miteinander zu tun, sind aber nicht identisch. Schwer hat es die Psychoanalyse in jeder ihrer Dimensionen. Der empirische Zugang und der begriffliche Umgang mit einer Welt, die weder mit formaler Kausallogik noch mit rationaler Intentionallogik vollständig erfassbar ist (auch wenn sie sowohl kausale als auch intentionale Züge trägt), eine Welt, die zudem Zugangssperren auf beiden Seiten enthalten kann – eine solche Welt ist nicht ohne Risiko erfassbar: In allen Phasen des Erkenntnisprozesses treten unkontrollierbare Probleme auf. Es gibt hier nur die Alternative, entweder ganz auf die Auseinandersetzung mit dieser Welt zu verzichten oder die Risiken in Kauf zu nehmen – und zu versuchen, sie so gut wie möglich zu kontrollieren, was wiederum dadurch erschwert ist, dass es (anders als bei denotativen Theorien) eindeutige und stabile Kontrollinstrumente nicht gibt (siehe die Ausführungen zuvor). Die Psychoanalyse muss also mit konnotativen Theorien arbeiten. Dass es sie im Plural gibt und ständig um ihr Profil gerungen wird, dass sie mit vielen analogen Begriffen arbeitet, dass sie methodisch unsicher ist, sind daher keine Kinderkrankheiten, sondern die weitgehend unvermeidbare Konsequenz ihrer Ziele. Ebenso ist nicht verwunderlich, dass es keine eindeutigen und unumstrittenen Begründungen gibt – es kann sie nicht geben, weil konnotative Theorien weder axiomatisch noch algorithmisch vereindeutigt werden können.37 Als Praxis hat die Psychoanalyse mit allen Komplikationen zu tun, die mit der Intervention in autopoietische Prozesse verbunden sind. Zusätzlich muss sie Probleme behandeln, die mit der speziellen Autopoiesis von Psychodynamik verbunden sind. Es gehört zu den besonderen Leistungen der Psychoanalyse, dass sie die Besonderheiten der Genese von psychodynamischen Problemlagen, ihre Auswirkungen auf den psychischen Prozess und die daraus resultierenden Komplikationen untersucht, und zugleich Mittel entwickelt hat, inerte psychische Strukturen (wieder) in Bewegung zu setzen. Dazu muss ein intensiver und schwieriger Kontakt zur 37 Verständlich ist mit Bezug auf die Unterscheidung von Referenzebenen (siehe oben), warum es unterschiedliche Begründungsstrategien geben kann. Als Wissenschaft unterliegt Psychoanalyse den allgemeinen Kriterien jeder Wissenschaft (darauf beziehen sich häufig die Vertreter einer »normalwissenschaftlichen« Position), sie zeigt zudem typische Merkmale jeder konnotativen Theorie (darauf beziehen sich die Vertreter einer »hermeneutischen« Position), sie hat jedoch auch Merkmale, die keine andere Theorie besitzt (darauf beziehen sich die »Weder-Noch«-Begründungen). Alle drei Strategien heben jeweils unterschiedliche Referenzen hervor und gehören angesichts der Komplexität der Thematik zusammen (und dürfen daher auch nicht gegeneinander ausgespielt werden).
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Zur Situation der Psychoanalyse
Psyche aufgenommen werden, der mit einer Fülle von Risiken und Problemen belastet ist, ohne die jedoch die gewünschten und erforderlichen Effekte nicht erreicht werden können (alles dies muss hier nicht erläutert werden). Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist wichtig, dass dabei die Mittel der Theorie (wie beschrieben) nicht ausreichen. Es bedarf zusätzlich einer Theorie der Praxis und einer Praxis der Theorie, die mit der Theorie verbunden, aber nicht identisch sind. Praxeologie (Fürstenau, 1976, 1979; Buchholz, 1999) muss in vieler Hinsicht über das, was Theorie selbst kann, hinausgehen (und kann nicht alles mitnehmen, was Theorie bietet); sie muss imstande sein, die Verbindung von Theorie und Realität in actu und systematisch zu verstehen und zu steuern – was (wie gezeigt) eine Leistung sui generis ist.38 Die institutionelle Problemlage ist umrissen worden: Die Art der Theorie und die Art der Praxis lassen eine einfache soziale Formatierung nicht zu. Sie führen zu Unsicherheiten und Belastungen, die sich in organisatorische Entwicklungsprobleme umsetzen. Das zwingt zu institutionellen Balancebemühungen, die unter Umständen gefährlicher sind als die »Krankheit«, die sie zu heilen versuchen. Wenn es beispielsweise dazu kommt, ➣ dass unscharfe Grenzen durch scharfe Abgrenzungen kompensiert werden, ➣ die Schwierigkeiten der Kontakte zur Außenwelt vermindert werden, indem man sich nur auf Binnenmittel beschränkt, ➣ die Probleme nicht-linearer Lernprozesse mit (so die übereinstimmende Kritik) der Produktion nahezu familialistischer Abhängigkeiten bekämpft werden und ➣ insgesamt auf die aggregierten Problemlagen mit einer Art von institutioneller »Ich-Einschränkung« reagiert wird, dann sind dies letztlich kostenintensive und untaugliche Mittel, die darauf verweisen, dass die internen Kompetenzen der Thematisierung und Bearbeitung (noch) nicht hinreichend entwickelt sind. Gibt es weniger teure und hilfreichere Methoden des Umgangs mit überfordernder Komplexität? Die primären Risiken lassen sich nicht vermeiden, mehr noch müssen sie erhalten bleiben, weil sonst die erforderlichen Theorie- und Praxisleistungen nicht zustande kommen. Es wäre für 38 Es ist daher kein Wunder, dass immer wieder festgestellt wird, dass gute Theoriekenntnisse nicht automatisch mit guter praktischer Kompetenz verbunden sind und vice versa. Beide müssen sich in Ziel und Form unterscheiden. Waelder (1962) hat dies anhand einer Skalierung der Ebenen von Psychoanalyse begründet.
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das Projekt der Psychoanalyse fatal, die Flucht in denotative Theorien und technisierte Formen der Praxis zu versuchen; es wäre vermutlich ebenso fatal, zu versuchen, Normalmethoden der Organisation (von strikter Arbeitsteilung bis zu eindeutiger Hierarchisierung) direkt zu übernehmen. Was jedoch nötig und möglich wäre, sind Professionalisierungen. Bestimmte Professionalisierungsschritte sind bereits (nicht zuletzt durch verstärkten Umweltdruck) in Gang gekommen. Mittlerweise gibt es eine ganze Reihe von ermutigenden Versuchen, die Berührungsängste in Bezug auf herkömmliche empirische Forschung abzubauen. Es zeigt sich, dass – bei entsprechend intelligenter Wahl des Forschungsdesigns – eine sinnvolle Verwendung herkömmlicher empirischer Methoden nicht nur sinnvoll ist, sondern auch zu Ergebnissen führt, die für die Psychoanalyse ermutigend sind. Außerdem ist in die Diskussion um therapeutische Praxis Bewegung gekommen, auch wenn aus einer Außenperspektive eine gründliche und nüchterne Auseinandersetzung mit anderen Formen von Therapie (und auch ein Ausloten der Möglichkeiten des eigenen Repertoires) noch nicht weit genug entwickelt ist. In Bezug auf die organisatorischen Grundlagen der Psychoanalyse gibt es noch viel zu tun. Vor allem das Fehlen einer offensiven Außenpolitik, aber auch eine angemessene Form der Innenpolitik sind entscheidende Schwachstellen. Die Psychoanalyse muss 100 Jahre nach ihrer Entstehung damit leben, dass sie nicht ohne Weiteres akzeptiert wird (was nicht weiter verwunderlich ist); sie braucht daher ebenso didaktisch wie strategisch kompetente Einrichtungen, die sich damit beschäftigen, wie sie in den relevanten Diskursen und in der Öffentlichkeit den Platz findet, den sie (und nur sie) einnehmen kann. Innenpolitisch gehört dazu eine professionelle Struktur. Das »Vereins-Modell« ist nur begrenzt geeignet, komplexere Entwicklungen zu steuern. Die meisten innen- wie außenpolitischen Aktivitäten können auf »Amateur-Basis« – getragen von nebenamtlichen Akteuren ohne Management-Kompetenzen – nur begrenzt entwickelt werden. Keine Frage – die Psychoanalyse überlebt auch, wenn sie sich auf die ökologische Nische beschränkt, die sie im Moment besiedelt.39 Wenn sie darin erstarrt, würde jedoch die Chance vertan, aus ihrem Potenzial das zu machen, was Freud zu Recht von ihr erwartete. 39 Obwohl auch daran berechtigte Zweifel bestehen. Es ist keineswegs sicher, dass das jetzt bestehende Ausbildungssystem und das vorhandene Angebotsspektrum angesichts von Kosten-, Zeit- und Legitimationsdruck (sowie der Konkurrenz alternativer Angebote) längerfristig das Überleben der Institution gewährleisten.
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Psychoanalytische Theorien
11 »Ewige Jugend« – Warum psychoanalytische Theorie die Probleme hat, die sie hat
Die Begründung einer neuen Erkenntnisstrategie – Freud und danach1 Wer – wie Freud – versucht, neue Wege zu gehen, hat zunächst: Probleme. Für neue Wege gibt es keine Landkarten; sie müssen beim Gehen erst erstellt werden – im mühsamen Modus von Versuch und Irrtum. Neue Wege sind immer auch legitimationsbedürftig – nach innen wie nach außen. Mit sich selbst hatte Freud dabei wenig Schwierigkeiten. Er war erstaunt darüber, welche Methoden und Theorien er auf seinem Weg entwickeln musste. Aber seine Identifikation mit dem, was er unter »Wissenschaft« verstand, war so ausgeprägt, dass er sich selbst jederzeit konzedierte, wissenschaftlich zu arbeiten –, selbst wenn er versuchte, seine Patienten mit Handauflegen zu motivieren. Wissenschaft war für ihn dabei zunächst nur Naturwissenschaft. Das entsprach dem Selbstverständnis seiner wichtigsten Bezugsgruppe: der aufstrebenden Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Zunft hatte sich jedoch erst vor Kurzem von der Dominanz spekulativer Metaphysik gelöst und sich ganzeinem mechanistisch-materialistischen Denken verschrieben, sodass sie auf Freuds Voranschreiten von der Neurologie zu einer neuen Art von Psychologie mit Unverständnis und Ablehnung reagierte. Tatsächlich besaß Freud kein passendes Format für die externe Begründung seines Tuns – die Wissenschaft, der er sich zurechnete, sah nichts Entsprechendes vor, die Wissenschaften, die ihm Anhaltspunkte hätten bieten können, waren weit weg und boten ihm unmittelbar nichts, womit er etwas hätte anfangen können. 1 Siehe dazu ausführlich Schülein (1997).
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11 »Ewige Jugend« – Warum psychoanalytische Theorie die Probleme hat, die sie hat
In dieser Situation versuchte er zunächst, so zu tun, als sei die Psychoanalyse nichts anderes als die Fortsetzung von Naturwissenschaft mit anderen, der Thematik entsprechenden Mitteln – so in der häufig zitierten Vorbemerkung zur Epikrise von Fräulein von R., wo er um Verständnis für das Ungewöhnliche seines Vorgehens wirbt und hofft, damit Anerkennung in der Zunft zu finden. Er teilt seinem Publikum zunächst mit, dass er versteht, dass es sich wundert, weil seine Texte nicht den Erwartungen der Disziplin entsprechen (»Es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren«). Dann verweist er auf die sachliche Notwendigkeit (»Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe«) und versucht schließlich, das Ergebnis seiner Forschung als Äquivalent einer naturwissenschaftlichen Theorie darzustellen. Er spricht davon, dass »bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen« sei (Freud & Breuer, 1895d, S. 227, Hervorhebung J.A.S.). Tatsächlich hatte Freud kaum Alternativen. Die Spezifika der Psychoanalyse waren in den frühen Texten erst in Ansätzen erkennbar und noch weit davon entfernt, erkenntnistheoretisch in voller Konsequenz thematisierbar zu sein. Sie waren keine Neurophysiologie mehr und passten auch sonst nicht in die verfügbaren Vorstellungen. Freuds Versuch, sich erkenntnistheoretisch zu positionieren, konnte – inhaltlich gesehen – daher nur schiefgehen. Und seine Bitte, sich auf die Redlichkeit seiner Bemühungen zu verlassen (das heißt, fehlendes Verständnis durch Vertrauen zu kompensieren), musste weitgehend auf taube Ohren treffen. Zunächst behielt Freud diese Strategie bei, obwohl die Traumdeutung – der erste umfassende Entwurf einer neuen Psychologie – die Differenzen noch viel deutlicher werden ließ. Dennoch schrieb er in der Einleitung: »Indem ich hier die Darstellung der Traumdeutung versuche, glaube ich den Umkreis neuropathologischer Interessen nicht überschritten zu haben« (Freud, 1900a, S. VII, Hervorhebung J.A.S.), wobei das Verb »glauben« in diesem Zusammenhang Freuds eigene Zweifel an dieser Zurechnung unterstreicht. Die Traumdeutung brachte zunächst nicht die von ihm erhoffte Anerkennung, sie war jedoch ein Fundament, auf dem sich weitere Entwicklungsschritte seiner Theorie vollziehen konnten. Damit änderte sich Freuds Strategie. Soweit er in den folgenden Jahren seine Arbeit kommentiert, liest 284
Die Begründung einer neuen Erkenntnisstrategie – Freud und danach
man Erläuterungen, die nicht mehr die Übereinstimmung mit den Naturwissenschaften, sondern die Analogie zwischen unterschiedlichen Varianten wissenschaftlichen Arbeitens hervorheben – etwa durch den wiederholten Hinweis darauf, dass jede Wissenschaft auf nichts anderem als reflektierten Erfahrungen basiere. Genau dies gelte auch für die Psychoanalyse.2 Auch dies war noch eine defensive Position. Das änderte sich, als Freud begann, die Reichweite psychoanalytischer Argumentationen auf Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung auszudehnen. In nuce enthält bereits der Aufsatz »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität« (1908d) eine umfassende Theorie von Funktion, Entwicklung und Konflikten von Gesellschaftsordnungen. Diese Horizonterweiterung führt in der Folge dazu, dass Freud das Schicksal seiner eigenen Arbeit in einem neuen Licht betrachtet. Freud interpretiert jetzt das Schicksal von Innovationen (wie seiner eigenen) und geht damit von einer erkenntnistheoretischen Zuordnung zu einer im Kern wissenschaftstheoretischen Begründung über, die nach dem sozialen Schicksal von Theorien fragt. Tatsächlich gelingt ihm dabei eine wichtige Erweiterung der Perspektive, die in vielen Diskursen über Wissenschaft bis heute noch nicht angekommen ist.3 Die »Kränkungstheorie« ist vielleicht auch so etwas wie Trost und Notwehr – auf jeden Fall jedoch ein Versuch, Ursachen und Bedingungen des Widerstands gegen Aufklärung zu nennen: Sie ersetzt die bloße Verärgerung über mangelnde Anerkennung durch theoretische Erklärung. Das versetzte Freud in die Lage, auch seine eigene Situation als unerfreulich, aber folgerichtig zu interpretieren. Zudem ergab sich damit eine neue Entwicklungsperspektive: Widerstände treten zwangsläufig auf; sie lassen sich jedoch überwinden. Freud bittet also nicht mehr um Anerkennung als (Natur-)Wissenschaft, sondern wendet seine kulturtheoretischen Konzepte offensiv auf die Entwicklung von Wissenschaft an. 2 Diese Akzentverschiebung von der Betonung einer bestimmten Art von Wissenschaft durch empirische Gegebenheiten zur Art der Kontaktaufnahme (»Erfahrung«) war ein wichtiger Schritt, der nicht nur das stärkere Selbstbewusstsein Freuds widerspiegelt, sondern auch ein – vielleicht ein Stück weit intuitives – besseres Verständnis der eigenen Praxis. 3 Freuds Beitrag zum Verständnis von Wissenschaftsentwicklung – der Blick auf psychodynamische Verstrickungen und Kontexte – ist bis heute kaum aufgegriffen, geschweige denn angemessen modernisiert worden. Eine Ausnahme ist Devereux’ Arbeit Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften (1973 [1967]), die jedoch nur einen spezifischen Aspekt von Wissenschaft (und den auf sehr spezifische Weise) behandelt.
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Damit war der Weg gebahnt für den letzten, umfassenden Entwurf einer Theorie, die Wissenschaft, gesellschaftliche Entwicklung und das Schicksal der Psychoanalyse verband. Unter den vielen Weltanschauungen, die er definiert als »intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme unseres Daseins aus einer übergeordneten Annahme einheitlich löst« (1933a [1932], S. 170), nimmt die »wissenschaftliche Weltanschauung«4 eine Sonderstellung ein. Sie ist die Grundlage der Psychoanalyse: »Als eine Spezialwissenschaft, ein Zweig der Psychologie, –Tiefenpsychologie oder Psychologie des Unbewußten, – ist sie ganz ungeeignet, eine eigene Weltanschauung zu bilden, sie muß die der Wissenschaft annehmen. Die wissenschaftliche Weltanschauung entfernt sich aber bereits merklich von unserer Definition. Die Einheitlichkeit der Welterklärung wird zwar auch von ihr angenommen, aber nur als ein Programm, dessen Erfüllung in die Zukunft verschoben ist. Sonst ist sie durch negative Charaktere ausgezeichnet, durch die Einschränkung auf das derzeit Wißbare und die scharfe Ablehnung gewisser, ihr fremder Elemente. Sie behauptet, daß es keine andere Quelle der Welterkenntnis gibt als die intellektuelle Bearbeitung sorgfältig überprüfter Beobachtungen, also was man Forschung heißt, daneben keine Kenntnis aus Offenbarung, Intuition oder Divination« (ebd., S. 170f.).
Für Freud ist die »wissenschaftliche Weltanschauung« zugleich objektiv und engagiert; sie dient dem Fortschritt, ohne sich auf eine Ideologie zu stützen. Damit konnte Freud seine »kulturpolitischen« Ambitionen mit dem Gebot der Unparteilichkeit der Wissenschaft verbinden. Zugleich nimmt die Psychoanalyse innerhalb der Wissenschaften eine Sonderstellung ein, weil sie die wissenschaftliche Weltanschauung selbstreflexiv wenden und damit deren »blinden Fleck« aufheben kann – kein Wunder, dass er sie jetzt als eigenständige, gleichberechtigte Wissenschaft neben die 4 Das »Weltanschauungs«-Konzept war vor allem im deutschsprachigen Raum weit verbreitet und wurde intensiv diskutiert. Diskreditiert wurde der Begriff dann vor allem durch den nationalsozialistischen Gebrauch. Bis dahin beriefen sich sehr unterschiedliche Positionen darauf, eine »wissenschaftliche Weltanschauung« zu vertreten beziehungsweise zu entwickeln. Dazu gehörten nicht nur Vertreter einer marxistischen Sichtweise, sondern auch der Wiener Kreis (allerdings – in Absetzung gegen die »Weltanschauungs«Diskussionen – unter dem Titel »Wissenschaftliche Weltauffassung«). Freud befand sich hier also in prominenter Gesellschaft.
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Die Begründung einer neuen Erkenntnisstrategie – Freud und danach
Naturwissenschaften stellt (»Streng genommen gibt es ja nur zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde«, ebd., S. 194). Während also der frühe Freud um die Anerkennung der Psychoanalyse in der (Natur-)Wissenschaft rang und sich bemühte, die Psychoanalyse als »Normalwissenschaft« zu deklarieren, tritt der späte Freud viel selbstbewusster auf und sieht sie als Teil moderner Aufklärung, als Schlüsselwissenschaft der Modernisierung von Gesellschaften.5 Freud war kein profilierter Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker.6 Seine Vorstellungen halten einer objektiven Prüfung nicht stand. Um die Bedeutung von Freuds Vorstellungen über Erkenntnis und Wissenschaft angemessen zu verstehen, muss man jedoch ihre Funktion für die Entwicklung der Psychoanalyse berücksichtigen, denn seine Vorstellungen dienen vor allem als Hintergrundabsicherungen für seine abenteuerlichen Expeditionen in die Psyche. Dazu hat er Formeln gefunden, die der jeweiligen Entwicklungsphase seines Projekts entsprachen. Die Überschätzung der Nähe seines Tuns zu den Naturwissenschaften half ihm, die Unsicherheiten der Übergangsphase besser auszuhalten – er konnte sich viel weiter aus dem Fenster lehnen, weil er sich sicher gehalten sah durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit einer erfolgreichen und legitimationsstarken Form der Praxis. Seine spezielle Definition von (Natur-)Wissenschaft hatte also vorrangig die Funktion, ihm den Rücken freizuhalten – und war dafür ausgezeichnet geeignet. Wer diese Funktion nicht berücksichtigte, sah und sieht jedoch nur die Unstimmigkeiten und Fehlerhaftigkeit dieser Selbstinterpretation. Freud hinterließ kaum anschlussfähige Begründungen. Kein Wunder, dass aus Sicht eines quantitativ-empiristischen Wissenschaftsverständnisses Freuds Theorien als unwissenschaftlich eingestuft wurden,7 während umgekehrt Vertreter einer hermeneutischen Sichtweise auf Freuds Anlehnungsver5 Allerdings hält er auch an seinen frühen Vorstellungen in renovierter Form fest. Im Abriß der Psychoanalyse (1940a, S. 80) verbindet er mit der Annahme, das Psychische sei unbewusst, in einer schillernden Formulierung die Möglichkeit, »die Psychologie zu einer Naturwissenschaft wie jede andere auszugestalten«. 6 Man kann sagen: ein Glück! Ob Freud, beladen mit der Last der Diskurse von Aristoteles bis Descartes, von Kant und Hegel bis zu Mill, Dilthey und Husserl, noch den Mut gehabt hätte, so konsequent seinen Weg zu gehen, ist fraglich. 7 Von Popper stammt das Verdikt, dass die Psychoanalyse keine falsifizierbaren Hypothesen hervorbringe und daher keine Wissenschaft sei (Popper, 2000 [1962]). Grünbaum (1988 [1984]) bestritt das zwar, kam aber zu dem Ergebnis, dass ihre Hypothesen bisher
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suche an die Naturwissenschaften befremdet reagierten.8Aber auch innerhalb der Psychoanalyse selbst musste die Konstruktion der Psychoanalyse als Kernstück einer modernen wissenschaftlichen Weltanschauung auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Was für Freud die Integration seiner unterschiedlichen Interessen war, musste Akteuren, die seine umfassenden Ambitionen nicht teilten, als seltsame Vermischung von Politik, Theorie und Spekulation erscheinen. Hartmann unternahm 1927 einen Kanonisierungsversuch, der sich weitgehend darauf konzentrierte, die Psychoanalyse theoretisch wie methodisch als »naturwissenschaftliche Psychologie« zu positionieren. In einer Entwicklungsphase der Psychoanalyse, in der sie sich noch fast ausschließlich über den Bezug zu Freud definierte beziehungsweise definieren musste, weil die fragile institutionelle Identität auf diese Art von Absicherung angewiesen war, arbeitete Hartmann einen Aspekt von Freuds vielschichtiger Sichtweise aus. Seine Argumentation ist dabei konsistenter als die von Freud, aber entsprechend auch eingeschränkt und einschränkend – die »wissenschaftliche Weltanschauung« taucht nicht mehr auf. Kanonisierungen haben Vor- und Nachteile. Zu den Nachteilen gehört, dass sie Probleme ausgrenzen oder umdefinieren. Die Folge: Es ergeben sich Entwicklungshemmungen, Doppelbödigkeiten, unter Umständen Widersprüche zwischen offizieller und realer Praxis. Dennoch dauerte es fast eine Generation, bis die Diskussion über den Status psychoanalytischer Erkenntnis und Theorie wieder aufgenommen wurde: 1960 erschien Rapaports Monografie über psychoanalytische Theorie. Seine sorgfältige Bestandsaufnahme zeigte unter anderem, dass Psychoanalyse kein geschlossenes Theoriegebäude darstellt, sondern aus einer Fülle verschiedener Theoriestrategien und Modulen komponiert ist. Damit gab er gewissermaßen den Startschuss zu einer Fülle von theoretischen Neukonzeptualisierungen wie auch zu einer intensiven Diskussion des wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse.9 Freuds Konzepnicht verifiziert worden seien. Dagegen argumentiert Stegmüller (1983) wesentlich differenzierter und verweist auf die Notwendigkeit komplexerer Evaluierungsstrategien. 8 Auf den Nenner gebracht wurde diese Kritik bekanntlich von Habermas (1968a), der bei Freud ein »szientistisches Selbstmißverständnis« konstatierte. Seine Kritik ist in der Sache diskutierbar, allerdings lässt er alle Zitate von Freud beiseite, die die Bemühungen dokumentieren, sich Raum für sein Vorgehen zu verschaffen. Vor allem aber übersieht er die zentrale Funktion von Freuds wissenschaftstheoretischen Vorstellungen. 9 Dazu und zum Folgenden ausführlich Schülein (1999, 2003, 2013).
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tion wurde dabei gewissermaßen »dekonstruiert«. Waelder (1962, S. 619f.) unterschied programmatisch mehrere Ebenen psychoanalytischer Theorie: ➣ Beobachtungsebene ➣ Ebene der klinischen Deutungen ➣ Ebene der klinischen Generalisierungen ➣ Ebene der klinischen Theorie ➣ Ebene der Metapsychologie ➣ Ebene von Freuds Philosophie Diese Unterteilung verdeutlichte die Komplexität psychoanalytischer Theorie und damit auch die ihrer Begründung. Was folgte, war eine intensive und grundsätzliche Diskussion jeder einzelnen Ebene wie auch der prinzipiellen Frage, was Psychoanalyse sei und wie sie begründbar ist. Sie wurde zunächst in den USA mit Vehemenz aufgenommen. Während Autoren wie Peterfreund (1971), Holt (1967b), Klein (1976), Rubinstein (1976), Spence (1982), Schafer (1976) oder Wisdom (1984) sich darum bemühten, Psychoanalyse mit anderen Paradigmen in Verbindung zu bringen oder sie zu reformulieren, setzten sich unter anderem Edelson (1984), Farrell (1981), Eagle (1988 [1984]), Modell (1984 [1981]), Rycroft (1967), Sherwood (1969), Steiner (1995), Strenger (1991) und Wallerstein (1990) mit dem Status psychoanalytischer Theorie auseinander. Auch in der europäischen Literatur finden sich seit den 1970er Jahren – nicht zuletzt ausgelöst durch die Arbeiten von Pontalis (1968 [1965]), Ricœur (1993 [1965]) und Habermas (1968a) – intensive Auseinandersetzungen und Weiterentwicklungen. Im deutschsprachigen Raum stehen dafür neben der Kontroverse zwischen Lorenzer (1974) und Thomä & Kächele (1985) beispielsweise die Vorschläge und Beiträge von Kaiser (1995a), König (1996), Rosenkötter (1969), Stuhr (1995), Buchholz (1999), Warsitz (1997) und Tress (1985).10
Das Problem der Begründung Die Diskussionen haben zu keinem einheitlichen Ergebnis, sondern zu einer Fülle von prima vista disparaten Vorschlägen geführt. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion gibt es Stimmen, die dies als Zeichen von Unreife 10 Diese Auflistungen sind unvollständig. Eine genauere Darstellung würde den Rahmen dieser Analyse sprengen.
