Psalmen 9783825234737, 3825234738

Die Psalmen sind beliebter Seminarstoff im Theologiestudium. Ihre Zusammenstellung im biblischen Psalmenbuch ist für Jud

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Psalmen
Impressum
Inhalt
Einführung
1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie
1.1 Merkmale der Psalmen als hebräische Poesie
1.1.1 Der Parallelismus membrorum
1.1.2 Struktursignale
1.1.3 Metaphorik
1.2 Hermeneutische Konsequenzen
1.3 Ein Psalm als ein Stück hebräischer Poesie: Ps 49
2. Der alte Königsweg und seine Sackgassen: Die Formen- und Gattungskritik
2.1 Was ist eine Psalmengattung?
2.2 Die aktuelle Kritik am Paradigma der Gattungsforschung
2.3 Beispieltexte für die wichtigsten Gattungen
2.3.1 Der Hymnus: Ps 117 und Ps 113
2.3.2 Das kollektive Klagelied: Ps 79
2.3.3 Das individuelle Klagelied: Ps 13
3. Das Psalmenbuch als Komposition
3.1 Die (Wieder-)Entdeckung von Zusammenhängen
3.2 Strukturmarkierungen im Psalmenbuch
3.3 Psalmengruppen
3.4 Verbindungen zwischen Einzelpsalmen: Ps 90–92
4. Vom Einzelpsalm zum Psalmenbuch: Entstehungsgeschichtliche Fragen
4.1 Vorüberlegungen
4.2 Methodische Grundsätze
4.3 Strukturbeobachtungen zur Entstehung des Psalmenbuchs
4.3.1 Der sogenannte „Elohistische Psalter“ (Ps 42–83)
4.3.2 Die Doxologien und der Kolophon
4.3.3 Die Hauptzäsur nach Ps 89
5. Eine kleine Biblia: Die theologische Bedeutung des Psalmenbuchs
5.1 Das Psalmenbuch als biblisches Buch
5.2 Das Psalmenbuch als Ausnahme
5.3 Der Psalter als umfassendes theologisches Buch in der christlichen Rezeption
5.4 Die Psalmen als Gebete in Judentum und Christentum
6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen
6.1 Biblisch-anthropologische Sprachlehre
6.1.1 „Seele“/„Leben“
6.1.2 „Wind“/„Atem“/„Geist“
6.1.3 „Herz“
6.2 Der „konstellative Personbegriff“ in der alttestamentlichen Anthropologie
6.3 Zur Metaphorik der Emotionen
6.4 Tod und Leben: Ps 88
6.5 Lebenszeit und Vergänglichkeit: Ps 102
6.6 Verfolgung und Gerechtigkeit: Ps 94
6.7 Rettung: Ps 30
7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen
7.1 Königtum JHWHs: Ps 93
7.2 Schöpfungstheologien: Ps 104
7.3 Tempeltheologie: Ps 99
7.4 Der verborgene Gott: nochmals zu Ps 88
7.5 Der sich offenbarende Gott: Ps 73
Anmerkungen
Einführung
1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie
2. Der alte Königsweg und seine Sackgassen: Die Formen- und Gattungskritik
3. Das Psalmenbuch als Komposition
4. Vom Einzelpsalm zum Psalmenbuch: Entstehungsgeschichtliche Fragen
5. Eine kleine Biblia: Die theologische Bedeutung des Psalmenbuchs
6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen
7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen
Glossar
Abbildungsverzeichnis
Bibelstellenregister
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Psalmen
 9783825234737, 3825234738

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Johannes Schnocks

Psalmen  *UXQGZLVVHQ7KHRORJLH

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Ferdinand Schöningh

Der Autor: Dr. theol. Johannes Schnocks, geboren 1967, Studium in Bonn und Jerusalem, Promotion und Habilitation in Bonn, ist seit 2012 Universitätsprofessor für Zeit- und Religionsgeschichte des Alten Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Veröffentlichungen u.a. zur Psalmen- und Prophetenexegese und zur biblischen Anthropologie und Theologie.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart UTB-Band-Nr: 3473 ISBN 978-3-8252-3473-7

Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie . . . . . . . . . . . . 1.1 Merkmale der Psalmen als hebräische Poesie . . . . . . 1.1.1 Der Parallelismus membrorum . . . . . . . . . . . 1.1.2 Struktursignale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Metaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Hermeneutische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Ein Psalm als ein Stück hebräischer Poesie: Ps 49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Der alte Königsweg und seine Sackgassen: Die Formen- und Gattungskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Was ist eine Psalmengattung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die aktuelle Kritik am Paradigma der Gattungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Beispieltexte für die wichtigsten Gattungen . . . . . . . 2.3.1 Der Hymnus: Ps 117 und Ps113 . . . . . . . . . . 2.3.2 Das kollektive Klagelied: Ps 79 . . . . . . . . . . . 2.3.3 Das individuelle Klagelied: Ps 13 . . . . . . . . .

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3. Das Psalmenbuch als Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die (Wieder-)Entdeckung von Zusammenhängen . . 3.2 Strukturmarkierungen im Psalmenbuch . . . . . . . . . . 3.3 Psalmengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Verbindungen zwischen Einzelpsalmen: Ps 90–92 . .

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4. Vom Einzelpsalm zum Psalmenbuch: Entstehungsgeschichtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Methodische Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Strukturbeobachtungen zur Entstehung des Psalmenbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Der sogenannte „Elohistische Psalter“ (Ps 42–83) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Die Doxologien und der Kolophon . . . . . . . . 4.3.3 Die Hauptzäsur nach Ps 89 . . . . . . . . . . . . . .

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6 5. Eine kleine Biblia: Die theologische Bedeutung des Psalmenbuchs . . . . . . . . 5.1 Das Psalmenbuch als biblisches Buch . . . . . . . . . . . 5.2 Das Psalmenbuch als Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der Psalter als umfassendes theologisches Buch in der christlichen Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Psalmen als Gebete in Judentum und Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen . . . . . . . . . 6.1 Biblisch-anthropologische Sprachlehre . . . . . . . . . . 6.1.1 „Seele“/„Leben“ (vpn næpæš) . . . . . . . . . . . . 6.1.2 „Wind“/„Atem“/„Geist“ (jwr ruach) . . . . . . . 6.1.3 „Herz“ (bl/ bbl leb / lebab) . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Der „konstellative Personbegriff“ in der alttestamentlichen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zur Metaphorik der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Tod und Leben: Ps 88 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Lebenszeit und Vergänglichkeit: Ps 102 . . . . . . . . . . 6.6 Verfolgung und Gerechtigkeit: Ps 94 . . . . . . . . . . . . 6.7 Rettung: Ps 30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen . . . . . . . . . . . . . 7.1 Königtum JHWHs: Ps 93 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Schöpfungstheologien: Ps 104 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Tempeltheologie: Ps 99 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Der verborgene Gott: nochmals zu Ps 88 . . . . . . . . . 7.5 Der sich offenbarende Gott: Ps 73 . . . . . . . . . . . . . .

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Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Einführung 

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Erich Zenger hat seinen letzten programmatischen Aufsatz zur Psalmen- und Psalterexegese mit einer Zielangabe abgeschlossen: „Insgesamt ist es die Aufgabe der Psalterexegese, das Psalmenbuch als Zeugnis leidenschaftlicher Gott-Suche der Einzelnen und des Gottesvolkes, aber auch von Menschen aus der Völkerwelt und nicht zuletzt als gemeinsames Gebetbuch von Juden und Christen zu präsentieren.“1 Mit dieser Hinwendung zum Psalter als einem Buch mit eigener Programmatik wird gegenüber der älteren Psalmenforschung, die sich auf die Einzelpsalmen und ihre Gattungen konzentriert hat, ein neuer Weg eingeschlagen. Die wissenschaftliche Auslegung der Psalmen des Psalters muss heute den anthropologischen und theologischen Reichtum des Psalmenbuchs neu herausarbeiten. Dazu müssen die Psalmen als individuelle poetische Kunstwerke wahrgenommen und die Kompositionsbögen des Psalmenbuchs theologisch ausgewertet werden. Hermeneutisch ist zu bedenken, dass die Psalmen sowohl kanonische Texte, also „Wort Gottes“, als auch Gebete – und damit die „Antwort an Gott“ von Juden und Christen seit der Antike – sind. 

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Das Psalmenbuch gehört zu den biblischen Kernbereichen, die im Rahmen der alttestamentlichen Exegese im Theologie-Studium behandelt werden. Auch außerhalb des Studienbetriebs erfahren die Psalmen ein vergleichsweise hohes Maß an Beachtung. Das liegt sicher auch an ihrer Bedeutung in der persönlichen und kirchlichen Frömmigkeit – man denke nur an die Renaissance, die zz. vielerorts die Stundenliturgie erlebt. Aber auch darüber hinaus bieten sie einen poetischen, authentischen und oft sehr persönlichen Zugang zu einer biblischen Theologie, der heute viele Menschen ansprechen kann. Von wissenschaftlicher Seite ist in der Psalmenexegese in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein erheblicher Innovationsschub zu verzeichnen, der besonders auch von Exegeten des deutschsprachigen Raumes angetrieben wurde und wird. Kennzeichnend ist hier eine gewisse Relativierung der Formen- und Gattungskritik, die die Psalmenexegese fast 100 Jahre dominiert hat, und eine deutliche Aufwertung der Interpretation von Psalmen in ihrem (redaktionsge-

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Einführung

schichtlich gewachsenen) Buchzusammenhang einerseits und mit neuen literaturwissenschaftlichen Perspektiven andererseits. Entsprechend hat sich das Aufgabenfeld der Psalmenexegese verschoben. Es geht auch in einem hermeneutischen Sinn viel mehr als noch vor einigen Jahren um Fragen nach der individuellen poetischen Gestalt dieser Texte, nach ihrem Beitrag zur biblischen Anthropologie und Theologie und nach ihrer Einbindung in die Komposition des Psalmenbuchs. Die folgenden Kapitel führen vor diesem Hintergrund jeweils in wichtige Aspekte der Psalmenexegese ein. Dabei setzt dieses Buch nicht bei Einleitungsfragen oder bei Fragen nach Gestalt und Entstehung des Psalmenbuches an, sondern fragt zunächst, was es bedeutet, dass Psalmen poetische Texte sind, und welche Hermeneutik sich daraus ergibt. Hierzu gehört auch ein Blick auf Metapherntheorien im Kontext der Psalmenexegese (Kapitel 1). Die Formen- und Gattungskritik hat sich seit H. Gunkel bemüht, die Psalmen dadurch in einen Verstehenskontext zu stellen, dass jedem Psalm eine Gattung zugewiesen wurde. Vom „Sitz im Leben“, der für die einzelnen Gattungen z. T. sehr hypothetisch erschlossen wurde, sollten dann die Psalmen besser verstehbar werden. Gerade im Gefolge von S. Mowinckel wurde der „Sitz im Leben“ als kultischer Kontext ausgebaut und der Psalm darauf festgelegt. Die Verdienste, aber besonders auch die Grenzen und Unzulänglichkeiten dieser Methodik werden heute deutlich gesehen (Kapitel 2). Der Ansatz einer Psalmen- und Psalterexegese geht dagegen von einer anderen Art der Kontextualisierung der Psalmen aus. Der aus heutiger Sicht primäre Kontext eines Psalms, in dem er als kanonischer Text überliefert ist, ist demnach sein Umfeld im Psalmenbuch. Dieser primäre Kontext kann nun synchron auf Kompositionsstrukturen (Kapitel 3) und diachron auf seine Redaktionsgeschichte befragt werden (Kapitel 4). Das nächste Kapitel erörtert dann die theologische Sonderstellung, die das Psalmenbuch unter den biblischen Büchern einnimmt und bedenkt die Rezeption in der Liturgie (Kapitel 5). Auch bedingt durch die Festlegung auf eine vorwiegend kultische Funktion im Rahmen der Formen- und Gattungskritik haben die Psalmen forschungsgeschichtlich im Blick auf die alttestamentliche Anthropologie und Theologie gegenüber erzählenden Texten lange ein Schattendasein geführt, aus dem sie nun zunehmend heraustreten. Die beiden Schlusskapitel des Buches diskutieren daher Themen, bei denen das Psalmenbuch wesentliche Beiträge zur biblischen Anthropologie (Kapitel 6) und Theologie (Kapitel 7) leistet.

Einführung

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Zu Beginn eines jeden Kapitels findet sich eine Zusammenfassung, die als Lesehilfe die Grundlinien des folgenden Kapitels verdeutlicht, bei wiederholter Lektüre oder zur Prüfungsvorbereitung aber auch als Gedächtnisstütze hilfreich sein kann. Die Kapitel bieten dann zunächst theoretische Abschnitte, die den jeweiligen Aspekt in möglichst einfacher Sprache erschließen. Damit kombiniert werden Beispielpsalmen, mit deren Auslegung die entsprechende Thematik konkretisiert und vertieft wird. Eine vollständige Exegese der Psalmen ist dabei nicht angestrebt. Gleichwohl sollen die Beispielauslegungen aufzeigen, wie Psalmen- und Psalterexegese konkret aussehen kann, einer Theorielastigkeit dieses Buches entgegenwirken und auch fortgeschrittenen Studierenden ein kleines Kompendium von Psalmenstudien an die Hand geben. Im Anhang findet sich ein Glossar, das benutzte Fachausdrücke erläutert und bei der Lektüre möglicherweise auftretende Fragen durch Hintergrundinformationen klärt. Hier sind auch Stichworte aufgenommen, die im Duktus des Buches bei der ersten Benutzung erklärt werden, so dass mit Hilfe des Glossars die Einzelkapitel auch unabhängig voneinander lesbar sind. Theologiestudierenden wird damit in kompakter Form eine Einführung in das Psalmenbuch geboten, die zur Vor- oder Nachbereitung von Vorlesungen oder Hauptseminaren zur Psalmenexegese gelesen werden kann. Darüber hinaus möchte das Buch eine Vorstellung davon vermitteln, wie eigene exegetische Arbeiten an den Psalmen angegangen werden können. Angesichts der Bandbreite der Studiengänge und ihrer Sprachanforderungen ist der Text so gestaltet, dass er auch ohne Hebräischkenntnisse verstehbar ist. Allerdings erreicht dieses Büchlein sein eigentliches Ziel, zur eigenen Exegese anzuleiten, nur bei vorhandenen – und in der Psalmenexegese bedeutet das häufig: sehr fortgeschrittenen – Hebräischkenntnissen. Für Leserinnen und Leser, die außerhalb eines Theologiestudiums an den Psalmen interessiert sind, will diese Einführung aufzeigen, welche neuen Wege die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Texten in den letzten Jahren eingeschlagen hat. Auf diese Weise soll eine Lesehilfe gegeben werden, um sich etwa anhand von Psalmenkommentaren gezielt über einen Psalm informieren zu können und diese Kommentierung kritisch einordnen zu können. Dieses Buch hat gemessen an seinem Umfang eine lange Entstehungsgeschichte durchlaufen. So sind viele Lehrveranstaltungen zu den Psalmen und Rückmeldungen von Studierenden in den Schreibprozess eingeflossen und die wechselnden Hilfskräfte am Seminar

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Einführung

für Zeit- und Religionsgeschichte des Alten Testaments in Münster haben immer wieder einmal ein Kapitel kritisch gelesen. Auch stellvertretend für sie danke ich meiner Mitarbeiterin Christiane Wüste, die mit großem Engagement, Sachverstand und vielen wertvollen Anregungen die Phase unmittelbar vor der Drucklegung begleitet hat. Frau Nadine Albert vom Schöningh-Verlag danke ich für die unkomplizierte verlegerische Betreuung. Ich widme dieses Buch meiner Frau Dr. Petra Ehm-Schnocks. Allen Benutzern hoffe ich, mit dieser Einführung den Zugang zur Welt des Psalmenbuchs ein wenig zu erleichtern. Basisliteratur Ich verweise an dieser Stelle auf gut erreichbare neuere Überblicksliteratur wie Kommentare, Einführungen und einige wichtige Sammelbände, die allein unter dem Aspekt des ergänzenden Lesens ausgewählt sind. Die hier aufgeführte Literatur wird in den Anmerkungen mit Kurztitel zitiert. Hinweise auf Einzeluntersuchungen und wichtige Monographien finden sich in den Anmerkungen der Themenkapitel. Abkürzungen richten sich nach S. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 1992. Kommentare F.-L. Hossfeld/E. Zenger, Die Psalmen I. Psalm 1–50 (NEB 29), Würzburg 1993. Dies., Psalmen 51–100 (HThK.AT), Freiburg i. Br. 2000. Dies., Psalmen 101–150 (HThK.AT), Freiburg i. Br. 2008. Die Kommentare in der Reihe „Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament“ wenden das auch in diesem Büchlein vertretene Programm einer Psalmen- und Psalterexegese auf die150 Psalmen ausführlich an. Der Band über Ps 1–50 wird von F.-L. Hossfeld und J. Schnocks verfasst und voraussichtlich 2015 erscheinen. Bis dahin sei auf die knappere Kommentierung in der Reihe „Neue Echter Bibel“ verwiesen. H.-J. Kraus, Psalmen. 2 Bde (BK XV), Neukirchen-Vluyn 1989, 6. Aufl. mit Nachträgen zur Literatur. Ausführlicher Kommentar, der dem Programm einer stark ausdifferenzierenden Formen- und Gattungskritik folgt. Von der monumentalen Neubearbeitung durch Friedhelm Hartenstein und Bernd Janowski ist bisher erst eine Lieferung (Kommentierung von Ps 1 f.) erschienen.

Einführung

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M. Oeming, Das Buch der Psalmen. Psalm 1–41 (NSK-AT 13/1), Stuttgart 2000. Ders./J. Vette, Das Buch der Psalmen. Psalm 42–89 (NSK-AT 13/2), Stuttgart 2010. Knappe Kommentierung, die sich an der Einheitsübersetzung orientiert und den Aspekt der Psalterexegese vernachlässigt. B. Weber, Werkbuch Psalmen I. Die Psalmen 1 bis 72, Stuttgart 2001. Ders., Werkbuch Psalmen II. Die Psalmen 73 bis 150, Stuttgart 2003. Ders., Werkbuch Psalmen III. Theologie und Spiritualität des Psalters und seiner Psalmen, Stuttgart 2010. Eine knappere Kommentierung aller Psalmen, die auch poetische Elemente der Psalmen berücksichtigt und jeweils mit Anregungen für die seelsorgliche Praxis schließt.

Einführungen B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 42013. Eine gelungene biblische Anthropologie aus der Perspektive der Psalmen und gleichzeitig eine wunderbare Einführung in die Psalmen mit Schwerpunkt auf den Individualpsalmen mit acht Beispielexegesen. K. Seybold, Die Psalmen. Eine Einführung, Stuttgart 21991. Eine reichhaltige und immer noch sehr lesenswerte Psalmeneinführung.

Sammelwerke Hier werden einige wichtige Sammelwerke chronologisch aufgeführt, die so auch die Neuorientierung der Psalmenforschung in den letzten zwei Jahrzehnten dokumentieren. K. Seybold/E. Zenger (Hg.), Neue Wege der Psalmenforschung. Für Walter Beyerlin (HBS 1), Freiburg i. Br. 21995. E. Zenger (Hg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (HBS 18), Freiburg i. Br. 1998. Ders. (Hg.), Der Septuagintapsalter. Sprachliche und theologische Aspekte (HBS 32), Freiburg i. Br. 2001. Ders. (Hg.), Ritual und Poesie. Formen und Orte religiöser Dichtung im Alten Orient, im Judentum und im Christentum (HBS 36), Freiburg i. Br. 2003. M. Grohmann/Y. Zakovitch (Hg.), Jewish and Christian Approaches to Psalms (HBS 57), Freiburg i. Br. 2009. E. Zenger (Hg.), The Composition of the Book of Psalms (BEThL 238), Leuven 2010.

1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie 

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Die Psalmen sind poetische Texte und sollten entsprechend ausgelegt werden. Diese Einsicht hat Konsequenzen. Einerseits spielen für die Methode der Psalmenauslegung poetische Eigenheiten der Texte – ihre Struktur, Stichwortverbindungen, die Metaphorik und vieles mehr – eine wichtige Rolle, um einen Psalm überhaupt angemessen wahrzunehmen. Andererseits ist es hermeneutisch wichtig, dass die Psalmen so konzipiert sind, dass sie als individuelle sprachliche Kunstwerke ihre Bedeutung in unterschiedlichen literarischen und außerliterarischen Kontexten jeweils neu entfalten können. Der erste literarische Kontext eines Psalms sind die Psalmen, mit denen zusammen er das biblische „Buch der Psalmen“ bildet. Entsprechend setzt die Psalmenexegese beim Einzelpsalm und seiner individuellen poetischen Gestalt an und fragt dann nach seiner Stellung im Psalmenbuch und eventuell in weiteren Kontexten.

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Dass die Psalmen des alttestamentlichen Psalmenbuchs poetische Texte sind, scheint offensichtlich zu sein. Wer wollte etwa Ps 23, dem berühmten Hirtenpsalm, seine poetischen Qualitäten absprechen? In der Hebräischen Bibel wird nur in den Büchern Psalmen, Ijob und Sprichwörter ein besonderes, auf poetische Texte ausgerichtetes System von Akzenten verwendet. Fragt man aber nach Kriterien für die Bestimmung eines hebräischen Textes als Poesie, so ist die Lage nicht so einfach. Metrum und Endreim etwa, die klassischen Charakteristika von deutschen Gedichten, finden sich in hebräischer Lyrik zwar auch hier und da, aber in anderer Form und weniger häufig und regelmäßig, so dass sie als Kriterien kaum verwendbar sind. Was macht dann aber die Psalmen zu poetischen Texten? Was bedeutet es überhaupt, sie als Poesie anzusprechen und was gewinnen wir für die Auslegung von Psalmen, wenn wir wirklich ernst damit machen, dass wir es mit poetischen Kunstwerken zu tun haben?

1.1 Merkmale der Psalmen als hebräische Poesie

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1.1 Merkmale der Psalmen als hebräische Poesie Die Psalmen, oder allgemeiner hebräische poetische Texte, haben viele Parallelen in der antiken Lyrik in ugaritischer, akkadischer und sumerischer Sprache. Hier gibt es große Unterschiede zu Gedichten in europäischen Sprachen. Andererseits gibt es natürlich auch grundlegende Gemeinsamkeiten von Dichtung überhaupt, die damit zu tun haben, dass Gedichte in der Regel mit besonderen Formulierungen und Strukturen arbeiten, um eben einen „verdichteten“ sprachlichen Ausdruck zu erreichen. 1.1.1 Der Parallelismus membrorum Grundlegend ist in den Psalmen der parallelismus membrorum, der sogenannte Gedankenreim, der oft als das wichtigste Bauprinzip und Kennzeichen von Lyrik in den semitischen Sprachen genannt wird. Gemeint ist damit, dass sich die Einzelteile von zwei oder mehr Verszeilen, die dann auch Kola (gr. kōlon = Körperteil) genannt werden, so entsprechen, dass diese Verszeilen eine Sinneinheit bilden. Im Hintergrund steht dabei die – für unser modernes und westliches Denken eher fremde – Einsicht, dass sich die Realität eigentlich nie mit einer einzelnen Aussage abbilden lässt, sondern dass es darauf ankommt, eine Sache aus (mindestens) zwei Perspektiven oder auch durch die Hinzusetzung ihres Gegenteils zu beleuchten.1 Je nach Anzahl der zusammengehörigen Verszeilen spricht man dann von einem Monokolon (1 Zeile – hier gibt es freilich auch keinen Parallelismus), einem Bikolon (2 Zeilen – das ist die häufigste Form bei den Psalmen) oder einem Trikolon (3 Zeilen). Es gibt unterschiedliche Typen von Parallelismen: Synonymer Parallelismus Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst / und das Adamskind, dass du dich um ihn kümmerst (Ps 8,5)

Hier entsprechen sich „Mensch“ und „Adamskind“ (= Elemente A und A’) und die – übrigens auch im Hebräischen – genau parallel gebauten Nebensätze mit „gedenken“ und „kümmern“ (= B und B’), so dass sich der Vers in der Form A B // A’ B’ formalisieren lässt. Die Aussagen beider Kola sind fast gleichbedeutend und le-

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1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie

gen sich gegenseitig aus. Dabei kann die Entsprechung auch chiastisch sein: Denn er zerbrach bronzene Türen / und eiserne Riegel zerschlug er (Ps 107,16)

Hier entsteht die Form A B // B’ A’. Antithetischer Parallelismus Es hilft auf den Armen JHWH er erniedrigt die Frevler bis zur Erde (Ps 147,6)

Man könnte den Vers formalisieren: A B C // -A’ -B’ D. Dabei ist zu beachten, dass die parallelen Elemente, „aufhelfen“ // „erniedrigen“ und „Arme“ // „Frevler“ jeweils das Gegenteil aussagen. Das Beispiel zeigt, dass bereits das Erkennen des Parallelismus hier Konsequenzen für die Interpretation des Textes hat: Die „Armen“ werden durch die antithetische Parallelisierung mit den „Frevlern“ ihrerseits als „Nicht-Frevler“ moralisch positiv qualifiziert. Synthetischer Parallelismus Mein Hirte ist JHWH nicht werde ich Mangel leiden (Ps 23,1)

Hier führt die zweite Zeile den Gedanken der ersten fort, ohne dass sich parallele Elemente bestimmen ließen. Entsprechend wäre zu formalisieren: A B // C. Der synthetische Parallelismus ist damit kein parallelismus membrorum im eigentlichen Sinn. Trotzdem hat sich die Annahme einer solchen Spielart bewährt, zumal auch andere Formen des Parallelismus oft synthetische – man könnte auch sagen ‚sequentielle‘ – Anteile haben können. Ein Beispiel wäre der sogenannte synonym-sequentielle Parallelismus (nach P.D. Miller): Am Tag habe ich geschrien in der Nacht vor dir (Ps 88,2)

Die Form A B // A’ C vereinigt parallele Elemente („Tag“ // „Nacht“) und solche, die wir hintereinander – also sequentiell – lesen würden. Eine solche Lesesequenz wäre dann: „Am Tag habe ich geschrien vor dir.“ Nun könnten die parallelen Elemente „Tag“ und „Nacht“ als Gegensätze in dem Sinne aufgefasst werden, dass sie mit unterschiedlichen Handlungen verbunden werden. Ein denkbarer Satz wäre etwa: „Am Tag bin ich gewandert, aber in der Nacht habe ich geschlafen.“ In diesem Sinn könnte man annehmen, dass in unserem Vers in der zweiten Zeile eine von „Schreien“ unterschiedliche Handlung stehen müsse, die verlorengegangen ist. So übersetzte

1.1 Merkmale der Psalmen als hebräische Poesie

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noch H.-J. Kraus: „bei Tag schreie ich, bei Nacht stehe ich vor dir.“2 Eine andere Möglichkeit, den Gegensatz von „Tag“ und „Nacht“ zu interpretieren, ist, sie als die beiden Hälften eines 24-Stunden-Tages zu begreifen. Sie stellen zusammen also eine umfassende Einheit, einen sogenannten Merismus dar, den man abstrahierend mit „immer“ zusammenfassen könnte – vergleichbar mit der Formulierung „im Himmel und auf Erden“ für „überall“. In dieser Funktion sind Tag und Nacht einfach die beiden Aspekte der Zeit. Das Erkennen eines synonym-sequentiellen Parallelismus führt nun dazu, dass gedanklich die beiden parallelen Abfolgen „Am Tag habe ich geschrien vor dir, in der Nacht habe ich geschrien vor dir.“ entstehen; formalisiert A B C und A’ B C. Stufenparallelismus Es erhoben Ströme, oh JHWH, es erhoben Ströme ihre Stimme, es werden erheben Ströme ihr Tosen. (Ps 93,3)

Die Form ist hier: A B C // A B D // A’ B D’. Diese in mesopotamischer Lyrik geläufigere Form des Parallelismus kommt in den Psalmen hier und da vor, ist aber viel seltener als die aus zwei Verszeilen bestehenden Verse (Bikola). Bereits die Formalisierung zeigt, dass er nicht nur parallele Elemente, sondern regelrechte Wiederholungen enthält, wobei die Aussage stufenweise weiterentwickelt wird. Es gibt viele weitere, hier nicht näher besprochene Formen des Parallelismus, die oft erstmals in ugaritischer oder akkadischer Dichtung beschrieben und dann auch in hebräischer Lyrik entdeckt wurden. Ein Beispiel ist etwa ein von U. Cassuto erstmals in ugaritischen Texten beschriebener Typ, bei dem das grammatische Geschlecht der beteiligten Substantive die Basis darstellt und der auch in hebräischen Psalmen begegnet. 1.1.2 Struktursignale Die von Parallelismen gebildeten Einheiten – meist also aus Bikola und Trikola – bilden gewissermaßen die strukturellen Basiseinheiten eines Psalms. Sie können zu größeren Struktureinheiten zusammengesetzt werden. Dabei ist die Abgrenzung solcher Einheiten nicht immer leicht, weil man die Signale entdecken muss, mit denen der Text sie anzeigt. Was hier als Struktursignal gelten kann und was

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1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie

nicht, hängt oft mit den Eigenheiten des einzelnen Psalms zusammen. So gibt es Psalmen, bei denen jeweils die ersten Buchstaben der Strophen oder Einzelverse hintereinandergelesen das hebräische Alphabet bilden. Sie heißen alphabetische Akrosticha. Beispiele sind Ps 9/10; 25; 111; 112; 119. Hier ist der Anfangsbuchstabe eines Wortes ein wichtiges Strukturmerkmal, was sonst natürlich nicht so ist. Ebenso können Wiederholungen einen bestimmten Vers zum Refrain machen, der wiederum als solcher Strophen markiert. Die Verteilung der Verbformen, also z. B. ein Wechsel von Vergangenheitsformen zu Imperativen, kann ebenfalls ein wichtiges Kriterium sein. Dasselbe gilt für Wechsel in der Sprechrichtung, wenn also etwa zunächst beschreibend von Gott gesprochen wird und er dann später direkt angeredet wird. Übergänge zu neuen Abschnitten können mit Signalworten wie „fürwahr“ (˚a ’akh), „ja!“ (yk ki), „siehe“ (hnh hinne), „und nun“ (ht[w we῾ata), „ich aber/wir aber“ (ynaw/wnjnaw wa’ani/ wa’anachnu) oder auch durch die direkte Anrufung Gottes angezeigt werden. Ob allerdings ein bestimmtes hebräisches Wort diesen Signalcharakter hat, hängt von seiner Verwendung in dem entsprechenden Psalm ab. Oft treffen mehrere Strukturmerkmale zusammen, manchmal überlagern sie sich auch. Entsprechend ist eine gute Strukturanalyse auf einer möglichst umfassenden Sammlung von Beobachtungen aufgebaut, und oft entscheidet sich hier schon viel für das Verständnis des Gedankenganges eines Psalms. Letztlich sind all diese Überlegungen nur der deutliche Hinweis, dass wir es bei den Psalmen mit Poesie, mit verdichtetem Sprachausdruck zu tun haben. Dazu passt, dass es auch Stilmittel gibt, die eher die Lautgestalt eines Psalms betreffen. Hierzu gehören Alliterationen, Sprachrhythmus und Reim. Weil wir allerdings nicht genau rekonstruieren können, wie das Hebräische zur Zeit der Entstehung eines Psalms ausgesprochen wurde, haben wir es hier mit wenig belastbaren Hypothesen zu tun. Die schriftliche Vokalisierung des Bibeltextes lässt sich nur bis ins 10. bzw. frühe 11. Jahrhundert nach Christus, der Zeit der heute noch vorliegenden großen hebräischen Bibel-Kodizes zurückverfolgen. Besonders wichtig sind der Aleppokodex und der Kodex St. Petersburg (in der älteren Literatur als „Kodex Leningradensis“). In dieser Zeit haben die Masoreten, also die jüdischen Gelehrten, die sich um die Weitergabe des Bibeltextes gekümmert haben, die Aussprache der Texte durch Vokale und Akzente so fixiert, dass eine einheitliche Wiedergabe im Sprechgesang der synagogalen Liturgie gewährleistet war. Manche Stellen in den Psalmenkommentierungen

1.1 Merkmale der Psalmen als hebräische Poesie

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des Hieronymus, wo dieser hebräische Worte in lateinischer Umschrift zitiert, zeigen, dass die Masoreten dabei auf sehr alte Aussprachetraditionen zurückgegriffen haben. Wir können also davon ausgehen, dass die Wiedergabe trotz der großen Zeitdifferenz im Allgemeinen sehr verlässlich ist. Trotz allem ist hier Vorsicht geboten und man wird auf der Lautgestalt eines Textes allein kaum weitergehende Thesen aufbauen. Klangliche Beobachtungen können aber auf anderen Ebenen gemachte Beobachtungen unterstreichen. So ist es auffällig, dass die Verse Ps 90,11–12, die strukturell die Mitte und gewissermaßen den Drehpunkt des Psalms markieren, die einzigen Verse des Psalms sind, in denen man Sprachrhythmus und Endreim feststellen kann. 1.1.3 Metaphorik Ein anderer Bereich, der zwar nicht auf die Poesie beschränkt ist, aber hier doch eine wichtige Rolle spielt, ist die Metaphorik. Die Erforschung der Metaphern in der Hebräischen Bibel und speziell in den Psalmen hat in den letzten Jahren wichtige Fortschritte gemacht. Nicht zuletzt haben diese Arbeiten den Blick auf die Psalmen insofern verändert, als deutlich geworden ist, dass das Lesen – und damit auch das Beten – von Psalmen ein aktiver Vorgang ist, bei dem der Sinn immer wieder neu und entsprechend den sich verändernden Lesekontexten auch immer ein wenig anders konstituiert wird. Um zu verstehen, wie Metaphern in den Psalmen ‚arbeiten‘, ist ein kurzer Ausflug in die Metapherntheorie nötig. Grundsätzlich muss man zwei Modelle unterscheiden, wie Metaphern aufgefasst werden können. Das einfachere – und heute nicht mehr befriedigende – Modell ist die sogenannte Substitutionstheorie, die der antiken Rhetorik entstammt. Eine Metapher ist dabei die Ersetzung eines Wortes durch ein Bildwort. Ein schon in der Antike als Beispiel zitierter Satz lautet: „Achill ist ein Löwe.“ Dabei ist „Löwe“ zweifellos eine Metapher, denn der berühmte Held des trojanischen Krieges war ja bekanntlich kein Raubtier, sondern ein Mensch. Zur Feststellung einer Metapher muss man also die Spannung wahrnehmen, die ein bestimmter Ausdruck im Kontext erzeugt. Um nun entsprechend der Substitutionstheorie diese uneigentliche Aussage wieder in eine eigentliche Aussage zu überführen, müssen wir den Ausdruck suchen, den „Löwe“ in diesem Satz ersetzt, oder anders ausgedrückt, es muss der Sachverhalt gefunden

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1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie

werden, hinsichtlich dessen man Achill mit einem Löwen vergleichen kann – die Metapher wäre dann, wie schon Quintilian sie genannt hat, ein verkürzter Vergleich. Eine konkrete Möglichkeit wäre, an die Kampfkraft von Löwen zu denken und entsprechend die metaphorische Aussage in den Satz aufzulösen: „Achill ist ein starker Kämpfer.“ Durch diese Ersetzung haben wir interpretatorisch die Metapher gewissermaßen abgearbeitet. Wenn diese ‚Übersetzung‘ korrekt ist, stellt sich allerdings die Frage, warum der ursprüngliche Satz nicht bereits so gelautet hat, sondern der Autor oder die Autorin oder die Redaktoren den Umweg einer uneigentlichen Aussage gewählt haben. Die klassische Antwort auf diese Frage ist, dass der Satz mit der Metapher sprachlich farbiger und interessanter wird, die Metapher also die Funktion eines Ornaments, einer stilistischen Redefigur hat. Das zweite – heute allgemein bevorzugte – Modell im Umgang mit Metaphern ist die sogenannte Interaktionstheorie. Sie behandelt die Metapher von einem linguistischen/semiotischen Standpunkt aus und gibt sich daher mit der Erklärung des ornamentalen Charakters im Rahmen der Rhetorik/Poetik nicht zufrieden. Es geht hier nicht um das Festellen und Auflösen einer Spannung zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was damit gemeint ist, sondern um die sinnstiftende Wechselwirkung zwischen dem Wort – oder allgemeiner Sprachzeichen –, das zur Metapher werden kann, und seinem Kontext. Erst beide zusammen, Wort und Kontext, lassen eine Metapher entstehen. Eine Metapher ist dann gewissermaßen ein Signal des Textes, das die Leserinnen und Leser stutzen lässt und sie auffordert, mit dem Text gemeinsam über seine Bedeutung – besser noch über seine Bedeutungsvielfalt – nachzudenken. Zugespitzt könnte man sagen, dass die Lesenden sich bei der Auseinandersetzung mit einer Metapher wandeln müssen von passiven Empfängern einer Botschaft zu aktiven Teilnehmern bei dem Unternehmen, die Bedeutung des Textes herzustellen. Dabei stellt der Kontext den Rahmen dar, innerhalb dessen das zu einer Metapher gewordene Wort einen Verstehensraum eröffnet. Die Rezipienten werden beim Lesen diese Räume versuchsweise mit den durch die Metapher aufgerufenen Assoziationen und Bildern füllen. Dabei fließen – wie immer beim Verstehen von Texten, aber hier besonders deutlich – eigene (Lese-)Erfahrungen, also weitere Kontexte mit ein. Die prinzipiell unbegrenzte Vielfalt von möglichen Verstehensweisen der Metapher muss dabei immer am Text selbst überprüft werden. So mag bei der Metapher „Achill ist ein Löwe“ im Kontext von Homers Ilias die Assoziation

1.1 Merkmale der Psalmen als hebräische Poesie

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„starker Kämpfer“ eher angemessen sein als die Eigenschaften von Löwen, fast den ganzen Tag zu verschlafen oder ein gelbes Fell zu haben. Was diese theoretischen Überlegungen für die Interpretation von Metaphern in Psalmen bedeuten, werden wir gleich sehen. Neben die Frage nach einer angemessenen Metapherntheorie tritt noch eine weitere Frage, nämlich die, ob eine Metapher in einem Text von den Erstrezipienten überhaupt als eigentliche, bewusste Metapher angesehen werden konnte, oder ob es sich um eine unbewusste Metapher handelt, wie es sie in jeder Sprache gibt. Letztere sind etwa notwendige Metaphern, die eine Lücke in der Sprache schließen (z. B. „Flussarm“), oder auch selbstverständlich gewordene Metaphern (z. B. „eine faule Ausrede“). Diese Fragen sind im Blick auf das biblische Hebräisch, bei dem uns nur ein sehr begrenzter Ausschnitt des Sprachschatzes in der Bibel und dem vergleichsweise kleinen Korpus althebräischer Inschriften zugänglich ist, manchmal schwer zu entscheiden. Uns fehlt oft einfach die für eine Klärung notwendige Anzahl von Belegen eines Wortes, um seine Verwendung abschließend beschreiben zu können. In Bezug auf das biblische Psalmenbuch werden diese Schwierigkeiten allerdings ein wenig relativiert. Zunächst haben wir es mit Dichtung zu tun. Die Wortwahl ist in jedem Fall sehr sensibel zu untersuchen und auch eine selbstverständlich gewordene, erstarrte Metapher kann u. U. durch den Kontext eine „lebendige“ metaphorische Dimension zurückerhalten. Darüber hinaus ist für den überwiegenden Teil der Rezeption der Psalmen der sprachliche Referenzrahmen nicht eine gesprochene Sprache, die im Fall des biblischen Hebräisch schon relativ bald durch das Aramäische und andere Sprachen abgelöst wurde, sondern gerade das sprachliche Korpus, das uns auch heute noch vorliegt: die Hebräische Bibel. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ergeben sich einige Grundsätze für die Interpretation von Metaphern in den Psalmen. Die Interaktionstheorie hat deutlich gemacht, dass es die Wechselwirkung von Wort und Kontext ist, die die Metapher überhaupt erst zu einer solchen macht. Ein Psalm oder allgemeiner ein Gedicht ist einerseits selbst ein Metapherngeflecht, andererseits bildet es den Kontext, in dem Worte zu Metaphern werden und in dessen Rahmen sie ‚arbeiten‘. Dabei stellt sich aber die Frage nach dem Realitätsbezug von Metaphern. Diese Frage bekommt eine besondere Relevanz, wenn wir von Psalmen als Gebeten sprechen, in denen Menschen ihre Freude und Not sehr existentiell in Worte fassen bzw. ihre Realität in den alten Psalmenworten adäquat angesprochen sehen. Wie

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1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie

kommt es also, dass betende Menschen sich selbst und ihre Welt in Psalmen wiederfinden können? Paul Ricœur hat in dieser Hinsicht Gedichte mit Dramen verglichen. In einem Drama wird durch die tragische Fabel, den Mythos, eine Welt entworfen. Diese Welt ist fiktiv, aber weniger komplex und damit leichter zu greifen als das allgemein Menschliche, über das etwas gesagt werden soll. Man kann sich diesen Sachverhalt leicht klarmachen, wenn man an Dramen (oder heute vielleicht eher Kinofilme) denkt, in denen fremde Welten aus sprechenden Tieren, Außerirdischen oder Phantasy-Monstern aufgebaut werden. Der Realitätsbezug besteht dabei nicht in der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, dass es solche Wesen gibt oder jemals geben könnte, sondern im Handeln der Figuren. Das Drama ist dann gelungen, wenn die guten oder bösen, mutigen oder ängstlichen Handlungen der erzählten Welt wie in einem Modell dem Handeln wirklicher Menschen entsprechen. Das Geschehen im Drama wird so zu einer Neubeschreibung der Wirklichkeit innerhalb des Modells des (u. U. völlig unwirklichen) Mythos. Es ist eine Nachahmung, Mimesis, wie es schon Aristoteles in seiner Dramentheorie genannt hat. Ricœur hat diesen Zusammenhang auf die Lyrik übertragen. Die Funktion des Mythos im Drama nennt er in Bezug auf das Gedicht mood. Es ist die Gestimmtheit, die vom gesamten Text und dem Netz seiner Metaphern erzeugt wird. Wenn diese Gestimmtheit die Funktion des Mythos im Drama erreicht, kann sie ihre poetische Funktion entfalten. Dann entsteht auch hier ein Modell, in dem die Wirklichkeit neu beschrieben werden kann, und zwar gerade durch die Metaphern des Gedichtes: „Im Dienste der poetischen Funktion ist die Metapher die Redestrategie, durch die sich die Sprache von ihrer unmittelbaren Beschreibungsfunktion befreit, um die mythische Stufe zu erreichen, auf der ihre Erschließungsfunktion freigesetzt wird“3. Für die Psalmenexegese ergibt sich aus diesem Ausflug in die Metapherntheorie die Notwendigkeit, den Einzelpsalm zunächst als in sich geschlossenes Gedicht, als künstlerisches Werk, wahrzunehmen. Die bildreiche Sprache vieler Psalmen entwirft hier ein Gesamtbild aus Stimmungen, Gefühlen und geistigen Haltungen, das in der Analyse benannt werden sollte, auch wenn das manchmal nur versuchsweise möglich sein wird. Im Kontext dieser Gestimmtheit, dem mood des Psalms, können die einzelnen Metaphern präziser gefasst werden, ohne dabei freilich ihre grundsätzliche Mehrdeutigkeit zu verlieren. Im Wechselspiel von Wort und Kontext erschließen die

1.2 Hermeneutische Konsequenzen

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einzelnen Metaphern dabei die theologische und anthropologische Wirklichkeit, die u. U. ohne diesen poetischen ‚Umweg‘ gar nicht in Worte zu fassen wäre. Der Beispielpsalm am Ende dieses Kapitels, Ps 49, zeigt dies auf hervorragende Weise. Er ist nur auf diese Art in der Lage, die Todesgrenze auf eine plausible Weise gedanklich zu überwinden, ohne jedoch eine spekulative Jenseitslehre zu formulieren. 1.2 Hermeneutische Konsequenzen Die erste Konsequenz der hier skizzierten Wahrnehmung der Psalmen als Poesie besteht darin, sie zunächst als individuelle literarische Kunstwerke ernst zu nehmen. Dieser Punkt wird im folgenden Kapitel gegenüber der Formen- und Gattungskritik hervorzuheben sein. Er ist aber auch gegenüber neuen Entwürfen zu betonen, die die Lektüre des Psalmenbuchs als Buch favorisieren – was an sich ein wichtiges Anliegen ist – und dabei aber die Wahrnehmung des Einzelpsalms gegenüber seinem Buchkontext vernachlässigen. Die zweite Konsequenz ist methodischer Art. Zunächst ist bei der Analyse eines Psalms sehr genau auf seine Struktur zu achten, die mit den unterschiedlichsten poetischen Mitteln angezeigt sein kann. Dann müssen die Struktur und andere Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung in die Interpretation einbezogen werden. Leitfragen für diese Arbeit sind zum Beispiel: Wie ist die Gedankenfolge des Psalms zu bestimmen? Wie argumentiert der Text? Warum wird ein Sachverhalt auf diese besondere Art ausgedrückt? Welchen (emotionalen) Gesamteindruck vermittelt der Psalm? Welche ‚Gestimmtheit‘ hat er? Was sind die Themen, die er als ganzer Text bearbeitet? Auf dieser Basis können dann auch die Stellen im Ablauf des Psalms benannt werden, an denen die Rezipienten im weitesten Sinne herausgefordert sind, ihre Lesestrategie zu überdenken oder gar zu verändern. Mit Wolfgang Iser kann man hier von ‚Leerstellen‘ sprechen. Die Leitfragen sind: Was wird nicht gesagt bzw. welche Leseentscheidung muss ich treffen, um weiter beim Lesen Sinn herstellen zu können? Welche Verständnisalternativen gibt es an dieser Stelle des Textes? Ähnliche Fragen stellen sich für den Umgang mit Metaphern. Auch hier geht es darum, das Wechselspiel einer Stelle des Textes mit dem Kontext zu beobachten. Dabei wird man feststellen, dass der Gesamtpsalm einen Raum des Verstehens begrenzt, in dem die Metapher arbeitet.

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1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie

Die dritte Konsequenz übersteigt schließlich die – wenn man so will: werkimmanente – Betrachtung des Psalms und richtet den Blick auf weitere Rezeptionskontexte. Gerade weil poetische Texte auf Wiederverwendung angelegt sind, verschiebt sich auch ihre Aussage, wenn sie in den Kontext anderer Texte gestellt werden. So kann im Psalmenbuch ein vorangehender Psalm, der z. B. über zentrale Stichworte mit dem betreffenden Psalm verbunden ist, die Lesestrategie von Anfang an so verändern, dass sich völlig neue Sinndimensionen eröffnen. Dasselbe gilt, wenn bestimmte Psalmen im Christentum in den literarischen Horizont des Neuen Testaments gestellt werden oder in der Liturgie mit den Festgeheimnissen des Kirchenjahres konfrontiert werden. Schließlich gewinnt ein Psalm mitunter völlig neue Dimensionen, wenn er beim persönlichen Beten ‚zu klingen‘ beginnt, sich also einem Beter in seiner ganz individuellen Situation als Gebet ‚in den Mund legt‘. Hier ist es wichtig, solche Phänomene nicht pauschal zu beurteilen. Es gibt nicht einfach berechtigte oder unberechtigte Lektüren eines Textes. Allerdings kann man untersuchen, welche Leseweisen noch von einem Text als Ganzem her gedeckt sind und welche nicht mehr. 1.3 Ein Psalm als ein Stück hebräischer Poesie: Ps 49 1 Für den Chormeister, den Söhnen Korachs, ein Psalm 2 Hört das, alle Völker / horcht, alle Bewohner der Welt. 3 Sowohl (einfache) Adamskinder als auch (vornehme) Menschenkinder / zusammen Reich und Arm. 4 Mein Mund möge Weisheit reden / und das Murmeln meines Herzens sei Einsicht. 5 Ich will neigen zu einem Spruch mein Ohr / ich will eröffnen zur Harfe mein Rätsel. 6 Warum soll ich mich fürchten an schlimmen Tagen / wenn mich die Sünde meiner Fersen umgibt? 7 Die, die auf ihr Vermögen vertrauen, / rühmen sich der Größe ihres Reichtums 8 Wehe, ein Mann kann gewiss nicht loskaufen / er kann Gott nicht sein Lösegeld geben. 9 Und kostbar ist der Loskauf ihres Lebens und er wird ausbleiben auf ewig,

1.3 Stück hebräischer Poesie: Ps 49

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10 so dass man noch lebe für immer / nicht die Grube sähe. 11 Denn man sieht: Weise müssen sterben zusammen mit dem Törichten und dem Dummen gehen sie unter / und lassen für andere ihr Vermögen. 12 Ihr Inneres (glaubt), ihre Häuser seien für ewig, ihre Wohnungen von Geschlecht zu Geschlecht, / rief man doch ihre Namen auf Erden. 13 Aber ein Mensch in Kostbarem bleibt nicht, / er gleicht dem Vieh, das vernichtet wird. 14 Das ist der Weg derer, die Torheit haben / und die nach ihnen sind, haben an ihrem Mund Gefallen. SELA 15 Wie Schafe, für die Scheol bestimmt man (sie), der Tod weidet sie // und es traten auf sie die Aufrichtigen am Morgen und ihr Fels, um die Scheol schwinden zu lassen von seiner Wohnung. 16 Aber Gott wird loskaufen mein Leben aus der Hand der Scheol / ja, er wird mich nehmen. SELA 17 Fürchte dich nicht, wenn ein Mann reich wird / wenn er vergrößert den Besitz seines Hauses. 18 Ja, er kann in seinem Tod das alles nicht nehmen / nicht kann hinter ihm hinabsteigen sein Besitz 19 Wenn er sein Leben in seiner Lebenszeit auch segnet: / „und sie preisen dich, wenn du es dir gut gehen lässt“, 20 es [das Leben] muss eintreten zum Geschlecht seiner Väter / auf immer werden sie kein Licht sehen. 21 Ein Mensch, der in Kostbarem (lebt), aber keine Einsicht hat, / er gleicht dem Vieh, das vernichtet wird.

