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German Pages 305 Year 1971
Schriften zum Prozessrecht Band 19
Prozeßmaximen und Rechtswirklichkeit Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime im deutschen Zivilprozeß – Vom gemeinen Recht bis zur ZPO –
Von
Falk Bomsdorf
Duncker & Humblot · Berlin
FALK BOMSDORF
Proze13maximen und Rechtswirklichkeit
Schriften zum Prozessrecht
Band 19
Proze.6maximen und Rechtswirklichkeit VerhandluD(!so UDd UDtersucbuDgsmaxime im deutschen Zivilprozeli - Vom gemeinen Recht bis zur ZPO -
Von
Dr. Falk Bomsdorf
DUNCKER & HUMBLOT I
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot. Berlin 41 Gedruckt 1971 bei Alb. Sayffaerth. BerUn 61 prtnted in Germany
© 1971 Duncker
ISBN 3 428 02359 5
Für HeZfried Burgmüller
* 30. Xl. 1923
t 8.1. 1947
Vorwort Diese Arbeit hat der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der ChristianAlbrechts-Universität in Kiel im Jahre 1969 als Dissertation vorgelegen. Für die Anregung zur Arbeit und die überlassung des Themas sowie die stete Förderung danke ich Herrn Professor Dr. Egbert Peters. Mein Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Hans Hattenhauer für seine hilfreichen Hinweise und sein Interesse an der Durchführung der Arbeit. Schließlich danke ich der Stiftung Volkswagenwerk und der Dr. Otto Bagge-Gedächtnisstiftung, mit deren Unterstützung die Arbeit entstanden ist. Berlin, im Dezember 1970 Falk Bomsdorj
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis ................................................
15
Zitierhinweis .........................................................
18
Einleitung ............................................................
19
Erstes Kapitel Das Verhältnis von Richter- und Parteienmacht bei der Ermittlung und Aufklärung des Sachverhalts im gemeinen Prozeß I. Entstehung und Wesen des gemeinen Prozesses ............ , .. ... . ..
23
1. Die Entstehung des gemeinen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
2. Die Quellen des gemeinen Prozesses .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
28
3. Ordentlicher und summarischer Prozeß ....................... . ..
28
H. Die passive Stellung des Richters im gemeinen Prozeß . ... . . . ..... . ..
31
1. Das officium judicis ............................................
31
2. Die Unzulässigkeit der Ergänzung von Tatsachen. . . . . . . . . . . . . . . ..
33
3. Die Unzulässigkeit der Verwertung privaten Wissens... . . . .. .. . ..
35
4. Die Bildung der Regel "judex ex officio non procedit" ....... . . . ..
38
5. Ergebnis .......................................................
42
IH. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß . . ... .... . .. ... .. ...
42
1. Die Aussagen der Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
2. Die Befugnisse des Richters zur Ermittlung und Aufklärung des Sachverhalts im Verfahren überhaupt... ... .. ... .. . . .. . . . .. ... ..
44
a) b) c) d) e)
Die Prozeßdirektion ......................................... Der Gefährdeeid ............................................ Eröffnung und Schließung der Verhandlung.. ... . .. . . . ........ Das Fragerecht .............................................. Die Verwertung von Tatsachen, die sich aus Gerichtsakten ergeben .......................................................
44 47 48 49 51
3. Die Befugnisse des Richters zur Ermittlung und Aufklärung des Sachverhalts im Beweisverfahren ............................... 53 a) Notorische Tatsachen ........................................
53
Inhaltsverzeichnis
10 b) c) d) e)
Zeugenbeweis ............................................... Urkunden ................................................... Augenschein ................................................ Sachverständige ............................................. f) Eid ......................................................... g) Reinigungs- und Erfüllungseid ...............................
54 56 58 59 60 60
IV. Ergebnis: Die gemeinrechtliche Lehre und ihr Verhältnis zu der Regel "judex ex officio non procedit.. ..................................... 62 Zweites Kapitel
Das Verhältnis von Richter- und Parteienmacht bei der Ermittlung und Aufklärung des Sachverhalts im preußischen Prozeß I. Von der Kammergerichtsordnung von 1709 zum Codex Fridericianus
Marchicus von 1748 ............................................. . ..
66
1. Die Kammergerichtsordnung von 1709 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
2. Die weitere Gesetzgebung ......................................
68
3. Das Edikt über das Verfahren in Bagatellsachen von 1739 ... . . . . . .
69
4. Der Codex Fridericianus Marchicus von 1748 ....................
72
11. Das Corpus Juris Fridericianum von 1781 ...........................
75
1. Das neue Verfahren: die Ermittlung der Tatsachen ohne Advokaten
76
2. Der Grund für die Neuerungen: die Abneigung gegen die Advokaten ..........................................................
77
111. Die Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten von 1793 83 1. Die Abschaffung der Assistenzräte und die Wiederzulassung von
Advokaten in Gestalt von Justizkommissaren ... . . . . . . . . . . . . . . . ..
83
2. Das Verfahren der AGO ........................................
85
3. Das Bestehenbleiben der offiziellen Prozeßinstruktion trotz Wiederzulassung der Advokaten ....................................... 87 4. Die AGO und die Idee der umfassenden Wahrheitsermittlung . . . ..
90
5. Die AGO und die Freiheit der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
91
6. Ergebnis .......................................................
95
Drittes Kapitel
Die Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime I. Der geistige Hintergrund ..........................................
98
1. Das juristische Naturrecht ......................................
99
2. Das Vernunftrecht .............................................. 101
Inhaltsverzeichnis
11
3. Das Vernunftrecht im Zivilprozeß ............................... 105 a) Spätes Eindringen des Vernunftrechts in den gemeinen Prozeß 105 b) Vernunftrecht und einzelne gemeinrechtliche Prozessualisten .. 106 c) Grolman und v. Almendingen ................................ 108 11. Nikolaus Thaddäus v. Gönner als Haupt der vernunftrechtlichen Prozessualisten ................................................... 111 1. N. Th. v. Gönner - sein Leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 111
2. Der juristische Standpunkt Gönners: das Vernunftrecht .......... 112 a) Das Vernunftrecht als Ausgangspunkt allen Rechts ............ 112 b) Die Bevorzugung der Philosophie ............................. 113 c) Die Methode Gönners: der Dreierschritt ...................... 114 d) Die Methode Gönners und das positive Recht. . . . . . . . . . . . . . . . .. 116 3. Die vernunftrechtliche Bearbeitung des gemeinen Prozesses durch Gönner ........................................................ 117 IH. Die Maximenschöpfung ............................................ 121 1. Der Anlaß: Grolman und die AGO ............................... 122
2. Der erste Schritt der Maximenschöpfung ........................ 125 a) b) c) d) e)
Der Plan .................................................... Der Ausgangspunkt ......................................... Die Ableitung der Verhandlungsmaxime ...................... Die Ableitung der Untersuchungsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Eigenheiten des ersten Schritts ...........................
125 125 126 127 127
3. Der zweite Schritt der Maximenschöpfung ......... . . . . . . . . . . . . .. 130 a) Die Verdeutlichung der Maximen im positiven Recht 130 b) Die pauschale Bewältigung der Ausnahmen .. . . . . . . . . . . . . . . . .. 131 4. Fortsetzung des zweiten Schritts: die Prozeßdirektion als untergeordnetes Prinzip des gemeinen Prozesses ...................... 134 a) Die Ableitung der Prozeßdirektion als notwendige Fortsetzung des zweiten Schritts der Ableitung der Verhandlungsmaxime ... 134 b) Die Deduktion der Prozeßdirektion und deren Verhältnis zur Dispositionsfreiheit der Parteien ............................. 135 c) Die durch die Prozeßdirektion gedeckten Fälle amtlichen richterlichen Vorgehens ............................................ 137 5. Der dritte Schritt der Maximenschöpfung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139 a) Die Ausschließung nicht mit der Verhandlungsmaxime harmonierender Einzelheiten des positiven Rechts . . . . . . . . . . . . . . .. 139 b) Das Weiterschließen von der als richtig erwiesenen Verhandlungsmaxime auf das positive Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 141 6. Würdigung der Maximenschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 146
12
Inhaltsverzeichnis
IV. Die Verhandlungsmaxime in den weiteren Werken Gönners
151
1. Die "Kritik des Entwurfs einer neuen Gerichtsordnung für die
Königlich sächsischen Lande" von 1808 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 151
2. Der "Entwurf eines Gesetzbuches über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtssachen" von 1815/1817 ..................... 153 3. Die Novelle zum bayerischen Judiciarkodex von 1819 .. . . . . . . . . . .. 156 Viertes Kapitel
Die Lehre von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime von Gönner bis zum Erscheinen der ZPO I. Die Maximenmanie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 159 1. Die philosophische Ableitung der Verhandlungsmaxime ...... , ... 160
2. Die Vermischung von Verhandlungsmaxime und heutiger Dispositionsmaxime ................................................. 161 3. Die Polarität von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime ..... 162 4. Die Folgen der Maximenmanie für das positive Recht. . . . . . . . . . . .. 164 11. Maximenideologen ................................................ 165 1. Ableitung und Begründung der Verhandlungsmaxime ........... 166
2. Der Inhalt der Verhandlungsmaxime: drei Regeln ................ 167 3. Das Verhältnis zu den Ausnahmen der Verhandlungsmaxime und eine neue Sicht der Untersuchungsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 167 111. Die "richtig verstandene" Verhandlungsmaxime .................... 170 1. Vereinbarkeit von Verhandlungsmaxime und Frage- und Auf-
klärungsrecht .................................................. 170
2. Rückwirkungen der Verhandlungsmaxime ....................... 172 3. Der neue Inhalt der Verhandlungsmaxime ....................... 174 4. Die Trennung von Verhandlungsmaxime und Dispositionsmaxime 175 IV. Die relative Identität von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime 176 1. Der Mittelweg zwischen Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime 176
2. Die übereinstimmung der Maximen im summarischen Prozeß des gemeinen Rechts und im Verfahren der AGO .................... 181 V. Kritik an den Prozeßmaximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 182 1. Die Kritik des ersten Schrittes der Maximenentstehung . . . . . . . . . .. 183
2. Die Kritik des zweiten Schrittes ................................. 185 3. Pragmatische Kritik und Polemik gegen die Verhandlungsmaxime 187 VI. Ergebnis .......................................................... 191
Inhaltsverzeichnis
13
Fünftes Kapitel
Das Verhältnis von Richter- und Parteienmacht bei der Ermittlung und Aufklärung des Sachverhalts sowie der Einfluß der Maximendoktrin in den partikularen Gerichtsordnungen des 19. Jahrhunderts I. Der preußische Einfluß ............................................ , 193 1. Württemberg .................................................. 193
2. Oldenburg und das Fürstentum Lübeck ......................... 196 3. Bayern ........................................................ 199 H. Entwicklungen auf gemeinrechtlich-partikularer Grundlage ......... 202 1. Kurhessen ..................................................... 202
2. Hannover ...................................................... 204 3. Lübeck, Hamburg und Bremen ................................. , 208 4. Mecklenburg ................................................... 212 5. Nassau ........................................................ 213 6. Sachsen-Meiningen
............................................ 214
7. Sachsen ........................................................ 215 IH. Der Einfluß der Verhandlungsmaxime .............................. 216 1. Frankfurt ...................................................... 216
2. Baden ......................................................... 217 3. Braunschweig .................................................. 221 IV. Die weitere Entwicklung in Preußen ................................ 222 V. Der französische Einfluß ........................................... 229 1. Die bayerische Prozeßordnung von 1869 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 232
2. Die hannoversche Prozeßordnung von 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 233 3. Die badische Prozeßordnung von 1864 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 235 4. Die württembergischen Prozeßordnungen von 1865 und 1868 . . . . .. 236 VI. Ergebnis .......................................................... 239 Sechstes Kapitel
Das Verhältnis von Richter- und Parteienmacht bei der Ermittlung und Aufklärung des Sachverhalts in der Zivilprozeßordnung des Deutschen Reichs I. Die Verantwortlichkeit der Parteien ................................ 242 H. Die Mitwirkung des Gerichts ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 245
14
Inhaltsverzeichnis 1. Die Frage- und Aufklärungspflicht .............................. 245
2. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 248 3. Die Befugnis, die Vorlage von Urkunden, Stammbäumen, Plänen, Rissen und Zeichnungen zu verlangen ........................... 249 4. Die amtliche Einnahme des Augenscheins und Hinzuziehung von Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 251 5. Das Zeugen verhör .............................................. 252 6. Der richterliche Eid ............................................ 252 HI. Ergebnis .......................................................... 254
Siebentes Kapitet Ausblick: Das Verhältnis von Richter- und Parteienmacht bei der Ermittlung und Aufklärung des Sachverhalts in den Novellen zur Zivilprozeßordnung I. Die Mängel der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 257 H. Der Einfluß des österreichischen Prozesses ........................ .. 259 III. Die Novelle vom 1. Juni 1909 ....................................... 263 IV. Die Novelle vom 13. Februar 1924 ................................... 267 V. Die Novelle vom 27. Oktober 1933 ................................... 273 Schluß ................................................................ 278 Quellen ............................................................... 284 Literaturverzeichnis ................................................... 291
Ahkürzungsverzeichnis a.A.
AcP Acta Borussica a.E. a.F. AG AGO ALZ Anh. Anm. a.R. Art. Aufl. Bd. BGB
c.
CCM CFM CJF Clem. Cod. Cont. CritA DA Dig. DJT DJZ Drucks. ebd. Einl. enth. EntlVO f., ff. Fn.
am Anfang Archiv für die civilistische Praxis Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert am Ende alte Fassung Amtsgericht Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten Allgemeine Literatur-Zeitung Anhang Anmerkung am Rande Artikel Auflage Band Bürgerliches Gesetzbuch caput Corpus Constitutionum Marchicarum Codex Fridericianus Marchicus Corpus Juris Fridericianum Clementina Codex Justinianus Continuatio Critisches Archiv der neuesten juridischen Litteratur und Rechtspflege Deputationsabschied Digesta Deutscher Juristentag Deutsche Juristen-Zeitung Drucksache ebenda Einleitung enthaltend Entlastungsverordnung folgende Fußnote
16
Gönners Archiv
Abkürzungsverzeichnis
Archiv für die Gesetzgebung und Reforme des juristischen Studiums (von Nikolaus Thaddäus v. Gönner) Grünhuts Zeitschrift Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart (hrsg. von C. S. Grünhut) H. Heft Hdb. Handbuch HGB Handelsgesetzbuch Hlbbd. Halbband hrsg. herausgegeben Hymmen Beyträge zu der juristischen Litteratur in den Preußischen Staaten (hrsg. von Hymmen) in Verbindung mit i.V.m. JLZ Juristische Literatur-Zeitung Justiz Ministerial Blatt für die Preußische Gesetzgebung JMBI. und Rechtspflege JRA Jüngster Reichsabschied JRW Jahrbücher der deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung Juristische Wochenschrift JW insbes. insbesondere Kamptz Jahrbücher für die Preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung (hrsg. im Auftrage des Königlichen Justiz-Ministeriums) Kap. Kapitel Kammergerichtsordnung KGO Kleins Annalen Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preußischen Staaten (hrsg. von Ernst Ferdinand Klein) Kritvjschr Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1. liber MotiveE Motive zum Entwurf m.w.Nw. mit weiteren Nachweisen NCC Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium Neues Archiv Neues Archiv für Bürgerliches Recht und Verfahren sowie für Deutsches Privatrecht NJW Neue Juristische Wochenschrift Nov. Novelle Nr. Nummer Nw. Nachweis o. oben o.J. ohne Jahr 0.0. ohne Ort österreichische Allgemeine Gerichtsordnung öAGO österreichische Zivilprozeßordnung ÖZPO
Abkürzungsverzeichnis pr. RA Rdnr. Recht Reg.BI. RG RGZ RKG
S.
SächsA SeuffA Slg. Sp. 1. Sp., r. Sp. Steno Ber. Tit.
u.
umgearb. verb. vgI. Vhdlg. Vorbem. X ZgeschRW Ziff. zit. ZPO ZRG ZRP zusammengest. ZZP
17
principium Reichsabschied Randnummer Das Recht, Rundschau für den deutschen Juristenstand Regierungsblatt Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Reichskammergericht Seite Sächsisches Archiv für Bürgerliches Recht und Prozeß Seufferts Archiv Sammlung Spalte linke Spalte, rechte Spalte Stenographische Berichte Titel unten umgearbeitet verbunden vergleiche Verhandlungen Vorbemerkungen Liber canonum extra Decretum (die Dekretalen Gregors IX. im Corpus Juris Canonici) Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft Ziffer zitiert Zivilprozeßordnung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung Zeitschrift für Rechtspolitik zusammengestell t Zeitschrift für Zivilprozeß
Zitierhinweis Die Belegstellen aus den Werken der Gemeinrechtler sind in den Fußnoten verkürzt zitiert. Die einzelnen Bezeichnungen wie "observatio, disputatio, thesis" etc. sind weggelassen und werden lediglich durch Ziffern angezeigt. Nur Angaben wie "Randnummer" (Rdnr.), "Seite" (S.) und "Paragraph" (§) erscheinen wie üblich in den Fußnoten. Im einzelnen bedeuten die Ziffern nach dem Namen des jeweiligen gemeinrechtlichen Autors in ihrer Reihenfolge folgendes: Bachovius: disputatio, thesis, litera, S. Berlich: conclusio, Rdnr., S. Boehmer: caput, §, Ziffer, S. Brunnemann (Tractatus): caput, Rdnr., S.
-
(Exercitationes): exercitatio, Rdnr., S.
-
(Processus juris): titulus, articulus, Rdnr., S.
-
(Jus lubecense): pars, titulus, articulus, Rdnr., S.
Carpzov (Jurisprudentia forensis): pars, constitutio, definitio, Rdnr., S.
Frantzkius: liber, resolutio (= quaestio), Rdnr., S. GaUl: liber, observatio, Rdnr., S. Hartmann: titulus, observatio, Rdnr., S. Hassert: thesis, S. Künhold: caput, §, S. Leyser: volumen, specimen, Ziffer, S. Menochius: liber, centuria, casus, Rdnr., S. Mevius (Jurisdictionis): pars, decisio, Ziffer, S. (Die Ziffer in Klammern weist auf die Ausführungen vor der entsprechenden Ziffer im Text hin, diejenige ohne Klammern auf die entsprechende Anmerkung nach dem Text.)
Mynsinger: centuria, observatio, Rdnr., S. Rulant: pars, liber, caput, Rdnr., S. Schaumburg: liber, sectio, membrum, caput, Ziffer, S. Schrader: pars, sectio, Rdnr., S. Treutler: disputatio, thesis, S. Vultejus: liber, caput, Rdnr., S. WiHenberg: caput, Ziffer, S. Wurmser: titulus, observatio, S. Zaunschliffer: pars, conclusio, §, Ziffer, S. Ziegler: conclusio, §, S.
Bei den übrigen Autoren bezeichnen römische Ziffern die Nummer des jeweiligen Bandes oder Beitrages; z. B. Seuffert I = Seuffert 1. Band. Bei Gönner bedeutet die arabische Ziffer bei seinem Handbuch die Auflage, bei seinem Entwurf den Halbband; also Hdb. I, 2 = Handbuch 1. Band 2. Auflage; Entwurf II, 1 = Entwurf 2. Band 1. Halbband. Ebenfalls mit römischen Ziffern bezeichnet sind die Absätze der Paragraphen.