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und als Problem betrachten.11 Tatsächlich bietet eine unübersichtliche Vielfalt wenig Halt und Orientierung; Konsistenz ist daher zu Recht eine Forderung, die an Theorien gestellt wird. Allerdings muss dabei nach den Gründen von Heterogenität gefragt werden. Angesichts der Intensität und Sorgfalt der Diskussionen wäre es unsinnig, zu unterstellen, hier seien unfähige Akteure oder Zufälle am Werk. Wenn es einen einfachen Pfad zur Vereinheitlichung der Diskussionen gäbe, wäre er vermutlich schon beschritten worden. Man muss dazu zunächst sagen, dass das Symptom der Vielfalt von Begründungen kein Privileg der Psychoanalyse ist – Soziologen, Historikern oder Politologen geht es nicht besser. Auch spezialisierte Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien bieten hier kein Remedium – schon, weil es auch sie nur im Plural gibt.12 Umso wichtiger ist es, die Problemlage, die sich in diesen Schwierigkeiten ausdrückt, besser zu verstehen. Statt die vorhandenen Begründungsversuche zu kritisieren und sie durch einen weiteren zu ergänzen, muss daher nach Bedingungen systematischer Begründungsprobleme gefragt werden. Dazu sollen zunächst die vorhandenen Ansätze in einem weiteren Kontext geordnet werden. Dies ist schwierig, weil fast alle Ansätze mehr oder weniger singulär sind. Versucht man trotzdem, die Entwürfe zu typisieren, so zeigen sich – bei beherzter Sortierung – vier Basisstrategien (siehe dazu zum Beispiel Klein, 1976 und Shevrin, 1985): ➣ Eine Reihe von Autoren entwickelten den Pfad, den Freud und Hartmann angedeutet haben, weiter und verstanden Psychoanalyse als Normalwissenschaft, die wie alle Wissenschaften auch mit standardisierbaren Methoden und empirischen Begründungen von Theorien operiert beziehungsweise operieren muss (zum Beispiel Rapaport sowie Thomä und Kächele). ➣ Eine weitere Strategie definiert die Psychoanalyse als hermeneutische Wissenschaft, die aufgrund ihres Gegenstandes mit den interpreta11 Dahinter steht die Idee, dass jede Wissenschaft am Anfang chaotisch und disparat sei, dann aber im Zuge von Reifung zu einer einheitlichen Gestalt voranschreite. In dieser Perspektive wäre der Zustand der Psychoanalyse als »Unreife« einzustufen. Die unreflektierte Unterstellung einer Reifung zur Perfektion wird jedoch der Problemlage nicht gerecht (siehe unten). 12 Insofern kann es auch keine exklusive externe Beurteilung der Psychoanalyse geben. Tatsächlich geht manche Kritik, die an psychoanalytischen Theorien und Methoden geübt wurde und wird, von unangemessenen Prämissen aus (was nicht heißt, dass alle externe Kritik falsch ist). Die Ähnlichkeit in der Problemlage zwischen Psychoanalyse und Erkenntnistheorie ist kein Zufall (siehe unten).
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tiven Mitteln arbeitet, sodass sie keine definitiven und eindeutigen quantifizierbaren Ergebnisse hervorbringt und ihre Evidenzen daher auch über Konsensbildung und immanente Begründungen erreichen muss (etwa Lorenzer und Schafer). Andere versuchen, Psychoanalyse als »Sowohl-als-auch«-Wissenschaft zu begründen: Sie arbeite mit kausalen Erklärungen und (tiefen-)hermeneutischem Verstehen. Eine Variation davon ist die Konzeption der Psychoanalyse als Wissenschaft zwischen den Wissenschaften (so Strenger, Kuiper oder Mentzos). Eine weitere Strategie sieht die Psychoanalyse weder als eine normalwissenschaftlich-empirische noch als eine hermeneutische Wissenschaft. Stattdessen wird sie in ihrer Einzigartigkeit gesehen und daraus geschlossen, dass sie nicht durch externe Referenzen, sondern nur über ihre Eigenmittel definiert und kontrolliert werden kann (zum Beispiel Modell oder auf andere Weise Tress).
Zweifellos hat jede dieser Positionen nachvollziehbare Argumente für ihre Begründung der Psychoanalyse. Dennoch erscheinen sie zumindest prima vista unvereinbar. Die Unvereinbarkeit nimmt etwas ab, wenn man bedenkt, dass die Differenzen gelegentlich übertrieben und gepflegt werden.13 Dabei bleibt die Tatsache bestehen, dass innerhalb der Auseinandersetzungen selbst keine Möglichkeit besteht, die Kontroversen zu entscheiden. Ein »Superparadigma«, welches alle anderen in sich aufheben könnte, ist nicht in Sicht.14 13 Dies hängt – um vorzugreifen – nicht nur mit der »Binnenzentrierung« der jeweiligen Perspektiven zusammen, sondern auch mit der Notwendigkeit, in einem multiparadigmatischen Feld eine Position behaupten zu können (siehe unten). 14 Dazu müsste es eine eindeutige externe Referenz geben. Seit Kant ist klar, dass es sie nicht geben kann. Die Problematik eines fehlenden »Archimedischen Punktes« betrifft alle erkenntnistheoretischen Diskussionen. Jeder Anfang einer Begründung bleibt ein Stück weit arbiträr und dogmatisch. Lange Zeit haben Erkenntnistheorien versucht, einen unbezweifelbaren Ausgangspunkt zu finden. Bisher sind alle letztlich am »Fries’schen Trilemma« gescheitert – daran, dass Begründungen zuletzt entweder dogmatisch oder tautologisch argumentieren oder aber in einen regressus ad infinitum münden. Goedels »Unvollständigkeitstheorem« hat dies formallogisch bestätigt. Daher bleiben alle Theorien voraussetzungsvoll und defizitär – es gibt allerdings systematische Differenzen im Ausmaß und in den Auswirkungen dieser prinzipiellen Problematik (siehe unten).
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Wo immanent keine Lösung möglich ist, ist es sinnvoll, einen Bezugsrahmen zu wählen, der Differenzen nicht durch Entscheidungen nach einer Seite auflöst, sondern danach fragt, wie es möglich ist, dass so verschiedene Sichtweisen sinnvoll begründbar und kritisierbar sind. Um dies zu klären, ist es sinnvoll, den Begriff »Wissenschaft« genauer zu betrachten. Wenn von »›der‹ Wissenschaft« die Rede ist, wird zumindest implizit unterstellt, es gebe nur eine einzige, homogene Form der Reflexion, die diesen Titel verdient. Tatsächlich kann man objektive Erkenntnis gegen andere Formen von Realitätsverarbeitung (Glauben, Meinen und Fühlen) abgrenzen. Das bedeutet allerdings nicht automatisch, dass sie immer und überall identisch ist. Die Unterteilung in unterschiedliche Disziplinen ist zwar nicht immer sachlich begründet, aber es gibt gute sachliche Gründe für eine Differenzierung des Wissenschaftsbegriffs. »Wissenschaft« ist bei genauerem Hinsehen ein logisch gestuftes und differenziertes Feld. Der Begriff schließt unterschiedliche Referenzebenen ein: ➣ Ebene 1: die Ebene der Allgemeinheit, also der Unterscheidung von anderen Formen der symbolischen Reproduktion von Realität und der Merkmale, die alle Wissenschaften gemeinsam haben; ➣ Ebene 2: die Ebene der Besonderheit, das heißt der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Wissenschaften und der für sie typischen Merkmale; sowie ➣ Ebene 3: die Ebene der Einzelheit, die die Kennzeichen behandelt, die nur diese eine Wissenschaft betreffen. Mit Bezug auf diese Unterscheidung zeigt sich, dass die unterschiedlichen Strategien der Begründung der Psychoanalyse sich nicht notwendigerweise widersprechen. Ihre Argumente beziehen sich (und beschränken sich zumindest zum Teil) auf unterschiedliche Referenzebenen. Entsprechend mischen sich Stärken und Schwächen. Normalwissenschaftliche Argumente tendieren dazu, allgemeine Ansprüche an Theorien (wie Objektivität, Begründbarkeit und so weiter) mit einer bestimmten Methodologie zu verbinden (was eine Vermischung der Referenzebenen darstellt). Umgekehrt beziehen sich hermeneutische Positionen auf eine bestimmte Methodologie und tun sich schwer, dies mit der Ebene der Allgemeinheit in Verbindung zu bringen – ähnlich wie die »Sowohl-als-auch«-Überlegungen, die jedoch vermeiden, die Besonderheit der Psychoanalyse durch exklusiven Bezug auf eine Methodologie zu begründen. Hier wird die Beziehung der Ebenen zum Problem. Die »Weder-noch«-Sicht orientiert 292
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sich dagegen fast ausschließlich an Ebene 3 (und ignoriert die anderen Referenzebenen). In einer systematischen Perspektive gehören die verschiedenen Ebenen zusammen, weil sich in ihnen unterschiedliche Aspekte der Gesamtsituation der Psychoanalyse spiegeln. Psychoanalyse als Wissenschaft ist zugleich wie alle anderen, wie einige andere und wie keine andere: ➣ Als Wissenschaft gelten für die Psychoanalyse die allgemeinen Anforderungen, die an jede Wissenschaft gestellt werden. ➣ Als eine bestimmte Art von Wissenschaft hat Psychoanalyse ein theoretisches und methodologisches Profil, welches sie mit ähnlichen Wissenschaften teilt. ➣ Zugleich ist sie als Wissenschaft eine Singularität, die singuläre Merkmale und damit verbundene Problemlagen hat. Mit der Unterscheidung von Referenzebenen ist jedoch noch wenig über die Begründungsprobleme gesagt, die mit den Besonderheiten und der Einzigartigkeit der Psychoanalyse zusammenhängen. Die Differenzen zwischen unterschiedlichen Wissenschaften können empirisch mit einer Reihe von institutionellen Bedingungen zusammenhängen (siehe unten). Logisch bestimmt werden sie – wenn man daran festhält, dass Wissenschaft objektive Erkenntnis intendiert15 – nur mit den Anforderungen der Thematik begründbar. Insofern war Freuds Feststellung, dass seine Methoden mit der »Natur des Gegenstands« zusammenhängen, prinzipiell richtig. Eine genauere Bestimmung dieser »Natur« erweist sich jedoch als schwierig, wie die lange Geschichte erkenntnistheoretischer Auseinandersetzungen zeigt. Ein Lösungsversuch besteht in der Annahme, es gebe eine Realität mit einer Logik.16 Daraus wird der Schluss gezogen, es gebe auch 15 Die seit Kants Analyse unübersehbare Problematik, dass die Realität symbolisch nicht reproduziert werden kann und daher stets eine (neue) Wirklichkeit konstruiert wird (siehe oben), hat dazu geführt, dass die Hoffnung, überhaupt wahre Aussagen begründen zu können, vielfach aufgegeben worden ist. »Postmoderne« Diskurse gehen fast durchgängig davon aus, dass Wahrheit immer eine – kontext- oder systembedingte – Konstruktion und daher relativ ist. Das stimmt prinzipiell. Aber zugleich muss jede kritische Reflexion von qualitativen Differenzen im Wahrheitsgehalt von Aussagen und ihrer Unterscheidbarkeit ausgehen – reine Relativität negiert sich selbst. Dann stellt sich jedoch erneut die Frage, wie – relative – Erkenntnis begründbar ist. 16 Dieser Pfad ist intuitiv naheliegend und ist in der Entwicklung der Erkenntnistheorie oft selbstverständlich beschritten worden. Mit dem Aufkommen des modernen Mo-
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nur eine Methodologie und eine Art der Theorie. Dies identifiziert jedoch eine abstrakte Prämisse von Ebene 1 (dass es Realität gibt und dass sie intelligibel ist) mit einer bestimmten Methodologie, also einer bestimmten Variante auf Ebene 2. Damit bietet sie keine Basis für die Erklärung von Differenzen und tendiert dazu, sie zu verleugnen. Andererseits sind die Alternativen bisher wenig überzeugend. Seit Vico sind immer wieder erkenntnistheoretische Gegenentwürfe vorgelegt worden. Dazu gehört auch die Konzeption einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik. Dieser vor allem mit den Namen Dilthey, Windelband und Rickert verbundene Entwurf basiert auf der Vorstellung einer zweigeteilten Welt. Dilthey (1970 [1910]) unterscheidet die Natur als Gegebenheit, deren Funktionsweise erklärbar ist, die selbst jedoch unverständlich bleibt, von den Resultaten humaner Aktivitäten, die prinzipiell mit Sinn verbunden sind. Dieser Sinn ist verständlich, weil jeder Akteur, der selbst sinnhaft handelt, einen unmittelbaren Zugang zum Sinn fremder Aktivitäten hat. Allerdings bedarf systematisches Verstehen – anders als intuitives – eines elaborierten Interpretationsverfahrens, das heißt hermeneutischer Methoden. Während die hermeneutischen Methoden inzwischen gut etabliert sind, gilt die Dilthey’sche Realitätskonzeption als gescheitert. Tatsächlich ist eine einfache Trennung in zwei Welten nicht überzeugend. Es gibt zu viele grenzüberschreitende Themen und Interaktionen, die mit diesem Modell nicht abgebildet werden können. Zudem konnte die »Zwei-Welten«- beziehungsweise »Zwei-Methoden«-Theorie die Frage, wie denn diese beiden (Teil-)Welten zueinanderstehen, nicht angemessen behandeln. Eine gegenstandslogische Begründung kann daher nicht von einer binären Schematisierung in zwei empirische Welten ausgehen. Die Differenzen dells einer empiristischen Einheitswissenschaft und deren enormem Erfolg im Bereich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hat sich dieser Gedanke präzisiert (Galilei: »Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben«). Allerdings sind bisher alle Versuche, dieses Modell definitiv zu begründen, gescheitert. Das Scheitern des Logischen Positivismus hat gezeigt, dass das Projekt aus prinzipiellen Gründen undurchführbar ist. Poppers Rettungsversuch des Projekts durch die Umstellung von Verifikation auf Falsifikation vermeidet die Sackgasse einer definitiven Behauptung von Wahrheit. Sein Umgang mit der hier angesprochenen Thematik bleibt jedoch unbefriedigend, weil er zwischen der dogmatischen Behauptung einer einheitlichen Logik und Methodologie und einer nicht konsequent durchgeführten Vorstellung einer »Drei-Welten«-Realität schwankt (Popper, 1984 [1972], 2000 [1962]).
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müssen abstrakter bestimmt werden, indem man von logischen Differenzen ausgeht, die empirisch nicht festgelegt sind, sondern variieren können – also nicht von »Natur«, »Psyche«, »Gesellschaft« oder anderen empirischen Sachverhalten, sondern von den darin jeweils spezifischen Typen von Realitätslogik. Man erspart sich auf diese Weise die Konfrontation von unterschiedlichen Welten, kann aber dennoch von Differenzen ausgehen und ihre Folgen diskutieren. Auf der Ebene der Logik kann man in Anknüpfung an die Diskussionen, die zur Gegenstandslogik geführt wurden, unterscheiden zwischen Nomologie (also »Gesetzmäßigkeit«, das heißt einer Realität, die feststeht und immer und überall gleich ist) und Autopoiesis (das heißt wörtlich: »Selbsterzeugung«, also einer Logik, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich eigenlogisch und damit immer verschieden entwickelt).17 Auf der Ebene der logischen Differenz lassen sich die allgemeinen Merkmale der Realitätstypen und die Konsequenzen, die sich daraus für Theorien und Methoden ergeben, unterscheiden. Idealisiert lassen sich die zentralen Merkmale von Nomologie so beschreiben: ➣ Nomologie ist eine geschlossene, nicht beeinflussbare Welt für sich, in der alles nach feststehenden Regeln abläuft. Das bedeutet auch, dass jede Art der Reflexion der Sache äußerlich bleibt und keinen Einfluss auf ihre Logik hat. Daher lassen sich nomologische Sachverhalte auch problemlos aus ihren empirischen Kontexten lösen, analytisch zerlegen und experimentell traktieren. ➣ Jeder Einzelfall enthält die ganze Logik eines Sachverhalts; in allen Einzelfällen zeigt sich die gleiche Logik. Die Ergebnisse methodi17 Diese Begriffe stammen aus unterschiedlichen Diskursen. Im »geisteswissenschaftlichen« Kontrapunkt zum Positivismus wurde zwischen »Nomothetik« und »Ideografik« unterschieden. Diese Unterscheidung bezieht sich auf unterschiedliche Methodologien (Bestimmung von Gesetzen – Beschreibung von Eigenheit). In die Gegenstandslogik übersetzt, müsste man von »Nomologie« und »Ideologie« sprechen. Der zweite Begriff ist so massiv besetzt, dass es schwerfällt, ihn gänzlich anders zu verwenden. Der Begriff »Autopoiesis« stammt ursprünglich aus der Biologie und wurde von Maturana und Varela dazu verwendet, die Fähigkeit zur Selbstreproduktion von Zellen zu charakterisieren. Von dort hat er sich vor allem in der Systemtheorie etabliert und bezeichnet dort vor allem operative Geschlossenheit, Selbstreferenz und Selbstorganisation von Systemen. Er passt als Gegenpol zur Nomologie, weil die wörtliche Bedeutung (»Selbsterzeugung«) noch über die bloße »Eigenheit« den Prozesscharakter dieses Realitätstyps betont.
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scher Behandlung des Gegenstandes lassen sich deswegen ohne Informationsverlust algorithmisch reduzieren, das heißt, in Form eines unter angebbaren Bedingungen alternativlos gültigen Kalküls zusammenfassen. Aus Kalkülen lassen sich denotative Theorien entwickeln – Theorien, die mit eindeutig definierten Symbolen (das heißt: Zeichen) sowie einer präzisen und hochselektiven Grammatik operieren, entsprechend eindeutig formuliert sind und ein eindeutiges Ergebnis präsentieren. Denotative Theorien sind kontext- und verwendungsunabhängig – wer den Prämissen folgt, kommt immer und überall, unabhängig von Kontextvariablen, zu gleichen Ergebnissen. Das Gleiche gilt für die praktische Nutzung des damit verbundenen – festliegenden – Möglichkeitshorizonts.
Diese Merkmale sind Ergebnisse der unveränderlichen Regelmäßigkeit. Man könnte pointiert sagen: Nomologie ist als Produkt gegeben; sie kann kontemplativ bedacht und instrumentell genutzt, aber nicht beeinflusst werden. Davon unterscheidet sich autopoietische Logik in jeder Hinsicht: ➣ Autopoiesis ist nicht gegeben, sie entsteht, entwickelt und erhält sich durch die Interaktion interner Komponenten im Kontakt mit ihrer Umwelt. In Bezug auf diese ständige Bewegung sind begriffliche Unterteilungen und Zuordnungen Artefakte, mit denen die komplexe Dynamik der Realität festgestellt wird und nur begrenzt abbildbar ist. ➣ Erkenntnis, die sich auf die Autopoiesis sozialer und psychischer Realität stützt, ist selbstreflexiv. Ihre Intentionen und Mittel sind Teil der Realität, die sie untersucht; sie teilt und transportiert daher ein Stück weit die Logik ihres Themas. Methodisch kontrollierter und theoretischer Umgang mit autopoietischer Realität ist zugleich eine Intervention in den laufenden Prozess, wodurch bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten unterstützt, andere verhindert werden. ➣ Da jeder autopoietische Prozess eine Welt für sich ist, muss jeder Fall für sich behandelt werden. Generalisierungen bringen Abstraktionsverluste mit sich – je mehr Fälle erfasst werden, desto weniger sind damit Einzelfälle charakterisierbar. Die Heterogenität der Einzelfälle hat zur Folge, dass Generalisierungen keine eindeutige Logik ergeben, sondern ein (mehr oder weniger) strukturiertes Feld von Optionen repräsentieren. Daher enthalten sie im Wesentlichen Interpretationsmöglichkeiten und 296
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-anleitungen, die noch nichts über den Einzelfall sagen, sondern dafür konkretisiert und übersetzt werden müssen. Auf dieser Basis entstehen konnotative Theorien, die mit Begriffen18 und einer variablen Grammatik operieren müssen. Ihre zentralen Leistungen bestehen darin, die im Einzelfall geltenden singulären Bedingungen hervorzuheben und sie zugleich mit den typischen Mustern in Verbindung zu halten. Diese Balance zwischen Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelfall bleibt prekär, weil sie keinen Halt in einem fixierten Gegenstand finden kann und weil begriffliche Präzision und theoretische Flexibilität sowie die Reliabilität der Informationen und die Abbildung der Komplexität des Prozesses nicht zugleich optimiert werden können. Konnotative Theorien sind ein Potenzial, welches erst durch Anwendung produktive (oder unproduktive19) Leistungen erbringt. Zum Thematisierungsvermögen der Theorien muss daher als entscheidender Faktor die praktische Theoriekompetenz hinzukommen. Sie muss aus den Möglichkeiten des Theoriefelds auswählen und sie sinnvoll anwenden. Analoges gilt für praktische Konsequenzen: Auch hier bedarf es einer Auswahl von Zielen, eines Abwägens von Pros und Contras und pragmatischen Geschicks in der Umsetzung, also einer spezifischen Praxiskompetenz. Dabei sind konnotative Theorien humaner Realität Teil dessen, was sie untersuchen: Ihre Mittel stammen aus der Realität, die sie behandeln, und ihre Ergebnisse wirken auf diese Realität ein. Sie sind, so gesehen, nicht von ihrem Thema getrennt, sondern ein Teil und eine Sonderform von dessen Autopoiesis. Sie setzen sie fort und verändern sie, wobei sie in gewisser Weise deren Zustand (inklusive der damit verbundenen Restriktionen und Verzerrungen) spiegeln.
Autopoiesis ist logisch gesehen reiner Prozess, durch den ständig neue Möglichkeiten entstehen (und andere Optionen »vernichtet« werden). 18 Im Unterschied zu Zeichen sind Begriffe interaktiv und beweglich. Sie können daher mögliche Differenzen aufnehmen und verarbeiten, wobei sie deren Identität und ihre Nicht-Identität erhalten. 19 Die dogmatische Anwendung einer guten Theorie reduziert deren Leistungsvermögen, während umgekehrt intelligenter Gebrauch einfacher Vorstellungen produktiv sein kann.
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Ihre Reflexion ist erschwert durch die Eigenheiten dieses Prozesses und durch ihre Verstricktheit in diesen Prozess. Reine Nomologie existiert nur im Lehrbuch und im Labor – empirisch ist Nomologie eingebunden in Systemzusammenhänge mit mehr oder weniger autopoietischen Anteilen. Was beispielsweise als »Klima« bezeichnet wird, entsteht aus dem Zusammenspiel von wenigen, gut bekannten nomologischen Teilprozessen – aber dieses Zusammenspiel ergibt einen Möglichkeitshorizont, der zwar keine Überraschungen, aber unvorhersehbare Entwicklungen impliziert. Reine Autopoiesis ist ebenfalls ein logisches Kunstprodukt. Empirische Realität ohne Regelmäßigkeit ist nicht möglich. Singularitäten können nur zustande kommen, wenn es typische Muster gibt, die sie variieren können; sie haben Gemeinsamkeiten und sind eingebettet in Zusammenhänge, die neben Kontingenzen auch Festlegungen enthalten. Insofern setzt Autopoiesis Nomologie als »Baumaterial« voraus (aber nicht umgekehrt20). Unabhängig davon lässt sich feststellen, dass empirische Realität logisch komponiert ist, also ein Spektrum von unterschiedlichen Kombinationen von Nomologie und Autopoiesis darstellt. Wo Theorien dem gerecht werden, hat man es entsprechend mit Hybridtheorien zu tun, in denen sich denotative und konnotative Anteile auf spezifische Weise mischen. Für konnotative Theorien (beziehungsweise die konnotativen Anteile von Theorien) ergeben sich in jedem Fall eine Reihe von Folgeproblemen. Zunächst können sie ihr Thema nicht abschließen – autopoietische Realität entwickelt sich emergent weiter und erscheint in ständig verschiedenen und immer neuen Formen. Zugleich sind die Teilprozesse, aus denen autopoietische Realität komponiert ist, heterogen. Das kann bedeuten, dass jeder für sich einer besonderen Logik folgt und dafür spezifische Kompetenzen verlangt. Eine Untersuchung der Familie in ökonomischer Perspektive arbeitet zwangsläufig mit anderen Begriffen und Hervorhebungen als eine soziologische Untersuchung etwa ihrer Sozialisationsleistungen 20 Daraus ergibt sich eine spezifische methodologische Asymmetrie: Auch autopoietische Realität kann nach den Regeln quantifizierender Methoden sinnvoll behandelt werden, wo sie regelmäßige Züge hat. Dies kann eine wichtige Ergänzung und Kontrolle von immer problematischen und in ihrer Reichweite limitierten qualitativen Aussagen sein. Dagegen sind interpretative Methoden prinzipiell ungeeignet, nomologische Prozesse zu erfassen. Ihre Stärke liegt im Erfassen von Bewegung und kontingenten Zusammenhängen. Zwar werden auch im Umgang mit nomologischen Sachverhalten interpretativ Entscheidungen getroffen, aber die Kriterien dafür sind denotativ (siehe oben).