Zur Textkritik: Der Psalm ist textlich im Hebräischen sehr schwierig. Die Übersetzung bemüht sich um eine wörtliche Wiedergabe des Textes. Dazu ist Folgendes anzumerken: In v.6b würde sich mit der Veränderung von zwei Vokalisierungszeichen in einem Wort folgender Text ergeben: „...wenn mich die Sünde derer, die mich betrügen, umgibt?“ In v.12 würde die Vertauschung von zwei Konsonanten zu einem Text führen, den auch die antike griechische Übersetzung (die sogenannte Septuaginta, Sigel: LXX), die altsyrische Übersetzung (Peschitta) und die Übertragung ins Aramäische (Targum) bieten. Er lautet: „Gräber sind ihre Häuser auf ewig“. Der masoretische Text ist im letzten Kolon von v.15 kaum übersetzbar (s.o.). Hält man sich an das Ketiv und eine moderate Umvokalisierung, könnte man folgenden Versuch wagen: „und ihre Gestalt: um

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1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie

zu verfallen in der Scheol (der Unterwelt), wo die Wohnstatt für sie (die Gestalt) ist.“ Zur poetischen Gestalt des Textes lassen sich hier auf der Basis des in diesem Kapitel Besprochenen eine Reihe von Beobachtungen machen.4 Der Psalm ist ein interessantes Beispiel, wie im Dienste des poetischen Ausdrucks Verse, die von völlig regelmäßigen synonymen Parallelismen geprägt sind (bes. v.2–5), von solchen abgelöst werden, die stärker sequentielle Elemente haben oder nur inhaltlich Parallelitäten erkennen lassen. Verse, die eher lehrhaften Charakter haben, weisen dabei eher Parallelismen auf. Interessant sind hier die beiden Trikola vv.11 f., bei denen jeweils parallele Elemente in den ersten beiden Verszeilen in der dritten synthetisch fortgesetzt werden. Die theologische Spitzenaussage des Psalms steht in v.16. Schon von seiner Gestalt her fällt der Vers sofort auf, weil hier – folgt man den masoretischen Akzenten – eine extrem lange erste Zeile einer extrem kurzen zweiten gegenübersteht, die aber die im Hebräischen auf ein Wort kondensierte Parallelaussage des ersten Kolons bietet. Die Struktur des Psalms ist relativ leicht zu bestimmen. Nach der Überschrift beginnt der Text in den v.2–5 mit einer Einleitung, die die universale Bedeutung dessen hervorhebt, was dann im Psalm folgt, und es als Weisheit darstellt. Dass in v.6 ein neuer Abschnitt beginnt, wird durch die Redeform der Frage – es ist die einzige Frage des Psalms – und den deutlichen Themenwechsel angezeigt. Wenn in v.17 das Thema, sich nicht zu fürchten, nochmals aufgenommen wird, so wird im Nachhinein deutlich, dass v.6 mit einem zentralen Stichwort in die eigentliche Argumentation eingestiegen ist. In v.6 beginnt also der Haupttext des Psalms. Dieser ist nochmals unterteilt durch einen fast wörtlich wiederholten Refrain in v.13.21, so dass sich zwei Hauptteile ergeben. Im ersten Hauptteil in v.6–13 geht es um die Unausweichlichkeit und Allgemeinheit des Todesschicksals, im zweiten Hauptteil in v.14–21 um die eigentliche Weisheit: Angesichts der Herrschaft des Todes am Lebensende kann nur Gott den Beter loskaufen, während Reiche im Tod nichts mitnehmen. Über diese Beobachtungen hinaus (die sich u. U. weiter differenzieren ließen) ist das wichtigste Gestaltungselement des Psalms die Verwendung von Wortwiederholungen, so dass sich thematische Leitworte und Stichwortverknüpfungen ergeben, die das Verstehen steuern. Das wichtigste Beispiel ist dabei die Vernetzung der zentralen theologischen Aussage in v.16:

1.3 Stück hebräischer Poesie: Ps 49

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Aber Gott wird loskaufen meine Lebendigkeit aus der Hand der Scheol / ja, er wird mich nehmen. SELA

Der Vers ist fast mit jedem Wort mit anderen Versen des Psalms verbunden. An erster Stelle stehen hier vv.8–9: „loskaufen“ (hdp pdh), „Gott“ (μyhla ’ælohim), „Leben“ (vpn næpæš), aber auch v.15: „Scheol“ (lwav še’ol), v.18: „nehmen“ (jql lqch) und v.19: „Leben“ (vpn næpæš). Zu allen diesen Versen baut v.16 jeweils die Gegenthese auf. Das ist sowohl eine strukturelle Beobachtung, die v.16 gewissermaßen zur kompositorischen Mitte des Psalms macht, als auch eine inhaltliche, weil erst die Vernetzung des Verses seine Aussage im Kontext des Psalms in allen Dimensionen zur Geltung bringt. Während also vv.8–9 davon reden, dass es für Menschen unmöglich sei, ein Menschenleben bei Gott loszukaufen, um so das Sterben zu verhindern, spricht v.16 die Hoffnung des Beters aus, dass Gott selbst ihn loskaufen, also gerade dieses für Menschen Unmögliche an ihm tun werde. Während nach v.15a die Toten wie Kleinvieh für die Scheol als Herrschaftsbereich des Hirten ‚Tod‘ bestimmt sind, wird Gott das ‚Leben‘ des Beters aus der Hand, also aus dem Machtbereich der Scheol – und damit auch aus dem Herrschaftsbereich des Todes – auslösen. Während nach v.18 ein Mensch im Tod seinen Reichtum nicht mitnehmen kann, ‚nimmt‘ Gott den Beter in (oder bereits nach?) dessen Tod. Während das ‚Leben‘ des Reichen (v.19) nach v.20 zum Geschlecht der Väter kommt und niemals wieder das Licht sieht, wird eben das ‚Leben‘ des Beters aus der Scheol losgekauft. So erweist sich angesichts des Todes also Gott als einzige verlässliche Sicherheit. Er ist ein persönlicher Rettergott, dessen Macht auch die Herrschaft der Scheol zu brechen vermag. Darüber hinaus findet sich hier ein hervorragendes Beispiel, um die kontextabhängige Funktionsweise von Metaphern in Psalmen zu studieren. Das Verb ‚loskaufen‘ ist im Blick auf die ‚Geschäftspartner‘ – einerseits Gott und andererseits die Scheol, die Totenwelt – zweifellos eine Metapher. Im Rahmen der Substitutionstheorie könnte man hier ein Ersatzwort für ‚erretten‘ oder ‚befreien‘ vermuten. Gleichzeitig wäre die Frage, ob hier überhaupt eine echte Metapher vorliegt, oder ob die vielen Belege der Hebräischen Bibel, in denen Gott als Subjekt dieses Verbs begegnet, nicht dafür sprechen, dass hier eine habituelle Metapher vorliegt, das Verb also faktisch die Bedeutungen ‚erretten/befreien‘ angenommen hat. In diesem Sinne aufschlussreich ist ein Vergleich der hebräisch-deutschen Standard-Lexika. Während das ältere, das Gesenius-Wörterbuch in

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1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie

der 17. Auflage, die übertragenen Bedeutungen eigens angibt, beschränkt sich das Köhler-Baumgartner-Lexikon in der 3. Auflage auf die Grundbedeutung ‚auslösen‘ und gibt lediglich die verschiedenen Kontexte an.5 Im Rahmen der Interaktionstheorie relativiert sich allerdings diese Frage, weil der Vergleich mit v.8 deutlich macht, dass ‚loskaufen‘ in v.16 im Kontext des Psalms, also des ‚literarischen Werkes‘, in einem spannungsreichen Wechselspiel mit der ursprünglichen, nicht übertragenen Bedeutung des Wortes gebraucht wird. Mit Ricœur wäre nach der Gestimmtheit des Psalms, seinem mood, zu fragen. Einen Hinweis bietet hier der Einsatz des ersten Hauptteils nach der Einleitung, wenn es in v.6 heißt: „Warum soll ich mich fürchten an schlimmen Tagen?“ Ist die Gestimmtheit also schlicht Furcht? Wie passt das aber zu v.17, wo es heißt: „Fürchte dich nicht, wenn ein Mann reich wird“? Eine genaue Lektüre des Psalms zeigt, dass es um Furcht im Sinne einer Ehrfurcht vor Personen oder Sachen geht, an denen man sein Leben ausrichtet, für die man lebt und mit denen man das Leben als gelungen und abgesichert ansieht. Eine zweite Furcht kommt aber wohl hinzu und wird zum Testfall für die Überlegungen zur Lebensausrichtung: Es ist das Wissen darum, dass alle Menschen sterben müssen. Furcht ist nun aber nicht einfach ein Gefühl, das einen überfällt – nach der Einleitung möchte uns der Psalmendichter ja Weisheit lehren –, sondern für den Psalm scheint es eine Entscheidung für diese oder jene Furcht zu geben. Als erstes Paradigma werden nun die genannt, die auf ihr Vermögen vertrauen (v.7). Diese Furcht scheitert aber angesichts der Allgemeinheit des Todesschicksals, weil man sich nicht mit Geld vom Tod loskaufen kann (v.8) und im Tod auch nichts von seinem Reichtum mitnehmen kann (v.18). Die Gestimmtheit des Psalms ist also nicht zu verwechseln mit einer furchtsamen Stimmung. Das hier aufgebaute Metapherngeflecht schafft vielmehr ein Denkmodell (entsprechend dem Mythos im Drama), in dem die Metapher des Loskaufens in v.16 arbeiten kann. Diese Bezogenheit auf einen derart strukturierten Kontext ist nach Ricœur notwendig: „Nur eine mythisch gewordene Gestimmtheit ist welterschließend.“6 Wenn nun das Ich des Psalms in v.16 sagt: „Aber Gott wird loskaufen mein Leben aus der Hand der Scheol“, so gibt die Metaphorik dem Satz im Kontext des Psalms mehrere Dimensionen. Zunächst bedeutet er, dass das Ich Gott ‚fürchtet‘ und sich so an ihm ausrichtet und auf ihn vertraut, wie andere es mit dem Reichtum halten. Dann aber zeigt sich, dass diese Lebensausrichtung weise ist, weil Gott im Gegensatz zum Reichtum angesichts des Todes nicht versagt, sondern zum

1.3 Stück hebräischer Poesie: Ps 49

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‚Loskauf‘ in der Lage ist. Die Verankerung der Thematik des Todesschicksals aller Menschen im mood des Psalms, die Entsprechung der Metaphern in v.8 und 16 und der vorangehende v.15 legen es dabei nahe, dass hier nicht nur von einer Rettung aus einer Lebensgefahr, sondern tatsächlich ganz grundsätzlich aus dem Tod die Rede ist. Man könnte die hier angestellten Überlegungen für weitere Metaphern des Psalms ebenfalls anstellen. Was aber jetzt schon deutlich geworden sein sollte, ist, dass in der hier vorgestellten Weise Metaphern eine weit wichtigere Funktion zukommt, als die, einfach Ornament zu sein. Psalmen werden durch sie Modelle der Wirklichkeit, mit denen betende Menschen sich selbst und ihre Welt vor Gott und mit Gott bedenken können.

2. Der alte Königsweg und seine Sackgassen: Die Formen- und Gattungskritik 

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Die Formen- und Gattungskritik hat jahrzehntelang die Psalmenforschung methodisch gänzlich dominiert. Sie hat wichtige und unaufgebbare Beiträge zum Erkennen von Formelementen und damit für die Analyse der poetischen Struktur von Psalmen geleistet. Insbesondere in der Ausprägung, die jedem Psalm mit der Gattungsbestimmung einen rekonstruierbaren „Sitz im Leben“ im Rahmen des Jerusalemer Tempelkults zuweisen möchte, aber auch darüber hinaus ist sie heute problematisch geworden. Aktuell oft genannte Kritikpunkte sind: Viele Psalmen lassen sich nicht eindeutig einer Gattung zuweisen; das poetische Eigenprofil der Psalmen ist zu wenig im Blick; in der jüngeren Psalmenforschung wichtige Texteigenschaften wie die Überschriften der Psalmen und ihre Anordnung im Psalmenbuch sind bei diesem Ansatz irrelevant.

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2.1 Was ist eine Psalmengattung? Die Grundidee der Formen- und Gattungskritik ist, dass es in den einzelnen Kulturen Textsorten gibt, die sich einerseits durch einen bestimmten Gehalt und bestimmte formale Kennzeichen zu erkennen geben. Andererseits sind diese Textsorten nur mit einem bestimmten Anlass verbunden und können nur von diesem her korrekt gedeutet werden. Das klassische Beispiel für diese Grundidee, die zunächst erläutert werden muss, ist die Traueranzeige. Wenn man einen Brief mit schwarzem Rand im Briefkasten findet, hat man bereits eine gewisse Leseerwartung und dieses kulturelle Wissen ist für die richtige Handhabung dieses Briefes wichtig. Obwohl nun alle Traueranzeigen etwas unterschiedlich aussehen, gibt es doch eine Reihe von formalen Merkmalen, die diese Gattung charakterisieren. Oder anders ausgedrückt: Auch wenn die konkreten Formen variieren, so reichen doch einige Gemeinsamkeiten aus, um einen bestimmten Brief in die Gattung „Traueranzeige“ einzuordnen. Das wichtigste dabei ist aber, dass diese Gattung mit einer bestimmten Lebenssituation, eben einem Trauerfall verbunden ist. Wer also den

2.1 Was ist eine Psalmengattung?

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Briefkasten öffnet und eine Traueranzeige vorfindet, wird durch die automatisch ablaufende Gattungszuordnung damit rechnen, durch das Öffnen des Briefes über den Tod eines persönlich bekannten Menschen unterrichtet zu werden, gleichzeitig aber weitere Dinge zu erfahren, die als Einzelelemente ebenfalls zur Gattung gehören. In diesem Beispiel wären das etwa die Lebensdaten, Ort und Zeit der Beerdigung oder die Nennung einer Traueranschrift. Solche sprachlichen Konventionen, von denen es viele gibt, helfen uns bei der Orientierung im Leben. Daher ist es nicht verwunderlich, auch in der Bibel viele Beispiele für literarische Gattungen zu finden. Die Gattungsforschung in den Psalmen ist dabei fest verbunden mit dem Namen Hermann Gunkel, der sie in seinen Psalmenkommentierungen angewendet, in einem Kreis von Schülern etabliert und insbesondere in seiner klassisch gewordenen „Einleitung in die Psalmen“ theoretisch begründet hat. Gunkel hat für die Etablierung von Psalmengattungen drei Forderungen aufgestellt: „Zunächst darf man nach dem Obigen nur solche Gedichte zusammenfassen, die sämtlich zu einer bestimmten Gelegenheit im Gottesdienst gehören oder wenigstens davon herkommen. [...] Ferner müssen solche zusammengehörigen Lieder natürlicher Weise einen gemeinsamen Schatz von Gedanken und Stimmungen aufweisen: es sind diejenigen, die eben durch ihren Sitz im Leben gegeben waren oder sich leicht daran schließen konnten. [...] Ein drittes, durchaus notwendiges Moment der Gattung ist, daß alle dazu gehörigen Einzelstücke, freilich mehr oder weniger deutlich, durch ihre gemeinsame ‚Formensprache‘ verbunden sind.“1 Gunkel hat also lediglich den Ursprung der Gattungen im Kult vermutet, so dass der einzelne Psalm sich nach seiner Vorstellung auch dann einer ähnlichen Formensprache bedienen konnte, wenn er in einem anderen Lebensbereich beheimatet und damit nicht als kultische, sondern als geistliche Dichtung anzusprechen war. Die Sammlung der Psalmen insgesamt „ist dann in der Absicht zusammengestellt worden, ein Andachts- und Hausbuch für den frommen Laien zu schaffen. Der Vorgang ist des Näheren so vorzustellen, daß ein Stamm aus dem Gottesdienst bekannter und vertrauter Lieder mit geistlichen, kultusfreien Psalmen verbunden worden ist.“2 Andere Gattungsforscher haben hier in gewisser Weise konsequenter – man könnte auch sagen: mit mehr Systemzwang – gedacht. Sigmund Mowinckel ist insofern eigene Wege gegangen, als er die Verbindung zum Gottesdienst zum Schlüssel des Verständnisses der Psalmen überhaupt gemacht hat. Das hat entstehungsgeschichtliche

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2. Die Formen- und Gattungskritik

Konsequenzen: „Die meisten Psalmen des Psalters werden von den Tempelsängern gedichtet worden sein; anderer Ursprung ist seltene Ausnahme.“3 Es ging entsprechend darum, den Jerusalemer Tempelkult so zu rekonstruieren, dass man für nahezu jeden Psalm eine gottesdienstliche Gelegenheit angeben konnte, aus der heraus dieser Psalm dann zu interpretieren war. Das Psalmenbuch war damit nichts anderes als das Gesangbuch des Tempelkultes. Die Diskussion in den 1920er Jahren um das sogenannte Thronbesteigungsfest JHWHs kann die Unterschiedlichkeit dieser Ansätze gut vor Augen stellen. Es gibt einige Psalmen, die den Satz enthalten „JHWH ist König (geworden)“. Bei manchen steht er sogar programmatisch am Anfang und gibt gewissermaßen das Thema an (Ps 93,1; 97,1; 99,1). Für diesen Satz kann man zwei Parallelen benennen. Einerseits belegen etwa 2 Sam 15,10 „König geworden ist Abschalom in Hebron“ oder 2 Kön 9,13 „König geworden ist Jehu“, dass auf ähnliche Weise ein neuer König bei seiner Amtseinsetzung proklamiert wurde. Auch das Hörnerblasen, das zu dieser Gelegenheit stattfand, hat Parallelen in den Psalmen. Andererseits wird mit den Worten „Marduk ist König“ am Ende des großen babylonischen Schöpfungsgedichts „Enuma Elisch“ der Gott Marduk als König der Götterversammlung eingesetzt. Dieser Text ist eng mit dem Babylonischen Neujahrsfest verbunden, das die (Wieder-)Einsetzung Marduks über mehrere Tage kultisch begeht. Im Alten Testament findet man weder in den Festkalendern noch in den erzählenden Texten ein solches Fest für das Alte Israel. Trotzdem belegen aber gerade diese Psalmen, dass es eine Reihe von Parallelen zu den Schöpfungs- und Tempelvorstellungen gibt, die sich in „Enuma Elisch“ finden – oder besser: dass sich gerade in einigen Traditionen der Schöpfungs- und der Tempeltheologien das Alte Testament wie auch sonst oft als in seiner altorientalischen Umwelt verwurzelt erweist. Während nun Mowinckel für Israel ein großes Herbstfest zum Jahresbeginn postuliert, an dem – wie auch in Babylon – an mehreren Tagen eine Vielzahl von Riten vollzogen wurde und dem sich damit eine ganze Reihe von Psalmen direkt zuordnen lässt, bleibt Gunkel skeptisch. Auch er gesteht zu, dass es ein Fest der Thronbesteigung JHWHs gegeben haben mag, das dann aber von ihm in viel begrenzteren Dimensionen gedacht wird. Seine Vorgeschichte hat es einerseits im Babylonischen Neujahrsfest und andererseits im Thronbesteigungsritual für den menschlichen König. Auch wenn zu diesem Fest in Jerusalem besondere Lieder geschrieben und gesungen wurden und sich so eine Gattung der „Lieder von JHWHs

2.2 Kritik am Paradigma der Gattungsforschung

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Thronbesteigung“ ergibt, so zeichnen sich doch die Psalmen, die er dieser Gattung zuweist, dadurch aus, dass sie mit der Vorstellung von der Königsherrschaft JHWHs einen starken Universalismus verbinden: JHWH, der Gott Israels, ist König über die ganze Welt. Die Heilsaussage der universalen Herrschaft Gottes, die den Jerusalemer Tempel zum Zentrum der Welt macht, ist nun für Gunkel – auch wegen der Parallelen in prophetischen Texten (v.a. Jes 52,7–10) – eine Verheißung des Heils der Endzeit und damit eine Umdeutung des ursprünglichen Festinhalts. Das bedeutet, dass für Gunkel die entsprechenden Psalmen an der Gattung „Lieder von JHWHs Thronbesteigung“, also an der poetischen Form der Festgesänge zum Thronbesteigungsfest literarisch partizipieren. Sie sind aber nicht im Zusammenhang dieses Festes entstanden, sondern drücken in der vorgegebenen Form veränderte theologische Ideen aus. Sie sind selbst keine kultischen Texte mehr. 2.2 Die aktuelle Kritik am Paradigma der Gattungsforschung Sowohl die Position von Gunkel als auch die von Mowinckel würde man heute aus unterschiedlichen Gründen kritisieren oder um neue Erkenntnisse ergänzen (vgl. zur Tempeltheologie Kap. 7.3). Das Beispiel zeigt aber nicht nur zwei verschiedene Schwerpunktsetzungen innerhalb der Formen- und Gattungskritik, sondern lässt bereits erkennen, wo später die Kritik ansetzen musste: Da ist zunächst der Hinweis auf den stark hypothetischen Charakter mancher Rekonstruktionen für einen kultischen „Sitz im Leben“ und die Betonung des literarischen Charakters und damit der poetischen Individualität der Psalmen. Dann stellt sich aber auch grundsätzlicher die Frage nach dem Problem, dass sich viele Psalmen nicht klar einer Gattung zuweisen lassen. Die entsprechende Annahme von Gattungsmischungen und -erweiterungen und die damit verbundene Ablösung der Gattung und der ihr zugeordneten Psalmen von einem ursprünglichen „Sitz im Leben“ reduziert dann aber stark das argumentative Gewicht, das der Gattungsbestimmung für die Auslegung des Psalms zukommt. So könnte man etwa bei den diskutierten JHWH-Königpsalmen fragen, ob es nicht fruchtbarer sei, die in diesen Psalmen greifbaren theologischen Traditionen des Jerusalemer Tempels und die Vorstellung, dass der Gott Israels hier als König der ganzen Erde thront, vor dem altorientalischen Hintergrund und im

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2. Die Formen- und Gattungskritik

Dialog mit anderen alttestamentlichen Texten zu diskutieren, statt Hypothesen über ein Thronbesteigungsfest aufzustellen. Die für die Interpretation der Psalmen wichtigen Fragen könnten also vollständig im Rahmen der traditionsgeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Fragestellungen erörtert werden, ohne den methodisch zweifelhaften Weg der Gattungsforschung über ein hypothetisches Fest gehen zu müssen. Forschungsgeschichtlich haben diese Kritikpunkte allerdings lange Zeit die Formen- und Gattungskritik als grundlegendes Paradigma der Psalmenauslegung nicht in Frage stellen können. Auch wenn die von Gunkel propagierte Variante der Formen- und Gattungskritik, die den literarischen Charakter der Psalmen betont, immer einflussreiche Anhänger hatte, so war es doch die stärker kultisch orientierte Richtung, die – vielleicht auch wegen der größeren Anschaulichkeit des Ansatzes – die Vorstellungen von den Psalmen und dem Psalmenbuch entscheidend geprägt hat. Das Psalmenbuch wurde so für weite Teile der Forschung und in der theologischen und kirchlichen Wahrnehmung zum Gesangbuch des Tempels in nachexilischer Zeit. Die Kritik der neueren Psalmenforschung an der Formen- und Gattungskritik ist daher insofern keine Fundamentalkritik, als sie das Vorhandensein bestimmter literarischer Modelle, deren Elemente man in vielen Psalmen mehr oder weniger deutlich finden kann, überhaupt nicht bestreitet. Die ausführlichen Beispiele am Ende dieses Kapitels werden entsprechend einige Gattungen mit ihren formalen Eigenheiten vorstellen, wollen aber auch zeigen, wo die Gattungsforschung im Blick auf das konkrete Beispiel nicht weiterführend ist. Problematisch geworden sind also die Konsequenzen, die sich aus der Dominanz dieses Ansatzes ergeben. Letztere verbietet sich im Grunde schon durch die bereits erwähnte Tatsache, dass sich die meisten Psalmen nicht vollständig und klar einer Gattung zuordnen lassen. Will man trotzdem an der Gattungsbestimmung als entscheidendem Methodenschritt der Psalmenauslegung festhalten, so muss man entweder das Gattungsschema immer weiter in Unterkategorien ausdifferenzieren oder die Form des konkreten Psalms nur noch als Weiterentwicklung einer der großen Gattungen erklären, die sich freilich vom ursprünglichen „Sitz im Leben“ gelöst hat. Beide Wege sind beschritten worden. Favorisiert man den zweiten Weg, hat das die Konsequenz, dass man das Psalmenbuch insgesamt nicht mehr als „Gesangbuch des zweiten Tempels“ bezeichnen sollte, weil für die meisten Psalmen eine Verbindung zu einem kultischen „Sitz im Leben“ gänzlich unsicher geworden ist.

2.3 Beispieltexte für die wichtigsten Gattungen

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Verzichtet man dagegen auf die Festlegungen, die eine Dominanz des gattungskritischen Ansatzes mit sich bringt, so eröffnen sich Möglichkeiten, Signale in den Texten aufzugreifen, die sich nicht mit diesem Ansatz erklären lassen (vgl. Kapitel 3–6). Im Psalmenbuch können dann etwa die Überschriften und die durch sie markierten Gruppierungen, die doxologischen Schlussformeln in Ps 41,14; 72,18 f.; 89,53; 106,48 und die so erzeugte Fünfteilung des Psalmenbuchs oder die generelle Dynamik von der Klage zum Lob wahrgenommen werden. All diese Beobachtungen können von der Gattungsforschung mit ihrer Fixierung auf die formale Gestaltung des Einzelpsalms nicht bearbeitet werden. Sie weisen aber darauf hin, dass das Psalmenbuch insgesamt nicht ein ungeordnetes Archiv oder Gesangbuch ist, sondern als Buchzusammenhang im Sinne eines Meditationsbuches fortlaufend gelesen und rezitiert werden möchte. Für einen solchen Zusammenhang, der wiederum aus Psalmengruppen und schließlich aus Einzeltexten besteht, kann man dann sinnvoll die Frage nach seiner Zusammenstellung in einem Kompositions- und Redaktionsprozess stellen, wie dies auch für andere alttestamentliche Bücher der Fall ist. Das Gleiche gilt für eine diachrone Wahrnehmung der Einzelpsalmen. Wo in einem Psalm nicht mehr die alleinige Suche nach dem gattungstypischen Sprachstil alle Differenzen einebnet, lassen sich Beobachtungen als literarkritische Indizien oder im Zuge von traditions- und religionsgeschichtlichen Entwicklungen profilieren, so dass die Psalmen in eine Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte Israels eingeordnet werden können. Wo also der Psalm nicht in erster Linie von seiner Gattungszugehörigkeit her beurteilt wird, verstärkt sich seine Individualität und damit sowohl sein zeitgeschichtlicher Bezug als auch seine Wahrnehmung als einzigartiges poetisches Kunstwerk mit überzeitlicher Gültigkeit. 2.3 Beispieltexte für die wichtigsten Gattungen 2.3.1 Der Hymnus: Ps 117 und Ps 113 Die Gattung „Hymnus“ umfasst Psalmen, die auch formal unterschiedliche Prägungen erkennen lassen. Daher sollen hier zwei „Typen“ hymnischer Psalmen vorgestellt werden.

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2. Die Formen- und Gattungskritik

Ps 117 1 2

Preiset JHWH, alle Nationen, / lobt ihn, alle Völkerschaften, denn überlegen war über uns seine Huld, und die Zuverlässigkeit JHWHs (gilt) in Ewigkeit. Halleluja!

Psalm 117 ist der kürzeste Psalm im Psalmenbuch und gleichzeitig ein Musterbeispiel für einen sogenannten imperativischen Hymnus. Entsprechend beginnt der Psalm mit einem imperativischen Lobaufruf (v.1). Dann folgt der Hauptteil des Hymnus (das corpus hymni), der gattungstypisch mit „denn“/„ja“ (yk ki) eingeleitet wird. In diesem Hauptteil geht es insofern um eine Begründung des Lobes, als dargestellt wird, wie Gott ist: Seine Wesenseigenschaften oder auch seine Machterweise in der Vergangenheit werden thematisiert. So ist es auch hier: Es geht um seine „Huld“/„Güte“/„Liebe“ (dsj chæsæd, in manchen Übersetzungen auch „Gnade“) und seine „Zuverlässigkeit“/„Treue“/„Wahrhaftigkeit“ (tma ’æmæt). Gleichzeitig wird an Gottes Wirken in der Vergangenheit – ausgedrückt mit einer entsprechenden Verbform – angeknüpft: seine Huld „war überlegen/mächtig“ über den Betenden. Dieses Wirken bekommt aber auch den Aspekt des Gegenwärtigen und die Perspektive der Überzeitlichkeit: „in Ewigkeit“/„für immer“. Ob man das abschließende „Halleluja“ als ein dem Psalm nachgestelltes Element betrachtet oder ob man es mit „lobet JH(WH)“ übersetzt und als letzten Teil des Psalms im Sinne eines abschließenden imperativischen Lobaufrufs auffasst, spielt für die Gattungszuweisung keine große Rolle, weil ein Schluss oder Abgesang des Hymnus zwar oft anzutreffen ist, aber auch fehlen kann. Imperativischer Lobaufruf Hauptteil (corpus hymni); Begründung für das Lob eingeleitet mit „denn“/„ja“ (yk ki) ggf. Abgesang Tab. 1: Idealtypischer Aufbau eines imperativischen Hymnus

Die Gattungsbestimmung als „imperativischer Hymnus“ hat eine Reihe von Implikationen für die Interpretation. Zunächst kann sie

2.3 Beispieltexte für die wichtigsten Gattungen

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für diesen so ungewöhnlich kurzen Text als ein Argument neben anderen dienen, dass wir es tatsächlich mit einem abgeschlossenen, eigenständigen Gedicht und nicht etwa mit einem letzten Abschnitt von Ps 116 oder dem Anfang von Ps 118 zu tun haben, wie der Psalm in Teilen der hebräischen und lateinischen Textüberlieferung behandelt worden ist. Gegenüber Psalmen vom Typ „partizipialer Hymnus“ (s. u. zu Ps 113) wäre hier zudem die gottesdienstliche Funktion stärker zu betonen. Schließlich bildet sie die Basis, um im Vergleich mit anderen Hymnen die Funktion des Lobaufrufs zu klären, der sich ja mit „alle Nationen“ und „alle Völkerschaften“ kaum an real anwesende Adressaten richtet. So ist vorgeschlagen worden, in einem solchen Aufruf keine „echte“ Aufforderung, sondern einen indirekten Sprechakt (A. Wagner) zu sehen. Was dagegen die Gattungsbestimmung nicht klären kann, ist die spannungsreiche Beziehung zwischen Israel und den Völkern, zwischen Innen und Außen, die sich aus dem Text ergibt: Die Lobaufforderung ist an alle Völker adressiert, während die Begründung im corpus hymni darauf zielt, dass die Huld Gottes „über uns“, also in Israel, erfahren wurde. Man greift in der Interpretation sicherlich zu kurz, wenn man den rhetorischen Charakter der Aufforderung so stark betont, dass man am Ende hier nur das eigene Gotteslob der Sprechenden erblickt und so „die Nationen“ als reale Größe völlig ausblendet. Wenn man dagegen wie z. B. E. Zenger über die formale Funktion der Lobaufforderung hinaus danach fragt, warum gerade die Völker hier angesprochen werden, so wird klar, dass diese Dimension das eigentliche Thema des Psalms ist. „Er entwirft die Vision, dass sich die Völker von Israel anregen lassen zur Verehrung des einzig wahren Gottes – und dadurch die Missverständnisse/Feindschaft untereinander (vgl. Ps 115,2; 118,10–12) überwinden. Der Psalm ist die hymnische Antizipation dieser Wirklichkeit, die Gottes Liebe und Treue herbeiführen werden.“4 Ein weiterer Punkt ist die Frage nach der Entstehungssituation des Psalms, gattungskritisch gesprochen also nach seinem „Sitz im Leben“, den man bei einem imperativischen Hymnus, wie er hier vorliegt, ganz eindeutig im Kult zu suchen hätte. Lässt man dagegen eine redaktionsgeschichtliche Sicht auf das Psalmenbuch zu, so wird deutlich, dass der kurze Psalm eine wichtige Funktion innerhalb der Psalmengruppe Ps 113–118 einnimmt und mit großer Wahrscheinlichkeit als Brückentext für diesen Zusammenhang geschrieben worden ist.5 Unabhängig von der schwer zu beantwortenden Frage, ob oder zu welcher Gelegenheit Ps 117 im Tempelkult eine Rolle ge-

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2. Die Formen- und Gattungskritik

spielt haben mag, kann damit ein literarischer „Sitz im Leben“ – oder vielleicht besser: ein „Sitz in der Literatur“ – mit guten Argumenten plausibel gemacht werden. Ps 113 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Halleluja! Preiset, ihr Knechte JHWHs / Preiset den Namen JHWHs. Es sei der Name JHWHs gelobt / von nun an und bis in Ewigkeit Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang / sei gepriesen der Name JHWHs. Erhaben über alle Nationen [ist] JHWH / über dem Himmel seine Herrlichkeit Wer [ist] wie JHWH, unser Gott / – hoch machend, um zu wohnen niedrig machend, um zu sehen – / im Himmel und auf der/die Erde? Aufstehen lassend aus dem Staub einen Geringen / und aus dem Aschehaufen erhebt er den Armen, um [ihn] wohnen zu lassen bei Edlen / bei den Edlen seines Volkes. Wohnen lassend die Unfruchtbare des Hauses als die frohe Mutter der Kinder. Halleluja!

Wie Ps 117 ist auch Ps 113 ein Hymnus. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Form ergeben sich aus einem Vergleich der beiden Psalmen. Der imperativische Lobaufruf (neben dem es auch andere Formen gibt) ist in v.1 noch durchaus vergleichbar mit Ps 117,1 gestaltet, wird dann aber in den folgenden beiden Versen weiter ausgestaltet. Daran schließt sich nun allerdings keine durch „denn“/„ja“ eingeleitete Begründung des Lobaufrufes an, sondern die Entfaltung des Lobes geschieht durch hymnische Partizipien, die jeweils auf Gott bezogen sind und die Taten nennen, die der Hymnus auf diese Weise preist. Diese alternative Form des corpus hymni ist typisch für die Untergattung des sogenannten partizipialen Hymnus. Besonders deutlich ist das hier in den vv.7 f. und 9, aber schon die vv.4–6 lehnen sich stilistisch daran an. In Übersetzungen werden solche Partizipien oft präsentisch oder durch Relativsätze wiedergegeben. Sie

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wörtlich zu übersetzen, führt zu einem schlecht lesbaren deutschen Text und soll hier lediglich die Eigenheiten des hebräischen Textes und seines Aufbaus illustrieren. Wie in Ps 117 gibt es keinen breit ausgeführten Abgesang. Der Psalm wird aber durch die HallelujaRahmung deutlich als abgeschlossener Lobgesang markiert. Der Aufbau des Psalms ist damit klar erkennbar: Auf den ausgebauten Lobaufruf (vv.1–3) folgt ein zweigeteiltes corpus hymni, wobei es in den vv.4–6 um das Wesen Gottes und in den vv.7–9 um sein Handeln für die Armen geht. Lobaufruf Hauptteil (corpus hymni); Entfaltung des Lobes in hymnischen Partizipien ggf. Abgesang Tab. 2: Idealtypischer Aufbau eines partizipialen Hymnus

Ps 113 ist zweifellos ein Hymnus, den man sich auch in gottesdienstlichen Situationen vorstellen kann. Als partizipialer Hymnus hat er zudem die theologische Aufgabe, Bekenntnisaussagen zu reihen. Damit ist aber die „Ausbeute“ dessen, was die Gattungsbestimmung für ein Verständnis des Textes beitragen kann, weitgehend erschöpft und fällt recht mager aus. Schaut man dagegen auf ganz individuelle Eigenheiten des Psalms, so erschließen sich sowohl die Besonderheiten gerade dieses Textes als auch seine Stellung am Anfang der Psalmengruppe Ps 113–118, dem sogenannten Pesach-Hallel. Eine kurze Skizze muss hier genügen: Bereits der Lobaufruf in den vv.1–3 legt den Akzent auf die Universalität des Lobes. Diese Universalität betrifft Zeit (v.2) und Raum (v.3) und bleibt doch die Sache der „Knechte“ (v.1), der Verehrer JHWHs, des wahren Israel. Die Stilform, eine Totalität durch zwei Begriffe auszudrücken, die zusammen eine Ganzheit umschreiben (wie in v.3a „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang“; vgl. auch v.6b), kommt in den Psalmen immer wieder vor. Man nennt sie Merismus (vgl. o. Kap. 1.1.1 zu Ps 88,2). Die universale Perspektive bleibt aber den ganzen Psalm über erhalten und wird sofort im ersten Satz des corpus hymni noch einmal betont. Dann folgt mit den vv.5– 6 eine Einheit, die im Zentrum des Psalms steht. Dabei ist es für das Verständnis der Verse und ihrer Programmatik für den ganzen Psalm

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2. Die Formen- und Gattungskritik

wichtig, die strukturellen Bezüge der einzelnen Verszeilen genau wahrzunehmen. Die Verse bilden einen Vierzeiler (Tetrakolon): 5 6

Wer [ist] wie JHWH, unser Gott / – hoch machend, um zu wohnen niedrig machend, um zu sehen – / im Himmel und auf der/die Erde?

Es ist oft bemerkt worden, dass die rhetorische Frage „Wer ist wie JHWH, unser Gott?“ eine Unvergleichlichkeitsaussage ist, die in analogen Formulierungen im Alten Testament mit dem Merismus „im Himmel und auf Erden“ verbunden werden kann (vgl. Dtn 3,24; 1 Kön 8,23 u. ö.). In der älteren Forschung hat das sogar dazu geführt, die letzte Verszeile (v.6b) hinter die erste (v.5a) zu stellen, obwohl eine solche Operation allen Textzeugen widerspricht und so der poetische Reiz der Stelle zerstört wird. Die Dimension, dass die beiden Zeilen zusammen gelesen werden können, ist hier mit den Gedankenstrichen angedeutet. Darüber hinaus besteht aber auch die Möglichkeit, v.6b mit den beiden direkt vorangehenden Zeilen zu verbinden. Das stilistische Phänomen, das hier vorliegt, heißt „Hyperbaton“ und ist mehrfach im Alten Testament nachgewiesen worden.6 Dabei geht es um eine Veränderung der Abfolge von Worten oder Satzteilen. Ein Beispiel ist etwa Dtn 17,18 f. Vom König wird hier gefordert, ein frommer Kenner der Tora zu werden, also der Weisung, die das Deuteronomium selbst repräsentiert. Hier heißt es: „... und er soll schreiben für sich eine Zweitschrift dieser Tora in ein Buch ... und sie soll bei ihm sein und er soll in ihm lesen alle Tage seines Lebens.“ Gemeint ist offenbar, dass der König eine Zweitschrift der Tora, die immer bei ihm sein soll, in ein Buch schreiben muss, das er immer lesen soll. Es wird also zwischen Inhalt und Medium unterschieden. Beide werden in der biblischen Formulierung miteinander verschränkt. In Ps 113,5b–6 sind ebenfalls zwei parallele Aussagen ineinandergearbeitet: „hoch machend, um zu wohnen im Himmel“ und „niedrigmachend, um zu sehen auf die Erde“. Dies hat bereits vor über hundert Jahren der sprachlich sehr präzise arbeitende Franz Delitzsch in seinem Psalmenkommentar festgehalten7. Damit hat v.6b also eine doppelte Funktion für die drei vorangehenden Verszeilen und steigert gleichzeitig als Umschreibung für den gesamten Kosmos den bereits festgestellten Universalismus des Psalms noch einmal.

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Inhaltlich geht es um Aussagen über das Wesen Gottes: Er ist unvergleichbar, er ist so erhaben, dass er im Himmel thront, und gleichzeitig erniedrigt er sich so sehr, dass er sich um das Leben auf der Erde kümmert. Während der Aspekt der Erhabenheit vor diesen zentralen Versen in v.4 schon angesprochen wurde, bringen die vv.7–9 zwei Beispiele für Gottes irdische Sorge. Dabei ist es bezeichnend für die poetische Dichte des Psalms, dass auch dieser letzte Abschnitt über wichtige Stichworte mit dem mittleren verknüpft ist: So wie Gott selbst „erhaben“ ist (v.4), „erhebt“ er den Armen (v.7; im Hebr. jeweils Wurzel μwr rwm); so wie er selbst hoch im Himmel „wohnt“ (v.5), lässt er den Armen und die Unfruchtbare jeweils „wohnen“ (vv.8 f.; jeweils Wurzel bvy jšb). Das Heilshandeln Gottes hat also eine Entsprechung in seinem Wesen – und dieses Wesen drückt sich sowohl in seiner Erhabenheit über die Welt als auch in seiner Zugewandtheit zu ihr aus. Gott ist sowohl der ferne Weltenherrscher als auch der nahe Helfer der Menschen, ja besonders der Retter der Kleinen und Ausgegrenzten, derer „ganz unten“. Das Gotteslob von Ps 113 besteht darin, dass Gott in dieser hochpoetischen und gleichzeitig theologisch hochreflektierten Weise dargestellt wird. Der Psalm schafft so eine Grundlage dafür, dass in den folgenden Psalmen des Hallel (Ps 113–118) beides zusammengedacht werden kann: die Erfahrung des weltüberlegenen Gottes, der Wunder vollbringt und dem die Natur dienstbar ist, und gleichzeitig des zugewandten Gottes, der sich für sein Volk und die einzelnen Frommen einsetzt und sie rettet. Hier wird also bereits in Worte gefasst, was später Ps 117,2 mit der Überlegenheit der Huld JHWHs besingen wird. Diese Auslegung von Psalmen im Kontext ihrer Psalmengruppen wird im folgenden Kapitel diskutiert. 2.3.2 Das kollektive Klagelied: Ps 79 Beim kollektiven Klagelied oder auch „Volksklagelied“ hat die Gattungsforschung besonders klar einen „Sitz im Leben“ benannt, nämlich die Klagefeiern oder auch Fasttage (μwx zom), von denen an einigen Stellen des Alten Testaments die Rede ist. Diese Klagefeiern wurden wohl aus Anlass auftretender Notsituationen wie Dürren, Kriegen und Seuchen ausgerufen oder in Erinnerung an große politische Katastrophen wie die Eroberung Jerusalems und die Zerstö-

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rung des Tempels 586 v. Chr. begangen. Ein plastisches Beispiel ist Joel 2,12–18 (Einheitsübersetzung): 12

Auch jetzt noch – Spruch des Herrn: Kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, Weinen und Klagen. 13 Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider, und kehrt um zum Herrn, eurem Gott! Denn er ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Güte, und es reut ihn, dass er das Unheil verhängt hat. 14 Vielleicht kehrt er um, und es reut ihn, und er lässt Segen zurück, so dass ihr Speise- und Trankopfer darbringen könnt für den Herrn, euren Gott. 15 Auf dem Zion stoßt in das Horn, ordnet ein heiliges Fasten an, ruft einen Gottesdienst aus! 16 Versammelt das Volk, heiligt die Gemeinde! Versammelt die Alten, holt die Kinder zusammen, auch die Säuglinge! Der Bräutigam verlasse seine Kammer und die Braut ihr Gemach. 17 Zwischen Vorhalle und Altar sollen die Priester klagen, die Diener des Herrn sollen sprechen: Hab Mitleid, Herr, mit deinem Volk, und überlass dein Erbe nicht der Schande, damit die Völker nicht über uns spotten. Warum soll man bei den Völkern sagen: Wo ist denn ihr Gott? 18 Da erwachte im Herrn die Leidenschaft für sein Land, und er hatte Erbarmen mit seinem Volk.

Auch wenn dieser Text eine idealisierende Stilisierung aufweist und wohl aus spätnachexilischer Zeit stammt, so spricht doch nichts dagegen, dass hier an eine bestehende Praxis im Tempelkult angeknüpft wird. Das zitierte Klagegebet der Priester in v.17 enthält zudem viele Elemente, die auch aus Klagepsalmen bekannt sind. Ps 79 1

2 3 4 5 6 7

Ein Psalm in Bezug auf Asaf // Gott, es kamen Nationen in dein Erbe sie beschmutzten den Tempel deiner Heiligkeit / sie setzten Jerusalem in Ruinen. Sie gaben die Leichen deiner Knechte als Fraß den Vögeln des Himmels / das Fleisch deiner Frommen den Tieren des Landes. Sie vergossen deren Blut wie Wasser rings um Jerusalem und es gibt keinen, der begräbt. Wir wurden eine Schmähung für unsere Nachbarn / Hohn und Gelächter für die rings um uns. Bis wann, JHWH, willst du zornig sein für immer / soll entbrennen wie Feuer dein Eifer? Gieße aus deinen Zorn gegen die Nationen, die dich nicht kennen // und gegen Königreiche / die deinen Namen nicht anrufen. Denn er verzehrte Jakob / und seine Wohnstätte verwüsteten sie.

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Gedenke nicht unserer (in Bezug auf) die Vergehen der Vorfahren // schnell sollen uns begegnen deine Erbarmungen / denn wir sind sehr gering geworden. Hilf uns, Gott unserer Rettung, gemäß des Wortes von der Ehre deines Namens / und rette uns und vergib unsere Sünden um deines Namens willen.

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10 11 12 13

Wozu sollen die Nationen sagen: „Wo ist ihr Gott?“ // Es möge erkannt werden in den Nationen vor unseren Augen / die Vergeltung für das vergossene Blut deiner Knechte. Es möge kommen vor dein Gesicht das Schreien des Gefangenen // nach der Größe deines Armes / lasse übrig die Kinder des Todes. Und bringe unseren Nachbarn siebenfach in ihren Schoß / ihre Schmähung, mit der sie dich geschmäht haben, Herr. Aber wir sind dein Volk und das Kleinvieh deiner Weide wir wollen dich preisen auf ewig // von Generation zu Generation / wollen wir erzählen dein Lob.