Einleitung Die deutsche Zivilprozeßordnung ruht auf der Verhandlungsmaxime1 • Sie ist der oberste Grundsatz des Gesetzes 2 • Danach ist es ausschließlich Sache der Parteien, den Prozeßstoff zu beschaffen. Eine Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen - Untersuchungsmaxime - ist dem Richter verboten3 • Diese Auffassung von der Grundlage unseres Prozesses ist so alt wie die ZPO. Dabei stellt sie nicht lediglich die "herrschende Lehre" oder "überwiegende Meinung" dar. Sie ist vielmehr derart einhellig, daß sie fast überall als unbestrittene - weil offenbar unbestreitbare - Wahrheit erscheint. Der Satz von der Verhandlungsmaxime als Prinzip der ZPO ist Axiom4 • Zusammen mit anderen Grundsätzen und Maximen dient er zur Einführung in das sich dem Anfänger nicht leicht erschließende Verfahrensrecht. Doch beschränkt sich die Funktion der Verhandlungsmaxime nicht nur darauf, als Schulbegriff der Erklärung des geltenden Rechts zu dienen. Lehre und Rechtsprechung lösen unter Berufung auf diesen Prozeßgrundsatz Fragen, die sich im bürgerlichen Rechtsstreit ergeben. So liest man etwa, der Ausforschungsbeweis sei unzulässig - eine "unvermeidliche Folge des Verhandlungsgrundsatzes"5. Bei der Erörterung des Streitgegenstandes wird darauf abgestellt, ob ein Verfahren der Verhandlungsmaxime oder der "Inquisitionsmaxime" folgt 6 • Der nach bürgerlichem Recht nicht mögliche (§ 142 BGB) Widerruf einer Anfechtungserklärung wird "nach dem Verhandlungsgrundsatz" zugelassen 7 • Nachdem der Kläger bindend Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangt hat, wird ihm der übergang zum An1 Bernhardt § 23 I, S. 133; Lent-Jauernig § 25 IV, S. 62; Rosenberg § 63 II, S. 294; Schönke-Schräder-Niese § 7 I, S. 41; Nikisch § 50 II 2, S. 192; Blomeyer § 14 II, S. 67; Thomas-Putzo Ein!. I 1; Zäller, Vorbemerkungen vor § 128 A 3. 2 RGZ 151,93 (98); Jauernig, S. 15. 3 Bernhardt § 23 I, S. 133; Nikisch § 50 II 1, S. 192. , Brüggemann, S. 101, weigert sich, Maximen mit Axiomen gleichzusetzen; wenig später - S. 124 - spricht er von der "quasi-axiomatischen Unbezweifelbarkeit des Verhandlungsgrundsatzes". Also ein Unterschied zwischen Axiom und Quasi-Axiom? 5
Nikisch § 85 I 2, S. 333. Jauernig, Verhandlungsmaxime,
Inquisitionsmaxime und Streitgegenstand, 1967. 7 RG Recht 1923, Beilage, Sp. 164, Nr. 626. ft
2·
Einleitung
20
spruch auf Nachlieferung gestattet; da der Beklagte dem zugestimmt habe, ergehe jede andere Entscheidung "unter Verletzung der Verhandlungsmaxime"8. Die Argumentation von Lehre und Praxis erscheint methodisch einleuchtend. Ist die Verhandlungsmaxime oberster Grundsatz unseres Zivilprozesses, muß jede Einzelheit des Verfahrens mit ihm übereinstimmen und, falls dies nicht zutrifft, in eine solche übereinstimmung gebracht werden. Indessen hat der Gedankengang einen Fehler: er steht und fällt mit der zur Voraussetzung erhobenen Behauptung, daß die Verhandlungsmaxime wirklich Grundlage der ZPO ist. Dieser Nachweis ist bisher noch nicht geführt worden. Man stellt vielmehr den Satz von der Geltung der Verhandlungsmaxime in der ZPO ohne Begründung in den Raum 9 , führt zur Stützung seiner Behauptung Bestimmungen an, die dafür nichts hergeben1o , oder zieht einen Umkehrschluß aus Paragraphen, die für das Verfahren in Ehesachen angeblich den entgegengesetzten Prozeßgrundsatz statuierenl l . Alle diese Argumente überzeugen nicht. Um so weniger ist das der Fall, wenn man sich, an statt die Verhandlungsmaxime zu betrachten, der ZPO selbst zuwendet12 • Aus ihr ergibt sich, daß das Gericht in einer Reihe wichtiger Punkte unabhängig von den Parteien eigene Initiative entfalten kann. Neben der Aufklärungspflicht des § 139 und der Möglichkeit, zur besseren Aufklärung des Sachverhalts das persönliche Erscheinen der Parteien anzuordnen (§ 141), hat das Gericht umfassende Befugnisse bei der Beweisaufnahme. Mit Ausnahme des Zeugenbeweises kann es alle Beweismittel von Amts wegen nutzen (§§ 142-144, 448, 452). Zur Vorbereitung der Verhandlung kann es zahlreiche sachermittelnde Anordnungen treffen (§ 272 b). Angesichts dieser Bestimmungen erscheint es mehr als zweifelhaft, ob die Verhandlungsmaxime - das Verbot, den Sachverhalt ex officio zu erforschen - tatsächlich "oberster Grundsatz" der ZPO ist. Mehr als das - es ist fraglich, ob sie überhaupt Grundsatz des geltenden Prozeßrechts ist. Woran liegt die mangelnde übereinstimmung zwischen theoretischen Lehrsät.zen einerseits und positivem Recht andererseits? Verhandlungsund Untersuchungsmaxime sind als entgegengesetzte Kategorien von Richter- und Parteientätigkeit keine Begriffe der Neuzeit. Sie gehen auf den bayerischen Prozessualisten Nikolaus Thaddäus v. Gönner (1764 bis 1827) zurück, der sie im Jahre 1801 in seinem "Handbuch des deutschen 8
RG JW 1901, 398.
Lent-Jauernig § 25 IV, S. 62; Bernhardt § 23 I, S. 133; Jauernig, S. 15. Nikisch § 50 II 2, S. 192. 11 Rosenberg § 63 II, S. 294; Lent-Jauernig § 25 IV, S. 62. 12 Wie dies Peters, S. 100, mit Recht empfiehlt.
9
10
Einleitung
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gemeinen Prozesses" zum erstenmal einander gegenübergestellt hat. Auch heute noch wird Gönner als Beleg herangezogen, wenn es darum geht, die Existenz von Untersuchungs- und Verhandlungsmaxime im allgemeinen und der Verhandlungsmaxime im geltenden Recht im besonderen zu erweisen 13 • Die deutsche Prozeßrechtswissenschaft befindet sich damit in der einzigartigen Lage, zwei Hauptgrundsätze ihres theoretischen Instrumentariums von einem Manne herzuleiten, von dem nichts weiter bekannt ist als die Tatsache, daß er Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime entwickelt hat. Ob diese Entwicklung richtig war, kümmert niemand. Gönners Schöpfungen werden kritiklos übernommen, ohne daß jemand sich fragt, ob derartige Extreme damals wie heute nicht eher in den Bereich eines verfehlten Modelldenkens denn ins positive Recht gehören. So erscheint es nicht ausgeschlossen, daß schon die Aufstellung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime als der einzig möglichen Grundlagen jeder Prozeßordnung der Berechtigung entbehrte. Träfe das zu, hätte die Wissenschaft die nicht als solche erkannten Fehlentwicklungen von Generation zu Generation weitergegeben und bis heute bewahrt. Eine solche Annahme würde vieles erklären. Auch die eingangs gestellte Frage, welches der Grund für die Diskrepanz zwischen Prozeßtheorie und Prozeßrecht sei, ließe sich beantworten, wenn man nur weiter annähme, daß die Schöpfer des positiven Rechts dem Maximendenken weniger erlegen seien als die Wissenschaft. Geht man den Zweifeln an der inneren Berechtigung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime nach, muß man bei Gönner ansetzen. "Es kann daher zwey verschiedene allgemeine Arten des gerichtlichen Verfahrens geben, es kann entweder auf die Verhandlungsmaxime berechnet seYn' dies ist der Fall bei dem gemeinen Prozesse in Deutschland; es kann aber auch auf der Untersuchungsmaxime ruhen, und dieses finden wir bei dem
preussischen Prozesse . ..
Bei dem auf Verhandlungen berechneten Prozesse gilt der Grundsatz: daß der Richter nichts thut, als veranlaßt durch das Vorbringen einer Partei, nicht bloß im Ausbruch des Rechtsstreits, sondern bei dem ganzen Laufe eines Prozesses. Bei dem auf die Untersuchungsmaxime berechneten Prozesse handelt der Richter, sobald er durch die Klage aufgefordert ist, immer von Amtswegen, dort thut er Nichts - hier Alles von Amtswegen14 ." Mit diesen Worten hat Gönner im Jahre 1801 die Maximenlehre begründet. In seinen Ausführungen liegt der Weg vorgezeichnet, den eine kritische Betrachtung der Maximenschöpfung zu gehen hat. Sie muß ihren Ausgang von den Objekten der Gönnerschen Reflexion nehmen, denen beide Prozeßmaximen entsprangen: dem gemeinen und preußi13 Bernhardt § 23 I, Fn. 1, S. 133; Lent-Jauernig § 25 III, S. 61; SchönkeSchröder-Niese § 7 I, S. 41; Rosenberg § 63 I, S. 293; Blomeyer § 14 I, S. 66 Fn. 5; Brüggemann, S. 107; Anhalt, S. 5 Fn. 19. 14
Hdb. I, 1 S. 268 f.; Hdb. I, 2 S. 190 f.
22
Einleitung
schen Prozeß. Herrschte hier das "Alles von Amts wegen" der Untersuchungsmaxime, gab es dort das "Nichts von Amts wegen" der Verhandlungsmaxime? - so muß zunächst gefragt werden. Erst dann kann auf die Entstehung der Prozeßmaximen selbst eingegangen werden. Danach soll das Eigenleben beider Begriffe betrachtet werden. Es wird zu zeigen sein, wie Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime in die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts eindrangen und ihr Einfluß sich in den zahlreichen partikularen Prozeßordnungen jener Zeit niederschlug. Die ZPO selbst soll in ihrer ursprünglichen Fassung letzter Gegenstand der Untersuchung sein. In einem Ausblick wird an Hand der Novellen zu diesem Gesetz die Entwicklung des Verhältnisses von Richter- und Parteienmacht bei der Ermittlung des Tatsachenstoffes bis auf den heutigen Tag darzustellen sein. Es ist zu hoffen, daß am Ende der Ausführungen Klarheit über Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime herrschen wird, Klarheit auch darüber, ob die Verhandlungsmaxime tatsächlich oberster Grundsatz unserer Prozeßordnung ist.
Erstes Kapitel
Das Verhältnis von Richter- und Parteien macht bei der Ermittlung und Aufklärung des Sachverhalts im gemeinen ProzeJ3 Wer war im gemeinen Prozeß tatsächlich für die Beschaffung und Aufklärung des Tatsachenstoffes verantwortlich - Richter oder Parteien? Diese Frage steht am Anfang einer Nachprüfung der Gönnerschen Maximenschöpfung. Dem heutigen Betrachter mag ein solches Unterfangen verfehlt erscheinen. Allerorten 1 ist zu lesen, im gemeinen Prozeß habe die Verhandlungsmaxime gegolten, mithin hätten allein die Parteien die tatsächliche Seite des Rechtsganges beherrscht. Nichtsdestoweniger, ja um so mehr erscheint die Frage als notwendig. Die Feststellung von der ausschließlichen Verantwortlichkeit der Parteien nämlich - so muß man der "herrschenden Lehre" entgegenhalten - entspringt nicht eigenem Eindringen in das gemeine Prozeßrecht, sondern geht vornehmlich auf Ausführungen Gönners zurück, wenn er nicht gar selbst als Beleg für das "Nichts von Amts wegen" des gemeinen Prozesses zitiert wird. Gerade Gönners Maximenschöpfungen aber sollen einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Erst wenn sich die Entwicklung der Verhandlungsmaxime als richtig erwiesen hat, kann denen zugestimmt werden, die den gemeinen Prozeß als auf diesen Grundsatz berechnet ansehen. Bis zu diesem Zeitpunkt muß die Verhandlungsmaxime als ein Begriff beiseite gelassen werden, dessen Geltung im gemeinen Prozeß erst noch zu erweisen ist. I. Entstehung und Weseu des gemeinen Prozesses 1. Wenn man die eingangs gestellte Frage beantworten will, muß man zunächst Klarheit über das Wesen des gemeinen Prozesses gewinnen. Zu leicht ist man heute geneigt, ihn als ein geschlossenes Gefüge zu betrachten, gebildet aus verschiedenen Quellen zwar, aber doch eine einheitliche Zivilprozeßordnung, nach der wie nach der heutigen ZPO verfahren 1 Engelmann, S. 135; Bernhardt § 2 VII, S. 18; Rosenberg § 3 IV 4, S. 16; Wieacker § 10 IV 3 b, S. 186 f. Fn. 47 ("durchweg").
1. Kap.: Der gemeine Prozeß
24.
werden konnte 2 • Diese Auffassung indessen ist falsch; wie falsch, zeigt eine Betrachtung der Bildung des gemeinen Prozeßrechts. Entscheidend für die Ersetzung des alten Gerichtsverfahrens durch ein neues war die Rezeption des fremden Rechts im 14. und 15. Jahrhundert. Sie brachte einen Prozeß mit sich, der eine Mischung langobardischfränkischer, römisch-byzantinischer, insbesondere auch kanonischer Rechtsgedanken war3 • Begünstigt wurde die Aufnahme dieses, mit den Attributen "oberitalienisch-kanonisch" nur unzulänglich bezeichneten Prozesses dadurch, daß in Deutschland bereits seit langem geistliche Gerichte weltliche Gerichtsbarkeit in sogenannten causae mixtae wie z. B. Ehe- und Verlöbnis-, Testaments- und Dotalsachen ausübten und dabei nach den Bestimmungen des fremden Prozeßrechts verfuhren4 ; weiter durch die Entwicklung der Gerichtsbarkeit der Grund- und Landesherren. Ihre Gerichte wurden allmählich unter die Leitung gelehrter Juristen gestellt, die ihre Ausbildung an den oberitalienischen Universitäten erhalten hatten und von dort das neue Recht mitbrachten. Den bedeutendsten Einfluß endlich hatte - entsprechend dem allgemeinen Weg der Rezeption von oben nach unten 5 - die Errichtung des Reichskammergerichts im Jahre 1495. Für den Prozeß vor diesem Gericht wurden im Laufe der Zeit verschiedene Kammergerichtsordnungen erlassen, welche mit gewissen Änderungen das "oberitalienisch-kanonische" Verfahren einführten. Entscheidend war bereits die Kammergerichtsordnung von 1495. In ihrem § 1 wird bestimmt, daß von den Urteilern - assessores - die Hälfte "der Recht gelehrt und gewürdigt", d. h. des neuen Rechts kundige Männer sein mußten. Später trat die Forderung hinzu, "die fürbrachte rechtliche Sachen zu referiren" (I § 2 KGO 1521), also einen geordneten Sachvortrag vorbringen zu können. Die andere Hälfte der Urteil er, die sich aus Mitgliedern der Ritterschaft zusammensetzte, sollte möglichst "auch der Recht gelehrt [sein]: so fern man die haben kan vor andern. Möcht man aber der nicht gnug bekommen, sollen die von der Ritterschafft, die sonst gerichtlicher übung erfahren und gebräuchig an gemelt unser Cammergericht verordnet und gestellt werden" (I § 2 KGO 1521). Vollkommen wurde die römisch-rechtliche Ausrichtung aller Mitglieder des Gerichts durch § 2 (1. Teil III) KGO 1555, wonach sämtliche Beisitzer rechts2 Dieser Ansicht waren bereits Männer, die dem gemeinen Prozeß näher standen als die heutigen Prozessualisten. So beginnt Gneist ein Referat des 9. Juristentages 1871 mit den Worten: "Wir haben eine einheitliche Civilprozeßordnung Jahrhunderte lang in Deutschland gehabt ... Ein Jahrhundert lang konnten wir mit Sicherheit sagen, wir haben die beste Prozeßordnung Europas. " (Verhandlung des 9. DJT, 3. Bd., S. 246.) 3 Bernhardt § 2 III, S. 16. 4 Rosenberg § 3 IV, S. 15.
S
Wieacker § 10 I 1, S. 175 (176).
I. Entstehung und Wesen des gemeinen Prozesses
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gelehrte Männer sein mußten. Zudem wurde den Richtern durch den Eid, den sie bei Antritt ihres Amtes schwören mußten, auferlegt, "nach deß Reichs gemeinen Rechten" (1. Teil LVII KGO 1555), d. h. nach rezipiertem italienisch-kanonischem Recht zu urteilen, mithin auch danach zu verfahren. Das von den Kammergerichtsordnungen und verschiedenen Reichsabschieden bestimmte Verfahren beschränkte sich bald nicht mehr auf das Reichskammergericht selbst, sondern gewann schnell Einfluß auf dessen gesamten Zuständigkeitsbereich6 • Fand sich auch in der KGO 1495 noch eine Vorschrift, die ausdrücklich die Bewahrung des herkömmlichen Rechtsganges bei den Untergerichten anordnete (§ 25), ahmten die Territorien das große Vorbild doch bald nach und bildeten ihr Gerichtsverfahren allmählich nach dem der Kammergerichtsordnung aus 7 • Doch geschah dies offenbar zu langsam, so daß - da das Reichskammergericht höchste Apellationsinstanz für die Landesgerichte geworden, mithin ein einheitliches Verfahren notwendig war8 - die Beobachtung der Vorschriften des Kameralprozesses den Einzelstaaten wiederholt vorgeschrieben wurde, so besonders eindringlich in § 15 des Reichsdeputationsabschiedes von 1600. Nicht überall setzte sich der Prozeß des Reichskammergerichts durch. Besonders Sachsen stellte sich dem neuen Recht entgegen. War in den anderen deutschen Ländern infolge des Mangels an einem eigenen geschlossenen Rechtssystem das Bedürfnis nach einer wenn auch fremden, so doch einheitlichen Rechtsordnung groß, war in den Ländern des sächsischen Rechtskreises das Gegenteil der Fall. Hier hatten Sachsenspiegel, Richtsteige und verschiedene Stadtrechte den Rechtssuchenden Halt gegeben, hatten Gerichtshöfe und Schöffenstühle durch ihre einheitliche, das Recht gleichermaßen feststellende wie fortbildende Rechtsprechung 9 ein Bewußtsein von der Lebendigkeit des eigenen Rechts geschaffen. Man sah daher keine Notwendigkeit, das fremde Recht zu übernehmen, war aber - entsprechend der geistigen Verfassung dieser Länder - doch aufgeschlossen genug, auf das kaiserliche rezipierte Recht dann zurückzugreifen, wenn die einheimischen Gesetze Lücken aufwiesen oder das neue Recht sich als besser erwies1o . Das sächsische Prozeßrecht wurde vornehmlich durch die mehrfach revidierten Hofgerichtsordnungen wie durch die Konstitutionen des Kurfürsten August 1. von 1572 und die kursächsische Gerichtsordnung von 6
7
S 9
10
Wieacker § 10 II 1, S. 177 f.
Vgl. Engelmann, S. 117 ff. Dazu Engelmann, S. 117 f. Engelmann, S. 121. Engelmann, S. 121.
26
1.