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oder eine Analyse ihres psychodynamischen Profils. Dies wiederholt sich innerhalb der Perspektiven – ein Funktionalist sieht Sozialisationsleistungen anders als ein Interaktionist oder ein Systemtheoretiker. Das damit verbundene Problem ist das der multiplen Thematisierbarkeit komplexer Autopoiesis: Sie kann und muss unterschiedlich thematisiert werden. Während also denotative Theorien für isolierbare Einzelheiten cum grano salis eine perfekte Form finden können und damit auch entscheidbar ist, welche Aussagen konkurrenzlos gültig sind,21 bleiben konnotative Theorien und ihre Befunde immer unvollständig und vereinseitigt: Keine Perspektive kann alle möglichen und wichtigen Aspekte zugleich und gleich gut erfassen. Je besser eine Theorie einen bestimmten Aspekt erklären kann, desto schlechter ist sie imstande, andere zu erklären. Außerdem zeigt sich, dass es für Komplexität keine perfekte Thematisierungsform gibt, sondern einen Thematisierungskorridor mit unscharfen Grenzen. Dies alles bedeutet, dass es legitime Alternativen geben kann, die anders konnotieren oder gewichten. Aus diesem Grund gibt es nicht eine perfekte konnotative Theorie, sondern unterschiedliche Theorien mit unterschiedlichem Leistungsprofil22 – nicht eine Theorie der geschichtlichen Entwicklung, eine Theorie der Familie, eine Theorie der Psyche, sondern mehrere. Multiple Thematisierbarkeit erschwert den Vergleich von und den Kontakt zwischen verschiedenen Theorieangeboten, weil sie eigenlogisch operieren und konkurrieren, ohne sich auf verbindliche Evaluationskriterien einigen zu können. Davon nicht zu trennen sind die Probleme des Verhältnisses von Theorie und Praxis: Denotative Theorien geben vor, was wie gemacht werden 21 Es herrscht – nach dem offenkundigen Scheitern aller Versuche, die Wahrheit von Erkenntnissen definitiv festzustellen – erkenntnistheoretisch weitgehend Konsens darüber, dass Theorien immer Konstruktionen sind. Dies ist jedoch eine Feststellung auf Ebene 1(Allgemeinheit) – auf Ebene 2 gibt es erhebliche Differenzen sowohl in Bezug auf die Art der Konstruktion als auch in Bezug auf die Reliabilität ihrer Aussagen. Während ausgereifte denotative Theorien konkurrenzlose Gültigkeit erreichen können, bleiben konnotative Theorien instabil und müssen mit legitimen Alternativen leben. 22 Dies hat auch zur Folge, dass konnotative Theorien nicht einfach richtig oder falsch sind. Sie können Richtiges in falscher Form und vermischt mit Falschem enthalten. Dies kann mit Umweltrestriktionen, mit Kapazitätsgrenzen, aber auch mit der Widersprüchlichkeit der Sache selbst zusammenhängen. Gerade die Entwicklung von Freuds Theorie ist ein Beispiel dafür, wie Reflexion Grenzen überschreitet, obwohl und vor allem weil sie zugleich in ihren Möglichkeiten begrenzt ist.
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kann, sind also auch praktisch eindeutig. Konnotative Theorien verdeutlichen Optionen und sind dadurch schon eine Intervention in die Entwicklung; sie verlangen jedoch angesichts von Alternativen Verständigung über Ziele und Mittel im Plural, da die Komplexität autopoietischer Prozesse unterschiedliche Ziele impliziert, die sich unter Umständen widersprechen. Daher sind mit den Möglichkeiten, die konnotative Theorien eröffnen, letztlich politische Entscheidungen (zum Beispiel hinsichtlich der Abwägung von unterschiedlichen Interessen) verbunden, die aus ihnen selbst nicht eindeutig ableitbar sind.23 Aber selbst wenn klare Zielvorstellungen vorhanden und die Mittel dazu bestimmt sind, ergibt sich das Problem, dass Zielvorstellung und -realisierung nicht nur weit auseinander liegen, sondern etwas prinzipiell anderes sind. Es bedarf spezifischer Kompetenzen der Umsetzung, die von theoretischen Kompetenzen ein Stück weit unabhängig sind. Diese Praxiskompetenz besteht vor allem in der Fähigkeit, im laufenden Prozess das aktuelle Geschehen richtig einzuschätzen und spontan angemessen und zielorientiert zu reagieren. Praktische Kompetenzen können gelernt werden, gehen jedoch nicht aus der Theorie hervor, genauer: Es bedarf einer eigenen Theorie der Praxis, um sie zu erfassen.24 Davon unabhängig – aber ebenso heikel – ist das Problem, dass die Intervention in einen autopoietischen Prozess wegen dessen Eigendynamik immer mit unerwarteten Effekten und Nebenwirkungen sowie – wo sie den Status quo destabilisiert und/oder gegen relevante Interessen verstößt – mit Widerspruch und Widerstand rechnen muss.25 Ganz abgesehen davon, dass Vorstellungen darüber, was eine Intervention bewirkt, falsch oder unzulänglich 23 Auch denotative Theorien bringen Ergebnisse hervor, die in autopoietische Prozesse intervenieren und sie verändern – jede technische Erfindung bringt neue Entwicklungschancen und -risiken mit sich. Der Unterschied liegt darin, dass dies sekundäre Effekte eines instrumentellen Produkts sind, die sozial und psychisch importiert werden. Dagegen sind konnotative Theorien – Vorstellungen über Gesundheit, Erziehung, Politik – immer schon Teil des autopoietischen Gesamtprozesses und setzen dessen Selbststeuerung auf spezifische Weise fort. 24 Dass gute Theoretiker noch keine guten Praktiker (und vice versa) sind, gilt überall. Hier kommt jedoch hinzu, dass Praxis eine eigene Logik besitzt und daher eine eigene »Kunst« ist. 25 Normalerweise würde niemand einem Chemiker die Richtigkeit seiner Formeln absprechen. Dagegen mischen sich Psychoanalytiker, Soziologen oder Politologen ein, kollidieren mit Alltagsbewusstsein und herrschenden Ideologien und lösen entsprechende Reaktionen aus.
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sein können, hängt die Art, wie externe Impulse verarbeitet werden, von der situativen Dynamik ab, die nur begrenzt erfasst und antizipierbar ist. Anders gesagt: Der Umgang mit autopoietischer Realität erlaubt nur begrenzt die Ausbildung von stabilen und verlässlichen Routinen. Stattdessen entwickeln sich unterschiedliche Konzepte, die jeweils mit Vor- und Nachteilen verbunden sind, also Theorie- und Praxisfelder mit konkurrierenden Angeboten. Das hat unter anderem zur Folge, dass sich der Aneignungs- und Entwicklungsprozess individualisiert – jeder Akteur muss einen eigenen Pfad suchen. Dass dabei das Rad immer wieder neu erfunden wird, ist ebenso eine logische Konsequenz wie eine Tendenz zur Übertreibung der eigenen Originalität. Angesichts vieler anderer Möglichkeiten muss der eigene Pfad verteidigt werden – oft durch erfolgreiche Überschätzung des eigenen und Abwertung von anderen Wegen. Unsicherheit und Konkurrenz erzeugen zudem einen erheblichen Legitimationsdruck. Während denotative Theorien Prämissen und Verfahren als gegeben voraussetzen und sich – solange nicht gravierende Probleme auftauchen – nicht mit ihnen beschäftigen, sind konnotative Theorien ständig mit Bestands- und Legitimationsproblemen beschäftigt. Sie bleiben eine Dauerbaustelle und müssen viel Energie in Begründungen und Selbstvergewisserungen investieren. In dieser Perspektive wird zunächst verständlicher, woher bestimmte Symptome stammen, die für konnotative Theorien kennzeichnend sind. Dass sie unscharf bleiben und ständig um ihre Balance gerungen werden muss, liegt nicht an der Unfähigkeit der Akteure, sondern an der Unmöglichkeit, Themen definitiv abzuschließen. Dass es sie in vieler Hinsicht im Plural gibt, liegt daran, dass kein »Superparadigma« alle Leistungen der Subparadigmen gleich gut erbringen kann und kein Subparadigma imstande ist, die volle Komplexität zufriedenstellend zu behandeln – der Spezialisierungsgewinn spezieller Sichtweisen führt zu Unzulänglichkeiten in Bezug auf andere Themenaspekte. Und dass die damit verbundene Praxis nur begrenzt formalisierbar und technisierbar ist, folgt ebenso aus der Logik der Intervention in autopoietische Prozesse wie die Wahrscheinlichkeit nicht-intendierter und erratischer (Neben-)Wirkungen.
Institutionalisierung von Theorie und Praxis Der theoretische wie der theoriebasierte praktische Umgang mit autopoietischer Realität ist also riskant. Diese der Sache selbst immanenten – primä301
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ren – Risiken führen zu sekundären Risiken. Sie hängen damit zusammen, dass jede Art von Theorie und Praxis eine institutionelle Basis braucht. Sie müssen sozial organisiert werden, um wirksam und entwicklungsfähig zu werden. Diese soziale Form muss zwei grundlegende Aufgaben erfüllen: Sie muss Theorie und Praxis ermöglichen und sie muss dazu selbst funktionsfähig sein. Der produktive Prozess von Institutionen erbringt Leistungen;26 der reproduktive Prozess erhält die Rahmenbedingungen, unter denen er stattfinden kann. Auch in dieser Hinsicht gibt es gravierende Unterschiede zwischen den verschiedenen Theorietypen. Das Besondere von denotativen Theorien und die mit ihnen verbundene instrumentelle Praxis ist, dass beide Prozessdimensionen logisch getrennt sind. Wenn in einem physikalischen Labor das Betriebsklima schlecht ist, kann das die Produktivität beeinflussen, hat aber keinen Einfluss darauf, was richtig oder falsch ist – die Logik der Sache wird von der institutionellen Dynamik nicht beeinflusst. In Bezug auf konnotative Theorien und die reflexive Praxis liegen die Dinge komplizierter. Dies hängt mit der angesprochenen Interferenz von Thematisierung und Thema zusammen. Die Autopoiesis der Institution färbt auf den produktiven Prozess ab – und umgekehrt. Für das, was in der Schule gelernt wird, ist bekanntlich nicht nur der offizielle Lehrplan entscheidend. Schulische Sozialisation hängt davon ab, wie die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern psychodynamisch aufgeladen ist. Dazu tragen das Betriebsklima in der Schule, der normative und ideologische Druck, unter dem die Lehrer stehen, die pädagogische Leitphilosophie der Gesellschaft und so weiter bei. Aber auch umgekehrt färbt die Art der Praxis unter Umständen auf die Entwicklung der Institution und der Akteure ab – wenn man dem Volksmund glauben will, haben etwa Pädagogen mit ihrer Elternposition besondere Probleme. Das macht deutlich, dass es in Institutionen, die autopoietische Realität verstehen und steuern wollen, eine irreduzible Kommunikation zwischen dem, was an produktiven Leistungen möglich ist, und dem reproduktiven Prozess der Institution gibt. Produktiver und reproduktiver Prozess sind sich ähnlich und lassen sich nicht trennen. Dies wirkt sich auf die Entwicklung der Institution aus. Man kann – vereinfacht – institutionelle Entwicklungen 26 Genauer gesagt: Aktivitäten, die intern und/oder extern als Leistung zugerechnet werden (wobei sich die Kriterien für Zurechnungen wie auch deren Einschätzung unterscheiden können).
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in spezifische Phasen unterteilen. Am Anfang steht die Pionierphase von Institutionalisierung. In dieser Phase ist das Thema nur in ersten Umrissen erkennbar, und die Formen der Praxis sind noch limitiert und schwankend.27 Auch die sozialen Formen sind noch wenig elaboriert; in jeder Hinsicht dominieren Vorläufigkeit, Labilität und Improvisation auf der Basis weitgehend informeller Beziehungen. Die Pionierphase ist zudem eine Zeit für Akteure, die in bestehenden Verhältnissen nicht vollständig gebunden und daher offen für Grenzüberschreitung sind. Dieser Typus des Pioniers hat (dafür) keine »Fachausbildung«, ist eher Einzelkämpfer mit einer gewissen Exzentrik und arbeitet in einem wenig elaborierten Kontext. Diese prekäre Situation wird dabei oft abgesichert mit idealisierenden Selbst- und Fremdeinschätzungen und deren Derivaten (wie Sendungsbewusstsein, hochgesteckte Ziele, massive Abgrenzung gegen die profane Umwelt und so weiter). In dieser Phase leben Institutionen sozusagen von der Hand in den Mund, leben von persönlichen Investitionen der Pioniere und bewegen sich auf dünnem Eis. Entsprechend erratisch ist oft ihre Frühgeschichte. Wenn Institutionen diese Phase überstehen und sich erfolgreich im Kontext etablieren, ändern sich innere wie äußere Verhältnisse. Aus der Pionierphase wird eine Phase der Expansion nach außen und der Konsolidierung nach innen. Dabei wird eine Institution – unter Umständen ambivalent – attraktiv, weil sie noch den Status des Neuen (und noch nicht den des Normalen) hat. Dadurch zieht sie unter Umständen eine ganze Reihe von Sekundärinteressen auf sich. Sie wird zum Thema von Auseinandersetzungen und verspricht neue Möglichkeiten. Dies kann so etwas wie eine Goldgräberstimmung auslösen. Dadurch stoßen in der Expansions- und Konsolidierungsphase zu einer sozialen Bewegung aus allen Richtungen dynamische Akteure, aber auch Abenteurer aller Art dazu. Gleichzeitig kommt es – in einer parallelen, aber auch gegensätzlichen Entwicklung – zu Strukturbildungseffekten. Das betrifft zunächst die Praxis selbst: Es entwickeln sich schon durch Wiederholungen im Verlauf der Zeit typische Muster, die gegenüber möglichen Alternativen durch Gebrauch und Akzeptanz an Bedeutung gewinnen. Es verdichten sich die Aktivitäten, das Praxis-Paradigma expandiert – mit Hilfe konsolidierter Paradigmen lassen sich neue Zuständigkeitsbereiche im Einklang mit den Kernbereichen gewinnen, während sich zugleich ein stabiler Kern heraus27 Siehe zur Pionierphase der Psychoanalyse die ebenso scharfsinnige wie lebhafte Schilderung von Ferenczi (1982 [1910]).
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bildet. Ähnliches gilt auch für die soziale Struktur: Die improvisierten, beziehungsgebundenen Formen der Integration werden ersetzt durch geordnete Formen der Kommunikation, formalisierte Beziehungen. Und es kommt zu einem Generationswechsel: Benötigt werden organisationskompatiblere, stärker disziplinierte und mit dem kognitiven und praktischen Kern identifizierte Mitglieder – Max Weber (1964 [1922]) nannte diese Entwicklung »Veralltäglichung des Charismas«. Diese Phase mündet in einen Prozess der Normalisierung. Das bedeutet vor allem, dass die Institution einerseits in den Kontext stabil integriert ist, dass sie andererseits im »Normalbetrieb« läuft. Der institutionelle Prozess ist klar definiert und abgegrenzt, funktioniert auf der Basis von elaborierter Organisation und Routine. Es gibt also eine gültige Themendefinition, eine standardisierte Sozialstruktur (von der Kleiderordnung bis zur Machtverteilung) und eine mehr oder weniger gültige kognitive Ordnung (das heißt geteilte Interpretationen und Legitimationen). Schließlich stabilisiert sich die Beziehung zur Umwelt – was auch heißen kann, dass prekäre und problematische Beziehungen faktisch geltend und als Orientierung genutzt werden. In einer solchen Welt haben Pioniere kaum Platz, für Abenteurer ist sie nicht attraktiv. Sie werden abgelöst durch den Typus des Mitglieds mit einer Normalbiografie, mit geregelter Ausbildung und stabil definiertem Status. »Normalzustand«28 heißt also: ➣ Es gibt ein eingespieltes Verhältnis zur Umwelt, also einen stabilen Sozialstatus, einen geregelten Austausch und eine funktionale Einordnung (inklusive der damit verbundenen Probleme). ➣ Es gibt einen stabilen produktiven Prozess, das heißt, die Leistungen (inklusive der latenten Funktionen) sind in Praxisregeln gefasst und routiniert. ➣ Es gibt einen funktionalen reproduktiven Prozess, der die Aufrechterhaltung der Institution besorgt, indem Mitglieder ausgewählt und sozialisiert werden, Interaktionsprozesse reguliert, Entscheidungsmodi festgelegt, kurz: die Innenwelt hergestellt und erhalten wird. 28 Auch dies ist eine idealisierte Beschreibung. Kein Normalzustand ist von endloser Dauer. Institutionen und ihr Umfeld entwickeln sich ständig weiter (sodass der Normalzustand eigentlich ein ständiger Prozess der Adaptation und Assimilation ist). Insofern sind sie ständig in Bewegung. Gleichzeitig schwankt Normalität immer um ein bestimmtes Funktionsniveau. Dies wird bestimmt von den vorhandenen Möglichkeiten und hängt nicht zuletzt von den mitgeschleppten und importierten Problemen und Konflikten ab.
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➣
Daraus ergibt sich insgesamt ein institutionelles Gleichgewicht, welches neben den manifesten auch latente Sinnzusammenhänge (auch das, was sich im »Untergrund«, im Hintergrund und unabhängig von den offiziellen Intentionen abspielt) einschließt.
Betrachtet man konnotative Theorien und die mit ihnen operierende Praxis in diesem Zusammenhang, so wird ein Kernproblem ihrer Institutionalisierung deutlich: die Schwierigkeit, eine stabil funktionierende Normalität zu entwickeln. Dies liegt vor allem daran, dass deren Voraussetzungen – Routinen, Arbeitsteilung, Technisierung, Trennung von produktivem und reproduktivem Prozess – nicht oder nur beschränkt hervorgebracht oder genutzt werden können. Wo denotative Theorien und instrumentelle Praxis sachlich wie sozial bis zum erreichbaren Perfektionsgrad reifen können (also die Problemlagen der Pionierphase definitiv hinter sich lassen), bleiben konnotative Theorien und die mit ihnen verbundenen Formen reflexiver Praxis dauerhaft mit ihrer inneren und äußeren Balance beschäftigt und chronisch instabil. Das bedeutet nicht, dass sie sich nicht weiterentwickeln. Aber ein besseres Problemverständnis, elaboriertere Formen der Praxis und eine differenziertere Sozialorganisation führen nicht unbedingt zu Entlastung durch Routinebildung, sondern erschweren deren Entwicklung. Während in der Pionierphase also mehr oder weniger naive Gewissheiten verwendet werden können, bedeutet Reifung hier, dass die Abgründe erst richtig sichtbar werden, sodass primitive Bewältigungstechniken obsolet werden. Jeder Versuch, dem gerecht zu werden, reproduziert in gewisser Weise die Problemlagen – je mehr Wissen und Können vorhanden ist, desto sichtbarer werden die Anforderungen von Theorie und Praxis, desto mehr Komplexität muss institutionell gehalten werden. Die Last des Wissens und der Verantwortung nimmt zu und kann ohne das Risiko, hinter den erreichten Stand an Wissen und Möglichkeiten zurückzufallen, nicht neutralisiert werden. Unabhängig davon haben die Charakteristika von Theorie und Praxis die Konsequenz, dass dauerhaft mit Unzulänglichkeiten und Vorläufigkeiten gearbeitet werden muss. Dies lässt sich nicht stabil und zufriedenstellend institutionalisieren. Aus diesem Grund entwickelt sich in diesem Zusammenhang auch keine institutionelle Normalität, sondern das, was Goffman (1967 [1963]) als phantom normalcy beschrieben hat – eine Simulation von Normalität, die auf der Ausblendung von Alternativen, auf der Überschätzung der Angemessenheit der vorherrschenden Theorie und Praxis basiert und basieren muss, um auf diese Weise überhaupt handhab305
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bar zu sein. Phantom normalcy bedeutet, dass die Institution sich entwickelt, dabei aber chronisch bestimmte Züge der Pionier- beziehungsweise Konsolidierungsphase – inklusive der ständigen Unruhe – beibehält. Oder, mit Max Weber: »Es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist« (1968b, S. 57).29
Psychoanalyse Die bisherigen Überlegungen bezogen sich nicht direkt auf die Psychoanalyse, sondern auf einen bestimmten Typ von Theorie und Praxis, also auf die oben genannte Ebene 2 von Wissenschaft. Wechselt man zu Ebene 3, so lässt sich feststellen, dass die bisher beschriebenen Merkmale für die Psychoanalyse auf besondere Weise und in besonderem Ausmaß gelten. Sie behandelt Themen, die auch in liberalisierten Gesellschaften tabuisiert bleiben, weil sie Status und Selbstdefinition von Personen tangieren. Sie arbeitet mit Methoden, die, bezogen auf die gesellschaftliche Normalität, nicht nur prinzipiell kritisch sind, sondern auch als normverletzend intrusiv und asymmetrisch gelten müssen. Ihre Aktivitäten sind hochvoraussetzungsvoll und riskant, und sie entwickelt dazu Vorstellungen, die zwangsläufig spekulativ und exzentrisch wirken. Unabhängig davon ist der Zugang zu unbewusster Psychodynamik nicht nur durch Zugangssperren erschwert, sondern auch dadurch, dass sie sich in den Formen diskursiver Symbolik nur begrenzt abbilden lässt. Unbewusstes bewusst zu machen, ist per se eine Paradoxie im wörtlichen Sinn: »außerhalb der Doxa«. Einige Aspekte der Entwicklung der Psychoanalyse lassen sich in diesem Zusammenhang interpretieren: so beispielsweise das Problem der paradigmatischen Geschlossenheit. Die zu Beginn beschriebene Entwicklung psychoanalytischer Selbstinterpretationen zeigt einen Weg von einer wenig begründeten Gewissheit bei Freud über Dogmatisierungsversuche bis zur Einsicht in die Komplexität des Paradigmas und zu einer – mal besser, 29 Anzumerken ist, dass Weber damit die Wissenschaften meinte, deren Thema sich durch historischen Wandel ständig ändert. Es ist jedoch nicht nur die Veränderung, es die Logik der Sache, die Theorie und Praxis nicht zur Ruhe kommen lassen. Daher lässt sich das Bild auf alle Wissenschaften anwenden, die sich mit autopoietischer Realität beschäftigen – und auch auf Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien, die sich ebenfalls mit einer spezifischen Art von autopoietischer Realität (Erkenntnis) beschäftigen.
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mal schlechter – gelebten Pluralität mit Dauerdiskussionen auf der Suche nach einem common ground. Institutionstheoretisch entspricht dies einer Entwicklung vom Pionierstadium (mit ihren Vorläufigkeiten und Unzulänglichkeiten) über Konsolidierungsbemühungen (durch Festlegung und Abgrenzung) bis zur instabilen Normalität des ständigen Ringens um Identität. Die Möglichkeit von Pluralität und Dissens ist also ein Zeichen von »Reifung« – einer Reifung, die jedoch die institutionelle Balance erschwert, weil sie das dauerhafte Aushalten von Differenzen verlangt. Mit zunehmender Fähigkeit, intern Pluralität zu verkraften, stellt sich daher erst recht die Frage der Stabilität und Grenzziehung – nunmehr ohne die Möglichkeit, sie durch Ausgrenzung oder offizielle Dogmatik zu lösen. Die Problematik der Stabilisierung von Identität verlagert sich gewissermaßen nach innen und führt zur Entwicklung von entsprechenden Formen der Reduktion von Komplexität. Eine typische Reaktion darauf ist die Schulenbildung: Es bilden sich vergleichsweise festere und relativ geschlossene Subparadigmen, die intern eine höhere Homogenität besitzen und damit Eindeutigkeit und Stabilität bieten. Das Problem der Mehrdeutigkeit wird durch Schulenbildung formatiert und dadurch entschärft, was allerdings seinen Preis hat: Die damit verbundenen Auseinandersetzungen und Komplikationen sind bekannt.30 Wo die wechselseitige Abgrenzung massive Formen annimmt, werden die eigenen Sichtweisen zwangsläufig über-, die fremden unterbewertet, was die Entwicklung eines common ground erschwert. Weitere typische Reaktionen auf (über-)fordernde Komplexität sind die Reduzierung des Austauschs mit der Umwelt und eine Fokussierung auf Binnenmittel. Dies waren lange Zeit notwendige Überlebensstrategien, deren Effekte jedoch zwiespältig sind. Die Binnenzentrierung trug dazu bei, dass das, was an Forschung betrieben wurde, auf Therapie beschränkt und dabei unterentwickelt blieb. Dies gilt auch für methodologische Vorstellungen. Sie beschränkten sich lange Zeit auf das sogenannte »Junktim von Heilen und Forschen« als einzigartige Methode. In der Tat war und ist 30 Da Schulen jedoch exklusive Geltung in Anspruch nehmen (müssen), kommt es zwangsläufig zu Konfrontationen, die leicht eskalieren, zu wechselseitiger Bekämpfung und Abwertung, was wiederum den internen Steuerungsprozess und die Vertretung nach außen belasten. Die institutionell notwendige Macht- und Entscheidungsstruktur wird leicht das Opfer von lähmenden Kämpfen, Kompromissen und/oder sie wird für schulspezifische Politik und die Durchsetzung von Partikularinteressen genutzt.