Die Gattungsbestimmung hat in Ps 79 bereits Auswirkungen auf die Gliederung des Psalms. Zu den Elementen eines kollektiven Klageliedes gehören typischerweise: die Anrufung Gottes und Schilderung der Not, Bitten um ein Ende der Not – diese können motiviert werden z. B. durch die Erinnerung an die früheren Machterweise Gottes – sowie Bitten, dass die Feinde unschädlich gemacht werden, und schließlich ein Bekenntnis des Vertrauens und ein Lobversprechen. Anrufung Gottes Klage/ Schilderung der Not Bitten Vertrauensbekenntnis Lobversprechen Tab. 3: Idealtypischer Aufbau eines kollektiven Klageliedes

Mit Ausnahme der Erinnerung an die Heilstaten der Vergangenheit sind diese Elemente auch hier vertreten. Wir werden sehen, dass die ins Feld geführten Argumente, dass Gott zu Gunsten seines Volkes eingreifen soll, hier in anderer Weise durchgeführt werden. Eine gattungsorientierte Gliederung des Psalms ist entsprechend: Anrufung Gottes und Klage (vv.1–5), Bitten (vv.6–12) und Bekenntnis und Lobgelübde (v.13).8

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2. Die Formen- und Gattungskritik

Richtet man sich dagegen nach den Struktursignalen, die der Text enthält, so gliedert sich der Psalmtext nach der Überschrift in drei größere Strophen und den Schlussvers v.13. Der Einsatz des zweiten Teils mit der Frage „Bis wann, JHWH?“ (v.5) ist deshalb als Struktursignal so eindeutig zu gewichten, weil nun das Subjekt wechselt: Die in den vv.1–4 geschilderte Not ist Gottes Werk und kann von ihm beseitigt werden. Der erste und der zweite Teil beginnen auf diese Weise jeweils damit, dass sie Gott, der zudem in v.5 steigernd bei seinem Namen genannt wird, anrufen. Zudem ist die Notschilderung des ersten Teils durchgängig mit Verbformen in Suffixkonjugation formuliert, während nach der eröffnenden Frage in v.5 im zweiten Teil Imperative und Jussive bestimmend werden. Angezeigt durch die Wozu-Frage beginnt in v.10 der dritte Teil. Gegenüber der Möglichkeit, mit der Anrufung Gottes in v.9 einen Neueinsatz anzunehmen, ist es thematisch überzeugender, diesen Vers noch zum zweiten Teil zu ziehen. Hier werden zusammenfassend die für den zweiten Abschnitt zentralen Themen des göttlichen Namens (vgl. v.6) und der Sünden (vgl. v.8) nochmals aufgenommen. Für den Abschluss des dritten Abschnitts mit v.12 und die Absetzung des Schlussverses – entsprechend seines Charakters als Element der Gattung – spricht neben dem betonten Einsatz mit „aber wir“ (wnjnaw wa’anachnu; v.13) auch die Nennung der Nachbarn in den vv.4.12, so dass der erste und der dritte Abschnitt jeweils mit dieser Thematik enden. Gattungsorientierte Gliederung v.1a vv.1b–4 v.5 vv.6–9 vv.10–12 v.13

Anrufung Gottes und Klage/ Schilderung der Not

Gliederung nach Struktursignalen Überschrift 1. Strophe 2. Strophe

Bitten Lobgelübde

3. Strophe Schluss

Tab. 4: Verschiedene Gliederungsmöglichkeiten von Ps 79

Obwohl sich Ps 79 gut in alttestamentliche Klagen über die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier 586 v. Chr. einfügt, ist es doch auffällig, dass die geschilderte Not bei aller geradezu brutalen Konkretheit sich nicht auf diese eine Katastrophe festlegen lässt. So wird etwa die Zerstörung des Tempels gerade nicht genannt. Der Text lässt sich damit auf viele Angriffe auf Jerusalem – ja auf alle Städte,

2.3 Beispieltexte für die wichtigsten Gattungen

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in denen „die Frommen“ beheimatet sind – beziehen und ist so auf Aktualisierung angelegt. Gleichzeitig bekommt die Katastrophe von 586 v. Chr. Modellcharakter. Was den „Sitz im Leben“ betrifft, so ist es problemlos denkbar, dass der Psalm in einem dem zitierten Joeltext vergleichbaren Klagegottesdienst einen liturgischen Rahmen bekommen hat. Ebenfalls ist es naheliegend, dass Gebete dieser Art, eine solche Situation voraussetzen bzw. geschrieben worden sind, um Notlagen dieser Art theologisch zu bedenken und der Sprachlosigkeit des Schreckens Abhilfe zu verschaffen. Für Ps 79 lässt sich das durch einen Blick in die Rezeptionsgeschichte in gewisser Weise bestätigen, da er im Mittelalter oft im Zusammenhang von Kriegen gebetet wurde: von Christen, die damit die Kreuzzüge betend unterstützten oder gar dazu motivieren wollten, selbst zum bewaffneten Kampf gegen die „Heiden“ in und um Jerusalem aufzubrechen, und von Juden, die mit diesen Worten um Rettung aus den Pogromen gebetet haben, die sich immer wieder von christlicher Seite im Zuge der Kreuzzugsaufrufe gegen die jüdische Bevölkerung in Europa entladen haben. Der Blick auf die Rezeption lässt aber die Frage stellen, warum es unter den vielen kollektiven Klageliedern gerade dieser Psalm war, der sich in den entsprechenden Situationen den Gläubigen „in den Mund gelegt“ hat. Diese Frage überschreitet gewissermaßen die Gattungszuweisung und hebt auf das individuelle Profil des Psalms vor dem Hintergrund seiner Gattung ab. Dabei könnte man untersuchen, ob eine bestimmte Verwendung oder auch Deutung des Psalms dem Text gerecht wird oder ob hier wesentliche Textsignale ausgeblendet und andere überbetont werden. An dieser Stelle ist nur eine kurze Skizze des Gedankengangs möglich. Im ersten Teil des Psalms werden die Gräuel des Krieges vom ersten Satz an in einer Weise beklagt, dass klar wird, dass sie sich gegen Gott selbst richten: Der Angriff richtet sich gegen sein Erbe, seinen Tempel und seine Verehrer und damit gegen ihn. Der zweite Teil kommt nun zur theologischen Interpretation der Notlage. Dabei wird zunächst unterstellt, dass der Angriff der Feinde Ausdruck des Gotteszorns ist (v.5). Dieser Zorn ist es, der nach v.7a – das Verb steht im Singular und kann sich nur auf „Zorn“ in v.6 zurückbeziehen! – Jakob verzehrt und damit in Koalition mit den Feinden Israels steht. Für den Psalm ist es offensichtlich denkbar, dass andere Völker als Werkzeuge Gottes auch einmal gegen Israel eingesetzt werden können, um das Gottesvolk wieder auf den rech-

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2. Die Formen- und Gattungskritik

ten Weg zu bringen. Nun aber geht es um mehr als einen vorübergehenden Akt der Erziehung. Israel, das sich in einem geschichtlich gewachsenen Verhältnis zu seinem Gott befindet, ist kurz davor, vernichtet zu werden. Dasselbe Los droht auch dem schon profanierten Tempel, der Stadt Jerusalem und dem durch die unbestatteten Leichen und das Blutvergießen kultisch verunreinigten Land. Angesichts dieser Existenzbedrohung ist die Position Gottes auf der Seite der Feinde Israels verstörend. Die in den Psalmen einzigartige Bitte in v.6, den „Spieß umzudrehen“ und den Gotteszorn gegen die Nationen zu wenden, die eben nicht in dieser gewachsenen Gottesbeziehung stehen, ergibt sich also aus der hier vorgetragenen Wirklichkeitssicht. Diese kühne Wendung wird in den vv.8–9 insofern aufgefangen, als nun auf die Vergehen der Vorfahren und die Sünden der Sprecher eingegangen wird. Israel bekennt sich zu seiner Geschichte, die auch eine Sündengeschichte war und erkennt damit eine Mitschuld an der aktuellen Notlage an. Man könnte paraphrasieren: „Ja, wir wissen, dass wir schuldig sind, aber jetzt sind wir am Ende und können nur noch an dein Erbarmen appellieren und auf deine Rettung hoffen.“ Der dritte Teil bringt einen völlig neuen Aspekt ins Spiel. Es gibt prophetische Texte im Alten Testament (z. B. die Völkersprüche im Amosbuch oder Jes 10), in denen Gott als Garant einer Rechtsordnung auftritt, die auch Kriegsrecht und Völkerrecht einschließt. Die vv.10–12 klagen nun ein, dass Gott gegen die Nationen, die mit übermäßigem Blutvergießen und den verweigerten Leichenbestattungen schwere Verstöße gegen diese Ordnung verübt haben, Vergeltung üben soll. Sie sollen einerseits ihr Unrecht erkennen und andererseits den Gott Israels als solchen anerkennen (v.10). Gott möge sich der Kriegsgefangenen und Todeskandidaten annehmen (v.11) und den Ehrverlust der Besiegten durch den Hohn der Nachbarn, der letztlich auch ihn trifft, siebenfach, d.h. vollständig, ahnden. Das Ziel ist also nicht eine Vernichtung der Feinde, sondern eine Wiederherstellung der Rechtsordnung, deren Garant Gott selber ist. Gleichzeitig würde das bedeuten, dass die fremden Völker tatsächlich nicht mehr sagen könnten: „Wo ist ihr Gott?“ (v.10), sondern das gerechte Wirken dieses Gottes selbst erfahren müssten und so aufhören würden, ihn nicht zu kennen (v.6). V.13 schließt den Psalm ab, indem die zweite Hälfte der sogenannten Bundesformel zitiert wird. Sie findet sich mit kleinen Variationen mehrfach im Alten Testament und lautet vollständig: „Du bist unser Gott und wir sind dein Volk und das Kleinvieh deiner

2.3 Beispieltexte für die wichtigsten Gattungen

45

Weide.“ (vgl. Ps 95,7 u. ö.). Dass gerade der erste Teil fehlt, fällt fast schmerzlich auf. Es wäre doch gerade der Zielpunkt des Psalms, dass Gott wieder der Gott der Betenden wird. Aber dieses Ziel erreicht der Psalm nur im Modus des Gebetes. Wo Gott tatsächlich steht, bleibt ihm selbst vorbehalten. So ist die Leerstelle im Duktus des Psalms konsequent und zeigt das hohe theologische Niveau dieses Gedichtes. Andererseits wäre Gott nicht mehr nur der Gott Israels, sondern auch der der Völker, wenn die Bitten des Psalms Wirklichkeit würden. Auch vor diesem Hintergrund wäre also ein „du bist unser Gott“ am Ende des Psalms zu eng gedacht. Das Lobversprechen schließlich verweist auf die eigentliche Aufgabe Israels und auf die Hoffnung, diese wieder ausüben zu können. Damit wird insbesondere auch der Möglichkeit ein Riegel vorgeschoben, den gegen die Nationen gewendeten Gotteszorn (v.6) gleich selbst auszuführen oder die Vergeltung für das vergossene Blut (v.10) selbst zu vollstrecken. Der Psalm kann zwar zu Gott schreien und ihm die Defizite seines Handelns vor Augen stellen, aber die Unverfügbarkeit des Handelns Gottes und seine alleinige Souveränität über den Lauf der Dinge bleiben doch ganz und gar unangetastet. Das theologische Profil des Psalms zeigt, dass seine Verwendung im Rahmen der Kreuzzugspropaganda zumindest aus heutiger Sicht höchst problematisch ist, weil sie eine unzulässige (aber in der Kriegspropaganda oft anzutreffende) Verkehrung der Rollen von Angreifer und Verteidiger enthält und weil sie vorgeben muss, zu wissen, was Gottes Wille ist. Das ist nie möglich und bleibt hinter dem theologischen Niveau des Psalms weit zurück. Demgegenüber stellt sich die mittelalterliche jüdische Gebetssituation als durchaus textgemäße Rezeptionsmöglichkeit dar, was aus christlicher Sicht natürlich eine besonders bittere Feststellung ist. Die hier erörterten Aspekte könnten noch deutlicher entfaltet werden, wenn die Beziehungen des Psalms zu den ihn im Psalmenbuch umgebenden Psalmen (zur Gruppe der Asafpsalmen vgl. Kap. 3.3) und hier besonders zu Ps 74, aber auch zu den Nachbarpsalmen Ps 78; 80 und zu Ps 83 herausgearbeitet würden, was hier nicht geschehen kann. Dabei geht es nicht darum, dass auch Ps 74; 80 und 83 kollektive Klagen sind, sondern wie sie es sind und wie hier mit bestimmten Themen und Konstellationen umgegangen wird. So wird etwa das Thema der Vergeltung an den Feinden in Ps 83,18–19 nach einer langen Reihe von verschiedensten Vernichtungswünschen so zum Abschluss gebracht:

46 18 19

2. Die Formen- und Gattungskritik

Sie sollen sich schämen und erschreckt werden für immer und sie sollen beschämt sein und umkommen, und sie werden erkennen, dass du – JHWH ist dein Name – du allein bist, / der Höchste über der ganzen Erde.

Erstaunlich ist hier, dass die Verheißung der Gotteserkenntnis die Vernichtungswünsche de facto aushebelt – wer Gott erkennt, kann nicht zuvor schon umgekommen sein – und dass sie das letzte Wort hat. Damit entsteht ein Schlussbild all dieser Psalmen, die in besonders dichter Weise kriegerische Gewalt beklagen, das nicht darin schwelgt, dass am Ende alle Feinde vernichtet sind, sondern das erhofft, dass nach allen vielleicht psychologisch verständlichen Demütigungswünschen die Feinde letztendlich aufhören, Feinde zu sein, weil sie den universalen, einen Gott, den Gott Israels, anerkennen. Diese Zusammenhänge, die einen anderen literarischen Zusammenhang zwischen den Psalmen als den der Gattung für die Interpretation fruchtbar machen, sind theologisch also ausgesprochen wichtig. Sie rücken die Aussagen des Einzelpsalms in ein umfassenderes Licht und machen die Psalmen in ihrer Abfolge als Zusammenhang lesbar (vgl. dazu Kap. 3). 2.3.3 Das individuelle Klagelied: Ps 13 Ein großer Teil der Psalmen wird von einem poetischen Ich gesprochen, das vor Gott klagt, ihm dankt oder sein Leben im Gebet erörtert. Daher spricht man von den individuellen Klage- bzw. Dankliedern. Bei Psalmen wie z. B. Ps 49 (s.o. Kap. 1) fällt eine Gattungszuordnung in diesem Sinne schwer, so dass man auch umfassender von Individualpsalmen spricht. Trotzdem finden sich hier gerade auf religionsgeschichtlicher Ebene Gemeinsamkeiten mit den Klageund Dankpsalmen. Ankündigung des Dankes (Anrede an Gott) Rettungserzählung (Anrede an Gott) Einladung an die Gemeinde, sich dem Dank anzuschließen (Rede über Gott): Bekenntnis Tab. 5: Idealtypischer Aufbau eines individuellen Dankliedes

2.3 Beispieltexte für die wichtigsten Gattungen

47

Da in den folgenden Kapiteln noch weitere – in der Gattungszuordnung oftmals ebenfalls problematische – Beispiele für Individualpsalmen folgen, soll hier nur ein Beispiel für ein typisches individuelles Klagelied oder auch „Klagelied des Einzelnen“ besprochen werden. Ps 13 1

Dem Musikmeister; ein Psalm Davids

2

Bis wann, JHWH, wirst du mich vergessen für immer? / Bis wann wirst du verbergen dein Gesicht vor mir? Bis wann muss ich legen Bedenken in mein Leben, Kummer in mein Herz bei Tage? / Bis wann soll sich erheben mein Feind über mich?

3

4 5

6

Schau her, antworte mir, JHWH, mein Gott! / Lass leuchten meine Augen, damit ich nicht entschlafe zum Tod, damit nicht sagen kann mein Feind: „Ich habe ihn überwältigt“, / mein Bedränger (nicht) jauchzen kann, weil ich ins Wanken gebracht werde. Ich aber, auf deine Huld habe ich vertraut, es soll jauchzen mein Herz über deine Rettung: // „Ich will singen für JHWH, / denn er hat sich meiner angenommen.“

Der Psalm hat einen klaren, für ein individuelles Klagelied charakteristischen Aufbau: Anrufung Gottes und Klage (vv.2–3), Bitten (vv.4–5), Vertrauensbekenntnis und Lobankündigung (v.6). Die gattungstypische Wende von Klage und Bitte zu Vertrauen und Lob hat man auch als „Stimmungsumschwung“ bezeichnet.9 Ebenfalls typisch ist die sprachliche Gestaltung mit den „bis wann?“-Fragen im Klageteil, die nicht auf die Bekanntgabe eines Zeitpunktes zielen, sondern Gott zu einem (baldigen) Eingreifen auffordern wollen, und den imperativischen Bitten „schau her“ und „antworte mir“. Mit seinem strengen Aufbau bietet der Psalm ein Gebetsformular, das in vielen Situationen aktualisiert werden kann. Der Psalm ist dabei nicht auf eine konkrete Notlage als Ursprungssituation – etwa Krankheit oder Anfeindung – festzulegen.

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2. Die Formen- und Gattungskritik

Anrufung Gottes Klage/Schilderung der Not Bitten Vertrauensbekenntnis Lobversprechen

Stimmungsumschwung

Tab. 6: Idealtypischer Aufbau eines individuellen Klageliedes

Der Psalm setzt in v.2 ein, indem das Ich die Gottesferne beklagt und damit die aktuelle Notlage bereits theologisch interpretiert: Da es dem Ich schlecht geht, muss Gott vergessen haben, lebensfördernd für es zu wirken bzw. muss er sein belebendes Gesicht verborgen haben. V.3a bedenkt dann die Konsequenzen, die das Ich selbst in seinem Inneren erlebt. Das hier mit „Bedenken“ übersetzte Wort hat die Grundbedeutung „Rat“/„Plan“. Gemeint sind offenbar schwere Sorgen, die die ganze Person erfasst haben. V.3b richtet den Blick auf die Feinde. Hier wie auch in v.5 ist nicht klar, ob die Feinde die Verursacher der Not sind oder ob sie sich „nur“ am Unglück des Ich weiden, die Niederlage ausnutzen und sich selbst als Sieg zuschreiben. Der Text ist hier bemerkenswert offen, trägt aber mit dieser Dimension der Feinde der sozialen Komponente der Notlage Rechnung. Das Dreieck Gott – Ich – Feinde, in dem sich der Psalm bewegt, zeigt damit die Not als umfassende Störung der Lebenswirklichkeit an: Der Bezug auf Gott, auf das Selbst des Ich und auf die soziale Umwelt (Feinde) ist in Unordnung geraten. Dieses Dreieck der Klage wird nun in den Bitten wieder aufgenommen. Zunächst soll Gott den Kontakt zum Beter wieder herstellen (v.4a). Dass er die Augen des Ich leuchten lassen soll, ist nicht die Bitte um die Heilung einer Augenkrankheit, wie oft erwogen wurde, sondern das leuchtende Auge – wie z. B. auch das strahlende Gesicht – steht für die Vitalität des gesamten Menschen und wird hier entsprechend auch mit der Gefahr, zu entschlafen und in den Machtbereich des Todes zu geraten, kontrastiert. Die zwei verneinten Finalsätze („damit nicht“; ˜p pæn) in v.5 schließlich nennen den möglichen Triumph der Feinde, den Gott durch die Rettung des Beters verhindern soll, als Motivation, weil ein solcher „Sieg“ der Bedränger auch als „Niederlage“ des Gottes, den das Ich verehrt, verstanden werden könnte. Der abschließende v.6 bekennt das Vertrauen des Ich und zitiert bereits ein kurzes Lob- und Danklied in Vorwegnahme der erhofften Rettung. Dabei wird auch hier zunächst der Blick auf Gott gerichtet,

2.3 Beispieltexte für die wichtigsten Gattungen

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dem das Ich vertraut. Dann geht es um das Herz des Ich (v.3), das am Ende jauchzen wird – und nicht der Bedränger (v.5). Bezeichnenderweise werden die Feinde hier nicht mehr genannt. Für sie ist kein Platz mehr. Das soziale Umfeld kommt höchstens in dem Sinne in den Blick, als es zum Publikum für das Danklied des Ich wird. Das abschließende Danklied hat formal eine große Nähe zum Hymnus, beginnt aber mit einer Selbstaufforderung zum (Lob-)Gesang. Dann folgt eine Begründung, die wie im imperativischen Hymnus mit „denn“/„ja“ (yk ki) eingeleitet wird. Die breit dargestellte dreidimensionale Not der Klage wird dabei vollständig aufgefangen in dem einen schlichten Satz: JHWH hat sich meiner angenommen. Der Psalm hat damit eine theologisch durchaus bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen und erreicht hier seinen Schlussakzent. Auch hier könnte man die genannten Beobachtungen vertiefen, wenn man die Stellung des Psalms in der ihn umgebenden Psalmengruppe Ps 3–14 hinzuziehen und so die gattungskritische Perspektive erweitern würde.10

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3. Das Psalmenbuch als Komposition 

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Es gibt eine Reihe von Beobachtungen, die dafür sprechen, dass das Psalmenbuch als ein zusammenhängender Text, als „Psalter“, gelesen werden kann, sich also nicht darin erschöpft, ein mehr oder weniger ungeordnetes Archiv von Einzeltexten zu sein. Solche Beobachtungen sind: Die vier Doxologien, die eine Fünfteilung des Psalmenbuchs schaffen, die Überschriften und der Kolophon, die Gruppierungen markieren, und die Verknüpfung benachbarter Psalmen durch gemeinsame Rahmungen oder allgemeiner durch weiterlaufende Themen oder Stichworte. Diese Phänomene verweisen auf Sinnlinien, die durch die Anordnung der Psalmen und ihr Zusammenspiel entstehen. Für die Psalmenexegese ergibt sich so die Aufgabe, zusätzlich zur Auslegung des Einzelpsalms auch diese Sinnlinien auf der Ebene des Psalmenbuchs oder seiner Teilkompositionen zu beschreiben und theologisch auszuwerten. Wenn man vom einzelnen Psalm her denkt, ist das Psalmenbuch als der unmittelbare literarische Kontext gewissermaßen der erste Kommentar dieses Psalms. Wenn man vom Psalter, also der Textstrecke aller 150 Psalmen her denkt, werden die Psalmen zu Kapiteln eines Buches, das mit allen durch die Anordnung der Einzeltexte und ihrer Querverweise entstehenden theologischen Linien gelesen, gesungen und meditiert werden kann.



3.1 Die (Wieder-)Entdeckung von Zusammenhängen Dass das Psalmenbuch als „Buch“ gelesen werden kann, dass also die Anordnung der einzelnen Psalmen eine Bedeutung hat, ist im Grunde keine so neue Erkenntnis, wie sie sich nach der jahrzehntelangen Dominanz der Formen- und Gattungskritik manchmal darstellt. Eine große Psalmenrolle, die zwischen 30 und 50 n. Chr. geschrieben1 und in der Judäischen Wüste nicht weit vom Toten Meer bei Qumran in Höhle 11 gefunden wurde, hat entsprechend dem Fundort die Bezeichnung 11QPsa erhalten. Sie enthält die meisten Psalmen im Bereich von Ps 101–150 und zusätzlich Ps 93, den in einer anderen Form griechisch überlieferten Ps 151 und einige bis-

3.1 Die (Wieder-)Entdeckung von Zusammenhängen

51

her völlig unbekannte Stücke hebräischer Poesie. Die Anordnung dieser Texte folgt zwar streckenweise immer wieder der Reihenfolge des biblischen Psalmenbuchs, weicht insgesamt aber doch stark davon ab. Offensichtlich hat man bei der Zusammenstellung dieser Komposition besondere Aussageabsichten verfolgt.2 Für die Psalmen im Bereich von Ps 1–89 ist in den entsprechenden Qumranfragmenten, wenn überhaupt eine Abfolge erkennbar ist, jeweils die Reihenfolge des biblischen Psalmenbuchs bezeugt. Gerade das verschiedene Arrangement von 11QPsa und dem biblischen Psalmenbuch stellt daher deutlich vor Augen, dass die Anordnung poetischer Texte auf antiken Schriftrollen nicht einfach ein Zufallsprodukt war, sondern bewusst erfolgte. Die Dominanz der Gattungsforschung hat entsprechende Beobachtungen, die auch schon zuvor am biblischen Psalmenbuch gemacht wurden, fast in Vergessenheit geraten lassen. Statt dessen galt das Diktum H. Gunkels „dass uns eine innere Ordnung unter den einzelnen Psalmen im ganzen nicht überliefert ist“.3 Die Ordnung, die Gunkel erwartete und im Psalmenbuch vermisste, war eine Zusammenstellung der Psalmen nach ihrer Verwendung, dem „Sitz im Leben“, oder doch zumindest entsprechend der Gattungen (vgl. Kap. 2). Er zieht daraus den Schluss: „Im fraglichen Falle ist also irgend eine Sicherheit, daß ein Psalm nach den ihm benachbarten zu verstehen sei, nicht vorhanden.“4 Die entsprechende Auslegung des Einzelpsalms, die diesen aus seinem Umfeld im Psalmenbuch isoliert, oder umgekehrt die These von der Zusammenhangslosigkeit des Psalmenbuches hat die Psalmenforschung nachhaltig geprägt. In den kontroversen Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte haben manche Exegeten gemeint, man müsse aus Wertschätzung für die Einzelpsalmen an dieser Isolation festhalten. E. Gerstenberger hat das in ein anschauliches Bild gekleidet: „Der Psalter ist ein wunderbarer Korb von den erlesensten, heilsamen und nahrhaften Früchten, die man einzeln genießen muß, es sei denn, man verzichtet auf Originalität und Spezifizität und zieht ein Früchtemus oder eine Mehrfruchtmarmelade der frischen Frucht vor.“5 E. Zenger hat dieser Position entgegengehalten, dass auch ein Früchtekorb kunstvoll arrangiert sein könne und „daß es einen Unterschied macht, ob man eine Erdbeere vor einer Zwiebel oder nach einer Zwiebel ißt.“6 Er hat dann programmatisch formuliert, worin die von ihm selbst und anderen vertretene Neuorientierung der Psalmenexegese besteht: „Bei der Frage nach dem Psalter als Buch geht es nicht um die Verwischung oder gar Zerstörung des literarischen

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3. Das Psalmenbuch als Komposition

und theologischen Eigenprofils der einzelnen Psalmen. Es geht vielmehr um die Frage, ob über die jedem Psalm ureigene spezifische Sprach- und Sinngestalt hinaus ihm noch eine weitere Bedeutungsdimension durch seine im Psalmenbuch gegebene Position zukommt und ob das Buch als Ganzes eine Programmatik hat, die mit bloßer Betrachtung der Einzeltexte eben nicht erfaßt werden kann.“7 Auch wenn heute (zumindest im deutschsprachigen Raum) die Mehrheit der auf die Psalmenforschung spezialisierten Exegeten die Perspektive des Psalmenbuchs in die Arbeit mit einbezieht, so gehen doch im Einzelfall die Meinungen darüber auseinander, in welchem Maß die Psalmen aufeinander bezogen oder welche Textbeobachtungen plausibel für eine „Psalterexegese“ herangezogen werden können. In dieser Einführung muss zunächst einmal grundsätzlicher nach konkreten Hinweisen dafür gefragt werden, dass das Psalmenbuch nicht nur ein zusammenhangsloses Archiv von Einzelpsalmen ist, sondern tatsächlich ein geordnetes und mit Bedacht angelegtes Buch, so dass es angemessen und gewissermaßen von diesem biblischen Buch ‚gefordert‘ ist, die Psalmen entsprechend auszulegen, zu lesen und zu meditieren. Die folgenden Beobachtungen können unter zwei Gesichtspunkten gesehen werden: Man kann einerseits fragen, welche Konsequenzen es für unser Verständnis des gesamten heutigen Psalmenbuchs oder eines einzelnen Psalms hat, dieses oder jenes Phänomen wahrzunehmen. Andererseits kann man überlegen, wer zu welcher Zeit und mit welchen Zielen eine bestimmte Konstellation oder Verbindung geschaffen hat. Beide Fragestellungen, die synchrone, die den Text auf der Ebene des überlieferten Textes untersucht, und die diachrone, die versucht die Spannungen dieses Textes als Ergebnisse der Entstehungsgeschichte zu verstehen, sind berechtigt und in gewisser Weise auch aufeinander verwiesen. In diesem Kapitel sollen die Beobachtungen zunächst (vornehmlich) unter dem synchronen Aspekt dargestellt werden. Im nächsten Kapitel folgen dann die entstehungsgeschichtlichen Fragen und Positionen. 3.2 Strukturmarkierungen im Psalmenbuch Im Psalmenbuch gibt es Elemente, die aus der Abfolge der eigentlichen Psalmenkorpora selbst ausbrechen und sich auf eine andere Kommunikationsebene begeben. Neben den Überschriften vieler Psalmen ist der letzte Vers von Ps 72 am offensichtlichsten ein solches metasprachliches Element:

3.2 Strukturmarkierungen im Psalmenbuch

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Zu Ende sind die Gebete Davids, des Sohnes Isais. (Ps 72,20)

Bei diesem Vers handelt es sich um eine Art Buchunterschrift, einen Kolophon. Inhaltlich bereitet der Kolophon einige Schwierigkeiten, zunächst insofern, als auch nach Ps 72 noch einige Psalmen David zugeschrieben werden (Ps 86; 101; 103; 108–110; 124; 138–145). So wird bereits auf der Oberfläche des fertigen Psalmenbuchs deutlich, dass dieses Buch eine Wachstumsgeschichte gehabt haben muss: Der Redaktor oder Sammler, der Ps 72,20 verfasst hat, wusste offenbar (noch) nichts davon, dass weitere Psalmen David in der Überschrift führen. Weiter irritiert der Kolophon durch die Tatsache, dass die Überschrift von Ps 72 selbst nicht David, sondern dessen Sohn, Salomo, nennt. Nun ist das hebräische hmlvl lischlomo nicht eindeutig und kann mit „von/für/in Bezug auf Salomo“ übersetzt werden. Die Unterschrift gibt in dieser Situation eine nachträgliche Leseanweisung. Sie vereindeutigt gewissermaßen, wie die Überschrift verstanden werden soll: Hier betet David für seinen Sohn Salomo. Und man kann sogar noch weiter gehen: Dem Davidkolophon am Ende von Ps 72 gehen mit Ps 3–41 und Ps 51–70 zwei große Blöcke von Davidpsalmen voraus. Vor Ps 72 selbst steht mit Ps 71 ein überschriftloser Psalm, der das Gebet eines alternden Menschen ist (vgl. Ps 71,9 u. ö.). Einigen der Davidpsalmen sind in der Überschrift Angaben vorangestellt, die eine Situation im Leben Davids angeben, in der er den folgenden Psalm gebetet haben soll, wie z. B. Ps 59,1: „Als Saul schickte und sie das Haus bewachten, um ihn zu töten“, was auf die Episode in 1 Sam 19,11 verweist. Entsprechend ist der Kolophon nicht nur eine Sammlungsnotiz am Ende der David zugeschriebenen Psalmensammlungen, sondern, wenn auch auf andere Art als die Überschriften, eine biographische Deutung der Ps 71 und 72: David ist alt geworden, betet zunächst noch einmal für sich selbst (Ps 71), dann für seinen Sohn und Nachfolger auf dem Thron, Salomo, (Ps 72) und beendet damit seine Gebete (Ps 72,20) – zumindest so weit die Psalmen sie aufgezeichnet haben. Der Kolophon in Ps 72,20 ist ein gutes Beispiel dafür, was es bedeutet, die Psalmen als Buch zu lesen und auszulegen. Er macht deutlich, dass die Überschriften zumindest auch die Funktionen haben, Psalmen zu gruppieren und Lesehorizonte zu schaffen, indem sie so etwas wie idealtypische Verwendungsbeispiele für den folgenden Psalm angeben. Darauf wird im Folgenden weiter einzugehen sein. Ps 72 ist aber nicht nur durch den Kolophon als Schlusspunkt einer Psalmenstrecke markiert. In den vv.18–19 geht diesem

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3. Das Psalmenbuch als Komposition

eine preisende Schlussformel, eine sogenannte „Doxologie“ voran, die sich insgesamt an vier Stellen im Psalmenbuch jeweils am Ende eines Psalms findet. In ihrer einfachsten Form steht sie am Ende von Ps 89. In verschiedenem Maß ausgestaltet, aber immer klar erkennbar, steht diese Formel außerdem noch am Ende von Ps 41 und Ps 106. Konkret ergibt sich folgendes Bild (vgl. dazu auch die Übersicht am Ende des Buches): I.)

Ps 41,14: Gepriesen sei JHWH, der Gott Israels, / von der Ewigkeit an und bis in die Ewigkeit. Amen, ja Amen. II.) Ps 72,18–19: Gepriesen sei JHWH-Gott, der Gott Israels, /der Wunder tut, er allein. Und gepriesen sei der Name seiner Herrlichkeit auf Ewigkeit hin. Und es erfülle seine Herrlichkeit die ganze Erde. Amen, ja Amen. III.) Ps 89,53: Gepriesen sei JHWH auf Ewigkeit hin. Amen, ja Amen. IV.) Ps 106,48: Gepriesen sei JHWH, der Gott Israels, / von der Ewigkeit an und bis in die Ewigkeit. Und sagen soll das ganze Volk: Amen.

Dieses Phänomen ist zunächst deshalb so auffällig, weil die Doxologien mit dem voranstehenden Psalm jeweils nicht oder nur schwach verbunden sind, so dass sie als metasprachliche Elemente erkennbar werden. Zudem fällt es mit anderen Strukturbeobachtungen zusammen: Ps 41 ist der Schlusspsalm des ersten Psalmenblocks, der David in den Überschriften nennt, während die folgenden Ps 42–49 den Söhnen Korachs zugeschrieben werden. Am Ende von Ps 72 markiert der Kolophon das Ende des zweiten Blocks von Davidpsalmen. Daran anschließend beginnt eine Gruppe von Psalmen, die jeweils Asaf in der Überschrift führen, Ps 73–83. Am Ende von Ps 89 markiert die Doxologie die größte Zäsur im Psalmenbuch: Die beiden Psalmen 88 und 89, in deren Überschriften ein Esrachiter genannt wird und die auf diese Weise miteinander zu einer Einheit verbunden sind, schließen die (nach Ps 42–49) zweite der beiden Sammlungen ab, die den Söhnen Korachs zugeschrieben sind: Ps 84–85; 87–88. Mit den dunklen Klagen über die sich in der Erfahrung des betenden Ich nicht realisierende Rettung Gottes angesichts des nahen Todes in Ps 88 und über den Untergang der Davidi-

3.2 Strukturmarkierungen im Psalmenbuch

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dendynastie, die doch mit göttlichen Verheißungen ausgestattet war, in Ps 89 stehen hier ganz grundsätzliche Fragen des Individuums und der Gemeinschaft nach der Nähe und Zuverlässigkeit Gottes zur Debatte. Ps 90, der einzige Psalm, der als „Gebet von Mose, dem Gottesmann“ überschrieben ist, führt angesichts dieser individuellen und kollektiven Gotteskrisen mit diesem ungewöhnlichen „Vorbeter“ gewissermaßen in die grundlegende Epoche des Exodus aus Ägypten und des Aufenthalts am Sinai zurück, also in die Phase der Entstehung des Volkes Israel aus der Begegnung mit Gott. Diese Begegnung erweist ihn als einen Gott, der aus Knechtschaft befreit, in seinen Geboten ein entsprechendes Leben fordert und nach der Maximalsünde des „goldenen Kalbs“ die Schuld verzeiht. Der Psalm wechselt entsprechend im Duktus des Psalmenbuchs auf eine viel grundlegendere Ebene und erarbeitet sich mit seinem Nachdenken über die Zeit und die Vergänglichkeit des Menschen eine neue anthropologische und theologische Ausgangsbasis. Aber auch in anderen Hinsichten bekommt das Psalmenbuch ab dieser Zäsur ein leicht verändertes Gesicht: Es finden sich deutlich weniger Überschriften, und Überschriften mit Situationsangaben – etwa aus dem Leben Davids – fehlen von nun an völlig. Insgesamt ändert sich die Tonlage. Während im vorderen Teil des Psalmenbuchs Klagegebete überwiegen, bestimmen von nun an das Gotteslob und die Rede von der Herrschaft Gottes viel stärker das Bild. Die nächste Doxologie steht am Ende von Ps 106 und damit am Ende der Kleingruppe der Psalmen 104–106, die nach F.-L. Hossfeld „eine poetische Universalgeschichte“8 von der Schöpfung über Ägyptenaufenthalt und Wüstenwanderung bis zum Exil darstellen. Auf der Ebene des Psalmenbuchs markiert die Doxologie eine klare Zäsur. Diese Markierung wird auch dadurch nicht außer Kraft gesetzt, dass Ps 107 durch andere redaktionelle Techniken (s. u.) eng an Ps 106 angeschlossen ist. Am Ende des Psalmenbuchs steht keine Doxologie, die den vier vorangehenden entsprechen würde. Es wird aber diskutiert, ob Ps 145, der vergleichbare Formulierungen enthält, als ganzer Psalm diese Funktion übernimmt, oder ob das „Schlusshallel“, der Abschluss des Psalmenbuchs durch die jeweils mit „Halleluja“ gerahmten Lobpsalmen Ps 146–150, die Lobaufforderung der Doxologie gewissermaßen ausbuchstabiert. Jedenfalls aber bildet das Schlusshallel Ps 146–150 zusammen mit den Ps 1–2, die der ersten Sammlung von Davidpsalmen vorangestellt sind, einen Rahmen um das Buch der Psalmen.

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3. Das Psalmenbuch als Komposition

Insgesamt unterteilen die Doxologien den Psalter in fünf Abschnitte oder „Bücher“. Damit bekommt dieses biblische Buch als Ganzes eine Strukturparallele zum Pentateuch, den fünf Büchern der Tora. Da die Doxologien redaktionsgeschichtlich kaum auf eine einzige Ebene gehören, kann man darüber diskutieren, ob und wann in der Entstehungsgeschichte des Psalmenbuchs die Fünfteilung bewusst angestrebt worden ist. In unserem Zusammenhang ist zunächst aber wichtiger, dass sie in der Rezeption in Judentum und Christentum relativ früh betont wurde und mit ihr der hohe Stellenwert des Psalters als einer Einheit für die Glaubensgemeinschaft ausgedrückt werden konnte. So findet sich zu Beginn des Midrasch Tehillim, der rabbinischen Kommentierung der Psalmen, ein schwer zu datierender ausführlicher Vergleich zwischen Mose und David: „Du findest: Alles, was Mose getan hat, hat David getan. [...] Mose gab Israel die fünf Fünftel der Tora, und David gab Israel die fünf Bücher der Psalmen. Mose segnete Israel mit ‚glücklich‘ (Dtn 33,29), und David segnete Israel mit ‚glücklich‘ (Ps 1,1).“9 Auch wenn hier ein spätrabbinisches Zeugnis (vielleicht aus dem 7. Jh. n. Chr.?) vorliegt, so haben wir es doch offenbar mit einer wesentlich älteren Tradition zu tun, die auch Origenes Mitte des 3. Jh. n. Chr. schon kannte: „In fünf Bücher teilen die Juden das Buch der Psalmen.“10 Mit dem Feststellen einer Strukturparallele zwischen Pentateuch und Psalter wird enorm viel über das Verständnis des Psalmenbuchs für die Rezeption besonders im Judentum, aber auch im Christentum ausgesagt: Zunächst ist eine solche Parallelisierung, wie schon erwähnt, ein Ausdruck der Wertschätzung. Innerhalb des biblischen Kanons werden so die Psalmen als besonders wichtig und verbindlich herausgehoben. Durch die Parallelisierung mit dem Propheten Mose erhält auch David ein prophetisches Image. Dazu passt, dass zumindest manche Psalmen bereits im Neuen Testament als Prophetie verstanden werden konnten (vgl. Apg 2,25–31). Ein anderes Textverständnis entsteht, wenn Pentateuch und Psalmenbuch einander hermeneutisch gegenübergestellt werden. In diesem Sinne können die Psalmen als die gebetete Antwort Israels auf die Gabe der Tora verstanden werden. Das Psalmenbuch ist dann auch eine Schule des Gebets und insbesondere mit Blick auf den programmatischen Anfang in Ps 1,2 (vgl. aber auch z. B. Ps 19,8–15 und den großen Ps 119) eine Schule der Torafrömmigkeit.

3.3 Psalmengruppen

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3.3 Psalmengruppen Unterhalb der strukturellen Ebene des fünfgeteilten Psalmenbuchs gibt es das Phänomen, dass Psalmen mit Gemeinsamkeiten in der Überschrift oder mit anderen Verbindungen nebeneinander stehen. Auf diese Weise lassen sich Psalmengruppen oder auch größere Sammlungen bestimmen, die unter Umständen nochmals in Teilsammlungen unterteilt werden können. Grundsätzlich gibt es zwei redaktionelle Techniken, die es ermöglichen, Psalmen hintereinander als zusammenhängenden Text lesen und meditieren zu können: die Iuxtapositio, also das gezielte Hintereinanderstellen von Psalmen, die zusammen bzw. aufeinander bezogen gelesen werden können, und die Concatenatio, die Verknüpfung von Psalmen durch wieder aufgenommene Stichworte oder Motive. Beide Techniken können natürlich auch zusammen auftreten. So könnten etwa zwei Psalmen so angeordnet worden sein, dass sich ein ‚Gespräch‘ zwischen ihnen ergibt, und die Bezogenheit der Psalmen wird zusätzlich noch dadurch verstärkt, dass durch eine redaktionelle Hinzufügung in einem der Psalmen ein wichtiges Stichwort des anderen aufgenommen wird. Beobachtungen zu diesen Phänomenen sind naturgemäß immer Bewertungen unterworfen, die im Einzelnen unterschiedlich ausfallen können. Fast immer kann man fragen, ob z. B. die Wiederholung einiger bestimmter Worte für die aufmerksamen Rezipienten aller Zeiten so „auffällig“ ist, dass sich daraus eine Verbindung zwischen den Psalmen zweifelsfrei ergibt, oder ob es sich z. B. um die Wiederholung so gewöhnlicher „Allerweltswörter“ handelt, dass die Annahme einer Verbindung als Überinterpretation erscheint. Es ist daher wichtig, die Kriterien zu benennen, die es plausibel machen, dass man eine Verbindung annimmt: Es sollte sich um sinntragende Stichworte oder Motive handeln, deren Wiederholung tatsächlich ins Auge fällt. Aus der angenommenen Verbindung sollte sich dann eine Form des „Weiterdenkens“ der Gedanken des einen Psalms durch die Konfrontation mit dem oder den anderen ergeben. Schließlich sollte das Gesamtbild, das auf der Ebene des Psalmenbuchs durch die angenommene Psalmengruppe und die benachbarten Gruppen entsteht, plausibel erscheinen oder als Ergebnis redaktioneller Arbeit wahrscheinlich gemacht werden können, so dass die Beobachtungen zu unterschiedlichen Gruppen sich auf dieser Ebene bestätigen.

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3. Das Psalmenbuch als Komposition

Auch wenn die redaktionellen Beziehungen nicht immer leicht zu klären sind, werden die großen, durch die Überschriften angezeigten Gruppen auf der synchronen Ebene mit breitem Konsens anerkannt. Diese sind: Ps 3–41: Ps 42–49: Ps 51–72:

1. Davidpsalter 1. Korachitersammlung 2. Davidpsalter (zu Ps 71 ohne Überschrift und Ps 72 mit Salomo-Überschrift und David-Kolophon s.o.) Ps 50; 73–83: Asafpsalmen Ps 84–85; 87–88: 2. Korachitersammlung Ps 108–110: Davidpsalmen Ps 120–134: Wallfahrtspsalmen Ps 138–145: letzter Davidpsalter

Bereits diese Auflistung macht deutlich, dass auch nicht benachbarte Psalmen über die Überschriften miteinander in Beziehung stehen können. Ein Beispiel wäre der auf der Ebene des Psalmenbuchs in seiner heutigen Gestalt isoliert stehende Asafpsalm Ps 50. Die Asafpsalmen sind nicht nur über ihre Überschriften miteinander verbunden, sondern auch durch eine gemeinsame Theologie, die durch ein immer wieder zu bemerkendes Interesse an Geschichtstheologie und der Vorstellung geprägt ist, dass Gott der Richter Israels und der fremden Völker ist. Der Name Asaf begegnet in 1 Chr 25 in Verbindung mit einem ‚Kapellmeister‘ unter den Tempelmusikern Davids, so dass man in der Forschung erwogen hat, hier – vergleichbar den verschiedenen nachexilischen Priesterklassen – das Eponym einer Gilde von Tempelsängern zu erblicken. Allerdings hat die jüngere Forschung auch gezeigt, dass die Suche nach Trägerkreisen des Psalmenbuchs einerseits eine logische Konsequenz aus redaktionsgeschichtlichen Überlegungen ist, andererseits aber noch mit vielen Unsicherheiten belastet ist. Die beiden Korachitersammlungen verbindet, dass sie weitgehend strukturparallel aufgebaut sind. Eventuell wurde die zweite Sammlung nach dem Modell der ersten zusammengestellt. Zwar nicht durch Überschriften angezeigt, aber durch unterschiedliche Techniken ähnlich deutlich markiert und daher weithin anerkannt, sind die folgenden Gruppen:

3.3 Psalmengruppen

Ps 93–100: Ps 113–118: Ps 146–150:

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JHWH-Königpsalmen Pesach-Hallel oder Ägyptisches Hallel Schlusshallel oder Kleines Hallel

Die Ps 93–100 bilden eine Komposition, die durch folgende Merkmale angezeigt wird: 1. Ps 93 beginnt mit dem Satz „JHWH ist König geworden“, der sich als sog. Themasatz auch in vielen der folgenden Psalmen findet. 2. Dieses Thema des universalen Königtums JHWHs wird in diesen Psalmen in unterschiedlichen Aspekten entfaltet, die einander ergänzen und z. T. auch miteinander konkurrieren: Es geht um die ordnende und richtende Herrschaft des Gottes Israels über die ganze Welt, die in der Schöpfung gründet. Bildlich vorgestellt wird diese Herrschaft als ein Thronen in der Höhe, dem auf der Erde das Thronen auf dem Jerusalemer Tempelberg entspricht und das daher im Tempelkult gefeiert wird. 3. Die Psalmen sind untereinander durch Stichworte und Ähnlichkeiten im Sprachgebrauch verknüpft. 4. Der abschließende Ps 100 ist formal wie inhaltlich bis ins kleinste Detail mit den vorangehenden Psalmen vernetzt und wohl für seine jetzige Position verfasst: So besteht er etwa nur aus Dreizeilern, die auch in Ps 93 eine wichtige Rolle spielen und zitiert wörtlich aus Ps 95; 96; 98.11 Das „Pesach-Hallel“ trägt diesen Namen, weil es mit Ps 114 einen Psalm über den Exodus aus Ägypten enthält und daher beim SederAbend, dem häuslichen Teil des Pesach-Festes, gesungen wird. Als eigenständige Gruppe werden diese Psalmen im Psalmenbuch schon dadurch ausgewiesen, dass sie von den beiden Akrosticha Ps 111 und 112 und dem großen Akrostichon Ps 119 gerahmt sind. Die sechs Psalmen bilden zwei Kompositionsbögen, Ps 113–115; 116–118, die weitgehend parallel aufgebaut sind. Das „Schlusshallel“ ist eine Gruppe von überschriftlosen, imperativischen Hymnen, die jeweils von „Halleluja“ gerahmt werden und so nach dem letzten Davidpsalter das Psalmenbuch mit einer fünfteiligen „Halleluja-Kantate“ (E. Zenger) abschließen. Sie sind so angeordnet, „dass im jeweils nachfolgenden Psalm ein im Schluss des vorangehenden Psalms angesprochenes Motiv bzw. Thema aufgegriffen und entfaltet wird“12. Die alternative Bezeichnung „Kleines Hallel“ hat ihr Pendant in der Bezeichnung „Großes Hallel“, mit der Ps 136 (oder auch Ps 135 f.) seit dem Talmud in jüdischer Tradition und der exegetischen Forschung bezeichnet wird.

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3. Das Psalmenbuch als Komposition

Auch über das Schlusshallel hinaus wird der Ruf „Halleluja“ strukturell eingesetzt, um Psalmengruppen zu markieren. Dabei entstehen z. T. Gruppierungen, die andere Strukturen überlagern, also gewissermaßen Lesealternativen anbieten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Septuaginta diese Markierungen gelegentlich mit leichten Abweichungen setzt. Solche Gruppen sind im hebräischen Text: Ps 104–106 („Halleluja“ steht jeweils nach dem Psalm) Ps 111–113 („Halleluja“ steht vor Ps 111 und 112 und rahmt Ps 113) Ps 115–117 („Halleluja“ steht jeweils nach dem Psalm)

Ps 135 ist im hebräischen Text durch „Halleluja“ gerahmt; würde man das zweite „Halleluja“ an den Anfang von Ps 136 ziehen (wie es die Septuaginta tut), so entstünde eine Markierung des „Großen Hallel“, Ps 135–136. Im Schlusshallel, Ps 146–150 sind alle fünf Psalmen durch „Halleluja“ gerahmt. 3.4 Verbindungen zwischen Einzelpsalmen: Ps 90–92 Was aber heißt es nun ganz konkret, wenn die Psalmenforschung einige Psalmen als Teilgruppe bezeichnet? Zunächst ist damit eine Aussage auf der Ebene des fertigen Psalmenbuchs gemacht, die bedeutet: Diese Psalmen gehören (aufgrund bestimmter Signale) zusammen und wollen als Zusammenhang gelesen werden. Dann ist damit u. U. aber auch eine entstehungsgeschichtliche Aussage gemacht: Diese Psalmen sind von den Menschen (oder Redaktoren), die das Psalmenbuch bzw. ein bestimmtes Vorstadium (eine Redaktion) einmal durch Sammeln, Ergänzen und Schreiben von Psalmen geschaffen haben, als eine Teilgruppe zusammengestellt worden. Die Teilgruppe könnte man also auch eine „Zusammenstellung“ oder latinisiert eine „Komposition“ von Psalmen nennen. Als Beispiel für solch eine Teilgruppe soll hier Ps 90–92 untersucht werden. Auf diese Gruppe treffen die zuvor eingehender vorgestellten „äußeren“ Kriterien wie gemeinsame Überschriften oder andere metasprachliche Signale (Kolophon, Markierung durch „Halleluja“ o. ä.) nicht zu. Auch im Blick auf die Gattungen wird eine Zusammengehörigkeit der drei Psalmen nicht angezeigt. Umso mehr sind sie ein Beispiel dafür, wie man benachbarte Psalmen nur auf der

3.4 Verbindungen zwischen Einzelpsalmen: Ps 90–92

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Basis „interner“ Beobachtungen (Stichwortverbindungen, übergreifende und weiterlaufende Motive und Themen) als Zusammenhang verstehen kann. Bei den Übersetzungen sind daher die Wortwiederholungen (ohne Partikeln und das in allen drei Psalmen begegnende Tetragramm) in den Psalmen (ohne die Überschriften) drucktechnisch hervorgehoben. Dabei gilt: wie in Ps 90: kursiv wie in Ps 91: unterstrichen wie in Ps 92: KAPITÄLCHEN Die Psalmen 90, 91 und 92 finden sich als Übersicht in der Faltkarte am Ende des Buchs. Alle drei Psalmen müssten zunächst ausführlich als Einzeltexte analysiert werden, was aber in diesem Zusammenhang nicht möglich ist. Folgende kurze Bemerkungen müssen daher genügen: Ps 9013 hat einen höchst bemerkenswerten und in dieser Form im Psalmenbuch einzigartigen Gedankengang. In den eröffnenden vv.1b–2 wird einerseits ein kleines Weltbild entworfen, das die Dimensionen Zeit (Generationen, Ewigkeit) und Raum (Berge, Land und Erdkreis) umfasst, in dessen Zentrum zwei Schöpfungsverben (geboren werden, hervorbringen) stehen und das außen von Gott (Herr, Gott) umspannt wird. Andererseits ist dieser weltumspannende Gott der „Unterschlupf“ der betenden Wir-Gruppe. Von diesem Ausgangspunkt aus gehen die Aussagen über Gott und Mensch zunächst weit auseinander: Der Mensch ist sterblich (v.3) und erfährt das Verstreichen der Zeit als einen Prozess des Verfalls (vv.5 f.), der ihn seinem Lebensende nur immer näher bringt, so dass das ganze Leben in einem negativen Licht und als Widerfahrnis des Gotteszorns erscheint (vv.7.9 f.). Gott dagegen ist vom Verstreichen der Zeit selbst nicht betroffen (v.4) und blickt – zumindest im Abschnitt vv.3–10 – nur auf das Fehlverhalten der Menschen (v.8). Eine Gemeinschaft von Gott und Mensch im Sinne des „Unterschlupfes“ von v.2 scheint hier in weite Ferne gerückt. Die vv.11 f. sind das strukturelle Zentrum des Psalms und lösen das Problem insofern, als v.12 Gott nicht etwa um ein längeres Leben bittet, sondern um eine Unterweisung, damit die Menschen die Begrenztheit ihrer Lebenszeit anerkennen und so zu einer weisen Lebensführung gelangen. Das in v.12 genannte Herz ist in der biblischen Anthropologie der Sitz der Lebensentscheidungen. Auf dieser Basis können die vv.13–

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3. Das Psalmenbuch als Komposition

17 Gott um seine gnädige Zuwendung und so letztlich um ein gelungenes Leben bitten, dessen zeitliche Perspektive am Ende das einzelne Leben überschreitet, wenn von der folgenden Generation (v.16) und vom Tagewerk (v.17) die Rede ist. So schlägt v.17 als Rahmen den Bogen zurück zu v.1 f., was im Hebräischen kunstvoll angezeigt wird: Drei Worte aus v.1 werden in umgekehrter Wortfolge aufgenommen, wobei das mittlere Wort in umgekehrter Buchstabenfolge (Palindrom) auftaucht: v.1: Herr – Unterschlupf (˜w[m ma‘on) – v.17: – Freundlichkeit (μ[n no‘am) – Herr

Der Psalm kommt so zu einem Abschluss, der einerseits daran anknüpft, dass die Beter zu Beginn Gott als ihren generationenübergreifenden „Unterschlupf“ bezeichnet haben. Andererseits wird auch in diesem Abschluss das Problem der menschlichen Vergänglichkeit und der „Transzendenz“ Gottes nicht verdrängt: Eine Gottesgemeinschaft des vergänglichen Menschen und damit ein gelingendes Leben ist nur möglich, wenn der Mensch seine Begrenztheit weise anerkennt (v.12) und Gott sich solchen Menschen als seinen Knechten erbarmend (v.13) und mit seiner Huld (v.14) zuwendet. Ps 91 lässt sich anhand der wechselnden Sprechrichtungen gliedern. Der Psalm wird mit einer Vertrauensaussage des betenden Ich eröffnet (vv.1 f.). Darauf antwortet in vv.3–13 eine Heilszusage, die gewissermaßen expliziert, was es bedeutet und welch heilvolle Konsequenzen es hat, wenn ein Mensch in dieser Weise Gott zu seiner Zuflucht erklärt. Dabei nimmt diese Heilszusage ab der in v.9 nochmals modifiziert zitierten Vertrauensaussage einen zweiten Anlauf. Die abschließenden vv.14–16 sind eine direkte Gottesrede, die die in vv.3–13 von einem anderen Sprecher verkündete Heilszusage an das in vv.1 f. redende Ich bestätigt. E. Zenger hat den Psalm als „Vertrauenspsalm sui generis“15 bezeichnet, bei dem ein Beter im Rezitieren des Psalms die Rettung Gottes aus den Gefahren seiner Lebenswelt selbst ausspricht und sich gleichzeitig zusagen lässt. Ps 92 verbindet mit Blick auf seine Gattung „Elemente des Hymnus, des Dankpsalms und des weisheitlichen Lehrgedichts“16. Nach dem Aufruf zum Gotteslob (vv.2–4) folgt eine Darlegung, bei der das Ich einerseits für eine erfahrene Rettung dankt und den Triumph über die Feinde schildert (v.12), andererseits deutet das Ich diese Erfahrung auf Gott hin und leitet daraus weisheitliche Lebensregeln ab – etwa dass Frevler nur dazu schnell gedeihen, dass sie wie das

3.4 Verbindungen zwischen Einzelpsalmen: Ps 90–92

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Gras in der Sommerhitze vertilgt werden (v.8). Der Opposition „bedroht – gerettet“ werden so die Oppositionen „Tor – Weiser“ und schließlich „Frevler – Gerechter“ an die Seite gestellt. Der letzte Teil (vv.13–16) setzt dem negativen Wachstumsbild der Frevler das positive des Gerechten entgegen, der nicht wie das Gras vergänglich ist, sondern dem entsprechend der Dattelpalme und insbesondere der für ihr hohes Lebensalter berühmten Libanonzeder ein beständiges Dasein verheißen wird. Die vv.14 f. fallen etwas aus dem Rahmen. Einerseits wechselt die Wachstumsmetapher nun in den Plural, wird also nicht mehr auf einen einzelnen Gerechten, sondern auf eine Gruppe von Menschen bezogen, andererseits wird das Geschehen nun am Tempel lokalisiert. Beide Beobachtungen bekommen bei genauem Hinsehen zusätzliches Gewicht. Zunächst ist es auffällig, dass der Psalm zuvor durchgängig von den Frevlern im Plural (vv.8.10.12) gesprochen hat. Dieser Gruppe steht der einzelne Beter (vv.5.11 und besonders v.12) und in v.13 der Gerechte im Singular gegenüber. Diese auch in anderen Psalmen begegnende Stilisierung wird in vv.14 f. durchbrochen. Das abschließende Lobzitat ist mit „mein Fels“ wiederum singularisch formuliert und passt damit besser zum übrigen Psalm und speziell zu v.13 als zu vv.14 f. Sodann ist darauf hinzuweisen, dass der Bezug auf den Tempel auf der Ebene des Psalms recht unvermittelt kommt und auf der Ebene der Psalmengruppe Ps 90–92 gänzlich fehlt. Dass in einem Psalm vom Tempel die Rede ist, ist Exegeten, die im Rahmen der Formen- und Gattungskritik alle Psalmen mehr oder weniger stark mit dem Tempelgottesdienst verbunden haben, kaum aufgefallen. Nimmt man allerdings den Mosebezug der Ps 90–92 und insbesondere auch von Ps 92 hinzu (s.u.), so ist dieses Schweigen über den Tempel im Munde des Mose sogar logisch notwendig, weil Mose den Tempel noch nicht kannte. Auf diese Weise nivelliert v.14 auch den Mosebezug. Damit ergeben sich einige Hinweise darauf, dass die vv.14 f. nicht zum Grundbestand des Psalms gehören, sondern später – und zwar nach der Zusammenstellung der Gruppe Ps 90–92 – ergänzt worden sind. Folgende Verbindungen zwischen den Psalmen sind besonders augenfällig:17 1) In allen drei Psalmen spielen Erkenntnis und Weisheit eine besondere Rolle, was als weisheitlich-didaktische Tendenz benannt worden ist. Ps 90 hat insgesamt mit seiner Zeitreflexion ein Thema, das man heute philosophisch nennen würde. Gerade in den zentralen vv.11–12 ist dann auch explizit von Erkenntnis ([dy jd‘), (Gottes-)

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3. Das Psalmenbuch als Komposition

Furcht und einem weisen Herzen die Rede. In Ps 91,14 ist dann die Erkenntnis ([dy jd‘) des Gottesnamens der von Gott selbst genannte Grund dafür, dass dem Angesprochenen der so umfassend verheißene Schutz zuteil wird. Nach Ps 92,7 fehlt dem Toren die Erkenntnis ([dy jd‘) der göttlichen Werke und damit die Grundlage für Fröhlichkeit und Jubel. Zudem geht es in v.12 um Nachrichten vom Schicksal der Feinde und in v.16 um das Verkünden der Eigenschaften Gottes – beides sind weisheitliche Themen. 2) Einige der Stichwortverbindungen werden durch ihre Seltenheit oder durch ihre Stellung besonders hervorgehoben. Es sind: die Bezeichnung JHWHs als „Unterschlupf“ (˜w[m ma‘on) in Ps 90,1; 91,9, die Gottesbezeichnung „Höchster“ (˜wyl[ ‘æljon) jeweils zu Beginn von Ps 91 und 92, die Bezeichnung „dein Tun“ (˚l[p po‘olækha) für das Wirken Gottes in Ps 90,16; 92,5 und der Wachstumsvergleich mit „blühen“ (≈wx zwz hi) in Ps 90,6; 92,8. 3) Eine weitere Gemeinsamkeit der drei Psalmen liegt in einem gewissen Bezug auf Mose und die Wüstenwanderung. Explizit steht dieser Bezug in der Überschrift in Ps 90,1 „Ein Gebet von Mose, dem Mann Gottes“. Im Psalmkorpus wird dieser Bezug dadurch hergestellt, dass sich die Formulierung der ersten Bitte des zweiten Hauptteils in v.13 eng an die Fürbitte des Mose angesichts der Maximalsünde des Volkes, der Herstellung des „goldenen Kalbs“, anlehnt: „Kehre zurück von der Glut deines Zornes und habe Erbarmen über das Unheil für dein Volk“ (Ex 32,12b). Ps 90 betet also tatsächlich in einer Sprache, wie sie auch von den Gebeten des Mose im Pentateuch überliefert ist. Dieser Eindruck setzt sich fort. In Ps 91 erinnert die Rede von den schützenden Flügeln (v.4) an die Exodusmetaphern in Ex 19,4 und im Moselied Dtn 32,11. Auch die Behausung des Beters, das Zelt (v.10), erinnert an die Wanderschaft. In Ps 92 baut die Verkündigung des Gerechten im Schlussvers eine deutliche Verbindung zu einem Vers des Moseliedes am Ende des Deuteronomiums auf: „Der Fels (ist er), vollkommen ist sein Tun, denn alle seine Wege sind Recht. Ein Gott der Treue und ohne Trug. Gerecht und gerade ist er.“ (Dtn 32,4) Diese Beobachtungen lassen es angemessen erscheinen, die Mose-Überschrift von Ps 90 auf die ganze Kleingruppe Ps 90–92 zu beziehen.18 4) Die wichtigste Beobachtung ist allerdings, dass Elemente der Bitten von Ps 90 in der Gottesrede am Ende von Ps 91 als Verheißungen begegnen und dass Ps 92 dankbar auf Erfahrungen blickt, die einerseits den Bitten von Ps 90 und andererseits den Zusagen von Ps 91 entsprechen. Die Details zu dieser Beobachtung sind – wie

3.4 Verbindungen zwischen Einzelpsalmen: Ps 90–92

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schon durch die Markierungen in den Übersetzungen deutlich wird – vielfältig. In den im Folgenden besprochenen Versen wird das besonders deutlich. Dazu sind die Bitten in Ps 90,14–16 ein guter Ausgangspunkt: 14 15 16

Sättige uns am MORGEN mit deiner HULD, / und wir werden JUBELN und FRÖHLICH sein an all unseren Tagen. Mache uns FRÖHLICH gemäß den Tagen, die du uns gedemütigt hast, / den Jahren, die wir Böses sahen. An deinen Knechten soll sich sehen lassen dein TUN / und deine Herrlichkeit über ihren Kindern.