Kap.: Der gemeine Prozeß
1622 geprägt. Der Prozeß zeichnete sich durch eine im Vergleich zum Kameralverfahren größere Natürlichkeit wie überhaupt durch Sachgerechtigkeit und Lebensnähe aus. Mußte dort die Klageschrift die einzelnen klagebegründenden Tatsachen in Form von Artikeln enthaltenartikulierte Klage -, war hier lediglich eine zusammenhängende Geschichtserzählung notwendig; verlangte der Kammergerichtsprozeß zumindest anfangs - vom Beklagten nur eine allgemeine Erklärung der Streitabsicht auf die Klage, hatte sich der Beklagte im sächsischen Prozeß in einer zusammenhängenden Gegendarstellung zu den einzelnen Punkten der vom Kläger vorgebrachten Klageerzählung zu äußern (sogenannte spezielle Litiskontestation)l1. Diese und andere Vorteile des sächsischen Prozesses verfehlten nicht ihre Wirkung auf den Kameralprozeß. überall wurde der Wunsch nach einer Reform seines Verfahrens laut. Insbesondere die Reichsstände taten sich hier hervor 12 • Diese Bestrebungen waren nicht nur im Hinblick auf die Vorteile des sächsischen Prozeßrechts, sondern auch vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse jener Zeit zu sehen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg lag das Reich am Boden. Nicht nur materielle Güter waren zerstört, auch das geistige Leben und damit Rechtswissenschaft und Rechtspflege hatten schwer gelitten. Unter diesen Umständen konnte man sich nicht darauf beschränken, auf Altes zurückzugreifen, sondern mußte an eine grundlegende Reform gerade auch des Kammergerichtsprozesses gehen. Ergebnis dieser Reform ist der Jüngste Reichsabschied von 1654, "jüngster" deshalb genannt, weil der nächste Reichstag, der 1663 ebenfalls in Regensburg zusammentrat, nicht wieder entlassen wurde, sondern fortan in Permanenz tagte. Er brachte die übernahme sächsischer Rechtsgedanken für den Kameralprozeß. Wie schon frühere Kammergerichtsordnungen und Reichsabschiede enthielt auch der Jüngste Reichsabschied in seinem § 137 die Aufforderung an die Reichsstände, ihr eigenes Gerichtsverfahren nach dem Vorbild des reichskammergerichtlichen einzurichten. Die Territorien folgten großenteils dieser Aufforderung und vollzogen wie der Jüngste Reichsabschied die Hinwendung zum sächsischen Recht. Die Praxis hatte diesen Schritt bereits geraume Zeit vor Erlaß des Jüngsten Reichsabschiedes getan, so daß dieser nur eine bereits bestehende übung sanktionierte 13 • Die Rechtsprechung sah sich dadurch ausdrücklich bestätigt und begann nun noch freier, als sie es bisher schon getan hatte, sächsische Rechtsgedanken mit denen des Kameralprozesses zu verbinden. 11
12 13
Dazu Engelmann, S. 126. Smend, S. 210 ff. Engelmann, S. 130.
I. Entstehung und Wesen des gemeinen Prozesses
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Die Rechtsschöpfung durch die Praxis war um so notwendiger, als die für die Rechtsprechung maßgeblichen Gesetze, sofern es sie überhaupt gab, allerorten mehr oder weniger lückenhaft waren 14 • Zwar konnte man immer das "kaiserliche, geschriebene Recht" anwenden, jedoch war dies, was den Prozeß anging, in keiner einzigen Erkenntnisquelle vorhanden15 • Der Jüngste Reichsabschied gab nur unzureichende, zudem zu sehr auf das Reichskammergericht zugeschnittene Rahmenvorschriften. Hatte man früher in diesem Fall auf die Schriften der italienischen Rechtsgelehrten zurückgegriffen, wandte man sich nun den Werken deutscher, insbesondere sächsischer Prozessualisten zu. Die Wissenschaft kam diesem Bedürfnis der Praxis entgegen, indem sie eine eigenständige Prozeßlehre schuf, in der die Bestimmungen der Gesetze mit den Anforderungen der Praxis zu einem wirksamen Miteinander verbunden wurden. So entstand zwangsläufig ein neu es Recht, das man weder als ausschließlich sächsisch noch als kameralistisch-römisch bezeichnen konnte. Es war vielmehr eine Mischung aus bei den, aber auch anderen Elementen, vor allem solcher altdeutscher Herkunft 16 , die sich im sächsischen Recht und im Gerichtsgebrauch der Länder bewahrt hatten. Da dieses Gebilde sich bald zu einer in ganz Deutschland subsidiären Rechtsquelle entwickelte, kam es zu seiner Bezeichnung als "gemeines Prozeßrecht", im Gegensatz zu dem besonderen des Reichs oder der Länder. Aus dieser Natur des gemeinen Prozeßrechts erhellt, daß darunter nicht eine "einheitliche Civilprozeßordnung" verstanden werden konnte, wie dies Gneist später tun sollte 17 • Genau das Gegenteil war der Fall. Seiner Eigenschaft als subsidiäre Rechtsquelle gemäß füllte das gemeine Recht Lücken, die das Prozeßrecht der Länder da und dort aufwies. Bald ging es Verbindungen mit den einheimischen Gerichtsordnungen ein, änderte diese und wurde von diesen verändert, bald stellte es einzige Quelle des Verfahrens dar. "Der gemeine Prozeß" war damit ein Gebilde, das als Einheit nur im Schrifttum und in der Prozeßlehre auf den Universitäten gaIt18. Dort konnte man sich naturgemäß nicht damit befassen, die zahlreichen partikularen Gerichtsordnungen oder gar Gerichtsgebräuche darzustellen, sondern beschränkte sich auf die Behandlung der überall subsidiären Rechtsquelle - "des" gemeinen Prozesses. Aus dieser Tatsache ist die in der Folgezeit noch über Gneists Meinung hinausgehende Auffassung vom gemeinen Prozeß als der einen beherrschenden Gerichtsordnung zu erklären. Richtig ist daran nur, daß es ein gemeines Prozeßrecht gab, jedoch gleichsam nur als Rahmen, welcher durch Gesetzgeber, U
15 18
17 18
Engetmann, ebenda. Engetmann, S. 131. Engetmann, S. 132.
Vgl. oben, 1. Kap. Fn. 2. Vgl. Kip, S. 20.
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1. Kap.: Der gemeine Prozeß
Rechtsprechung und Lehre verschiedenartig ausgefüllt wurde und so eine Einheit nur in der Vielfalt seiner Elemente darstellte. Dies ist stets zu beachten, wenn des weiteren vom gemeinen Prozeß die Rede ist. 2. Welches sind die Quellen des gemeinen Prozeßrechts? Die Antwort ergibt sich aus seiner Entstehung und seinem Wesen. Alle die Elemente, die sich zu ihm vereinigt haben, sind auch gleichzeitig Quellen des gemeinen Prozesses. In erster Linie sind dies Reichsgesetze mit allgemeiner Wirkung, insbesondere der Jüngste Reichsabschied19 ; im Zusammenhang damit römisches und kanonisches Recht; schließlich aber und fast als wichtigstes die Schriften der damaligen Prozessualisten. Diese waren es letztlich, die als Praktiker oder Professoren oder in bei den Eigenschaften zugleich das gemeine Prozeßrecht vorbereitet und geschaffen haben20 • Dementsprechend stellten zu jener Zeit bald nicht mehr das Corpus juris oder das deutsche Herkommen die anerkannte Richtschnur dar, sondern als unumstrittene Autoritäten galten nun einzelne berühmte Juristen, deren Anführung selbst sachlich richtige Gegengründe aus dem Felde schlug. Es erscheint daher - wie auch im Hinblick darauf, daß das gemeine Prozeßrecht sonst nirgends niedergeschrieben, geschweige denn kodifiziert war - als gerechtfertigt, die Werke der damaligen Prozessualisten nicht nur als Hilfsmittel 21 , sondern als unmittelbare Quellen des gemeinen Prozeßrechts zu betrachten. Dabei sind besonders die zu ihrer Zeit berühmtesten Kameralisten, die Assessoren des Reichskammergerichts Joachim Mynsinger von Frundeck (1517-1588) und Andreas Gaill (1526-1587), die sächsischen Prozessualisten Matthias Berlich (1586 bis 1638) und Benedikt Carpzov (1595-1666) sowie stellvertretend für andere, kaum minder bedeutende Männer 22 die Gemeinrechtler Johannes Brunnemann (1608-1672), Jacob Friedrich Ludovici (1671-1723), Justus Henning Boehmer (1674-1749), namentlich auch David Mevius (1609 bis 1670) mit seiner berühmten Entscheidungssammlung zu nennen 23 • 3. Das ordentliche Verfahren nach gemeinem Prozeßrecht24, wie es sich im Lauf der Zeit als Regel ausgebildet hatte, zerfiel in zwei Teile: das Behauptungs- und das Beweisverfahren. Dazwischen stand ein appellables Beweisinterlokut. Der Rechtsgang war nichtöffentlich und weit19
20 21
Danz § 9, S. 14. Vgl. Endemann § 3, So Danz § 14, S. 21.
S. 14; § 8 III, S. 31, insbes. Fn. 12.
22 Eine Zusammenstellung der bedeutendsten gemeinrechtlichen Prozessualisten bei Linde § 31, S. 34 (35) Fn. 5, § 33, S. 37 Fn. 3; Danz §§ 21, 22, S. 34 ff., 47 ff. 23 Näheres über diese und andere Prozessualisten bei Döhring, S. 369 ff. 24 Zum Verfahren ausführlich Engelmann, S. 134 ff. Auch er stellt aber zu sehr den Rechtsgang des RKG und der Obergerichte dar. Man vgl. seinen Hinweis auf das Werk von Wetzell S. 133 und die Bemerkung Stobbes (Bd. 2 S. 256 Fn. 1) über dieses Buch.
1. Entstehung und Wesen des gemeinen Prozesses
29
gehend schriftlich. Doch war die Mündlichkeit, wie Ki p 26 nachgewiesen hat, keineswegs völlig verschwunden 26 . Vor den Untergerichten hatte sich die Mündlichkeit sogar zum großen Teil erhalten 27 , so daß für die Mehrheit der Prozesse der vermeintliche "Grundsatz der Schriftlichkeit"28 nicht galt. Auch im Verfahren vor dem Reichskammergericht selbst war die Mündlichkeit nicht völlig verschwunden, wie eine Reihe von Vorschriften verschiedener Kammergerichtsordnungen ergibt2 9 • Erst der Jüngste Reichsabschied ließ das Verfahren vor dem höchsten Reichsgericht rein schriftlich werden 30 • Dabei ist indessen zu beachten, daß dessen Entscheidungen zumeist in letzter Instanz ergingen, zudem der Jüngste Reichsabschied nur eine von vielen Quellen des gemeinen Prozesses ist. Die Schriftlichkeit des Verfahrens vor dem Reichskammergericht bedeutete damit nicht, daß auch alle übrigen Gerichte so verfuhren. An den Gerichten der Länder hat sich vielmehr immer ein Rest von Mündlichkeit gehalten. Neben dem "processus ordinarius" gab es den "processus summarius", der von der späten gemeinrechtlichen Lehre in den sogenannten regulärunbestimmten und irregulär-bestimmten summarischen Prozeß unterteilt wurde 31 • Zum bestimmt-summarischen Prozeß gehörten etwa Exekutiv-, Mandats- und Arrestprozeß, außerordentliche Verfahrens arten also, die hier nicht zur Erörterung stehen. Von Interesse wegen seines besonderen Verhältnisses von Richter- und Parteienmacht ist hingegen der unbestimmt-summarische Prozeß. Zwar hat Briegleb 32 nachgewiesen, daß die - nach ihrem Anfangswort so genannte - Clementine saepe (c. 2 Clem. 5, 11) ein Dekretale Clemens V., das von den Gemeinrechtlern als Quelle dieser Prozeßart betrachtet wurde 33 , längst zur Grundlage des ordentlichen Prozesses geworden war. Doch ist sein daraus gezogener Schluß, daß neben dem ordentlichen ein von diesem abweichendes summarisches Verfahren nicht existierte, unrichtig. Zwar trifft Brieglebs Grundgedanke - einer Quelle können nicht zwei Prozeßarten entspringen - zu. Doch berücksichtigt Briegleb nicht die tatsächlichen Gegebenheiten der damaligen Rechtspflege. 25
S. 7 ff.
Wie heute allenthalben behauptet wird: statt aller Bernhardt § 2 VI, S. 17 (18). Die meist apodiktisch vorgetragenen Feststellungen von der ausschließ26
lichen Schriftlichkeit des gemeinen Prozesses gehen von der nicht bestehenden Einheit dieses komplexen Begriffes und von seiner Identität mit dem schwerfälligen Verfahren der Obergerichte aus. 27 Kip, S. 20; Mittermaier, Prozeß I, S. 23; Fredersdorf I, S. 278; vgl. auch
§ 1l0JRA. 28 Engelmann, S. 134. 2g Dazu Kip, S. 7 ff. 30 Engelmann, S. 134; Kip, S. 9. 31 Dazu Engelmann, S. 168 ff. 32 33
Einleitung in die Theorie der summarischen Processe, Kap. 1-3, S. 1 ff. Vgl. Boehmer II, § III, S. 621.
30
1. Kap.:
Der gemeine Prozeß
Neben den höheren Gerichten - Reichskammergericht, Hofgerichte, territoriale Obergerichte, Mittelgerichte, auch Juristenfakultäten und Schöffenstühle - bestand zu jener Zeit eine Vielzahl von Nieder- oder Untergerichten34 • Diese Gerichte kleineren Zuschnitts, bei denen zumeist ein Einzelrichter amtierte, hatten sich vornehmlich mit Streitigkeiten des täglichen Lebens, also Bagatellsachen, Bau- und Mietstreitigkeiten, Alimentenklagen und ähnlichem zu befassen. Dementsprechend waren es vor allem kleine Handwerker und Kaufleute, Bauern und einfache Bürger, mit denen es der Richter in unmittelbarem mündlichen Verkehr3 5 zu tun hatte. Bedenkt man diese Umstände, bedenkt man, daß sich die Parteien, obschon rechtsunkundig, nicht von Advokaten - "Rechtsverdrehern" - vertreten ließen, liegt es auf der Hand, daß in solchen Streitigkeiten nicht genau nach den Regeln des für die höheren Gerichte gedachten ordentlichen gemeinen Prozesses vorgegangen werden konnte. Die Praxis der Untergerichte bildete daher dort, wo besondere Untergerichtsordnungen fehlten oder Lücken aufwiesen, eine ihr gemäße Prozeßform aus. Sie kam in vielem dem processus ordinarius des gemeinen Rechts als ihrem Vorbild gleich, wich in manchem aber entsprechend den Bedürfnissen des untergerichtlichen Verfahrens davon ab. Die gemeinrechtliche Doktrin hat diese Abweichungen bemerkt. Im Bestreben, ihr in der Lehre als Einheit erscheinendes Prozeßgebäude vollkommen zu erhalten, sah sie sich genötigt, den Prozeß vor den Untergerichten in dieses System einzufügen. Da die Gemeinrechtler erkannten, daß in diesem Verfahren schleunig und ohne Weitläufigkeiten - summariter -, zudem weitgehend mündlich vorgegangen wurde, und sie derlei Eigenheiten in der Clementine saepe kodifiziert sahen, kamen sie offenbar zum Schluß, diese sei Quelle des besonderen Rechtsganges vor den Untergerichten. Diesem Prozeß wurde nun die Bezeichnung "processus summarius indeterminatus" gegeben und ihm eine eigene Lehre gewidmet. Sie dehnte bald die Anwendung dieser Prozeßart auf die höheren Gerichte aus, sofern es dort um Streitigkeiten ging, die nach Eigenschaft der Sache oder der Parteien dem Verfahren vor den Untergerichten glichen. Zunächst also war der Prozeß vor den Untergerichten mit seinen Modifikationen weniger beim Gang des Verfahrens als vielmehr beim Verhältnis von Parteien und RichtermachtS6 • Erst dann wurde dieser Erscheinung mit der Clementine saepe ein dürftiges Mäntelchen doktrineller Rechtfertigung umgehängtS7 • Nur so kann die Existenz des unbe34 Vgl. Döhring, S. 9 ff. Die Existenz dieser Gerichte ergibt sich schon aus dem Bestehen verschiedener Niedergerichtsordnungen. 35 Fredersdorf I, S. 278; Mittermaier, Prozeß I, S. 230. 3e Dazu unten, 1. Kap., IV a. A. 37 Vgl. Endemann § 274, S. 1070 ff., insbes. Fn. 1 S. 1072, auch § 281, S. 1094.
II. Die passive Stellung des Richters im gemeinen Prozeß
31
stimmt-summarischen Prozesses in der gemeinrechtlichen Lehre verstanden, nur so dieses Rätsel gelöst werden, das Briegleb mit Recht ein psychologisches genannt hat38 • 11. Die passive Stellung des Richters im gemeinen Prozeß 1. Die Frage nach dem Verhältnis von Richter- und Parteienmacht im Zivilprozeß überhaupt war eines der umstrittensten Probleme des gemeinen Prozeßrechts. Ihm wurden vielfach Monographien gewidmet, und die Zahl der dissertation es über dieses Thema ist so groß!, daß man von einem Lieblingsthema der damaligen Prozessualisten zu sprechen geneigt ist. Im Zusammenhang mit dem allgemeinen Problem des Verhältnisses von Richter- und Parteienmacht ging man auch darauf ein, wie diese Abgrenzung bei der Beschaffung und Aufklärung des der Entscheidung zugrunde zu legenden Tatsachenstoffes vorzunehmen war. In den großen Werken der Gemeinrechtler wurde die Frage nach den Befugnissen von Richter und Parteien indessen zunächst kaum erschöpfend behandeIt2. Man bezog sich vielmehr auf die Monographien und beschränkte sich auf in jeglichem Zusammenhang eingestreute Zitate, die meist ohne weitere Begründung blieben. Erst die Gemeinrechtler des fortgeschrittenen 18. Jahrhunderts widmeten der Frage nach Richter- und Parteienmacht eigene Kapitel und Paragraphen, in denen sie jedoch nicht über die bereits gewonnenen Ergebnisse hinauskamen.
Ausgangspunkt derjenigen Gemeinrechtler, die sich eingehender diesem Problemkreis widmeten, war die Tatsache, daß es immer menschliche Streitigkeiten geben werde, Prozesse und Richter daher notwendig seien, um die Ordnung zu bewahren3• "Hac rerum humanarum facie, judicia humana absolute sunt necessaria" - so lautet etwa Zaunschliffers conc1usio prima 4 , mit der er seine Schrift "De officio judicis suppletorio" beginnt. Für ein Gerichtsverfahren, so wird der Gedanke weitergeführt 5 , sind drei Personen erforderlich: Richter, Kläger und Beklagter. Nun kommt man zum Problem. Was Kläger und Beklagter für ihre Sache zu tun haben, braucht man ihnen nicht vorzuschreiben - sie wissen als Parteien ihre Vorteile selbst zu wahren. Was aber kann und muß der Richter im Rechtsstreit tun? Auf das Urteilen kann er sich, wie einst die Urteils finder im Gegensatz zu den Gerichtsherren, nicht beschränken. Er § 35, S. 119 (124, 126). Man vgl. die übersicht bei Lipenius I (1757), S. 669 f. unter "judicis officium". 2 Eine Ausnahme stellt neben wenigen anderen Wurms er I, I, I, S. 1 dar. 3 Vgl. Willenberg I, II, S. 2. 3B 1
4
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S.1. I, II, § 1, S. 3.