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die Verbindung mit Formen der Reflexion der Eckstein jeder qualifizierten Therapie, und der spezifische Modus psychoanalytischer Reflexion ist als methodisch kontrollierter Zugang zu unbewussten Sinnzusammenhängen eine besondere, außerordentlich produktive Form der Erkenntnis. Aber das »Junktim« ist eine Leitvorstellung aus der Frühphase der Psychoanalyse, die heute differenzierter gesehen werden muss. Die begleitende Reflexion von Praxis ist noch nicht organisierte Forschung. Schon bei Freud ist deutlich, dass Therapie und Theorie unterschiedliche Arten von Praxis sind. Durch die inzwischen erreichte Entwicklung sowohl der Praxis als auch der Theorie ist erkennbar, dass Therapie (als praktische Reflexion besonderer Konfigurationen) nicht identisch mit Wissenschaft und Wissenschaft (als Reflexion von Praxisfeldern mit spezifischen Methoden) nicht identisch mit Therapie ist. Therapie braucht ihre eigene Form der Anwendung von Theorie – Wissenschaft muss die Befunde der Therapie für ihre Zwecke neu formatieren.31 Das Festhalten am »Junktim« muss daher heute – angesichts interner wie externer Fortschritte – hauptsächlich als eine Strategie gesehen werden, für sich Forschungskompetenz in Anspruch nehmen zu können, ohne sich dazu mit dem, was Forschung tatsächlich impliziert, auseinandersetzen zu müssen.32 Ähnliches gilt für das Verhältnis zu experimenteller und quantitativer Forschung. Die Heftigkeit der Ablehnung speziell quantitativer Forschungsergebnisse und -methoden lässt auch auf ihre Funktion als institutionelle Bewältigungsstrategie schließen. Freuds Skepsis in dieser Hinsicht war insofern berechtigt, als deren damaliger Stand ihm tatsächlich wenig Interessantes bieten konnte. Prinzipiell kann jedoch auch autopoietische Realität sinnvoll mit Methoden behandelt werden, die zum 31 Die Entwicklung von Vorstellungen über die Besonderheiten des Einzelfalls mithilfe allgemeiner Konzepte, also die Erforschung des Einzelfalls, ist nicht identisch mit der systematischen Überprüfung und Interpretation empirischer Vielfalt und theoretischer Modelle. 32 Auch die These von der Einzigartigkeit der Methode stimmt nur begrenzt. Alle Methoden, die reflexive Theorien verwenden, sind in gewisser Weise einzigartig, in anderer Hinsicht jedoch vergleichbar. Das Problem, mit einem sensiblen Gegenstandsbezug zurechtkommen zu müssen, teilt die Psychoanalyse daher mit anderen Interpretationsmethoden. Zumindest in seiner emphatischen Form hat das Beharren auf dem Junktim und der Einzigartigkeit vermutlich unter anderem auch die Funktion, den Legitimitätsdruck zu reduzieren – Forschung ergibt sich sozusagen automatisch, und ein Sonderstatus ist angenehm (und schaltet Konkurrenz aus).
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Repertoire denotativer Theorien gehören – wenn auch mit wichtigen Einschränkungen.33 Darauf zu verzichten, heißt, wichtige Möglichkeiten der Horizonterweiterung zu vernachlässigen und den Kontakt zu inhaltlich wie politisch relevanten Bereichen der Wissenschaft zu erschweren. Diese Themen werden inzwischen in psychoanalytischen Diskursen intensiv diskutiert.34 Dennoch überwiegt der Eindruck, dass in vielen Bereichen die Beschäftigung mit entsprechenden Fragen nicht sonderlich beliebt ist, und dass Psychoanalytiker beispielsweise Fragen nach erkenntnistheoretischen Grundlagen lieber aus ihrem eigenen Repertoire heraus und auf der Basis relativ selektiver Zugriffe auf externe Angebote selbst beantworten. Entsprechend schmort der erkenntnistheoretische Diskurs der Psychoanalyse häufig zu sehr im eigenen Saft. Viele Texte wirken von außen zwangsläufig unprofessionell (und werden dann von externen Experten nicht ernstgenommen, auch wenn sie ihre Fragestellungen ernsthaft behandeln). Dies führt dann auch dazu, dass man auf externe Herausforderungen (wie etwa die Arbeiten von Adolf Grünbaum, 1988 [1984] oder auch die Attacken von Grawe, Donati & Bernauer, 1994) manchmal hilflos reagiert. Der wissenschaftspolitischen Selbstreferenz entspricht innenpolitisch die immer noch und immer wieder zu hörende und zu lesende Forderung, die Psychoanalyse könne und müsse ihre Probleme nur mit eigenen Mitteln lösen. So ähnlich hatte bereits Ferenczi gedacht, als er in seinem Vortrag auf dem »Nürnberger Kongress« von 1910 davon ausging, Psychoanalytiker seien aufgrund ihrer Kompetenzen besonders geeignet, eine Organisation auf die Beine zu stellen, die alle Kinderkrankheiten von Vereinen überwinden könne. Diese Vorstellung basiert auf der Annahme, es gäbe ein Rezept für alle Probleme und man sei in dessen Besitz. Dies ist jedoch ein Ausdruck von Unterschätzung – sowohl der Komplexi33 Aus den genannten Gründen kann quantifizierende Forschung allein autopoietische Realität nicht erfassen und qualitative Forschung nicht ersetzen. Sie kann jedoch eine wichtige kritische Funktion übernehmen und zudem Zusammenhänge verdeutlichen, die mit qualitativen Methoden nicht ohne Weiteres erschließbar sind. 34 Zur Differenz zwischen Therapie und Forschung zum Beispiel Moser (1991); zur Methodenproblematik zum Beispiel Luyten, Blatt & Corveleyn (2006); zum Stand der empirischen Forschung und Forschungsproblemen zum Beispiel Leuzinger-Bohleber und Kollegen (2002), Poscheschnik (2005) oder Hau (2009). Die Zukunft gehört zweifellos intelligenten Kombinationen qualitativer und quantitativer Methoden – ohne dass es dafür Routinen und exklusiv gültige Formeln gäbe (schon, weil die Spaltung der Methodologie selbst bereits Ausdruck der hier diskutierten Problemlagen ist).
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tät der Welt als auch dessen, was andere Formen von Theorie und Praxis können und wozu sie gebraucht werden. Die ausschließliche Konzentration auf Eigenmittel wird besonders brisant, wenn sie flankiert wird von der – meist implizit verneinenden und mit Emphase gestellten – Frage: »Ist das noch Psychoanalyse?« Die Frage selbst ist sinnvoll und notwendig. Aber sie wird zum Problem, wenn sie als Mittel der Diskriminierung und Ausgrenzung genutzt wird, indem (im Prinzip unscharfe) Grenzen rigide und eng gezogen werden.35 Die Einschränkung des Kontakts und des Austauschs mit der Umwelt ist Ausdruck einer institutionellen Selbstgenügsamkeit, die eine gewisse Autonomie und Sicherheit bietet (was die institutionelle Balance fördert). Dass innerhalb der Psychoanalyse zu solchen Mitteln gegriffen wird, ist verständlich, wenn man bedenkt, unter welchem Druck sie steht und was für Mittel ihr zur Verfügung stehen. Aber der Verzicht auf Nutzung der Möglichkeiten externer Formen reflexiver Praxis behindert den produktiven wie den reproduktiven Prozess und führt zu »Isolationsschäden«. Denn durch den fehlenden Austausch bleiben die Kontaktfähigkeit und die Möglichkeiten der Außendarstellung unterentwickelt. Das trägt wiederum zu dem nach wie vor verzerrten Bild der Psychoanalyse in der Öffentlichkeit bei. Dass daran Projektionen massiv beteiligt sind, steht außer Frage. Aber darauf lässt sich der zwiespältige soziale Status der Psychoanalyse nicht reduzieren. Ohne über empirische Daten zu verfügen (es würde sich lohnen, hier genauer hinzusehen36), ist mein Eindruck, dass die Psychoanalyse von außen häufig 35 Wohin der Versuch, alles mit Eigenmitteln lösen zu wollen, führen kann, zeigt sich auch in der Tendenz, sachliche Argumente mit persönlichen Bezügen zu konfundieren, zum Beispiel, indem »Diagnosen« in Auseinandersetzungen eingesetzt werden. Hinter vorgehaltener Hand hört man gelegentlich, der jeweilige Gegner sei »gestört« oder gar »schwer gestört«. Solche Etikettierungen sind (unabhängig davon, ob sie stimmen oder nicht) heikel und belasten die unvermeidlichen politischen Auseinandersetzungen, die durch Argumente ad hominem eine Schlagseite in Richtung auf psychodynamisch aufgeladene, feindselige Konfrontationen bekommen. Persönliche Entwertung wird selbstverständlich überall betrieben, bekommt aber in der Hand von Experten eine besondere professionelle Qualität. Reflexive Kompetenzen generell, aber insbesondere die der Psychoanalyse, wirken außerhalb ihres professionellen Kontextes – also auch in politischen Auseinandersetzungen – als problematisches Machtmittel. 36 Auch dies ist letztlich ein Effekt problematischer Stabilisierungsversuche. Die letzte größere Studie zum Bild der Psychoanalyse in der Öffentlichkeit stammt aus dem Jahr 1961 (Moscovici, 1961). Eine entsprechende deutschsprachige Untersuchung fehlt bisher völlig.
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als distanzierend und unnahbar, als herablassend bis arrogant, als von sich überzeugt und ängstlich zugleich wahrgenommen wird. Zieht man davon die projektiven Anteile ab, so bleibt vermutlich, dass die Verbindung von berechtigtem Werkzeugstolz, von Kontaktproblemen nach außen und vielleicht auch der Diskrepanz zwischen Ansprüchen und deren Einlösung zu einer Art der Selbstdarstellung führt, die für die externe Öffentlichkeit schwer verdaulich und nur begrenzt anschlussfähig ist.
Perspektiven Geht man davon aus, dass Psychoanalyse sich auf besondere Weise mit einer spezifischen Art und Dimension autopoietischer Realität beschäftigt, lassen sich einige der Probleme, die sich bei ihrer Begründung, Absicherung und Institutionalisierung ergeben, besser erklären. Als Erkenntnisstrategie teilt die Psychoanalyse die Probleme, die alle konnotativen Theorien und die Methoden, auf denen sie basieren, haben; sie besitzt sie in zugespitzter Form, weil sie diskursiv wie praktisch Wirklichkeitsbereiche behandelt, deren spezifische Logik sich nur begrenzt symbolisieren lässt und die zudem in bestimmter Weise dynamisch versperrt sind.37 Die Beschäftigung mit einem solchen autopoietischen und arkanen Gegenstand lässt sich nur begrenzt mit fixierenden Methoden behandeln, in definitiven Kalkülen fassen und findet nur wenig Halt in berechenbaren Ergebnissen. Methodisch zeigt sich dies im schwierigen Verhältnis von Einzelfallstudien und Generalisierung. Jeder Einzelfall ist anders und muss aufs Neue behandelt werden, bedarf also einer Adaptation von Begriffen und der Kreation eines besonderen Modells. Gleichzeitig kann kein Einzelfall unmittelbar generalisiert werden, da er die allgemeine Logik nur in spezifischer Variation enthält. Auf der anderen Seite sind Verallgemeinerungen prinzipiell riskant (weil sie ein Stück weit mit arbiträren Hervorhebungen und Zuordnungen arbeiten müssen). Sie können unmittelbar keine Aussa37 Vergleichbar ist dies mit dem Problem, das sich für Sozialwissenschaften stellt, die sich mit dem Thema »Ideologie« beschäftigen: Auch hier gibt es systematische Zugangsschwellen, weil die betroffenen Akteure und sozialen Systeme über Genese und Funktion ihrer kognitiven Modelle keine Auskunft geben können und Aufklärung als Bedrohung erleben.
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gen über den Einzelfall zur Verfügung stellen und müssen daher erst übersetzt werden. Auf der Ebene der Theorie spiegelt sich die besondere Situation der Psychoanalyse in strukturell bedingten Unschärfen und Unentscheidbarkeiten. Die Gegenstandskomplexität verhindert nicht nur eine abschließende Behandlung, sie provoziert ein Mit-, Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Theorien mit unterschiedlichem Leistungsprofil. Kontinuierlicher Dissens über die theoretische Erfassung des Gegenstands, aber auch über die Art der Begründung, das heißt: Multiparadigmatik, ist daher kein Zeichen von Unreife, sondern der Modus, mit dessen Hilfe gegen den Sog der Reduktion die Erinnerung an und die Auseinandersetzung mit Komplexität aufrechterhalten wird. Mutatis mutandis gilt dies auch für die Praxis: Jede Intervention in autopoietische Prozesse steht vor dem Problem, dass die Reaktionen ihres Gegenstands ein Stück weit unberechenbar und erratisch bleiben. Dies reduziert die Möglichkeit der Technisierung. Stattdessen bleibt die Praxis personengebunden und situationsabhängig. Sie zwingt zu unter Umständen riskanten Entscheidungen unter Zeitdruck und unter dem Vorzeichen unvollständiger Information. Dies alles belastet die Identität der Akteure und die Institution als Ganze. Statt zur routinierten Normalität zu reifen, bleibt sie »ewig jung«, ist also ständig damit beschäftigt, ihre Grenzen, ihren Austausch mit ihrer Umwelt, ihren produktiven wie ihren reproduktiven Prozess zu adjustieren, ohne dabei zu perfekten Lösungen kommen zu können. Nicht nur die Schwierigkeiten einer stabilen Begründung von psychoanalytischer Theorie und Praxis, sondern auch viele der institutionellen Krisen und Defizite müssen im Zusammenhang mit dieser Problemlage gesehen werden. Definitive Lösungen gibt es dafür nicht. Das heißt nicht, dass es keinen Fortschritt gäbe – im Gegenteil: Die bisherige Geschichte der Psychoanalyse hat ja gezeigt, dass sie inzwischen sich wesentlich kompetenter mit ihren inneren und äußeren Schwierigkeiten auseinandersetzen kann. Aber es gibt keinen risikolosen und gebahnten Pfad in eine automatisch bessere Zukunft – auch das zeigt die Geschichte der Theorieentwicklung mit all ihrer Erratik. Das heißt auch: Es wird in gewisser Weise so weiter gehen wie bisher. Man wird sich auch in Zukunft gegen unqualifizierte Attacken von außen wehren müssen, man wird weiter um die »richtige« Form von Theorie und Praxis ringen und Begründungsprobleme immer wieder durcharbeiten müssen. Trotzdem oder gerade deshalb ist es sinnvoll, 312
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durch entsprechende Strategien zu versuchen, das Entwicklungstempo zu erhöhen und, wo dies möglich ist, Steigerungszwänge von Krisen zu vermeiden. Auch in Bezug auf den Umgang mit Theorien und Methoden wären dazu systematische Professionalisierungsschritte hilfreich. Bisher hat sich die Entwicklung der Psychoanalyse weitgehend auf der Basis der zusätzlichen Initiativen von hauptberuflichen Therapeuten und einer im Kern berufsständischen Organisation vollzogen. Was dadurch erreicht wurde, ist bemerkenswert, aber auch limitiert und – ausgenommen im Bereich der Psychotherapieforschung – geprägt vom Charme des Amateurhaften. Erforderlich wäre hier eine systematische Auseinandersetzung mit dem, was der erreichte Stand der Diskussion von Theorien und Methoden ist. Dazu gehört auch eine systematische Ausbildung im Umgang mit Theorien und Methoden sowie der quantitative und qualitative Ausbau von Forschung, die sich psychoanalytischer Erkenntnisse und Mittel bedient – als Signal nach außen wie nach innen. Dies wiederum setzt eine passende institutionelle Basis voraus: Experten mit entsprechenden Kompetenzen und eine hinreichende Alimentierung. Vermutlich reichen dazu die Eigeninvestitionen nicht aus. Die Psychoanalyse wird sich dafür wohl noch mehr auf den Markt des öffentlichen Interesses und der Wissenschaften einlassen müssen, um sich dort Anerkennung und Mittel zu erarbeiten – was wiederum eine entsprechend kompetente »Außenpolitik« voraussetzt. »Fortschritt« heißt auch im Umgang mit Theorien und Methoden nicht, dass die Sache dadurch leichter wird. Die bessere Nutzung des Potenzials der Psychoanalyse ist daher eine Herausforderung, der man nur gerecht werden kann, wenn man sich ihr konsequent stellt, statt sich defensiv an Gewohntes zu klammern. Keine Institution kann sich ihre Probleme auswählen; sie muss mit dem zurechtkommen, was der Fall ist. Dies gelingt unterm Strich besser mit einer Strategie, die auf offene Auseinandersetzung und Professionalisierung setzt. Nicht nur in dieser Hinsicht ist »ewige Jugend« ein Vorteil, weil sie zur Bewegung nötigt und – richtig genutzt – auch die Beweglichkeit erhöht.
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12 Try again, fail better Über die sinnvolle, aber schwierige Beziehung von Psychoanalyse und Soziologie
Die Verbindung von Psychoanalyse und Soziologie hat eine ganze Reihe von eindrucksvollen Kreationen hervorgebracht, die aus der Geschichte der Aufklärung nicht wegzudenken sind. Seit Freud hat eine Fülle von psychoanalytischen Autoren und Autorinnen (von Fromm bis Mitscherlich und Richter) Arbeiten publiziert, die gesellschaftliche Themen mit psychoanalytischen Mitteln behandelten und damit wissenschaftliche und öffentliche Diskurse beeinflusst und bereichert haben. Und auch viele prominente Soziologen haben ihre Studien mehr oder weniger intensiv mit psychoanalytischen Theorien angereichert. Adorno und Elias, Parsons und Riesman, aber auch Smelser und Giddens stehen für (mehr oder weniger) gelungene Versuche, beide Paradigmen in Kontakt zu bringen. Beide verbindet und trennt jedoch auch eine lange Geschichte von Ignoranz, von Kontaktversuchen voller Schwierigkeiten, Missverständnissen, Streitereien und Schmähungen – ungetrübt war sie nie, die Beziehung. Psychoanalytikerinnen merken dazu an, dass sich über wohlwollende Deklarationen hinaus ein »ernsthaftes und genuines Interesse« an der Soziologie in der Psychoanalyse sich nicht entwickelt habe, dass vielmehr oft eine »furchtsame Distanz« zur Soziologie vorherrsche und dass sie von vielen Analytikern eher misstrauisch beäugt wurde und wird (so die Zusammenfassung von Ebrecht-Laermann). In der Soziologie haben sich in Bezug auf die Psychoanalyse lange Zeit Respekt und Ablehnung in gewisser Weise die Waage gehalten. Davon kann gegenwärtig nicht mehr die Rede sein. Die meisten Beobachter konstatieren, dass die zeitweilig intensiven Diskussionen versandet sind und kaum bleibenden Spuren im Kern des Faches hinterlassen haben. In der Soziologie herrsche – so die Diagnose – die Überzeugung, dass die Psychoanalyse zum Hauptgeschäft der Soziologie nicht viel beizutragen hat. 315
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Allerdings beruht diese Überzeugung nicht auf genaueren Kenntnissen. Auf Kenntnisse ist Ablehnung natürlich nicht angewiesen, aber sie wird durch Unkenntnis erleichtert. Und die hat zugenommen. Während es noch vor zwei Generationen gewissermaßen zur soziologischen Allgemeinbildung gehörte, wenigstens die Haupttexte von Freud zu kennen, sind seine Arbeiten – und erst recht die Leistungen der neueren Psychoanalyse – in der Soziologie (aber nicht nur dort) weitgehend unbekannt. Aber es gibt auch eine andere Seite: Immer wieder zeigt sich neues Interesse an der Verbindung von Soziologie und Psychoanalyse, bilden sich – meist außerhalb oder am Rand des institutionellen Normalbetriebs – neue Initiativen und bemerkenswerte Diskurse zum Thema – trotz aller widrigen Bedingungen. Das lässt darauf schließen, dass das Interesse an der Kooperation, aber auch das kreative Potenzial der Kooperation deutlich größer ist als das, was momentan im Bereich der Institutionen selbst stattfindet beziehungsweise stattfinden kann. Aus psychoanalytischer wie aus soziologischer Sicht sind Beschränkungen, Konflikte und Krisen das Ergebnis von nicht bewältigten oder schwer behandelbaren Problemlagen. Wenn man dieses Missverhältnis ändern will, muss man wissen, was die Gründe dafür sind. Ein Teil der Probleme, die das Verhältnis von Psychoanalyse und Soziologie belasten, ist Resultat der jeweiligen situativen und historischen Umstände. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die frühen Kontakte zwischen Psychoanalyse und Soziologie wenig erfolgreich waren und ihre Ergebnisse aus heutiger Sicht unzulänglich sind. Denn beide befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch im Pionierstadium. »Pionierstadium« bedeutet mit Blick auf Wissenschaften, dass ihr Themenzugang weitgehend aus Grobmarkierungen besteht und sie mit noch unzulänglichen Mitteln und geringen Kapazitäten arbeiten. Dem entspricht eine wenig entwickelte Organisation. Häufig bestehen sie nur aus Einzelkämpfern, aus weitgehend improvisierten sozialen Strukturen oder aus insulären Gruppierungen mit wenig Kontakt, dafür umso mehr Konflikten – so auch im Fall der Soziologie. Die Psychoanalyse ist dagegen – mit allen Vor- und Nachteilen, die eine solche Entwicklung hat – monozentrisch entstanden. Aber auch sie zeigte zu diesem Zeitpunkt alle Merkmale eines Pionierstadiums. Aufgrund ihres prekären Zustands sind Pionierinstitutionen kaum imstande, differenzierte Kontakte nach außen zu entwickeln – und die Präsentation ihrer Leistungen nach außen erfolgt mit den begrenzten Mitteln und Formen, die zur Verfügung stehen. Anders gesagt: Eine noch wenig 316
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entwickelte Psychoanalyse traf auf eine noch wenig entwickelte Soziologie. Theoretisch hätten sie sich einiges bieten können, aber praktisch waren nur in seltenen Ausnahmen die Fähigkeiten vorhanden, in den gering entwickelten Angeboten das zu erkennen, was darin an Potenzial steckte – geschweige denn die Fähigkeit, daraus eine tragfähige Kooperation zu entwickeln. So mussten die frühen Kontaktversuche Episoden bleiben – häufig anregend, aber oft wenig gekonnt und meist begleitet von heftiger Ablehnung aus dem Kern der jeweiligen Zunft. Dass sich eine breite Welle ernsthafter Vermittlungsversuche eine Generation später in den USA entwickelte, hing nicht nur damit zusammen, dass sowohl Soziologie als auch Psychoanalyse aus Europa vertrieben wurden. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die stärker innovationsorientierte und pragmatische Einstellung der amerikanischen Wissenschaftskultur, die Neues gern aufgriff und schaute, was sich damit machen ließ. Zwar ließen die Art und Weise, wie dies geschah, die Haare der europäischen Beobachter oft zu Berge stehen, aber es entstand immerhin eine vitale und engagierte Diskussion, die versuchte, beide Paradigmen zusammenzubringen. Dass davon zwei Generationen später kaum mehr etwas zu sehen ist, hat mehrere Gründe. Dazu zählt zunächst – aus soziologischer Sicht beschrieben –, dass die Psychoanalyse inzwischen keine Novität mehr, sondern sozusagen Teil des wissenschaftlichen Normalinventars geworden ist. Jetzt gelten andere psychologische Paradigmen als »neu« und werden – je nachdem – als vielversprechend oder provozierend gehandelt. Dagegen ist die Psychoanalyse eingereiht in das normalisierte Repertoire und hat daher eher die Aura einer alten oder gar veralteten Sichtweise. Gehalten und weiterentwickelt haben sich dagegen die allergischen Reaktionen, die sie auslöst – auch im Wissenschaftsbetrieb. Zudem hat es im Verhältnis zur Soziologie noch eine problemverstärkende Episode gegeben: die ebenso heftige wie unglückliche Zuneigung zur Psychoanalyse während der sogenannten »Studentenrevolte«. In deren Verlauf gab es eine ganze Reihe von Versuchen, mit einer Mixtur von Marx und Freud die bürgerliche Gesellschaft und die bürgerliche Soziologie aus den Angeln zu heben (nicht ohne der Psychoanalyse dabei vorzurechnen, was sie alles falsch mache). Das hat beide Zünfte ziemlich erschreckt, und nach der Wiederherstellung von Normalität zur Folge gehabt, dass Marx und Freud in der Soziologie erstmal kontaminiert waren – unzitierbar, unverwendbar und daher auch tabu für alle, die Karriere machen wollten. 317
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Gleichzeitig setzten sich in der Soziologie auf breiter Front neo-utilitaristische und systemtheoretische Sichtweisen durch, die in den dominanten Varianten wenig Verständnis für psychodynamische Ansätze aufwiesen. Kurz: Der herrschende Zeitgeist und damit auch die Chancen für Ressourcen und Karrieren sprachen gegen eine weitere Beschäftigung mit der Psychoanalyse. Dies hatte dann auch den Effekt, dass das Wissen über Psychoanalyse in der Soziologie weiter abnahm. Übrig geblieben ist hauptsächlich das weitverbreitete Gerücht, sie sei eine unwissenschaftliche Form der Spekulation. So weit, so schlecht. Wenn es jedoch nur die Konjunkturen und Opportunitäten des Wissenschaftsbetriebs wären, die eine Kooperation erschweren, müsste man eigentlich nur abwarten, bis sich der Wind wieder dreht und sich dafür in Stellung bringen. Die Probleme haben jedoch auch eine strukturelle Dimension, die die akzidentellen Verwicklungen und Komplikationen ermöglicht und anfeuert. Die strukturellen Probleme hängen eng mit den Themen zusammen, die Psychoanalyse und Soziologie behandeln und den Folgen, die sich daraus ergeben. Sie müssen nicht schlagend werden, aber wenn sie nicht angemessen bedacht und berücksichtigt werden, können sie sich massiv ins Geschehen einmischen und gut gemeinte Initiativen ruinieren. Interdisziplinarität (oder neuerdings auch Transdisziplinarität) wird seit Langem und häufig gefordert, aber es fällt auf, dass sie nicht überall leicht zustande kommt. Das hat zunächst den Grund, dass es sich um einen Kontakt über Grenzen hinweg handelt. Das heißt stets, dass man das gewohnte Terrain verlässt und sich ins »Ausland« begeben muss. Diese Unterteilungen und Begrenzungen haben ihren Ursprung nicht immer zwingend in der Sache selbst, sondern in der Komplexität der Sache. »Komplexität« heißt in diesem Zusammenhang, dass ein Sachverhalt multilogischer Natur ist, also nicht nur einer singulären Logik folgt, sondern komponiert ist und funktioniert. Unterschiedliche Logiken lassen sich nicht zugleich gleich gut behandeln: Um eine spezifische Logik heraus zu arbeiten, muss man zunächst alles andere ausblenden. Dazu wird »analysiert«, also die empirische Einheit der Sache in ihre unterschiedlichen Funktionsprinzipien zerlegt, um eines davon zu isolieren. Wo Isolation eine exklusive Konzentration erlaubt, ist dies erkenntnistheoretisch ein Erfolgsrezept. Darauf basiert die Arbeitsteilung von Erkenntnisstrategien und damit auch die Arbeitsteilung von Wissenschaften: Sie ist unvermeidlich und sinnvoll. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie auch 318
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rational ist. Nicht immer entsprechen die (historisch gewordenen) Grenzen und Zuordnungen von Wissenschaften auch der Logik ihres Gegenstands. Während die Arbeitsteilung zwischen Chemie und Physik Sinn ergibt, weil es sich tatsächlich um verschiedene, nicht aufeinander reduzierbare Logiken des materiellen Geschehens handelt, ist die Unterscheidung von Ökonomie und Politik ein Stück weit willkürlich, weil beides zwar verschieden ist, aber beide Logiken sich wechselseitig durchdringen. Ihre Unterscheidung hat also etwas Willkürliches. Dies gilt entsprechend auch für die – ab einer gewissen Größe von Fächern unvermeidliche – interne Arbeitsteilung von Fächern. Das wäre noch nicht problematisch (und ist es auch nur in geringem Ausmaß, wo die Sache selbst eine geordnete Aufteilung vorgibt). Unterteilungen können aber zum Problem werden, wenn sich die Folgen der Aufteilung bemerkbar machen. Denn die dadurch entstehenden Grenzen markieren Unterschiede im sozialen Milieu, die aufgrund ihrer Funktionen eine Eigendynamik besitzen. Jedes Milieu bietet eine Zentrierung auf bestimmte Formen und Themen. Wer hineinkommt, lernt (kennen), was wie behandelt, gedacht und beurteilt wird, woran man sich orientiert, was relevante Werte sind, welche Medien relevant sind, wie Status erworben wird, wie Karrieren verlaufen – um Schiller (entsprechend adaptiert) zu zitieren: »wie man sich räuspert und wie man spuckt«. Es entwickelt sich (und gibt dann) also ein milieuspezifisches soziales Einmaleins mit imperativem Charakter. Man kann auf Dauer nur schwer gegen dessen Sog leben und zurechtkommen. Ein gewisses Maß an Internalisierung und Identifizierung ist unvermeidlich. Das heißt ganz praktisch, dass man weiß, wie die Dinge funktionieren (und wie nicht), das heißt aber auch, dass man das übernimmt, was als »soziale Identität« oder »Habitus« bezeichnet wird. Wegen dieser Assimilation an Kulturen kann man cum grano salis den Habitus (!) eines Betriebswirts von dem eines Volkswirts, den eines Psychoanalytikers von dem eines Soziologen unterscheiden.1 Soziales Milieu und Sozialcharakter haben primär die Funktion, einen sozialen Zusammenhang herzustellen und einen laufenden Betrieb zu ermöglichen. Dazu gehören nicht zuletzt auch repressive Leistungen: 1 Es ist klar, dass dies immer nur abstrakte und tentative Kriterien sind, und es wäre fatal, sie deterministisch zu verstehen. Dennoch: Auch Stereotype basieren – wo sie nicht nur Vorurteile sind, die aus Projektionen stammen – auf kondensierten Sozialerfahrungen. Es gäbe sie nicht, wenn es nicht typische Muster gäbe.