Eine göttliche Antwort erhalten diese Verse am Ende von Ps 91: 16

An Länge von Tagen werde ich ihn satt machen / und ich werde ihn sehen lassen mein Heil.“

Mit „Tag“ (μwy jōm) wird nicht nur ein Leitwort von Ps 90 aufgegriffen, sondern es hat hier auch ebenfalls die Bedeutung „Lebenszeit“. Die Verben „sättigen“ und „sehen lassen“ ([bc sb‘ und har r’h hi) entsprechen genau den Bitten in Ps 90,14.16. In Ps 92 wird ebenfalls auf Formulierungen der Bitten aus Ps 90 Bezug genommen, nun aber in der Art des dankbaren Rückblicks auf gute Erfahrungen: 3 5

zu verkünden am Morgen deine Huld / und deine Treue in den Nächten, Ja, du hast mich fröhlich gemacht, JHWH, mit deinem Tun, / über das Werk deiner Hände werde ich jubeln.

In diesen beiden Versen werden mit „Morgen“, „Huld“, „fröhlich machen“ und „jubeln“ (rqb boqær, dsj chæsæd, jmc smch und ˜nr rnn) gleich vier Stichworte aus Ps 90,14 aufgenommen. Hinzu kommt der schon erwähnte Bezug auf das göttliche Tun aus Ps 90,16. Ein Beispiel dafür, dass Ps 92 auch die Zusagen von Ps 91 aufgreift – und zwar ebenfalls im Sinne einer Erfüllung, ist ein Vergleich der folgenden Verse. Ps 91,8 Nur mit deinen AUGEN wirst du SCHAUEN / und die Vergeltung der FREVLER wirst du sehen.

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3. Das Psalmenbuch als Komposition

Ps 92,12 Und es schaute mein Auge (hinab) auf meine Feinde, / von denen, die gegen mich aufstehen, die böse sind, hören meine Ohren.

Die Differenz wird hier durch die Änderung der Verbform von Zukunft auf Vergangenheit (hebr. von Präfixkonjugation zu Narrativ) angezeigt. Die vorgestellten Beobachtungen weisen Ps 90–92 als eine Psalmengruppe aus, deren theologische Aussage die der Einzelpsalmen übersteigt, weil sie sie in einen größeren Zusammenhang stellt. So scheint Ps 91 im Blick auf Ps 90 zunächst nur die Frage nach der Gottesgemeinschaft aufzugreifen, die in beiden Psalmen in der Bezeichnung von Gott als „Unterschlupf“ (Ps 90,1; 91,9) greifbar wird, und die Problematik der – allzu schnellen – Vergänglichkeit des Menschen zu verlassen. Andererseits bekommen die Schutzzusagen in Ps 91 von Ps 90 her gelesen einen anderen Akzent: Wer so wie das Ich von Ps 91 vor jedem vorzeitigen Tod bewahrt wird, braucht sich vor Gefahren nicht zu fürchten (Ps 91,5). Das Stichwort der Furcht steht in Ps 90,11 im Zusammenhang des für Menschen unerklärlichen Gotteszorns, der sich eben in einer bedrohlich empfundenen Vergänglichkeit äußert. Das Gottvertrauen, das Ps 91 demgegenüber propagiert, hebt zwar die menschliche Vergänglichkeit nicht auf, verändert aber die Lebensqualität. Wer so ungefährdet durchs Leben geht, dass er oder sie über Löwen, Schlangen und Drachen schreitet (v.13), gleicht in der altorientalischen Ikonographie einem Herrscher, einem Helden oder einer Gottheit. Wenn dann am Ende in der Gottesrede Ps 91,16 mit der Lebenszeit viel deutlicher als zuvor an die Hauptthematik von Ps 90 anknüpft (s.o.), so haben sich die Bedingungen gänzlich verändert. Von einem „Es ging eilends vorbei und wir verfliegen“ (Ps 90,10b) kann nicht mehr die Rede sein. Die Vergänglichkeit erscheint hier stattdessen in der Gestalt der Sättigung mit einem langen Leben. Liest man vor diesem Hintergrund Ps 92, so meldet sich gewissermaßen das Ich zu Wort, dem in Ps 91 all diese Verheißungen zuteil geworden sind. In den Dank für die Erfüllung der Bitten (vgl. bes. Ps 90,14) und die Einlösung der Verheißungen (vgl. bes. Ps 91,8; 92,12) mischt sich nun die menschliche Erklärung einer Unterscheidung des Gerechten von den Frevlern. Die Vergänglichkeitsmetapher des blühenden und dann schnell wieder vertrocknenden Grases, die Ps 90,6 auf alle Menschen bezogen hatte, wird nun einseitig mit

3.4 Verbindungen zwischen Einzelpsalmen: Ps 90–92

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dem Schicksal der Frevler verbunden (Ps 92,8). Dem Gerechten dagegen wird die Beständigkeit von Palme und Libanonzeder zugesprochen. Aus dem Wohlergehen leitet sich in Ps 92 indirekt also eine Selbstprädikation des betenden Ich als weise – im Gegensatz zum Toren in v.7 – und als gerecht ab. Vom Duktus der drei Psalmen ist eine solche Lektüre zwar stimmig, bibeltheologisch ist sie freilich problematisch. Die großen theologischen Probleme der hier behandelten Thematik, die auch schon in Ps 90 angeklungen sind, bleiben dabei unbehandelt: die Universalität von Tod und Leid, die sich im Problem des leidenden Gerechten zuspitzt, und die Erfahrung, dass auch fromme Menschen Fehler machen und so u. U. Schuld auf sich laden. Für eine Bearbeitung des ersten Problems auf dem Niveau von Weltliteratur steht das Ijob-Buch. Beide Probleme werden aber auch in Leserichtung später im vierten Psalmenbuch erörtert, in Ps 102 und 103. Insbesondere Ps 103 bezieht sich dabei nochmals auf Mose und auf die Selbstoffenbarung Gottes am Sinai als barmherzig und gnädig (Ps 103,8) und leitet daraus ein umfassendes Erbarmen Gottes über die vergänglichen Menschen ab (Ps 103,13–18). Auf der Ebene des Endtextes des Psalmenbuchs erhält die Psalmengruppe Ps 90–92 also eine theologisch geradezu notwendige Fortsetzung.

4. Vom Einzelpsalm zum Psalmenbuch: Entstehungsgeschichtliche Fragen 

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Wenn sich das Psalmenbuch als ein mit Bedacht geschaffenes theologisches Meditationsbuch präsentiert, so stellt sich umso mehr die Frage nach den für seine Entstehung verantwortlichen Menschen, ihren Intentionen und ihrem geschichtlichen Hintergrund. Dasselbe gilt für die Einzelpsalmen, falls sie nicht eigens für diese Komposition geschaffen wurden, sondern als bereits fertige Elemente eingebaut wurden. Hinweise darauf, dass das Psalmenbuch in einem längeren Redaktionsprozess entstanden ist, ergeben sich bereits aus sich überlagernden Strukturen im Endtext des Buches: So umfasst der sogenannte „Elohistische Psalter“ (Ps 42–83) mehrere durch die Überschriften angezeigte Teilsammlungen und erstreckt sich über das zweite und einen Teil des dritten Psalmenbuchs, die durch die Doxologien markiert werden. Der Kolophon in Ps 72 und die Tatsache, dass es auch im Bereich von Ps 73–150 Davidpsalmen gibt, weisen darauf hin, dass die Davidisierung von Psalmen ein fortschreitender Prozess war. Auch entstehungsgeschichtlich liegt offenbar die größte Zäsur des Psalmenbuchs zwischen Ps 89 und 90. Es gibt Indizien für die Faustregel, dass die Wachstumsgeschichte ungefähr von vorne nach hinten verlaufen ist, dass sich also die älteren Psalmen und Psalmensammlungen eher in der vorderen Hälfte und die jüngeren eher in der hinteren Hälfte finden. Andererseits wird aber die redaktionsgeschichtliche Vorstellung, dass ein bestehendes Psalmenbuch vornehmlich am Ende immer weiter ergänzt worden ist, dem komplexen Befund nicht gerecht.

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4.1 Vorüberlegungen Die jahrzehntelange Konzentration auf die Gattungsforschung hat auch dazu geführt, dass die systematische Erforschung der Entstehungsgeschichte des Psalmenbuchs als eines Buches, das sich in einem komplexen Redaktionsprozess herausgebildet hat, eine noch relativ junge wissenschaftliche Fragestellung ist. Entsprechend groß

4.2 Methodische Grundsätze

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ist die Bandbreite der vertretenen Thesen, die sich zudem oft noch „in Bewegung“ befinden.1 Blickt man etwa nur auf die meist schwierige Frage, einen Einzelpsalm zu datieren, so lassen die Exegetinnen und Exegeten natürlich ihre manchmal unterschiedlichen Rahmenvorstellungen mit in die Beurteilung einfließen. Entsprechend werden manche bei ihren Psalmendatierungen eine Bandbreite von der Königszeit im 7. oder sogar 8. Jh. v. Chr. bis in die Hasmonäerzeit am Ende des 2. Jh. v. Chr. ausschöpfen, während für andere alle Psalmen nachexilisch (also jünger als das 6. Jh. v. Chr.) sind oder das Psalmenbuch spätestens in der frühhellenistischen Zeit (3. Jh. v. Chr.) in seiner heutigen Gestalt abgeschlossen ist. Im Hintergrund stehen hier verschiedene oder zumindest unterschiedlich gewichtete Vorstellungen von der Religionsgeschichte Israels und von der Literaturentstehung und -sammlung insbesondere in der Perserzeit. Gerade in der Archäologie der Perserzeit ist zurzeit eine Menge in Bewegung. Außerdem beginnt die Forschung erst, die Beziehungen des Psalmenbuchs zu anderen biblischen Büchern wie etwa den Chronikbüchern besser zu verstehen, was wichtige Folgen auch für die Vorstellungen von der Entstehung des Psalmenbuchs haben wird. In dieser Situation wäre es unredlich, in vereinfachter Form einen „Forschungsstand“ im Sinne eines gesicherten Lehr- und Lernstoffes zu präsentieren. Diese Einführung möchte vor diesem Hintergrund zwei Dinge leisten: Es sollen 1) methodische Grundprinzipien erläutert werden, nach denen die redaktionsgeschichtliche Arbeit am Psalmenbuch erfolgen kann. Darüber hinaus sollen 2) die Beobachtungen vorgetragen werden, über deren diachrone Bedeutsamkeit Konsens besteht und auf denen daher jede redaktionsgeschichtliche Arbeit aufbauen muss – egal welche weiteren Grundannahmen sonst in die Arbeit mit einfließen. Ziel ist es, einerseits eine Vorstellung von der Art der Aufgabenstellung zu vermitteln und andererseits die Leserinnen und Leser dieses Büchleins in die Lage zu versetzen, die Literatur in diesem Bereich kritisch zu beurteilen. 4.2 Methodische Grundsätze Im Blick auf das Psalmenbuch kann man zwei Fragestellungen unterscheiden, die in der Vergangenheit getrennt voneinander bearbeitet wurden: das Alter und die Entstehungsgeschichte von Einzelpsalmen sowie die Entstehung des Psalmenbuchs insgesamt. Die jüngere Forschung hat inzwischen erkannt, dass die Entstehung des Psal-

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4. Entstehungsgeschichtliche Fragen

menbuchs ein komplexer redaktioneller Prozess gewesen sein muss, in dessen Verlauf auch Psalmen für ihre Position in der Komposition des Buches neu verfasst wurden oder bereits bestehende Psalmen durch Erweiterungen ihrem Buchumfeld angepasst werden konnten. Insofern hängen beide Fragestellungen zumindest theoretisch zusammen. Die Abfassung eines Psalms wird entsprechend meistens seinem Einbau ins Psalmenbuch vorangehen, kann aber auch mit diesem zusammenfallen. Sie ist oft schwer festzumachen, weil die allermeisten Psalmen keinerlei direkte Hinweise auf Personen oder Ereignisse enthalten, auf die sich eine Datierung stützen könnte. Umgekehrt stellen redaktionsgeschichtliche Modelle insofern Rahmenhypothesen für die Abfassungszeit eines Psalms dar, als sie manchmal angeben können, dass auf einer bestimmten Stufe der Buchentwicklung ein bestimmter Psalm oder eine Psalmengruppe textlich vorausgesetzt werden müssen. Wie kann man sich nun wissenschaftlich diesen Fragen nähern? Immer wenn es um die Entstehungsgeschichte eines biblischen Textes oder gar Buches geht, ist es wichtig, sich über die Reihenfolge der Arbeitsschritte Rechenschaft zu geben. Grundsätzlich geht es hier um den methodischen Primat der Synchronie vor der Diachronie. Das bedeutet, dass man zunächst die überlieferte Endgestalt eines Textes exegetisch so umfassend wie möglich bearbeiten muss, damit man versteht, wie die einzelnen Elemente miteinander das Ganze bilden. Erst wenn diese Aufgabe geleistet ist, kann und soll die Frage gestellt werden, wo dieses Ganze vielleicht Störungen und Brüche aufweist, die auf der synchronen Ebene nicht erklärt werden können, aber vielleicht Hinweise auf die Entstehungsgeschichte geben. Die Frage nach der Entstehungsgeschichte ist also spannend und auch wichtig, aber weniger im Sinne eines Glasperlenspiels um ihrer selbst willen. Sie steht vielmehr im Dienst des Bestrebens, den biblischen Text besser zu verstehen, Verständnisschwierigkeiten zu erklären und eventuell eine theologische Mehrstimmigkeit präziser zu profilieren. Im Blick auf die Psalmenexegese stellt sich die Frage, ob eine diachrone Untersuchung beim Endtext der einzelnen Psalmen oder beim Zusammenhang des Psalmenbuchs ansetzen muss. Methodisch führen die Überlegungen der vorangehenden Kapitel zu der Vorentscheidung, dass der Ausgangspunkt auch einer diachronen Analyse des Psalmenbuchs in einem ersten Schritt bei den Einzelpsalmen und in einem zweiten Schritt bei dem Psalmenbuch in seiner Endgestalt liegt. Die wichtigsten Gründe dafür sind:

4.2 Methodische Grundsätze

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1) Zunächst – und vielleicht ein wenig überspitzt gesagt – ist jeder einzelne Psalm als hebräisches Gedicht gewissermaßen eine eigene Welt. Die Metaphern funktionieren, wie wir gesehen haben, zunächst einmal nur im Bezugsrahmen dieses einen Psalms. Damit aber sind auch Urteile darüber, wie das Ganze eines Psalms „funktioniert“, bzw. umgekehrt, wo eventuell der literarische Zusammenhang so gestört ist, dass man Schlussfolgerungen für die Entstehungsgeschichte des Textes ziehen muss, auf der Ebene des Psalms zu fällen. Die Argumente für eine mehrstufige Entstehung eines Psalms bauen also zunächst einmal auf synchronen Beobachtungen dieses Einzelpsalms auf. Davon unberührt ist zunächst noch die wichtige Frage, ob etwa eine festgestellte Erweiterung im Kontext der Redaktionsgeschichte des Psalmenbuchs erklärt werden kann oder unabhängig vom Psalmenbuch nur auf der Ebene des Psalms und seiner literarischen Entwicklung verstanden werden muss. 2) Das Psalmenbuch verändert als literarischer Kontext der Einzelpsalmen das Verstehen. Zumindest potenziell – und in vielen Fällen auch gut nachweisbar – wird die Sinnentfaltung eines Psalms durch den Kontext des Psalmenbuchs erheblich beeinflusst. Die Lektüre wird durch Nachbarpsalmen, aber auch durch Psalmen, die strukturell oder textlich mit dem Einzelpsalm verbunden sind, festgelegt oder in andere Richtungen gelenkt. Für die redaktionsgeschichtliche Erforschung des Psalmenbuchs ist es wichtig, solche Phänomene sauber beschreiben zu können. Das gelingt nur, wenn man zunächst die Verstehensmöglichkeiten des Psalms als Einzeltext beschreibt und in einem zweiten Schritt intertextuelle Phänomene, Sinnverschiebungen und -verstärkungen im Psalmenbuch untersucht und in die Exegese mit einbezieht. 3) Würde man umgekehrt von den auf der Ebene des Psalmenbuchs erkennbaren theologischen Verschiebungen her danach fragen, ob ein Einzelpsalm unverändert ins Psalmenbuch integriert wurde, ob er von einer Redaktion auf andere Psalmen hin verändert wurde oder ob er gar erst von dieser Redaktion gedichtet wurde, so würde die Gefahr bestehen, dass man sich von den auf der Ebene des Psalmenbuchs gemachten Beobachtungen so sehr leiten lässt, dass das Eigenprofil des Einzelpsalms nivelliert wird. Demgegenüber ist der Ansatz beim Einzelpsalm ein wichtiges methodisches Korrektiv. Die Überlegungen zeigen also, dass eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung des Psalmenbuchs eine synchrone wie diachrone Analyse der Einzelpsalmen voraussetzt. Der nächste Schritt ist dann, auf der Ebene des Psalters Strukturbeobachtungen zu sam-

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4. Entstehungsgeschichtliche Fragen

meln, die zum großen Teil schon im vorangegangenen Kapitel besprochen wurden. Hier geht es nun aber nicht nur um die flächige Beschreibung der „Psalmen-Landschaft“, sondern auch um ihre Profilierung. So müssen nun nicht nur Psalmengruppen als solche erkannt werden, sondern sie können auch miteinander verglichen werden. Auch Reibungen und Widersprüche innerhalb einer Komposition müssen zumindest notiert werden. Schließlich kann man fragen, ob die bei der Psalmenanalyse herausgearbeiteten Ergänzungen von Psalmen unter Umständen auf der Ebene des Psalmenbuchs redaktionell einzuordnen sind. Besonders die Rand- und Übergangsbereiche von Psalmengruppen sind hier interessant. Ein Beispiel soll das erläutern: In Kapitel 3 wurde begründet, dass Ps 92,14 f. später eingefügte Verse sind. Sie erweitern die vv.13.16: 13 14 15 16

Der Gerechte wird sprossen wie die Palme, / wie die Zeder auf dem Libanon wächst er. Als Gepflanzte im Haus JHWHs, / werden sie in den Vorhöfen unseres Gottes sprossen, noch im Alter werden sie Frucht tragen, / saftig und frisch werden sie sein, um zu verkünden: „Ja, gerade ist JHWH, / (er ist) mein Fels und kein Unrecht ist an ihm.“

Die wichtigsten Textbeobachtungen, die zu der Annahme geführt haben, dass diese Verse sekundär – d.h. nachträglich eingefügt – sind, beziehen sich darauf, dass hier unvermittelt vom Tempel die Rede ist und dass in der Metapher der Palme bzw. der Libanonzeder, die den einzelnen Gerechten nach v.13 bezeichnet, nun von einer Gruppe von Menschen gesprochen wird. Im Psalmenbuch folgen auf die Ps 90–92 die Gruppe der sogenannten JHWH-Königpsalmen Ps 93–100. In diesen Psalmen ist der Tempel von Ps 93,5 an immer wieder präsent. Ps 99 etwa ist als „bewußte und dichte Zusammenfassung der gesamten Theologie der Tempelgemeinde“2 bezeichnet worden. Mit Ps 100 gipfelt diese Psalmengruppe in der Aufforderung an alle Völker, am Tempelkult Israels teilzunehmen. Abgesehen vom erst spät in diese Gruppe eingefügten Ps 94, der auch über weite Strecken das Gebet eines einzelnen Ich ist, überwiegt hier ganz deutlich die Perspektive einer Gruppe, die zu gottesdienstlichem Tun – typische Verben sind: „jubeln“, „singen“, „spielen“, „sich niederwerfen“ – aufgefordert wird oder sich selbst dazu er-

4.3 Strukturbeobachtungen zur Entstehung des Psalmenbuchs

73

muntert. Die Erweiterung von Ps 92 um die vv.14 f. erklärt sich vor diesem Hintergrund hervorragend dadurch, dass hier die JHWHKönigpsalmen, als sie hinter Ps 92 gestellt wurden, eine Anbindung nach vorne erfahren haben. Die Lektüre oder auch Meditation dieser Psalmen wird dadurch vorbereitet, dass am Ende der Ps 90–92 das Bild der am Tempel im Gotteslob versammelten Gerechten steht, das dann in den JHWH-Königpsalmen fortgesetzt wird.3 Die Überlegungen lassen ein Programm für eine synchron und diachron arbeitende Psalmen- und Psalterexegese erkennen. Es besteht theoretisch aus drei Schritten, die freilich in der Praxis immer nur in Teilaspekten durchgeführt werden können, weil sie die Arbeit vieler Jahre und vieler Exegetinnen und Exegeten bedeuten: 1. Die synchrone und diachrone Analyse der Einzelpsalmen; 2. Die synchrone Lektüre des gesamten Psalmenbuchs und seine Strukturierung in erkennbare Teilpsalter, Psalmengruppen und Teilgruppen; 3. Der Versuch, die Entstehung zunächst dieser Teilsammlungen und schließlich des gesamten Psalmenbuchs unter Integration der zuvor gemachten synchronen und diachronen Beobachtungen redaktionsgeschichtlich nachzuzeichnen. In diesem Buch können nur einige Überlegungen zur gewachsenen Struktur des Psalmenbuchs – also Forschungsergebnisse zum zweiten dieser Methodenschritte – vorgestellt werden. Sie sind heute gewissermaßen die Rahmenbedingungen jeder redaktionsgeschichtlichen These zum Psalmenbuch. 4.3 Strukturbeobachtungen zur Entstehung des Psalmenbuchs 4.3.1 Der sogenannte „Elohistische Psalter“ (Ps 42–83) Die Psalmen 42–83 sind nach den Überschriften in drei Gruppen eingeteilt: die Korachiterpsalmen Ps 42–49 (= 1. Korachitersammlung), die Davidpsalmen Ps 51–72 (= 2. Davidpsalter) und die Asafpsalmen Ps 50; 73–83.

74

4. Entstehungsgeschichtliche Fragen

42–49

1. Korachitersammlung

50

Asafpsalm

51–72 72,18 f. 72,20

2. Davidpsalter Doxologie des 2. Psalmenbuchs Kolophon: „Zu Ende sind die Gebete Davids“

73–83

Asafpsalmen

Tab. 7: Der Elohistische Psalter

Alle diese Psalmen verbindet aber eine Gemeinsamkeit bei der Verwendung der Gottesbezeichnungen: Sie bevorzugen die Gattungsbezeichnung „Gott“ (μyhla ’ælohim) gegenüber dem sonst in den Psalmen so weit verbreiteten Tetragramm, dem Gottesnamen JHWH (hwhy). Bereits Gunkel – und viele Psalmenforscher sind ihm hier gefolgt – hat vermutet, dass diese Besonderheit auf eine Redaktion zurückgeht, die diese Psalmengruppen zu einem (Teil-)Psalter zusammengestellt hat. Diese Redaktion habe fast durchgängig das Tetragramm durch „’ælohim“ ersetzt. Entsprechend findet man in manchen Kommentaren und Übersetzungen dieser Psalmen Rückersetzungen. Wenn diese These recht hätte, müsste man annehmen, dass hier eine redaktionsgeschichtliche Schicht des Psalmenbuchs zu Tage tritt etwa vergleichbar einem Fußbodenniveau, das man bei einer archäologischen Grabung erreicht: Alle Psalmen, in denen die Ersetzung festzustellen ist, also Ps 42–83, gehören zu einer bis dahin bereits existierenden Zusammenstellung, einem ersten Psalter. Alle Psalmen, die die Ersetzung nicht aufweisen, also Ps 1–41; 84–150, sind erst später ins Psalmenbuch integriert worden. Die jüngere Forschung hat inzwischen gezeigt, dass die Verwendung der Gottesbezeichnungen in Ps 42–83 mit einer mechanischen Ersetzung des Tetragramms durch „’ælohim“ in einem einzigen Redaktionsschritt nicht befriedigend zu erklären ist. Die Bevorzugung der Bezeichnung „’ælohim“ scheint den universellen Geltungsanspruch des Gottes Israels zu betonen, während das Tetragramm auf bestimmte Bereiche konzentriert, also planvoll eingesetzt wird. Insbesondere die Asafpsalmen Ps 50; 73–83 entwickeln eine regelrechte Gottesnamenstheologie, die sich darin ausdrückt, dass sie das Tetragramm wohlüberlegt ungefähr einmal in jedem Psalm positionieren. „Die Konzentration der Belege des Tetragramms im zweiten Davidpsalter und in den Korachpsalmen auf bestimmte, begrenzte Bereiche lässt vermuten, dass die Namenstheologie der Asafpsalmen

4.3 Strukturbeobachtungen zur Entstehung des Psalmenbuchs

75

in Form der pointierten Setzung des JHWH-Namens im Laufe der weiteren Zusammenstellung der Teilkompositionen zunächst zur David-Asaf-Gruppe und schließlich zum elohistischen Psalter in eben diese Bereiche mit eingetragen wurde.“4 Die These, dass die Ps 42–83 einmal einen eigenständigen Psalter gebildet haben, bleibt also erhalten. Allerdings hat man sich den Weg dorthin eher als einen komplexeren Prozess vorzustellen, der von theologischen Überlegungen entscheidend bestimmt wurde. Mit der Wahrnehmung der höheren Komplexität dieser Redaktionsprozesse ist verbunden, dass auch die Frage nach dem Alter anderer Teilgruppen des späteren Psalmenbuchs methodisch offen zu halten ist. Ob insbesondere der erste Davidpsalter (Ps 3–41) eine jüngere Erweiterung des Elohistischen Psalters ist oder – wahrscheinlicher – älter ist und einmal neben diesem als eigenständige Sammlung existiert hat, muss über weitere Textbeobachtungen geklärt werden. Daneben zeigt der heutige Forschungsstand zum Elohistischen Psalter, dass man sich die Redaktionsgeschichte des Psalmenbuchs nicht einfach als Sammlung von Einzeltexten, sondern als planvolle Komposition aus bereits bestehenden Psalmengruppen vorstellen muss. 4.3.2 Die Doxologien und der Kolophon Die vier Doxologien am Ende von Ps 41; 72; 89; 106 und der bezeichnenderweise nach der Doxologie in Ps 72,18 f. erst in v.20 anschließende Kolophon, der das Ende der Gebete Davids markiert, sind in Kap. 3 bereits erörtert worden. Hier soll lediglich auf die mit diesen Elementen verbundenen redaktionsgeschichtlichen Fragen hingewiesen werden. Zunächst hat der Kolophon nicht nur einfach eine abschließende Funktion, wenn er das Ende der Gebete Davids angibt, sondern verweist implizit auch darauf, dass nun andere Gebete folgen. Damit ist er eine Notiz, die redaktionsgeschichtlich bereits auf eine Zusammenstellung von Davidpsalmen – also wohl dem 2. Davidpsalter (Ps 51–72) – mit den folgenden Asafpsalmen (Ps 73–83) hinweist. Auf der Ebene des fertigen Psalmenbuchs verweist der Kolophon nicht nur auf den zweiten, sondern auch auf den ersten Davidpsalter, also auf Ps 3–41; 51–72. Vergleichbar dem Elohistischen Psalter, der sich über zwei Psalmenbücher erstreckt, wird auch hier deutlich, dass der Kolophon gewissermaßen eine höhere Gliederungsebene anzeigt als die Doxologien mit ihrer Fünfteilung des Psalters. Gleichzeitig

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4. Entstehungsgeschichtliche Fragen

zeigt die Tatsache, dass auch Ps 86; 101; 103; 108–110; 124; 138–145 in den Überschriften David zugeschrieben werden, dass die Davidisierung von Psalmen mit der Einfügung des Kolophons in Ps 72,20 noch nicht abgeschlossen war, sondern einen mit der Redaktionsgeschichte des Psalters bis zu einem gewissen Grad verbundenen Prozess darstellt, der schließlich darin mündet, dass David wie dann später im Midrasch Tehillim als Autor aller biblischen Psalmen behandelt wird. Diese Tendenz ist aber schon viel früher nachweisbar. Im Neuen Testament wird David in Apg 4,25 f. wie selbstverständlich ein Zitat aus dem überschriftlosen Ps 2 in den Mund gelegt. In Qumran konnten ihm über die Psalmen hinaus eine große Zahl weiterer Lieder zugeschrieben werden: Die große Psalmenrolle aus Höhle 11 nennt ihn als Autor von insgesamt 4050 Psalmen und Liedern.5 Wenn nach Ps 72 noch einige Einzelpsalmen oder sogar kleine Psalmengruppen das „von/für David“ (dwdl ledawid) in der Überschrift führen, so zeigt sich hier auch in der späten Redaktionsgeschichte des Psalmenbuchs dieser fortschreitende Prozess der Davidisierung. Einerseits knüpfen diese Psalmen daran an, dass sich David in den Ps 3–41; 51–72 als der Vorbeter der Psalmen par excellence erwiesen hat. Andererseits gelingt es ihnen nicht mehr, sich in gleicher Weise in die bewegte Biographie dieses Königs und Flüchtlings, Musikers und Bandenchefs, leidenschaftlichen Gottesverehrers und Schurken einzuschreiben. In der späteren Rezeption wurde die Davidisierung der Psalmen mit der Fünfteilung des Psalters durch die Doxologien zusammengesehen, wenn David etwa im Midrasch Tehillim als Urheber der fünf Bücher des Psalters mit Mose als Urheber der fünf Bücher der Tora parallelisiert wird (s. o. Kap. 3). Für die Redaktionsgeschichte des biblischen Psalmenbuchs handelt es sich dagegen um zwei Phänomene, die getrennt voneinander zu behandeln sind. Auf die Frage, wann die einzelnen Doxologien an ihre jetzige Stelle gesetzt worden sind, sind unterschiedliche Antworten denkbar. So wird etwa für die am breitesten angelegte Doxologie in Ps 72,18 f. diskutiert, ob sie schon ursprünglich zu Ps 72 gehört haben könnte, ob sie erst im Zuge der Zusammenstellung der Ps 2–89 zusammen mit den Doxologien von Ps 41; 89 als Strukturmarker eingefügt wurde oder ob gar alle vier Doxologien erst auf eine ganz späte Redaktion zurückgehen – was allerdings wenig wahrscheinlich ist. Wichtig ist an dieser Stelle, dass redaktionsgeschichtliche Entwürfe sich mit solchen Überlagerungen der Zäsuren, die sich auf der Ebene des Gesamtpsalters finden, auseinandersetzen und die damit verbundenen Beobachtungen erklären können müssen.

4.3 Strukturbeobachtungen zur Entstehung des Psalmenbuchs

77

4.3.3 Die Hauptzäsur nach Ps 89 Bereits im vorangehenden Kapitel hat sich der Übergang vom dritten zum vierten Psalmenbuch, also von Ps 89 zu Ps 90, als Hauptzäsur des Psalters auf der Ebene des Endtextes erwiesen. Menge und Gestalt der Überschriften verändern sich ebenso wie die „Tonlage“, die sich von einem stärkeren Akzent auf Klagegebeten nun in Richtung Lob verschiebt. In diesem Kapitel ist hinzuzufügen, dass an dieser Stelle auch redaktionsgeschichtlich die tiefste erkennbare Zäsur zu liegen scheint. Auch wenn wieder unterschiedliche Antworten auf die Detailfragen diskutiert werden, so ist doch ein recht weit verbreiteter Konsens, dass der Elohistische Psalter (Ps 42–83) – wann und in wie vielen Einzelschritten auch immer – mit dem 1. Davidpsalter (Ps 3–41) und der 2. Korachitersammlung (Ps 84–88; noch ohne den Davidpsalm Ps 86) zusammengestellt und durch Ps 2*; 89 zum sogenannten „Messianischen Psalter“ gerahmt wurde (vgl. dazu die Übersicht am Ende des Buches). Das würde bedeuten, dass einmal eine schon relativ umfangreiche Psalmensammlung mit den Ps 88; 89 geendet hat. Thematisch ist das ein herausforderndes Ende: Ps 88 ist die erschütternde Klage eines Menschen, der angesichts des nahen Todes Gott nicht als Retter erfährt, und Ps 89 beklagt den Untergang der judäischen Monarchie mit dem Exil und fasst das als Bundesbruch von Gottes Seite auf. Die dann anschließenden Psalmen des vierten und fünften Psalmenbuchs reagieren auf diese Problemlage einerseits mit Psalmen, die sehr grundsätzlich die Anthropologie und die menschliche Vergänglichkeit thematisieren. Andererseits wird nun das universale Königtum JHWHs breit entfaltet. Alle hier genannten Beobachtungen lassen sich mit der „Faustregel“ vereinbaren, dass die älteren Sammlungen – und damit tendenziell auch die älteren Psalmen – eher im vorderen Teil des Psalters, die jüngeren eher am Ende zu suchen sind, dass also die Redaktionsgeschichte des biblischen Psalmenbuchs tendenziell von vorne nach hinten verläuft. Gleichzeitig kann die einfache Vorstellung, das Psalmenbuch sei entstanden, indem an einen Grundbestand immer mehr Psalmen hinten angefügt worden sind, dem komplexen Befund nicht gerecht werden. Das ist einerseits schon bei den Überlegungen zum Elohistischen Psalter deutlich geworden. Man könnte aber auch auf Beispiele wie Ps 9/10 verweisen. Die beiden Psalmen stellen zusammengenommen einen durchgehenden Alphabetpsalm, ein alphabetisches Akrostichon, dar. Entsprechend der „Faustregel“ müsste es sich um einen alten Psalm handeln. Theologisch ist der Psalm ge-

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4. Entstehungsgeschichtliche Fragen

prägt von den Themen (soziale und religiöse) Armut und der Königsherrschaft Gottes. Beide Themen lassen sich in den Psalmen vielfach antreffen und in ihrer Entwicklung gut nachzeichnen. Nach diesem religionsgeschichtlichen Befund müsste es sich dann allerdings um einen sehr jungen Psalm aus hellenistischer Zeit handeln. Dem entsprechen auch Beobachtungen, die man zu seiner Vernetzung in der ihn umgebenden Psalmengruppe Ps 3–14 machen kann und die dafür sprechen, dass der Psalm erst nachträglich in diese Gruppe eingebaut worden ist.

5. Eine kleine Biblia: Die theologische Bedeutung des Psalmenbuchs 



Einerseits ist das Psalmenbuch ein biblisches Buch wie alle anderen auch, andererseits nimmt es eine Sonderstellung ein. Die Sonderstellung entsteht zunächst dadurch, dass die Psalmen nicht nur als Bibeltexte den Gläubigen gegenüber stehen, sondern auch zu ihren Gebeten werden. Sie sind nicht nur „Wort Gottes“ an uns, sondern auch „Antwort an Gott“. Die Vielfalt der in den 150 Psalmen anzutreffenden theologischen und anthropologischen Themen macht das Psalmenbuch dann auch zu so etwas wie einem bibeltheologischen Kompendium. Schon bei der Übersetzung ins Griechische, aber auch im rabbinischen Judentum und dem frühen Christentum spielt daher die Funktion des Psalters als Meditations- und Lesebuch der ‚privaten‘ Frömmigkeit eine große Rolle, aus der sich die starke Verwendung von Psalmen in der synagogalen Liturgie, der christlichen Tagzeitenliturgie und in der Messfeier entwickelt hat. Im Christentum hat schon früh eine Christologisierung des Psalmengebets stattgefunden, die neben die Wahrnehmung der anthropologischen und theologischen Aspekte tritt, sie aber nicht verdrängt. 



5.1 Das Psalmenbuch als biblisches Buch Für die christliche Bibel aus Altem und Neuem Testament gilt genauso wie schon für die Hebräische Bibel, die Judentum und Christentum verbindet: Einerseits steht die Bibel der Religionsgemeinschaft, in der sie als Heilige Schrift überliefert wird, als eine Ganzheit, als ein Buch gegenüber, andererseits besteht dieses eine Buch aus vielen, sehr unterschiedlichen Schriften. „Die Bibel“ ist also gleichzeitig die Bezeichnung einer ganzen Bibliothek. Die Einzelschriften können einerseits als Bücher für sich gelesen werden, und ihre Eigenheiten unterstreichen oft die Berechtigung dieser Leseweise. Andererseits entfalten sie ihre Eigenschaft, „biblische“ Bücher zu sein, in einem umfassenderen Sinn, wenn sie mit Bezug auf die anderen Bücher dieser Bibliothek gelesen werden und so theologische Linien, Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennbar werden, ja gewissermaßen ein

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5. Die theologische Bedeutung des Psalmenbuchs

Dialog der vielen Stimmen im Kanon der Heiligen Schrift entsteht. Zum Teil ist ein solcher Dialog von den Verfassern und Redaktoren insofern initiiert, als sie hier und da bewusst auf andere biblische Texte anspielen, sie aktualisierend weiterentwickeln oder auch regelrechte Gegenentwürfe schreiben. Aber hatten sie schon im Blick, dass „ihr“ Text einmal in einem Buch mit dem „Gegentext“ stehen würde? Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen werden unterschiedlich ausfallen. Zu einem anderen Teil aber entsteht dieser Dialog auch erst durch den Lesevorgang, wenn Leserinnen und Leser Anknüpfungspunkte und theologische Linien zwischen Texten entdecken und entlang dieser Linien weiterdenken. Wenn in der wissenschaftlichen Literatur auf solche dialogischen Aspekte unter dem Stichwort Intertextualität hingewiesen wird, so handelt es sich also nicht in jedem Fall um etwas, das ein Autor oder Redaktor bewusst in den Text hineingeschrieben hätte, sondern zunächst um Ergebnisse der Auslegung, der theologischen Arbeit der Exegetinnen und Exegeten. Dabei mag vielleicht die eine Stichwortverbindung „nichtssagend“ bleiben, während eine andere beim Lesen zu „sprechen“ beginnt, so dass es zu theologischen Brückenschlägen, zu einem „Zusammenlesen“ kommt. Dabei können auch Dialoge entstehen, die kontrovers oder zumindest „mehrstimmig“ sind. Es ist also bedeutsam, dass die einzelnen biblischen Bücher oft aus unterschiedlichen Stücken entstanden sind, dass manche Bücher wieder zu Buchgruppen und diese schließlich in den Religionsgemeinschaften jeweils anders zu ihrer heiligen Schrift zusammengestellt wurden. Auf allen Ebenen kommt es so zu einer Vielstimmigkeit, die auf Dialog angelegt ist. Das Psalmenbuch ist zunächst eines unter diesen biblischen Büchern. Es teilt seine poetischen Eigenschaften besonders mit den Büchern Ijob und Sprichwörter, aber auch mit vielen Passagen in anderen Büchern. Darüber hinaus gibt es theologische Verbindungen mancher Psalmen etwa zu Jes 40–55 oder auch zum Pentateuch. Ps 18 wird in 2 Sam 22 zitiert, der Psalm in 1 Chr 16,7–36 setzt sich aus Ps 105,1– 15; 96; 106,47 f. zusammen. Es nimmt also an dem vielstimmigen Dialog der Bibel teil. Im Neuen Testament wird aus dem Psalmenbuch in ähnlicher Weise zitiert wie etwa aus einem Prophetenbuch. 5.2 Das Psalmenbuch als Ausnahme Und doch ist auch innerhalb der vielgestaltigen biblischen Bibliothek das Psalmenbuch eine Ausnahmeerscheinung, der in der Ausle-

5.3 Der Psalter als umfassendes theologisches Buch

81

gung immer eine besondere Rolle zugedacht worden ist. Das hängt zunächst mit dem Gebrauch zusammen. Einerseits sind die Einzelpsalmen Texte, die die Religionsgemeinschaft ihren Mitgliedern als kanonische Texte zu Lektüre und Meditation empfiehlt. Als solche stehen sie der Gemeinschaft gegenüber und dienen der religiösen Orientierung. Andererseits sind die Psalmen Gebete, die nachgesprochen und meditiert werden können, die man sich zu eigen machen kann und die so zur Stimme der einzelnen Glaubenden und damit zur Stimme der Religionsgemeinschaft selbst gegenüber ihrem Gott werden. Die Psalmen sind demnach Texte der persönlichen und der öffentlichen Liturgie wie andere Gebete oder Gesänge auch. Besonders über regelmäßig wiederkehrende Gebetsformulare im Judentum und die Tagzeitenliturgie im Christentum erreichen sie eine enorme Verbreitung. Gleichzeitig bleiben sie Texte der Heiligen Schrift. Sie sind gewissermaßen als kanonische Texte „Wort Gottes“ und gleichzeitig als Gebete „Antwort an Gott“. Über diese funktionelle Eigenart hinaus hat die Einzigartigkeit des Psalmenbuchs aber auch eine thematische Seite. Sie besteht einerseits in der großen Bandbreite und Verschiedenartigkeit an theologischen Entwürfen und Vorstellungen, die man hier wegen der Vielfalt der Einzelpsalmen antrifft, und andererseits in einem großen Reichtum an anthropologischen Überlegungen, besonders, aber nicht nur in den Individualpsalmen. In diesem kurzen Kapitel soll dementsprechend die Auslegungstradition zu Wort kommen, die im Psalmenbuch ein umfassendes theologisches Buch sieht und so seine Sonderstellung unter den biblischen Schriften betont, bevor einige Aspekte des Psalmengebets vorgestellt werden. Die beiden folgenden Kapitel werden dann einige anthropologische Themen und theologische Schwerpunkte der Psalmen in den Blick nehmen und diese an Beispielpsalmen erläutern. 5.3 Der Psalter als umfassendes theologisches Buch in der christlichen Rezeption In Kapitel 3 wurde die Fünfteilung des Psalmenbuchs besprochen. Die Parallelisierung der fünf Bücher Davids im Psalter mit den fünf Büchern des Mose, der Tora, wie sie zu Beginn des PsalmenMidrasch breit ausformuliert wird, ist bereits ein Hinweis auf das große theologische Gewicht, das dem Psalmenbuch in der jüdischen Tradition zuerkannt wird. Die Alte Kirche konnte hier anknüpfen.