32
1. Kap.:
Der gemeine Prozeß
sieht sich einem oft verwickelten Sachverhalt gegenüber, der nicht selten unvollständig ist, muß auf Anträge der Parteien eingehen und zudem noch bei der Vollstreckung der Urteile mitwirken. Was ist bei dieser Vielfalt von Aufgaben seines Amtes - "officium judicis quid denotet"6? Wer auf diese klare Frage eine ebenso klare Antwort erwartet, sieht sich enttäuscht. Das Problem wurde nicht gelöst - die Frage durch Zergliederung des "officium judicis" nur scheinbar beantwortet. Man teilte es in ein "officium judicis nobile", das mildrichterliche, und ein "officium judicis mercenarium", das strenge Richteramt, ein7 , das man jeweils wieder in ein gemeines und ein besonderes getrennt sah8 • Weiter unterschied man zwischen dem Erfüllungsamt, "officium judicis suppletorium", und dem ruhenden Richteramt, "officium judicis conquiescens"9. Alle diese Differenzierungen waren quellenmäßig nicht begründet. Während die Teilung in ein officium suppletorium und conquiescens eine späte Erfindung der Lehre war, ging die Unterscheidung zwischen officium judicis nobile et mercenarium bereits auf Bartolus zurück10 • Sie ist offenbar durch die Eigenheiten des römischen Zivilprozesses veranlaßt worden l1 • So billigte man dem Prätor in causis extraordinariis, in denen er, ohne einen Richter - judex pedaneus - zu bestimmen, nach Billigkeit - aequitas - selbst entschied, das officium nobile zu. Der judex pedaneus hingegen war streng an die einmal angestellte Klage und die darauf vom Prätor gegebene formula gebunden, woraus das eingeschränkte Richteramt - officium mercenarium - resultierte 12 . Trotz dieser historischen Rekonstruktion war man sich der Tatsache bewußt, daß diese Unterscheidung im römischen Recht selbst nicht zu finden war 13 • " ••• haec divisio magis ex glossatorum doctrina, quam ex ipsis fontibus procedat" schreibt Boehmer sehr richtig 14 • Dennoch tolerierte man diese Trennung 15 und ließ beide Arten des richterlichen Amtes weiter gelten 16 , obschon vom römischen Prozeß in der Form nichts übrig geblieben, die Differenzierung also wertlos war. Sie hielt sich indessen bis ins 19. Jahrhundert hinein 17 • Boehmer I, § II, S. 600 a. R. Ziegler, dissertatio praeliminaris, § XXVII, S. 19, § XXXII, S. 22; Boehmer I, § V, S. 605; Albinus §§ IX ff., S. 7 ff.; Willenberg I, VII, S. 5; Hofmann § 157, S. 100; Liekefett I, § 17, S. 161 (178). 8 Hofmann, ebd. 9 Hofmann § 159, S. 101; Liekefett § 17, S. 161 (179). 10 Sintenis, S. 372. 11 Boehmer I, § V, S. 605; Willenberg I, VIII, S. 5 f.; Albinus § X, S. 8 f. 12 Vgl. Estor, Unterricht, § 159, S. 46. 13 Ziegler, dissertatio praeliminaris, § XXVII, S. 19; Albinus § IX, S. 7 f. 14 I, § V, S. 605. 15 Vgl. Albinus § X, S. 8 (9). 16 Vgl. Willenberg I, VII, S. 5 f. 17 Man vgl. die Bemerkung von Sintenis, S. 372 f., der diese Entwicklung ver6
7
urteilt.
II. Die passive Stellung des Richters im gemeinen Prozeß
33
Diese Trennung des richterlichen Amtes war nicht nur unfruchtbar für die Frage, was der Richter ex officio im gemeinen Prozeß tun konnte, sie versperrte darüber hinaus den Blick auf das Wesen des officium judicis selbst. "Unter dem Amte des Richters versteht man seine Verbindlichkeit, alle Pflichten zu erfüllen, die ihm als Richter obliegen", schreibt etwa Liekefett18 , um sogleich in die schwammigen Unterscheidungen überzugehen. Nicht anders macht es Hofmann 19 , und selbst Boehmer beschränkt sich auf ein Zitat von Seneca und kennzeichnet das Richteramt mit den Worten20 : "Officium quidem in genere est facere quod debeas." Infolge dieser überall anzutreffenden nichtssagenden Definitionen ist die Frage nach dem Wesen des gemeinrechtlichen officium judicis für das Problem der Abgrenzung von Richter- und Parteienmacht unergiebig. Festzustellen bleibt nur, daß unter diesem officium allgemein jedes Tätigwerden des Richters verstanden wurde, sei es bei der Erhebung der Klage, beim Schriftenwechsel, der Beweisführung, bei Urteil oder Vollstreckung. 2. Weit eher geeignet, das Verhältnis von Richter- und Parteienmacht gerade in bezug auf Einführung und Aufklärung des Streitstoffes zu erhellen, waren zwei Einzelfragen, die in jeder Monographie, aber auch manchem umfassenden Werk des frühen gemeinen Prozeßrechts erörtert wurden; zwei Fragen, deren Lösung maßgeblich zur Bildung einer allgemeinen Regel für das Vorgehen des Richters beitragen sollte. Das erste dieser Probleme bestand darin, ob der Richter kraft seines Amtes mangelhaftes Parteivorbringen in tatsächlicher Hinsicht ergänzen dürfe. Die Frage entsprang Cod. 2,10: "Non dubitandum est judici, si quid a litigatoribus vel ab his qui negotiis adsistunt minus fuerit dictum, id supplere et proferre, quod sciat legibus et iuri publico convenire." Bei der Auslegung dieser Stelle schieden sich die Geister. Zunächst war man sich noch darüber einig, daß die Streitigkeiten, deren Entscheidung vom Richter begehrt wird, entweder "juris" oder "facti" seien21 • Im Rechtsstreit gehe es um beide Fragen. Aber - und nun folgt eine Bemerkung, die auch für den heutigen Prozeß gilt -: "Id enim certum est, in judiciis non juris quaestiones principaliter ventilari, sed quaestiones facti, et quid ab utraque parte probatum fuerit 22 ." Nun begannen die Streitfragen. Wann kann der Richter Auslassungen im Parteivortrag ergänzen - "omissa supplere"? Nur bei "quaestiones 18
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I, § 17, S. 161 (178). § 156, S. 100. I, § H, S. 600. Ziegler XXXIV, § 1, S. 575; Ludovici § Ir, S. 7. Ziegler XXXIV, § 5, S. 578.
S Bomsdorf
1. Kap.: Der gemeine Prozeß
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juris" oder auch bei "quaestiones facti"? Gewiß konnte er unterlassene oder unvollständige Rechtsausführungen der Parteien verbessern und ergänzen. Insoweit wurde nur der Satz "jura novit curia"23 angewandt. Was aber, wenn die Parteivorträge tatsächlicher Momente entbehrten? Eine nicht geringe Anzahl älterer Gemeinrechtler billigte dem Richter auch für diesen Fall die Befugnis zu, ergänzend tätig zu werden. Statt aller seien hier Vultejus2 4 und Zaunschlifjer 25 genannt. Sie wollten den Richter nicht vorgebrachte Tatsachen derart berücksichtigen lassen, wie es Cod. 7,62,39, 1 a. E. - "sin autem ab sens [appellator] fuerit, nihilominus iudicem per suum vigorem eius partes adimplere" - ihrer Ansicht nach vorsah. Auch Mevius2 6 ließ bisweilen anklingen, daß sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Zusammenhang von Cod. 2, 10 ergebe, daß allein rechtliche Momente vom Richter ergänzt werden dürften. Letzteres war jedoch seit alters her die überwiegende Meinung 27 . Die Mehrzahl der gemeinrechtlichen Prozessualisten schloß sich dieser Ansicht an 28 . Freilich kam man zu diesem Ergebnis nicht so sehr durch Auslegung der Codexstelle selbst. Vielmehr wurde man hauptsächlich durch die Tatsache dazu veranlaßt, daß der gemeine Prozeß, so wie er als Lehrgebäude dastand, weitgehend schriftlich war. Nur was die Akten enthielten, galt. Sie waren das "vehiculum judicis ad sententiam"29; der Richter durfte nur sie unter Ausschluß anderer Quellen als Erkenntnismittel benutzen. Dabei beschränkte man das Erfordernis der Aktenmäßigkeit zweckwidrig nicht auf den urteilenden, sondern auch auf den die Entscheidung nur vorbereitenden Richter 30 • Den Richter unter Berufung auf Cod. 2, 10 auch Fakten ergänzen zu lassen hätte bedeutet, die Akten nicht mehr als einzige Erkenntnisquelle im umfassenden Sinne anzuerkennen. Das aber war für die Aktendogmatiker des gemeinen Prozeßrechts undenkbar. Selbst wenn Cod. 2, 10 in diesem Sinne hätte verstanden werden müssen, hätte bereits die übertriebene Anhänglichkeit der Lehre an die Prozeßakten die Ergänzung von Tatsachen durch den Richter unmöglich gemacht. Dem entspricht es, wenn Ludovici in seiner Schrift "De iudice extra acta aliquid adserente", die sich hauptsächlich mit dem Problem der ErDazu Ludovici § LXV, S. 53. I, IV, Rdnr. 249 ff., S. 99 f. 25 I, IV, § 5, S. 11. 28 VII, CLV, 7, S. 11121. Sp. 27 Sintenis, S. 377 Fn. 1 m. w. N. 28 Ziegler XXXIV, § 15, S. 585; Mevius I, LXXXVII, (9), S. 43 r. Sp., III, CCCLI, (1), S. 4581. Sp.; Jus Lubecense V, I, II, Rdnr. 13, S. 8671. Sp.; Ludovici § LXX, S. 55 (56); Hassert I, S. 3; Künhold, Proscenium, § IX, S. 6 (7); Brunnemann, Commentarius, zu Cod. 2, 10, S. 144, Rdnr. 4. 23 24
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Zaunschliffer I, X, § 4, S. 30.
Vgl. v. Daniels, S. 427 Fn. 1 (431).
II. Die passive Stellung des Richters im gemeinen Prozeß
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gänzung von Fakten durch den Richter befaßt, kein einziges Mal Cod. 2, 10 erwähnt. Für den gemeinen Prozeß war es damit die Regel, daß nur die Parteien den Streitstoff in den Prozeß einführten, der Richter in bezug auf Tatsachen außerhalb der Akten nichts ergänzen durfte. Zum Ausdruck kommt dies in der gemeinrechtlichen Rechtsparömie "quod non est in actis, non est in mundo". Damit bestätigt sich für das gemeine Prozeßrecht vor Gönner die Existenz eines Satzes, der im 19. Jahrhundert als einer der Ausflüsse der Verhandlungsmaxime angesehen werden sollte3t . 3. Die zweite Frage, die fast alle älteren Gemeinrechtier bewegte, war die, ob der Richter im Prozeß sein privates Wissen verwerten dürfe. Zwar ergab sich die Lösung dieses Problems bereits aus dem Satz, daß der Richter außerhalb der Akten in tatsächlicher Hinsicht nichts ergänzen dürfe32 , doch griff man bei der Erörterung des privaten Wissens des Richters nicht auf dieses Axiom zurück. Begründet lag dies in dem verschiedenen Ausgangspunkt beider Fragen. War es dort Cod. 2, 10 wie auch die Schriftlichkeit des gemeinen Prozesses gewesen, ist es nun die Frage nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie veranlaßt nahezu jeden Gemeinrechtler33 , sich mit der Frage zu beschäftigen, "an judex secundum allegata et probata partium vel secundum conscientiam judicare debet". Erst 1712 setzte Ludovici mit seiner oben angeführten Schrift der Diskussion ein - vorläufiges - Ende.
Ein Widerstreit zwischen Akten und privatem Wissen des Richters werde selten auftauchen, schreibt Frantzkius3 4 - ein Zeichen dafür, wie sehr die Gemeinrechtler auf den Prozeß vor den Obergerichten ausgerichtet waren. Vor den Untergerichten nämlich, bei der geringen Größe der Städte dürfte es nicht so selten zu einem derartigen Widerspruch gekommen sein, wie die damaligen Prozessualisten annahmen35 • Immerhin zeigt die häufige Erörterung dieser Problematik, daß man derartige Fälle für möglich hielt. Gewöhnlich wird bei der Argumentation von einem Vg1. Wetzell § 43, S. 459 (463, 466). Die gegenseitige Abhängigkeit beider Fragen erhellt bei Mevius III, CCCLI, (1), S. 458 1. Sp. 33 Diese Frage ist schon in der oberitalienischen Prozeßlehre gestellt und beantwortet worden, vgl. R. Schmidt SächsA II, 265 (283 ff.), doch ist die Bemerkung Schmidts (S. 291), die spätere Praxis und Doktrin des gemeinen Prozesses habe sich alle Erörterungen über Sinn und Bedeutung dieser Frage erspart und das früher gewonnene Ergebnis unbeanstandet übernommen, unrichtig. Ausführlich zu dieser Frage für den Prozeß der Frühzeit neuerdings Nörr, "Zur Stellung des Richters im gelehrten Prozeß der Frühzeit: Iudex secundum allegata non secundum conscientiam iudicat", 1967. 34 II, XXII, Rdnr. 1, S. 332. 35 Man vgl. die Beispiele bei R. Schmidt SächsA II, 265 (267, 268 Fn. 2). 31
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3·
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1. Kap.: Der gemeine Prozeß
fingierten Beispiel ausgegangen. So schreibt etwa Ziegler3 8 : "Finge per testes probatum esse plenissime, Titium et Cajum Romae praesentes contraxisse et Titium stipulanti Cajo illic promisisse centum. Judici liquidissime constat, Titium per totum istum annum Romae non fuisse, sed Londini sibi contubernalem extitisse." Was sollte der Richter in einem solchen Fall tun? Eine Reihe von Prozessualisten37 war der Meinung, er müsse gemäß seinem privaten Wissen urteilen. Tue er dies nicht und halte sich an die Regel "quod non est in actis, non est in mundo", verletze er seinen Eid, der ihn "ad judicandum secundum veritatem"38 anhalte. Darüber hinaus entspräche ein solches Vorgehen des Richters nicht dem Zweck der Akten. "Actorum ... series in duc ta est, ut constet de veritate 39 ." Urteile der Richter aber gemäß den Akten, sei das Ergebnis gerade nicht die Wahrheit und damit dem Sinn der Akten nicht gemäß. Auch aus diesem Grunde ist dieser Auffassung nach der Satz "quod non est in actis, non est in mundo" hier nicht zwingend. Denn: "Inducta [sc. acta] ad unum effectum non debent contrarium ejus operari 40 ." Die meisten Gemeinrechtler stellten sich indessen auf den gegenteiligen Standpunkt. Dabei waren sie sich durchaus der Tatsache bewußt, daß ihre Ansicht zu unwahren Urteilen führen konnte. Um diesen möglichen Folgen zu entgehen, verfiel man auf verschiedene Auswege. Die einen suchten eine Lösung der Frage, indem sie den Begriff der conscientia modifizierten. Der Richter sei eine persona publica 41 , der sich in dieser Eigenschaft nicht - wie sonst - als persona privata verhalten dürfe. Dem entspreche eine Duplizität seines Wissens oder Gewissens: auf der einen Seite die conscientia publica, auf der anderen die conscientia privata oder propria 42 • In Ausübung seines Amtes habe der Richter naturgemäß nur nach der conscientia publica oder der conscientia actorum43 , nicht nach der conscientia privata zu urteilen. Diese Auffassung ging davon aus, daß die Wahrheit unteilbar ist - "una sit et simplex veritas"44 -, gelangte aber durch ihre Verdoppelung des richterlichen Bewußtseins im Ergebnis doch zu objektiv unwahren Urteilen. XXXV, § 3, S. 598 (599). Frantzkius II, XXII, Rdnr. 8, S. 334 f.; Albinus § VIII, S. 7; Willenberg I, XIV, S. 10 f.; Ziegler XXXV, S. 590 ff. 38 Frantzkius II, XXII, Rdnr. 12, S. 336. 39 Ziegler XXXV, § 32, S. 621. 38
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Ziegler, ebd. Brunnemann, Exercitationes, XXXI, Rdnr. 6, S. 281. 42 Schrader X, XIII, Rdnr. 30, S. 404 r. Sp.; Treutler XII, XIV, (134); Brunnemann, Exercitationes, XXXI, Rdnr. 6, S. 281. 43 Dazu Frantzkius II, XII, S. 335. 44 Treutler XII, XIV, Fn. e, S. 133 (134). 40
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Fn. e, S. 133
Ir. Die passive Stellung des Richters im gemeinen Prozeß
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Andere Prozessualisten gingen den umgekehrten Weg. Da es ihnen undenkbar erschien, den Begriff der conscientia zu differenzieren, schufen sie eine "veritas duplex"45, "alia in rebus ipsis, nobis saepe occulta, alia in Actis, veritas iudicialis, quoniam verum habetur in iudicio, quicquid legitimis modis ostensum est". Ziel jedes Rechtsstreits könne "ex certis causis bonum publicum concernentibus"46 nur Erlangung der "veritas iudicialis" sein. Daher verletze der Richter auch nicht seine Pflicht, gemäß der Wahrheit zu urteilen, wenn er sein privates Wissen nicht verwerte. Auch dem Zweck der Akten werde nicht zuwidergehandelt- es gebe eben im Prozeß nur eine "veritas actorum". Auch hier war man sich des Formalismus dieser Argumentation wohl bewußt und empfahl daher teilweise dem Richter, sein Amt niederzulegen und der jeweiligen Partei als Zeuge beizustehen47 . Obwohl Frantzkius dem entgegenhielt48 , daß dies mit dem Richtereid nicht vereinbar sei, überdies ein einziger Zeuge nur geringe Wirkung habe, setzte sich diese Auffassung immer mehr durch. Seit Ludovici (1712) kann sie als überwiegend oder sogar als einhellig bezeichnet werden. Ohne die Teilung von Gewissen oder Wahrheit mitzumachen, fragt er, ob derjenige Richter sein könne, der die Unrichtigkeit der aktenmäßigen Tatsachen kenne. Dies verneint er, da der Richter in einem solchen Fall gleichzeitig die Eigenschaft eines Zeugen einnehme. Beide Funktionen seien nicht vereinbar 49 • Der Richter habe daher die Sachlage seinem Vorgesetzten mitzuteilen und Zeuge zu werden 50 . Jedes andere Vorgehen würde eine außerordentliche Gefährdung der Rechtssicherheit nach sich ziehen 51 . So war auch dieses zweite große Problem nach unentschiedenem Hin und Her im frühen gemeinen Prozeßrecht für dessen spätere Periode geklärt. Die Frage, "an judex secundum acta et probata vel secundum conscientiam judicare debet", stellte sich nicht mehr, da der Richter fortan bei einem solchen Widerstreit nicht länger Richter sein konnte. So ist es auch zu verstehen, daß im Verlauf der weiteren Entwicklung des gemeinen Prozeßrechts das letzte Stück der Regel - "non secundum conscientiam" - wegfiel, und die Rechtsparömie "judex secundum allegata et probata judicare debet" lediglich als ein Synonym des Satzes "quod non est in actis, non est in mundo" verstanden wurde. Mit diesem Inhalt wurde sie von den Prozessualisten des 19. Jahrhunderts als Bestandteil der Verhandlungs maxime betrachtet52 . Da die Regel gleichzeitig ein 45 48
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48 49 50 51 52
Bachovius XII, XIV, Lit. E & F, S. 495 (496). Frantzkius II, XXII, Rdnr. 6, S. 334; auch Ziegler XXXV, § 6, S. 600. Bachovius XII, XIV, Lit. E & F, S. 495 (496).
II, XII, Rdnr. 26, 27, S. 340. § XXV, S. 24. § XVII, S. 24 f. § XXX, S. 26 f. Statt aller: Wetzell § 43, S. 459 (466).
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1. Kap.: Der gemeine Prozeß
"Nichts von Amts wegen" ausdrückt, scheint sich auch hier Gönners Behauptung zu bestätigen. 4. Mit der Erörterung einer oder beider Fragen erschöpfen sich die Schriften, die im frühen gemeinen Prozeßrecht dem officium judicis gewidmet waren. Damit war - wie oben schon angedeutet - nicht positiv geklärt, was des Richters Amt war, vielmehr nur negativ festgestellt, was ihm zu tun verwehrt war. Doch waren es gerade diese beiden, mit dem Ende des 17. Jahrhunderts im gemeinen Prozeßrecht feststehenden Sätze - keine Ergänzung von Tatsachen, keine Verwertung privaten Wissens durch den Richter -, die maßgeblich zur Bildung einer allgemein gehaltenen Regel für das Vorgehen des Richters im Zivilprozeß überhaupt beitrugen. Die Rechtslehre erkannte, daß bei den Sätzen eines gemeinsam war: das Verbot an den Richter, von sich aus tätig zu werden, selbst wenn die Gerechtigkeit darunter leiden sollte. Dieselbe Schlußfolgerung glaubte man aus verschiedenen Stellen des römischen Rechts ziehen zu müssen, die sich - ohne miteinander in Zusammenhang zu stehen - verstreut in den Digesten und im Codex fanden53 • Hauptsächlich handelte es sich dabei um die folgenden Sätze: Cod. 3, 7: "Invitus agere vel accusare nemo cogatur." Dig. 10,3,18: " ... ultra id quod in iudicium deductum est excedere potestas iudicis non potest." Dig. 39, 2, 4, 8: "Hoc autem iudicium certam condicionem habet, si postulatum est. postulare autem proprie hoc dicimus pro tribunali petere, non alibi." Dig. 15, 1, 21: " ... licet creditori vigilari ad suum consequendum." Dig. 43, 8, 24 a. E.: " ... ius civile vigilantibus scriptum est." Obwohl diese Sätze teilweise nur obiter dicta waren und aus ihrem natürlichen Zusammenhang gerissen wurden, glaubte die gemeinrechtliche Lehre in ihnen doch einen Grundgedanken des Prozesses zu erblicken, der dem der Rechtsparömien "judex secundum allegata et probata judicare debet" und "quod non est in actis, non est in mundo" zu entsprechen schien: den Gedanken, daß der Richter im Prozeß von Amts wegen nie tätig werde. Insbesondere die Sätze "invitus agere vel accusare nemo cogatur" und "ius civile vigilantibus scripturn est" scheinen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben. In ihnen meinte man die Regel und gleichzeitig ihre Begründung zu entdecken. Auf diese Weise kam es im gemeinen Prozeß zur Aufstellung eines Grundsatzes, der das Verhältnis von Richter- und Parteienmacht, gerade auch bei der Beibrin53 Ausdrücklich sei hier darauf hingewiesen, daß die Arbeit das Verhältnis von Parteien- und Richtermacht im gemeinen, nicht aber im römischen und kanonischen Zivilprozeßrecht darstellen will. Die römisch-kanonischen Quellen werden daher in der Art und in der Bedeutung dargeboten, wie sie den Gemeinrechtlern geläufig war.