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Abweichungen werden sanktioniert, Unverdauliches wird umdefiniert oder ausgegrenzt, der Status quo wird gegen den Sog der Destabilisierung verteidigt. Letzteres gehört in kleiner Münze zu den unvermeidlichen Betriebskosten jedes Systems. Eine »herrschende« Sozialordnung ist jedoch in gewisser Weise immer problematisch, weil es naturgemäß keinen Grund gibt, dass sie rational ist, auch wenn sie funktional ist. Herrschaft ist immer riskant. Ihre Leistung liegt gerade darin, Alternativen wegzubügeln und Irritationen zu vermeiden. Das kann sie nur, wenn sie sich selbst stabilisiert, was zwangsläufig heißt, dass ihre Erhaltung den Vorrang vor Sachentscheidungen haben kann. Was als Bestands- und Systemgefährdung identifiziert wird, wird unter Umständen bekämpft, auch wenn es objektiv angemessen ist. Insofern kann die unvermeidliche Systemstabilisierung mit den irrationalen Tendenzen der Selbsterhaltung des Status quo amalgamiert sein. Auch dies muss nicht zwingend ein Problem sein. Wenn ein Thema unabhängig von seiner Umwelt ist, wenn ein System nicht von seiner Sozialordnung beherrscht wird und wenn die herrschende Norm Sachorientierung ist, sind die Auswirkungen vom Kontext auf die produktiven Leistungen meist gering und kontrollierbar. Dann sind sowohl interne Arbeitsteilung als auch die Außenkontakte zumindest im Kern sachlogisch geerdet. Anders sieht die Sache aus, wenn das Thema – wie in diesem Band mit Bezug auf die Psychoanalyse beschrieben – nicht eindeutig (denotativ) bestimmt werden kann, weil es immer verschieden erscheint, aus unterschiedlichen Logiken komponiert ist (die jedoch nicht sauber zu trennen sind) und mit seinem Kontext interagiert. Hier sind alle genannten Aspekte mehr oder weniger neuralgisch. Wo ein Thema kein eindeutiges Zentrum, keine eindeutige Norm hat, mal so und mal anders ist und gesehen werden kann, ist es schwierig, ein Zentrum zu definieren. Insofern ist es hier ein Zeichen von Reife, wenn es gelingt, Unentscheidbares unentschieden zu lassen und Mehrdeutiges zuzulassen und thematisierbar zu halten. Aber die daraus resultierende Unsicherheit führt dazu, dass das System zwischen zwei fatalen Extremen navigieren muss: entweder zerfasert die Thematik (wenn es nicht gelingt, genügend Gemeinsamkeiten zu etablieren und durchzusetzen) oder sie wird auf Kosten der möglichen und erforderlichen Differenzierung dogmatisch verfestigt. Das eine ermöglicht zwar das andere, aber das System kommt dabei vom Regen in die Traufe. Jede Form der Organisation hat zwangsläufig von beidem etwas. Was immer 320
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für Lösungen gefunden werden – die Leistungen sind immer mit Nachteilen verbunden. Daher ist interne Kritik (wo sie nicht unterdrückt wird) endemisch – alles lässt sich trefflich und zu Recht kritisieren, alles hat auch Nachteile. Unter diesen Umständen sind auch die üblichen Mittel von Organisation – Arbeitsteilung, Hierarchie, Rollendefinitionen, Entscheidungsprozeduren, Sanktionen und so weiter – heikel. Arbeitsteilung ist nur begrenzt möglich; Hierarchien und Entscheidungsfindungen haben es schwer, das richtige Maß zu finden; Sanktionierungen brauchen klare Kriterien und Kriterien (und bleiben trotzdem umstritten). Diese Bedingung fördern informelle Substrukturbildung: Wo die formelle Struktur nicht hinreichend Halt bietet, entwickeln sich intern Inseln, die – anders als das ganze System – ein Mehr an Orientierung und Festigkeit bieten können. Statt also die ganze Psychoanalyse mit allen ihren Variationen, Besonderheiten und Verzweigungen zu nutzen, hält man sich an Freud, Klein, Bion oder Lacan.2 Um solchermaßen hervorgehobene Variationen herum kann sich durch Selektion und mehr Eindeutigkeit mehr Stabilität entwickeln. Vor- und Nachteile liegen auf der Hand. Auf der Insel lebt es sich (um das Bild weiter zu strapazieren) besser (im Sinne von »einfacher«) als auf dem weiten Meer. Da aber angesichts von Alternativen die Unsicherheit nicht beseitigt ist, ist das Leben auf einer dieser Inseln meist damit verbunden, dass – um den Abstand zu vergrößern und zu sichern – die eigene Lebensweise überbewertet und andere Möglichkeit abgewertet werden. Schwieriger ist damit auch der Kontakt nach außen. Ganz abgesehen von der Frage »Wer soll eigentlich wie ›Außenpolitik‹ betreiben?« bleibt ein unsicheres System auch in Außenkontakten unsicher. Von außen wird meist nicht richtig verstanden, was die Gründe für die Systemdynamik sind, was leicht dazu führt, dass mit Irritation, aber auch mit Abwertung reagiert wird. Nimmt man alle diese Problemlagen zusammen, so sind die spezifischen Schwierigkeiten der Balance sowohl der Psychoanalyse als auch der Soziologie evident: Für beide gilt, dass ihre Gegenstandskomplexität zu instabilen und unzulänglichen Methoden und Theorien führt, die Institutionen wie Akteuren allerhand abverlangen, um nicht zu sagen: sie überfordern, was wiederum eine Reihe von Bewältigungsstrategien provoziert, die ihrer2 Oder in der Soziologie: Funktionalismus, Systemtheorie, Interaktionismus, Kritische Theorie, Konstruktivismus, Rational Choice-Theorie und viele andere mehr.
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seits zum Problem werden können. Und für beide gilt auch, dass die Beziehungen zur Umwelt auch aus einem inhaltlichen Grund belastet und belastend sind. Der Grund sind thematische Überschneidungen und schwer kontrollierbare Grenzen. Bezogen auf die Psychoanalyse hat Freud dazu bereits zwei Hinweise gegeben. Der erste: Die Botschaften der Psychoanalyse sind verstörend und stellen eine soziale Ruhestörung dar. Und der zweite: Es gibt keine funktionierende Trennung in »Experten« und »Laien«. Oder, wie Freud sich ausdrückte: Weil jeder eine Psyche hat, hält sich jeder für einen Psychologen. Tatsächlich gibt es im Alltagsbewusstsein der Akteure und in öffentlichen Diskursen nicht-professionelle Konzepte der Themen, die in der jeweiligen Zunft professionell behandelt werden. Beides kollidiert zwangsläufig, weil die professionellen Zugänge gerade versuchen, die Thematisierungssperren und verzerrten Formen der Thematisierung in der Alltagswelt zu überwinden. Daher kommt es zu mehr oder weniger qualifizierten externen Reaktionen. Während kein Chemiker befürchten muss, dass »Laien« seine Formel bezweifeln, müssen Soziologen, Historiker und Psychoanalytiker nicht nur mit interner (wissenschaftlicher) Kritik rechnen, sondern auch damit, dass diejenigen, denen die Befunde nicht gefallen oder die sich provoziert fühlen, ihnen Legitimität oder Qualität absprechen. Unqualifizierte Einmischungen der Außenwelt und mangelnde Bereitschaft zur Anerkennung verstärken die Tendenz, sich dagegen durch eine Verstärkung der Grenzen und die Reduzierung von Außenkontakten zu schützen. Dies wiederum kann – zusammen mit der kontrafaktischen Selbstüberschätzung – den Effekt haben, dass man sich gänzlich auf sich selbst zurückzieht, die Grenzen dichtmacht und sich auf das eigene Repertoire beschränkt. Entsprechendes hört man ja in der Psychoanalyse immer wieder – etwa, wenn mit Emphase verlangt wird, die Probleme der Psychoanalyse sollten nur mit den Mitteln der Psychoanalyse behandelt werden, oder wenn theoretische und methodische Vorschläge gerügt werden, weil sie nicht psychoanalytisch genug sind. Und auch in der Soziologie wurde immer wieder die Parole ausgegeben, Soziales dürfe nur durch Soziales erklärt werden. Solche Strategien tragen vielleicht zur Sicherung von Grenzen und zur Reinheit des Objekts bei, aber sie führen zu Isolationsschäden – die Fähigkeit, mit der Umwelt zu interagieren und deren Ressourcen zu nutzen, verkümmert. Außerdem werden so befestigte Grenzen leicht zum Austragungsort interner Konflikte – etwa, wenn mit der Frage »Ist das noch 322
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Psychoanalyse?« Themen und Akteure disqualifiziert werden. Das alles belastet das Verhältnis zur Außenwelt. Während Physiker und Chemiker vergleichsweise entspannt im Sonnenschein sozialer Anerkennung und mit der Sicherheit eines stabilen Gegenstands an die Arbeit gehen, erleben Psychoanalytiker (wie Soziologen auch) ihr soziales Umfeld als ambivalent, wenn nicht gar bedrohlich, und sie müssen ständig Statusinkonsistenzen und negative Zuschreibungen verkraften. Bedenkt man diese Umstände, so wird deutlich, worin für beide ein zentrales Problem von Kooperationen besteht. Denn Voraussetzung von Kooperation ist nicht nur, dass man die Hürde der Selbstgenügsamkeit und Kontaktängste überwindet. Man muss ein gemeinsames Objekt finden, welches von allen Beteiligten hinreichend geliebt wird, und man muss sich auf Beziehungsregeln verständigen. Beides setzt das voraus, was in der Soziologie »Reziprozitätsregel« genannt wird: wechselseitige Respektierung und Verständnis der (und für die) Realität der anderen Seite. Generell gelingt Kooperation vergleichsweise leicht, wenn die Kooperationspartner stabil aufgestellt sind und sich auf Augenhöhe begegnen. Physiker und Chemiker tun sich daher insofern leichter, als sie jeweils auf sicherem Terrain stehen und sich gegenseitig nicht in die Quere kommen. Die Kopräsenz eines anderen Paradigmas bedroht das eigene nicht. Ein gemeinsames Objekt enthält die unterschiedlichen Paradigmen sozusagen auf gleichberechtigte Weise. Außerdem können sie leichter eine symmetrische Beziehung entwickeln, weil sie von ihrer Struktur her und im Sozialstatus große Ähnlichkeit aufweisen. Wissenschaften, deren Paradigma unsicher ist und verteidigt werden muss, haben es auch hier schwerer – zumindest da, wo die Anerkennung eines anderen die Stabilität des eigenen gefährdet und im gemeinsamen Objekt die ohnehin unsicheren Grenzen zu verschwimmen drohen. Hier ist gerade die Symmetrie (und zwar die der Problemlagen) ein Problem. Genau das ist bei multiparadigmatischen Wissenschaften wie der Psychoanalyse (und auch der Soziologie) der Fall. Schon innerhalb der eigenen Zunft sind Kooperationen zwischen den Subparadigmen nicht leicht. Denn sie aktualisieren die strukturelle Konkurrenz, sodass aus Kooperation leicht eine Konfrontation wird, die dann oft mit Abbruch oder ergebnislos endet, sodass alles bleibt, wie es war (und man dann lieber unter sich bleibt). Dies gilt erst recht für Außenkontakte. Man tut sich mit Wissenschaften, die sich einem Thema unter gänzlich anderen Vorzeichen nähern, ver323
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gleichsweise noch leicht, auch wenn die Beziehung in sozialer Hinsicht alles andere als symmetrisch ist. So ist es kein Zufall, dass der Kontakt zu den Neurowissenschaftlern für Psychoanalytiker einfacher ist (und momentan wesentlich intensiver betrieben wird) als der zur Soziologie. Ihre soziale Karriere gibt den Neurowissenschaften im Moment so viel Rückenwind, dass sie kaum Gründe haben, andere respektvoll zu behandeln. Jedenfalls ist es kein symmetrisches Beziehungsangebot, wenn Neurowissenschaftler explizit – wie in dem berüchtigten Manifest von 2004 – oder implizit behaupten, sie könnten alles und das besser. Aber selbst wenn das bedeutet, dass die Psychoanalyse sozusagen als Bittsteller auftreten muss, wenn sie hier Kooperationen auf die Beine stellen will, kann sie sicher sein, dass der naive Reduktionismus vieler Neurowissenschaftler die eigenen Kompetenzen nicht wirklich ersetzen kann. Insofern bleibt das eigene Paradigma unbedroht. Das ist in der Beziehung zur Soziologie anders, und zwar gerade weil hier Symmetrie besteht – nämlich eine Symmetrie in den skizzierten Theorieproblemen und im Sozialstatus. Es kommt jedoch noch Entscheidendes dazu. Zwar lassen sich Psyche und Gesellschaft logisch und empirisch ein Stück weit trennen und getrennt behandeln, aber im Prinzip sind sie sich gegenseitig bedingende und durchdringende, also systematisch vermittelte Momente einer dialektischen Einheit. Es gibt keine Psyche ohne Gesellschaft und keine Gesellschaft ohne Psyche. Wo es um Kooperation geht, hat man es daher mit einer psychosozialen Hybridrealität zu tun – mit einem autopoietischen Prozess, der nur durch das Zusammenspiel psychischer wie sozialer Faktoren zustande kommt und durch psychische und durch soziale Faktoren bestimmt ist. Dabei gibt es jedoch – und das macht die Sache kompliziert – kein feststehendes Muster der Interferenz, sondern ein offenes Feld möglicher Variationen: Die beteiligten psychischen und sozialen Momente können mal so, mal anders zusammenspielen und sie können dabei in Funktion und Bedeutung variieren. Eine solche Indifferenz lässt die Grenz- und damit Beziehungsprobleme erst richtig virulent werden. Denn wenn wo beide Seiten auf nicht festgelegte Weise relevant sein können, das heißt, Relevanz erst ausgehandelt werden muss, gibt es etwas zu gewinnen und zu verlieren, was die Lust an der Selbstbehauptung und die Angst, untergebuttert zu werden, aktiviert. Beides setzt die angesprochene Dynamik der kontrafaktischen Selbstüberschätzung in Gang, die die andere Seite zwangsläufig abwertet. Das sinn324
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volle Zusammen-Denken unterschiedlicher Aspekte kippt dann in eine negative Reziprozität des Ringens um Zuständigkeit und Vorrang. Richtig dramatisch wird dies Ringen jedoch erst, wenn dabei inhaltlich diametrale Strategien verwendet werden. Während die Psychoanalyse im Normalfall soziale Realität als Material des psychischen Prozessierens behandelt, versucht die Soziologie zumeist, Soziales un-psychologisch, nur mit Bezug auf Soziales, zu erklären. Die Leitstrategie der einen Seite ist damit ein No-Go für die andere. Es leuchtet ein, dass man sich damit geradezu gegenseitig auf die Nerven gehen muss – einfach dadurch, dass man das tut, was man normalerweise tut. Unter diesen Umständen ist es nicht so leicht, ein gemeinsames Objekt zu finden. Die Zumutung besteht darin, dass man ein Hybridobjekt – also ein Objekt, das mit »Fremdkörpern« kontaminiert ist – lieben muss. Und die schwierige Kunst besteht nicht zuletzt darin, dass man daran gegen den destruktiven Sog der Interaktionsdynamik gemeinsam festhält. Dazu kommt ein weiterer Punkt, der mit der spezifischen Komplexität autopoietischer Realität zusammenhängt. Konnotative Theorien erfassen aus den genannten Gründen ihren Gegenstand immer nur reduziert, weil es nicht möglich ist, alle beteiligten Momente zugleich und gleich gut zu erfassen. Diese Diskrepanz zwischen Realitätskomplexität und Theoriekapazität verschärft sich noch, wenn nicht nur eine, sondern verschiedene Perspektiven im Spiel sind. Denn die Gesamtkapazität dessen, was Theorie kann, weitet sich nicht aus. In der gemeinsamen Arbeit am Hybridobjekt kann daher keine der Seiten ihre volle Leistungsfähigkeit einbringen, sondern muss sich im Gegenteil einschränken, damit Platz für die andere Sichtweise entsteht. Und damit die Perspektiven überhaupt in Verbindung gebracht werden können, bedarf es einer Präsentation, die sich nicht nach innen richtet, sondern nach außen anschlussfähig ist. Pointiert gesagt: Die Kooperation zwingt die Beteiligten ein Stück weit zur Primitivisierung der Argumentation. Dies wiederum sorgt in der jeweiligen Zunft für Naserümpfen und verstärkt die Abstoßungsreaktionen, die ohnehin durch Grenzüberschreitungen provoziert werden. Das alles schmerzt natürlich. Insgesamt, so zeigen nicht nur die theoretischen Analysen, sondern auch einschlägige praktische Erfahrungen, sind Kooperationen dieser Art mit erheblichen Betriebskosten verbunden. Man braucht also nicht nur Motivation und Kompetenz, sondern auch ein gewisses Stehvermögen, um nicht zu sagen: Leidensfähigkeit. Man fragt sich jetzt vermutlich, warum jemand über die Kooperation von Psychoanalyse 325
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und Soziologie spricht, und dies darauf hinausläuft, dass das alles mühselig ist, dass es – so wie die Dinge jetzt stehen – kaum Anerkennung dafür gibt. Gutes Marketing ist das zumindest keines. Aber ich meine, dass das auch gar nicht nötig ist. Wer Kompetenzen hat, hat auch Verantwortung. Da Psychoanalyse und Soziologie bestimmte Beiträge zur Aufklärung nur zusammen erbringen können, führt an ihrer Kooperation objektiv kein Weg vorbei. Und dieses Projekt ist, wenn es erst mal etabliert ist, so robust, dass es das braucht und verträgt, was beide Paradigmen auszeichnet: einen ungetrübten Blick auf die Wirklichkeit. Das Nachdenken über Projekte soll ja dazu beitragen, dass man sie besser versteht. Dabei zeigt sich eben, dass es Methoden und Theorien schwer haben, ihren (autopoietischen) Gegenstand zu erfassen, und dass es die Institutionen, die mit diesen Theorien und Methoden arbeiten, es mit ihren Akteuren, mit ihrer Umwelt und mit sich selbst nicht leicht haben. Dieser Befund ist zwar ernüchternd, aber auch entlastend. Denn es ist klar: Perfekte Resultate sind nicht zu erreichen und Unzulänglichkeiten sind nicht der Ausdruck von Versagen und Inkompetenz, sondern eines Scheiterns, welches ein Stück weit unvermeidlich ist. Allerdings gilt auch: Nicht jede Schwäche ist objektiv unvermeidbar. Der Umgang mit falliblen Methoden und Theorien, die mit Balanceproblemen kämpfen, will gelernt sein und kann gelernt werden. Daher ergibt es Sinn, entsprechende Ausbildungsprogramme anzubieten, um durch Professionalisierung die Risiken der Kooperation zu minimieren und die Chancen zur kreativen Nutzung des Potenzials zu erhöhen. Damit ist man die Probleme nicht los, aber zweifellos wird man dem Imperativ von Samuel Beckett (»Try again, fail better«) gerecht. Und das ist in jedem Fall besser, als das enorm wichtige Projekt der Kooperation von Psychoanalyse und Soziologie zu vernachlässigen und das Potenzial ihrer Kooperation brach liegen zu lassen.
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13 Psychodynamik und Gesellschaft Eine dialektische Beziehung und ihre Konzeptualisierung
Freud hat schon früh gesehen, dass er mit seinen Erkenntnissen – anders als im Vorwort zur Traumdeutung formuliert – den Bereich der »Neuropathologie« weit überschritten hatte und dass sein Weg ihn unvermeidlich dazu führen musste, das Verhältnis der von ihm untersuchten Psychodynamik zur Gesellschaft neu zu bestimmen. Schon früh entwickelte er auch dazu eine Leitidee: Gesellschaft basiert darauf, dass Triebimpulse gehemmt oder, wo dies möglich ist, umprogrammiert und zum Erhalt der »Kultur« genutzt werden (siehe zum Beispiel Freud, 1908d, S. 149ff.). Während der erste Teil seiner Argumentation seit Hobbes vertraut war, gab es den zweiten bis dahin nur andeutungsweise. Freud buchstabiert aus, wie die Sexualtriebe auf kulturell sinnvolle Ziele verschoben, »sublimiert« werden können und dadurch die libidinöse Grundlage der Gesellschaft entsteht. Er weist zugleich darauf hin, dass dies keine lineare Gleichung ist, dass vielmehr ein Zuviel des Guten zum Schlechten wird – etwa, wenn die »kulturelle Sexualmoral« die Sexualität so weit unterdrückt, dass sie die davon Betroffenen neurotisiert, wodurch sie nicht nur nicht mehr zur produktiven Sublimierung fähig sind, sondern auch noch zu Feinden der Kultur werden. Diese erste psychodynamische Gleichung von Individuum und Gesellschaft nach Freud fragt also danach, wo die Energie herkommt, mit der Gesellschaft betrieben wird. Die Gesellschaft selbst wird als »vernünftige« Einrichtung vorausgesetzt, die jedoch nicht unbedingt »vernünftig« handelt. Aber er traut der Gesellschaft zu, dass sie lernfähig ist und setzt darauf, dass sie durch (nicht zuletzt psychoanalytische) Aufklärung zur Vernunft gebracht werden kann, sprich: die unvernünftige Sexualmoral durch eine vernünftigere ersetzt. Im nächsten Anlauf geht Freud wesentlich weiter und, wenn man so will, tiefer. Inzwischen hatten sich sein Denken, sein Instrumentarium und auch seine Ambitionen weiter327
13 Psychodynamik und Gesellschaft
entwickelt. In Totem und Tabu (1912–1913a) entwirft er ein neues Bild der Entstehung und Funktionsweise von Kultur. Dabei verlagert sich der Schwerpunkt der Argumentation von einer »energetischen« zu einer konflikttheoretischen Sichtweise. Er stellt sich Darwins »Urhorde« als soziale Form vor, deren Entwicklungsmöglichkeiten durch die Dominanz autoritärer Herrschaft (des Vaters) blockiert war – unter anderem auch, weil eine nur durch externen Druck zusammengehaltene Gesellschaft keine stabile Ordnung erzeugen kann. Bekanntlich fand er eine originelle Lösung für die Frage, wie unter diesen Umständen ein Übergang zur »Kultur« (das heißt einer leistungs- und entwicklungsfähigen Gesellschaft) möglich ist. Es ist die Idee eines psychodynamischen »Urknalls« von gesellschaftlicher Ordnung, bei dem der ödipale Konflikt im Mittelpunkt des Geschehens steht. Als Folge eines gemeinsamen Vatermordes1 entsteht in der »Brüderhorde« qua Schuldgefühl nachträglicher Gehorsam, das heißt, die väterlichen Gebote werden internalisiert und wirken fortan als intrapsychische Instanz – als Über-Ich. Auf diese Weise entstehen Soziabilität der Einzelnen wie soziale Solidarität aus der Psyche der (männlichen) Akteure, die wiederum durch das historische Geschehen so verändert wird, dass daraus Gesellschaft entstehen kann. Ihre Institutionen basieren fortan auf der Möglichkeit der Internalisierung von Normen. Damit hatte Freud die »mechanische« Erklärung von Kultur durch eine historisch-dynamische ergänzt und erweitert.2 In späteren Anläufen hat er diese beiden Zugänge noch erweitert. Der Text Die Zukunft einer Illusion (1927c) greift in gewisser Weise zurück auf den ersten Ansatz: Auch hier geht es wieder darum, dass »die Kultur« – unter bestimmten Bedingungen – eine vernünftige Einrichtung ist, die funktionsfähige Akteure braucht. Hier liegt der Fokus darauf, dass lange Zeit individuell wie kollektiv ein hinreichend funktionsfähiges Über-Ich nicht in genügendem Ausmaß zur Verfügung stand. Also bedurfte es bestimmter Hilfsmittel, um 1 Genau genommen steht in diesem Mythos am Anfang der Kulturentwicklung eine zugleich asoziale und soziale Tat: der gemeinsame (!) Mord am Vater. Daher vielleicht die Ambivalenz der weiteren Entwicklung … 2 Freuds »mythologischen« Annahmen sind hinreichend kritisiert worden. Man sollte dabei nicht übersehen, dass er keine Mythologie begründen wollte, sondern damit die Lücken und Unzulänglichkeiten seiner innovativen Perspektive kompensieren musste. Deshalb darf eine sinnvolle Kritik nicht dabei stehenbleiben, dies zu kritisieren, sondern muss den darin verborgenen sinnvollen Gehalt aufdecken und weiterentwickeln.