82

5. Die theologische Bedeutung des Psalmenbuchs

Ein einflussreicher Text, der dies besonders deutlich macht, ist der Brief des Athanasius von Alexandrien (295–373) an Marcellinus.1 Zu Beginn des Briefs wird die Sonderstellung des Psalmenbuchs programmatisch umschrieben, indem zunächst der Inhalt des Pentateuchs, der geschichtlichen und der prophetischen Bücher kurz rekapituliert wird, um dann anzuschließen: „Anders der Psalter, wie ein Garten trägt er in sich die Früchte auch aller übrigen Bücher der Heiligen Schrift und macht sie zu Liedern, sein Gesang enthält zugleich Fremdes und Eigenes.“2 Diese Eigenschaft, die ganze restliche Bibel zu reflektieren – die Bücher des Alten Testaments durch Rückverweise, die Hauptanliegen des Neuen Testaments durch prophetische Vorverweise – wird dann mit vielen Beispielen belegt. Athanasius betont neben diesen theologischen Eigenheiten aber auch die besonderen anthropologischen Qualitäten des Psalmenbuchs: „Ich jedenfalls bin der Ansicht, daß in den Worten dieses Buches das ganze menschliche Leben, sowohl die geistlichen Grundhaltungen als auch die jeweiligen Regungen und Gedanken, umfaßt und enthalten sind. Nichts kann darüber hinaus im Menschen gefunden werden.“3 Die hier zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung des Psalmenbuchs hat viele Nachfolger gefunden. Was hier angesprochen wird, bezieht sich immer wieder auf den existentiellen Vollzug der Psalmenmeditation, also auf das Angesprochen-Sein durch den selbst gelesenen oder gesungenen Text des Psalmenbuchs. Es gibt daher Ansätze, die das – aus Papier und Buchstaben bestehende – Psalmenbuch vom – leise gemurmelten oder laut gesungenen, also als Klangereignis existierenden – Psalter unterscheiden.4 Martin Luther bringt seine Vorstellung einer Psalmentheologie entsprechend nicht nur auf den berühmten Satz, der Psalter sei eine kleine Bibel und Summe der ganzen,5 was sich bereits an Athanasius anlehnen kann, sondern verdichtet sie zu der Formel „,psalterium affectuum palaestra‘: Psalter als Übschule, Ringschule der Affekte“.6 Im Hintergrund steht hier die in der Frömmigkeit von Altertum und Mittelalter weit verbreitete Vorstellung vom Kampf der Seele, der Psychomachie. Vereinfacht und etwas salopp kann man sich das so vorstellen, dass der Mensch bzw. seine Seele sich immer wieder zu einem anständigen Leben „durchringen“ und so einen täglichen Kampf führen muss. Diese Vorstellung spielt z. B. auch bei der vormodernen Exegese kriegerischer Bibeltexte eine große Rolle, wenn etwa die Kriege Josuas oder der Makkabäer auf die Kämpfe der Seele hin allegorisch gedeutet werden. Der Psalter, also die (gesungene oder leise ge-

5.4 Die Psalmen als Gebete in Judentum und Christentum

83

murmelte) Meditation des Psalmenbuchs, ist dann die Turnhalle, in der der Mensch geistig und geistlich für diese Kämpfe trainiert, indem er sich von den Psalmen berühren und sich so mit den Affekten, den Gemütserregungen, die ihn dabei überrollen, auf eine Art Ringkampf einlässt. Was diese existentielle Funktion der Psalmen in den Worten heutiger Menschen bedeuten kann, mag ein Satz des Dichters Rainer Maria Rilke aus einem Brief an seinen Verleger beleuchten: „Ich habe die Nacht einsam hingebracht in mancher inneren Abrechnung und habe schließlich, beim Scheine meines noch einmal angezündeten Weihnachtsbaumes, die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein“.7 Die genannten Äußerungen bezeugen über die Jahrhunderte hinweg eine Lektüre des Psalmenbuches als Text, der die Leserinnen und Leser unmittelbar selbst betrifft. Möglich ist das nur, weil die Psalmen als einzelne Gedichte und in ihrer jetzigen Komposition im Psalmenbuch in solch umfassender Weise menschliche Erfahrungen ins Wort setzen. Anders ausgedrückt: Hier bestätigt sich gerade auch mit Blick auf den Menschen an sich und seine Glaubenserfahrungen, dass die Psalmen als poetische Texte auf Wiederverwendung angelegt sind und dass sie eben in der vorliegenden Auswahl und Zusammenstellung im Psalmenbuch eine hohe literarische Qualität und eine umfassende Themenbreite erreichen. Über den formalen kanonischen Status kommen so dem Psalmenbuch auch Eigenschaften eines maßgeblichen Kompendiums religiöser Lyrik, also eines literarischen „Klassikers“ zu. 5.4 Die Psalmen als Gebete in Judentum und Christentum Die Rekonstruktion der Verwendung von Psalmen in der Liturgie des frühen Judentums und Christentums ist nicht ganz einfach, weil die zur Verfügung stehenden Quellen in diesen Fragen lückenhaft sind. Zunächst spricht Vieles dafür, dass die Psalmen in der persönlichen Frömmigkeit eine Rolle spielten und dass es Gruppierungen im Judentum gab, auf die das ganz besonders zutraf. Die weite Verbreitung von Psalmenmanuskripten unter den Textfunden in Qumran, wie auch die Menge der Psalmenzitate im Neuen Testament – sie machen gut ein Drittel aller Zitate aus dem Alten Testament aus

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5. Die theologische Bedeutung des Psalmenbuchs

– weisen immerhin in die Richtung, dass die Psalmen weit verbreitet und entsprechend bekannt waren. Für die Zeit um 100 n. Chr. kann man auf den Vater der sieben makkabäischen Märtyrerbrüder verweisen, der von seiner Witwe mit folgenden Worten als idealer Vater beschrieben wird (4 Makk 18,10 f.,15; Septuaginta Deutsch): 10

Als er noch unter euch war, lehrte er euch das Gesetz und die Propheten. 11Er las euch vor: Abels Ermordung durch Kain und Isaaks Opferung ... [es folgt eine Reihe von weiteren Bibelstellen zum Thema Leid und Rettung] 15Er sang euch Lieder des Psalmendichters David, der da sagt: Zahlreich sind die Bedrängnisse der Gerechten.

Demnach gehörte immerhin in bestimmten frommen Kreisen der Gesang – nicht einfach nur die Lesung – der Psalmen zum religiösen Familienleben. Es ist außerdem bemerkenswert, dass im frühen Christentum zwar nach dem Vorbild der Hebräischen Bibel einige poetische Texte in neutestamentliche Schriften integriert wurden. Beispiele wären Magnificat, Benedictus und Nunc dimittis im Lukasevangelium oder die Christus-Hymnen im Corpus Paulinum. Aber es hat keine kanonisierte neue Sammlung von „Psalmen“ gegeben. So rät auch die syrische Didaskalie (christliche Gemeindeordnung, 3. Jh. n. Chr.) im Blick auf die Literaturauswahl für den Frommen: „Und wenn du Hymnen begehrst, so hast du die Psalmen Davids.“8 Dieser ‚private‘ Aspekt der Psalmenfrömmigkeit ist gut vereinbar mit der in den letzten Jahren von der Psalterexegese herausgearbeiteten Funktion des Psalmenbuchs. Erich Zenger hat sie einmal etwas überspitzt so beschrieben: Nach Meinung der den ganzen Psalter redaktionell prägenden weisheitlichen Theologie ist der Psalter selbst das Heiligtum, in dem Gott gesucht und gelobt werden soll und von dem Gottes Segen und Rettung ausgehen können. [...] Als Abschnitte des Psalters [...] erhalten die Einzelpsalmen neue theologische Dignität, die sie aus den übrigen Elementen privater Frömmigkeit herausheben: Diese Gebete sind Einübung der Tora; wer sie rezitiert, hält die Welt- und Lebensordnung des Gottes Israels, der der Gott der ganzen Erde ist, lebendig. Psalmenrezitation ist Dienst am und im kommenden Gottesreich. Wer die Psalmen ‚privat‘ rezitiert, tut dies doch nicht ‚privat‘: Er reiht sich ein in die ‚liturgische‘ Gemeinschaft der Psalmenbeter mit ‚David‘ als ihrem Vorbeter – wo auch immer diese Psalmen aktuell gebetet werden mögen. Und zugleich gilt: Diesen Texten wohnt buchstäblich die rettende, schützende, tröstende und vergebende Gegenwart Gottes inne.

5.3 Die Psalmen als Gebete in Judentum und Christentum

85

Man kann dies gut mit den Worten von Ps 22,4 zusammenfassen: ‚Du bist heilig / der Heilige, du thronst auf den Psalmen Israels‘9

Offenbar war es die Verankerung des Psalmengebets in der privaten Frömmigkeit und dann christlicherseits im frühen Mönchtum, die in parallelen Entwicklungen dazu geführt hat, dass die Psalmen einerseits in der synagogalen Liturgie und andererseits im christlichen Gottesdienst langsam ihren festen Platz bekamen und bis heute Judentum und Christentum verbinden. Eine schwer zu klärende Frage ist, ob die Übersetzung des Psalmenbuchs ins Griechische, die Psalmen-Septuaginta, einen liturgischen Hintergrund hatte, wie dies lange vermutet wurde, oder nicht. Über die Psalmenverwendung zur Zeit der Übersetzung – vermutlich gegen Ende des 2. Jh. v. Chr. – wissen wir kaum etwas. Man kann mit Hinweis auf die Chronikbücher vermuten, dass einzelne Psalmen auch bei den Opfern und Festen am Tempel eine Rolle spielten. Die Mischna bietet eine Zuordnung von sieben Psalmen zu den Wochentagen für die täglichen Opfer am Tempel (mTamid 7,4). In der Septuaginta findet sich ein Teil dieser Zuordnungen über den hebräischen Text hinausgehend ebenfalls. Hier ist kaum zu unterscheiden, wo eine Erinnerung an eine historische Praxis vorliegt und wo die spätere theologische Konstruktion sich in den Texten und ihrer Entwicklung niedergeschlagen hat.10 Für die Septuaginta erscheint es jedenfalls gegenüber der kaum zu belegenden LiturgieThese die plausiblere Annahme zu sein, dass die Funktion der Übersetzung die eines ‚privaten‘ Meditations- oder Lesebuches war. Die Übersetzung ist in weiten Teilen sehr nah am hebräischen Text und setzt auch offensichtlich eine hebräische Vorlage voraus, die dem Konsonantenbestand des masoretischen Textes sehr ähnlich gewesen sein muss. Die Forschungen der vergangenen Jahre haben aber gezeigt, dass das Ergebnis des Übersetzungsvorgangs doch einen eigenen Text mit eigenen Systemen von Bezugnahmen und damit kleinen, aber bemerkenswerten Verschiebungen darstellt. Es lohnt sich, diesen Text für sich genommen zu untersuchen und ihn nicht nur – wie das zuvor lange passiert ist – im Rahmen der Textkritik am hebräischen Text punktuell hinzuzuziehen. Für die Alte Kirche war es eine wichtige Frage, wie man die Psalmen in einer spezifisch christlichen Weise beten, also den Psalter ‚christologisieren‘ konnte.11 Dabei war ein wichtiger, schon mit Apg 2,25–32 im Neuen Testament zu findender Anker, dass David

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5. Die theologische Bedeutung des Psalmenbuchs

als ‚gesalbter‘ König der Archetyp des Messias, des Christus, und Sprecher der Psalmen ist. In dieser Typologie sind die Psalmen von ihrem Sprecher her also vox Christi ad Patrem – die an den Vater gerichtete Stimme Christi. Das deckt sich wiederum mit den Evangelien, in denen es heißt, dass der irdische Jesus Psalmen gebetet hat – ein Beispiel wäre das Zitat von Ps 22,2 in der Golgota-Szene Mt 27,46; Mk 15,34. Wenn Christen daher Psalmen beten, tun sie es zusammen mit Christus selbst. Die Formel, in den Psalmen höre man vox Christi ad Patrem, könnte man also erweitern zu der Aussage, man höre vox ecclesiae cum Christo – die Stimme der Kirche mit Christus (zum Vater). Eine weitere Richtung in der kirchlichen Lektüre der Psalmen ist, in ihnen Aussagen über den Messias zu finden. Der Verweis in Apg 2,25–32 auf Ps 16 im Zusammenhang mit der Auferweckung Jesu ist hier ein Beispiel. Das Psalmengebet ist dann vox ecclesiae de Christo – Stimme der Kirche über den Christus. Wenn man in diesem Sinne den Einsatz von Psalmen im Zusammenhang von christlichen Festen untersucht, wird deutlich, wie sehr die Neukontextualisierung die wechselseitige Interpretation bestimmt und verändert. Ein Beispiel wäre die traditionelle Verwendung von Ps 47 in der Messfeier und der Tagzeitenliturgie am Fest Christi Himmelfahrt. Der Schlüssel zum Verstehen ist hier v.6: „Gott stieg auf unter Jauchzen, JHWH beim Klang des Schofarhorns“. Der Weg führt hier über die griechische und lateinische Übersetzung, wo der Gottesname JHWH als kyrios bzw. dominus („Herr“) wiedergegeben wird, so dass der Vers auf den „Herrn“ als Hoheitstitel Christi hin durchsichtig wird. Wird hier einerseits der Psalm massiv umgedeutet, so erhält auch das Festgeheimnis eine zusätzliche Dimension: Der aufsteigende „Herr“ wird nach dem Psalm durch diesen Vorgang als König eingesetzt. Das ist eine Dimension, die etwa in Lk 24,50–52; Apg 1,6–12 fehlt. Eine weitere – auch in der patristischen Exegese seltene – Perspektive ist mehrfach problematisch: Psalmengebet als vox ecclesiae ad Christum – als Stimme der Kirche zu Christus. Bereits Origenes hat hier eingewandt, dass man nicht zu dem beten dürfe, der selbst betet.12 Das Christentum hat an dieser Stelle die Aufgabe, auch in der Liturgie trinitätstheologisch sehr sorgfältig zu agieren und Fehlentwicklungen zu beseitigen, wenn etwa der christliche Monotheismus gefährdet ist. Ein Blick auf die alte römische Liturgie und auf die liturgische Erneuerung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil könnte hier zu einer größeren Präzision führen. Christliches Gebet

5.4 Die Psalmen als Gebete in Judentum und Christentum

87

richtet sich demnach an den Vater durch den Sohn im Heiligen Geist.13 Gegenüber dieser Christologisierung in der frühen Kirche betonte Augustinus auch die anthropologische Dimension – gewissermaßen die Konstante des Gläubigen über die Zeiten hinweg – beim Psalmengebet: Jener eine, allerorten gegenwärtige Mensch, dessen Haupt droben ist, dessen Glieder hienieden sind: seine Stimme, die einmal jubelt und einmal klagt, die einmal sich schon freut in der Hoffnung auf das Kommende, das andere Mal noch stöhnt über das Gegenwärtige, diese Stimme muß uns altbekannt und wohlvertraut in allen Psalmen erklingen, und zwar als unsere eigene Stimme.14

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die heutige Verwendung der Psalmen in der katholischen Liturgie – das ist v. a. der Antwortpsalm in der Messfeier und die Tagzeitenliturgie – und in der ‚privaten‘ Meditation über eine Tradition seit den Anfängen des Christentums verfügt. Der wichtigste Grund aber, warum die ‚alttestamentlichen‘ oder ‚jüdischen‘ Psalmen im vollen Sinn christliches Gebet sind, ist, dass sie sich an den Einen und selben Gott wenden, von dem das Alte Testament spricht, zu dem Jesus von Nazareth als seinem Vater gebetet hat und den das Christentum verehrt.

6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen 



Das Psalmenbuch gehört zu den wichtigsten biblischen Büchern, wenn es um anthropologische Fragen geht. Besonders in den Psalmen eines einzelnen Beters oder einer einzelnen Beterin wird viel davon deutlich, wie das Alte Testament von Leben und Tod, von Körperlichkeit und Sozialität, von Anfeindung, Gefahr und Not, aber auch von Rettung, Vertrauen und Freude spricht. Um diese Dimensionen der Psalmen sachgemäß deuten zu können, müssen die kulturellen Unterschiede gegenüber unserer heutigen Denkweise beachtet werden. Daher ist es nötig, die biblische Redeweise von menschlichen Körperteilen und Emotionen zu verstehen und sich klar zu machen, welche Vorstellung die Texte davon hatten, was einen Menschen als Person konstituiert und in vollem Maß lebendig macht. 

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Wenn es richtig ist, dass in den Psalmen Menschen ihr Leben als Einzelne und als Gruppe in allen Höhen und Tiefen vor Gott zur Sprache bringen, dann kann es gar nicht ausbleiben, dass hier auch über den Menschen an sich nachgedacht wird. Das geschieht freilich nicht in einem abstrakten, philosophisch-systematischen Sinn, sondern situationsgebunden. Trotzdem – oder gerade deshalb? – leistet das Psalmenbuch neben den Schöpfungserzählungen, manchen Prophetentexten und dem Ijobbuch einen großen und wichtigen Beitrag zu einer biblischen Anthropologie aus alttestamentlicher Perspektive, wie gerade die jüngere Forschung deutlich aufgewiesen hat.1 Hier können nur die wichtigsten Aspekte an einigen Beispielen erläutert werden. Dazu ist es allerdings notwendig, sich klar zu machen, dass immer wenn Menschen über ihr eigenes Menschsein nachdenken, sie das in einer bestimmten Kultur tun, in der sie selbst verwurzelt sind und aus der heraus sie die Wirklichkeit und damit auch sich selbst verstehen. Gerade anthropologische Aussagen sind einerseits also kulturell gebunden und können – zumindest in einem ersten Schritt – nur innerhalb der betreffenden Kultur beschrieben werden. Andererseits gibt es fraglos Gemeinsamkeiten über alle zeitlichen und kulturellen

6.1 Biblisch-anthropologische Sprachlehre

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Grenzen hinweg. Beim Psalmengebet zeigen uns diese Gemeinsamkeiten, dass die Dichterinnen und Dichter und die ersten Beterinnen und Beter der Psalmen genauso Menschen waren, wie wir es heute sind. So wissen etwa alle Menschen um ihre Sterblichkeit. Umgekehrt – und das ist eben sehr wichtig! – hat dieses Wissen in den verschiedenen Kulturen zu sehr unterschiedlichen Deutungen und Konsequenzen für das Selbstverständnis der Menschen geführt. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass wir zunächst danach fragen müssen, welche kulturellen Besonderheiten die Rede vom Menschen im Alten Testament und speziell in den Psalmen aufweist, bevor dann einige Beispiele besprochen werden können. Im Wesentlichen gibt es drei Bereiche von kulturellen Unterschieden gegenüber unserer heutigen Denkweise, die für ein Verständnis anthropologischer Aussagen in den Psalmen von großer Bedeutung sind. Der erste Bereich betrifft die Art und Weise, wie von menschlichen Körperteilen gesprochen werden kann. Die Körperteile können im Alten Testament so verwendet werden, dass sie jeweils den ganzen Menschen unter einem bestimmten Aspekt ansprechen. Es geht hier, wie Hans Walter Wolff es genannt hat, um eine „anthropologische Sprachlehre“. Beim zweiten Bereich geht es um die Frage, wie in den Texten vom Menschen als einer Person gesprochen werden kann. Mit Bernd Janowski kann man hier von einem „konstellativen Personbegriff“ sprechen. Im dritten Bereich ist schließlich besonders mit Andreas Wagner festzuhalten, dass die Rede von Emotionen im Alten Testament – und so auch in den Psalmen – sich einer anderen Metaphorik bedient, als wir sie im neuzeitlichen Europa verwenden.2 6.1 Biblisch-anthropologische Sprachlehre Hans Walter Wolff beginnt seine zum Klassiker gewordene „Anthropologie des Alten Testaments“ mit einer Sprachlehre. Die Einsicht, die ihn zu diesem Schritt bewegt, ist das grundlegende Missverständnis, das sich durch die gängige Übersetzung der wichtigsten anthropologischen Wörter der Hebräischen Bibel mit „Herz“, „Seele“, „Fleisch“ und „Geist“ ergibt. Für heutige Leserinnen und Leser solcher Übersetzungen, deren Denken geistesgeschichtlich von Vorstellungen der Leib-Seele-Trennung aus der griechischen Philosophie – bewusst oder unbewusst – geprägt ist, entsteht so der Eindruck, dass Körper, Geist und Seele unterschiedliche Bestandteile seien, aus denen der Mensch aufgebaut sei. Diese Vorstellung trifft aber für die

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6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

Psalmen – und auch generell für das Alte Testament – nicht zu. Wenn vom Menschen die Rede ist, dominiert vielmehr das Moment der Einheit und Ganzheit. So hat bereits Wolff festgehalten: „Begriffe wie Herz, Seele, Fleisch, Geist, aber auch Ohr und Mund, Hand und Arm sind in der hebräischen Dichtung nicht selten untereinander austauschbar. Im Parallelismus der Glieder [d. h. im parallelismus membrorum; J. S.] können sie wechselweise fast wie Pronomina für den ganzen Menschen stehen.“3 Die Ganzheit des Menschen wird also durch das Nebeneinanderstellen einzelner Aspekte und wiederum auch durch jeden Aspekt für sich dargestellt. Hinzu kommt eine zweite Besonderheit bei der Verwendung der Ausdrücke für die Glieder und Organe des Körpers: „Es ist das synthetische Denken, das mit der Nennung eines Körperteils dessen Funktion meint.“4 Ein Beispiel für diese beiden Dimensionen ist Ps 18,34, der über Gott sagt: der meine Füße gleich macht wie Hirschkühe / und mich auf meinen Anhöhen stehen lässt.

Zunächst zeigt der Parallelismus, dass der Ausdruck „Meine Füße“ im ersten Halbvers im zweiten Halbvers durch das Personalpronomen „mich“ aufgegriffen wird. Da es sich hier um einen synonymen Parallelismus handelt, werden die beiden Ausdrücke also offenbar gleichgesetzt. „Meine Füße“ steht damit hier für den ganzen Menschen! Dann meint im Sinne des „synthetischen Denkens“ der Vergleich mit den Hirschkühen nicht die Füße selbst, sondern ihre Funktion: das Stehen, Schreiten oder Laufen. Beim Gedanken an die Hirschkuh ist eine lange – und prinzipiell unabgeschlossene – Reihe von Assoziationen denkbar: Es kann ein souveränes Einherschreiten (im Zusammenhang: des kampfbereiten oder siegreichen Königs, der im Psalm spricht) genauso angesprochen sein wie Schnelligkeit, Ausdauer, Sprungkraft oder auch Leichtigkeit und Eleganz des Laufens. Der zweite Halbvers bietet dabei semantisch nicht nur eine synonyme Parallele – Gott tut mir dieses und jenes Gute –, sondern knüpft durch das Verb „stehen“ nochmals anders an die Funktionalität der Füße im ersten Halbvers an: Das Schreiten/Laufen bekommt mit dem Stehen „auf meinen Anhöhen“ ein Ziel, eine positive Richtung. Es ist wie alles im Kontext des Verses erfolgreich, so dass denkbare negative Assoziationen – etwa die Hirschkuh als ein zwar schnelles, aber auch verletzliches und auf der Jagd zu Tode gehetztes Tier – völlig ausgeschlossen werden.

6.1 Biblisch-anthropologische Sprachlehre

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In diesem Sinn lassen sich in Anlehnung an die „Sprachlehre“ Wolffs einige anthropologisch relevante Substantive mit ihren Bedeutungsspektren auflisten. Um diese Liste auch für Leserinnen und Leser benutzbar zu machen, die kein Hebräisch gelernt haben, orientiere ich mich dabei an den traditionellen Standardübersetzungen des betreffenden Wortes in den deutschen Bibelübersetzungen, auch wenn sich zeigen wird, dass diese oft zu missverständlichen Ergebnissen führen. Diesem Stichwort folgt das hebräische Wort, um das es geht, mit einer vereinfachten Umschrift. 6.1.1 „Seele“/„Leben“ (vpn næpæš) Næpæš (gesprochen næfæsch) ist eines der wichtigsten Wörter, wenn es um anthropologische Fragen geht.5 Es handelt sich an einigen Stellen um die Bezeichnung eines Körperteils und zwar der Kehle. Dabei geht es meist um die zentralen Lebensvollzüge, die sich im Inneren der Kehle abspielen, wie z. B. in Ps 107,5.9 (vgl. auch v.18) wo næpæš im Zusammenhang von Hunger, Durst, Sättigung und Nahrungsaufnahme steht. Andere Stellen betonen die Funktion der Atmung. Gerade in den Psalmen erschließt der Zusammenhang von Kehle und Durst aber auch die Vorstellung, dass die næpæš der Sitz von heftigem Verlangen ist. Ein bekanntes Beispiel ist Ps 42,2 f.: 2 3

Wie eine Hirschkuh verlangt nach Wasserbächen / so verlangt meine næpæš nach dir, Gott. Es war durstig meine næpæš nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich kommen / und erscheinen vor dem Angesicht Gottes?

Auch andere Emotionen oder „seelische“ Zustände wie Schrecken, Verzweiflung, Unruhe oder auch Trauer und Freude haben in der næpæš ihren Sitz, was sicher auch mit der Beobachtung zusammenhängt, dass Jubel und Schluchzen oder hektisches Atmen mit der Kehle zu tun haben. Die næpæš ist insgesamt Sitz von lebensnotwendigen Funktionen und kann daher auch „Leben“, „Lebendigkeit“ oder „Vitalität“ bedeuten. Es gibt viele Beispiele im Alten Testament, dass diese Bedeutung sich von der Vorstellung der Kehle völlig lösen und næpæš

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6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

das Leben in Menschen und Tieren bezeichnen kann. So kann es in Lev 17,11 heißen: „Das Leben (næpæš) des Fleisches, das ist das Blut“ (zur Bedeutung des Blutes s.u. zur „konstellativen Anthropologie“). Dabei bezeichnet næpæš nie eine Differenzierung innerhalb des ganzheitlich gedachten menschlichen Daseins, also etwa eine Größe, die gegenüber dem vergänglichen körperlichen Leben unzerstörbar wäre. Insofern ist die Übersetzung mit „Seele“ immer problematisch. Ebenso gibt es im Hebräischen andere Worte, wenn das Leben in einem allgemeinen Sinn oder die Lebenszeit gemeint ist: „So wie næpæš nicht einfach ‚Leben‘ heißt, sondern die Individuation von Leben meint, als welches es faktisch vorkommt […], so bezeichnet næpæš nicht die Seele als eine Nuance u. a., sondern die Seelenkraft, das Sprudeln von Personalität, die alle tristesse bannende Energie.“6 Über das bisher diskutierte Bedeutungsspektrum hinaus verweisen die Stellen, in denen næpæš offenbar „Person“ oder „Wesen“ bedeutet. Auch in der Standardbezeichnung für Lebewesen, „lebendige næpæš“, meint das Wort ein Individuum. Ein Beispiel für eine entsprechende, aus der biblischen Sprache abgeleitete Wendung im Deutschen ist die Rede von einem „900-Seelen-Dorf“. So ist es auch verständlich, dass næpæš gelegentlich in der Funktion des Personalpronomens verwendet werden kann. Das kann sogar so weit gehen, dass in Psalmen ein betendes Ich sich selbst zum Gotteslob ermuntert, indem es seine næpæš anspricht. Næpæš bekommt so eine reflexive Dimension. Ein Beispiel ist Ps 103,1: Preise/segne, meine næpæš, JHWH / und all mein Inneres seinen heiligen Namen

Der Psalmvers ist auch ein gutes Beispiel für die Bedeutungsbreite von næpæš, die bei einer solchen Formulierung eine ganze Reihe von Aspekten aufrufen kann. So könnte man etwa übersetzen: „Preise, meine Kehle, JHWH…“, was vielleicht bedeuten könnte: „Ich will ihm singen“, oder umfassender „Preise, mein Leben, JHWH…“ oder einfach „Ich will preisen JHWH…“. 6.1.2 „Wind“/„Atem“/„Geist“ (jwr ruach) Das Wort ruach ist im Allgemeinen einfach eine Bezeichnung für bewegte Luft und bedeutet daher sehr oft „Wind“, also eine natür-

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liche Wettererscheinung. Diese kann allerdings eine theologische Dimension bekommen, wenn der Wind als machtvolles Werkzeug Gottes betrachtet wird, mit dem dieser z. B. Schiffe zerstören kann (Ps 48,8). Aus der Bedeutung „bewegte Luft“ ergibt sich neben dieser meteorologischen auch eine biologische Verwendung des Wortes: Mit ruach kann auch die bewegte Atemluft, der Atem von Mensch und Tier bezeichnet werden. Das Wort kann parallel zu „Atem“/ „Lebensodem“ (hmvn neschama; Ijob 27,3), in Kombination damit (Gen 7,22) oder auch als Synonym (vgl. Ez 37,9 mit Gen 2,7) verwendet werden und wird so zu einem anthropologischen Begriff. Dabei ist ruach etwas, dessen Vorhandensein den Menschen lebendig macht bzw. dessen Auszug den Menschen sterben lässt (Ps 104,29 f.; 146,4). Insofern ergibt sich eine Parallele zur Verwendung von næpæš, wenn ruach ebenfalls als ein umfassender Ausdruck für das Leben, die Existenz des Betenden eingesetzt wird (Ps 31,6). Auch hier bekommt das Wort oft eine theologische Dimension, weil Gott es ist, der als Schöpfergott den Atem verleiht. Die beiden genannten theologischen Verwendungsweisen des Wortes – einerseits im Sinne der Naturgewalt „Wind“ (Ps 18,16), andererseits als schöpferische Lebenskraft (Ps 33,6) – zeigen ruach als eine Bewegung, die von Gott ausgeht und etwas bewirkt. Insbesondere kann hier von der ruach Gottes in einer Weise die Rede sein, dass man im Deutschen mit „Geist“ übersetzen kann und damit das Charisma eines Königs, die Begabung oder Bevollmächtigung eines Propheten oder allgemeiner die Führung meint, die ein betendes Ich erfährt (Ps 143,10). An einigen Stellen des Alten Testaments kann ruach auch einen von Gott eher unabhängig gedachten Geist bezeichnen. Im Blick auf den Menschen macht diese Verwendung verständlich, dass mit ruach – über die Bedeutung „Atem“ hinaus – auch „geistige“ Aspekte wie eine (gute oder schlechte) Gemütsbewegung oder der menschliche Wille (Ps 32,2; 51,12.14.19) ausgedrückt werden. Auch wenn man hier traditionell oft mit „Geist“ übersetzt, so ist doch kein selbständiger Bestandteil des Menschen gemeint, der etwa zum Leib in Opposition stehen würde. 6.1.3 „Herz“ (bl / bbl leb / lebab) In unserer heutigen Metaphorik, insbesondere wenn man an Schlagertexte oder die Bildsymbolik denkt, gilt das Herz als Sitz der

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6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

menschlichen Gefühle, besonders der Liebe, und steht so in Opposition zum Kopf als Sitz der Rationalität. Es ist für das Verständnis vieler Psalmen von Bedeutung, dass demgegenüber die Verwendung des Wortes im Alten Orient und im Alten Testament viel weiter ist und insbesondere auch andere Schwerpunkte hat.7 Anatomisch lässt zunächst die Verwendung von leb (gesprochen lev) im Alten Testament keine eindeutige Festlegung auf das Herz als Organ erkennen. So wird es auch nicht explizit im Zusammenhang des Blutkreislaufs genannt. Manchmal scheint es eher den Brustkorb insgesamt zu bezeichnen. Die inneren, von außen nicht sichtbaren Organe, also neben dem Herzen etwa auch die Nieren, die Leber, die Eingeweide oder der Bauch sind in sehr vielen Texten zudem weniger von physiologischem Interesse, sondern sie stehen für den „inneren Menschen“, also auch für die psychologischen Aspekte des Menschseins. Dabei ist die zentrale Bedeutung des leb für den Menschen überall erkennbar. Entsprechend kann vom „Herzen“ in Bezug auf alle Dimensionen des menschlichen Daseins gesprochen werden. Diese umfassende Funktion wird bereits da deutlich, wo es eher um die leibliche Dimension geht. Durch Essen und Trinken und entsprechend durch Brot und Wein wird das Herz gestärkt und erfreut (Ps 104,15; hier lebab, gesprochen levav). Umgekehrt vertrocknet es, wenn der Mensch vor Elend vergisst, sein Brot zu essen (Ps 102,5). Im emotionalen Bereich ist leb besonders der Sitz von Freude und Kummer. Beide Regungen wirken sich unmittelbar positiv bzw. negativ auf die Lebenserwartung aus. Auch das Erschrecken vor einem als übermächtig erkannten Feind oder Liebe im Sinne von Loyalität etwa gegenüber dem König oder Gott sind im leb angesiedelt. Gerade diese Gefühlslagen zeigen aber eine nach modernem Empfinden überraschend rationale Komponente und verweisen daher bereits auf den folgenden Bereich. In den meisten Fällen ist leb das Zentrum der Rationalität des Menschen. Aufmerksamkeit, Erinnerung, Denken, Erkenntnis und schließlich die Weisheit sind hier und nicht etwa im Kopf angesiedelt. So bittet Ps 90,12: Unsere Tage zu zählen, das lasse (uns) erkennen, / und wir werden einbringen ein weises Herz.

Damit ist gemeint, dass die Lebensentscheidungen, die im Herzen getroffen werden, sich an der Erkenntnis der begrenzten Lebenszeit

6.2 Der „konstellative Personbegriff“

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orientieren sollen, um weise zu sein. Ein theologischer und damit gleichzeitig ethischer Aspekt kommt hinzu, wenn Gott als Schöpfer der menschlichen Herzen bezeichnet wird wie in Ps 33,15: Er, der gebildet hat ihnen allesamt ihr Herz, / er gibt Acht auf all ihre Taten.

Auch hier wird vorausgesetzt, dass die Entscheidungen zu allen Taten des Menschen im Herzen gefällt werden. Der Sache nach findet sich so in vielen Psalmen die Vorstellung, die auch hinter der berühmten Bitte des weisen Königs Salomo in 1 Kön 3,9 steht: Und du mögest geben deinem Knecht ein hörendes Herz, um dein Volk zu richten, um zu unterscheiden zwischen Gut und Böse.

Ähnlich wie auch in ägyptischen Texten ist leb hier der Ort, an dem Weisheit – etwa aus Weisheitssprüchen, dem Gesetz oder anderen Äußerungen des Gotteswillens – „hörend“ aufgenommen und in praktische Entscheidungen umgesetzt wird. Die Konsequenzen des „hörenden“ oder auch „weiten“ (1 Kön 5,9) Herzen Salomos werden in 1 Kön „eindrucksvoll berichtet, denn er [scil. Salomo; J. S.] besaß internationale Bildung, umfassende Gelehrsamkeit, treffendes Urteilsvermögen und dichterische Ausdruckskraft.“8 Entsprechend kann im Herzen jede dauerhafte, handlungsleitende Einsicht – wenn man so will der gesamte Bereich, den wir heute eher mit den Einstellungen, der Moralität einer Person verbinden – verortet werden. In prophetischen Texten wird dieser Aspekt angesprochen, wenn Gott etwa seine Tora auf das Herz der Menschen schreibt (Jer 31,33) oder das steinerne Herz entfernt und durch ein neues, fleischernes Herz ersetzt (Ez 36,26). Beide (und andere ähnliche) Formulierungen sprechen von Eingriffen Gottes in die Grundkonstitution des Menschen, die moralisches Handeln ermöglichen sollen. 6.2 Der „konstellative Personbegriff“ in der alttestamentlichen Anthropologie In den Psalmen begegnen uns betende Menschen, die vor Gott ihre Klage ausschütten, über ihre eigene Situation nachdenken, Gott danken und ihn loben. Was aber macht im Verständnis dieser Texte einen Menschen zu einer Person, die sich in der genannten Weise arti-

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6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

kuliert? Was macht eine Person aus? Wann erfährt sich ein Mensch als lebendig und welche Vorstellung hat er vom Totsein? Die neueren Ansätze der Kulturanthropologie machen darauf aufmerksam, dass solche anthropologischen Fragen immer zunächst innerhalb der untersuchten Kultur gestellt werden müssen. Wir müssen also damit rechnen, dass das Personverständnis, das uns in den Psalmen begegnet, sich erheblich von unserem eigenen unterscheidet. Bernd Janowski hat die im Alten Testament vielfach zu beobachtenden Phänomene mit Verweis auf frühere Studien – gerade auch aus dem Bereich der Ägyptologie – in einer Konzeption zusammengefasst. Demnach beruhen die Menschenbilder des Alten Testaments auf einem komplexen Zusammenhang von Körperbild und Sozialstruktur. Was sich auf der einen Ebene (Leibsphäre) als Krankheit vs. Gesundheit oder als Trauer vs. Freude zeigt, das wird auf der anderen Ebene (Sozialsphäre) als Schande vs. Ehre oder als Rechtsnot vs. Gerechtigkeit/Rechtfertigung erlebt. Diese Zusammenhänge lassen sich mit Hilfe des konstellativen Personbegriffs beschreiben und zwar in einem doppelten Sinn: einerseits wird der menschliche Körper als eine konstellative, d. h. aus einzelnen Teilen oder Gliedern zusammengesetzte Ganzheit gedacht; andererseits bedeutet menschliches Leben die Eingebundenheit in soziale Zusammenhänge oder Rollen.9 Leibsphäre

Sozialsphäre

Körper als aus den Gliedern zusammengesetzte Ganzheit

Mensch als Glied der Gemeinschaft, in die er eingebunden ist (soziale Rolle)

Konnektives Medium: Blut

Konnektives Medium: Gerechtigkeit

Gesundheit ↔ Krankheit Freude ↔ Trauer Leben ↔ Tod

Ehre ↔ Schande Rechtfertigung ↔ Rechtsnot Leben ↔ Tod

Tab. 8: Der konstellative Personbegriff nach Janowski

Das bedeutet einerseits, dass die Vorstellungen davon, wann ein Mensch tot und wann er lebendig ist, viel facettenreicher sind, als wir es durch unsere Prägung durch die Naturwissenschaften und die moderne Medizin gewohnt sind. So kann ein Mensch etwa auf der

6.2 Der „konstellative Personbegriff“

97

Ebene der Leibsphäre in einer schweren Krankheit oder auf der Ebene der Sozialsphäre in einer Situation der Verlassenheit oder der Verfolgung Erfahrungen des Todes „mitten im Leben“ machen. Umgekehrt kann die Rettung aus Anfeindung und Rechtsnot oder die Heilung einer Erkrankung als die Rückkehr ins Leben, als eine Art „Auferstehung“, bzw. mit Blick auf den das verursachenden Gott als eine „Errettung vom Tode“10 verstanden werden. Gegenüber heute verbreiteten Vorstellungen ergibt sich für die Leibsphäre eine Betonung der Ganzheitlichkeit des Menschen. Gerade das gelungene Zusammenspiel der Körperteile und der mit ihnen verbundenen Funktionen und Inanspruchnahmen machen das Leben aus. Dabei gibt es keine Verteilung auf körperliche und seelische oder geistige Aspekte, sondern letztere sind mit den ihnen korrelierenden Körperteilen in das Zusammenspiel der gesamten Konstellation eingebunden. In ägyptischen Texten wird als verknüpfendes Medium, das die Verbindung zwischen den Gliedern herstellt, das Blut genannt, und Texte wie Lev 17,11 (s. o.) lassen erkennen, dass diese Vorstellung zumindest manchen alttestamentlichen Traditionen nicht fremd ist.11 Für die Sozialsphäre lässt sich eine Verschiebung gegenüber der heute stärker betonten Autonomie und „inneren Tiefe“ der menschlichen Persönlichkeit festhalten. Wenn das Subjekt erst in seinen sozialen Rollen wirklich lebt und authentisch ist, so ergibt sich eine relative Transparenz der Persönlichkeitsstruktur und eine Betonung von Gegenseitigkeit in allen Beziehungen. Letzteres bedeutet, dass Eigenschaften wie Verlässlichkeit, Solidarität, Gehorsam und Loyalität, also Dinge, die wir eher mit einer gewissen Heteronomie verbinden würden, eine viel größere Rolle für die „Selbstverwirklichung“ spielen als die Wahrnehmung der eigenen Autonomie. Diese anthropologischen Erkenntnisse können erklären, warum viele Psalmen, gerade wenn sie wie in der Klage Probleme schildern, dies „konstellativ“ tun, ihre Situation also als Beziehungsgeschehen zwischen dem betenden Ich, Gott und „den Feinden“ – wer oder was auch immer das jeweils konkret sein mag – darstellen. Ebenso wird so verständlich, warum die Dankpsalmen die Rettungserfahrung, für die sie Gott danken, als eine Errettung vom Tod verstehen. Wenn sie also entsprechend Gott dafür verherrlichen, dass er sie vom Tod wieder zum Leben geführt habe, so hängt das nicht mit „den Ergüssen des heißblütigen Hebräers“12 zusammen, sondern mit der Anthropologie, die im Hintergrund dieser Texte steht.

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6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

6.3 Zur Metaphorik der Emotionen Wenn Emotionen zur Sprache kommen, sind Menschen fast immer darauf angewiesen Metaphern zu benutzen, um das Gemeinte ausdrücken zu können: Man ist „niedergeschlagen“ oder „oben auf“, „explodiert“ oder „schmilzt“. Viele Metaphern werden nicht in jeder Situation neu erfunden, sondern sind „eingebürgert“, habitualisiert. Das gilt für den emotionalen Bereich ganz besonders, eben weil die Metaphern hier oft Lücken schließen, die die Begriffssprache offen lässt. Damit aber sind sie kulturelle Phänomene und mit der betreffenden Sprache eng verbunden. Auch wenn es verführerisch ist, gerade auf dem Gebiet der Emotionen das Kulturenübergreifende, das „allgemein Menschliche“ zu betonen, so ist gerade hier größte Vorsicht geboten. Wir hatten bereits im Rahmen der „Biblisch-anthropologischen Sprachlehre“ in Anlehnung an Hans Walter Wolff gesehen, dass Emotionen mit Körperteilen assoziativ verbunden werden können und dass diese Verbindungen u. U. gegenüber unseren kulturellen Konventionen sehr anders aussehen können. Andreas Wagner hat in den vergangenen Jahren die Gefühlskonzeptionen des Alten Testaments bearbeitet. Er fasst seine Position folgendermaßen zusammen: Das alttestamentliche Konzept von Gefühl, Emotion und Affekt unterscheidet sich deutlich von dem griechisch-abendländischen. Im letztgenannten Bereich ist die zentrale Metapher für Gefühlsausdrücke die sog. „Behältermetapher“ („er ist voll von Hass/Liebe etc.“). Darin spiegelt sich, dass der Körper als Gefäß für Gefühle und Emotionen aufgefasst wird und der Mensch letztendlich die Aufgabe hat, die „interioren“ Gefühle und Emotionen in seiner materialen Hülle unter Kontrolle zu bringen [...]. Im Alten Testament findet sich die Behältermetapher so gut wie nicht. Gefühle erscheinen hier als etwas, das (von außen) über den Menschen kommt [...]. Für Gefühle und Emotionen gibt es plausible Gründe; man kann sich ihnen „naturgemäß“ kaum entziehen und viel weniger eine „innere Kontrolle“ ausüben, weil sie ja auch nicht als im Innern des Körpergefäßes entstehend gedacht werden. In einigen Texten hat es den Anschein, als sollten die Gefühle durch Verweis auf äußere Normen (2Sam 13,12: „so tut man nicht in Israel“) der Kontrolle unterworfen werden.13

Diese Forschungsergebnisse seien durch zwei Beispiele etwas illustriert. Das erste findet sich in Ps 78,58 f.:

6.3 Zur Metaphorik der Emotionen

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Und sie ärgerten ihn mit ihren Kulthöhen / und mit ihren Götzenbildern machten sie ihn eifersüchtig. Es hörte Gott und er erzürnte / und er verwarf Israel sehr.

Wichtig ist hier, dass klare Gründe angegeben werden, die den Emotionsausbruch Gottes als eine angemessene und natürliche Reaktion erklären. Es ist gerade nicht die Rede davon, dass Gott seinen Zorn erst „beherrscht“ habe, dann aber „explodiert“ sei, sondern das „Hören“, also die umfassende, verstehende und vielleicht sogar abwägende Wahrnehmung des Sachverhalts führt unmittelbar zur Reaktion des Zorns. Aus dieser Beobachtung ergibt sich eine Nebenbemerkung, die das biblische Gottesbild betrifft. Die anthropologische Einsicht der Begründbarkeit der Emotionen hat die theologische Konsequenz, dass das Theologumenon des Gotteszorns zwar in der Regel ein für Menschen schlimmes und unerklärliches Widerfahrnis wie Krieg, Seuchen oder Naturkatastrophen deutet, also eine dunkle Gotteserfahrung beschreibt. Gleichzeitig meint die Zuschreibung des Zorns gerade nicht, dass Gott willkürlich handeln würde, sondern durchaus seine – den Menschen in letzter Konsequenz immer verborgenen – Gründe haben mag. Das zweite Beispiel entstammt dem 23. Kapitel des Sprüchebuchs: 17

Nicht soll sich ereifern dein Herz über die Sünder, / sondern über die Furcht JHWHs jeden Tag.

Das Beispiel scheint dem Befund insofern zu widersprechen, als hier das Vorhandensein der Gründe für den Eifer – die Sünder – gerade nicht die Emotion herbeiführen soll. Die Lösung besteht hier darin, dass man die Körperausdrücke – hier „Herz“ – entsprechend der schon bekannten Sprachlehre mit den entsprechenden Funktionen verbindet und diese mitdenkt. Hier bedeutet das, dass das Herz als Zentrum der Rationalität des Menschen, also als Ort, an dem die Entscheidungen abgewogen werden, in die Interpretation einbezogen werden muss. Entsprechend paraphrasiert Wagner den Anfang des Verses: „Wenn du es recht bedenkst/wenn du bei Verstand bist, sei nicht neidisch auf den Sünder“14 Dabei geht es nicht darum, dass die Rationalität des Menschen die aufkommende Eifersucht unterdrückt, sondern nach einem klugen Abwägen der Gründe kann das

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6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

„Herz“ die Eifersucht hervorbringen oder eben nicht, und dann diese emotionale Energie in eine andere Richtung – hier auf die Gottesfurcht – ausrichten. Nach diesen allgemeinen anthropologischen Überlegungen sollen im Folgenden einige Themenfelder anhand von Beispielpsalmen bedacht werden. Nun ist es so, dass wir Menschen dann über unser Menschsein intensiver nachdenken, wenn es gefährdet ist. Wir erfassen auch unsere Lebenszeit dann besonders klar und genießen sie vielleicht umso mehr, wenn wir daran denken, dass sie begrenzt ist. Darum liegt es ein wenig in der Natur der Sache, dass die im Folgenden ausgewählten Themen eher „Problemthemen“ sind und die besprochenen Psalmen mit Ausnahme des Dankliedes Ps 30 eher den Charakter von ‚Konfliktgesprächen mit Gott‘ – um die Formulierung Janowskis aufzugreifen – haben. 6.4 Tod und Leben: Ps 88 1

Ein Lied, ein Psalm der Söhne Korachs // für den Chormeister, auf „machalat le ‘anot“ / ein Maskil von Heman, dem Esrachiter.

2

JHWH, Gott meiner Rettung, / am Tag habe ich geschrien, in der Nacht vor dir. Es soll kommen vor dein Gesicht mein Gebet, / neige dein Ohr zu meinem Schrei! Denn gesättigt wurde mit bösen (Dingen) mein Leben / und meine Lebenszeit hat die Scheol erreicht. Ich wurde gerechnet zu denen, die in die Grube stiegen; / ich war wie ein Mann, der keine Kraft hat. Ein unter Tote Entlassener, // wie Durchbohrte, die im Grab liegen, von denen gilt: du gedachtest ihrer nicht mehr, / und sie wurden von deiner Hand abgeschnitten. Du hast mich gelegt in die Grube tief unten, / in Dunkelheiten, in Meerestiefen. Auf mir lastete dein Grimm / und (mit) all deinen Brechern hast du niedergedrückt. SELA Du hast entfernt meine Bekannten von mir, // du hast mich gesetzt als Gräuel für sie. / Eingeschlossen und nicht kann ich hinausgehen,

3 4 5 6

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6.4 Tod und Leben: Ps 88

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mein Auge verschmachtete vor Elend. // Ich habe dich angerufen, JHWH, an jedem Tag; / ich habe ausgestreckt zu dir meine Handflächen. Wirst du für die Toten ein Wunder tun? / Ob (wohl) Totengeister aufstehen werden, dich loben werden? SELA Wird erzählt werden im Grab deine Huld / und deine Wahrheit im Abaddon? Wird bekannt gemacht in der Dunkelheit dein Wunder / und deine Gerechtigkeit im Land des Vergessens? Ich aber, zu Dir, JHWH, schreie ich; / und am Morgen soll mein Gebet vor dir sein. Wozu, JHWH, willst du verwerfen mein Leben; / willst du verbergen dein Gesicht vor mir? Elend bin ich und sterbend von Jugend an; / ich habe getragen deine Schrecken; ich muss erstarren. Gegen mich sind vorbeigezogen deine Zornesgluten; / deine Schrecknisse haben mich vernichtet. Sie haben mich umgeben wie Wasser den ganzen Tag; / sie haben umringt gegen mich alle zusammen. Du hast entfernt von mir (den) Liebenden und (den) Gefährten; / meine Bekannten – Finsternis.