II. Die passive Stellung des Richters im gemeinen Prozeß
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gung des Tatsachenstoffes, scheinbar unwiderleglich festsetzte; eines Satzes, der - wie auch die beiden bereits dargestellten Regeln - im 19. J ahrhundert ebenfalls wesentlicher Inhalt der Verhandlungsmaxime sein sollte54 • Es ist dies die Rechtsparömie "judex ex officio non procedit". Sie findet sich bei allen Prozessualisten des gemeinen Rechts. So schreibt Boehmer 55 : "Regula vulgata est, et practicorum consensu unanimi approbata: iudicem non impertiri officium in caussis civilibus nisi imploratum." Dieser Meinung Boehmers entsprachen zahlreiche Sätze anderer Autoren: "Nam regulare est judicem officium suum non interponere de negotio aliquo, nisi de eo sit requisitus" (Vultejus)55. " ... regulariter Iudex ... non debet alicui officium suum impartiri nisi prius imploratum sit" (Gaill)57. " ... judex non debet suum officium impartiri, nisi fuerit imploratum"
(Berlich)58.
"Habet quidem vulgatum Axioma, judicem nisi imploratum nihil facere aut decernere" (Mevius)59. "Nemini judex officium suum impertitur nisi imploratur" (Mevius)60. "Denn in Streit-Sachen, die das meine und deine betreffen, hat das Sprichwort stat: Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter" (Knorre)61. "Gleichwie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten der Richter nie von Amts wegen verfährt ... " (Claproth)62. " ... dass hingegen die positive Thätigkeit des Richters ... bedingt sey durch die Aufforderung des streitenden Theils" (Grolman)63. Dabei beschränkte man diese Regel nicht darauf, daß der Richter keinen Prozeß ohne Anrufen einer Partei beginnen dürfe, wie es Cod. 3, 7 und dem dem Sachsenspiegel64 entstammenden Rechtssprichtwort "Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter"65 gemäß gewesen wäre, sondern dehnte sie auf den gesamten Verlauf des Prozesses aus 66 . Dies erhellt einmal daraus, daß die oben angeführten Belegstellen von allen Prozessualisten 54
Statt aller: Wetzell § 43, S. 459 (463 ff.).
I, § X, S. 613 (614). I, IV, Rdnr. 262, S. 103. 57 I, L, Rdnr. 6, S. 95 1. Sp. 58 LIII, Rdnr. 36, S. 338 r. Sp. 59 IV, LXXXVI, 11, S. 530 r. Sp. 60 III, XCVIII, 6, S. 339 r. Sp.; fast gleichlautend III, CCCXC, 5, S. 474 r. Sp.; III, CCCCXVII, (6), S. 485 r. Sp. 61 S. 12 (13) Fn. b. 62 § 401, S. 569. 63 § 125, S. 181. 84 I, 62, § 1. 65 Vg1. dazu Eisenhart, S. 514. 55
55
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Eine Ausnahme ist hier Berlich, worauf weiter unten einzugehen ist.
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1. Kap.: Der gemeine Prozeß
im Zusammenhang mit bestimmten Fragen nach Beginn des Rechtsstreits verwandt werden, zum andern wird ausdrücklich auf diese Ausweitung hingewiesen. So schreibt etwa Boehmer67 : "Neque vero usus regulae huius tantum in eo cernitur, ut iudex ius nemini dicat, nisi mota vel actio fuerit, vel imploratio iudicis ofjicii praecesserit, sed etiam quodammodo sese exserit, ubi iam mota est, ut pendente ipso processu, nihil decernat de eo, quod ad iura partium pertinet, nisi imploratus, prout communiter asserunt." Eine Begründung für die "regula vulgata" wird meist nicht gegeben. Allenfalls beruft man sich auf die oben angeführten Allegate aus dem Corpus juris oder gibt Äußerungen von Rechtslehrern vergangener Jahrhunderte als Beleg an, welche sich ihrerseits wiederum auf die Aussprüche der Digesten und des Codex stützen. Bisweilen findet sich jedoch ein Argument, das offenbar später als der Grundsatz selbst ist und dem Zwecke zu dienen scheint, der nicht recht einleuchtenden Ausdehnung der Regel auf den gesamten Verlauf des Prozesses einen Sinn zu geben. Der Richter werde im Zivilprozeß deshalb nicht von Amts wegen tätig, so erfährt man, weil dieser auf den Vorteil von Privatpersonen abziele und nicht das öffentliche Wohl berühre, folglich, so muß man schließen, den vom Staat eingesetzten Richter nichts angehe. "Ratio est, quia regulariter Judex ad utilitatem privat am non debet alicui officium suum impartiri ... " (Gaill)68 " ... quia in his, quae respiciunt commodum privatum, et non vertitur publica utilitas, judex non debet se impedire ... " (Berlich)69
Boehmer verwendet dasselbe Argument, indem er einen Vergleich mit dem Strafprozeß zieht'°. "Cum enim criminum persecutio publicam tangat caussam, iudicem de illis puniendis sollicitum esse debere, arbitrati sunt, nulle licet existente accusatore. AHa videtur esse ratio caussarum privatarum, quae utilitatem singulorum respiciunt, quam quilibet negligere potest, et hactenus recte sese habet regula: iudicem ofjicium suum invitis vel non implorantibus non obtrudere ... " Deutlich klingt hier das "suae quidem quisque rei moderator atque arbiter" von Cod. 4, 35, 21 an. Gleichzeitig erhellt, daß man die Parteien des Prozesses als mündige Personen betrachtet, denen Vorteile aufzudrängen kein Anlaß besteht, da jeder auf seine Rechte verzichten kann. Dieser Auffassung entspricht es, wenn als Ausfluß der Regel "judex ex officio non procedit" zumeist Beispiele angeführt werden, welche die Verfügungs gewalt der Parteien über den Verlauf des Prozesses betreffen, mithin der heute so genannten Dispositionsmaxime oder dem 67
I, § X, S. 613 (615).
I, L, Rdnr. 6, S. 95 1. Sp. 89 L !II, Rdnr. 36, S. 338 r. Sp.; ähnlich auch Mevius !II, CCCCXV!I, (6), S. 485 r. Sp. 68
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I, § X, S. 613 (614 f.).
II. Die passive Stellung des Richters im gemeinen Prozeß
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Grundsatz des Parteibetriebes unterfallen. So straft der Richter nicht die Säumnis des Beklagten, wenn der Kläger sie nicht rügt; nur demjenigen, der darum ersucht, gewährt er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; die Klagschrift teilt er nur auf Antrag mit; das Verzeichnis der Zeugenaussagen - rotulus testium - eröffnet er allein auf Begehren der Parteien; unter derselben Voraussetzung gewährt er Fristenverlängerung und ähnliches mehr 71 • Was die Beschaffung des Tatsachenstoffes betrifft, äußert sich die Regel in Verbindung mit den beiden oben erörterten Grundsätzen darin, daß die Parteien den Streitstoff in den Prozeß einführen müssen. "Judex factum a partibus discere, non eas docere debet." (BrunnemannJ12 "Quod non allegat pars, non attendit judex." (Mevius)73 "Quod pars non disputat vel movet, id Judex pro concesso et confesso habet atque sequitur." (Mevius)74 Diese aus der allgemeinen Regel folgenden Sätze wurden dem Sinne nach mit derselben Begründung versehen, wie sie schon für die Regel selbst angeführt worden war. So schreibt Mevius 75 : " ••• omissa allegatio indicet omissum vel abdicaturn qua litern illam jus partis". Damit scheinen bereits hier Ansätze zu einer umfassenden Verzichtsfiktion zu liegen, wie sie später maßgeblich zur Schöpfung der Verhandlungsmaxime beitragen sollte. Doch ist die Bemerkung Mevius' mehr als rechtfertigende Erklärung für das an den Richter gewandte Verbot zu verstehen, von sich aus tätig zu werden und das Parteivorbringen in tatsächlicher Hinsicht zu ergänzen. Gegen eine bereits zu jener Zeit sich äußernde Verzichtsfiktion spricht überdies das Versäumnisverfahren des gemeinen Prozesses. Erschien der Beklagte nicht, wurde nicht etwa eine stillschweigende Aufgabe der Verteidigung, vielmehr negative Litiskontestation angenommen und dementsprechend streitig verhandelt (§ 36 JRA)16. Erschien der Beklagte zwar, erklärte sich aber nicht auf die Ausführungen des Klägers, obschon er ordnungsgemäß geladen und vom Richter persönlich zur Antwort ermahnt worden war, wurden die gegnerischen Behauptungen als zugestanden angesehen77 • Doch wurde auch dies nicht als Folge der Tatsache betrachtet, daß jeder auf sein Recht, also 71 Die Beispiele sind sämtlich Boehmer I, § X, S. 613 (615 f.) entlehnt, finden sich aber auch bei den übrigen Prozessualisten. 72 Commentarius, zu Cod. 2, 10, Nr. 4 der summaria, S. 144. 73 I, LXXXVII, 3, S. 43 r. Sp.; II, CCCLXXVI, 6, S. 294 1. Sp. 74 II, CCXLVIII, 7, S. 230 1. Sp. 75 II, CCXLVIII, 7, S. 230 1. Sp. 78 Vg1. Engelmann, S. 139 f. 77 Mevius VII, CCCXXXVII, (1), S. 1195 r. Sp.; Wurmser XVI, I, S. 56 r. Sp.; Gaill I, LXXX, Rdnr. 1, S. 142 r. Sp.
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1. Kap.:
Der gemeine Prozeß
auch auf ihm günstiges Vorbringen verzichten kann, sondern als Prozeßstrafe - "poena non respondentis"78 - angesehen. Was schließlich das Beweisverfahren anbetraf, äußerte sich die Regel "judex ex officio non procedit" darin, daß es die Parteien waren, welche die von ihnen aufgestellten Behauptungen zu beweisen hatten 79 . Auch hier galt der Satz "judex factum a partibus discere, non eas docere debet"80. Unterließen es die Parteien, geeignete Beweismittel herbeizuschaffen, machte der Richter sich seinerseits nicht etwa daran, die Sache aus eigenem Antrieb aufzuklären 81 . 5. Die Behauptung Gönners, im gemeinen Prozeß könne der Richter nichts, die Parteien hingegen alles, scheint sich zu bestätigen. Mit den drei Regeln "judex ex officio non procedit", "judex secundum allegata et probata partium judicare debet" und "quod non est in actis, non est in mundo" gelten Grundsätze, die den Inhalt der Verhandlungsmaxime in der Prozeßtheorie des 19. Jahrhunderts ausmachen sollten. Weiteres Anzeichen für die Geltung dieses Grundsatzes im gemeinrechtlichen Verfahren ist die Tatsache, daß ein Teil der damaligen Prozessualisten als Ziel des Rechtsstreits die "veritas judicialis" im Gegensatz zur "veritas in rebus ipsis" bezeichnet, eine Auffassung, die im Gewande der formellen Wahrheit als notwendige und wünschenswerte Folge der Verhandlungsmaxime ebenfalls im 19. Jahrhunderts wieder auftauchen sollte.
Aus den drei Rechtsparömien geht weiter hervor, daß dem Richter des gemeinen Prozesses jede selbständige Tätigkeit in bezug auf die Ermittlung oder auch nur Aufklärung des Tatsachenstoffes verwehrt war - ein weiteres Indiz für die Geltung der Verhandlungsmaxime, wie sie heute verstanden wird. Zwar war der gemeine Prozeß infolge seiner Entstehungsgeschichte und der ihm eigenen Verbindung heterogener Elemente kaum, wie Gönner behauptet, auf das "Nichts von Amts wegen" berechnet, doch scheint dies zunächst das einzige zu sein, was man dem Schöpfer der Verhandlungsmaxime entgegenhalten kann. III. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß 1. Die bisherigen Untersuchungen lassen den Richter als passiven Registrator der Parteihandlungen erscheinen, der sich im Rechtsstreit überhaupt, insbesondere aber bei der Ermittlung und Aufklärung des Sach-
78 Gaill, ebd. 79 Vg1. Wurmser I, I, S. 11. Sp. 80 Brunnemann, Commentarius, zu Cod. 2, 10, Nr. 4 der summaria, S. 144. 81 Nur so ist die Äußerung Mevius' (II, XCVII, (4), S. 165 r. Sp.) aufzufassen. Boehmer IV, § XI, S. 678 (680) scheint sie mißzuverstehen. Auch nach Mevius' Ansicht bleibt es dem Richter unbenommen, den Parteien aufzugeben, ihre Behauptungen zu beweisen. Vgl. Mevius III, CCCLI, (7), S. 4581. Sp.
III. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß
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verhalts völlig untätig verhält. Diese Erkenntnis befremdet. Sollte es tatsächlich einen Zivilprozeß gegeben haben, der ohne jede richterliche Mitwirkung zu einem auch nur annähernd sachgerechten Urteil gekommen wäre? So ist man zu fragen geneigt, getrieben von der Vermutung, daß bereits apriori ein Rechtsstreit unter der Regel "judex ex officio non procedit" nicht denkbar ist. Gibt man diesen Gedanken Raum und steigt wiederum zu den Quellen des gemeinen Prozesses hinab, finden sich Anzeichen, welche diese Vermutung bestätigen, ja ernste Zweifel an der Geltung jener Regel im gemeinen Prozeß überhaupt wecken. Die Ursachen für diese Bedenken finden sich zum Teil im Corpus juris civilis, d. h. demselben Werk, dessen Autorität die GemeinrechtIer für ihr Axiom von der richterlichen Untätigkeit heranzogen, zum Teil im Corpus juris canonici. Letzteres ist insofern bedeutsam, als das kanonische Recht - im Vergleich zum römischen das modernere und elastischere 1 - mehr als jenes zur Bildung des gemeinen Prozesses beigetragen hat. Im einzelnen sind es vor allem folgende Stellen, die mit der von den Gemeinrechtlern entwickelten Regel für die Tätigkeit des Richters nicht übereinzustimmen scheinen: c. 6 X 2,1: "Provideatis attentius, ne ita subtiliter, sicut a multis fieri solet, cujusmodi actio intentetur inquiratis, sed simpliciter et pure factum ipsum, et rei veritatem ... investigare curetis." c. 10 X 2,22: " ... ex utriusque confessione colligitur, ejusdem domus venditionem conditionalem extitisse, non puram, non obstante quod ipsa interrogatio facta fuerit, postquam a partibus extitit in causa conclusum, cum Judex, qui usque ad prolationem sententiae debet universa rimari, possit interrogare de facta, quotiens dubitationis aliquid occurrit." c. 2 Clem. 5,11: " ... Judex ... amputet dilationum materiam, litern, quanta poterit, faciat breviorem, exceptiones, appellationes dilatorias, et frustratorias repellendo, partium, Advocatorum, et Procuratorurn contentiones et jurgia, testiumque superfluam multitudinem refraenando. . .. Interrogabit etiam partes, sive ad e·arum instantiam, sive ex officio, ubicunque hoc aequitas suadebit." Cod. 3,1,9: "ludices oportet imprimis rei qualitatern plena inquisitione discutere et tunc utramque partern saepius interrogare, ne quid novi addere desiderent, cum hoc ipsum ad alterutram partem proftciat, sive definienda causa per iudicem sive ad maiorem potestatem referenda sit." Dig. 5,1,61 pr. (Ulpian): "Solemus quidem dicere id venire in iudicium, de quo actum est inter litigantes: sed Celsus ait periculose esse ex persona rei hoc metiri, qui semper ne condemnetur hoc dicet non convenisse. quid ergo? melius est dicere id venire in iudicium non de quo actum est ut veniret, sed id non venire, de quo nomina tim actum est ne veniret." Alle diese Stellen des römischen und kanonischen Rechts geben dem Richter die Befugnis zu selbständigem Vorgehen, gerade auch bei der Ermittlung und Aufklärung des Tatsachenstoffes. Doch wäre es verfehlt, 1
Dahm, S. 89.
1. Kap.: Der gemeine Prozeß
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daraus die Regel abzuleiten, der Richter habe den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Die hier vorgebrachten Allegate stehen genausowenig in Zusammenhang miteinander wie die oben angeführten, von den Gemeinrechtlern für ihre "regula vulgata" verwandten Zitate. Festzustellen ist jedoch, daß die hier genannten Sätze mit der Regel "judex ex officio non procedit" nicht vereinbar sind. Dabei bedeutet Dig. 5, 1, 61 pr. eine mit einleuchtenden Gründen versehene Widerlegung des in Dig. 10, 3, 18 zum Ausdruck gekommenen Rechtsgedankens. Zugleich ist die Stelle ein Argument gegen die Annahme, unterlassenes Vorbringen indiziere einen stillschweigenden Verzicht. Das "simpliciter et pure factum ipsum, et rei veritatem ... investigare curetis" von c. 6 X 2, 1 schließlich muß nachgerade wie ein Schlag ins Gesicht derjenigen anmuten, welche die Untätigkeit des Richters zum Grundsatz erheben. Diese Wirkung klingt an, wenn Wolfgang Heinrich Puchta im Jahre 1819, noch im Banne der Verhandlungsmaxime und damit der Regel "judex ex officio non procedit", erschrocken ausruft, dieses Dekretale Alexanders IH. zerstöre alle Ordnung des Verfahrens nach dem Verhandlungsprinzip und erschüttere das ganze Prozeßsystem in seinen Grundfesten 2 • Nach alle dem liegt die Vermutung nahe, daß die Regel "judex ex officio non procedit" weniger der tatsächlichen Rechtslage als einem Verstoß gegen die Grundsätze über die Bildung von Regeln entsprungen ist, wie sie Dig. 50, 17, 1 skizziert. Dort heißt es: "Regula est, quae rem quae est breviter enarrat. non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat." Dieser zeitlosen Wahrheit gemäß gilt es, die verschiedenen Stadien des gemeinen Prozesses - "ius quod est" - daraufhin zu untersuchen, was in ihnen des Richters Amt und was den Parteien überlassen war. Erst danach kann festgestellt werden, wie es sich wirklich mit der Regel "judex ex officio non procedit" im gemeinen Prozeß verhalten hat. 2. a) Die erste Tatsache, welche der "regula vulgata" widerstreitet, ist das Bestehen einer richterlichen Prozeßdirektion im gemeinen Prozeß. Dabei ist der Begriff später als die Sache, so daß eher die Bezeichnung richterliches Mitwirkungsrecht angebracht ist. Diese Tätigkeit des Richters äußert sich zunächst nur in formeller, den Gang des Prozesses betreffender Form, ohne Einfluß auf die Beibringung des Tatsachenstoffes zu haben. Unaufgefordert ordnet der Richter all das an, was zur Rechtsbeständigkeit des Verfahrens und Aufrechterhaltung der Ordnung des Prozesses notwendig ist. Es ist seine Pflicht, wie es Boehmer ausdrückt, " ... illa ex officio ... supplere, quae ipsius judicii auctoritatem, integri2
Grenzen, S. 8.
a IV, § 2, S. 664.
III. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß
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tatem et quietem publicam concernunt". So weist der Richter ungeeignete, beleidigende und unförmliche Anträge zurück4, sorgt für die legale Form der Verhandlungen und ergänzt alle die prozessualen Notwendigkeiten, deren Fehlen Nichtigkeit zur Folge hätte 5 ; er weist irrelevante, formwidrige, überflüssige und unzulässige Beweismittel zurück6 • Schließlich trägt er Sorge dafür, daß der Wahrheitsfeststellung im Prozeß nicht durch Schikane und Lüge begegnet wird 7 • Hier beginnt die formelle Mitwirkung des Richters, d. h. die Sorge für den ordnungsgemäßen Gang des Verfahrens, in die materielle überzugehen. Kraft dieser ist der Richter für die wahrheitsgemäße Feststellung der in den Prozeß eingeführten Tatsachen tätig. Das materielle Mitwirkungsrecht des Richters ergibt sich bereits aus den oben angeführten Stellen des römischen und kanonischen Rechts, wird aber auch von den gemeinrechtlichen Prozessualisten selbst betont. So schreibt Mevius 8 : "ad judicis officium pertinet omni modo et ope indagare et adjuvare veritatem proque ea non tantum admittere quod adducitur, sed simul in da gare et in lucem producere, quod ad istam expedit." Nicht nur passiv anhören, was vorgebracht wird, sondern selbst tätig sein, selbst die Wahrheit "omni modo et ope" erforschen und ans Licht bringen soll der Richter. Mit diesen Rechten und Pflichten kann man ihn in der Tat als "Director des Prozesses" bezeichnen, wie dies Fredersdorf9 1772 zum ersten Mal tut. Gmelin und Elsässer sind fünf Jahre später die ersten, welche dieser Tätigkeit des Richters ein eigenes "Von der richterlichen Direktion des Processes" überschriebenes Kapitel widmen lO • Darin führen sie aus l l , der Richter, vor welchem die Akten verhandelt würden, dürfe keine stumme und bloß leidende Rolle spielen, müsse vielmehr geschäftig und auf die vorliegende Sache aufmerksam vorgehen. Derselben Meinung ist Renner in seiner 1784 erschienenen Abhandlung über das richterliche Erfüllungsamt. Das Bestehen einer richterlichen Mitwirkungspflicht ergibt sich für ihn aus den Gesetzen, Lehre und Rechtsprechung. Zu ihrer theoretischen Untermauerung führt er an12 : "Wenn es Pflicht vor einen Richter ist, ... in einer zweifelhafften Sache denjenigen höchsten Grad von Probabilitaet wo möglich heraus zu bringen, ... so ist es schon eine natürliche Folge, daß er bey der Verhandlung über einen Rechtsstreit nicht die Rolle eines Stummen spielen oder blos machinenmäßig Boehmer III, § III, S. 640; §§ V, VI, S. 644 ff. Boehmer IV, § VII, S. 670, insbesonders S. 674. 6 Boehmer III, § XII, S. 657. 7 Boehmer IV, §§ III-V, S. 665-669. • VII, CLV, (11), S. 1111 r. Sp.
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o
I, S. 296, § 7. I, XII, S. 70. 11 § 66, S. 73 f. 12 § 7, S. 229 f.
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Der gemeine Prozeß
agiren dürfe, sondern daß er zu genau möglichster Eruirung der Wahrheit von Amtswegen mitwirken müße." Die Befugnis des Richters, auch bei der wahrheitsgemäßen Feststellung das Sachverhalts mitzuwirken, wird sich besonders stark bei den Untergerichten geäußert haben, wo die Mündlichkeit in größerem Umfang als bei den Obergerichten erhalten war. Doch auch hier konnte der Richter offenbar sein Mitwirkungsrecht ausüben. Dies erhellt unter anderem13 daraus, daß die Bestimmung des Inhalts dieser Befugnis durch Mevius im Zusammenhang mit einer Entscheidung des Obersten Tribunals zu Wismar erging. Im frühen gemeinenProzeß scheint sich das Mitwirkungsrecht des Richters besonders dann geäußert zu haben, wenn der Klage die sogenannte clausula salutaris angefügt war. Diese stellte eine reichsgesetzlich sanktionierte Formel dar, durch die der Kläger den Richter unter Anrufen seines mildrichterlichen Amtes ersuchte, ihm auch dann das ihm Gebührende zuzusprechen, wenn infolge formeller Mängel oder unzureichender Begründung der Klage an sich eine Abweisung am Platze gewesen wäre 14 • Der Wortlaut dieser Klausel ist verschieden. Zumeist wird er mit "peto mihi jus et justitiam omni meliori modo administrari, nobile officium desuper implorando" angeführt15 • § 32 RA 1551 drückt es auf deutsch folgendermaßen aus: "Hierüber begerend, mir Recht und gerechtigkeit, nit allein gebettener, sonder auch einer jeden andern rechtmessigen form und gestalt, wie das von Rechtswegen am krefftigsten beschehen soll oder mag, mitzuteiln." Die Klausel wehrte mit ihrer Wirkung leerem Formalismus, indem sie es dem Richter ermöglichte, trotz mangelnder ordnungsgemäßer Einrichtung oder Begründung des an sich berechtigten Klagebegehrens diesem zu entsprechen 16 • Allerdings war dieses Vorgehen des Richters mit dem Satz "judex ex officio non procedit" nichts weniger als vereinbar. Doch hat man dies nicht empfunden. Offenbar glaubte man die Regel gewahrt: der Kläger hatte - wenn auch sehr allgemein - so doch um ein Tätigwerden des Richters gebeten. Da vermöge der clausula salutaris trotz mangelhaften Klagebegehrens den teilweise bloß vermuteten Absichten des Klägers entsprochen wurde, gehören Ausführungen über die Klausel eher in eine Erörterung über die Entwicklung der heute so genannten Dispositionsmaxime. Indessen hat Die weiteren Beweise ergeben sich aus den folgenden Ausführungen. Mevius III, CCCLI, (8), 8, S. 458; VIII, CXXXIV, (7), 7, S. 1286 r. Sp.; Mynsinger IV, LV, Rdnr. 5, S. 264. 13
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Zaunschliffer I, V, § 4, S. 15.
Sie war im älteren gemeinen Prozeß damit durchaus von Bedeutung. Man vg1. Mevius III, CCCLI, (5-8), S. 458 1. Sp. Sie verdient damit nicht die Mißachtung, die ihr Sintenis, S. 621 ff., angedeihen läßt. 16
III. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß
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die Klausel bisweilen auch den Erfolg gehabt, daß der Richter tatsächliche Momente ergänzen konnte, die in der Klage nicht angeführt, ihm aber als Gerichtsperson bekannt waren17 • Die clausula salutaris war damit auch für die Tätigkeit des Richters bei der Beschaffung des Tatsachenstoffes von gewissem Einfluß. Ihre Verwendung hat sich, obschon die Klausel nachgerade zur Gewohnheit geworden war, im Laufe der Zeit verloren 18 • Der Richter hatte ohnehin kraft eod. 2, 10 und anderer Befugnisse, auf die noch einzugehen sein wird, das Recht und die Pflicht, von den Parteien nicht Vorgebrachtes zu ergänzen. Das allmähliche Verschwinden der clausula salutaris ist damit nur ein weiteres Zeichen dafür, daß der Richter bereits kraft seines Amtes bei der Ermittlung der Wahrheit mitzuwirken hatte. b) War zunächst allgemein festgestellt worden, daß der gemeine Prozeß in Übereinstimmung mit den römisch-rechtlichen und kanonischen Quellen ein Mitwirkungsrecht des Richters bei der Ermittlung des Sachverhaltes kannte, fragt sich nun, wie diese Befugnis sich im einzelnen äußerte. Ein wichtiges Mittel der Wahrheitsfindung stellte der Kalumnien- oder Gefährdeeid dar. Er war die eidliche Versicherung einer Partei, daß sie ohne Arglist in gutem Glauben handele oder handeln werde 19 • Sie bezog sich als juramentum calumniae generale auf das gesamte Verfahren, als juramentum calumniae speciale auf einzelne Vorgänge, etwa das Vorbringen neuer Tatsachen nach Ablauf von Notfristen. Der allgemeine Gefährdeeid war in Kursachsen und anderen Ländern abgeschafft worden20 und kam auch im gemeinen Prozeß bald außer Übung 21 • Das juramentum calumniae speciale hingegen wurde weiter angewandt. Nur zu oft kam es nach den Worten Mevius'22 bei dem verwickelten Vorbringen der Parteien vor, daß der Richter sich über die Wahrheit desselben nicht im klaren war, vielmehr Grund zu der Annahme hatte, sich böswilligen und falschen Parteivorträgen gegenüber zu sehen. In solchen Fällen konnte man seiner Ansicht nach zu einem glaubwürdigen Ausgang des Rechtsstreits nur durch Erforschung der Parteiengesinnung mittels des Kalumnieneides kommen. Wenn aber die Gegenpartei nicht auf diesen Eid anträgt, kann der Richter ihn dann ex officio auferlegen - so fragt sich Mevius zweifelnd. Diejenigen, die auch hier der Regel "judex ex IV, LV, Rdnr. 5, S. 264; Mevius III, CCCLV, (6), S. 458 1. Sp. Die Klausel ist durch § 33 RA 1557 verboten, durch § 30 DA 1600 in gewissem Umfang wieder zugelassen und durch das Konzept der KGO 1613 (1. Teil, Tit. XXII, § 12) endgültig verboten worden. 17
Mynsinger
18
19 20
21 22
WetzeH § 30, S. 280 (282). Knorre, S. 205 § 42. Engelmann, S. 151.
VII, CCCLXXXVII, S. 1218.
1. Kap.; Der gemeine
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Prozeß
officio non procedit" huldigten, müßten diese Frage verneinen. Doch Mevius selbst ist anderer Ansicht: "Verior tarnen est sententia contraria, quae delationem ad arbitrium judicis refert, ut etiam non imploratus deferre possit quoties calumniae seu malitiae suspicio subest, non modo quia id publice ad judiciorum vigorem utile est, sed etiam quod ad officium ejus spectat quovis modo veritatem explorare." Dieser Auffassung Mevius' waren auch die anderen Prozessualisten der damaligen Zeit 23 , die darin mit § 43 JRA übereinstimmten. Zwar könnten auch weiterhin die Parteien sich gegenseitig diesen Eid zuschieben. Dem Richter sollte es jedoch immer unbenommen bleiben, das juramentum calumniae der einen oder der anderen Partei in jedem Stadium des Verfahrens aufzuerlegen. Die Gründe für diese Abweichung von der gemeinen Regel sind diejenigen Mevius': "quia juramentum calumniae concernit non solum (!) utilitatem partis adversae, sed etiam commoditatem judicis et utilitatem publicam; ne per calumniam frustra defatigentur judices, et lites in infinitum multiplicentur" (Gaill)24; "quia juramentum calumniae, favore publico, ut fraudes evitentur, ne veritas occultetur, intro duc turn est" (Gaill)25. Diese Begründungen für die Abweichungen von der regula vulgata werfen ein ebenso bezeichnendes wie überraschendes Bild auf die Auffassung jener Zeit vom Prozeß. Wahrheit ist sein Ziel, wobei von einer veritas duplex nicht mehr die Rede ist; der Rechtsgang berührt auch das öffentliche Wohl, dem durch langes Prozessieren und falsche Entscheidungen geschadet wird; das Richteramt muß vor mißbräuchlicher Ausnützung geschützt werden. Dies alles sind Ausprägungen einer Meinung, die den Prozeß nicht lediglich als Ersatz privater Selbsthilfe, sondern als öffentliche Einrichtung betrachtet, deren Verfassung den Staat unmittelbar angeht. c) Der Auffassung vom öffentlichen Nutzen des Prozesses und seinem Ziel- Ermittlung der Wahrheit - entsprechen die folgenden Befugnisse des Richters. Auch sie stehen nicht mit der gemeinen Regel in Einklang. So war es dem Richter möglich, ex officio den Schluß des Verfahrens anzuordnen - causam pro conclusa declarare -, falls ihm die Sachlage genügend aufgeklärt erschien 26 • Mag diese Befugnis vom heutigen Standpunkt aus selbstverständlich sein, so hatte der schwerfällige Rechtsgang 23 GailZ I, LXXXIV, Rdnr. 6, S. 149 r. Sp., I, LXXXV, Rdnr. 4, S. 150 r. Sp., I, CI, S. 176 r. Sp.; Wurmser XIV, III, S. 511. Sp.; Hartmann XVII, II, Rdnr. 8, S. 251 r. Sp.; Berlich LVII, Rdnr. 24, S. 366; Brunnemann XV, Rdnr. 3, S. 144; Boehmer IV, § III, S. 665 (666); Knorre, S. 205 § 42; Claproth § 336, S. 443 (444);
Danz § 366, S. 514 (516 f.). 24 25
26
I, CI, Rdnr. 4, S. 176 r. Sp. offenbar unter Bezug auf Cod. 2, 58, 2, 4. I, LXXXV, Rdnr. 4, S. 150 r. Sp. Boehmer, IV, § IX, S. 675 (677).
III. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß
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des oberitalienischen solennis ordo judiciarius bis über das 14. Jahrhundert hinaus eine solche Gewalt des Richters nicht gekannt27 • Die Parteien hatten so lange verhandelt, wie es ihnen beliebte. Es war lediglich ihre Sache gewesen, die Verhandlungen zu schließen, so daß ein Prozeß ad infinitum dauern konnte. Diesem unerträglichen Zustand hatte erst die Clementine saepe im Interesse der Beschleunigung der Prozesse ein Ende gesetzt. Sie bestimmte: "Sententiam vero definitivarn ... [judex] proferat: etiam si ei videbitur conc1usione non facta, prout ex petitione, et aliis actitatis in causa fuerit faciendum." Nach der conc1usio in causa war den Parteien jedes weitere Vorbringen verwehrt. Der Richter selbst hingegen war nicht an sie gebunden. Sowohl auf Antrag der Parteien28 als auch ex offici0 29 konnte er den Schluß des Verfahrens aufheben und aufs neue den Tatsachenstoff untersuchen. Entsprang die vorige Regelung - die Möglichkeit des Richters, den Streit zu beschließen - dem öffentlichen Interesse an der Schnelligkeit der Rechtspflege, war seine Befugnis, die conc1usio in causa ex officio aufzuheben, in dem Drang zu weitgehender Eruierung der Wahrheit begründet 30 • So gibt Mevius dem Richter dieses Recht für den Fall, daß nach der conc1usio actorum beim Durchlesen der Akten derartige Zweifel über das Vorbringen der Parteien auftauchen, daß es notwendig erscheint, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Dann sei es das beste, die Parteien vorzuladen und mit ihnen eine Untersuchung darüber anzustellen, wie es sich wirklich verhalte. Zu diesem Zweck konnte der Richter die Parteien mündlich vernehmen oder schriftliche Auskünfte anfordern 31 • d) Eine weitere wichtige Ausnahme von der Regel "judex ex officio non procedit" war das Bestehen eines richterlichen Fragerechts. Diese Befugnis des Richters ergab sich bereits aus dem römischen (Cod. 3, 1, 9; Dig. 11, 1,21) und kanonischen Recht (c. 10 X 2,22; c. 2 Clem. 5, 11). Dabei wurde das Fragerecht teilweise ausdrücklich auf Tatsachen bezogen (c. 10 X 2, 22), teilweise ohne Begrenzung umfassend verstanden. So heißt es in der Clementine saepe ganz allgemein: "Interrogabit etiam [judex] partes sive ad earum instantiam sive ex officio ubicunque hoc aequitas suadebit." Von den Rechtsgelehrten römisch-rechtlicher Tradition anerkannt32 , wurde das Fragerecht in der Kameralpraxis gepflegt33 • Dabei scheint sein Briegleb, S. 62. Martin § 118, S. 132. 29 c. 10 X 2, 22; § 41 JRA a. E.; Mevius VIII, CXCIX, S. 1313 r. Sp.; Zaunschliffer I, IV, § 5, S. 11 (12); Schaumburg I, IV, I, XI, 8. 289. 30 Dies erhellt deutlich bei Mevius, eben da. 31 Mevius VIII, CXCIX, 8. 1313 r. 8p.; Ludovici, Einleitung, XXIII, § 3, 27 28
8.198. 32 33
Zasius, Tom IIII, 8. 116 Rdnr. 17; Menochius II, I, LI, Rdnr. 13, 8.1431. 8p. GaUl I, CVII, Rdnr. 6, 8.1901. 8p.; Hartmann I, V, 8.196 .
.. Bomsdorf
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1. Kap.: Der gemeine Prozeß
Umfang nicht gering gewesen zu sein. Es wurde vor und nach der conclusio in causa ausgeübt "non solum ad declarationem retro actitatorum, sed etiam ad fundandam de novo intentionem partis, et sic in vim novae probationis"34. § 41 JRA sanktioniert diese Praxis mit den Worten " ... wie dann auch dem Richter das Arbitrium, auff ein oder den andern, oder auff alle Puncten, die Antworten in jedem Theil des Gerichts zu erfordern frei und unbenommen bleibt". Auch die nicht dem Kammergerichtsprozeß verhafteten Prozessualisten billigen dem Fragerecht große Bedeutung ZU 35 . Sowohl im Verfahren selbst als auch nach dem Beschluß der Sache stehe es dem Richter frei, die Parteien "über dasjenige, was etwa in den Akten noch ermangelt, die Parteien entweder mündlich [zu] vernehmen oder auch schriftliche Nachrichten [zu] erfordern"36. Brunnemann schreibt37 : "Semper igitur Judex debet modis omnibus etiam interrogando eruere veritatem." Noch deutlicher wird wird die Gewalt des Richters bei Mevius3 8 : "Nec saltem position es formare judex potest ad quas scripto pars respondeat, sed etiam citare, ut compareat et de inquirendis scientiam suam relevet." Vultejus3 9 schließlich betrachtet das Fragerecht als gute Möglichkeit, die Ergänzung von Tatsachen zu veranlassen, deren Vortrag derjenige, dessen Sac..~e dies gewesen wäre, unterlassen hat. Nur so könne ein der Sache angemessenes und sicheres Urteil gesprochen werden. Derselben Ansicht ist Leyser 40 , einer der eifrigsten Förderer des Fragerechts, wenn er schreibt: "Et obveniunt profecto casus, in quibus veritas aliter, quam per interrogationes huiusmodi41 , extricari nequit." Mit dem Fragerecht war der gemeinrechtlichen Praxis ein taugliches Mittel gegeben, die Sachlage, wie sie wirklich war, aufzuklären. Das war auch der Grund, mit dem man die Abweichung von der gemeinen Regel rechtfertigte 42 • Dabei konnte man sich nicht, wie beim Gefährdeeid oder dem Aktenschluß, auf Gesichtspunkte des öffentlichen Wohls berufen. So schreibt denn auch Hartmann 43 : "Licet judex ... interrogare partes, Gaill, ebenda. statt aller Brunnemann IX, Rdnr. 2 u. 4, S. 112 f. 36 Ludovici, Einleitung, XXIII, § 3, S. 198; vg1. auch Frantzkius III, IV, Rdnr. 81, S. 308; ZaunschHffer I, IV, § 5, S. 11 f. 37 IX, Rdnr. 4, S. 113. 38 VIII, CXCIX, (4), S.1313 r. Sp. 39 I, IV, Rdnr. 249 ff., S. 99 ff.; ähnlich auch Renner § 10, S. 234 f. 40 II, CXX, I, S. 561 (562). Leyser (1683-1752), Mitglied der Helmstädter und später Wittenberger Juristenfakultät, war eine der auffallendsten Gestalten auch des Prozeßrechts. Er huldigte einer stark auf den Einzelfall abgestellten Methode und scheute sich nicht, in den Entscheidungen, bei denen er mitwirkte, überkommenen Rechtssätzen zu widersprechen. über ihn vg1. Döhring, S.416. 41 Gemäß der Clem. saepe. 42 Mevius VIII, CXCIX, S. 1313 r. Sp.; Hartmann I, V, S. 1961. Sp. 43 Ebenda. 34
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111. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß
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etiam si procedatur ad utilitatem privatam, ut est communis conclusio doctorum." - Im übrigen widerlegt die praktische Ausübung des Fragerechts durch mündliches Verhör, wie sie an Hand entschiedener Fälle mitgeteilt wird, die Behauptung von der völligen Schriftlichkeit des gemeinen Prozesses. Das Fragerecht ist damit eine der wichtigsten Ausnahmen der Regel "judex ex officio non procedit", zum al es sich ausdrücklich auf tatsächliche Umstände erstreckt. e) Nicht nur eine Ausnahme, sondern geradezu eine Umkehr dieser Regel und des in ihr enthaltenen Verbots, von den Parteien nicht vorgetragene Tatsachen zu ergänzen, stellte die Befugnis des Richters dar, nicht vorgebrachte Umstände dann bei der Entscheidung zu berücksichtigen, falls diese sich aus Gerichtsakten ergaben. Dabei brauchte es sich nicht um Akten des von den Parteien geführten Prozesses zu handeln. Mevius teilt uns einen vom Obersten Tribunal zu Wismar in zweiter Instanz entschiedenen Fall mit, in dem das Gericht nur auf Grund dieser Befugnis zu einem den Tatsachen entsprechenden Urteil kam44 • Der Kläger hatte dem Beklagten eine Summe Geldes als Darlehen gegeben, dessen Rückzahlung er in der Vorinstanz gefordert hatte. Da der Beklagte den Empfang des Geldes geleugnet und der Kläger nichts hatte beweisen können, war er abgewiesen worden. In zweiter Instanz fand sich bei der Lektüre von Akten eines Prozesses, der zwischen dem Vater des Beklagten und einem Dritten geschwebt hatte, ein Geständnis des Vaters, daß er das Geld vom Kläger angenommen habe. Dies hatte der Beklagte stets bestritten; der Kläger hatte, da er von dem in anderen Akten befindlichen Geständnis nichts wußte, dasselbe nicht vorbringen können.