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13 Psychodynamik und Gesellschaft
die Entwicklung von Kultur überhaupt zu ermöglichen. Religion hatte in diesem Zusammenhang die Funktion eines externen Über-Ichs, welches die (Über-Ich-schwachen) Einzelnen auf dem Weg hielt. Freud verweist – ganz funktionalistisch – auf die Kosten dieser Leistung. Vor allem die religiösen Denkverbote sind auf Dauer zum Nachteil geworden und behindern sowohl die individuelle Entwicklung eines reifen Über-Ichs als auch die Weiterentwicklung der Kultur zur Reife. Daher sei es an der Zeit, Religion durch einen nüchternen, realistischen Blick auf die Welt zu ersetzen. In dem kurz darauf geschriebenen Text Das Unbehagen in der Kultur (1930a [1929]) setzt er in gewisser Weise wieder bei der Zeit vor dem »Vatermord« an und hält nun fest, dass trotz aller Kulturentwicklung die ursprüngliche Kulturunlust der Menschen geblieben ist. Am Ende steht die Feststellung, dass die Kultivierung der Psyche (und damit Kultur) zumindest begrenzt möglich ist, dass aber Kultur und Psyche zugleich auch unversöhnt sind und bleiben. Speziell die menschliche Aggressionsneigung wird immer wieder zum Problem und sekundär durch die Zumutungen der Kultur verstärkt. Es geht nicht mehr um die Frage, wie die Kultur aufgebaut und entwickelt werden kann, sondern darum, wie sie gegen kulturfeindliche Neigungen verteidigt werden muss – eine Veränderung der Perspektive, die nicht nur angesichts des aufkommenden Faschismus in Europa nachvollziehbar und sinnvoll ist. Insgesamt hat Freud damit3 die Tür zu einem neuen, psychodynamisch differenzierten Verständnis von gesellschaftlichen Prozessen geöffnet und eine Diskussion eröffnet, die bis heute fruchtbare Ergebnisse erbringt.4 Einige Autoren versuchten, Freuds spekulative Theorien konzeptuell und empirisch genauer zu fundieren. Róheim, ein gelernter Ethnologe, der eine psychoanalytische Ausbildung absolviert hatte, griff Freuds Annahmen auf, löste aber den Widerspruch zwischen Geschichte und genetischer Verankerung auf, indem er annahm, dass der Ödipuskomplex nicht durch ein historisches Ereignis erworben, sondern universell vorhanden ist (Róheim, 1977). Dadurch war Freuds historischer Mythos überflüssig und wurde ersetzt durch die Vorstellung, dass der Ödipuskomplex ein Bestandteil der conditio humana ist, also in jeder Kultur vorkommen muss. 3 Und auch mit weiteren Arbeiten (etwa Massenpsychologie und Ich-Analyse, Freud, 1921c), die hier allerdings nicht alle aufgezählt und diskutiert werden müssen. 4 Siehe dazu auch Kapitel 4 bis 7 in diesem Band.
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13 Psychodynamik und Gesellschaft
Verbunden war damit auch die Annahme, dass es, psychodynamisch gesehen, keinen »Fortschritt« gibt, sondern nur kulturell unterschiedliche Lösungen ein und derselben, im Individuum verankerten Aufgaben und Probleme. An die Stelle von Freuds »lamarckistischer« Annahme, dass sich die Psyche im Verlauf der Geschichte weiterentwickelt, tritt daher bei Róheim eine »ontogenetische« Kulturtheorie – eine Theorie, in der die wesentlichen psychodynamischen Themen im Lauf der Geschichte nicht geändert, sondern nur neu formatiert werden. Diese Prämisse führte dazu, dass Róheim sich darauf konzentrierte, das Gemeinsame von unterschiedlichen Gesellschaften hervorzuheben. Vor allem bemühte er sich, die Universalität des Ödipuskomplexes nachzuweisen.5 Kultur ist für ihn dabei prinzipiell von entwicklungspsychologischen Problemlagen der Akteure her verständlich; kulturelle Einrichtungen sind das Ergebnis und der Ausdruck psychodynamischer Konflikte. Mit diesem Konzept vermied Róheim die mythischen Konstruktionen, zu denen Freud griff, vertrat jedoch eine reduktionistische Sicht, mit der er die Befunde der anthropologischen Forschung interpretierte. Danach sind auch andere universell auftretende Phänomene wie Sexualfeindlichkeit, Objektwechsel, Regression, Ambivalenz ebenso wie die Struktur der Persönlichkeit (Es, Ich und Über-Ich) bedingt durch die physiologische »Jugendlichkeit« der Gattung Homo sapiens (ebd., S. 236ff.). Damit gab Róheim den Anstoß für eine Forschungsrichtung, die sich darauf konzentrierte, psychodynamische Konfliktbewältigung als Grundlage und Movens kultureller Entwicklung zu betrachten. Ein wichtiger Vertreter dieses Zugangs war Devereux. Dessen »ethnopsychoanalytischer« Ansatz basiert auf der Annahme, dass von der Fülle des psychischen Geschehens nur bestimmte Elemente kulturkompatibel sind: »Jede Kultur gestattet gewissen Phantasien, Trieben, und anderen Manifestationen des Psychischen den Zutritt und das Verweilen auf bewußtem Niveau und verlangt, daß andere verdrängt werden. Dies ist der Grund, 5 Genauer gesagt: Róheim ging davon aus, dass die ödipale Problematik universell ist und kulturell in der einen oder anderen Form ausgeprägt wird – er behauptete also nicht, dass die mitteleuropäische Form universell ist, sondern dass der Konflikt universell ist. Geht man noch einen Schritt weiter und sieht den Ödipuskonflikt als Sonderform der Triangulierung (siehe unten), kommt man zu einer hinreichend abstrakten Generalisierung, die ein Schema für alle möglichen Variationen bietet.
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warum allen Mitgliedern ein und derselben Kultur eine gewisse Anzahl unbewusster Konflikte gemeinsam ist« (Devereux, 1974, S. 24).
Diese Ausgangsthese wird von Devereux ergänzt durch Hinweise auf »Produktionsfehler«: »Das Material, welches das ethnische Unbewußte bildet, wird durch gewisse Abwehrmechanismen, die durch kulturelle Zwänge verstärkt und häufig durch diese bereitgestellt werden, im Zustand der Verdrängung gehalten. Allerdings können diese Abwehrmittel, welche die Kultur dem Individuum zur Verfügung stellt, um ihm die Verdrängung seiner kulturell dystonen Triebe zu ermöglichen, sich als unzulänglich erweisen« (ebd.).
Dafür entwickeln sich Hilfsprogramme: »Die Kultur tendiert dann dazu, wenn auch widerwillig, gewisse kulturelle Mittel bereitzustellen, welche den Ausdruck dieser Triebe wenigstens in marginaler Form gestatten« (ebd.). Das bedeutet jedoch, dass die »Kultur« dysfunktionale Psychodynamik enthält beziehungsweise aushalten muss. »Die Institutionalisierung […] eines anormalen Charakterzuges genügt nicht, um diesen kultur-synton zu machen. […] Ebenso wenig impliziert die […] Beteiligung der Mehrheit einer Gruppe an einer Aktivität, die, obgleich hinlänglich institutionalisiert, im Grund anormal ist, daß diese Aktivität auf kultureller Ebene normal oder synton wäre« (ebd., S. 25).
Dies erweitert die Perspektive durch die Annahme von empirischer Heterogenität und Dysfunktionalität. Was jedoch bleibt, ist die Unklarheit, was denn warum gesellschaftlich tabuisiert (und dann doch wieder ein Stück weit zugelassen werden) muss. Es hat eine ganze Reihe von Ansätzen gegeben, die es, mehr oder weniger von psychoanalytischen Erkenntnissen inspiriert, aber oft auch in deutlicher Abgrenzung gegen die Psychoanalyse, unternommen haben, psychodynamische Aspekte von Kulturen zu untersuchen. Eine Schlüsselrolle spielte in diesem Zusammenhang Malinowski: Er verwendete eine ebenso konsequente wie einfache funktionalistische Sichtweise, nach der alle Bestandteile einer Kultur, jede Institution, jeder Brauch, eine lebenswichtige Funktion für die Aufrechterhaltung dieser Kultur haben. Die Kultur wiederum ist vor allem eine Einrichtung, die an der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse orientiert ist. 331
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Damit wendet sich der Blick weg von Geschichte und Evolution hin zum konkreten Operieren von Kulturen. In diesem Zusammenhang betont Malinowski (1975, S. 211ff.) die Leistungen der Psychoanalyse für das Verständnis affektiver Bedürfnisse und die »Gefühlssysteme«, die sich in Familien und Gruppen bilden, er kritisiert aber auch ihre (vermeintlichen) Unzulänglichkeiten (etwa die Behauptung von der Universalität des Ödipuskomplexes6). Malinowski bot also mit seinem pragmatischen und handfesten Funktionalismus einen umfassenden theoretischen Rahmen und erweiterte den Horizont durch den Einbezug psychischer Prozesse. Die Trias »Bedürfnisse – Institutionen – Kultur« gab ein Schema für empirische Zusammenhänge wie auch für den logischen Zusammenhang von Psychodynamik und Gesellschaft vor. Diese Perspektiven haben in unterschiedlicher Weise anregend gewirkt – nicht zuletzt auch für die Diskussion um culture and personality, als deren Hauptvertreter Kardiner gilt. Zusammen mit Linton entwarf er ein Programm (Kardiner et al., 1945), in dem die rationalen Aspekte der Kultur ebenso wie ihre irrationale – emotionale – Seite erklärt werden sollten. Dies sollte ein im Prinzip generelles Erklärungsschema sein, aber aus Gründen der Überschaubarkeit zunächst an primitiven Gesellschaften ausprobiert werden. Kardiners Ausgangspunkt sind dabei die Verschiedenheiten der Kulturen. Diese erlaubten weder einen biologischen Reduktionismus noch die Annahme einer prinzipiell einheitlichen Struktur. Deskriptiv lasse sich zwar für jede Kultur ein cultural pattern beschreiben, aber dies erkläre noch nicht die Konstanz bestimmter Züge im Verhalten der Mitglieder. Er umreißt sein theoretisches Modell so: »1. Die soziale Evolution hat keinen einheitlichen Verlauf, daher muß jede Gesellschaft als eine eigene Einheit verstanden werden. […] 2. Will man die Einrichtungen einer Gesellschaft verstehen, so muß man versuchen, die Anpassungsprobleme zu rekonstruieren, denen sich die Gesellschaft gegenübergesehen hatte. 6 Die Antwort von Róheim auf das Argument der empirischen Widerlegung der »Universalitäts«-Behauptung fiel im Wesentlichen folgendermaßen aus: Die Untersuchungen von Malinowski (oder Kluckhohn) zeigen nur, dass die ödipale Thematik nicht immer die gleiche Form hat, sie zeigen jedoch zugleich, dass es sie überall gibt (und es muss sie geben, weil sie ihren Ursprung in der psychischen Entwicklung des Menschen hat) (siehe Róheim, 1977, S. 10ff.).
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Es ist klar, dass es für ein soziales Problem viele Lösungsmöglichkeiten gibt. […] 3. Soziale Institutionen sind nach Mustern gebildete Beziehungen, die den einzelnen den anderen Menschen und der Umwelt anpassen« (Kardiner & Preble, 1974, S. 251).
Kardiner sieht also einen doppelten Anpassungsprozess am Werk: Die Kultur passt sich an ihre Umwelt an, die Akteure werden an ihre Kultur angepasst. Dies ist jedoch doch keine rationale Konditionierung, sondern vollzieht sich im Zusammenspiel mit den biologisch angelegten Themenund Problemkreisen. Deshalb gehört zum Kerngeschäft der Kulturforschung die genaue Analyse von Erziehung und Sozialisation, wofür Kardiner und Kollegen sehr genaue Beobachtungsregeln entwarfen (Kardiner et al., 1945, S. 26ff.). Der Zusammenhang von Gesellschaft und Psychodynamik sieht also (grob vereinfacht und milde karikiert nach Kardiner & Preble, 1974, S. 252ff.) so aus: Eine Gesellschaft hat ein Problem (Nahrungsknappheit). Sie wählt eine der möglichen Lösungen (Tötung eines Teils der weiblichen Kinder). Daraus ergibt sich ein Männerüberschuss, der mit Polyandrie beantwortet wird. Wegen der Notwendigkeit, sich um viele Männer zu kümmern, vernachlässigen die Frauen die Kinder, die leicht verwahrlost aufwachsen. Die Männer sind dagegen frustriert und entwickeln feindselige Einstellungen gegenüber Frauen. Die Folgen dieser Homöostase finden sich in der »modalen Persönlichkeit« der Gesellschaft. Mit diesem Begriff wird das Scharnier zwischen Gesellschaft und Psyche angesprochen: die »grundlegende Persönlichkeitsstruktur« (basic personality) ist die psychodynamische Antwort auf die institutionalisierten Gegebenheiten und die Vermittlung von äußeren und inneren Impulsen.7 7 Diese Sichtweise ist zwar eng mit dem Konzept der »Anpassung« der Psyche an gesellschaftliche Verhältnisse verbunden, aber deshalb nicht unkritisch. Mead (1965) nutzte beispielsweise ihre Beschäftigung mit den Kulturen der Südseeinsulanern extensiv für eine kritische Revision der US-amerikanischen Erziehung und Sexualmoral – man hat gelegentlich sogar den Eindruck, dass dies das Hauptziel ihrer Arbeit ist. Auch Benedict und andere halten sich mit gesellschaftskritischen Bemerkungen und gesellschaftspolitischen Vorschlägen keineswegs zurück. Allerdings fehlt meist die für die »linksfreudianischen« Texte typische Verbindung mit einem konturierten Gesellschaftsmodell (siehe unten).
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In eine ähnliche Richtung ging das Programm von Erikson: Auch er beschäftigte sich mit dem Zusammenspiel von Psychodynamik und Gesellschaft, auch er demonstrierte dies an Beispielen einfacher Stammesgesellschaften (Erikson, 1974). Die Rede war hierbei von den Yurok, einer »Fischergesellschaft«, und den Sioux, einer »Jägergesellschaft«, deren Rituale Erikson psychodynamisch interpretierte. Dabei ging er auf Distanz zu Róheims Vorstellungen und war in seiner Argumentation zugleich Freud wesentlich näher (und dabei wesentlich differenzierter) als Kardiner. Als Bezugspunkt nutzte er ein entwicklungspsychologisches Konzept, das über Freuds Vorstellungen weit hinausgriff und sie zu einer epigenetischen Theorie – einer Abfolge von polaren Problemlagen – ausbaute. In seinem Modell der Beziehung von Psychodynamik und Gesellschaft geht es um »die wechselseitige Abhängigkeit innerer und sozialer Organisation« (ebd., S. 180). Erikson nimmt an, dass es die aus dieser Dialektik hervorgehenden Konstellationen sich in Vorstellungen niederschlagen, »mit deren Hilfe […] Stämme ihre Konzepte und ihre Ideale in einem konkreten Lebensplan zu synthetisieren suchen. Dieser Plan lässt sie in ihren primitiven technischen und magischen Unternehmungen Erfolg haben und bewahrt sie vor der individuellen Angst, die zur Panik führen könnte, vor der Angst des Präriejägers, entmannt und bewegungsunfähig zu sein, und der Angst des pazifischen Fischers, unversorgt zu bleiben. Um diese Aufgabe zu erfüllen, scheint eine primitive Kultur drei Dinge zu leisten: sie verleiht frühen körperlichen und zwischenmenschlichen Erfahrungen spezifische Bedeutungen, um so die richtige Kombination von Organmodi und den rechten Akzent auf den sozialen Modalitäten zu erreichen; sorgfältig und systematisch leitet sie die so provozierten und von ihrem ursprünglichen Ort abgelenkten Energien durch die komplizierten Grundverhaltensformen des täglichen Lebens hindurch; den infantilen Ängsten, die sie durch diese Provokation ausgenützt hat, verleiht sie fortdauernd übernatürliche Bedeutung« (ebd., S. 180f.).
Erikson geht also davon aus, dass gesellschaftliches Funktionieren darauf basiert, dass die mit psychischen Entwicklungsmodalitäten verbundenen gesellschaftlich umgearbeitet und instrumentalisiert werden können und werden, dass also das »Triebschicksal« gesteuert und zur Bewältigung sozialer Aufgaben genutzt werden kann, wobei das Überleben einer Kultur 334
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auch damit zusammenhängt, ob die begleitenden Fantasien und Ängste sinnvoll integriert werden können. Die skizzierten Versuche, das Verhältnis von Psychodynamik zu bestimmen, haben eine ganze Reihe von wichtigen Gesichtspunkten herausgearbeitet. Sie zeigen, dass Gesellschaft ohne Psychodynamik nur begrenzt verständlich ist und sie demonstrieren die Bedeutung der Formierung von Psychodynamik wie auch der formierten Psychodynamik für das Funktionieren sozialer Realität. Nicht unbedingt die Argumente selbst, aber ihre Durchführung und ihre Kontextualisierung werden allerdings gelegentlich zum Problem. Das gilt sowohl für Analysen, in denen »Kultur« vor allem der Abwehr von nicht-kompatiblen Impulsen und/oder der Kanalisierung von Fantasien wie auch für den häufig sehr simplen und verkürzten Funktionalismus, der immer und gleich konkrete Leistungen sieht und einen so organisierten Kontext schlicht voraussetzt. Es gilt auch für die Unterstellung eines (einzigen) Kernkomplexes wie für ein allzu empiristisches Verständnis einer basic personality. Ein Teil der Probleme8 muss man auf das Konto der Pioniersituation buchen – es ist nicht verwunderlich, dass ein neuer Diskurs unbeholfen und mit groben Vorläufigkeiten daherkommt. Ein weiterer Teil hängt mit den strukturellen begrifflichen Problemen zusammen (deren Beschwörung den basso continuo dieses Textes hier darstellt) – die volle Komplexität der Thematik ist kaum schadenfrei zu behandeln. Zum Teil handelt es sich jedoch auch um Strickfehler, die mit Vorlieben, Abneigungen, mit dem Zeitgeist und dessen inhaltlichen wie methodischen Imperativen zusammenhängen. Kardiners Idee, die grundsätzlichen Zusammenhänge an »primitiven« Gesellschaften zu studieren, um sie dann später auf »kompliziertere« anzuwenden, ist in gewisser Weise forschungspragmatisch nachvollziehbar, führt aber in die Irre. »Primitive« (das heißt »ursprüngliche«) Gesellschaften sind nicht unbedingt »einfach«, und sie bieten nur beschränkt ein Modell für andere Gesellschaftstypen. Insofern ist der Ver8 Pointiert zusammengefasst leiden viele Entwürfe – nicht alle und nicht alle auf gleiche Weise – daran, dass sie monologisch vorgehen (also nur bestimmte Aspekte des Ganzen behandeln), dass sie eine Art Polarität beziehungsweise einen »Kurzschluss« von Gesellschaft und Individuum annehmen, dass sie Gesellschaft als zu homogene Einheit (also zu wenig Verständnis für soziale Konflikte und ihre Dynamik enthalten) oder, in der kritischen Variante, zu einfach als vertikal gespalten sehen. Insgesamt ist auch das Verständnis für gesellschaftliche beziehungsweise historische Entwicklung wenig ausgeprägt.
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such, beim scheinbar Einfachen anzufangen, symptomatisch für ein (zu) einfaches Modell des Gesamtprojekts.9 Dazu kommt, dass der Blick auf das (scheinbar) Einfache gerade in diesem Zusammenhang häufig unangemessen ist, weil er Differenzen und deren inneren Zusammenhang nicht erschließt. Das führte zu erheblichen Schwierigkeiten. Erikson brachte sie in seinen »Gedanken über die amerikanische Identität« (Erikson, 1974, S. 280ff.) so auf den Punkt: »Es ist ein Gemeinplatz, dass es zu jedem Charakterzug, den man als ›echt amerikanisch‹ zu erkennen meint, ein ebenso charakteristisches Gegenteil gibt. Das ist aber wohl in Bezug auf jeden ›Nationalcharakter‹ oder, wie ich lieber sagen würde, für alle nationalen Identitäten der Fall – so sehr, dass man vielleicht überhaupt von der Annahme ausgehen sollte, die Identität einer Nation hänge davon ab, wie die Geschichte gewisse gegensätzliche Möglichkeiten sozusagen kontrapunktisch gesetzt hat, der Art in der sie dann diese Kontrapunkte zu einem einzigartigen Kulturstil erhebt oder in reinen Widerspruch sich auflösen lässt« (ebd., S. 280).
Statt eine direkte Beziehung zwischen Gesellschaftsstruktur, Sozialisationspraktiken und Identitätsprofil anzunehmen, schlug Erikson vor, von Basisthemen beziehungsweise -konflikten und den verschiedenen Möglichkeiten, sie zu behandeln, auszugehen. Damit steuert er auf sein eigenes, polaritätszentriertes Entwicklungsmodell von Identität zu. Man kann Eriksons Argument jedoch noch weiter fassen: Es geht nicht nur um Polaritäten, sondern immer um komplexe Gemengelagen, um psychodynamische Syndrome, die unterschiedliche Seiten und unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten enthalten. Es gibt also einen Sozialcharakter im Sinn von typischen Mustern im Umgang mit typischen Problemlagen (im Plural), der sich jedoch auf dieser Ebene nur in hochgradig abstrakten Formeln fassen lässt, weil sich Problemlagen und Problembehandlungen subsystemspezifisch, subkulturspezifisch, schichtspezifisch, regional und so weiter unterscheiden. Erst erheblicher Abstand und/oder eine Eigenperspektive, 9 Allerdings lassen sich »einfache«, das heißt »kleine« Gesellschaften, die keinem dynamischen Wandel unterliegen, wesentlich besser erfassen und erforschen. Daher sind die Ergebnisse der entwickelten Ethnopsychoanalyse (etwa die Untersuchungen von Parin und seinen Mitarbeitern, Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy, 1963) auch konsistenter als die Versuche, moderne Gesellschaften zu charakterisieren (siehe unten).
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die den Sachverhalt auf spezifische Weise fokussiert, führen zu pointierten Bildern.10 Erikson spricht auch das Thema der gesellschaftlichen Entwicklung an. Seine Vorschläge gehen über die einfache Formel »Veränderte Bedingungen verlangen und fördern andere Eigenschaften und andere Abwehr« deutlich hinaus. Er geht davon aus, dass Gesellschaften sich entwickeln (»Die Geschichte der Gesellschaftsformen verzeichnet Aufstieg und Verfall«, ebd., S. 274), dass diese Formen im Zusammenhang mit entwicklungspsychologischen Problemen und deren Lösung zu sehen sind (es gibt »eine grundsätzliche Affinität zwischen dem Problem des Urvertrauens und den religiösen Institutionen«, ebd.), und dass diese Formen von Generation zu Generation transferiert und transformiert werden. Daraus ergibt sich ein bewegtes Feld mit Disparitäten: »Das Studium der Gesellschaft muss sich mit der Beziehung [der] Institutionen zueinander und mit dem Aufstieg und Untergang von Institutionen als Organisationen beschäftigen. […] Ich glaube, daß ein derartiges Studium auf die Dauer der fruchtbarsten Erwägungen verlustig ginge, übersähe es die Art und Weise, in der jede Generation jede Institution neu beleben kann und muß, selbst während sie hineinwächst« (ebd., S. 275).
Diese von Erikson angesprochenen Aspekte sind von Anfang an von einigen Psychoanalytikern aufgegriffen worden, die eine gesellschaftskritische Position vertraten und versuchten, mithilfe der Psychoanalyse ein historisch-materialistisches Gesellschaftsverständnis weiterzuentwickeln. Ein früher Versuch, diese Schwächen zu überwinden, stammt von Erich Fromm, der Soziologie studiert hatte und als Psychoanalytiker ausgebildet 10 Entsprechend muss beispielsweise die alte Auseinandersetzung darüber, ob es denn so etwas wie einen »Nationalcharakter« gäbe, differenziert gesehen werden. Denn die Antwort muss »Ja und Nein« lauten: Es gibt ihn nicht und kann ihn nicht geben, wenn man damit eine fixe persönliche Eigenschaft meint, die auf mysteriöse Weise alle Mitglieder einer Population kennzeichnet. Der Amerikaner, Deutsche, Österreicher … existiert nicht. Aber es gibt ihn, wenn ein hinreichend abstrakter und distanzierter Blick verwendet wird; es gibt ihn, weil aus dem Abstand die vorhandenen Differenzen unauffälliger, die vorhandenen Gemeinsamkeiten auffälliger werden. Und es gibt ihn, wenn man ihn aus der typischen Sicht eines Engländers, Franzosen, Italieners sieht. Zwangsläufig ergeben sich dadurch erhebliche methodische Probleme – Probleme der Rekonstruktion und der Übertragung.