Ps 88 gilt als die dunkelste Klage des Psalmenbuchs. Hier betet ein Mensch, der sich an der Schwelle des Todes sieht. Entsprechend hat die Gattungsforschung versucht, den Psalm als „Krankenpsalm“ zu bestimmen und von diesem „Sitz im Leben“ her und im Vergleich mit anderen Vertretern dieser Gattung einen Zugang zu diesem schwierigen Text zu bekommen. Das Problem dieser Herangehensweise ist weniger die Frage, ob man bei dem sprechenden Ich an einen todkranken Menschen denken kann, als dass mit einer solchen Bestimmung Fragen aufgeworfen werden, auf die der Psalm keinerlei Antwort gibt: Um welche Krankheit handelt es sich? Was ist mit den für Krankenpsalmen gattungstypischen Elementen wie einem Sündenbekenntnis? Wie rekonstruiert man eine entsprechende – uns aber sonst nicht bekannte – Liturgie am Tempel, bei der dieser Psalm gesprochen worden sein könnte? Es ist daher eher erfolgversprechend, die poetische Struktur und die anthropologische Konzeption des Psalms zu analysieren. Hier soll ein besonderer Schwerpunkt auf der Frage liegen, wie der Text von Tod und Leben spricht. Strukturell unterteilt die dreimalige Beteuerung, dass das Ich zu Gott ruft, in den vv.2.10b.14 den Psalm in drei Teile. Während der

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6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

erste und der dritte durch viele gemeinsame Wörter und Themen verbunden sind, besteht der kürzere Mittelteil aus einer Reihe von Fragen, die an Gott gerichtet werden. Neben diese konzentrische Struktur tritt der lineare Ablauf des Psalms. Zu Beginn wird Gott zunächst als Rettergott angerufen (v.2). Aber danach klagt den gesamten Gebetsverlauf über das betende Ich Gott an, sich gerade nicht als Retter, sondern als Verursacher des erlebten Leidens erwiesen zu haben. Der Gott des Glaubens und der Gott der Erfahrung sind grundverschieden und nur das Gebet hält geradezu trotzig an der Einheit fest, ja, es klagt sie Tag und Nacht ein. Diese dramatische Kommunikationsstruktur wird nun durch die anthropologischen Aussagen des Psalms weiter profiliert. vv.2–10a

1. Klageteil

vv.10b–13

Mittelteil (Fragen vv.11–13)

vv.14–19

2. Klageteil

linearer Gebetsverlauf: Anrufung Gottes als Retter konzentrische (v.2), Struktur dann immer mehr Gott als Verursacher des Leids (Abwärtsspirale)

Tab. 9: Die Struktur von Ps 88

Von v.4 an wird geschildert, wie das Ich die Erfahrung des Todes mitten im Leben macht. Dabei überlagern sich die beiden Ebenen der Leibsphäre und der Sozialsphäre. Gegenüber der Deutung als Krankenpsalm ist allerdings festzuhalten, wie breit gerade die sozialen Aspekte ausgebaut sind, und dass ihnen gegenüber die Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit auf der körperlichen Ebene deutlich zurücktritt. Bemerkenswert ist zunächst die zweite Hälfte von v.4: „meine Lebenszeit hat die Scheol erreicht.“ Kathrin Liess hat diese Redeweise die „Semantik der Todesnähe“ genannt.15 Sie findet sich in Klagepsalmen, aber auch in altorientalischen Klagen. Wichtig ist hier, dass diese Gebete, die aus der Situation der Not sprechen, immer deutlich machen: Ich bin noch nicht tot, aber ich bin kurz davor, wenn du, Gott, nicht eingreifst. Dankgebete formulieren im Rückblick auf die überwundene Gefahr ohne Beachtung dieser kleinen Differenzen, wie etwa Ps 30,4a: JHWH, du hast heraufgeführt aus der Scheol mein Leben (næpæš)

6.4 Tod und Leben: Ps 88

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Der Rückschluss, dass das betende Ich zur Zeit der Not bereits in der Unterwelt war, scheint aus der Perspektive der erlebten Rettung und im Wissen darum, dass es um eine Erfahrung des Todes „mitten im Leben“ ging, richtig und angemessen. In der Situation der Not wird dagegen klar differenziert. V.5 spricht dann passivisch von den Menschen – oder vielleicht auch von Gott –, die das Ich bereits abgeschrieben haben. Von der Umwelt wird das Ich nicht mehr als ein lebendiger Teil der Gesellschaft behandelt. Damit ist die soziale Konnektivität zusammengebrochen. Das Ich ist isoliert. In eine ähnliche Richtung weist die merkwürdige Formulierung „ein unter Tote Entlassener“ (v.6). Das Wort, das hier für „entlassen“/„befreit“ steht, taucht auch bei der Befreiung von Sklaven auf. Hier ist aber an eine Entlassung in eine schlechtere Stellung gedacht. Wieder geht es um die Sozialsphäre. „Ein unter Tote Entlassener“ ist jemand, der aus der Gemeinschaft der Lebenden ausgestoßen worden ist. Dieser soziale Tod bestimmt jeweils das Ende der ersten und dritten Strophe. In v.9 heißt es: Du hast entfernt meine Bekannten von mir, // du hast mich gesetzt als Gräuel für sie. /

Der Schlussvers (v.19) steigert diese Aussage sogar noch einmal durch seine Ausdrucksweise. Der Psalm endet damit, dass das Ich seine lange Klage abrupt unterbricht und mit „Finsternis“ die eigene Situation in einem Wort beschreibt. Du hast entfernt von mir (den) Liebenden und (den) Gefährten; / meine Bekannten – Finsternis.

Deutlicher kann man soziale Isolation kaum ausdrücken. Demgegenüber ist die Todesbeschreibung auf der Ebene der Leibsphäre weniger konkret, was dem Psalm ein hohes Maß von poetischer Allgemeingültigkeit verleiht. Er ist so in vielen Notsituationen sprechbar. In v.5 vergleicht sich das Ich mit einem Mann ohne Kraft. Das verwendete Wort für „Mann“ ist dabei verwandt mit „stark sein“ und „Krieger“/„Held“. Ein solcher Mann ohne Kraft ist quasi ein Widerspruch in sich selbst. Er ist von der Realität des Todes bereits erfasst, weil er eben nicht über seinen Leib in ganzer Vitalität verfügt. Der in

104

6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

v.6 folgende Vergleich mit den Durchbohrten, also mit Kriegstoten, weist in dieselbe Richtung und betont die leibliche Dimension des Todes in aller Drastik. Daran schließt sich eine theologische Reflexion an, die in dieser Schärfe beispiellos im Alten Testament ist: Du gedachtest ihrer nicht mehr / und sie wurden von deiner Hand abgeschnitten.

Hier wird nicht nur gesagt, dass die Toten fern von Gott sind, dass sie mit dem Verlust ihrer menschlichen Gesellschaft auch die Nähe zu Gott verloren hätten. Es geht hier vielmehr um die Perspektive Gottes. Das Gedenken Gottes ist nicht einfach eine Gedächtnisleistung, sondern wird im Alten Testament als Ausdruck für ein Handeln Gottes verwendet. Wenn Gott eines Menschen nicht mehr gedenkt, dann bedeutet das, dass dieser Mensch nicht mehr im Bereich der Handlungsmöglichkeiten Gottes steht. Die Toten sind der Hand Gottes, also seiner Macht entzogen. Die Verbindung ist endgültig gekappt. Was hier ausgedrückt wird, könnte man in den Kategorien der konstellativen Anthropologie als den Tod auf der Ebene der Sozialsphäre in Bezug auf Gott bezeichnen. So wie das Leben sich in der Beziehung zu anderen Menschen realisiert, ist auch die Beziehung zu Gott ein Teil dieser sozialen Lebensdimension – ja, für das betende Ich des Psalms letztlich der entscheidende. Für die Kriegstoten, mit denen das Ich sich in seiner Klage hier vergleicht, wird die Gottesbeziehung als beendet angesehen. Wenn die folgenden vv.7 f. wieder auf die Leibsphäre zurückschwenken, so geschieht das nun mit einem entscheidenden Unterschied: Als Verursacher des Verlustes an Lebensmöglichkeiten wird nun Gott direkt benannt. Er drückt das betende Ich nach unten in lebensfeindliche Wirklichkeitsbereiche. Am Ende der ersten Strophe stehen in vv.9b.10a mit der Rede des Eingeschlossen-Seins und dem verschmachtenden Auge (im Gegensatz zum vor Freude leuchtenden Auge als Ausdruck der Vitalität) Todesbilder, die der Leibsphäre entnommen sind. Im dritten Teil setzen die vv.16–18 diese Anklage Gottes, der „von Jugend an“ das Leben des Ich gemindert und bedroht habe, ebenfalls mit Bildern aus der Leibsphäre („erstarren“, „vernichten“, „umringen“) fort. Für all diese Aussagen gilt aber, dass sie auf einer so poetisch-unspezifischen Ebene bleiben, dass sie nicht etwa auf die Symptome einer bestimmten Krankheit enggeführt werden können.

6.4 Tod und Leben: Ps 88

105

Die anfangs beschriebene Gebetssituation entwickelt vor dem Hintergrund dieser „anthropologischen“ Beschreibung ihre ganze verzweifelte Härte: Das Ich macht ja gerade die Erfahrung, dass Gott nicht nur auf den wiederholten Hilferuf nicht antwortet, sondern dass er auch noch die Todeserfahrungen mitten im Leben, die es durchmacht, selbst verursacht hat. Die Fragen des Mittelteils konfrontieren nun Gott nicht mehr mit Anklagen des Ich, sondern mit seinem Handeln – oder vielleicht sollte man eher sagen: mit seinem Nichthandeln – an den Toten. Die komplette Beziehungslosigkeit, die v.6 im Blick auf Gott und die „Durchbohrten“ ausgesprochen hat, wird nun buchstäblich infrage gestellt. Von v.6 her würde man nicht die Form der Frage, sondern verneinte Aussagen erwarten. Aber was sollen hier die Fragen? Selbst in diesem so über die Maßen dunklen Psalm stellen die Fragen eine Art der Verunsicherung dar. Die Rezipientinnen und Rezipienten des Psalms müssen sich fragen lassen, welche Antwort wohl Gott als der Angesprochene geben würde. Damit ist ihr eigenes theologisches Denken herausgefordert. Hinzu kommt, dass es hier um nichts weniger als um die klassischen Wesenseigenschaften Gottes geht; es geht darum, dass er Wunder tut und gelobt wird, und es geht um seine Huld, seine Wahrheit und seine Gerechtigkeit. Mit all diesen Wesenseigenschaften tritt er zu den Menschen schöpferisch und lebensfördernd in Beziehung. Selbst im Totenreich würde Gottes Handeln Leben initiieren. Es geht hier letztlich also um das Gottsein Gottes angesichts des Todes. Damit zeigen die Fragen auch, wie man sich das Handeln des Rettergottes (v.2) selbst über den Tod hinaus vorstellen könnte. Der Modus der Frage aber hält letztlich an der Unverfügbarkeit Gottes fest. Die enorme theologische Stärke dieses Psalms liegt in der wider alle Erfahrung vorgetragenen Klage. Das betende Ich hält an Gott fest, auch und gerade weil es ihn nicht oder nur negativ erfährt. Ps 88 ist damit sicher kein tröstlicher Psalm, aber es ist ein Text, der ehrlich ist und der eine wichtige Aussage über das Gebet macht. Der Psalm ist so ein Gebetsangebot für den Extremfall der äußersten Gottesferne. Gott hat sich der Erfahrung entzogen und der Psalm kennt entsprechend auch keine Erhörungsgewissheit, die sonst so typisch für Klagegebete ist. Hier betet ein Mensch seinen theologischen Protest.

106

6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

6.5 Lebenszeit und Vergänglichkeit: Ps 102 1

Gebet eines Armen, wenn er schwach wird / und vor JHWH ausschüttet seine Sorge

2

JHWH, höre mein Gebet / und mein Hilferuf möge zu dir kommen. Verbirg nicht dein Gesicht vor mir am Tag der Not für mich // strecke aus zu mir dein Ohr / am Tag, wenn ich schreie, antworte mir schnell! Ja, es endeten in Rauch meine Tage / und meine Gebeine sind wie ein Brand verglüht. Es wurde abgehauen wie Gras und ist vertrocknet mein Herz / ja, ich habe vergessen, mein Brot zu essen. Vom Klang meines Stöhnens / klebte mein Gebein an meinem Fleisch. Ich wurde ähnlich der Dohle der Wüste / bin geworden wie eine Eule in Trümmerstätten. Ich war schlaflos und ich wurde / wie ein Vogel einsam auf dem Dach. Den ganzen Tag beschämten mich meine Feinde / die mich zum Gespött machen, haben bei mir geflucht. Ja, Staub habe ich wie Brot gegessen / und meinen Trank mit Weinen vermischt. Von deiner Verwünschung und deinem Unmut (kommt das), / ja, du hast mich hochgehoben und mich hingeworfen. Meine Tage sind wie ein ausgestreckter Schatten / und ich, wie Gras werde ich vertrocknen.

3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Aber du, JHWH, auf ewig wirst du thronen, / dein Gedenken ist für Generation um Generation. Du, du wirst aufstehen, dich erbarmen über Zion, / ja, es ist Zeit, um ihr [sc. Zion] gnädig zu sein, ja, es ist gekommen der Zeitpunkt. Ja, Gefallen haben deine Knechte an ihren [sc. Zions] Steinen / und ihr Schutt tut ihnen leid. Und es werden fürchten die Völker den Namen JHWHs / und alle Könige der Erde deine Herrlichkeit. Ja, gebaut hat JHWH Zion, / er erscheint in seiner Herrlichkeit. Er hat sich zugewandt dem Gebet des Nackten / und nicht verschmäht hat er ihr Gebet. Das wird aufgeschrieben werden für eine spätere Generation, / und ein Volk, das (erst noch) erschaffen wird, wird JH preisen.

6.5 Lebenszeit und Vergänglichkeit: Ps 102

20 21 22 23 24 25 26 27

28 29

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Ja, er schaute aus heiliger Höhe, / JHWH hat vom Himmel auf die Erde geblickt, um zu hören das Ächzen des Gefangenen, / um loszubinden die Kinder des Todes, damit sie verkünden in Zion den Namen JHWHs / und sein Lob in Jerusalem, wenn sich versammeln die Völker zusammen / und Königreiche, um zu dienen JHWH. Er hat gebeugt auf dem Weg meine Kraft verkürzt meine Tage. Ich sprach: Mein Gott, raffe mich nicht weg in der Mitte meiner Tage / in Generation um Generation sind deine Jahre. Vor Zeiten hast du die Erde gegründet. / Das Werk deiner Hände ist der Himmel. Sie, sie werden vergehen, aber du, du wirst stehen // und sie alle werden wie ein Gewand verschleißen, / wie ein Kleid wirst du sie ersetzen und sie werden ersetzt werden. Aber du bist derselbe / und deine Jahre werden nicht enden. Die Söhne deiner Knechte mögen wohnen / und ihr Same möge vor deinem Angesicht Bestand haben.

Der lange Psalm kann hier nicht in den Einzelheiten besprochen werden. Im Zusammenhang dieses Kapitels sind zwei Themen von besonderer Bedeutung: die Metaphorik der Klage insbesondere in den vv.4–12 und die Aussagen zu Vergänglichkeit und Lebenszeit des Menschen. Nicht ausführlich behandelt werden kann an dieser Stelle die Entstehungsgeschichte des Psalms, die (mindestens) zweistufig ist. Ich rechne für das Psalmkorpus mit einem Grundtext in vv.2–12.24–28 und einer umfangreichen Fortschreibung in vv.13– 23.29 (im Text kursiv), die das Gebet eines einzelnen Beters auf eine Gemeinschaft hin umgestaltet.16 Diese Fortschreibung setzt andere, weniger anthropologische Schwerpunkte und soll daher hier nur unter einem Aspekt am Ende kurz angesprochen werden.

108

6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

vv.2–12

Klage und Schilderung der Todeserfahrung des betenden Ich

vv.13–23

Kollektiver Zionsausblick

vv.24–28

Vergänglichkeit des Menschen vs. Unendlichkeit Gottes

v.29

Bezug auf Kollektiv

Kontrast zw. menschl. Vergänglichkeit und göttl. Dasein als Motivationsgrund, sich über den klagenden Menschen zu erbarmen

Tab. 10: Die Struktur von Ps 102 (Erweiterungen kursiv)

Was die Metaphorik der Klage betrifft, so ist der Grundtext des Psalms ein hervorragendes Beispiel für die oben besprochenen Eigenheiten der alttestamentlichen Anthropologie. Die vv.4–11 sprechen nichts anderes als die Todeserfahrung des betenden Ich mitten im Leben aus. Dabei fällt die Verschränkung der verschiedenen Ebenen auf. In den vv.4–6 tritt zunächst die Leibsphäre prominent hervor. Es ist von den Gebeinen, von Herz und Fleisch die Rede, die jeweils als zerstört, zergliedert und jedenfalls als nicht funktionierend geschildert werden. In den vv.7–9 mischen sich dann Elemente der Sozialsphäre mit Bildern der Vereinsamung und der direkten sozialen Ausgrenzung durch Feinde in die Klage ein. V.10 greift aus v.5 die Thematik der geminderten und schlechten Nahrungsaufnahme wieder auf und schwenkt so wieder zur Leibsphäre zurück. Der folgende v.11 führt all diese Freudlosigkeit, Anfeindung und Verelendung auf Gott selbst zurück. Diese theologische Wende innerhalb der Klage gibt dieser einen noch schärferen Ton. Mit dem folgenden v.12 kommt neben den vielfältigen Todesdimensionen im Leben nun auch die Vergänglichkeit an sich zur Sprache und wird mit dem berühmten Bild des vertrocknenden Grases dargestellt (vgl. Jes 40,6–8; Ps 90,6; 103,15 f. s. u.). Sie wird dann in den vv.24–28 weiter entfaltet und mit der Unvergänglichkeit Gottes kontrastiert. Damit sind wir beim zweiten anthropologischen Thema von Ps 102. Die Gestalt der menschlichen Vergänglichkeit, die uns hier begegnet, ist gewissermaßen die verschärfte Form. Es geht nicht um den „Patriarchentod“, der einen uralten und lebenssatten Greis in allem Frieden inmitten seiner versammelten Kinder und Enkel ereilt – ein solcher Tod wird offenbar in den alttestamentlichen Texten, die von ihm erzählen, als ganz unproblematisch aufgefasst. In Ps 102

6.5 Lebenszeit und Vergänglichkeit: Ps 102

109

dagegen geht es um den vorzeitigen Tod. Das Ich befürchtet „in der Mitte meiner Tage“ (v.25) zu sterben. Legt man die Vermutungen über die durchschnittliche Lebenserwartung in vormodernen Zeiten zugrunde, so müssen wir uns klar machen, dass ein solch vorzeitiger Tod eher die Regel als die Ausnahme war. Eine alttestamentliche Maßangabe für eine lange und doch wohl immer wieder einmal real vorkommende Lebenszeit finden wir in Ps 90,10 (s. o.), wo von 70 bis 80 Jahren die Rede ist. Das Wissen des Menschen um die eigene Vergänglichkeit ist mehr als einfach ein unbequemer Gedanke. Das Wissen um die Endlichkeit verleiht vielmehr dem Leben Eigentlichkeit und Einmaligkeit, wenn diese Realität nicht verdrängt wird. In Ps 102 – und in vielen anderen Klagen des Psalmenbuchs – führt das Wissen um die Begrenztheit der Lebenszeit aber auch zu einer Verschärfung der negativen Wahrnehmung von schlimmen Lebensumständen. Das liegt einerseits sicher daran, dass der etwa in Gestalt von Verarmung oder einer schweren Krankheit bereits in das eigene Leben eingebrochene Tod deutlich an die Vergänglichkeit erinnert oder sogar einen frühen Tod wahrscheinlich macht. Das liegt aber wohl auch an der Überlegung, dass angesichts der begrenzten Lebenszeit lang anhaltende Notsituationen die vielleicht noch zu erwartenden guten Lebensjahre verringern. Auch hier spielt wieder die Anthropologie eine Rolle. Etwa in Ijob 14,5 u. ö. begegnet die Vorstellung, dass Gott die Lebenszeit jedes Menschen festgelegt hat. Ob das, was sich in dieser Zeitspanne abspielt nun „Leben“ oder „Tod mitten im Leben“ ist, entscheidet sich auf den Ebenen von Leib- und Sozialsphäre. Zeiten der Not berauben den Menschen in gewisser Weise seiner Lebensmöglichkeiten. In jedem Fall kann in solchen Situationen das Verstreichen der Zeit an sich bereits als beängstigend und lebensmindernd wahrgenommen und als Widerfahrnis des Gotteszorns gedeutet werden (vgl. Ps 90,7.9; 102,11). Es erstaunt daher nicht, wenn in Ps 102,12.24 f. in jedem Vers von der Lebenszeit, jeweils ausgedrückt durch „meine Tage“, die Rede ist. V.12 vergleicht sie zunächst mit einem Schatten, der am Ende des Tages bereits lang geworden ist, um bei Sonnenuntergang schließlich zu verschwinden. In v.24 erscheinen die Tage als verkürzt – und dass Gott für diese Verkürzung verantwortlich ist, erschließt sich von vv.11.25 her in aller Deutlichkeit. Die Gebetsbitte in v.25 schließlich spricht vom Lebensende in der Mitte der Tage. Ging es in den Klagen der vv.4– 11 noch stärker um die schlechte Lebensqualität, so steht nun die absolute Menge der Lebenszeit im Zentrum. Beide Aspekte sind

110

6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

freilich eng miteinander verbunden bzw. bauen im Duktus der Klage aufeinander auf. Wie v.11 die Notklage mit Gott verknüpft – und so in der Pragmatik des Gebets Gott als Urheber der Not und damit als möglichen Retter ausweist –, so setzen die vv.25–28 nun ebenfalls Gott in Beziehung zur Vergänglichkeitsklage. Er ist der Urheber des individuellen Todes (v.25), so dass sich an ihn die konkrete Bitte richten kann, nicht eines vorzeitigen Todes zu sterben. Wichtig ist aber, dass die Begründung dieser Bitte auf die grundsätzliche Asymmetrie der menschlichen und der göttlichen Existenz zu sprechen kommt (vgl. oben zu Ps 90). Dabei findet Ps 102 für die Beschreibung der Existenz Gottes Aussagen, die für das Alte Testament höchst ungewöhnlich sind und bereits in den Bereich einer Negation der Zeit in Bezug auf Gott führen. Dieser Befund ergibt sich nicht nur daraus, dass Gott als Schöpfer der Welt in seiner Existenz vor Himmel und Erde ausgreift. Das allein könnte man auch so verstehen, dass Gott genauso vergänglich wie etwa der Mensch sei, aber über eine sehr viel längere Lebenszeit verfügt. Das Entscheidende ist, dass die Welt selbst, also die unwandelbare Konstante in der Erfahrungswelt der Menschen, als vergänglich bezeichnet wird und dass Gottes Existenz diese menschlich nicht mehr wahrnehmbare Vergänglichkeit nochmals transzendiert: Während Erde und Himmel vergehen, „steht“ Gott (v.27), er ist immer unverändert derselbe – so muss man wohl die sehr einfache hebräische Konstruktion in v.28a „du (bist) dieser“ verstehen. Wie schon in v.11 wird kein explizites Argument entwickelt. Es könnte nur lauten, dass Gott angesichts seiner eigenen Existenzform doch nicht vergessen soll, dass der Mensch eben vergänglich ist und dass das betende Ich unter dieser Vergänglichkeit leidet. Dabei wird nicht um eine Aufhebung der Vergänglichkeit gebeten, sondern um ein lebenswertes Leben, das nicht vorzeitig beendet wird. Der Kontrast zwischen menschlicher Vergänglichkeit und göttlichem Dasein soll hier offenbar als Motivation Gottes wirken, sich über den klagenden Menschen zu erbarmen. Der folgende Ps 103 spricht das deutlicher aus: 13 14 15

Wie das Erbarmen eines Vaters über Kinder, / hat sich erbarmt JHWH über die, die ihn fürchten. Ja er, er hat erkannt unser Gebilde, / ist eingedenk, dass wir Staub sind. Der Mensch, wie Gras sind seine Tage, / wie die Blüte des Feldes, so blüht er.

6.6 Verfolgung und Gerechtigkeit: Ps 94

16 17 18

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Ja, ein Wind geht über sie hin und sie ist nicht, / und nicht mehr weiß um sie ihr Ort. Aber die Liebe JHWHs ist von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten / und seine Gerechtigkeit gilt Kindeskindern, denen, die seinen Bund bewahren / und denen, die seiner Anweisungen gedenken, um sie zu tun.

Hier wird die menschliche Vergänglichkeit zum Begnadigungsgrund für die Menschen. Anders als in Ps 102 wird hier weniger akzentuiert, dass Gott selbst außerhalb der Zeit steht, sondern seine Liebe (oder „Gnade“/„Huld“, dsj chæsæd), also seine Zugewandtheit zum Menschen wird hier als ewig bezeichnet. Damit haben sich die Akzente verschoben, was aber dem sehr unterschiedlichen Gesamtcharakter der beiden Psalmen – Ps 102 ist eine erschütternde Klage, Ps 103 das „Hohelied der Gnade“17 – geschuldet ist. Zusammen mit Ps 90 und einigen Passagen des Ijob-Buches gehören die in diesen Psalmen entwickelten und redaktionell zusammengekoppelten Gedanken zu den wichtigsten Reflexionen über die menschliche Lebenszeit und Vergänglichkeit, die wir in der Bibel finden. 6.6 Verfolgung und Gerechtigkeit: Ps 94 1 2 3 4 5 6 7 8

Gott der Ahndungen, JHWH / Gott der Ahndungen, erscheine! Erhebe dich, Richter der Erde / bringe zurück Vergeltung auf die Hochmütigen! Wie lange noch sollen die Frevler, JHWH / Wie lange noch sollen die Frevler frohlocken? Sie sprudeln, sie sprechen frech / sie brüsten sich, alle Übeltäter. Dein Volk, JHWH, zerschlagen sie / und deinem Erbe tun sie Gewalt an. Die Witwe und den Fremden töten sie / und die Waisen ermorden sie. Und sie sagten: Nicht sieht (es) JH / und nicht versteht (es) der Gott Jakobs. Versteht doch, ihr Trottel im Volk / und ihr Narren, wann wollt ihr zur Einsicht kommen?

112 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

Der das Ohr pflanzt, sollte der nicht hören? / Oder der das Auge bildet, sollte der nicht schauen? Der die Völker unterweist, sollte der nicht züchtigen, / der den Menschen Wissen lehrt? JHWH kennt die Pläne des Menschen / ja, sie sind Windhauch. Glücklich der Mann, den du unterweist, JH / und den du aus deiner Weisung belehrst, um ihm Ruhe zu schaffen an Tagen des Bösen / bis gegraben werden wird für den Frevler die Grube. Ja, nicht wird aufgeben JHWH sein Volk / und sein Erbe nicht verlassen. Ja, zum Richtigen wird der Richterspruch zurückkehren / und hinter ihm sind alle Aufrichtigen des Herzens. Wer wird für mich aufstehen gegen die Bösewichte, / wer wird sich für mich hinstellen gegen die Übeltäter? Wäre nicht JHWH Hilfe für mich / so hätte beinahe (schon) mein Leben das Schweigen bewohnt. Wenn ich gesagt habe: es wankte mein Fuß / – deine Huld, JHWH, wird mich stützen. Bei den vielen beunruhigenden Gedanken in meinem Inneren, / – deine Tröstungen erfreuen mein Leben. Kann verbündet sein mit dir der Thron des Verderbens, / der Not bildet wider das Recht? Sie rotten sich zusammen gegen das Leben des Gerechten / und unschuldiges Blut sprechen sie schuldig. Aber es wurde JHWH für mich zum Fluchtort / und mein Gott zum Felsen meiner Zuflucht. Und er brachte zurück gegen sie ihr Unrecht und mit ihrer Bosheit wird er sie vernichten / es wird sie vernichten JHWH, unser Gott.

Der Themenkomplex von Verfolgung und Gerechtigkeit hat in diesem Psalm gleichermaßen ausgeprägte anthropologische wie theologische Aspekte, die allerdings eng miteinander verzahnt sind. Die theologische Seite besteht darin, dass Gott als Richter angesprochen wird. Einerseits lebt hier eine Eigenschaft des Sonnengottes aus der altorientalischen Umwelt des Alten Testaments religionsgeschichtlich weiter (vgl. die Rede vom Erscheinen in v.1, was an den morgendlichen Sonnenaufgang denken lässt), andererseits zeichnen ge-

6.6 Verfolgung und Gerechtigkeit: Ps 94

113

rade auch prophetische Texte im Alten Testament den Gott Israels als Garanten einer Rechtsordnung, die universale Geltung hat. Gott ist ein Gott, der diese Ordnung immer wieder herstellt, indem er Vergehen ahndet.

Abb. 1: Der Sonnengott Schamasch sitzt auf einem aus Bergen bestehenden Thron. Ein Helfer, der ebenfalls Sonnenstrahlen an der Schulter trägt, bringt einen Dämon zum Gericht (akkad. Rollsiegel, ca. 2350–2150 v. Chr.).

Menschlich gewendet wird Gott zu einer Instanz der praktischen Lebensführung, wenn die Aussicht auf Vergeltung eine Übertretung dieser grundlegenden Normen nicht angeraten erscheinen lässt. In Ps 94 rahmt das Thema der Vergeltung des Unrechts durch Gott als den Richter der ganzen Erde in vv.1 f.23 den ganzen Psalm. Diese Ausrichtung passt im Blick auf Ps 94 sehr gut zu seiner Stellung im Psalmenbuch. Er findet sich in einer Reihe von Psalmen (Ps 93– 100), die das universale Königtum JHWHs besingen (vgl. u. zu Ps 93). Zu diesem Königtum gehört nach vielen dieser Psalmen auch das Richteramt Gottes.

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6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

vv.1 f.

Gerichtsappellation

vv.3–7

Klage: allgemeine Notschilderung

vv.8–11

Mahnrede an die „Narren“

vv.12–15

begründete Seligpreisung des von JHWH Belehrten

vv.16–21

persönliche Schilderung von Klage und Zuversicht

v.22 f.

Konstatierung der Rettung

Rahmung: Vergeltung des Unrechts

Tab. 11: Die Struktur von Ps 94 in Anlehnung an Hossfeld18

Die anthropologische Dimension der Themen Verfolgung und Gerechtigkeit in diesem Psalm soll an dieser Stelle etwas ausführlicher beleuchtet werden. Als poetisch offener Text lässt sich Ps 94 nicht auf eine klare Situation festlegen. Handelt es sich um die Verfolgungssituation eines Einzelnen (vgl. vv.16–19) oder geht es um eine kollektive Notlage (vv.5.14) oder immerhin um die Not einer WirGruppe (v.23)? Die Forschung hat daher oft einen Mischstil festgehalten und sich an den Gattungselementen der Klage orientiert. Entsprechend könnte man das „Dreieck der Klage“ (vgl. o. Kap. 2.3.3) zwischen Gott, dem betenden Ich oder Wir und den Feinden als Ausgangspunkt für die Situationsbeschreibung nehmen. In diesem Dreieck würde die Gewalt der Feinde gegenüber dem/den Betenden und das folgende Gebet an Gott zur göttlichen Vergeltung gegenüber den Feinden führen. Gegenüber diesem Ansatz bei der Typologie der Klage soll hier der Versuch gemacht werden, den Psalm mittels der konstellativen Anthropologie genauer zu profilieren. Unabhängig von den Überlegungen nach einem individuellen oder kollektiven Subjekt der Klage lässt sich die anthropologische Charakteristik von Verfolgern und Verfolgten recht klar und mit vielen Aspekten ablesen.19 Die Frevler zeichnen sich allgemein durch Hochmut, freche Reden und gewalttätiges Handeln aus. Dabei hat der Hochmut seinen Kern offenbar in einer Art praktischem Atheismus: V.7 zitiert solche Menschen mit der Annahme, dass Gott ihr Handeln nicht sehe. Entsprechend skrupellos sind ihre Taten. Sie vergreifen sich mit v.6 an Witwen, Fremden und Waisen. Diese klassische Trias von bedürftigen Personen begegnet häufig in altorientalischen Texten. Die genannten Gruppen haben gemeinsam, dass sie kaum Möglichkeiten haben, ihr Recht

6.6 Verfolgung und Gerechtigkeit: Ps 94

115

selbst durchzusetzen, und daher auf den Schutz und das Wohlwollen der sie umgebenden Gesellschaft angewiesen sind. Anthropologisch gesehen, besteht bei ihnen ein Defizit auf der Ebene der Sozialsphäre, das ihnen nicht erlaubt, ihr Leben vollständig vernetzt – und das heißt auch: mit allen Rechten – zu leben. Es ist gewissermaßen eine altorientalische Selbstverständlichkeit, dass die Gesellschaft in diesem Fall die Aufgabe hatte, auszugleichen und Leben zu ermöglichen, auch und gerade weil es keine institutionellen Regelungen wie in modernen Rechtsstaaten gab. Verbrechen gegen diese Personen wiegen daher einerseits moralisch besonders schwer. Andererseits besteht eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Täter straffrei ausgeht, da er wegen des mangelhaften sozialen Schutzes des Opfers nicht mit irgendwelchen Formen der Strafverfolgung rechnen muss. Morde an in dieser Weise isolierten Menschen vollziehen sich gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft im Stillen. In den vv.20 f. wird ein weiterer Bereich angesprochen. Hier geht es um Rechtsbeugung und die Verurteilung von Unschuldigen zum Tode. Die Voraussetzung, dass das gelingen kann, ist offenbar eine Verschwörung (v.21: „sie rotten sich zusammen“). Wie bereits bei den Verbrechen an den besonders schutzbedürftigen Personen handeln auch hier die Frevler in einem Bereich, der gesellschaftlich nicht weiter geschützt werden kann. Wenn nicht ein gerechter Richter von sich aus die Gerechtigkeit durchsetzt, so wird der Richterstuhl zum „Thron des Verderbens“ (v.20), weil Justizmorde möglich werden. Für die Täter dieser Verbrechen gilt aus anthropologischer Sicht, dass sie oberflächlich gut sozial integriert erscheinen. Der einzige Bereich, in dem ihre „soziale“ Rolle gänzlich versagt, ist nach der Konstruktion des Psalms das Gottesverhältnis. Gott – und damit die Notwendigkeit, sich für sein Tun zu verantworten – kommt praktisch in ihrem Leben nicht vor, wenn er als nicht sehend und nicht verstehend (v.7) abqualifiziert wird. Diese Haltung der Hybris wird vom betenden Ich als Torheit benannt (vv.8–10). Ein solches skrupelloses Pläneschmieden ist „Windhauch“ (v.11). Dieses Wort ist ein zentraler Ausdruck im Kohelet-Buch und qualifiziert hier die absurden Seiten des menschlichen Lebens. Das Leben der Frevler erscheint in dieser anthropologischen Sicht an einem entscheidenden Punkt defizitär. Umso klarer hebt sich der menschliche Gegenentwurf als geglücktes Leben ab. Die vv.12–15 sprechen eine weisheitliche Sprache. Der hier beglückwünschte Mensch rechnet nicht nur mit der Existenz und Aktivität Gottes, er lässt sich auch von ihm belehren, richtet also sein Leben nach der göttlichen Weisung aus. Das hat ei-

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6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

nerseits die Konsequenz, dass ein solcher Mensch sicher kein Frevler ist. Andererseits bedeutet es aber auch einen Schutz vor dem Frevler, eben weil Gott die allgemeine Rechtsordnung selbst durch Vergeltung schützt. Anthropologisch bedeutet diese Rückbindung an Gott eine tiefere Einbindung auf der Ebene der Sozialsphäre, die sich in einem Leben nach der Tora und der Gewissheit des göttlichen Schutzes äußert. Dieser Schutz wird im folgenden Abschnitt (vv.16–21) ausbuchstabiert. Während die Frage in v.16 an den Beistand eines Anwalts denken lässt, feiern die vv.17–19 die Erfahrung der Gottesgemeinschaft. Dabei sind sie anthropologisch sehr eindringlich auf der Ebene der Leibsphäre formuliert und weisen auf den Gewinn an Lebendigkeit hin, den der göttliche Beistand bedeutet. Die rhetorische Frage in v.20 schließt de facto diese Gottesgemeinschaft für den ungerechten Richter und sein tödliches Treiben (v.21) aus. Die Schlussverse fassen dann als Gewissheit zusammen, worum der Psalm gebetet hat: Gott ist für das betende Ich eine Zuflucht, während er für die angreifenden Frevler entgegen der zitierten Einschätzung von v.7 die Vergeltung ausübt. Wenn man versuchen will, die Grundproblematik des Psalms in den Kategorien der konstellativen Anthropologie auszudrücken, so haben wir es mit verschiedenen Formen sozialer Eingebundenheit zu tun. Gegenüber dem praktischen Atheismus der Frevler erweitert die Gottesgemeinschaft des betenden Ich gewissermaßen dessen „soziales“ Leben um ethische Verpflichtungen, aber auch um ein Art Rechtsschutz, der in der göttlichen Ahndung von verborgenen Verbrechen besteht. Dieser göttliche Schutz würde dann auch für die besonders bedürftigen Personengruppen gelten, die durch ihre defizitäre soziale Situation besonders gefährdet sind. Die Wirklichkeitsanalyse des Psalms ist sehr klar: Verfolgung und Verbrechen zerstören die menschlichen Lebensmöglichkeiten. Die göttliche Gerechtigkeit ist hier anthropologisch betrachtet nicht nur einfach ein Gegengewicht im Dreieck von betendem Ich, Feinden und Gott, wie es in der älteren Forschung zur alttestamentlichen Klage immer wieder beschrieben worden ist, sondern sie ist der Grund, warum der Lebensentwurf des Gerechten mit seiner Eingebundenheit in die Gottesgemeinschaft ein Mehr an Leben und Weite und – wenn man so will – der Lebensentwurf des Frevlers letztlich ein Weniger an Leben und den Untergang bedeutet. Eine Gotteserfahrung besteht nach dieser Logik vor allem in der Erfahrung der Rettung. Damit sind wir bei Ps 30.

6.7 Rettung: Ps 30

117

6.7 Rettung: Ps 30 1

Ein Psalm, das Lied der Tempelweihe, von/für David

2

Ich will dich erheben, JHWH, denn du hast mich heraufgezogen / und nicht ließest du sich freuen meine Feinde über mich. JHWH, (du bist) mein Gott / ich habe geschrien zu dir und du hast mich geheilt. JHWH, du hast heraufgeführt aus der Scheol mein Leben (næpæš) / du hast mich am Leben gehalten weg von meinem Absteigen in die Grube. Spielt für JHWH, seine Frommen / und preiset zur Anrufung seiner Heiligkeit! Denn: einen Moment (lang) in seinem Zorn, ein Leben (lang) in seinem Wohlgefallen // am Abend wohnt (da) Weinen, und am Morgen Jubel.

3 4 5 6

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Und ich hatte in meiner Sorglosigkeit gesagt: / „Nicht werde ich wanken, für immer“ JHWH, in deinem Wohlgefallen hattest hingestellt für meinen Berg Stärke // du hast verborgen dein Angesicht – ich war entsetzt. Zu dir, JHWH, rief ich (immer wieder)20 / und zu Adonaj flehte ich (immer wieder) um Gnade: „Welcher Gewinn besteht in meinem Blut, in meinem Absteigen ins Grab? // Wird dich preisen der Staub, / wird er verkünden deine Treue? Höre, JHWH, und sei mir gnädig / JHWH, werde zum Helfer für mich!“ Du hast gewandelt meine Trauer in Tanz für mich, du hast losgebunden mein Trauergewand / und hast mich umschlossen mit Freude. Damit dir spielt (meine) Ehre und nicht schweigt, / JHWH, mein Gott, für immer will ich dich preisen.

Ps 30 ist ein komplexes Danklied, das auf eine Rettungserfahrung zurückblickt. Die erste Strophe (vv.2–6) ist dreigeteilt: Auf eine begründete Selbstaufforderung zum Lob Gottes (v.2) folgt ein Rückblick auf Not und Rettung (vv.3 f.) und schließlich eine wiederum begründete Aufforderung an die Frommen zum Gotteslob (vv.5 f.). Die zweite Strophe (vv.7–13) gestaltet nun den Rückblick auf die

118

6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

Not nochmals dramatisch aus und greift dazu zunächst auf den sorglosen Zustand des Ich vor Einbruch der Not zurück (vv.7 f.), um dann seine Klage darzustellen und sie sogar wörtlich zu zitieren (vv.9–11). In v.12 wird die Rettungserfahrung geschildert und in v.13 schließt das Lob sowohl die Strophe als auch den Psalm insgesamt ab. 1. Strophe: vv.2–6

v.2 vv.3 f. vv.5 f.

begründete Selbstaufforderung zum Lob Gottes Rückblick auf Not und Rettung begründete Aufforderung an die Frommen zum Gotteslob

2. Strophe: vv.7–13

vv.7 f. vv.9–11 v.12 v.13

sorgloser Zustand des Ich vor der Not Klage Schilderung der Rettungserfahrung Lob

Tab. 12: Die Struktur von Ps 30

Was den Psalm also auf den ersten Blick etwas kompliziert macht, ist die Verschränkung der verschiedenen Zeitebenen, zwischen denen die Darstellung hin- und herspringt.21 Sie umfasst nicht nur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern in den beiden Rückblicken verschiedene Zeitstufen in der Vergangenheit, nämlich die Zeit bis zur Krise (vv.7 f.), die Zeit der Klage (vv.3a.9–11) und die Zeit der Rettung (vv.3b–4.12). Vor, zwischen und nach den beiden Rückblicken in die Vergangenheit geht es im Psalm um die Gegenwart, die sich in die Zukunft ausstreckt. Das gilt zunächst für die gegenwärtigen Lobaufforderungen mit Begründung in den vv.2.5 f. und dann besonders für das Gelübde, JHWH „für immer“ preisen zu wollen in v.13. Was aber bedeutet in diesem Psalm Rettung? Wie wird sie in Worte gefasst und was wird hier an anthropologischen Vorstellungen sichtbar? Schon auf den ersten Blick ist klar, dass es offenbar um eine Krisenerfahrung geht, bei der das Leben des betenden Ich auf dem Spiel stand (vv.4.10) und dass der Psalm zur Darstellung der Rettung aus dieser tödlichen Bedrohung mit polaren Gegensätzen arbeitet. Gleichzeitig ist ebenso klar, dass es nicht um eine bis ins Detail festlegbare, einzigartige Erfahrung geht, sondern dass der Psalm in vielen Situationen ein passendes „Gebetsangebot“ darstellen kann. Die Art und Weise und – wenn man so sagen kann – die Intensität der Lebensbedrohung kann dabei entsprechend dem oben

119

6.7 Rettung: Ps 30 Zukunft Gegenwart Vergangenheit 1 Vergangenheit 2 Vergangenheit 3

13b 2a

5 f.

13b

3b .4

2a .b

12 13a

3a.b

9 11 7 f.

Tab. 13: Die Zeitstruktur in Ps 30 (vgl. Janowski, Konfliktgespräche, 272)

zur Anthropologie Gesagten vielfältig sein. Selbst wenn man die Rede von Heilung in v.3 in einem engen Sinn wörtlich versteht und an eine somatische Erkrankung denkt, wie das in der Forschung im Zusammenhang der Gattungszuweisung als „Krankenpsalm“ diskutiert worden ist, so würde doch völlig unklar bleiben, von welcher Art von Krankheit hier die Rede ist. Für eine Untersuchung der zutage tretenden Anthropologie ist es daher erfolgversprechender, die Gegensätze und Bewegungen zu untersuchen, mit denen hier von Leben und Tod gesprochen werden kann. Die erste Ebene, auf der diese Gegensätze ausgedrückt werden, ist die des Raumes. Bereits v.2 benennt die Rettung zusammenfassend als eine Bewegung im Raum von unten nach oben, ein heraufgezogen Werden. In v.4a wird die Raumvorstellung konkretisiert: JHWH hat das individuelle Leben, die næpæš des Beters aus der Unterwelt, der Scheol, heraufgeführt. Damit befinden wir uns in einer kosmologischen Topografie. Die Scheol ist der tiefste Ort des Kosmos, das Totenreich. Sich dort aufzuhalten, bedeutet tot zu sein. V.4b parallelisiert dem Abstieg zur Unterwelt den Abstieg in die Grube, ins Grab, wie es dann v.10 benennt. Beide Vorstellungen hängen sachlich eng zusammen und verschmelzen nahezu miteinander. Der räumliche Gegenpol zur Unterwelt wird im Psalm doppelt benannt: Die Situation vor der Krise schildert v.8a etwas enigmatisch mit der Metapher des Berges. Der Berg, der das selbstsichere Dasein des Ich vor dem Schicksalsschlag symbolisiert, weckt einerseits Assoziationen, die auch der Psalm erwähnt: Von einem Berg erwarten wir, dass er nicht wankt (v.7), dass er also beständig ist. Das gilt umso mehr, wenn er von Gott mit „Stärke“ – man könnte auch mit „Kraft“ oder „Macht“ übersetzen – ausgestattet ist (v.8). Andererseits ist ein Berg ein hoher Ort, der weit von der Unterwelt und ihren Bedrohungen entfernt ist. Von diesem Ausgangspunkt der Bewegungen des Ich ist nun allerdings der Endpunkt nach dem Abstieg und dem Wiederaufstieg, also sein aktueller „Ort“, offenbar verschieden. Räumlich ist dieser Punkt in Ps 30 nicht explizit benannt, es gibt aber Hinweise, die sich

120

6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

mit anderen Texten in Einklang bringen lassen. Einerseits ist es ein Ort, an dem das Ich die Frommen zum Gotteslob auffordern kann (v.5), andererseits bringt die (später hinzugesetzte) Überschrift den Psalm mit der Tempelweihe in Verbindung. In Ps 18,7; Jona 2,5 ist der Tempel gewissermaßen der kosmologische Gegenpol zur Unterwelt, aus der das Ich gerettet wird (zum theologischen Selbstverständnis des Tempels s.u. Kap. 7.3). Ein anderer Gegensatz, der aufgebaut wird, ist die Anfeindung (v.2) gegenüber der wiederhergestellten Ehre des Ich, die am Ende Gott loben kann (v.13). Dieses Gegensatzpaar lässt sich vor dem Hintergrund der konstellativen Anthropologie gut erklären. Auf der Ebene der Sozialsphäre ist das betende Ich nicht lebendig, es hat keinen Status als Person, wenn sich die Feinde über sein Unglück freuen. Hier fehlt die soziale Integration, die einen Menschen stützt und in ein Geflecht von aufeinander verwiesenen sozialen Rollen stellt. Damit einhergehend sinken das Selbstwertgefühl und die erwiesene Wertschätzung – nach v.2 kehrt sie sich sogar ins Gegenteil. Die Rettungserfahrung drückt sich daher auch auf dieser Ebene aus: Einerseits scheint das Ich in v.5 unter den Frommen „gut integriert“, andererseits ist es gerade die wiederhergestellte Ehre, die nicht mehr schweigen kann, sondern vor Gott am Ende dankbar Musik macht. Auch wenn die Rede von Heilung (v.3) in einem umfassenderen oder gar metaphorischen Sinn verstanden werden kann, so ruft sie doch den Gegensatz von Krankheit und Gesundheit und damit primär ein Phänomen der Leibsphäre auf. Diese Ebene ist in der ersten Strophe erst am Ende wieder präsent, wenn von Weinen und Jubel (v.6) die Rede ist. In der zweiten Strophe spielt sie für die Todesschilderung in v.10 und die Wandlungsaussagen in v.12 eine große Rolle. Man versteht diese Aussagen und ihren inneren Zusammenhang besser, wenn man die auch in ägyptischen Texten präsente Vorstellung zugrunde legt, dass ein Mensch auf der Ebene der Leibsphäre nur dann ganz lebendig – oder anders ausgedrückt: nur dann in vollem Maß Person – ist, wenn seine Gliedmaßen eine funktionierende, vom verbindenden Medium Blut durchflossene Einheit darstellen (s. o.). Bei Krankheit sind ein oder mehrere Körperteile oder ihr Zusammenspiel geschwächt oder nicht voll funktionsfähig. Während beim Weinen (v.6) der Körper als Ganzer mit den Tränen auch Kraft verliert und die Trauer (v.12) u. U. sogar mit selbstzerstörerischen Minderungsriten wie Beschmutzung, Haare Raufen oder Zerkratzen der Haut verbunden sein kann, ist das Zusammenspiel der Körperteile bei Jubel (v.6) und Tanz (v.12) perfekt. Noch dra-

121

6.7 Rettung: Ps 30

stischer sind die Todesbilder in v.10, die den Zusammenhalt des Körpers verneinen: das – vergossene? – Blut als verbindendes Medium steht hier für das Leben selbst, der Staub für den allerletzen Grad der Zergliederung und Zerstörung, die ein menschlicher Körper lange nach dem Tod im Grab erfahren wird. Beide Bilder stehen für den Tod in einem umfassenden, endgültigen Sinn. Raum

unten Grube/Scheol (vv.4b.10)

oben Berg/Tempel (vv.7.8a)

Sozialsphäre

mangelnde soziale Integration Anfeindung des Ich (v.2)

soziale Integration wiederhergestellte Ehre des Ich (vv.5.13)

Leibsphäre

Krankheit weinen (v.6) Todesbilder (v.10)

Gesundheit Jubel (v.6) Tanz (v.12)

Rettungserfahrung Tab. 14: Darstellung der Gegensätze, mit denen in Ps 30 von Tod und Leben gesprochen wird

Kombiniert sind diese Todesbilder in v.10 mit der theologischen Ebene, die in gewisser Weise die Sozialsphäre des betenden Ich auf seine religiöse Beziehung zu Gott ausdehnt. Die „Rolle“ des Ich gegenüber Gott besteht darin, in seiner Nähe, seiner Gegenwart, vor seinem Angesicht zu leben. Ausdruck dieser „Rolle“ sind das Gotteslob und sicher auch ein entsprechend ethisches, nämlich „gottesfürchtiges“ Verhalten – von dem der Psalm allerdings nicht spricht – und umgekehrt die Erfahrung dieser Nähe Gottes in Segen und Rettung. Die Beziehung, um die es hier geht, spricht v.3 in kürzester Form aus: „JHWH, (du bist) mein Gott.“ In v.8 deutet das Ich seine Existenz vor der Krise genau vor diesem Hintergrund. Das göttliche Wohlgefallen bedeutet für ihn Beständigkeit und Wohlergehen. Aber wenn die Gottesgegenwart nicht mehr spürbar ist, wenn Gott sein Gesicht verbirgt, so fällt das Ich in die Gottesferne, die den Tod bedeutet. Umgekehrt steht aber auch der Tod für ein Dasein in der größten Entfernung von Gott. Die Todesbilder, die v.10 zeichnet, stellen das Gott vor Augen und versuchen ihn so zum Eingreifen zu bewegen. Man könnte sie paraphrasieren: „Du hast doch nichts davon, wenn ich sterbe, aber du wirst gepriesen, wenn ich überlebe –

122

6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen

also rette mich!“ Dass der Staub oder konkret ein Toter – im Gegensatz zu einem geretteten Frommen – Gott nicht preist, ist zunächst einmal nicht mehr als eine Erfahrungsaussage, die jeder bestätigen könnte, der schon einmal auf einem Friedhof war. Die Beziehungslosigkeit zwischen den Toten und Gott, die dadurch zweifellos auch ausgesagt wird, ist in der älteren Forschung als eine Art Glaubensaussage verstanden und systematisch weiter gedacht worden: Wenn der Mensch sterbend in Bewußtlosigkeit fällt, scheidet er für das alte Israel aus dem Herrschaftsbereich Gottes aus. Der Tote ist für Gott somit uninteressant. Der Tote ist untauglich für die Ausbreitung der Herrschaft Gottes – für die Erfüllung der göttlichen Schöpfungs- und Erlösungsabsichten. Der Tote ist für Gott unbrauchbar.22

So griffig dieser Gedanke auch ist, er kann nicht den gesamten Befund alttestamentlicher Aussagen zu diesem Themenkreis abdecken. Gerade von den Psalmen eines Individuums wie Ps 30, die von Rettungserfahrungen aus dem Tod sprechen, führen gedankliche Ansätze zu Glaubensaussagen, die es nach dieser Konzeption eigentlich nicht geben dürfte: In Ps 73 (s. u. Kap. 7.5) ist das betende Ich überzeugt, dass seine Gemeinschaft mit Gott auch über den Tod hinaus Bestand haben wird, und Ps 49 (s. o. Kap. 1.3) spricht von einer Errettung nicht vor, sondern aus dem Tod, aus der „Hand der Scheol“, durch Gott, was alle menschlichen Sicherungsbemühungen angesichts der Sterblichkeit übersteigt. Diese Überlegungen über die Todesgrenze hinaus sind für Ps 30 nicht im Blick. Die Rettung, um die es hier geht, vollzieht sich gänzlich zu Lebzeiten des betenden Ich. Gleichzeitig geht es um Erfahrungen des realen Todes, der eben mitten in das Leben hineinreichen und alle Lebensvollzüge treffen kann. Der Gedankengang von Ps 30 wird dabei von zwei grundlegenden Einsichten bestimmt. Der erste Gedanke ist theologischer Art und besteht in der Asymmetrie der göttlichen Zuwendung zum Menschen, die in v.6 in Art eines Merksatzes formuliert wird: Auch wenn Menschen immer wieder die Erfahrung des Gotteszorns in Gestalt von Schicksalsschlägen machen müssen, so überwiegt doch das göttliche Wohlgefallen, also die gütige und rettende Zuwendung Gottes. Der zweite Gedanke ist, dass die in v.7 ausgesprochene Selbstsicherheit von Menschen trügerisch ist. Menschliches Leben ist immer verletzlich und damit gefährdet oder andersherum: Gelingendes menschliches Leben ist immer auch ein göttliches Geschenk (vgl. Koh 3,13; 5,18) und das Ergebnis einer Rettung vor ebenso möglichem Unheil. Beide Gedanken werden

6.7 Rettung: Ps 30

123

hier nicht als abstrakte Glaubenssätze, sondern als gelebte Erfahrung vorgetragen und sind der Grund für Dank und Lob Gottes. Damit sind wir bei der Theologie der Psalmen, die im folgenden Kapitel in einigen wenigen Grundzügen an Beispielpsalmen skizziert werden soll.