Das Gericht hegte starke Zweifel, ob es das Geständnis verwerten dürfe. Die Regel "judex nisi imploratus officium suum non impertitur" und das Verbot, Tatsachen zu ergänzen, schienen dem entgegenzustehen. Dennoch entschloß sich das Gericht, das Geständnis zur Grundlage seines Urteils zu machen. Damit befand es sich im Einklang mit der allgemeinen Meinung der gemeinrechtlichen Prozessualisten45 • Die Begründung für diese Befugnis des Richters schwankt. Ersichtlich ist dies vor allem bei Mevius selbst, der die Gründe mitteilt, auf die sich das Tribunal zu Wismar stützte. Zunächst habe man das Geständnis beachten müssen, weil es gemäß Cod. 2, 10 Pflicht des Richters sei zu ergänzen, was sich aus den Akten ergebe. In diesem Falle beziehe sich die CodexsteIle auch auf Tatsachen. Zum anderen sei das Geständnis in GeVII, CLV, S. 1111 ff. Brunnemann, Commentarius, zu Cod. 2,10, Rdnr. 7, S. 144 r. Sp.; Mevius, Jus Lubecense, V, I, H, Rdnr. 13, S. 8671. Sp.; WilZenberg I, XVIII, S. 12 (13), II, XIV, S. 21; Zaunschliffer I, X, § 2, S. 29; Boehmer IV, § XII, S. 681 (682). 44
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1. Kap.: Der gemeine Prozeß
richtsakten enthalten gewesen, also vorgebracht worden, so daß man von einer Ergänzung - "suppletio" - nicht sprechen könne. Offenbar ist Mevius sich nicht der Tatsache bewußt, daß sein erstes Argument, erlaubtes Ergänzen von in Akten befindlichen Tatsachen, mit dem zweiten, es handele sich gar nicht um Ergänzung, nicht harmoniert. Vollends widersprüchlich wird es, wenn er als Anmerkung 46 zu seiner zweiten Begründung - kein Vorliegen einer "suppletio facti" - schreibt, das Ergänzen von Tatsachen sei gemäß Cod. 2, 10 zulässig, falls diese sich in Gerichtsakten befänden. Zu allem Überfluß tritt als drittes Argument hinzu, daß die Berücksichtigung des Geständnisses deshalb erlaubt gewesen sei, da notorische Tatsachen jederzeit vom Richter zu beachten seien. Die Notorietät werde durch die Akten bedingt - "acta faciunt notorium"47. Dies entsprach einer weit verbreiteten Meinung 4B . Dabei handelte es sich jedoch nicht um Notorietät im eigentlichen Sinne49 • Vielmehr hatte der Richter die aus Gerichtsakten jeder Art sich ergebenden Tatsachen deshalb zu beachten, weil diese für ihn nach einem Ausdruck Zaunschlijfers50 das "vehiculum ad sententiam" waren. Daher mußte er alles, was auf irgendeine Weise einmal aktenkundig geworden war, für sein Urteil verwerten 51 • Fälschlich wurde dies oft als Verwertung notorischer Tatsachen bezeichnet. Auch Mevius macht hier diesen Fehler, während er ihn an anderer Stelle vermeidet52 • Aus der Häufung von Argumenten erhellt, wie schwer sich das Tribunal und sein Vizekanzler und langjähriger Leiter Mevius gegen die "regula vulgata" wappnen zu müssen glaubten. Nur so ist es auch zu verstehen, wenn erst nach diesem Schutzwall gemeinrechtlicher Spitzfindigkeiten das Argument angeführt wird, welches offenbar entscheidend für die Berücksichtigung der nicht vorgebrachten Tatsache war 53 : " ... quod ad judicis officium pertinet omni modo et ope indagare et adjuvare veritatem". Diese Pflicht des Richters wird auch von Willenberg 54 als einziger Grund für die Möglichkeit des Richters genannt, Tatsachen derart ex officio zu ergänzen. Brunnemann schließlich55 führt als Beleg für dieses Recht des Richters bezeichnenderweise c. 6 X 2, 1 an: " ... simNr. 8, S. 11121. Sp. Anm. 9, S. 11121. Sp. 48 Mevius VII, CCCXXXVII, (2), S. 1195 r. Sp.; VIII, CCCCXIX, 4, S. 1387 r. Sp.; GaUl I, XXXI, Nr. 10 der summaria, S. 59 r. Sp.; ZaunschliffeT I, X, § 4, S.30f. 49 Dazu unten,!. Kap., III 3 a. 50 I, X, § 4, S. 30 unter Berufung auf Baldus. 51 Deutlich bei Mevius, Jus lubecense, V, I, II, Rdnr. 13, S. 8671. Sp. 52 Ebenda. 53 (11), S. 1111 r. Sp. 54 II, XIV, S. 21. 55 Commentarius, zu Cod. 2, 10, Rdnr. 7 a. E., S. 144 r. Sp. 46 47
III. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß
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pliciter et pure factum ipsum, et rei veritatem investigare curetis". So zeigt sich auch hier, daß das Streben nach Wahrheit im Prozeß, gestützt auf die Quellen des gemeinen Rechts, erfolgreich die Regel "judex ex officio non procedit" einschränkte. 3. Das officium judicis äußerte sich in bezug auf den Streitstoff nicht nur beim Gefährdeeid und der conclusio in causa, Fragerecht und Ergänzung von Tatsachen, die sich aus den Akten ergaben, sondern auch im Beweisverfahren. Gerade hier umfaßte das Mitwirkungsrecht des Richters eine große Anzahl einzelner Befugnisse.
a) Notorische Tatsachen bedurften keines Beweises. Der Richter verschaffte sich ihre Kenntnis, sofern er sie nicht hatte, von Amts wegen!. Dabei ist hier nicht die Rede von den aus Gerichtsakten sich ergebenden Tatsachen, die teilweise ebenfalls als notoria bezeichnet wurden2 • Notorisch im eigentlichen Sinne war nach der Ansicht jener Zeit das, " ... quod liquidum, et apud omnes fere constat, et in evidentia quadam rei factive consistit"3; das, wofür "testis est populus, vel si omnibus, aut majori parti pateant"4. War über die mangelnde Beweisbedürftigkeit der so verstandenen notorischen Tatsachen kein Zweifel, herrschte bei der Frage, ob diese von den Parteien vorgebracht werden mußten oder der Richter sie kraft seines Amtes verwerten konnte, keine Einigkeit. Die Kameralpraxis neigte zu der Ansicht, notoria müßten zumindest vorgetragen werdenS, obwohl Gaill auch eine Entscheidung mit entgegengesetzem Inhalt mitteilt 6 • Diese bezieht sich zudem auf notorische Tatsachen, während vorher1 von Gewohnheitsrecht die Rede war. Auch die sächsischen Prozessualisten verlangten das Vorbringen - allegatio - notorischer Tatsachen8 • Bei den Gemeinrechtlern im engeren Sinne scheint jedoch die Auffassung vorgeherrscht zu haben, notorische Tatsachen bedürften nicht nur keines Beweises, sondern auch keines Vorbringens 9 • Da insbesondere das Tribunal zu Wismar und damit Mevius, denen zu ihrer Zeit uneingeschränkte Anerkennung gezollt wurde!O, dieser Ansicht waren, dürfte ein großer 1 Mevius VIII, CCII, 1, S. 1314 r. Sp.; GaiZl BerZich XLIII, Rdnr. 49, S. 259 r. Sp. 2
3 4
I, XXXI, Rdnr. 4, S. 59 r. Sp.;
Dazu die vorstehenden Ausführungen.
Bachovius XXII, XIV, Lit. E & F, S. 494 (497). Mynsinger VI, III, Rdnr. 2, S. 422. Mynsinger, ebenda, Rdnr. 3, S. 423; GaiZl II,
5 XXXI, Rdnr. 18, S. 341 r. Sp.; II, XLVI, Rdnr. 21, S. 3711. Sp. 6 I, XXXI, Rdnr. 4, S. 59 r. Sp. 7 II, XXXI, Rdnr. 18, S. 341 r. Sp. 8 XLIII, Rdnr. 49, S. 259 r. Sp. 9 Mevius VI, XL, 1, S. 8741. Sp.; VIII, CCII, (2), S. 13141. Sp.; ZaunschZiffer IJ, XII, § 6, V, S. 108. 10
Döhring, S. 26.
1. Kap.: Der gemeine Prozeß
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Teil der Praktiker ihnen gefolgt sein. Die "regula vulgata" wird damit ein weiteres Mal nicht bestätigt. b) Die Antretung des Zeugenbeweises begann mit der Benennung der Zeugen durch die Parteienl l . Damit verbunden wurde ein Verzeichnis (directorium) der den einzelnen Zeugen vom Richter vorzulegenden Fragen (articuli probatorii). Dies waren kurze Sätze, welche das Beweisthema in seinen einzelnen Teilen betrafen und jeweils mit dem Wort "wahr" oder "nicht wahr" begannen. Der Zeuge hatte darauf nur mit ja oder nein zu antworten. Der Beweisgegner (Produkt) konnte besondere Fragestücke (interrogatoria) aufstellen, d. h. Fragen angeben, die an die Zeugen des Beweisführers (Produzent) gerichtet werden sollten. Vor ihrer Abhörung, die in Abwesenheit der Parteien zumeist durch Richterkommissare geschah, wurden die Zeugen vereidigt. Dem Richter war es verwehrt, ex officio Zeugen in den Prozeß einzuführen. Grundsätzlich war dies den Parteien vorbehalten 12 • Doch gab es auch Ausnahmen. So schildert Leyser 13 einen Fall, in dem der Helmstädter Juristenfakultät Akten übersandt wurden, aus denen sich ergab, daß der Kläger seinen Bruder als Zeugen benannt hatte. Ob dessen Abhörung zulässig sei, war dem übersendenden Gericht sehr zweifelhaft erschienen. Aus der Lektüre der Akten ersahen die Helmstädter Rechtsgelehrten, daß es außer dem Bruder des Klägers noch andere Personen gab, welche die streitige Angelegenheit weit besser kannten als jener. Auf deren Zeugnis hatte sich keine Partei berufen. Dennoch wurde beschlossen, diese Personen ex officio vorzuladen und über die Hauptumstände als Zeugen zu vernehmen. Dabei waren sich die Helmstädter Juristen durchaus der Tatsache bewußt, daß sie gegen die Regel "judex ex officio non procedit" verstießen. "Tamen contrarium nobis iustius videtur" - mit diesem Satz setzten sie sich über das Dogma hinweg. Leysers unorthodoxe Auffassung hatte offenbar gesiegt. Eine Beiziehung von Zeugen durch den Richter von Amts wegen hielt auch Renner im Interesse vollständiger Ermittlung der Wahrheit für zulässig 14 • Das von ihm als positive Belegstelle angezogene c. 53 X 2, 20 sieht eine solche Möglichkeit auch vor. Doch handelte es sich bei dem in dem Dekretale beschriebenen Vorkommnis um einen Fall von Simonie "et aliis criminibus", also um eine strafrechtliche Untersuchung. Renners Gedanke ist daher eher Ausdruck seines Wunschdenkens denn der gemeinrechtlichen Übung. 11
12 13 14
Zum Verfahren beim Zeugenbeweis EngeZmann, S. 147. Wurmser I, I, Rdnr. 1, S. 11. Sp. II, CXX, II, S. 563 f. ~ 7, S. 229 (231).
III. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß
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War es dem Richter damit auch verwehrt, ex officio Zeugen heranzuziehen, äußerte sich sein Amt doch gerade bei diesem Beweis in mannigfacher Weise. So war es ihm möglich, die Zahl der Zeugen ex officio zu beschränken15 , eine Möglichkeit, die bereits c. 37 X 2, 20 und - dies völlig dem Ermessen des Richters anheimstellend - die Clementine saepe vorsah. Der Eid konnte den Zeugen in allgemeinen bürgerlichen Streitigkeiten 16 von den Parteien erlassen werden, da er nur auf den Vorteil dessen abzielte, für den der Zeuge beweisen sollte 17 • Dem Richter blieb es aber unbenommen, trotz dieses Verzichts den Zeugen zu beeidigen, falls ihm dies richtig erschien 18. Zaunschliffer 19 billigt dem Richter diese Befugnis besonders dann zu, wenn er bemerken sollte, daß der Erlaß des Eides dem Beweisgegner nachteilig sein werde. Dieses Recht konnte der Richter auch dann noch ausüben, nachdem der Zeuge schon unbeeidigt ausgesagt hatte, ja sogar nachdem die Aussage den Parteien durch Eröffnung des rotulus testium bereits zugänglich gemacht worden war. Tauchten dann Zweifel über den Inhalt der Aussage auf, wurde der Zeuge nochmals, diesmal unter Eid vernommen 20 . Der Grund für diese der Regel widersprechende Möglichkeit: "Cujus judicis officio ea in re multo plus licet quam partibus 21 ." Beim Verhör selbst konnte der Richter den Zeugen nicht nur über das eigentliche Beweisthema, sondern ohne Antrag einer Partei auch über konnexe Dinge befragen 22 . Weiter war es ihm möglich, unklare oder unvollständige Fragestücke (interrogatoria) des Produkten zu verdeutlichen und zu ergänzen23 , "damit die Wahrheit desto besser an den Tag kommen möge"24. Doch beschränkte sich die Befugnis des Richters nicht auf bloße Ergänzung der interrogatoria. Er konnte den Zeugen des Produzenten, d. h. des jeweiligen Beweisführers, auch von Amts wegen Fragestücke vorlegen, mochte der Produkt selbst dies getan haben oder nicht25 . Nur so glaubte man die Wahrheit tatsächlich hervorbringen zu können - "re vera sine interrogatoria probatio evidens et clara dici nequeat" (Boehmer)26. Demselben Zweck entsprach es, wenn der Richter den Zeugen ihre 15
Boehmer 111, § XII, 2, S. 657 (658); Hassert XXXV, S. 34 m. w. Nw.
16 Dazu Mevius IV, LXXVI, (2), S. 525 r. Sp. 17 Mevius, ebenda; GaUl I, CI, Rdnr. 3, S.1761. Sp. 18 Gaill, ebenda, Rdnr. 5.
11, XII, § I, I, S. 97. Mevius V, CCXLII, (6), S. 778 1. Sp. 21 Mevius V, CCXLII, (7), S. 7781. Sp. 22 Rutger Rulant II, II, XIV, Rdnr. 15, 16, S. 78; ähnlich Renner § 7, S. 229 (231). 23 Frantzkius III, IV, Rdnr. 81, S. 308; Knorre, S. 143 § 8. 24 Knorre, ebenda. 25 Brunnemann XX, Rdnr. 55, S. 200; Boehmer IV, § XI, 5, S. 679 f.; Renner § 7, S. 229 (231); Danz § 285, S. 418. 26 Ebenda, S. 679 f. 19
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1. Kap.: Der gemeine Prozeß
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Aussage nach deren Abgabe vorlas 27 • Falls sich ein Irrtum herausstellte, konnte er ihn sogleich beheben. Waren die Zeugenaussagen dunkel oder mehrdeutig - der Richter bemerkte dies oft erst später, da die Abhörung zumeist durch Kommissare geschah -, zitierte er die Zeugen zu sich und versuchte durch Fragen, die Zweifel zu klären28 • Falls dies vergeblich war, examinierte der Richter die Zeugen ex officio von neuem29 • Durch diese vielfachen Befugnisse des Richters wurde der Wahrheitsfindung, die immer wieder als Zweck dieser Rechte genannt wird, Rechnung getragen. Die bloße Abhörung der Zeugen an Hand von Fragen, die der Richter gleichsam als Mittler der Parteien in deren Auftrag stellte, wurde immer mehr durch ein regelrechtes Verhör ersetzt. In ihm ging der Richter aus eigenem Recht durch Fragen der Sache auf den Grund. Der Grundsatz "judex ex officio non procedit" findet daher bei diesem Beweismittel außer durch die Tatsache, daß der Richter von Amts wegen keine Zeugen beiziehen durfte, keine Bestätigung. c) Der Beweis durch Urkunden wurde in einem recht umständlichen und verwickelten Verfahren erbracht30 • Im wesentlichen waren nur die Parteien tätig. Sie hatten die Urkunden zu produzieren, sie erkannten sie als echt an oder leugneten dies ab und hatten gegebenenfalls den Verfälschungsnachweis zu erbringen. Doch ergab sich auch hier zum Zwecke der gründlichen Erforschung der Wahrheit eine bedeutsame Befugnis des Richters. Unter Berufung auf Cod. 2, 1, 1 und 4 galt im gemeinen Prozeß, daß nur der Kläger dem Beklagten die zur Begründung der Klage dienenden Urkunden herausgeben müsse, nicht aber umgekehrt31 • Oft kam es daher vor, daß eine Klage abgewiesen wurde, weil die Urkunde, auf die sich der Kläger stützte, in der Hand des Beklagten war, der sie nicht herausgab. Das ergehende Urteil mußte notwendig unrichtig sein, weil der Beklagte für seine mangelnde Mitwirkung nur den Grund haben konnte, daß die in seinen Händen befindliche Urkunde für das Begehren des Klägers sprach. Diesem nicht wünschenswerten Ergebnis wußte die gemeinrechtliche Praxis zu wehren. So teilt Mevius einen Fall mit32 , in dem der Kläger vom Beklagten die Herausgabe von Urkunden verlangte, die er für seine Brunnemann XX, Rdnr. 74, S. 207; Schaumburg I, I, 111, 11, S. 205. Frantzkius 111, IV, Rdnr. 80 f., S. 308; Wurms er XVIII, IV, S. 601. Sp. 29 Wurmser ebenda; Gaill I, CV, Rdnr. 11, S. 1861. Sp.; Hassert XL, S. 370; Künhold § X, S. 7 (9); Frantzkius 111, IV, Rdnr. 81, S. 308; Zaunschliffer 11, XII, § X, S. 100; Boehmer IV, § XI, 8, S. 678 (681). 30 Dazu Engelmann, S. 148 f. 31 Rutger Rulant 11, V, XIV, Rdnr. 15, S. 229 1. Sp.; Mevius 11, CXXVII, (1,2), S. 1791. Sp. ~2 111, CCCXXXVII, S. 4511. Sp. 27
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IIr. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß
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Beweisführung benötigte. Der Beklagte verweigerte dies naturgemäß. Damit hätte die Klage abgewiesen werden müssen. Doch das Gericht fand einen Weg, die Wahrheit doch noch zu ermitteln: "Abrupit vero illam haec consideratio, quod etsi partae adversae editio iniungendo non esset, tarnen quod ad decretum in causa faciendum interesset, ut in judicio fieret ejus transactionis super qua in judicio contendebatur33 ." Indem der Beklagte nicht zur Herausgabe an den Kläger verpflichtet wurde, wahrte man die Regel von Cod. 2, 1, 1 und 4. Gleichzeitig wurde der Wahrheit zum Sieg verholfen, als man anordnete, die Urkunde an den Richter herauszugeben. Aus diesem Gerichtsgebrauch entwickelte sich die zuerst von Rulant 34 angedeutete Regel, die Mevius35 so formuliert: "Judex ad sui et judicii information em pro veritate, cui studere debet, indagandam a reo exhibition em instrumentorum exigere potest." Diese Regel wurde bald verallgemeinert, da auch der Beklagte im Prozeß bisweilen, etwa bei der Geltendmachung von Einreden, sich in der Lage des Klägers sah36 • Nun war er es, der vom Kläger die Herausgabe derjenigen Urkunden verlangte, die er zur Begründung seiner Einreden benötigte. Dazu war dieser nach dem oben Ausgeführten nicht verpflichtet. Die Wahrheit hätte auch hier Schaden genommen, wären die Gerichte nicht ebenso wie im umgekehrten Fall verfahren. Auch der Kläger hatte dem Gericht die dem Beklagten zur Begründung seiner Einreden dienenden Urkunden herauszugeben, falls anders die Wahrheit nicht ermittelt werden konnte. Die Regel lautete daher bald generell: "Judex ex nobili officio partes compellit edere instrumenta, ubi justa causa suadet, cujusmodi sine dubio est, turn veritatis explorandae causa necessarium37 • " Dieser Auffassung schlossen sich die gemeinrechtlichen Prozessualisten, zumeist unter Berufung auf Rulant und Mevius, voll an 38 • Die Helmstädtischen Rechtsgelehrten erklärten ganz allgemein, "daß die materia editionis lediglich auf die Äquität ankommt, und von dem Richter, der sich diesfalls an keine gewissen Regeln bindet, ex officio auferlegt werden mag", worauf noch ein Hinweis auf c. 10 X 2, 2239 folgte 40 • Auch bei 33
Mevius,
ebenda.