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war. Sein programmatischer Aufsatz über »Aufgaben und Methoden einer psychoanalytischen Sozialpsychologie« (1932) ist ein Versuch, die prinzipielle Bedeutung der Psychodynamik (und damit der psychoanalytischen Theorie) für gesellschaftstheoretische Analysen darzustellen. Dabei sind seine Bezugspunkte ein undogmatisch interpretierter und als soziologische Theorie verstandener historischer Materialismus und die Triebtheorie von Freud. Für ihn ist die »analytische Methode […] eine exquisit historische: sie fordert Verständnis der Triebstruktur aus dem Lebensschicksal« (ebd., S. 29). Das Verständnis der Triebdynamik erschließt seinerseits den »geheimen Sinn und Grund der im gesellschaftlichen Leben so augenfälligen irrationalen Verhaltensweise, wie sie sich in der Religion und in Volksbräuchen, aber auch in der Politik und der Erziehung äußern« (ebd., S. 31), indem sie verdeutlicht, welche Mechanismen im »Triebschicksal« aktiv sind – dass Triebe also in ihrer Entwicklung gestört, abgewehrt, sublimiert, umdefiniert werden können und dann kognitive Leistungen und praktisches Handeln entsprechend beeinflussen. Damit erweitert sie die beschränkte Sicht des historischen Materialismus, der nach Fromm eine unproduktive »ökonomistische« Psychologie vertrete. Beispielhaft für deren theorielose Psychologisierung eines unter bestimmten historischen Bedingungen besonders betonten ökonomischen Motivs ist die nicht nur im ökonomischen Liberalismus, sondern auch in marxistischen Theorien (etwa bei Kautsky) verwendete diffuse Unterstellung, Menschen besäßen so etwas wie einen »Erwerbstrieb«. Die Psychoanalyse könne dagegen zeigen, so Fromm, dass hinter dem »Besitzstreben« typischerweise ganz andere, auf bestimmte Weise formatierte Bedürfnisse stünden: »Es ist klar, dass in einer Gesellschaft, die dem Besitzenden, Reichen das Höchstmaß an Anerkennung und Bewunderung zollt, die narzißtischen Bedürfnisse der Mitglieder dieser Gesellschaft zu einer außerordentlichen Intensivierung des Besitzwunsches führen müssen. […] Da die narzißtischen Bedürfnisse zu den elementarsten und mächtigsten seelischen Strebungen gehören ist es besonders wichtig zu erkennen, dass die Ziele und damit die konkreten Inhalte der narzißtischen Strebungen von der bestimmten Struktur einer Gesellschaft abhängen und deshalb der ›Erwerbstrieb‹ zu einem großen Teil nur der besonderen Hochschätzung des Besitzes in der bürgerlichen Gesellschaft seine imponierende Rolle verdankt« (ebd., S. 43). 338
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Fromm kritisiert auch die vulgärmaterialistische Sicht des Zusammenhangs von Sein und Bewusstsein. Die simple Annahme einer mechanischen Umsetzung könne keine Auskunft über die Art der Umsetzung und über die Logik der Ergebnisse dieses Umsetzungsprozesses geben. »Die Psychoanalyse kann zeigen, dass die Ideologien die Produkte von bestimmten Wünschen, Triebregungen, Interessen, Bedürfnissen sind, die, selber zum großen Teil nicht bewußt, als ›Rationalisierung‹ in Form der Ideologie auftreten; daß aber diese Triebregungen selbst zwar einerseits auf der Basis biologisch bedingter Triebe erwachsen, aber weitgehend ihrer Qualität und ihrem Inhalt nach von der sozial-ökonomischen Situation des Individuums beziehungsweise seiner Klasse geprägt sind« (ebd., S. 46f.).
Entsprechend können »Produktion und Wirkungsweise der Ideologien nur als der Kenntnis des Funktionierens des Triebapparates richtig verstanden werden« (ebd., S. 34). Schließlich betont Fromm die Bedeutung psychischer Prozesse für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: »Was hält die Menschen zusammen, was macht gewisse Solidaritätsgefühle, was gewisse Einstellungen der Unter- und Überordnung möglich? Gewiß, es ist der äußere Machtapparat (also Polizei, Justiz, Militär und so weiter), der die Gesellschaft nicht aus den Fugen gehen läßt. Gewiß, es sind die zweckrationalen, egoistischen Interessen, die zur Formierung und Stabilität beitragen. Aber weder der äußere Machapparat noch die rationalen Interessen würden ausreichen, um das Funktionieren der Gesellschaft zu garantieren, wenn nicht die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologie in allen kulturellen Sphären beitragen« (ebd., S. 36).
Daraus ergeben sich folgende Eckpunkte des Verhältnisses von Gesellschaft und Psychodynamik: »Die sozialpsychologischen Erscheinungen sind aufzufassen als Prozesse der aktiven und passiven Anpassung des Triebapparates an die sozialökonomische Situation. Der Triebapparat selbst ist – in gewissen Grundlagen – biologisch gegeben, aber weitgehend modifizierbar; den ökonomischen Be339
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dingungen kommt die Rolle als primär formenden Faktoren zu. Die Familie ist das wesentlichste Medium, durch das die ökonomische Situation ihren formenden Einfluß auf die Psyche der einzelnen ausübt. Die Sozialpsychologie hat die gemeinsamen – sozial relevanten – seelischen Haltungen und Ideologie – und insbesondere deren unbewußte Wurzeln – aus der Einwirkung der ökonomischen Bedingungen auf die libidinösen Strebungen zu erklären« (ebd., S. 23).
Umgekehrt geht es darum, die Bedeutung dieser »libidinösen Strebungen« für die Gesellschaft herauszuarbeiten: »Jede Gesellschaft [hat], so wie sie eine bestimmte ökonomische und eine soziale, politische und geistige Struktur hat, auch eine ihr ganz spezifische libidinöse Struktur […]. Die libidinöse Struktur ist das Produkt der Einwirkungen der sozial-ökonomischen Bedingungen auf die Triebtendenzen, und sie ist ihrerseits ein wichtiges bestimmendes Moment für die Gefühlsbildungen innerhalb der verschiedenen Schichten der Gesellschaft wie auch für die Beschaffenheit des ›ideologischen Überbaus‹. Die libidinöse Struktur einer Gesellschaft ist das Medium, in dem sich die Einwirkung der Ökonomie auf die eigentlich menschlichen, seelisch-geistigen Erscheinungen vollzieht. […] Die Sozialpsychologie [hat] die Entstehung dieser libidinösen Struktur und ihre Funktion im gesellschaftlichen Prozeß zu erklären« (ebd., S. 38ff.).
Fromms Konzeption enthält einige wesentliche Elemente eines tragfähigen Modells, wo es die wechselseitige Bestimmung und Abhängigkeit ebenso betont wie die dialektische Beziehung von Psychodynamik und Gesellschaft. Das Stichwort »libidinöse Struktur der Gesellschaft« bietet Anknüpfungsmöglichkeiten. Auch die Idee der Familie als »Vermittlungsagentur« zwischen Gesellschaft und Psychodynamik weist in die richtige Richtung, muss jedoch aus heutiger Sicht weiter gefasst werden: Weder ist die Familie eine »Agentur«, noch lässt sich die Vermittlung auf die Leistung der Familie reduzieren. Insgesamt bleibt sein Verständnis von Soziologie weitgehend auf einen (undogmatischen) Marxismus beschränkt. Zudem stand ihm nur das Repertoire der frühen Psychoanalyse zur Verfügung (welches er allerdings geschickt weiterentwickelte). Dadurch bleibt die Skizze der Dialektik und des Vermittlungsgeschehens zu undifferenziert. 340
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Die weitere Entwicklung der »linksfreudianischen« Gesellschaftskritik selbst ist hier kein Thema. Sie war und ist immer noch ein außerordentlich anregendes und fruchtbares Konzept, und hat vor allem den Blick darauf, wie Gesellschaften ihre Mitglieder formieren, deformieren und bereichern. Sie hat aber auch methodologische und konzeptionelle Anregungen hervorgebracht, von denen zwei kurz skizziert werden sollen. Erdheim (1982) hat vor allem einen Aspekt hervorgehoben: Aus seiner Sicht ist Unbewusstheit nicht nur ein Normalzustand der Psyche mit allen seinen Auswirkungen, sondern auch eine Eigenschaft, die gesellschaftlich – von den Herrschaftsverhältnissen – gezielt produziert und genutzt wird. Sie versuchen, zu verhindern, dass sie selbst kritisiert und thematisiert werden können: »Was man in einer Gesellschaft nicht wissen darf, weil es die Ausübung von Herrschaft stört, muß unbewußt gemacht werden« (ebd., S. 38). Entsprechend liest er psychodynamisches Geschehen als »Prozesse des Unbewusstmachens« (ebd., S. 36). Anders als Fromm (und näher bei Erikson) sieht er das entscheidende Scharnier vor allem in der Phase der Adoleszenz, in der (auf der Basis der familiären Erfahrungen) die Weichenstellungen in Richtung auf das Erwachsenenleben gestellt werden. In Anknüpfung an Lévy-Strauss unterscheidet er dabei zwischen »kalten« Kulturen, in denen die kulturellen Gegebenheiten in der Adoleszenz »eingefroren« werden, und »heißen« Kulturen, die dadurch ihren Wandel beschleunigen, dass sie »das in der Adoleszenz liegende Veränderungspotenzial« (ebd., S. XVII) freisetzen. In diesem Verständnis sind Herrschaftssysteme insofern »kalt«, als sie alles tun, um Reifung zu verhindern und Regression auf ein niedrigeres Entwicklungsniveau zu provozieren. Dies setzt Unbewusstheit voraus. Allerdings ist das Unbewusste nicht beliebig produzierbar und funktionalisierbar. Es ist zwar ein »Orkus, in dem alles verschwindet, was nicht bewusstseinsfähig ist«, aber auch »ein Reservoir an Kräften, das die Kreativität des Menschen speist« (ebd., S. 205). Insofern bleibt gerade in »heißen« Gesellschaften, die auf eine gewisse Innovationsfähigkeit und Flexibilität ihrer Mitglieder angewiesen sind, das Problem, dass der Ausgang der Adoleszenz nicht einseitig kontrollierbar ist. Erdheim betont also die Funktion unbewusster Prozesse vor allem im Kontext von Herrschaft und gesellschaftliche Strategien der Disziplinierung von Akteuren. In gewisser Weise hat Lorenzer diese Perspektive verallgemeinert und in ein Modell der Dialektik von »subjektiver und objektiver Struktur« (Lorenzer, 1977, S. 103ff.) übersetzt, in dem zugleich die theoretischen »Zuständigkeiten« festgelegt werden. Sein Modell sieht so aus: 341
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Abbildung 1: Lorenzers Skizze der Übersetzung gesellschaftlicher Prozesse in individuelle Strukturen (Lorenzer, 1977, S. 213)
Er unterscheidet also zwei Ebenen des Geschehens: die der »sozialen Institutionen« und die konkrete Ebene der Interaktion und Sozialisation. Darin sieht er zwei gegenläufige Prozesse: Von »oben« nach »unten« sorgen die Institutionen (die ihrerseits von der kapitalistischen Ökonomie bestimmt und daher mithilfe einer politökonomischen Analyse zu erfassen sind) für die Formierung der Psyche. In der umgekehrten Richtung bestimmen die 342
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Resultate von Interaktion und Sozialisation die »objektive Struktur«. Die Umsetzung von Prozesse in Produkte sieht er in einem »Umschlagsfeld«, in dem einerseits gesellschaftliche Struktur in subjektive Struktur, andererseits subjektive Struktur in gesellschaftliche Verhältnisse übersetzt wird. In diesem Umschlagsfeld kommt es auch zur Pathologisierung der Psyche und zur Umsetzung von Psychopathologie in soziale Institutionen. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Entwürfen vor allem, dass sie von einem reziproken Austauschverhältnis ausgehen. Beide Seiten sind autonom und entwickeln sich autopoietisch (eigendynamisch und selbstorganisiert), sie sind jedoch auf jeweils andere angewiesen. Ihre Beziehung ist keineswegs harmonisch, zu strukturellen kommen aktuelle Probleme und Beeinträchtigungen. Es geht also darum, eine komplexe Dialektik zu erfassen. Über die Umsetzung dieses Programms herrscht Uneinigkeit.11 Das liegt zum Teil sicher auch an der Schlagseite mancher Zugänge, hat aber auch ein fundamentum in re. Denn diese Dialektik ist, so zeigen die Ansätze auch, nicht in einem Modell und erst recht nicht in einem monologischen Ansatz zu fassen. Das heißt allerdings nicht, dass es keinen Sinn ergibt, zu versuchen, die Perspektive weiterzuentwickeln. Das soll im Folgenden dadurch versucht werden, dass der Austauschprozess zwischen sozialer und psychischer Realität genauer betrachtet wird. Dazu wird vor allem versucht, die vielen Anregungen, die diesen Austausch ansprechen, als einen mehrphasigen und mehrstufigen Transformationsprozess zu betrachten, in dem eine multiple Prozess-Produkt-Dialektik läuft, die ihrerseits von heterogenem Bedarf und heterogenen Imperativen getrieben wird. Dieser Prozess unterscheidet sich je nach Funktionsniveau und evolutivem Entwicklungsstand. Mit »mehrphasigem und mehrstufigem Transformationsprozess« ist ein wichtiger Punkt angesprochen, der in den meisten Diskursen zu kurz kommt: »Mehrstufig« heißt, dass es sich um eine Abfolge von unterschiedlichen Transformationen handelt, und »mehrphasig« soll darauf 11 Daher pflegt man sich auch gegenseitig Unzulänglichkeit nachzuweisen und sich (meist wechselseitig) Kompetenz und Produktivität abzusprechen. Róheim (1977, S. 10ff., 290ff.) kritisiert Malinowski, Kluckhohn und die gesamte Forschung der cultural anthropology; Kardiner (Kardiner & Preble, 1974, S. 247ff.) schmäht Erikson, Fromm und Marcuse (die sich ihrerseits nicht grün sind), Devereux mag Erikson auch nicht – und so weiter und so weiter. Dieser agierte Abgrenzungsbedarf trägt nur meist wenig zur Entwicklung des Diskurses bei – selbst da, wo die Kritik stimmt, ist ihr Ziel unprofessionell und geht oft daneben.
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hinweisen, dass dabei unterschiedliche Zeithorizonte beteiligt sind. Gesellschaften sind keine Einheiten. Sie unterscheiden sich auf doppelte Weise »horizontal« (nach Regionen und Themenbereichen) und »vertikal«: nach sozialem Status und der Verteilung von Ressourcen (oben – unten) und im Aufbau nach Ebenen des sozialen Geschehens (grob vereinfacht: Mikroebene – Mesoebene – Makroebene). Eine einfache Gegenüberstellung von Subjekt und Gesellschaft wird dem nicht gerecht. Die von Fromm, Lorenzer und anderen angesprochenen »Vermittlungen« sind daher keine einfachen Umsetzungen. Entwicklungstendenzen auf der Makroebene kommen nicht direkt auf der Mikroebene an, sondern gehen durch eigendynamische Prozesse der Aufnahme, Verarbeitung und Umsetzung hindurch (die nicht überall gleich sind). Diese Produkte werden wiederum auf der Mikroebene (in Situationen, in Primärgruppen und so weiter) auf spezifische Weise aufgegriffen und eigendynamisch in soziale Praxis verwandelt. Betrachtet man das Verhältnis von sozialer und psychischer Realität in dieser Perspektive, so zeigt sich, dass sie ständig auf unterschiedlichen Ebenen ineinander übersetzt werden. Eine grob konstruierte Illustration: Erziehungsnormen kondensieren sich aus der Dynamik eines Subsystems (Bildungssystem), werden in Organisationen und Populationen (Schulen, Lehrern, Schülern) aufgegriffen und auf spezifische Weise praktiziert und prägen in vielen Situationen die Biografien der Akteure und das Interaktionsklima der konkreten sozialen Milieus. Zugleich werden in diesen Situationen die Normen von der Psychodynamik der Akteure bestimmt: Was aus einer Norm wird, bestimmen die Beteiligten und zwar dadurch, dass sie sie mit ihrer Psychodynamik aufgreifen und umsetzen, dass sie sie mit den Effekten ihrer psychischen Verarbeitung anreichern (Lehrer nutzen die normative Vorgabe, um auszuleben, was sie damit verbinden; Schüler internalisieren Erwartungen, bauen sie in ihre Abwehrformationen ein oder lernen, wie man sie umgeht und umdefiniert). In Situationen wird aus der sozialen Norm eine psychosoziale Hybridrealität, die dann das Konflikt- und Konfliktbewältigungsprofil der Akteure enthält. Imprägniert mit (zum Beispiel) Abwehrfunktionen und Fantasien wird die Norm von den Situationen zurückgereicht, und wo dies mit Nachdruck geschieht, schlägt die so veränderte Norm zurück auf die Meso- und Makro-Ebene, das heißt, sie verändert Organisationen und darüber das Subsystem. Dieses permanente Transformieren und Zirkulieren bedeutet dann auch, dass (in dem Fall) die Normen von Anfang an geprägt sind von den vor344
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auslaufenden Resultaten. Es geht also nicht um (rein) soziale Normen, die dann die Psychodynamik prägen, sondern darum, dass die Normen immer schon von der Vorgeschichte bestimmt sind, also bereits eine psychodynamische Logik – in welcher Form auch immer – enthalten. Anders gesagt: In den aktuellen Normen begegnet die aktuelle Psychodynamik den Resultaten vorheriger psychodynamischer Einschreibungen in die soziale Realität. Um im Beispiel zu bleiben: Die Erziehungsnormen sind bereits imprägniert von den Sedimenten der vorausgegangenen Geschichte der praktischen Pädagogik, von dem, wie pädagogische Praxis auf der Mesoebene in Psychodynamik zum Ausdruck bringende und sie formatierende Muster übersetzt wird, und welche Aggregationseffekte sich daraus ergeben. In der aktuellen Situation ist daher nicht nur das vorhanden, was die Akteure an Psychodynamik mit- und einbringen, sondern auch die Psychodynamik, die in die soziale Ausstattung der Situation – in die Normen, in das institutionelle Arrangement, in die materiellen Formate – eingeschrieben ist. Damit sollte verdeutlicht werden, dass die Dialektik von »Gesellschaft« und »Psychodynamik« dadurch komplex ist, dass sie vielfältige Vermittlungen und dabei Transformationen einschließt. Dadurch ist Psychodynamik in sozialer Realität in unterschiedlichen Formen präsent. Dies gilt auch umgekehrt: Auch soziale Realität ist nicht nur in Form von Normen und anderem in Situationen präsent, auch die materialen Arrangements enthalten soziale Konzepte und Regulationen. Und auch der psychische Status quo der Akteurinnen ist biografisch wie situativ geformt und beeinflusst vom sozialen Kontext – von dem, was lebensgeschichtlich die Psyche geformt hat, und von dem, was Situationen aufrufen, ermöglichen und abverlangen. Das Bild einer multiplen Kopräsenz und Interferenz von sozialer und psychischer Realität muss jedoch noch erweitert werden – mit Blick auf die skizzierten Anregungen mindestens um folgende Gesichtspunkte: ➣ Die Transformations- und Vermittlungsprozesse finden nur zum Teil in actu statt. Zwischen den Ebenen und im sozialen Raum vergeht dabei Zeit. Es entsteht also systematisch Ungleichzeitigkeit (sodass das, was auf der Mikroebene passiert, nicht unbedingt auf der Höhe der Entwicklung auf der Makroebene ist). Ungleichzeitig sind jedoch auch die Dynamiken auf den jeweiligen Ebenen. Während Mikroprozesse in Echtzeit stattfinden, sind Makroprozesse zeitumfassend und dauern (unter Umständen sehr) lange. Insgesamt führt das zu einem Neben-, Mit und Gegeneinander von verschiedenen Prozessen und zur Kopräsenz unterschiedlicher Produkte. 345
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Es gibt (auch deshalb) weder die Gesellschaft noch die Psyche. Beides stellt sich als heterogen, komplex und unter Umständen als widersprüchlich dar. Das bedeutet auch, dass es – siehe Erikson – innerhalb von Gesellschaften immer auch Anderes zu finden gibt (und jede Psyche auch alternativ operieren kann). Wenn von »typischen« Mustern gesprochen wird, handelt es sich daher stets um reduktionistische Idealisierungen. Aus diesem Grund kann man (von spezifischen Ausnahmen abgesehen) auch nicht von einheitlichen und widerspruchsfreien Imperativen sprechen, die von Gesellschaften ausgehen (und ebenso wenig von eindeutigen und konfliktfreien psychischen Strukturen). Daher sind auch die treibenden Kräfte von Gesellschaften komplex. Sie stammen aus und wirken in heterogenen Verhältnissen mit nicht vollständig kontrollierbaren Effekten. Zudem sind sie komponiert: Zwar spielen auch die Intentionen derjenigen, die über Macht und Einfluss verfügen, eine Rolle. Entscheidend sind jedoch die (eigendynamische) Interferenz der unterschiedlichen Teilprozesse, die Dynamik von Konflikten und Konfliktmanagement sowie die Autopoiesis – die Selbstorganisation und Selbststeuerung – des Gesamtprozesses. Das gilt mutatis mutandis auch für die Psyche. Hier ist die Reichweite intentionaler Kontrolle potenziell größer, aber auch sie wird von ihrer Autopoiesis betrieben. Die vielschichtige Interferenz von sozialer und psychischer Realität führt einerseits zu »Gesellschaft in der Psyche« (qua Sozialisation und in ihrer aktuellen Balance, die von der Stimulierung durch Situationen abhängt), andererseits zu »Psyche in der Gesellschaft«: zu vielfältigen Einschreibungen psychodynamischer Themen und Formen in soziale Gegebenheiten auf allen Ebenen des Geschehens. Beides verdichtet sich zu typischen psychosozialen Hybridsyndromen – zu Konglomeraten aus sozialen Themen und psychodynamischer Aufladung (und aus psychodynamischen Themen und sozialen Formen), die steuernde und orientierende Effekte haben, in denen zugleich Problemlagen und (problematische) Formen der Problembewältigung zum Ausdruck kommen. Das Verhältnis von psychischer und sozialer Realität ist mehrfach problem- und konfliktträchtig. Trotz allem Zwang zu(r) (und Notwendigkeit von) gegenseitigen Anpassung(en) sind sie verschieden und zwingen sich daher auch eine heteronome Logik auf. Psychisches
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nötigt Sozialem etwas auf, das gebracht wird, aber nicht unmittelbar in dessen Funktionsweise passt (und umgekehrt): Eine Projektion muss in einem Vorurteil Platz nehmen, was für beide Seiten eine Ermöglichung, aber auch eine Einschränkung sein kann. Der wechselseitige Import muss also verkraftet und verdaut werden. Im einfachen Fall heißt das nur, dass die Differenz überbrückt werden muss. Wenn der Import jedoch konfliktbeladen oder gar vergiftet ist, muss aufgefangen, neutralisiert, contained werden. Und wo dies nicht (mehr) möglich ist, zwingt der Import zum Agieren: Die Psyche muss ausleben, was ein soziales Drama ist und umgekehrt. Psychodynamik tritt also nicht als isolierte Entität in Gesellschaften auf (oder ihr als getrennte Entität gegenüber); sie erscheint vor allem als Prozesselement, welches am Geschehen stets (mehr oder weniger ausgeprägt, mehr oder weniger dominant) beteiligt ist. Sie kann im skizzierten Sinn als Eigenschaft von Populationen und/oder als Bestandteil von Strukturen auftreten, ist in die materiale, soziale und kognitive Realität eingeschrieben und bildet dadurch ein (entsprechend vielgestaltiges) Profil. Die Psychodynamik der Gesellschaft ist aufgrund der Größenordnung und des Zeithorizonts überall und nirgends, sie ist – siehe oben – transzendente Transformationsrealität, deren Spektrum von manifest zu latent, vom unauffälligen Hintergrundgeschehen bis zu einem dominanten Programm reicht. Die Beziehung zwischen sozialer Realität und Psychodynamik ist dabei zugleich symbiotisch und parasitär, zugleich adjunktiv und selektiv. Auf diesem Abstraktionsniveau können einzelne Themen schlecht behandelt werden. Was man sagen kann, ist, dass alles, was psychisch bedeutsam ist – also relevante Gruppen intensiv beschäftigt –, auch gesellschaftlich bedeutsam ist und wird. Immer geht es also (in unterschiedlichen Ausprägungen) stets auch um ➣ Bedürfnisse und Triebkonfigurationen, vor allem: bio-psychische Kernthemen wie Sexualität und Aggression, ➣ narzisstische Balance und typische Themen biografischer Entwicklung (soziale Identität, Generativität und Tod), ➣ entwicklungspsychologische Themen und deren Derivate (zum Beispiel Trennung Ich – Außenwelt und Triangulierung), ➣ Objekt-, Selbstbilder und Beziehungsmuster, ➣ Probleme, Konflikte und deren Management sowie ➣ Formen und Niveaus der psychischen Regulation. 347
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Alle diese Themen sind in allen Gesellschaften virulent, sind Bestandteile von sozialer Realität und werden gesellschaftlich behandelt – manifest und/oder latent, im Originalformat, aber auch in Form von Kognitionen, Regulationen oder materialer Struktur. Die Art ihrer Präsenz variiert dabei. Das Spektrum reicht von leichtem Mitschwingen partikularer Aspekte bis zur fokussierten Dominanz von drängenden Themen. Letztere sind also dauerhaft präsent – was nicht heißt, dass sie immer in gleicher Form vorhanden sind. Mit Blick auf ihre ständige Transformation kann man versuchen, ihre Dynamik als eine Art reproduktiven Zyklus darzustellen, der innerhalb der Gesellschaft abläuft, wobei das jeweilige Thema spezifische Stufen und Phasen durchläuft. Wieder sei dazu ein grob umrissenes Beispiel erwähnt, das Thema »Triangulierung«, eines der Schlüsselphasen der frühkindlichen Entwicklung, in der wichtige Weichenstellungen für Beziehungsmuster und -fähigkeiten und die damit verbundenen Bedürfniskonfigurationen, Selbst- und Objektbilder stattfinden. ➣ In jeder konkreten Primärgruppe mit Kindern ergibt sich unausweichlich das Thema (intergenerativer) Triangulierung: Die Eltern beziehungsweise Erwachsenen müssen ihre Beziehung zu Kindern und ihre Beziehung untereinander angesichts dieser Beziehung (neu) definieren; die Kinder müssen Beziehungen zu jedem der Erwachsenen (und zu anderen Kindern) entwickeln und lernen, die verschiedenen Beziehungen zu verbinden. Die Psychoanalyse hat herausgearbeitet, dass Triangulierungsprozesse zu den wichtigsten Weichenstellungen der psychischen Entwicklung gehören und erhebliche Auswirkungen auf die Struktur der Psyche, aber auch auf die Entwicklung von psychischen Themen haben. ➣ Je nach Konstellation, Vorgeschichte und Rahmenbedingungen werden dabei die verschiedenen Themen der Bindung, Ablösung, Beziehungsordnung und so weiter unterschiedlich behandelt. Die Rahmenbedingungen enthalten normativ sanktionierte und emotional besetzte Muster des Umgangs mit Triangulierung inklusive aller Probleme und Widersprüche, die qua Sozialisation in der Psyche der Eltern oder Erwachsenen in spezifischer Weise implementiert sind, die ihnen zugleich qua kognitiver und normativer Gültigkeit und durch Positionsdefinition nahegelegt werden. Diese Muster enthalten die Interaktion des Themas Triangulierung mit anderen relevanten Themen und Formen –Individuierung, Niveaus von Konfliktbewältigung und so weiter. 348
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Das empirische Geschehen aktualisiert dabei diese sozialen Vorgaben und verarbeitet sie zu einer idiosynkratischen Produktion, die in der weiteren Biografie der Akteure zu eigenständigen (emergenten) Entwicklungen führen kann. Dabei ist jede Besonderheit dieser Art Teil eines raumzeit-spezifischen Musters von Singularitäten: Parallel zum konkreten Prozess der Triangulierung in einer Primärgruppe finden in anderen vergleichbaren Primärgruppen vergleichbare Prozesse der Triangulierung statt, die Ähnlichkeiten und Unterschiede enthalten. Auf dieser Ebene ergibt sich ein Feld von vergleichbarem Geschehen mit mehr oder weniger großen Variationen und mehr oder weniger typischen Mustern. Durch den Prozess der Triangulierung werden – jeweils für sich – die empirischen Geschichten der Familien fortgesetzt: Eine besondere Konfiguration bringt eine neue besondere Konfiguration hervor; die nächsten Triangulierungen werden gebahnt. Gleichzeitig tragen die besonderen Konfigurationen zur Reproduktion der abstrakten Muster bei. Durch Summationseffekte und parallele Abläufe werden sie verstärkt und/oder abgeändert; Idiosynkrasien werden herausgefiltert, während Ähnlichkeiten das gültige Muster verstärken oder verändern. Allgemeinheit und Besonderheiten werden zugleich weiterentwickelt; Normalität wird gegen bedrohliche Abweichungen verteidigt. Die so formatierten Themen – Triangulierung, Individuierung und Konfliktbearbeitung – sind als symbolische Schemata auf der Ebene der Makrostruktur verfügbar und aktiv. Sie steuern und parallelisieren als allgemeine Vorgabe weitere Ereignisse der gleichen Art und sind in Themenzusammenhängen, die entsprechende Themenanteile haben, eingeschrieben. Als abstrakte Produkte sind sie in actu ein Anknüpfungs- und Bezugspunkt für weiteres Geschehen: sowohl als eine Ressource, die in anderen Kontexten genutzt werden kann, als auch als eine feste Größe, mit der die Umwelt rechnen beziehungsweise zurechtkommen muss. Sie wirken als eigenwilliger Faktor, sie kooperieren und konkurrieren in relevanten Zusammenhängen mit anderen korrespondierenden Themen und Prozessen.