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen 



Das Psalmenbuch ist ein großes Glaubensbuch. Es bietet einen Meditationsweg, auf dem Leserinnen und Leser seit der Antike leidenschaftlich nach Gott suchen, über seine Verborgenheit nachdenken, ihm Vorhaltungen machen, über ihn staunen und ihn mit aller Begeisterung loben. Es bietet eine große Bandbreite an theologischen Themen und partizipiert an ganz unterschiedlichen alttestamentlichen Theologien, die sich hier in Form von Gebeten artikulieren. Gott erscheint hier als Schöpfer, König und Richter der Welt, er wird im Tempel, aber auch im Himmel angerufen, manchmal ist er der Nahe und manchmal der Verborgene und Dunkle. Wegen ihrer Rezeption und ihrer Verbreitung als Gebete haben die Psalmen zudem schon für das frühe Judentum und Christentum eine große Bedeutung als biblische Quelle theologischen Denkens. 



Gott begegnet in den Psalmen gelegentlich zwar auch als ein Thema, über das nachgedacht werden kann, vor allem aber ist er ganz unmittelbar präsent als Adressat vieler Psalmen, als intimer Gesprächspartner oder als ein ferner Gott. In den Psalmen kann man daher eine Theologie entdecken, die nie in der Gefahr ist, ins Spekulieren abzuheben – und sich damit letztlich ein „Bild“ von Gott zu machen –, sondern sie ist Glaubensreflexion coram deo. Zu diesem grundlegenden dialogischen Charakter der Theologie in den Psalmen tritt der theologische Dialog zwischen den Einzelpsalmen auf der Ebene des Psalmenbuchs hinzu. Oft gibt es zu theologischen Themen ganz unterschiedliche Beiträge, so dass eine Theologie des Psalmenbuchs immer vielstimmig ist. Diese Eigenschaften mag man als das Fehlen von Systematik und Einheitlichkeit bemängeln. Die Rezeption zeigt aber, dass wir hier einer Art und Weise des Theologietreibens begegnen, die es heute vielleicht neu zu entdecken gilt. Eine wichtige theologiegeschichtliche Frage ist zudem, welche von den Texten, die uns heute in der Bibel überliefert sind, im Frühjudentum (und damit auch im frühesten Christentum) über die Kreise theologischer Eliten hinaus vermutlich im Wortlaut bekannt waren und so die Grundlage theologischen Denkens in einer breiteren Bevölkerung darstellten. Blickt man unter dieser Fragestellung auf

7.1 Königtum JHWHs: Ps 93

125

späte alttestamentliche Literatur wie die Chronikbücher, auf die Qumranrollen und schließlich auch auf das Neue Testament, so sprechen die Häufigkeit und die Art und Weise der Zitate dafür, dass den Psalmen hier eine hervorgehobene Stellung zukommt. Die Theologien der Psalmen bieten damit einen wesentlichen geistesgeschichtlichen Hintergrund für unser Verständnis sowohl vom frühen Judentum wie auch vom frühen Christentum. Der folgende Überblick über theologische Schwerpunkte in den Psalmen möchte daher einige wichtige Linien an Beispieltexten nachzeichnen. 7.1 Königtum JHWHs: Ps 93 Eine Modellvorstellung, von Gott zu sprechen, die im Psalmenbuch eine wichtige Rolle spielt, ist die des Königtums. Wenn in alttestamentlichen Texten von Gott als einem König die Rede ist, dann können ganz unterschiedliche Aspekte angesprochen werden. Zunächst ist der Ort, wo Gott als König auf dem Kerubenthron sitzt, der Tempel in Jerusalem (vgl. Jes 6).

Abb. 2: Ein ägyptischer Fürst sitzt auf einem Kerubenthron (Elfenbein aus Megiddo, 1350–1150 v. Chr.).

Diese Vorstellung ist gerade in Texten ab dem 6. Jh. v. Chr. die irdische Entsprechung zum Thronen Gottes im Himmel. Hinzu kommt eine Verbindung zu Schöpfungsvorstellungen, so dass Gott nicht einfach nur der König seines Volkes ist – diese Vorstellung gibt es auch

126

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

und zwar besonders in Texten, die das irdische Königtum kritisieren –, sondern der König der ganzen Erde. Als solcher kann er auch als Richter auftreten, was zunächst ja eine Funktion des altorientalischen Königtums ist und daher nicht erstaunt. Die Tendenz zur universalen Geltung des göttlichen Königtums führt in späten Texten aber auch zur Vorstellung eines göttlichen Gerichts gegen „heidnische“ Völker. Diese Kombination von Vorstellungen – und die Art der Texte, oft mit für uns spärlichen Andeutungen auf sie zu verweisen – lässt sich besser verstehen, wenn man den altorientalischen Hintergrund mit berücksichtigt. Ein wichtiger Text in diesem Zusammenhang ist das babylonische Weltschöpfungsepos, das nach seinen ersten Worten in akkadischer Sprache „Enuma Elisch“ genannt wird.1 Inhaltlich geht es um den Aufstieg des babylonischen Stadtgottes Marduk an die Spitze aller Götter. Blickt man auf das historische Umfeld des Textes, so ist das die Umsetzung einer geschichtlichen Entwicklung in einen Mythos, der die Gegebenheiten in die Urzeit verlegt und sie damit als gültig und rechtmäßig legitimiert. Der berühmte König Hammurapi (1792–1750 v. Chr.) hatte das zuvor völlig unbedeutende Babylon zur Hauptstadt von Südmesopotamien gemacht und damit auch seinen Stadtgott Marduk aufgewertet. Unter Nebukadnezar I (1125–1103 v. Chr.) wurde Marduk dann offiziell König der Götter. In diesem Zusammenhang könnte auch „Enuma Elisch“ entstanden sein. Es kann rechtfertigen, warum Marduk über die traditionellen Hauptgötter des Pantheons erhoben worden ist. Der Inhalt ist folgender: Bevor Himmel und Erde entstehen, gibt es zwei wässrige Urgötter, Apsu, den Süßwasserozean, und Tiamat, das Urmeer. Die beiden vereinigen sich, mischen sich und bringen so die jüngeren Götter hervor. Diese jüngeren Götter aber rauben den Eltern mit ihrem Lärm den Schlaf. Apsu, der Vater, beschließt daher gegen den Protest der Mutter Tiamat, die eigenen Kinder zu töten. Der Beschluss wird den jüngeren Göttern bekannt, so dass der Gott Ea seinem Vater zuvor kommen und ihn töten kann. Auch Tiamat wird im Laufe der weiteren Erzählung aggressiv und erschafft alle möglichen Ungeheuer und stellt sie unter den Befehl ihres zweiten Mannes Kingu. Nach vergeblichen Versuchen anderer Götter, gegen Tiamat zu kämpfen, bietet sich der Sohn Eas, Marduk, für diese Aufgabe an. Er stellt allerdings die Bedingung, dass er zum König der Götter gemacht wird. Die Götterversammlung geht darauf ein, verlangt aber im Gegenzug, dass Marduk, wenn er dann König sei, dafür sorgen müsse, dass alle Tempel mit Speisen versorgt werden, damit die Götter selbst nicht mehr arbeiten müssen. Daraufhin rüstet sich Marduk, kämpft mit Tiamat und tötet sie. Dann zerteilt er den Kadaver und

7.1 Königtum JHWHs: Ps 93

127

spannt die eine Hälfte als Himmelsozean auf. Aus der anderen Hälfte wird das Festland erschaffen, das über den Süßwasserozean gebaut wird. Im weiteren Verlauf der Schöpfung errichtet Marduk sich einen Palast und nennt ihn „Babylon“. Die Versorgung der Heiligtümer der Götter gewährleistet Marduk schließlich dadurch, dass er die Menschen erschafft, um ihnen diese Aufgabe zu übertragen. Wir haben es hier also mit einer Kombination aus Götterentstehung, Götterkampf und Schöpfung zu tun, die v.a. das Ziel verfolgt, Marduk zu verherrlichen und seine königliche Stellung zu legitimieren. Dabei fällt auf, dass Marduk bereits zum König gemacht wird, bevor er überhaupt kämpft. Er kämpft als König und sein Kampf bestätigt seine umfassende Macht über das Universum, die er nicht nur destruktiv, sondern auch konstruktiv in der Weltschöpfung aus dem Leib Tiamats unter Beweis stellt. Am Ende der Kosmogonie steht die Gründung Babylons als dem Zentrum der Welt. Der Tempel und Wohnsitz Marduks in Babylon ist gleichzeitig Garant und Ergebnis seines Königtums und der Weltordnung, die er selbst geschaffen hat. Religionsgeschichtlich fließen in die unterschiedlichen im Alten Testament anzutreffenden Ausprägungen, vom Königtum JHWHs zu sprechen, auch Elemente aus anderen Texten und aus anderen Kulturen in der Umwelt Israels mit ein. Neben dem Blick auf „Enuma Elisch“ kann man etwa beim folgenden Psalm auch auf Texte aus dem nordsyrischen Ugarit verweisen, in denen sich der Wettergott Baal (oder Ba‘lu) im Kampf gegen seinen Chaos-Feind Jammu, das Meer, siegreich erweist und so die Königsherrschaft erlangt.

Abb. 3: Das Chaoskampf-Motiv: Ein kämpfender Held vertreibt die gehörnte Schlange aus dem Bereich der Pflanzen, die das „Land des Lebens“ symbolisieren (assyr. Rollsiegel aus Ninive, 8./7. Jh. v. Chr.).

128

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

Ps 93 1

2 3 4

5

JHWH ist König geworden. Mit Hoheit hat er sich bekleidet, bekleidet hat sich JHWH, mit Macht hat er sich gegürtet. / Ja, fest wird der Erdkreis stehen, er wird nicht wanken. Fest stehend ist dein Thron von alters her, / von Urzeit an bist du. Es erhoben Ströme, JHWH, es erhoben Ströme ihre Stimme / es erheben (immer wieder) Ströme ihr Klatschen. Mehr als die Stimmen großer Wasser, die gewaltige Brandung des Meeres, / ist gewaltig in der Höhe JHWH Deine Zeugnisse haben sich als sehr zuverlässig erwiesen, für deinen Tempel war lieblich Heiligkeit / JHWH für die Dauer von Tagen.

Nach dem eröffnenden Themasatz der ersten Zeile gliedert sich der Psalm in drei Strophen – was man mit einem Blick auf die Abfolge der im hebräischen Text eingesetzten Verbformen genauer belegen könnte. Dabei kann man von v.5, der die letzte Strophe bildet und sich formal und thematisch vom restlichen Text unterscheidet, vermuten, dass er dem Psalm erst angefügt worden ist, als dieser in seinen jetzigen Kontext im Psalmenbuch eingefügt worden ist. Das göttliche Königtum ist in diesem Psalm in unterschiedlichen Aspekten entfaltet. Die erste Zeile entspricht einerseits dem Proklamationsruf bei den Thronbesteigungen irdischer Könige und begegnet in Bezug auf Marduk auch in „Enuma Elisch“. Andererseits wird die Analyse zeigen, dass nicht gemeint ist: „JHWH ist König geworden – und war es vorher nicht“. Ein solches „vorher“ ist überhaupt nicht im Blick. Die Perspektive ist vielmehr die einer Erklärung der vorfindlichen Welt, und hier ist eben festzuhalten, dass JHWH König ist oder sich als König erweist. Die erste Strophe entfaltet das Königtum nun zunächst unter den Aspekten des königlichen Ornats und des Thronens. Sie beginnt mit einem Dreizeiler, einem sogenannten Trikolon. Der besondere Cha-

7.1 Königtum JHWHs: Ps 93

129

rakter der hier verwendeten Variante dieser Versform entsteht durch Wiederholungen, wobei die Betonung auf der dritten Verszeile liegt. Die zweite Strophe besteht ebenfalls aus dieser Art des Trikolons, die auch aus anderen Bereichen altorientalischer Poesie bekannt, im Alten Testament allerdings relativ selten ist. Für v.1 bedeutet das, dass die Betonung auf dem kriegerischen Aspekt des Königs-Ornats JHWHs liegt. So entsteht das dynamische Bild eines Herrschers, der sich bekleidet und für den Kampf rüstet. In den folgenden beiden Bikola wird dieser königlich und zugleich kriegerische Ornat mit einem ruhenden Bild, nämlich einerseits mit der Beständigkeit des Erdkreises und andererseits mit dem Thronen Gottes in Verbindung gebracht. Die zweite Strophe beginnt wiederum dynamisch. Das erste Trikolon schildert die Bedrohung durch Chaoswasser. Diese Bedrohung ist eine uranfängliche Szenerie, die aber – angezeigt durch den Tempuswechsel in der dritten Zeile – in die Gegenwart hineinreicht. V.4 sagt nun gegenüber diesem Chaos – wiederum mit der Betonung auf der dritten Verszeile – die Überlegenheit JHWHs aus. Damit verkehrt sich die bedrohliche Szenerie der anstürmenden Chaoswasser in ein Bild souveräner Ruhe. Worum geht es in diesen Versen? Wie wird hier vom Königtum Gottes gesprochen? Worin besteht es überhaupt? Zunächst wird, wie schon erwähnt, deutlich, dass es sich nicht um eine Thronbesteigung in dem Sinne handelt, dass JHWH am Anfang des Psalms noch nicht König wäre und es erst im Laufe des Psalms würde. Ebenso wenig findet vergleichbar mit „Enuma Elisch“ ein Kampf statt, den JHWH erst gewinnen müsste. Janowski spricht daher für die literarische Situation in Ps 93 von der „Stilform der behobenen Krise“2. Es geht nicht um die Frage, ob es eine Zeit gab, in der JHWH noch nicht König war, sondern darum, dass die Krise der anstürmenden Chaosmächte von seinem Königtum – wenn man so will: immer schon und immer wieder neu – behoben ist. Und doch ist das Königtum, um das es hier geht, mit den Elementen verbunden, die auch schon in der Umwelt Israels wichtig waren. Als König der ganzen Erde ist JHWH derjenige, der dafür Sorge trägt, dass der Erdkreis nicht wankt, dass also die Welt nicht aus den Fugen gerät. Diese Sicherheit des Weltbildes wird hier offenbar mit seinem Thronen, seiner Herrschaft in Verbindung gebracht. Sicher wird mit diesem Thronen, wie sonst auch im Alten Orient, auf die Anwesenheit der Gottheit im Tempel bzw. auf dem Gottesberg angespielt, der gleichzeitig so zum Mittelpunkt des ge-

130

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

ordneten Kosmos wird. Die Assoziation des Gottesberges klingt auch in der letzten Zeile von v.4 an, wenn der den Wassermassen überlegene JHWH als „in der Höhe“ vorgestellt wird. Damit geht es hier um ein Weltbild, also um ein Anliegen, mit dem sich auch Schöpfungserzählungen und Tempeltheologien (s. u.) beschäftigen.

Abb. 4: Der Götterkönig mit Zepter thront auf dem Weltenberg, aus den Quellströmen wachsen Vegetationsgottheiten empor. Das Wasser hat jedoch nicht nur lebensförderliche Eigenschaften, sondern muss gleichzeitig als Chaoswasser von der Götterfigur links gebändigt werden (akkad. Rollsiegel aus Mari, 2350–2150 v. Chr.).

Es ist daher durchaus passend, wenn der nachträglich angefügte v.5 den Tempel, auf den der Psalm zuvor nicht eingeht, als Bezugspunkt benennt. Ps 93 behandelt die Thematik des Königtums JHWHs damit in einer konzentrierten Weise, die ohne Kenntnis der altorientalischen Hintergründe kaum entschlüsselt werden kann. Gleichzeitig stellt der Text als Eröffnung der Psalmengruppe Ps 93–100 gewissermaßen die Basis für eine breitere Entfaltung dieser Theologie dar. Diese Entfaltung betrifft die Aspekte der Universalität des göttlichen Königtums, die Vorstellung des göttlichen Richteramtes und kultische Dimensionen: Einige Psalmen betonen die Universalität des göttlichen Königtums, die zwar in den schöpfungstheologischen Aspekten grundgelegt ist, aber nun in ihren unterschiedlichen Konsequenzen bedacht werden kann. So können Ps 95,3–5; 97,9 das Königtum JHWHs als Suprematie über alle Götter begreifen. Sie schreiten alle Bereiche der Erde ab und unterstellen sie explizit der göttlichen Verfügungs-

7.2 Schöpfungstheologien: Ps 104

131

und Schöpfermacht. Diese Universalität kann als Einzigkeit verstanden auf den Monotheismus hin gedeutet werden, so dass sich einerseits Polemiken gegen „Götzen“-Verehrer finden (Ps 96,5; 97,7). Andererseits können aber auch alle Völker zur Verehrung des Gottes Israels, der ja damit auch ihr Gott ist, eingeladen werden (Ps 96,7– 10; Ps 100 insgesamt). Da der irdische König im Alten Orient (und darüber hinaus) v. a. auch oberster Richter war, ergibt sich gewissermaßen zwingend die Zuschreibung des Richteramtes auch an den göttlichen König. Ps 96,13; 98,9 feiern JHWH fast wortgleich als Richter der ganzen Erde und sprechen damit ein Thema an, das auch in Ps 94 insgesamt und in Ps 97,8; 99,4.7, sowie in der Nennung der Zeugnisse in Ps 93,5 anklingt. Eine Weiterentwicklung sind dann wohl Aussagen zu einem umfassenden und insbesondere auch strafenden Völkergericht, das vielleicht in Ps 96,10b, sicher aber in den späten Ps 9,5– 9.17 f.20; 10,16; 149,7–9 (wobei die zuletzt genannten Verse m. E. als Handeln Gottes zu lesen sind) beschrieben wird. Dass das Königtum JHWHs mit dem Tempel und seinem Kult verbunden ist, wird ganz besonders in Ps 99,1 f.5.9 deutlich, steht aber auch im Hintergrund von Ps 96,7–10; 100,4, die für die fremden Völker von einer Tempelwallfahrt sprechen. 7.2 Schöpfungstheologien: Ps 104 Schöpfungstheologische Aussagen spielen in einer Reihe von Psalmen eine wichtige Rolle. Dabei lassen sich z. T. ganz unterschiedliche Entwürfe feststellen. Ps 104 ist hier als Beispiel gewählt, weil er unterschiedliche Ansätze miteinander verbindet. Ps 104 1

2 3

Segne, mein Leben, JHWH! JHWH, mein Gott, du bist sehr groß, / mit Hoheit und Pracht bist du bekleidet. Sich hüllend in Licht wie in den Mantel / ausspannend (den) Himmel wie eine Zeltdecke. Der Zimmernde im Wasser seine Obergemächer, der Setzende Wolken zu seinem Fahrzeug / der Gehende auf den Flügeln des Windes.

132

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

4

Machend zu seinen Boten Winde, / zu seinen Dienern flammendes Feuer

5

Er hat gegründet (die) Erde auf ihren Fundamenten, / sie wankt nicht immer und ewig. Die Urflut: wie ein Kleid (war) ihr Bedecken / über Bergen standen Wasser. Vor deinem Schelten flohen sie, / vor der Stimme deines Donners liefen sie fort. Es stiegen auf Berge, es stiegen ab Täler / an den Ort, den du für sie gegründet hast. Eine Grenze hast du gesetzt, sie überschreiten (sie) nicht / Nicht kehren sie um, um zu bedecken die Erde.

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Der Entsendende Quellen in die Bachtäler, / zwischen Bergen gehen sie. Sie tränken alles Getier des Feldes, / es löschen Wildesel ihren Durst. An ihnen wohnt das Geflügel des Himmels, / von zwischen Gezweig geben sie Klang. Tränkend Berge aus seinen Obergemächern, / an der Frucht seiner Werke sättigt sich die Erde. Sprossen lassend Gras für das Vieh und Nutzpflanzen für die Arbeit des Menschen / um hervorzubringen Brot aus der Erde. Und Wein erfreut ein Menschenherz, um glänzen zu machen ein Gesicht vom Öl / und Brot – ein Menschenherz stärkt es. Es sättigen sich die Bäume Gottes, / die Zedern des Libanon, die er gepflanzt hat, in denen Vögel nisten, / (der) Storch – Zypressen (sind) sein Haus. Die hohen Berge (sind) für die Steinböcke, / Felsen (sind) eine Zuflucht für die Klippdachse. Er machte (den) Mond für (Fest-)Termine, / (die) Sonne hat erkannt ihren Untergang. Du bestellst Finsternis und es wird Nacht, / in ihr schleicht alles Getier des Waldes. Die Junglöwen brüllen nach Beute, / und um zu fordern von Gott ihre Nahrung. Geht auf die Sonne, sammeln sie sich, / und in ihren Schlupfwinkeln lagern sie. Es geht hinaus der Mensch zu seinem Tun, / und zu seiner Arbeit bis zum Abend.

7.2 Schöpfungstheologien: Ps 104

24

Wie zahlreich sind deine Werke, JHWH, alle hast du in Weisheit gemacht, / angefüllt ist die Erde mit deinen Besitzungen.

25

Da, das Meer, groß und weit [in alle Richtungen], // dort ein Gewimmel und keine Zahl, Tiere, kleine mit großen. Dort gehen Schiffe, / Leviathan, den du gebildet hast, um zu spielen mit ihm.

26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

133

Alle warten auf dich, / um zu geben ihre Nahrung zu seiner Zeit. Du gibst ihnen, sie lesen auf, / du öffnest deine Hand, sie sättigen sich an Gutem. Du verbirgst dein Gesicht, sie sind entsetzt, // du ziehst ihren Atem ein, sie kommen um / und zu ihrem Staub kehren sie zurück. Du entsendest deinen Atem, sie werden geschaffen / und du erneuerst das Angesicht des Ackerbodens. Es sei die Herrlichkeit JHWHs in Ewigkeit / es freue sich JHWH an seinen Werken. Der Anblickende die Erde und sie bebte / er berührt die Berge und sie rauchen. Ich will singen für JHWH in meinem Leben / ich will spielen für meinen Gott in meiner (Lebens-)Dauer. Es soll angenehm sein auf ihm meine Lobrede / ich selbst will mich freuen an JHWH Es sollen völlig verschwinden Sünder von der Erde und Frevler gibt es nicht mehr. Segne, mein Leben, JHWH! Halleluja

Ps 104 ist ein hochkomplexer Text, dessen Gliederung bereits eine Reihe von Entscheidungen über die Gesamtinterpretation einfließen lässt. Da es v. a. um die schöpfungstheologischen Aspekte gehen soll, werden Struktur und Entstehungsgeschichte des Psalms hier relativ knapp und nur in den großen Linien dargestellt. Zunächst fällt auf, dass der ganze Psalm wie schon der Vorgänger Ps 103 durch ein „Segne, mein Leben, JHWH!“ gerahmt ist. Diese Rahmung erklärt sich – ähnlich wie auch das abschließende „Halleluja“, das den Psalm mit Ps 105 f. zu einer Dreiergruppe verbindet – am besten als redaktionelle Hinzufügung, die den Psalm an seiner

134

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

jetzigen Stelle im Psalmenbuch verankert. Zwischen den Rahmenversen kann man folgende Abschnitte bestimmen: Die vv.1b–2 sprechen zunächst von der Erhabenheit Gottes, seinem Wesen. In den vv.3–4 geht es dann um Gottes himmlische Wohnung und gewissermaßen seinen „Hausstand“ mit Dienern und Boten. Die folgenden vv.5–9 behandeln die Gründung der Welt in einer göttlichen Auseinandersetzung mit der Urflut. In den vv.10–18 geht es ebenfalls um Wasser, nun aber in Form der Bewässerung der Erde und damit der Voraussetzung für das Leben. Dieser Abschnitt hat in sich nochmals eine kunstvolle Struktur. Einerseits ist er zweigeteilt: Die vv.10–12 behandeln die Bewässerung über Quellen, die vv.13–18 die Bewässerung durch Regen. In diesen Teilen folgen jeweils die Elemente „Bewässerung“, „Tränken bzw. Sättigen“ und eine Beschreibung der so entstehenden Lebensräume aufeinander. Andererseits, gewissermaßen quer zu dieser Struktur, gibt es innerhalb des Abschnitts Bezüge, nämlich die Rede von den Bergen in vv.10.18, von den Wohnorten der Vögel in vv.12.17 und von Sättigung in vv.13.16, die um ein Zentrum in den vv.14 f. angeordnet sind. Dieses Zentrum lenkt den Blick auf den Menschen und signalisiert so einerseits dessen besondere Stellung im Verhältnis zur lebensspendenden Fürsorge Gottes und andererseits seine vollständige Eingebundenheit in die ihn umgebende Schöpfung. Die Abschnitte vv.19–24 und 27–30 behandeln jeweils den Wechsel von Zeiten: vv.19–24 den Tag-Nacht-Rhythmus und vv.27–30 den Zyklus von Leben und Tod. Zwischen diesen Abschnitten kreisen die vv.25 f. um das Meer. Ein sehr heterogener Abschnitt mit Wünschen und Lobversprechen in den vv.31–35b schließt den Psalm vor dem hinteren Rahmenvers ab. Der Psalm zeigt recht deutliche Wachstumsspuren, an denen man plausibel machen kann, dass die vv.5–9 und v.19 eine spätere Erweiterung darstellen. Die vv.25–26 weisen sprachliche Eigenheiten auf und scheinen ebenfalls nachträglich in den Zusammenhang der vv.20–24 und vv.27–30 eingefügt worden zu sein. Wenig Einigkeit gibt es in der Forschung über den Schlussabschnitt der vv.31–35b, der um v.33 als ursprünglichen Kern herum gewachsen sein könnte.3

7.2 Schöpfungstheologien: Ps 104

v.1a

135

Rahmen vv.1b–2 vv.3–4 vv.5–9

Wesen Gottes Wohnung und „Hausstand“ Gottes Weltgründung und „Chaoskampf“

vv.10–18

Bewässerung als Voraussetzung des Lebens

vv.19.20–24 Zeiten I (Tag-Nacht) mit Bewunderungsruf in v.24 vv.25–26 Das Meer vv.27–30 Zeiten II (Zyklus von Leben und Tod) vv.31–35b v.35c v.35d

Wünsche und Lobversprechen (Kern in v.33)

Rahmen

Halleluja

Tab. 15: Die Struktur von Ps 104 (Erweiterungen kursiv)

Ps 104 vereint unterschiedliche schöpfungstheologische Aussagen, Vorstellungen und Aspekte. Das gilt schon für die vermutlich ursprüngliche Gestalt des Psalms. Nach den eröffnenden vv.1b–2 folgen hier zwei Abschnitte (vv.3–4 und vv.10–18), in denen Gott bestimmte Handlungen – im Hebräischen in Form von Partizipialreihen – zugeschrieben werden. Dann folgen wieder zwei Abschnitte (vv.20–24 und vv.27–30.33), in denen es jeweils um Zeitrhythmen geht und die einerseits mit einem Bewunderungsruf (v.24) und andererseits mit einer Selbstaufforderung zum Gotteslob hymnisch enden. Diese beiden Abschnitte sprechen wie schon v.1b Gott direkt mit Du an. Schon allein diese Struktur hat eine theologische Aussage: Die Schöpfung wird nicht einfach als eine einmalige Tat Gottes beschrieben, sondern es geht um eine umfassende Wahrnehmung und Deutung der Welt, ihrer verschiedenen Räume, Zusammenhänge und Rhythmen und zwar im preisenden Gespräch mit Gott selbst. Das Ziel des Psalms auf menschlicher Seite ist eine Haltung des Staunens (v.24) und des lobenden Einstimmens (v.33) angesichts dieser Sicht auf die Welt. Unter den Fortschreibungen bieten besonders die vv.5–9 ein deutlich abweichendes Schöpfungskonzept, das auf der Ebene des Endtextes, wie auch die vv.25–26, eine Ergänzung zum sonst schon breit

136

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

ausgeführten Thema „Wasser“ enthält. Neben den Quellen und dem Regen, die zur Bewässerung und damit für das Leben auf der Erde notwendig sind, werden hier auch die Urflut und das Meer samt dem Leben in und auf ihm in den Blick genommen. Dabei geht es um die Gründung der Erde (v.5) und um die grundlegende Überlegenheit Gottes über alle chaotischen Aspekte der Welt (vv.7.9.26). Wenn man genauer hinschaut, so finden sich viele schöpfungstheologische Details, die auf andere biblische und nichtbiblische Texte verweisen. In vv.1b–2 ist vom Königs-Ornat Gottes die Rede, was an Ps 93 erinnert und an die oben behandelte JHWH-König-Theologie anknüpft. Die Vorstellung vom Ausspannen des Himmels findet sich auch in Jes 40,22 und begegnet auch in altorientalischen Texten – wie z. B. „Enuma Elisch“ (s. o.) – als Teil von Schöpfungsvorgängen. Die vv.3–4 gestalten die Vorstellung von Gott als Bewohner des Himmels weiter aus. Nach diesen Versen hat er seine Wohnung im Himmelsozean eingerichtet und bedient sich der Wetterphänomene zur Fortbewegung und für seine Wirkung nach außen. Auch wenn diese Zusammenstellung den „Hausstand“ des Königsgottes auf höchst poetische und originelle Weise portraitiert, so sind doch die Einzelmotive weiter verbreitet. So gehört das Wolkengefährt etwa auch zur Ausstattung anderer Wettergottheiten wie des Gottes Baal in Texten aus Ugarit. In den vv.5–9 ist nun viel stärker als in den vorangegangenen Versen oder auch in Ps 93 die Schöpfung als Ergebnis eines Kampfes gegen die Chaosmacht des Wassers gedacht. Auch wenn diese Beobachtung wieder an „Enuma Elisch“ erinnert, so ergeben sich doch deutliche Unterschiede. In Ps 104,5 beginnt der Vorgang mit der Gründung der Erde und der Aussage, dass sie nicht wanke. Auch wenn dann in v.6 von der Urflut die Rede ist, so steht doch in der Auseinandersetzung mit ihr die Welt an sich nicht mehr auf dem Spiel. Damit ist auch die Machtposition des Schöpfergottes von Anfang an unbestritten und die Urflut wird – wohl als Konsequenz eines bereits systematisch ausgeformten Monotheismus – gegenüber ihren Ursprüngen als göttliche Chaosmacht deutlich depotenziert. Die Beschreibung des Ausgangszustandes erinnert sowohl an die erste Schöpfungserzählung in Gen 1, wo das Wasser unterhalb des Himmels alles bedeckt und erst durch seine Sammlung im Meer das Land erscheint (Gen 1,9) als auch an die Schilderung der Sintflut (Gen 7,19), die bis über die hohen Berge ansteigt. Das Schöpfungshandeln ähnelt dann dem Auftritt eines kämpferischen Wettergottes, der mit seinem Schelten und Donnern die Wasser an ihren Ort treibt

7.2 Schöpfungstheologien: Ps 104

137

und auf diese Weise Berge und Täler entstehen lässt. V.9 hält zudem fest, dass dieser Sieg Gottes so endgültig ist, dass die Wassermassen die Erde nicht mehr bedecken können. Hier klingt die Verheißung aus Gen 9 an, dass es nie wieder eine Sintflut geben wird. Schöpfungstheologisch kann diese psalmentheologische Variante gegenüber den Erzählungen der Genesis unterstreichen, dass es all diesen Texten nicht um die Darstellung eines urzeitlichen Vorganges geht, der etwa als Konkurrenzmodell zur Evolutionstheorie verstanden werden könnte, sondern um ein Verstehen der Wirklichkeit, in der wir Menschen leben. Dabei hat die Fortschreibung in den vv.5–9 den vorher fehlenden Aspekt in den Psalm eingetragen, dass Wasser auch eine bedrohliche Dimension haben kann. Genau diese Bedrohung wird allerdings von Gott als Teil seiner Schöpfungstätigkeit grundlegend gebändigt, was der Text in mythischer Sprache zum Ausdruck bringt. Wenn im folgenden Abschnitt (vv.10–18) von der Bewässerung der Erde durch Quellen und den Regen die Rede ist, so geschieht das in einer poetisch kunstvollen Weise (s. o. zur Struktur des Abschnitts). Einerseits werden hier die ökologischen Zusammenhänge der Welt ausdrückt. Der Schöpfer hat ein sinnvolles Arrangement eingerichtet, um Pflanzen, Tiere und Menschen dauerhaft zu versorgen. Andererseits wird hier mit wenigen Strichen ein so lebendiges und facettenreiches Bild – vom Wildesel bis zu Storch und Klippdachs und von Brot und Wein bis zur Libanonzeder – entworfen, dass diese Verse den staunenden Blick eines Naturliebhabers auf die Schöpfung vermitteln. Die Wasserversorgung wird so zum Bild der umfassenden Fürsorge Gottes und ist damit durchsichtig auf ihn selbst hin, was der Psalm entsprechend durch Gotteslob (vgl. für den Grundpsalm vv.24.33) beantwortet. Im folgenden Abschnitt (vv.19–24) geht es um Zeitabläufe. Auch hier unterscheidet sich das Konzept der Bearbeitung (v.19) leicht vom Grundtext (vv.20–24). Während nach v.19 Gott Mond und Sonne geschaffen hat, die fortan mit ihren Zyklen die Lebensrhythmen sozusagen „automatisch“ bestimmen, ist es in v.20 Gott selbst, der die Finsternis an jedem Abend bestellt und so auch den Raubtieren die Gelegenheit zum Beutefang bietet. Das ist insofern bemerkenswert, als hier auch aus menschlicher Sicht negative Züge der Schöpfung wie die Gefahren der Nacht, die immer auch einen chaotischen Aspekt haben, explizit im Tun Gottes verankert werden, der eben für die ganze Tierwelt Sorge tragen muss (v.21). Die Aussage, dass Gott nicht nur das Licht (so Gen 1,3), sondern auch die Finsternis ge-

138

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

schaffen habe, ist selten und begegnet noch einmal mit Betonung der Ambivalenz in Jes 45,7. Die beiden Verse über das Meer (vv.25–26) bestätigen schöpfungstheologisch, was schon in vv.5–9 aufgefallen war: Leviathan, der Chaosdrache, begegnet hier gar nicht als ernsthafter Kontrahent, sondern als Spielzeug des Schöpfergottes. Der folgende Abschnitt (vv.27–30) behandelt wie schon die vv.19– 24 noch einmal Zeitrhythmen. Jetzt geht es aber nicht mehr um den Wechsel von Nacht und Tag. Vielmehr wird das Thema der Versorgung mit Nahrung (vgl. schon in vv.11.13–16.21) wieder aufgenommen und um die Versorgung mit (Lebens-)Atem ergänzt. Damit geht es letztlich um den Wechsel von Leben und Tod. Auch diese Rhythmisierung des Daseins wird unmittelbar mit dem Handeln Gottes in Verbindung gebracht. Hier lässt sich eine ähnlich ambivalente Tendenz feststellen wie bei der Rede von der Nacht: „Eine Besonderheit von Ps 104,29f liegt dabei darin, daß das Sterben der Geschöpfe, ihr Werden zu Staub, keine negativen Konnotationen besitzt, sondern Teil des Prozesses einer ‚erneuerten‘ Schöpfung ist.“4 Im Schlussteil des Psalms (vv.31–35) knüpft besonders v.33 mit der Erwähnung der (begrenzten) Lebenszeit zusammenfassend und positiv an diese Konzeption an. Damit vereinigt der Psalm ganz verschiedene Aspekte biblischer Schöpfungstheologie, die man mit der theologischen Tradition einerseits einer creatio prima (einer Gründung und in-Gang-Setzung der Welt), andererseits aber besonders einer creatio continua (einer beständigen Erhaltung der Geschöpfe und einer Erneuerung der Schöpfung) zuordnen kann. Gerade der zweite Aspekt verbindet Ps 104 auch mit einem anderen berühmten poetischen Text: dem großen Aton-Hymnus des ägytischen Pharao Echnaton.5 7.3 Tempeltheologie: Ps 99 Die theologische Konzeption eines Tempels ist im Alten Orient eng mit der Schöpfungstheologie bzw. mit dem sich in den Schöpfungstexten ausdrückenden Weltbild verbunden. Das gilt auch für das Alte Testament und die Psalmen. Der Tempel ist der Ort der Schöpfung. Er steht dort, wo die Welt gegründet und das Chaos besiegt wurde und wo – ganz entsprechend „Enuma Elisch“ oder auch Ps 93 – der Schöpfergott in mythischer Urzeit seinen Thron bestiegen hat und mit seinem Königtum zum Garanten der Stabilität des

7.3 Tempeltheologie: Ps 99

139

Kosmos geworden ist. Dieses mythische oder urzeitliche Geschehen ist nicht Teil unserer geschichtlichen Zeit. Es ist von jedem „heute“ aus betrachtet unendlich weit entfernt und doch ist es unmittelbar relevant. Die Tempeltheologie überbrückt gewissermaßen diesen Abstand: „Der Tempel ist der kosmisch dimensionierte Ort in der empirischen Wirklichkeit, an dem diese Inganghaltung der Welt rituell in Szene gesetzt und täglich erneuert wird.“6

Abb. 5: Symbolische Darstellung einer Tempelanlage. Im Zentrum ist das Tempelgebäude (oberes Rechteck) zu sehen. Hier wendet sich die Göttin Ischtar (Bildmitte mit Fuß auf Löwen) dem sie im Tempel verehrenden König zu. Der Tempel wird von zwei Bäumen, vier Keruben und zwei Stieren, die den Vorderfuß auf einen Berg stellen, flankiert. Im unteren Register stellen Quellgottheiten den Tempel als Ursprung lebensspendenden Wassers dar. All diese Symbole charakterisieren den Tempel als Bereich des Lebens (Wandmalerei aus Mari, 1728–1686 v. Chr.).

Jeder Tempel im Alten Orient verbindet diese grundsätzlichen Anforderungen mit spezifischen lokalen Traditionen und Ausformungen, die auch zeitlich durchaus variieren können. Im nachexilischen Jerusalem hat es nach dem alttestamentlichen Befund mehrere Tempeltheologien nebeneinander gegeben, die mehr oder weniger stark die Konzepte des vorexilischen Israel und seiner Umwelt fortschreiben oder diese auch modifizieren. Ein Beispiel ist

140

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

etwa die priesterliche Literatur im Pentateuch, die deutlich den Schöpfungsbezug des Heiligtums übernimmt und die kultische Gegenwart Gottes mitten in seinem Volk betont. Angesichts der Tempelzerstörung und des Exils kann sie aber die Gottesgegenwart gewissermaßen mobil konzipieren: Das Heiligtum ist vom Sinai an ein Zeltheiligtum, das mit dem wandernden Gottesvolk unterwegs ist und in jedem Lager von der Herrlichkeit Gottes bezogen wird. In seiner ebenfalls priesterlichen Konzeption spricht das Ezechielbuch davon, dass Gott den Tempel verlässt und den Judäern ins Exil in seinem Thronwagen nachfährt und dass er ihnen „ein wenig zum Heiligtum wird, in den Ländern, wohin sie gekommen sind“ (Ez 11,16). Die deuteronomisch-deuteronomistische Literatur dagegen spricht in einer sehr abstrakten Gottesvorstellung vom Tempel als von dem Ort, den Gott erwählt hat, um seinen Namen dort wohnen zu lassen. Diese Vorstellung kann einerseits eine Zentralisierung des Opferkultes auf Jerusalem begründen. In der Situation des Exils hat dieses Konzept andererseits die Konsequenz, dass Gott auch im zerstörten Tempel noch verehrt werden kann. Er kann von Menschen, die sich im Gebet diesem Ort zuwenden, mit seinem Namen angerufen werden. Jerusalem wird so zur Gebetsrichtung. Ein ganz anderer Aspekt ist vermutlich nach der erfolglosen Belagerung Jerusalems durch die Assyrer 701 v. Chr. entstanden. Auch wenn wir heute nicht genau historisch rekonstruieren können, ob der Assyrerkönig Sanherib die Belagerung wirklich wegen einer Seuche im Lager (vgl. 2 Kön 19,35 f.) aufgeben musste, wird doch aus den Texten deutlich, dass man die Abwehr dieser tödlichen Bedrohung dem im Tempel auf dem Zionsberg thronenden Gott zugeschrieben hat: Er war es, der Jerusalem uneinnehmbar gemacht hatte, indem er die Chaosmächte in Gestalt der anstürmenden Feinde zurückschlug (vgl. etwa Ps 46). Die sogenannte Zionstheologie war entstanden. Interessanterweise geht diese theologische Richtung mit der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier gut 100 Jahre später nicht einfach unter, sondern erlebt Transformationen und Weiterentwicklungen in der nachexilischen Literatur und insbesondere auch in einigen Psalmen. Die Psalmen haben in unterschiedlicher Weise Anteil an diesen Konzepten. An dieser Stelle kann mit Ps 99 nur ein einziges Beispiel vorgestellt werden, das angesichts der Vielfalt der tempeltheologischen Entwürfe selbstverständlich nicht repräsentativ sein kann. Gleichwohl ist der Psalm von Norbert Lohfink als „bewußte und

7.3 Tempeltheologie: Ps 99

141

dichte Zusammenfassung der gesamten Theologie der Tempelgemeinde“7 bezeichnet worden. Ps 99 1 2 3 4 5

6

7 8 9

JHWH ist König geworden – es erbeben Völker / thronend auf Keruben – es wankt die Erde. JHWH ist in Zion groß / und erhaben ist er über allen Völker. Preisen sollen sie deinen Namen als groß und furchtbar. Heilig ist er. Aber die Macht eines Königs ist das Recht, das er liebt / du, du hast gegründet die Ordnung, Recht und Gerechtigkeit in Jakob – du hast (sie) gemacht. Erhebet JHWH, unseren Gott, und werft euch nieder am Schemel seiner Füße! Heilig ist er. Mose und Aaron unter seinen Priestern und Samuel unter denen, die seinen Namen anrufen. / Sie waren Rufende zu JHWH Und er, er antwortete (immer wieder). In der Wolkensäule redete er (immer wieder) zu ihnen. / Sie bewahrten seine Zeugnisse Und die Satzung, die er ihnen gab. JHWH, unser Gott, du, du hast ihnen geantwortet, / ein vergebender Gott warst du für sie und einer, der ahndet ihre Taten. Erhebet JHWH, unseren Gott und werft euch nieder am Berg seiner Heiligkeit, / ja, heilig ist JHWH unser Gott.

Ps 99 wird durch das dreimalige „heilig ist er“ (vv.3.5) bzw. „heilig ist JHWH, unser Gott“ (v.9) in drei Teile (vv.1–3.4–5.6–9) geteilt. Dabei sind die Teile 2 und 3 parallel gestaltet und jeweils als Durchführung eines schon in Teil 1 eingeführten Themas zu verstehen. Gleichzeitig entsteht so ein inhaltlich ausgeführter dreifacher „Heilig“-Ruf, ein Trishagion, und damit eine Entsprechung zum Ruf der Serafen in Jes 6,3: „Heilig, heilig, heilig ist JHWH der Heere! Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit.“ Diese visionäre Schau des im Tempel thronenden Gottes (Jes 6,1–4) ist offenbar ein wesentlicher Bezugstext des Psalms.

142

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

Im Einzelnen werden dabei tempeltheologische Aussagen, Motive und Traditionen Israels zu einem komplexen Ganzen miteinander verwoben. Der erste Teil (vv.1–3) stellt JHWH als Weltenkönig vor, der auf dem Zionsberg thront. Die Keruben, wohl geflügelte Sphingen, sind Wächterwesen. Es gibt im Alten Orient bildliche Darstellungen, die sie als die Flanken von Herrscherthronen zeigen (vgl. Abb. 2, S. 125). Sie verweisen hier auf die Ausstattung des Jerusalemer Tempels, der einer verbreiteten Theorie zufolge (entsprechend dem Bilderverbot) nicht mit einem Kultbild, sondern stattdessen mit einem leeren Thron ausgestattet war, der von zwei nebeneinander stehenden Kerubim gebildet wurde, die ihre innen liegenden Flügel als Sitzfläche übereinander legten (vgl. 1 Kön 6,23–28). JHWH wurde als unsichtbar auf diesem Thron sitzend vorgestellt. V.1 gibt so zunächst die Grundaussage des Jerusalemer Tempels an: JHWH thront als König auf dem Kerubenthron im Tempel. Kombiniert wird diese Aussage mit Motiven einer Gotteserscheinung, einer Theophanie: Die Völker beben und die Erde wankt wie bei einem Erdbeben oder einem Vulkanausbruch. Diese Motivik einer Theophanie erklärt den scheinbaren Gegensatz zu Ps 93,1–2, wonach die Folge des Thronens des Königsgottes ist, dass der Erdkreis eben nicht wankt und der Thron fest steht. Hier geht es um unterschiedliche Aspekte – oder anders: Dass die Erde in Ps 99,1 wankt, ist nicht Zeichen ihrer Instabilität, sondern eine Art Willkommensgruß an den Herrscher, der ihre Stabilität gerade garantiert. Die Völkerthematik wird bereits in v.1 angesprochen und prägt den ersten Teil als eigenes (im weiteren Psalm nicht fortgeführtes) Thema. Nach v.2 ist der auf dem Zion thronende JHWH der Gott über alle Völker, die diese Herrschaft anerkennen sollen, indem sie seinen Namen preisen (v.3). Dass alle Völker Gott auf dem Zionsberg verehren werden, ist die endzeitliche Vision der Völkerwallfahrt etwa in Jes 2,2–4 oder Sach 8,20–23. Sie ist einerseits die logische Konsequenz der universalen Königsherrschaft Gottes und andererseits ein Aspekt der nachexilisch transformierten Zionstheologie.

143

7.3 Tempeltheologie: Ps 99

vv.1–3 Teil 1: JHWH als Weltenkönig

endet mit: „Heilig ist er“

vv.4 f. Teil 2: Durchführung des Themas „Eigenart des Königtums“ aus Teil 1

endet mit: „Heilig ist er“

vv.6–9 Teil 3: Durchführung des Themas des endet mit: „ja, heilig ist „göttlichen Namens“ aus Teil 1 JHWH unser Gott“ →

Trishagion

Tab. 16: Die Struktur von Ps 99

Die vv.4–5 greifen aus dem ersten Teil das Stichwort „König“ auf und fragen nach der Eigenart dieses göttlichen Königtums. Die Antwort ist der Verweis auf die Rechtsordnung, die von Gott in Jakob/ Israel errichtet wurde – und die, so könnte man ergänzen, ein gedeihliches Leben ermöglicht. Die vv.6–9 greifen aus dem ersten Teil das Stichwort des göttlichen Namens auf. Dieser große und furchtbare Name, den nach v.3 die Völker erst noch preisen sollen, wurde in der Geschichte Israels schon längst angerufen. Die Namen Mose, Aaron und Samuel verweisen dabei auf eine Tradition, die bereits die Geschichte vom Exodus bis zur Gründung des Königtums unter Saul und David – und damit die Vorgeschichte des Tempelbaus – überblickt. Dabei geht es einerseits um das persönliche Gottesverhältnis dieser Protagonisten Israels, andererseits um die Offenbarung der „Zeugnisse“ und der „Satzung“, die durch die motivliche Gestaltung der vv.7–8 mit der Sinaierzählung verbunden wird. Wenn also die vv.5.9 die Angeredeten zur Gottesverehrung „am Schemel seiner Füße“ bzw. „am Berg seiner Heiligkeit“ auffordern, so geht es um den konkreten Tempelkult, den Israel auf dem Zion vollzieht. In diesen Kult werden auch die Rechtstraditionen Israels und ihre Offenbarung am Sinai und damit letztlich alle Lebensvollzüge des Gottesvolkes mit einbezogen. Israel wird so zum Vorbild für die Völker und präfiguriert das noch ausstehende gemeinsame Gotteslob aller Menschen und, wenn man die vorangehenden Ps 96; 98 mit einbezieht, letztlich der ganzen Schöpfung. Der Psalm selbst stimmt so in das Trishagion der Serafen im Tempel ein.

144

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

7.4 Der verborgene Gott: nochmals zu Ps 88 Die Psalmen kennen neben all ihrem Gotteslob und ihrem Nachdenken über Gott auch die menschliche Erfahrung der Gottesferne. Eine lange Reihe von Klagegebeten setzt hier an und begreift die Wurzel der jeweils zu beklagenden Not eben in der Erfahrung, dass Gott dem betenden Ich verborgen ist, dass er es vergessen habe (vgl. o. Ps 13,2), dass er nicht auf die Gebete antwortet oder eben nicht mit seiner rettenden Gegenwart in der Wirklichkeit spürbar ist. Religionsgeschichtlich ist dieses Motiv in vielen altorientalischen Texten anzutreffen. Meist geht es hier darum, dass aus irgendeinem – für das Individuum oft gar nicht erklärbaren – Grund die persönlichen Schutzgottheiten „nicht funktionieren“. Der göttlichen „Immunisierung“ beraubt ist der Einzelne dann allen dämonischen, magischen oder menschlichen Angriffen schutzlos ausgeliefert und gerät ins Unglück. Der Monotheismus der Psalmen kann diese Zusammenhänge bisweilen radikalisieren, weil nun JHWH nicht nur die Funktion der – u. U. zeitweise abwesenden – Schutzgottheit bekommt, sondern gelegentlich auch noch zum Angreifer wird. Die in dieser Beziehung abgründigste Klage des Psalmenbuchs ist der oben bereits besprochene Ps 88 (vgl. Kap. 6.4). Die Auslegung dort macht eine weitere Psalmenauslegung an dieser Stelle verzichtbar. Wichtig ist hier, dass die Rede vom verborgenen Gott in den Psalmen kein theologischer Widerspruch zu den Aussagen über seine ständige Anrufbarkeit, Nähe und Fürsorge ist. Selbst Ps 88 beginnt damit, JHWH als Gott der Rettung anzurufen, und spricht damit ein Glaubensbekenntnis aus. Der große Realismus der Psalmen weiß aber darum, dass das menschliche Leben – auch auf der religiösen Ebene – nicht nur aus Jubel und Selbstgewissheit besteht, sondern dass Verunsicherungen und Zweifel, das Gefühl von Niedergeschlagenheit und Verlassenheit und auch Depressionen immer wieder einen Menschen erreichen können. Die Klagepsalmen des einzelnen Beters machen ernst mit solchen Situationen und sprechen die Nöte aus. Hier werden Gebete formuliert, die sich Menschen in vielfältigen Notsituationen als Ausdrucksmöglichkeit anbieten, um einen Gebetsweg zu gehen. Der literarische Text ist dann eine Art Vorschlag für einen Vorgang der religiösen Auseinandersetzung mit der eigenen Situation im Gespräch mit Gott – ein Vorschlag für ein Konfliktgespräch. Dieses

7.5 Der sich offenbarende Gott: Ps 73

145

Gespräch ist in vielen Psalmen als ein Vorgang angelegt, der von der Klage über Bitten zu erneuten Vertrauensaussagen und zum Gotteslob – also von der Gottesferne in die Gottesnähe – führt.8 Ps 88 ist hier eine bemerkenswerte Ausnahme, weil er mit seinem letztem Wort – „Finsternis“ – gewissermaßen den Einspruch formuliert, dass es eben auch zur menschlichen Erfahrung gehört, dass auf die Anrufung des rettenden Gottes zunächst Schweigen und Perspektivlosigkeit folgen können. Auf das ganze Psalmenbuch gesehen ist Ps 88 damit eine ständige Mahnung gegen die Arroganz einer allzu euphorisch vorgetragenen religiösen Gewissheit. Andererseits ist der Psalm aber nur eine Stimme im großen Konzert des Psalters. In anderen Psalmen, wie im folgenden Ps 73, kann u. U. auch auf lange Krisenerfahrungen zurückgeblickt werden, an deren Ende dann eine Gottesoffenbarung steht. 7.5 Der sich offenbarende Gott: Ps 73 Die Psalmen können in sehr unterschiedlicher Weise davon sprechen, dass Gott sich Menschen offenbart. Die oben besprochenen Verse Ps 99,6–8 verweisen gewissermaßen zitathaft mit Blick auf die großen Geschichtserzählungen Israels auf hervorgehobene Persönlichkeiten der Geschichte, denen Gott geantwortet hat (vv.6.8), zu denen er geredet hat (v.7), denen er seinen Willen – letztlich in Form des Gesetzes – mitgeteilt hat (v.7) und auf deren Taten er mit Vergebung und Ahndung reagiert hat. Auch in den Individualpsalmen kann vom Antworten Gottes auf die Klagen und Bitten gesprochen werden – ein besonders deutliches Beispiel ist Ps 22,22: Rette mich vor dem Maul eines Löwen / und vor den Hörnern von Wildstieren! – Du hast mir geantwortet.

Der hier ausgewählte Ps 73 geht insofern noch einen Schritt weiter, weil dem betenden Ich hier eine göttliche Offenbarung im Sinne einer Erkenntnis zuteilwird, die sein weiteres Leben verändert.

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7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

Ps 73 1

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Ein Psalm von Asaf. Fürwahr, gut für Israel ist Gott, für die, die reinen Herzens sind. Aber ich, fast wäre ich mit meinen Füßen ausgerutscht / wie nichts wären geglitten meine Schritte. Ja, ich eiferte für die Prahler / das Wohlergehen der Frevler sah ich. Ja, es gibt keine Qualen bis zu ihrem Tod / und fett ist ihr Leib. In der Mühsal der Menschheit sind sie nicht / und mit den Menschen werden nicht geplagt. Deshalb ist ihr Halsschmuck Hochmut / als Gewand umhüllt Gewalt sie. Es tritt aus Fett hervor ihr Auge / sie gehen vorbei – Einbildungen des Herzens. Sie höhnen und reden in Bosheit Bedrückendes / von oben herab reden sie. Sie setzen in den Himmel ihren Mund / und ihre Zunge ergeht sich auf der Erde. Deshalb kehrt um sein Volk hierher / Wasser der Fülle wird geschlürft bei ihnen. Und sie sprechen: Wie kann Gott wissen? / und gibt es ein Wissen beim Höchsten ? Siehe, dies sind Frevler / und als immer Sorglose vergrößern sie den Wohlstand. Fürwahr, umsonst habe ich rein gehalten mein Herz / und gewaschen in Unschuld meine Hände und ich war geschlagen den ganzen Tag / und meine Züchtigung an jeden Morgen. Wenn ich gesagt hätte: verkünden will ich genauso / siehe, das Geschlecht deiner Kinder hätte ich treulos behandelt. Und ich dachte nach, um zu erkennen solches / Mühsal war das in meinen Augen, bis ich hineinging in die Heiligtümer Gottes / einsah ihr Ende. Fürwahr, auf Glattes stellst du sie / du lässt sie fallen in Verwüstungen Wie wurden sie zum Entsetzen im Nu / sie endeten und kamen um in Schrecken.

7.5 Der sich offenbarende Gott: Ps 73

20 21 22 23 24 25 26 27 28

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Wie einen Traum nach dem Erwachen / Herr, beim Aufstehen verachtest du ihr Bild. Ja, mein Herz war erbittert / und in meinen Nieren wurde ich gestochen. Aber ich war dumm und nicht verstand ich; / ein Tier war ich bei dir. Aber ich bin ständig mit dir / du hast meine rechte Hand ergriffen. In deinem Rat wirst du mich führen / und auf Herrlichkeit hin wirst du mich nehmen. Wen habe ich im Himmel? / und neben dir habe ich kein Gefallen auf der Erde. Geht zu Grunde mein Leib und mein Herz / der Fels meines Herzens und mein Anteil ist Gott auf immer. Ja, siehe, die sich von dir fernhalten, gehen zugrunde / du vernichtest jeden, der von dir weghurt. Aber ich – Nähe Gottes ist für mich gut // ich habe gesetzt auf den Herrn JHWH meine Zuflucht / um zu verkünden alle deine Taten.

Der Eröffnungspsalm des dritten Psalmenbuchs zeigt einen Gedankengang, den man heute mit dem Stichwort einer Philosophie der Lebenskunst verbinden könnte. Es geht um Lebensentwürfe und dem – durchaus konfliktreichen – Finden eines eigenen Maßstabs für das Glück. Seine Struktur ergibt sich aus deutlichen Textsignalen. Auffällig ist zunächst das dreifache „fürwahr“ (˚a ’akh) in den vv.1.13.18, das den Psalm in einen kurzen Mittelteil und zwei größere Teile zu Beginn und am Ende gliedert. Dem entspricht die Rahmung durch die allgemeine Aussage am Anfang „Fürwahr, gut für Israel ist Gott / für die, die reinen Herzens sind.“ (v.1) und die entsprechende persönliche Aussage am Ende: „Aber ich – Nähe Gottes ist für mich gut“ (v.28). In den großen Teilen (vv.1–12.18–28) werden durch „aber ich“ (ynaw wa’ani), „ja“ (yk ki) und „siehe“ (hnh hinne) immer wieder Stellen markiert, an denen der Gedankengang eine andere Richtung einschlägt. Damit ergibt sich folgendes Bild einer kunstvollen Struktur:

148

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

v.1 Rahmen in Bezug auf Israel „fürwahr“ vv.1–12: Krise des Ich • „aber ich“ → „ja“ vv.2–3: Anfechtung • „ja“ vv.4–11: Begründung: Wohlergehen und Gottesferne der Frevler • „siehe“ v.12: Zusammenfassung: Wohlergehen der Frevler „fürwahr“ vv.13–17: Leiden und Erkenntnisweg des Ich „fürwahr“ vv.18–28: Neue Erkenntnis des Ich • vv.18–20: Erkenntnis über das Ende der Frevler • „ja“ → „aber ich“ vv.21–22: einsichtiger Rückblick: die eigene Anfechtung • „aber ich“ vv.23–26: Erkenntnis: die Beständigkeit der Gottesbeziehung • „ja, siehe“ → „aber ich“ vv.27–28: Zsfg.: Ende der Gottfernen – Glück des Ich v.28 Rahmen in Bezug auf das Ich Tab. 17: Die Struktur von Ps 73

Aus dieser Struktur ergibt sich der folgende Gedankengang: Mit dem allgemeinen Bekenntnis „Fürwahr, gut für Israel ist Gott / für die, die reinen Herzens sind.“ (v.1) wird eine Grundthese aufgestellt, die mit den dann anschließenden Versen zunächst einmal gar nichts zu tun zu haben scheint. Wenn sie am Ende auf das Ich des Psalms selbst bezogen wieder auftaucht (v.28), so hat man als Rezipient mit dem betenden Ich einen Erkenntnisweg durchlaufen. Es geht dabei um die Ausrichtung des Lebens. Dabei wird mit jedem „fürwahr“ jeweils ein neues Erkenntnisniveau erreicht. Das Problem wird in den vv.1–12 formuliert, in den vv.13–17 reift es gewissermaßen im Inneren des Ich und wird schließlich gelöst; in den vv.18–28 wird diese Lösung als facettenreiche Erkenntnis vorgestellt. Der Mittelteil der vv.13–17 ist damit das dramatische Zentrum des Psalms, während die beiden großen Rahmenteile (vv.1–12.18–28) einander formal und inhaltlich korrespondieren. Für die Frage nach der Gottesoffenbarung im Zentrum des Psalms ist es entscheidend zu klären, was mit der merkwürdigen Rede von den „Heiligtümern Gottes“ (v.17) gemeint sein könnte. In der Forschung werden zz. zwei Optionen vertreten: Einerseits lässt die Kombination mit dem Verb „hineingehen“ eine Ortsangabe vermuten, so dass hier der Tempel gemeint sein könnte. Der in diesem Zusammenhang singu-

7.5 Der sich offenbarende Gott: Ps 73

149

läre Plural ist dann entweder ein Plural der Extension (verschiedene Tempelbereiche) oder ein Intensivplural.9 Diese Erklärung ist denkbar, aber nicht sehr befriedigend. Daher wird der Ausdruck andererseits seit der Forschung des 19. Jh. im Sinne von „Geheimnissen“ oder „Offenbarungen“ Gottes metaphorisch gedeutet.10 Nun geht es bei der Erkenntnis, von der der Psalm spricht, nicht einfach um eine intellektuelle Aufgabe, sondern um die Bewältigung einer Lebenskrise. Dies wird zum einen bereits in v.2 deutlich, wo im Rahmen der Wegmetaphorik – wir sprechen heute noch in etwas unpräziser Anlehnung an Ps 16,11 vom „Lebensweg“ – von der Gefahr des Ausgleitens des Ich die Rede ist. Zum anderen hat die Anfechtung das Ich emotional völlig ergriffen (v.3). Ab v.4 folgt dann – wenn man so will, als Begründung für diese Anfechtung – eine Schilderung des Wohlergehens und der Gottesferne der Frevler. Obwohl dieser Passus bereits aus der Perspektive der späteren Erkenntnis formuliert ist und die Falschheit der Frevler schonungslos offenlegt, so wird doch auch deutlich, dass es hier durchaus um einen Lebensentwurf geht, auf den man neidisch werden kann. Die Pointe des Psalms besteht nun darin, dass die Einsicht, die das Ich gewinnt, wirklich den Status einer das ganze Leben umkrempelnden Offenbarung hat. Diese Einsicht erschöpft sich nicht einfach darin, dass es in der beschriebenen Situation – oder auch überhaupt – nicht klug wäre, dem Beispiel der Frevler zu folgen, sondern sie besteht darin, dass das Ich mit der als tragfähig erfahrenen Gottesnähe zu einem in jeder Hinsicht überlegenen Lebensentwurf gelangt ist. Ganz in diesem Sinn begnügt sich der Psalm nicht damit, ein einfaches Schwarzweißbild zu zeichnen. Während die Frevler nach vv.18–20 von einem plötzlichen Tod bedroht sind, erschöpfen sich die vv.23–26 nicht im Gegenbild, dass das Ich auch in Lebensgefahr auf Rettung durch Gott hoffen darf. Die Konzeption von Gottesnähe und Gottesgemeinschaft, die sie ausbuchstabieren, ist vielmehr so umfassend, dass sie auch in ein Jenseits des Todes ausgreifen kann: 23 24 25 26

Aber ich bin ständig mit dir / du hast meine rechte Hand ergriffen. In deinem Rat wirst du mich führen / und auf Herrlichkeit hin wirst du mich nehmen. Wen habe ich im Himmel? / Und neben dir habe ich kein Gefallen auf der Erde. Geht zugrunde mein Leib und mein Herz, / der Fels meines Herzens und mein Anteil ist Gott auf immer.

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7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen

Eine Detailanalyse könnte zeigen, dass die sprachliche Gestaltung hier einerseits fest in biblischer Redeweise verankert ist, wie sie aus anderen Psalmen, aber auch z. B. aus den Erzelternerzählungen der Genesis bekannt ist. Andererseits wird hier Neues formuliert, wenn eine Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch gewissermaßen aus einem Netz der Zuwendungen von beiden Seiten her aufgebaut wird. Es ist im Duktus des Psalms eine willentliche Entscheidung des Ich, bei Gott sein zu wollen. Schon F. Delitzsch sah hier den Gedanken der Gottesliebe „in unvergleichlicher mystischer Tiefe und Schönheit“11 entfaltet. Der berechtigte und oft genannte Gedanke an die Mystik, der gut zu der Thematik der Offenbarung in v.17 passt, sollte allerdings nicht im Sinne einer reinen Innerlichkeit missverstanden werden. Es geht hier um eine höchst praktische Lebensentscheidung, um Lebenskunst im Sinne einer Grundlage und eines Maßstabs für das tägliche Verhalten. Dieser Aspekt ergibt sich nicht erst aus dem Gegensatz zur verfehlten Lebenspraxis der Frevler in den vv.6–9, sondern ist in v.24a direkt ausgesprochen. Stand am Anfang des Psalms in der Metapher des Ausgleitens die Gefahr des Scheiterns auf dem Lebensweg (v.2), so geben die erreichte Einsicht und die daraus erwachsene Entscheidung des Ich, das Leben auf die Gottesgemeinschaft hin zu entwerfen, nun Orientierung. Bei aller Deutungsoffenheit wird in den vv.23–26 jedenfalls eine Perspektive deutlich, die die Grenze des Todes überschreitet. Die vv.24.26 sprechen damit eine Hoffnung aus, die sich auf ein Jenseits des Todes bezieht, also in diesem Sinne eine Jenseitshoffnung. Nun könnte man einwenden, dass der Psalm diese Jenseitshoffnung nicht weiter spekulativ-theologisch oder anthropologisch ausbaut und absichert. Das ist richtig. Aber dennoch wird sie ausgesprochen und erscheint im Duktus des Psalms plausibel. Ihre Begründung liegt in der Einsicht (oder auch Offenbarung), dass die Nähe zu Gott ein selbst den Tod überdauernder Lebensentwurf sei. Dieses Konzept ist von kaum zu überschätzender Bedeutung. D. Michel hat daher ganz aus der Perspektive des Ich formuliert: Gut für ihn ist einzig und allein, bei Gott zu sein, ist „Nahen Gottes“ (v.28), das nun sicherlich nicht einen gottesdienstlichen Akt meint, sondern schon eher so etwas wie mystische Versenkung, bei der Gott ihm und er Gott nahe ist. Gott ist so mächtig, daß derjenige Mensch, der sich in seiner Nähe befindet, der „bei ihm“ ist, durch nichts aus dieser guten Nähe vertrieben werden kann. Auch nicht durch den Tod. Endlich hat der Glaube Israels diesen letzten Schluß gezogen.

7.5 Der sich offenbarende Gott: Ps 73

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Mehr weiß unser Beter nicht vom Jenseits. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Er konnte wohl auch nicht mehr wissen.12

Die hier ausgesprochene Hoffnung auf eine postmortale Rettung hat seine religiöse „Attraktivität“ offenbar gegen alle Denkmodelle, die mehr zu wissen vorgeben, bewahren können. Sie findet sich poetisch anders gefasst auch in Ps 23,4, also dem Psalm, der seinen liturgischen Platz in der christlichen Bestattungsliturgie hat und hier schon seit Jahrhunderten Menschen Trost in Trauersituationen zu geben vermag.

Anmerkungen Einführung 1 E. Zenger, Psalmen- und Psalterexegese. Eine Forschungsskizze, in: Ders. (Hg.), Composition, 17–65, hier 65.

1. Der Ausgangspunkt: Psalmen sind Poesie 1 Vgl. ausführlicher und mit anthropologischen Konsequenzen: Janowski, Konfliktgespräche,13–21. 2 Kraus, Psalmen 60–150, 771. 3 P. Ricœur, Die lebendige Metapher. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe (Übergänge 12), München 1986, 238 f. 4 Zur Auslegung von Ps 49 und weiterer Literatur vgl. J. Schnocks, Rettung und Neuschöpfung. Studien zur alttestamentlichen Grundlegung einer gesamtbiblischen Theologie der Auferstehung (BBB 158), Göttingen 2009, 136–143. 5 Vgl. W. Gesenius/F. Buhl, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Berlin 171962 [unveränderter Neudruck der Auflage von 1915] und L. Köhler/W. Baumgartner, Hebräisches und aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Leiden 32004 [unveränderter Neudruck der Auflage von 1967–1995] jeweils unter hdp qal. 6 Ricœur, Metapher, 236.

2. Der alte Königsweg und seine Sackgassen: Die Formen- und Gattungskritik 1 H. Gunkel, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels. Zu Ende geführt von J. Begrich, Göttingen 31975 [1933], 22 f. (im Original mit Hervorhebungen). 2 Ebd. 452 (im Original mit Hervorhebungen). 3 S. Mowinckel, Psalmenstudien VI: Die Psalmdichter, Kristiania (= Oslo) 1924 (Nachdruck: Amsterdam 1961), 65. 4 Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 309 (Zenger). 5 Vgl. ebd. 305. 6 Vgl. J. Becker, Einige Hyperbata im Alten Testament, in: BZ 17 (1973) 257–263. 7 Vgl. F. Delitzsch, Die Psalmen (BC 4,1), Leipzig 51894, 692: „Man hat μymvb auf 5b, ≈rab auf 6a zu bez(iehen)“.

Anmerkungen

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8 Vgl. Weber, Werkbuch Psalmen II, 58 und Kraus, Psalmen 60–150, 714, wobei Kraus v.5 als „Übergang von der Klage zur Bitte“ (ebd. 716) zum zweiten Teil zieht. 9 Vgl. dazu jetzt die neue Studie von U. Rechberger, Von der Klage zum Lob. Studien zum ‚Stimmungsumschwung‘ in den Psalmen (WMANT 133), Neukirchen-Vluyn 2012. Gegenüber der älteren Forschung, die hier als „Sitz im Leben“ meinte, ein priesterliches Heilsorakel am Tempel rekonstruieren zu müssen, um eine postulierte argumantative „Lücke“ im Text zu schließen, hält Rechberger fest, dass sich das Phänomen nicht textextern erklären lässt. Vielmehr geht es um eine umfassende „Wende“ im Gebetsprozess, auf die der Psalm insgesamt hinführt. „Das Psalmgebet ist ein Interaktionsgeschehen zwischen dem jeweiligen Beter und dem Text“ (ebd. 348), wobei sich immer Sequentialität und Simultanität dialektisch überlagern. 10 Vgl. dazu F. Hartenstein, „Schaffe mir Recht, JHWH!“ (Psalm 7,9). Zum theologischen und anthropologischen Profil der Teilkomposition Psalm 3–14, in: Zenger (Hg.), Composition, 229–258.

3. Das Psalmenbuch als Komposition 1 Vgl. U. Dahmen, Psalmen- und Psalter-Rezeption im Frühjudentum. Rekonstruktion, Textbestand, Struktur und Pragmatik der Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran (StTDJ 49), Leiden/Boston 2003, 308. 2 U. Dahmen (ebd. 308–311) hat gezeigt, dass 11QPsa das – vielleicht zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz vollständige – biblische Psalmenbuch voraussetzt, demgegenüber aber eine eigenständige Komposition ist. 3 H. Gunkel, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels. Zu Ende geführt von J. Begrich, Göttingen 31975 [1933], 3. 4 Ebd. 5 E.S. Gerstenberger, Der Psalter als Buch und als Sammlung, in: Seybold/Zenger (Hg.), Wege, 3–13, hier 12. 6 E. Zenger, Der Psalter als Buch. Beobachtungen zu seiner Entstehung, Komposition und Funktion, in: Zenger (Hg.), Psalter, 1–57, hier 12 (Hervorhebungen im Original). 7 Ebd. 8 Vgl. F.-L. Hossfeld, Eine poetische Universalgeschichte. Ps 105 im Kontext der Psalmentrias 104–106, in: F.-L. Hossfeld/L. SchwienhorstSchönberger (Hg.), Das Manna fällt auch heute noch. Beiträge zur Geschichte und Theologie des Alten, Ersten Testaments, FS E. Zenger (HBS 44), Freiburg i. Br. 2004, 294–311. 9 Midrasch Tehillim 1,2; zitiert ist die deutsche Übersetzung von A. Wünsche, Midrasch Tehillim oder Haggadische Erklärung der Psalmen, Hildesheim 1999 [Erstdruck Trier 1892], 2.

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Anmerkungen

10 Zitiert nach E. Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, herausgegeben von C. Frevel, Stuttgart 82012, 435. 11 Zu den Details vgl. J. Schnocks, Vergänglichkeit und Gottesherrschaft. Studien zu Psalm 90 und dem vierten Psalmenbuch (BBB 140), Berlin/ Wien 2002, 207–211. 12 Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 807 (Zenger). 13 Vgl. neben den Kommentaren: Schnocks, Vergänglichkeit und zuletzt M. Köckert, Zeit und Ewigkeit in Psalm 90, in: R. G. Kratz/H. Spieckermann (Hg.), Zeit und Ewigkeit als Raum göttlichen Handelns (BZAW 390), Berlin 2009, 155–185. 14 Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 619 f. (Zenger). 15 Ebd. 630. 16 Vgl. grundlegend J. Reindl, Weisheitliche Bearbeitung von Psalmen. Ein Beitrag zum Verständnis der Sammlung des Psalters, in: J. A. Emerton (Hg.), Congress Volume Vienna 1980 (VT.S 32), Leiden 1981, 333– 356 und ausführlich J. Schnocks, Vergänglichkeit, 191–196. 17 Mose begegnet im Psalter mit einer Ausnahme ausschließlich im vierten Psalmenbuch (Ps 90–106), so dass die Überschrift im Endtext auch das ganze Psalmenbuch charakterisiert bzw. in der Entstehungsgeschichte einmal einen Teil dieser Psalmen vorangestanden haben könnte. Vgl. dazu J. Schnocks, Mose im Psalter, in: A. Graupner/M. Wolter (Hg.), Moses in biblical and extra-biblical traditions (BZAW 372), Berlin 2007, 79–88.

4. Vom Einzelpsalm zum Psalmenbuch: Entstehungsgeschichtliche Fragen 1 Einige einflussreiche Beiträge sind: Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 26–35; Dies., Psalmen 101–150, 17–26; R. G. Kratz, Die Gnade des täglichen Brotes. Späte Psalmen auf dem Weg zum Vater unser, in: ZThK 89 (1992) 1–40; Ders., Die Tora Davids. Psalm 1 und die doxologische Fünfteilung des Psalters, in: ZThK 93 (1996) 1–34; Ders., Das Schema‘ des Psalters. Die Botschaft vom Reich Gottes nach Psalm 145, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog. FS O. Kaiser. Bd. 2 (BZAW 345,2), Berlin 2004, 623–638; M. Leuenberger, Konzeptionen des Königtums Gottes im Psalter. Untersuchungen zu Komposition und Redaktion der theokratischen Bücher IV–V im Psalter (AThANT 83), Zürich 2004; C. Levin, Das Gebetbuch der Gerechten. Literargeschichtliche Beobachtungen am Psalter, in: ZThK 90 (1993) 355–381; E. Zenger, „Es sollen sich niederwerfen vor ihm alle Könige“ (Ps 72,11). Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen zu Psalm 72 und zum Programm des messianischen Psalters 2–89, in: Ders./E. Otto (Hg.), „Mein Sohn bist du“ (Ps 2,7). Studien zu den Königspsalmen (SBS 192), Stuttgart

Anmerkungen

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2002, 66–93; E. Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, herausgegeben von C. Frevel, Stuttgart 82012, 445–447. N. Lohfink, Der Begriff des Gottesreichs vom Alten Testament her gesehen, in: J. Schreiner (Hg.), Unterwegs zur Kirche. Alttestamentliche Konzeptionen (QD 110), Freiburg i. Br. 1987, 33–86, hier 74 Anm. 108. Zur Redaktionsgeschichte des vierten Psalmenbuchs, die hier nur angedeutet ist, vgl. ausführlich J. Schnocks, Vergänglichkeit und Gottesherrschaft. Studien zu Psalm 90 und dem vierten Psalmenbuch (BBB 140), Berlin/Wien 2002, 265–271. C. Süssenbach, Der elohistische Psalter. Untersuchungen zur Komposition und Theologie von Ps 42–83 (FAT II/7), Tübingen 2005, 57. Die Rolle mit der Bezeichnung 11QPsa vereint eine Reihe biblischer Psalmen – allerdings immer wieder in einer vom Psalmenbuch abweichenden Reihenfolge – und einige nicht biblische Texte. Darunter ist auch ein Text, der in der Forschung mit „David’s compositions“ bezeichnet wird (11QPsa 27,2–11).

5. Eine kleine Biblia: Die theologische Bedeutung des Psalmenbuchs 1 Athanasius der Große, Brief an Marcellinus, in: Ausgestreckt nach dem, was vor mir ist. Geistliche Texte von Origenes bis Johannes Climacus, übersetzt und eingeleitet von Hermann Josef Sieben (Sophia 30), Trier 1998, 143–179. 2 Athan., ep. Marcell. 2; ebd. 148. 3 Athan., ep. Marcell. 30; ebd. 175. 4 Vgl. G. Bader, Psalterium affectuum palaestra. Prolegomena zu einer Theologie des Psalters (HUTh 33), Tübingen 1996. 5 Die Charakterisierung findet sich in der Vorrede auf den Psalter. In letzter Fassung (1545) lautet sie: „Das es wol moecht ein kleine Biblia heissen, darin alles auffs schoenest vnd kuertzest, so in der gantzen Biblia stehet, gefasset vnd zu einem feinen Enchiridion oder Handbuch gemacht vnd bereitet ist. Das mich duenckt, Der heilige Geist habe selbs woellen die muehe auff sich nemen, vnd eine kurtze Bibel vnd Exempelbuch von der gantzen Christenheit oder allen Heiligen zusamen bringen. Auff das, wer die gantzen Biblia nicht lesen kuendte, hette hierin doch fast die gantze Summa verfasset in ein klein Buechlin.“ (WA.DB [= Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers, Abteilung Deutsche Bibel] 10/1, 99–101). 6 Bader, Psalterium, 31. Bader gewinnt diese Formel aus einem Satz aus einer Psalmenvorlesung Luthers, in der er an die Kommentierung von Ps 1 ein „Monitum“ anschließt. „Der Psalter – heißt es da – sei nichts als

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Anmerkungen

‚affectuum qaedam palaestra et exercitium‘.“ (ebd.) Luther fährt fort: „sine fructu psallit, qui non spiritu psallit“ (WA 5,46,16). R.M. Rilke, Briefe an seinen Verleger/2, Wiesbaden 1949, 289. Didasc. II, zitiert nach: Die syrische Didaskalia. Übersetzt und erklärt von H. Achelis und J.P.G. Flemming (TU 25.2), Leipzig 1904, 5. E. Zenger, Der Psalter als Buch. Beobachtungen zu seiner Entstehung, Komposition und Funktion, in: Ders. (Hg.), Psalter, 1–57, hier 47 f. (im Original mit Hervorhebungen). Vgl. die Bestandsaufnahme der Quellen bei G. Stemberger, Psalmen in Liturgie und Predigt der rabbinischen Zeit, in: Zenger (Hg.), Psalter, 199–213. Vgl. auch: G. Braulik, Christologisches Verständnis der Psalmen – schon im Alten Testament? in: K. Richter/B. Kranemann (Hg.), Christologie der Liturgie. Der Gottesdienst der Kirche – Christusbekenntnis und Sinaibund (QD 159), Freiburg i. Br. 1995, 57–86. Vgl. Origenes, De Oratione/ΠΕΡΙ ΕΥΧΗΣ, XV,2. Vgl. dazu K. Richter, „Umdenken und Umkehr gerade in der Liturgie“. Zum Einfluss Erich Zengers auf Aspekte meiner Liturgiewissenschaft, in: I. Müllner/L. Schwienhorst-Schönberger/R. Scoralick (Hg.), Gottes Namen(n). Zum Gedenken an Erich Zenger (HBS 71), Freiburg i. Br. 2012, 238–254, hier 247 f. Übersetzung von B. Fischer, Christliches Psalmenverständnis im 2. Jahrhundert, in: Ders., Die Psalmen als Stimme der Kirche, Trier 1982, 85– 95, hier 87 f. Zum lateinischen Original vgl. Aug. in ps. 42, 1: „et homo ille ubique diffusus, cuius caput sursum est, membra deorsum: eius vocem in omnibus Psalmis vel psallentem vel gementem, vel laetantem in spe, vel suspirantem in re, notissimam iam et familiarissimam habere debemus, tamquam nostram.“ (Augustinus, Enarrationes in psalmos, [CCSL 38, 474]).

6. Anthropologische Schwerpunkte der Psalmen 1 Für den deutschsprachigen Bereich der letzten Jahre sei hier besonders Bernd Janowski genannt, der mit seinen Untersuchungen zu Individualpsalmen, seiner Psalmenanthropologie „Konfliktgespräche mit Gott“ und mit Arbeiten, die im Umfeld seines Tübinger Lehrstuhls entstanden sind, diese Forschungsrichtung maßgeblich gefördert und geprägt hat. Für einen breiten Überblick über aktuelle Forschungstrends vgl. auch C. Frevel (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament (QD 237), Freiburg i. Br. 2010. 2 Vgl. grundlegend zu den drei Bereichen: H. W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments. Mit zwei Anhängen neu herausgegeben von Bernd Janowski, Gütersloh 2010; B. Janowski, Konstellative Anthropologie. Zum Begriff der Person im Alten Testament, in: Frevel, Anthropologie,

Anmerkungen

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64–87; A. Wagner, Gottes Konturen in der Sprache. Körper und Emotionen Gottes in Psalmen und Kirchenliedern, in: Ders., Beten und Bekennen. Über Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2008, 265–287. Wolff, Anthropologie, 29. Ebd. 30. Vgl. zum Folgenden neben Wolff auch: Janowski, Konfliktgespräche, 204–214; H. Seebass, Art. næpæš, in: ThWAT V, 531–555 und jetzt B. Janowski, Die lebendige næpæš. Das Alte Testament und die Frage nach der ,Seele‘ in: Ders./Chr. Schwöbel (Hg.), Gott – Seele – Welt. Interdisziplinäre Beiträge zur Rede von der Seele, Neukirchen-Vluyn 2013, 12–43. Seebass, Art. næpæš, 544. Vgl. zum Folgenden neben Wolff auch: Janowski, Konfliktgespräche, 166–170; C. Frevel, Art. Herz, in: Ders./A. Berlejung (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006, 250 f. Janowski, Konfliktgespräche, 169. Ders., Konstellative Anthropologie, 67. Vgl. den Titel der erstmals 1947 erschienen Studie von C. Barth, Die Errettung vom Tode. Leben und Tod in den Klage- und Dankliedern des Alten Testaments. Neu herausgegeben von Bernd Janowski, Stuttgart/ Berlin/Köln 1997. Barth hat hier auf die Verankerung der Rede von Leben und Tod in den Psalmen in einer uns fremden anthropologischen Konzeption erstmals in einer systematischen Untersuchung hingewiesen und so die Texte vor einer oft bis zum Spöttischen gesteigerten Interpretation in Schutz genommen, die Aussagen vom Tod im Leben auf die Übertreibungen der leidenschaftlichen Orientalen zurückführten, die diese Psalmen verfasst haben (vgl. ebd. 13 f.). Vgl. dazu und zum Folgenden: Janowski, Konstellative Anthropologie, 66–68. So H. Gunkel, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels. Zu Ende geführt von J. Begrich, Göttingen 31975 [1933], 2. A. Wagner, Art. Mensch, WiBiLex (2006) [In: Bibelwissenschaft.de (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/26893/); Abruf: 24. September 2013, 12 Uhr]. A. Wagner, Eifern und eifersüchtig sein. Zur sprachlichen Konzeptualisierung von Emotionen im Deutschen und Hebräischen, in: Ders., Emotionen, Gefühle und Sprache im Alten Testament. Vier Studien (Kleine Untersuchungen zur Sprache des Alten Testaments und seiner Umwelt 7), Waltrop 2006, 75–100, hier 88 (im Original mit Hervorhebungen). Vgl. K. Liess, Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen (FAT II/5), Tübingen 2004, 326.

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Anmerkungen

16 Vgl. J. Schnocks, Vergänglichkeit und Gottesherrschaft. Studien zu Ps 90 und dem vierten Psalmenbuch (BBB 140), Berlin/Wien 2002, 234–239; ein komplizierteres Modell vertritt jetzt F.-L. Hossfeld (vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 42), der die vv.26–28 nochmals als späteren Einschub ansieht. 17 K. Seybold, Die Psalmen (HAT I/15), Tübingen 1996, 402. 18 Die hier auch in der Übersetzung angezeigte Gliederung des Psalms folgt der Analyse von F.-L. Hossfeld (vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 652). 19 Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 652–656 (Hossfeld). 20 Die beiden hebräischen Verbformen (Präformativkonjugation/Imperfekt) bezeichnen hier eine wiederkehrende (iterative) Handlung in der Vergangenheit. 21 Vgl. zur Darstellung der Zeitebenen sowie zur Auslegung überhaupt: Janowski, Konfliktgespräche, 271–273. 22 K. Müller, Das Weltbild der jüdischen Apokalyptik und die Rede von der Auferstehung Jesu, in: BiKi 52 (1997) 8–18, hier 13.

7. Theologische Schwerpunkte der Psalmen 1 Vgl. zum Text TUAT III,4, 565–602. 2 Vgl. B. Janowski, Das Königtum Gottes in den Psalmen. Bemerkungen zu einem neuen Gesamtentwurf, in: ZThK 86 (1989) 389–454, hier 408– 412. 3 Vgl. die detaillierte Auseinandersetzung bes. mit Spieckermann und Köckert bei Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 72–75 (Hossfeld). 4 B. Janowski/A. Krüger, Gottes Sturm und Gottes Atem. Zum Verständnis von μyhla jwr in Gen 1,2 und Ps 104,29f, in: JBTh 24 (2009), 3–29, hier 28. 5 Eine handliche Zusammenstellung altorientalischer Schöpfungstexte findet sich am Ende von: O. Keel/S. Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 2002. 6 B. Janowski, Der Himmel auf Erden. Zur kosmologischen Bedeutung des Tempels in der Umwelt Israels, in: Ders./B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte; in Zusammenarbeit mit A. Krüger (FAT 32), Tübingen 2001, 229–260, hier 253. 7 N. Lohfink, Der Begriff des Gottesreichs vom Alten Testament her gesehen, in: J. Schreiner (Hg.) Unterwegs zur Kirche. Alttestamentliche Konzeptionen (QD 110), Freiburg i. Br. 1987, 33–86, hier 74 Anm. 108. 8 Vgl. zu diesem sogenannten „Stimmungsumschwung“ nun die Studie von U. Rechberger, Von der Klage zum Lob. Studien zum „Stimmungsumschwung“ in den Psalmen (WMANT 133), Neukirchen-Vluyn 2012.

Anmerkungen

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9 So zuletzt B. Janowski/K. Liess, Gerechtigkeit und Unsterblichkeit. Psalm 73 und die Frage nach dem ‚ewigen Leben‘, in: R. Heß/M. Leiner (Hg.), Alles in allem. Eschatologische Anstöße, FS C. Janowski, Neukirchen-Vluyn 2005, 69–92, hier 75 (Liess). 10 Vgl. ausführlich abwägend mit einer Entscheidung in dieser Richtung Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 343–347 (Zenger). 11 F. Delitzsch, Die Psalmen, Leipzig 51894, 495. 12 D. Michel, Ich aber bin immer bei dir. Von der Unsterblichkeit der Gottesbeziehung, in: Ders., Studien zur Überlieferungsgeschichte alttestamentlicher Texte, hg. v. A. Michel und A. Müller (TB 93), Gütersloh 1997, 155–179, hier 177 (Umbrüche im Original).

Glossar Akrostichon poetischer Text, bei dem die Anfangsbuchstaben jeder Verszeile einen sinnvollen Zusammenhang bilden (z. B. ein Wort). In den Psalmen gibt es sogenannte alphabetische Akrosticha, bei denen die jeweils ersten Buchstaben der Verse oder Strophen hintereinandergelesen die 22 Konsonanten des hebräischen Alphabets sind. Chiasmus, chiastisch Stilfigur, bei der sich die Elemente nach der Gestalt des griechischen Buchstaben χ (Chi) in überkreuzter Form entsprechen, z. B.: A -B // B’-A’ deuteronomisch (dtn) ihm gehörig

auf das Deuteronomium bezogen oder zu

deuteronomistisch (dtr) zu den Redaktionen gehörig, die in vielen Teilen des Alten Testaments Spuren hinterlassen haben und sich theologisch am Deuteronomium orientieren Diachronie, diachron die geschichtliche Entwicklung (betreffend); auf Psalmen und andere Bibeltexte bezogen eine Fragerichtung, die evtl. Textveränderungen im Laufe der Entstehungsgeschichte zu klären und in die Auslegung zu integrieren versucht → Synchronie Doxologie (gr. „Lobpreis“) im Zusammenhang des Psalmenbuchs jeweils aus ähnlichen Elementen bestehender, formelhafter Abschluss der Ps 41; 72; 89; 106. Die vier Doxologien unterteilen den Psalter in fünf Psalmenbücher. Endtext (Endtextexegese) der (kanonische) Bibeltext in seiner überlieferten Gestalt im Gegensatz zu evtl. rekonstruierbaren Vorstufen. Die Endtextexegese verzichtet (u. U. als vorläufiger Methodenschritt) auf die Integration entstehungsgeschichtlicher Beobachtungen in die Texterklärung, um zunächst Bezüge auf dieser Textebene besser wahrzunehmen. JHWH das sogenannte Tetragramm (aus gr. „vier“ und „Buchstabe“), die vier hebräischen Konsonanten Jod-He-Waw-He, die den Eigennamen Gottes in der Hebräischen Bibel bilden und im Judentum nicht ausgesprochen werden. Man liest „Adonaj“ (der Herr) oder „Ha-Schem“ (der Name). Mit Blick auf das in dieser Hinsicht

Glossar

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konsequente Judentum sollten auch Christen zurückhaltend sein, den Gottesnamen auszusprechen. Exegetisch ist es allerdings wichtig, auch in Übersetzungen anzuzeigen, ob im Text der Gottesname oder eine andere Gottesbezeichnung steht. In dieser Einführung steht daher das so nicht aussprechbare „JHWH“, wo im Hebräischen das Tetragramm steht. Ketiv der im Bibeltext überlieferte Konsonantenbestand eines Wortes (ketib = aram. „das Geschriebene“), das aber in jüdischer Tradition anders auszusprechen ist. Entsprechend steht (bis auf wenige Ausnahmen) der auszusprechende Konsonantenbestand in den Bibelausgaben am Rand (Qere = aram. „zu Lesendes“), während die entsprechenden Vokalzeichen bei den Konsonanten des Ketivs im Text stehen. Kolon (gr. „Körperteil“; Plural: Kola) eine Verszeile. In den Psalmen bilden meist zwei Kola eine Einheit (Bikolon), seltener sind Trikola (Dreizeiler) und Monokola (Einzeiler). Masoreten (Masoretentext) Bezeichnung für die Gelehrten, die zwischen 700 und 1000 n. Chr. die kanonische Textgestalt des hebräischen Bibeltextes (= „masoretischer Text“ oder „Masoretentext“) schufen, die allen Bibelausgaben zu Grunde liegt Merismus Ausdruck einer Gesamtheit durch Nennung von gegensätzlichen Teilen (z. B. Himmel und Erde) Monotheismus Glaubensüberzeugung (etwa ab dem 6. Jh. v. Chr.), dass es nur einen Gott gibt (und daher auch nur ein Gott verehrt werden kann). Eine religionsgeschichtliche Vorstufe ist die Monolatrie, die die Existenz anderer Götter nicht grundsätzlich leugnet, aber die Verehrung auf einen Gott konzentriert. Man kann explizite monotheistische Formulierungen von Texten unterscheiden, die implizit einen Monotheismus voraussetzen. In manchen Psalmen kann der Monotheismus exklusivistische Züge annehmen (wer andere Götter verehrt, ist ein Götzendiener), während andere die inklusivistischen oder universalistischen Konsequenzen (der eine Gott ist letztlich der Gott aller Völker) betonen. parallelismus membrorum Sprachliches Grundelement semitischer Lyrik, bei dem sich die Bestandteile von zwei oder mehr Verszeilen (Kola) ganz oder teilweise entsprechen. Der Parallelismus kennzeichnet die Verszeilen, die durch ihn verbunden werden, als zusammengehörige Sinneinheit (Bikolon, Trikolon usw.). Es gibt

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Glossar

unterschiedliche Formen des Parallelismus (synonymer P., antithetischer P., synthetischer P., Stufenparallelismus). Peschitta (syr. „die Allgemeine“) christliche Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Syrische aus dem 2.–5. Jh. n. Chr. Psalmenüberschrift/Psalmkorpus Viele Psalmen beginnen mit einer Psalmenüberschrift, die aus einem Wort (z. B. „von/für David“) oder aus weiteren Zuordnungen und Situationsangaben bestehen kann. Daran schließt sich dann der eigentliche poetische Text, das Psalmkorpus an. Psalter/Psalmenbuch Psalter (von gr. psalterion) als Bezeichnung für das biblische Buch der Psalmen kann gleichbedeutend mit „Psalmenbuch“ verwendet werden. Mit Blick auf die frühchristliche Verwendung kann hier aber auch die Lautgestalt, das (halblaut) gebetete oder gesungene Psalmenbuch gemeint sein und von daher auch (in lutherischer Tradition) eine Sammlung geistlicher Lieder überhaupt mit „Psalter“ bezeichnet werden. „Psalmenbuch“ hingegen kann auch zur Bezeichnung der fünf durch die → Doxologien gebildeten Teile des Psalters, die fünf Psalmenbücher Ps 1–41; 42– 72; 73–89; 90–106; 107–150 verwendet werden. Qere

s. o. „Ketiv“

Qumran Khirbet Qumran ist ein Ausgrabungsort in der Wüste Juda nahe des nordwestlichen Ufers des Toten Meeres. In der Umgebung der Siedlung hat man in elf Felshöhlen Schriftrollen aus dem 1. (und vereinzelt 2.) Jh. v. Chr. und aus dem 1. Jh. n. Chr. gefunden. Von fast allen Büchern des Alten Testaments gibt es Fragmente, die für die Erforschung der Textgeschichte von unschätzbarem Wert sind. Darüber hinaus gibt es viele bisher unbekannte Texte einer frühjüdischen Gruppierung. Die Texte werden durch die Höhlennummer, den Buchstaben „Q“ für Qumran und eine Nummer oder eine Textbezeichnung (evtl. gefolgt von Kolumnen-/Fragment- und Zeilennummer) zitiert; Beispiel: 11QPsa steht für die große Psalmenrolle aus Höhle elf. Weitere Psalmenrollen aus dieser Höhle werden dann mit den Buchstaben b-e bezeichnet. SELA etwa 70mal in den Psalmen (bis auf Ps 140; 143 nur in Ps 3–89) auftretendes Wort oder Zeichen, dessen Bedeutung unklar ist, vermutlich aber im Zusammenhang mit dem musikalischen Vortrag der Psalmen zu verstehen ist

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Glossar

Septuaginta (LXX) Bezeichnung für die antike griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel ab dem 3. Jh. v. Chr. Die Bezeichnung geht auf die Entstehungslegende zurück, nach der siebzig Gelehrte parallel zueinander und ohne miteinander Kontakt zu haben siebzig identische Übersetzungen angefertigt hätten. Die Übersetzung des Psalmenbuchs stammt vermutlich vom Ende des 2. Jh. v. Chr. Die Zählung der Psalmen weicht geringfügig von der Zählung im hebräischen Text ab: LXX zählt Ps 9/10 und Ps 114/115 jeweils als einen Psalm und teilt Ps 116; 147 auf je zwei Psalmen auf. Als Faustregel gilt, dass von Ps 11–147 die hebräische Zählung jeweils um eins höher ist als die griechische, der auch die lateinische Vulgata (Psalterium Gallicanum) folgt. Synchronie, synchron Gleichzeitig(keit); auf Bibeltexte bezogen eine Fragerichtung, die eine bestimmte Entwicklungsstufe des Textes (meist den Endtext) im Horizont eines bestimmten Textkorpus (Psalmengruppe, Psalmenbuch usw.) untersucht, ohne die Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen → Diachronie Targum (aram. „Übersetzung“; Plural Targumim oder Targume) z. T. paraphrasierende Übersetzung biblischer Bücher ins Aramäische, die im Zusammenhang mit bzw. für den synagogalen Gottesdienst entstanden ist Tetragramm

s. o. „JHWH“

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7. Abbildungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2:

Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5:

aus O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996, 188, Abb. 286. aus Ders./C. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen, Freiburg (Schweiz) 62010, 71, Abb. 65. aus Keel, Bildsymbolik, 43, Abb. 48. aus ebd., 39, Abb. 42. aus ebd., 125, Abb. 191.

Bibelstellenregister Altes Testament Genesis 1 1,3 1,9 2,7 7,19 7,22 9

136 137 136 93 136 93 137

Exodus 19,4 32,12b

64 64

Levitikus 17,11

92, 97

Deuteronomium 3,24 17,18 f. 32,4 32,11 33,29

38 38 64 64 56

1 Samuel 19,11

53

2 Samuel 13,12 15,10 22

98 30 80

1 Könige 3,9 5,9 6,23–28 8,23

95 95 142 38

2 Könige 19,13 19,35 f.

30 140

1 Chronik 16,7–36 25

80 58

Ijob 14,5 27,3

109 93

Psalmen 1 1,1 1,2 1–2 1–41 1–89 2 2–89 3–41 3–89 8,5 9,5–9.17 f.20 9/10 10,16 11–147 13 13,2 16 16,11 18 18,6 18,7 18,34 19,8–15 22,2 22,4 22,22 23 23,1 23,4 25 30 31,6 32,2 33,6 33,15 41 41,14 42,2 f. 42–49 42–72

155 56 56 55 74, 162 51 77 76 49, 53, 58, 75–78 162 13 131 16, 77, 163 131 163 46–49 144 86 149 80 93 120 90 56 86 85 145 12 14 151 16 100, 116–122 93 93 93 95 54, 75 f., 160 33, 54 91 54, 58, 73 162

166 42–83 46 47 48,8 49 49,22–27 50 51,12.14.19 51–70 51–72 59,1 71 71,9 72 72,18 f. 72,20 73 73–83 73–89 73–150 74 78 78,58 f. 79 79,6 79,10 80 83 83,18 f. 84–85 84–88 84–150 86 87–88 88 88,2 89 89,53 90 90,6 90,7.9 90,10 90,11 f. 90,12 90,14–16 90–92 90–106 91 91,1 f. 92

Bibelstellenregister 68, 73–75, 77 140 86 93 22–27, 46, 152 122 58, 73 f. 93 53 58, 73, 75 f. 53 53, 58 53 52–54, 58, 68, 75 f., 160 33, 53 f. 53 122, 145–151 54, 58, 73–75 162 68 45 45 98 f. 39–46 45 45 45 45 45 f. 54, 58 77 74 53, 75, 77 54, 58 54, 77, 100–105, 144 f. 14, 37 54 f., 68, 75–77, 160 33, 54 55, 61–68, 77, 111 108 109 109 16 94 65 60–67, 72 f. 154, 162 61 f., 64–66 62 61–67, 72 f.

93 93,1 93,1 f. 93,3 93,5 93–100 94 95 95,3–5 95,7 96 96,5 96,7–10 96,10b 96,13 97,1 97,7 97,8 97,9 98 98,9 99 99,1 99,1 f.5.9 99,4.7 99,6–8 100 100,4 101 101–150 102 102,5 103 103,1 103,15 f. 104 104,15 104,29 f. 104–106 105,1–15 105–106 106 106,47 f. 106,48 107 107,5 107,9 107,16 107,18

50, 59, 113, 125–131, 136, 138 30 142 15 131 59, 72, 113, 130 72, 111–116, 131 59 130 45 59, 143 131 131 131 131 30 131 131 130 59, 143 131 72, 138–143 30 131 131 145 59, 131 131 53, 75 50 67, 94, 106–111 94 53, 67, 75, 110 f., 133 92 108 131–138 94 93 55, 60 80 133 54 f., 75, 160 80 33, 54 55 91 91 14 91

167

Bibelstellenregister 107–150 108–110 111 111–113 112 113 113–115 113–118 114 114/115 115,2 115–117 116 116–118 117 117,2 118 118,10–12 119 120–134 124 135 135–136 136 138–145 140 143 143,10 145 146,4 146–150 147 147,6 149,7–9 Sprichwörter 23,17 Kohelet 3,13 5,18 Jesaja 2,2–4 6,1–4

162 53, 58, 75 16, 59 f. 60 16, 59 f. 33, 35–39, 60 59 35, 37, 39, 59 59 163 35 60 35, 163 59 33–37 39 35 35 16, 56, 59 58 53, 75 60 59 f. 59 f. 53, 58, 75 162 162 93 55 93 55, 59 f. 163 14 131

6,3 10 40,6–8 40,22 40–55 45,7 52,7–10

141 44 108 136 80 138 31

Jeremia 31,33

95

Ezechiel 11,16 36,26 37,9

140 95 93

Joel 2,12–18 2,17

40 40

Amos 1–2

44

Jona 2,5

120

Sacharja 8,20–23

142

Neues Testament Matthäus 27,46 86 Markus 15,34

86

Lukas 24,50–52

86

Apostelgeschichte 1,6–12 2,25–31 2,25–32 4,25 f.

86 56 85 f. 76

99

122 122

142 141