Triangulierung ist ein ständiger laufender Prozess, ein virulenter psychodynamischer Anteil von sozialen Gewohnheiten und Verhaltensvorschriften, von arrangierten materialen Strukturen, Denkweisen und Interpretationen. Sie enthält die Muster des qualifizierenden Erlebens und der Regulation 349
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von Beziehungen und ist Teil der basalen Beziehungsordnung: zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Frauen und Männern, zwischen unterschiedlichen Schichten, zwischen Bezugsgruppe und Fremden. Sie steht in spezifischer Form zur Verfügung, wird aktiviert, mischt sich mit ihren Effekten ins soziale Geschehen ein und muss sozial verarbeitet werden. In typischen und in besonderen Konfigurationen vollzieht sich sowohl der reproduktive Prozess von Triangulierung als auch die Einbindung in soziale Prozesse auf spezifische Weise. Freud hat bekanntlich eine bestimmte Variante – den »Ödipuskomplex« – universalisiert und zugleich zur Schlüsselfunktion kultureller Entwicklung ernannt. Aus heutiger Sicht ist deutlich, dass sich in dieser Sichtweise die Erfahrung mit der (spätpatriarchalen) Kultur des Bürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert spiegelt. Entsprechend handelt es sich dabei um einen spezifischen Sonderfall, der mit bestimmten Umständen verbunden war und ist. Freuds Theorie ist, so gesehen, nicht nur Analyse, sondern zugleich auch Ausdruck einer bestimmten psychosozialen Konfiguration. Das haben ethnopsychoanalytische und sozialpsychologische Studien gezeigt. Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy (1963) beschreiben, dass bei den von ihnen untersuchten Dogon ödipale Konflikte eine untergeordnete Rolle spielen und die entsprechenden Entwicklungen vergleichsweise undramatisch verlaufen. Auch Mitscherlichs Arbeit mit dem programmatischen Titel Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1973 [1963]) beschäftigt sich mit der Historizität des Themas. Mitscherlichs Argument: In vorindustriellen Gesellschaften waren die ödipalen Konfigurationen gestützt durch die familiäre Tradierung der ökonomischen Grundlagen – der Handwerksbetrieb ging vom Vater auf den Sohn über. Dabei war der Vater eine präsente Figur, an der sich der Sohn – im günstigen Fall – orientieren und abarbeiten konnte. Die Modernisierung der Produktion lässt unter anderem das Arbeitsbild des Vaters verblassen, weil Arbeit vom Haushalt getrennt und abstrakt wird. Zugleich sorgt das Tempo der Entwicklung dafür, dass das väterliche Wissen keinen Orientierungswert mehr hat. Das bringe, so Mitscherlich, die Gefahr mit sich, dass die Funktion des Ödipuskomplexes als Transmissionsriemen zwischen den Generationen geschwächt wird – mit dem Risiko, dass der moderne Mensch zur »Momentpersönlichkeit« ohne hinreichende innere Stabilität wird.12 12 Zur Darstellung und Kritik von Mitscherlichs gehaltvoller Arbeit siehe ausführlich Kapitel 5 in diesem Band.
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Ohne dies hier inhaltlich diskutieren zu wollen: Mitscherlichs Arbeit zeigt nicht nur, dass das klassische ödipale Modell an eine bestimmte Art der Produktion gebunden war, es zeigt auch, dass und wie dessen Wandel zwangsläufig Umstrukturierungen in der psychischen Organisation der Akteure zur Folge hat, die sich wiederum auf den politischen und ökonomischen Prozess auswirken. Der »Ödipuskomplex«, wie Freud ihn sah, ist daher als eine besondere Variante eines allgemeinen Themas zu sehen, die sich unter bestimmten Umständen entwickelt und sich mit ihnen ändert. Dass Freud das Thema so überhöht und vereinseitigt sah, bringt dessen zeitspezifische Relevanz direkt wie indirekt zum Ausdruck. Noch ein weiterer Aspekt von Freuds Vorgehen wird im Kontrast zu Mitscherlichs Überlegungen deutlich: Freud verwendete das zu seiner Zeit beliebte und weitverbreitete Schema einer kulturellen mehr oder weniger teleologischen Evolution als Erklärungsfolie. Obwohl Freud aufgrund seiner Erkenntnisse über die Konflikthaltigkeit des psychischen Geschehens und die geringe Autonomie des Bewusstseins (und vermutlich auch aufgrund der zeitgeschichtlichen Entwicklungen) zur Skepsis neigte, vertrat er die Vorstellung, dass die Kultur sich in Richtung einer Verbesserung entwickelt habe und weiter entwickeln könne – in der skeptischen Variante, dass es möglich sei, schlechte Lösungen der Kulturprobleme durch weniger schlechte zu ersetzen. Darin steckt die Annahme einer Evolution der Rationalität (auch wenn Freud immer wieder auf die Kosten und die Unzulänglichkeiten dieses Prozesses verweist). Das wirft (mindestens) zwei Fragen auf: Gibt es so etwas wie Evolution? Und wenn ja: Inwiefern ist diese »rational«? In der Soziologie gibt es eine lange Diskussion zur Gesellschaftsevolution (von Turgot über Spencer bis zu Luhmann). Dabei hat Luhmann mit seiner Unterscheidung in segmentäre, hierarchische und funktional differenzierte Gesellschaften dem klassischen »Dreistadiengesetz« eine neue Form und eine neue Logik gegeben, indem er die evolutiven Stadien nach dem dominanten Organisationsmodus unterschied. Man könnte versuchen, auch das Niveau der psychodynamischen Organisation in das Konzept einzubeziehen. Auch dazu hat es Vorschläge und Anregungen gegeben. Riesman (1958 [1950]) beispielsweise spricht direkt von Phasen der Bevölkerungs- und Gesellschaftsentwicklung und verbindet sie mit der Psychoevolution – wenn auch beschränkt auf Phasen des Übergangs zur gesellschaftlichen Modernisierung. Auch Elias (1976) hat das evolutive Verhältnis von Gesellschaft und Psychodynamik am Beispiel der Entwicklung der Affektkontrolle ausführlich dargestellt – mit den er351
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wähnten Vor- und Nachteilen. Auch vonseiten der Psychoanalyse hat es nach Freud eine Reihe von dezidierten Ansätzen gegeben, Psychodynamik und Evolutionstheorie zu verbinden. Manche entwickeln nicht genügend Systematik und/oder erreichen nicht das nötige Abstraktionsniveau, um psychische Evolution im Zusammenhang mit der sozialen diskutieren zu können (wie etwa E. Menaker & W. Menaker, 1971). Bei Lloyd deMause mit seiner Foundation of Psychohistory (2000 [1982]) ist es eher umgekehrt: Sein Versuch, »Psychoklassen« anhand von Sozialisationspraktiken zu konstruieren, wirkt zu eng und zu rigide, obwohl er eine Menge von relevantem psychohistorischem Material verarbeitet und einige interessante Thesen ins Spiel bringt.13 Mit Blick auf die gesellschaftliche Evolution lassen sich jedoch sowohl der Strukturwandel der typischen Psyche als auch die typischerweise mit bestimmten Gesellschaften verbundene Art der Psychodynamik bestimmen, ohne dass man mit problematischen Vorannahmen arbeiten muss (zu denen sich Freud in Totem und Tabu gezwungen sah). Eine solche Argumentation müsste allerdings wesentlich sorgfältiger ausgeführt werden, als dies hier möglich ist. Ich beschränke mich daher auf einige skizzenhafte und vorläufige Überlegungen:14 ➣ Archaische Gesellschaften sind gekennzeichnet durch einfache Produktionsweisen, geringe Mitgliederzahlen, wenig interne Differenzierung und Arbeitsteilung im Wesentlichen entlang biologischer Differenzen (Alter und Geschlecht). In diesem Kontext ist vor allem auch das enge Zusammenspiel von sozialen und psychischen Mechanismen bemerkenswert. Soziale Struktur ist hochgradig psychodynamisch besetzt und dadurch ultrastabil. Soziale Rituale sind aufgrund der Direktheit und der engen Bindung unmittelbar auf die psychodynamische Struktur der Gesellschaft zugeschnitten und unmittelbarer Ausdruck von Psychodynamik. Umgekehrt bauen soziale Strukturen ganz direkt auf psychodynamische Prozesse auf; es gibt wenig Spielraum für Abweichung und systematische Widersprüche. 13 Viele Rezensenten lehnen seinen Versuch, zur Gänze ab, andere sind sich nicht sicher, ob es sich um Genie oder Wahnsinn handelt: vielleicht beides – deMauses Grundidee ist nicht abwegig. Sein Modell bleibt jedoch in Bezug auf die verwendeten psychodynamischen Aspekte eher eng, und sein rigoroser methodologischer Individualismus erschwert den Anschluss. 14 Siehe dazu auch Kapitel 8 in diesem Band.
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Das hängt nicht zuletzt auch mit der Einheit von konkreter und abstrakter Struktur sowie der eindeutigen Differenz von Innen und Außen zusammen. Aufgrund des geringen Expansions- und Differenzierungsgrades gibt es wenig Vermittlungsschritte und entsprechend wenig Vermittlungseffekte (Abweichung, Emergenz). Zu den Folgen gehört auch, dass individuelle und soziale Psychodynamik aufeinander abgestimmt sind. Es entwickelt sich ein weitgehend einheitlicher kognitiver und affektiver Raum mit einheitlichen Zugangs- und Teilhaberegeln. Dem scheint eine Art von Identität zu entsprechen, die auf starken Introjekten basiert und durch die Gruppenzugehörigkeit bestimmt und getragen wird. Parin, Morgenthaler und ParinMatthèy verwenden daher auch den Ausdruck »Gruppenidentität«. Diese Art der Bindung und damit wechselseitigen Orientierung enthält strukturell Elemente dessen, was der »Masse« als Eigenschaften zugewiesen wurde – Homogenität, Parallelisierung psychischer Prozesse und enge Bindung an soziale Rituale mit hoher Verbindlichkeit (etwa in Form kollektiver Triebregulation). Sie ist deshalb jedoch keineswegs »primitiv« und erst recht nicht »regressiv«. Im Gegenteil: Im Kontext von Homogenität, Nähe und Dichte des Zusammenlebens kann ein hohes Maß an Konfliktfreiheit, zwangloser Integration, Verbindlichkeit und damit auch Identitätsstabilität entstehen, die andere Gesellschaften nur schwer hervorbringen. Traditionell-hierarchische Gesellschaften leben in Räumen mit (teil-) domestizierter Natur, die einer eigendynamischen, differenzierten sozialen und ökonomischen Logik unterworfen sind. Damit wächst der Abstand zwischen Akteuren und Sozialstruktur; individuelle Psychodynamik und deren soziale Formate und Aggregationen unterscheiden sich stärker. Aufgefangen und limitiert wird dieser Effekt durch Traditionsbindung und die hierarchische Segmentierung – zwingend zugewiesener sozialer Status ist verbunden mit jeweils ähnlichem Sozialisations- (das heißt: Trieb-)schicksal, mit ähnlichen expressiven Chancen und Kontrollzwängen. Insofern bilden sich hier klassenund traditionsbezogene Typen von Identitäten, die in ihrer Funktionsweise wesentlich positions- und nahweltbezogen sind, zugleich aber direkten Anschluss an die (kognitive, emotionale und psychodynamische) Makrostruktur haben. In Gesellschaften dieses Typs dominiert eine Form von Primärgruppen-Persönlichkeit mit strikten Identifikationen, die auf ein geordnetes System von Ängsten, Hoff353
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nungen und Fantasien bezogen sind (Riesman, 1958 [1950]). Makrosoziale Psychodynamik stellt einen differenzierten Raum dar, der zugleich fixe Möglichkeiten zuweist. Die Psyche ist entsprechend mehr sozial als individuell differenziert. Differenzen werden gebremst und gebunden durch ein externes Zuordnungs- und Verteilungssystem, welches seinerseits auf positionsspezifischen psychodynamischen Profilen basiert. Auf diese Weise entsteht gebändigte Heterogenität, die bedroht ist von damit verbundenen Konflikten beziehungsweise vom Versagen der bahnenden und repressiven Mechanismen. Moderne Gesellschaften lockern feste Bindungen, sie intensivieren Austausch und Entwicklung und erhöhen so Differenzierung und Heterogenität. Damit werden zugleich Nahweltbindungen relativiert und die zugewiesene Zentralposition durch erworbene Teilpositionen ersetzt. Differenzierung und ständige Bewegung erhöhen den Anpassungsbedarf an Veränderungen und an unterschiedliche Imperative. Diese Entwicklung wird meist als Prozess in Richtung auf Individualisierung beschrieben. Dahinter stehen individualisierte Sozialisationsmilieus, die jedoch in intensivem Austausch mit externen Bezugssystemen stehen, die intervenieren und mit den internen Modalitäten konkurrieren – die Position der Eltern wird zugleich gestärkt und geschwächt, Sozialisation aus strikten externen Bindungen gelöst, dafür aber (mehr oder weniger intrusiven) externen Einflüssen ausgesetzt. Auf der anderen Seite erhöht sich durch die Heterogenität der Umwelt der Bedarf an flexiblem Handeln in unterschiedlichen (spezialisierten und dynamischen) Kontexten. Dies führt zu einer wesentlich stärkeren »Verflüssigung« bei gleichzeitiger »Fragmentierung« von Identität. Daher ist in der Literatur immer wieder15 vom »flexiblen Menschen« und vom »multiplen Selbst« oder ähnlichem die Rede. Zu ergänzen ist, dass die Steuerung über Repression tendenziell ersetzt wird durch leistungsabhängige Verteilung. Das erhöht das Maß an (opportunistischer) Selbstkontrolle bei gleichzeitiger Ausdehnung der Bereiche (stärker selbstdefinierten) Auslebens von Bedürfnissen – rigide Formen der Abwehr werden ersetzt bzw. erweitert durch ein breites Spektrum, das von Angeboten zur Substitution bis gebahnten Formen der Regression und zur Lizensierung von persönlicher Ausformulierungen reicht. Das Profil
15 Siehe dazu auch Kapitel 4 in diesem Band.
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der gesellschaftlichen Psychodynamik differenziert sich – verglichen mit traditionell-hierarchischen Gesellschaften – erheblich. Der kognitive Raum wird gegensätzlicher, die geteilten Fantasien abstrakter beziehungsweise regionaler und (sub-)kulturspezifischer. Damit lockern sich strikte Bindungen von Sozialstruktur und Psychodynamik und das Verhältnis beider Dimensionen wird horizontal wie vertikal durchlässiger, zugleich aber auch labiler und dynamischer. Wieder grob vereinfacht könnte man mit Blick auf die diskutierten Themen sagen: ➣ In archaischen Gesellschaften sind persönliche und soziale Identität weitgehend identisch; die Biografien sind stark parallelisiert. Die geringen Abstände und Differenzen haben zur Folge, dass die Transformation von sozialer und psychischer Realität relativ konfliktfrei (und damit ohne transzendierende Effekte) erfolgt. »Triangulierung« beginnt hier schon früher, weil es keine abgeschottete Privatwelt gibt. Sie ist zudem wenig profiliert, weil keine interne Heteronomie existiert. ➣ In traditionellen Gesellschaften dominiert die soziale die persönliche Identität fast völlig (und lässt nur wenig Individualisierungsspielraum). Die scharfen sozialen Differenzen haben zur Folge, dass die Transformation von sozialer und psychischer Realität mit rigiden Mitteln kontrolliert und limitiert wird. Mit der schärferen Trennung von Primärgruppe und Umwelt beginnt Triangulierung später und ist massiv darauf zentriert, den Status quo zu reproduzieren. ➣ In modernen Gesellschaften sind soziale wie persönliche Identität wenig zugewiesen, sie müssen individuell erworben, erhalten und integriert werden. Die thematischen Differenzen sind groß, die sozialen sind kontingent, was Transformationen mehr Spielraum für Eigendynamik (und Erratik) öffnet. Auch ist hier Triangulierung ein Vorgang, der früher beginnt, weil die Welt als Objekt früher Thema ist; sie zielt zudem nicht auf Reproduktion, sondern auf die individuelle Aneignung der Außenwelt. Die evolutiven Differenzen sagen allerdings – wie gezeigt –noch nichts über das spezifische Profil von bestimmten Gesellschaften aus – schon deshalb nicht, weil gerade in der psychodynamischen Ordnung von Gesellschaften die Gleichzeitigkeit verschiedener Entwicklungstypen häufig vor355
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kommt. Die Dominanz der Merkmale der Moderne bedeutet also nicht, dass deshalb vormoderne Modi ausgestorben wären. Gerade wo das Profil der Moderne mit einer Mischung aus Belastung und hoher Anforderung verbunden ist, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass unter der modernen Oberfläche prämoderne Modi lauern, dass eine Bereitschaft zur Regression besteht und/oder in bestimmten Bereichen als Komplement oder Kompensation prämoderne Modi dominieren. Die Skizze beantwortet auch die zweite, oben gestellte Frage: Psychoevolution ist, so gesehen, ebenso wenig wie gesellschaftliche Evolution, ein teleologischer Prozess. Was passiert, ist, dass einfache Mechanismen durch komplexere abgelöst werden, wobei sich neue Möglichkeiten der Entwicklung und, damit verbunden, andere Kosten und Risiken ergeben. Ob sich die skizzierte Ko-Evolution in Richtung einer höheren Rationalität bewegt, ist eine Frage der Definition. Zweifellos erhöhen sich die potenziellen Freiheitsgrade von unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen. Ob sie deshalb besser kontrollierbar ist, lässt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen nicht nachweisen. Zweifellos ist der Gesamtprozess jedoch mithilfe der Kooperation von Soziologie und Psychoanalyse besser zu verstehen.
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Textnachweise
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Kapitel 11:»Ewige Jugend« – Warum psychoanalytische Theorie die Probleme hat, die sie hat (2012). Psyche – Z Psychoanal, 66(7), 606–637. Kapitel 12: »Try again, fail better«. Über die sinnvolle, aber schwierige Beziehung von Psychoanalyse und Soziologie (2017). In L. Tamulionyté, G. Allert, K. Albert, A. Bilger, D. Fell, H. Kächele, R. Roos, C. Schwilk & J. A. Spiekermann (Hrsg.), Brüche und Brücken: Wege der Psychoanalyse in die Zukunft (Konferenzband DPV-Frühjahrstagung 2017) (S. 37–51). Gießen: Psychosozial-Verlag (stark gekürzte Fassung im vorliegenden Band). Kapitel 13: Psychodynamik und Gesellschaft. Eine dialektische Beziehung und ihre Konzeptualisierung (2020). Unveröffentlichtes Manuskript.
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Psychosozial-Verlag Johann August Schülein
Gesellschaft und Subjektivität
Psychoanalytische Beiträge zur Soziologie
2016 · 299 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2632-3
Die Kooperation von Soziologie und Psychoanalyse ist wichtig, weil dadurch soziologische Analysen mit einem systematischen Verständnis manifester und latenter Psychodynamik verbunden werden können. Trotz der langen Geschichte dieser Kooperation sind die theoretischen und methodischen Probleme noch nicht befriedigend gelöst und die Möglichkeiten der Zusammenarbeit noch lange nicht ausgeschöpft. In ausgewählten Texten analysiert Johann August Schülein einerseits die theoretischen und methodologischen Aspekte der Verbindung dieser Wissenschaften, andererseits verdeutlicht er, wie soziologische Mittel mit psychoanalytischen Perspektiven optimiert und soziale Themen mithilfe psychoanalytischer Mittel besser verstanden werden können. Die Texte dienen der Weiterentwicklung eines gemeinsamen Diskurses beider Disziplinen und zeigen, wie die so gewonnenen Möglichkeiten aussehen können.
Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de
Psychosozial-Verlag Johann August Schülein
Die Logik der Psychoanalyse Eine erkenntnistheoretische Studie
2016 · 327 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2557-9
Die Psychoanalyse erscheint auf den ersten Blick als eine bunte Sammlung von Variationen eines im Kern unscharfen Paradigmas. Sie kann keine einheitliche denotative Theorie entwickeln, sondern muss mit einem konnotativen Symbolsystem und weitgehend analogen Begriffen arbeiten. Hierbei handelt es sich nicht um ein Defizit, sondern vielmehr um ein Strukturmerkmal, das durch den Gegenstand der Psychoanalyse bedingt ist. Schülein beschäftigt sich mit der Logik psychoanalytischer Theorien. Statt eine weitere wissenschaftstheoretische Standortbestimmung der Psychoanalyse vorzunehmen, erklärt er, warum diese keine einheitliche Theorie ist, sondern ein vieldeutiges Paradigma, das von verschiedenen Schulen unterschiedlich interpretiert und verwendet wird.
Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de
Psychosozial-Verlag Gregorio Kohon
Von der Natur der Psychoanalyse
Ihr paradoxer Charakter und die Frage der Forschung
2021 · 171 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2991-1
»Gregorio Kohons Buch ist eine leidenschaftliche, anregende und überzeugende Verteidigung der besonderen Natur des psychoanalytischen Unterfangens.«
Das Besondere der psychoanalytischen Begegnung entzieht sich der Festlegung auf wissenschaftliche Begriffe. Dass sie sich stattdessen eigenständig im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst bewegt und die komplexe menschliche Subjektivität im Ringen mit Kultur und Gesellschaft ernst nimmt, zeigt Gregorio Kohon fundiert und praxisnah. Dabei treten die Widersprüche von Psychoanalyse und evidenzbasierter Medizin offen zutage: Wissenschaftliche Forderungen nach objektiv messbarem, ergebnisorientiertem und effizientem Erfolg bringen Psychoanalytiker*innen in die Gefahr, sich herrschenden gesellschaftlichen Ideologien anzupassen. Dagegen stellt der Autor die Wahrhaftigkeit einer Psychoanalyse, die Selbstreflexion, Imagination und Intuition betont und sorgfältigen Einzelfallstudien besonderes Gewicht verleiht. Kohons Rückbesinnung auf ihre Natur vertieft aktuelle Diskussionen in Gesundheitswesen, Forschung und Politik damit auf profunde Weise.
Priscilla Roth, Lehranalytikerin und Fellow of the British Psychoanalytical Society
Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de
Psychosozial-Verlag Johann August Schülein, Hans-Jürgen Wirth (Hg.)
Analytische Sozialpsychologie Klassische und neuere Perspektiven
Freuds kultur- und gesellschaftstheoretische Überlegungen gehören zu den einflussreichsten Konzepten des 20. Jahrhunderts. Psychoanalytiker, Philosophen und Soziologen haben sich immer wieder davon inspirieren lassen. In dieser Tradition stehen auch die Beiträge des vorliegenden Bandes, in dem klassische Texte von Freud, Mitscherlich, Fenichel und Adorno mit zeitgenössischen Positionen konfrontiert werden. Damit bietet der Band vielfältige Anregungen für den sozialpsychologischen Diskurs. Mit Beiträgen von Hans-Joachim Busch, Angelika Ebrecht, Rolf Haubl, Robert Heim, Hans-Dieter König, Angela Kühner, Emilio Modena, Johann August Schülein und Hans-Jürgen Wirth 2011 · 448 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2130-4
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