11, V, XIX, Rdnr. 15, S. 229 1. Sp. Diese Befugnis des Richters war schon früher bekannt (vg1. die Nw. bei Leyser I, XXXVIII, I, S. 385 f.), scheint aber 34
erst durch Rulant ins Bewußtsein der Gemeinrechtler gedrungen zu sein. 35 II, CXXVII, 5, S. 179 1. Sp. 36 Mevius, ebenda (4). 31 Mevius V, CCCLXI, 3, S. 864 r. Sp. 38 Zaunschlijfer II, XII, S. 107 m. w. Nw.; Boehmer IV, § XI, 5 a. E., S. 678 (680); Hassert XLV, S. 41; Estor, Unterricht, § 174, X, S. 54. 39 Dessen Wortlaut oben, III 1. 40
Leyser I, XXXVIII, II, S. 386 f.
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1. Kap.: Der gemeine Prozeß
den späten Gemeinrechtlern wie Hofmann'1, Fredersdorf42 und CZaproth 43 findet sich diese Befugnis des Richters, "falls die Wahrheit nicht anders heraus zu bringen stünde" (Claproth). Diesfalls möge er von den gemeinen Regeln abgehen, gesteht Hofmann zu. Daß der Richter mit dieser Befugnis von der Regel "judex ex offieio non proeedit" aus Gründen der Ermittlung des tatsächlichen Sachverhalts abwich, liegt auf der Hand44 • d) Völlig der Regel zuwider erfolgte auch die Einnahme des Augenscheins. Für die Gemeinrechtier war er unzweifelhaft ein Beweismittel45 und übertraf als solches alle anderen4G • Die Einnahme des Augenscheins konnte sowohl auf Antrag der Parteien als auch ex officio erfolgen 47 • In diesem Falle hatten beide Parteien die Kosten zu tragen 48 • Welche Bedeutung der Befugnis des Richters, den Augenschein ex offieio einnehmen zu können, zukam, erhellt daraus, wie BerZich - mit allen anderen Prozessualisten über die oeularis inspeetio als das beste aller Beweismittel einig - das Wesen desselben schildert i9 : "Verum cum probatio per evidentiam rei ve1 ocu1arem inspeetionem sit optima, et superlativa omnium probationum; Nee ulla sit major; Ve1 melior; Ve1 validior; Ve1 certior probatio, quam illa quae fit per evidentiam facti. Praeferaturque cuicunque probationis generi. Numquam censeatur derogatum. Sed potius ipsa deroget omni generi probationum. Nec unquam intelligatur exclusa, eum sit fortior probatio in mundo. Et nulla 1egis virtus possit eam excludere. Sed superet omnes alias probationes et illis deroget. Adeo ut omnis probatio vincatur, si aspectus in eontrarium testetur."
Unter diesen Lobpreisungen vergaßen die Gemeinrechtier etwas, was sie sonst immer zu tun pflegten: zu begründen, weshalb hier von der Regel "judex ex offieio non proeedit" abgewichen wurde. Offenbar war ihnen die Einnahme des Augenscheins von Amts wegen bereits so selbstverständlich, daß sie dieses Recht des Richters nicht mehr als Abweichung 41
42 43
§ 589 Fn. t, S. 363.
II, S. 196.
§ 229, S. 265 (266).
U Dies ergibt sich auch aus den Ausführungen Heffters, im 19. Jahrhundert einer der stärksten Verfechter der Verhand1ungsmaxime und damit der Regel "judex ex officio non procedit". Er schreibt (System, S. 207 f. Fn. 227), allein die Urkundenedition gemäß Cod. 2,1,4 entspreche der Verhandlungsmaxime. 45 Gaill I, XXVI, Nr. 9 der summaria, S. 49 r. Sp.; Berlich XLVII, Rdnr. 1, S. 282 1. Sp.; Hassert XLVI, S. 41; Brunnemann XXII, Nr. 1 der summaria; Knorre, S. 206, § 1; Claproth § 222, S. 248. 46 Hassert, Brunnemann, Claproth ebd. 47 Dig. 10,1,8,1; § 51 JRA; Berlfch XLVII, Rdnr. 3, S. 282 r. Sp.; Künhold § X, S. 7 (9); Zaunschliffer I, IV, § 5, S. 11 (12); Boehmer IV, § XI, 5, S. 681; Brunnemann XXII, Rdnr. 5, S. 222; Knorre, S. 206, § 2; Claproth § 222, S. 248; Renner § 7, S. 229 (230 f.); Hassert XLVI, S. 41. 48 Brunnemann, ebenda. 49 XLVII, Rdnr. 14-24, S. 283 r. Sp. - S. 2841. Sp.
III. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß
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von der Regel wahrnahmen. Doch ist der Grund klar. Es ist derselbe wie bei den übrigen Ausnahmen der "regula vulgata": Ermittlung der Tatsachen, wie sie sich wirklich verhielten. Zum Ausdruck kommt dies in Formulierungen wie, die amtliche Augenscheinseinnahme diene der Eruierung der Wahrheit (Renner)50, der Aufklärung der Streitfrage (Claproth )51.
Aus diesen Sätzen erhellt gleichzeitig der Umfang der ex officio erfolgenden Einnahme des Augenscheins. Ihr Zweck war nicht Veranschaulichung der unbestrittenen, sondern Aufklärung der bestrittenen Parteibehauptungen und gegebenenfalls Einführung neuen Tatsachenstoffes in den Prozeß. Sehr schön kennzeichnet Ludovici 52 den Sinn dieser richterlichen Befugnis, wenn er schreibt, zwar brächten die Parteien selbst Pläne und Abrisse der umstrittenen Sache vor, doch täten sie dies lediglich zu ihrem eigenen Vorteil. Der Richter möge daher lieber in eigener Person ex officio zur Aufklärung der strittigen Angelegenheit schreiten 53 • e) Wie bei der Einnahme des Augenscheins verhielt es sich beim Sachverständigen. Auch ihn konnte der Richter auf Antrag der Parteien oder ex officio hinzuziehen 54 • Zwar ist bei der Kargheit der Quellen nicht ganz ersichtlich, ob der Sachverständige als Beweismittel oder lediglich als Richtergehilfe betrachtet wurde. Doch scheinen die gemeinrechtlichen Prozessualisten ihn eher als Beweismittel angesehen zu haben55 • Dafür spricht auch, daß die Doktrin jener Zeit noch keine Lehre vom Beweise "überhaupt" entwickelt, den Begriff noch nicht definiert hatte. Alle Mittel, die in irgend einer Weise zur Aufklärung der Sache beitragen konnten, wurden kurzerhand als Beweis - "probatio" - bezeichnet, wobei zwischen Beweis und Beweismittel kaum unterschieden wurde. Die Möglichkeit, Sachverständige ex officio beizuziehen, ist damit eine weitere Ausnahme der "regula vulgata". 50 51
§ 7, S. 229 (231). § 222, S. 248.
Einleitung XXI, § VI, S. 192 f. Daß die Möglichkeit des Richters, Augenschein ex offtcio einzunehmen, nichts Selbstverständliches ist, zeigt ein Blick auf das österreich ische Prozeßrecht, wo der Richter des ordentlichen Prozesses nach der AGO von 1782 nur auf Antrag auf Augenscheinsbeweis erkennen konnte. Vgl. Menger, S. 277. M GaiH II, CXI, Nr. 2 der summaria, S. 510 r. Sp.; Hassert XLVI, S. 41 (42); Schaumburg I, I, III, IV, V, S. 244 Fn. *; Claproth § 226, S. 254; Danz § 350, S. 495 (496). 55 Martin § 155, S. 182 f. mit Nachweis auf ältere Monographien (Fn. n); Schaumburg, überschrift zu I, I, III, IV, S. 241; Danz § 238, S. 375 im Gegensatz zu § 350, S. 495 (496) ("kein eigentliches Beweismittel", wenn vom Richter ex officio hinzugezogen); Engelmann, S. 154, bezeichnet die Auffassung vom Sachverständigen als Beweismittel als herrschende Meinung der Gemeinrechtler. 52 53
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1. Kap.: Der gemeine Prozeß
f) Weiteres wichtiges Beweismittel war der Eid56 • Bei ihm äußerte sich vornehmlich die Tätigkeit der Parteien. Der Beweisführer - Deferent konnte dem Beweisgegner - Delat - einen Eid über eine von ihm aufgestellte Behauptung zuschieben. Leistete der Delat den Eid, war damit das Gegenteil der Behauptung des Deferenten festgestellt. Verweigerte er ihn, galt sie als zugestanden. Der Delat konnte den Eid auch zurückschieben, worauf der Deferent seine Behauptung beschwören mußte. Widrigenfalls galt sie als zurückgenommen. Ob ein Eid zugeschoben wurde, hing völlig vom Ermessen der Parteien ab. Bei geringfügigen Streitigkeiten konnte der Richter jedoch die Eideszuschiebung unterbinden 57 , ebenso falls ihm der Eid überflüssig erschien58 • Sein Amt äußerte sich weiter darin, daß er die von den Parteien entworfene Eidesformel ex officio verbesserte, wenn sie dunkel, zweideutig, verfänglich oder unzureichend war59 • Teilweise ließ man den Richter sogar die gesamte Eidesformel von Amts wegen einrichten60 • Begründet lag diese offizielle Tätigkeit einmal darin, daß der Eid den Richter bei der Feststellung der Wahrheit unterstützen sollte. Zum andern wollte man aus religiösen Motiven vermeiden, daß der Eid durch falschen und zu häufigen Gebrauch seinen Sinn verlor und zum Gespött wurde 61 • g) Das letzte Institut des Beweisrechts, bei dem sich die Tätigkeit des Richters äußerte, war der Reinigungs- und Erfüllungseid (juramentum purgatorium et suppletorium). Die Existenz dieser Eide ist Folge der im gemeinen Prozeß herrschenden legalen Beweistheorie. Danach konnte der Richter genau berechnen, ob und in welchem Grade der Beweis gelungen war. Hatte der Beweisführer nur halben Beweis erbracht, konnte er diesen durch Leistung des Erfüllungseides vervollständigen. War ihm weniger als halber Beweis gelungen, konnte der Beweisgegner sich durch den Reinigungseid von jedem noch haftenden Verdacht, daß der gegen ihn erhobene Anspruch doch bestehe, befreien. Beide Eide wurden im gemeinen Prozeß teilweise als echtes62 , überwiegend aber als subsidiäres Beweismittel angesehen63. Dazu Engelmann, S. 152 f. Claproth § 321, S. 419 (421). 58 Leyser II, CXXXVII, III, S. 700 ff. 59 Leyser II, CXXXVII, I, S. 696 ff., IV, S. 703; Schaumburg I, I, II!, V, XVIII, S. 273; Danz § 373, S. 527; Claproth § 325, S. 428. 60 Albinus § XXII, S. 17; Ludovici, Einleitung, XIX, XIV, S. 175; Endemann (§ 222, S. 869) bezeichnete dies später als "Offizialsache". Der Richter sei nicht streng an die Verhandlungsmaxime gebunden. 61 Schaumburg I, I, III, V, XVIII, Fn. S. 274. 62 Gaill I, CVIII, Rdnr. 1, S. 191 r. Sp. 63 Berlich LI!, Rdnr. 34, S. 332 1. Sp.; Mevius IV, V, 11, S. 492 r. Sp.; VIII, CCXXIX, 4, S. 13231. Sp.; Hassert XIL, S. 44. 56
57
*,
III. Die tätige Rolle des Richters im gemeinen Prozeß
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Gemäß der Regel "judex ex officio non procedit" hätte der Richter diese Eide jeweils nur auf Antrag der Parteien auferlegen können. Dieser Auffassung waren nach der Mitteilung Gaills 64 überwiegend die Prozessualisten der vor der Bildung des gemeinen Prozeßrechts liegenden Zeit. Doch habe es auch Rechtslehrer gegeben, die der Ansicht gewesen seien, der Richter könne diese Eide ex officio auferlegen. "Magis communis videtur", teilt Gaill weiter mit, "eum hoc facere non posse, cum nemini officium suum, praesertim ad privatam partis utilitatem, impartiri debeat, nisi imploratum sit, juraque non dormitantibus scripta sint." Ungeachtet dieser zwingenden Beweisführung zweifelt Gaill. Er fragt sich, ob der Richter aus Gründen der Wahrheitsfindung nicht doch ex officio tätig werden könne. Auch Berlich65 , Carpzov 66 und Mevius 67 geben diesen überlegungen Raum. Dabei glaubt Berlich, nach dem ersten Anschein zu urteilen, könne der Richter nicht ex officio, sondern nur auf Antrag einer Partei der Gegenseite einen dieser Eide auferlegen. Die Gründe sind diejenigen Gaills: kein Tätigwerden des Richters ohne Partei antrag, zum al wenn es um Privatrechte geht. Trotz dieser Bedenken kommt Berlich - ebenso wie Gaill, Carpzov und Mevius - zu dem Ergebnis, der Richter könne den Erfüllungs- und Reinigungseid von Amts wegen auferlegen. Berlich68 begründet dies damit, daß durch Cod. 2, 10 erwiesen sei, daß der Richter auch unaufgefordert tätig werden könne. Dies gelte um so mehr, wenn dies - wie es bei den betreffenden Eiden der Fall sei - die Billigkeit zur Ausmittelung der Wahrheit erfordere. Da schließlich Cod. 2, 10 den Richter auch "ad privat am utilitatem" tätig werden lasse, könne ihm dies hier, wo es um die Wahrheit gehe, ebenfalls nicht verwehrt werden. Carpzov schließt sich diesen Argumenten Berlichs an 69 • Gaill stellt in seiner Begründung entscheidend auf die Notwendigkeit einer vollständigen Wahrheitsermittlung durch den Richter ab 70 • "Ratio [opinionis judicem juramentum, parte non petente, deferre posse] quia judex cuncta rimari, et pro habenda veritate mo dis omnibus laborare debet ... Ergo etiam juramentum deferre poterit, ut veritate cognita juste judicet." Mevius 71 schließlich, der in vielem Gaills Argumentation übernimmt, 64
65 66 67
68 69
70 7t
I, CVIII, Rdnr. 3, S. 192. LIII, Rdnr. 36, S. 338 r. Sp. Jurisprudentia forensis I, XXIII, S. 214. III, eCCeXVII, S. 485 r. Sp. LIII, Rdnr. 45 f., S. 339 r. Sp. Jurisprudentia forensis I, XXIII, I, Rdnr. 15 f., S. 215 r. Sp. I, CVIII, Rdnr. 5, S. 192 r. Sp. III, eCCeXVII, (7, 8), S. 485 r. Sp.
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1. Kap.: Der gemeine Prozeß
bezeichnet es als Pflicht des Richters, nichts zu vernachlässigen, was zur Wahrheit führe. " ... ideo ob inopiam probationum officii ejus est juramentum impositione eandem inquirere". Was Berlich und Carpzov, Gaill und Mevius vertraten, konnte im gemeinen Prozeßrecht nicht unbeachtet bleiben. So war es bald allgemeine Auffassung, daß der Richter den Erfüllungs- und Reinigungseid ex officio auferlegen könne. Die einstige Antragsbefugnis verkümmerte bald72 , und schließlich wurden Erfüllungs- und Reinigungseid zu subsidiären Beweismitteln, deren Einnahme nur vom Richter angeordnet werden konnte 73 • Von der "regula vulgata", mit der dies so gar nicht übereinstimmte 74, war nicht mehr die Rede. IV. Ergebnis: Die gemeinrechtliche Lehre und ihr Verhältnis zu der Regel "judex ex officio non procedit"
überschaut man die Befugnisse, die dem Richter zur Ermittlung und Aufklärung des Sachverhalts im gemeinen Prozeß zustanden, ergibt sich, daß ihre Zahl sehr groß ist. Betrachtet man zudem den Prozeß vor den Untergerichten und den damit teilweise identischen, von der Lehre so genannten unbestimmt summarischen Prozeß, erhellt, daß hier der Richter nahezu alles von Amts wegen ausrichten konnte. "Ceterum iudex in quibusdam caussis magis, in quibusdam minus ex officio quid facit, prout caussae sunt vel summariae vel ordinariae", schreibt Boehmer75 , und alle, die sich mit dem summarischen Prozeß befassen, schließen sich an76 • Carpzov 77 umreißt die Befugnisse des Richters im unbestimmt summarischen Prozeß mit den Worten: "Summarie autem proceditur absque strepitu judicii, hoc est, quando pleraque, quae ad processum Ordinarium spectant, negliguntur, ac sola facti veritate inspecta proceditur." Bei dieser Vielzahl von Ausnahmen der regula vulgata "judex ex officio non procedit" stellt sich die Frage nach der Geltung dieses Grundsatzes überhaupt. Wie aus den vorangegangenen Ausführungen erhellt, waren sich die Gemeinrechtler der vielfältigen Befugnisse des Richters, von Amts wegen vorzugehen, bewußt. Fast immer wurden diese Fälle auch als Ausnahmen des allgemeinen Grundsatzes anerkannt. Jedoch 72 Vg1. Brunnemann XXIII, Rdnr. 24, S. 232; Ludovici, Einleitung, XIX, § 42, S.185 f. 73 Zaunschliffer 11, XII, § 3, S. 103; Knorre, S. 201 § 35; Danz § 362, S. 509. 74 Im österreich ischen Prozeß der öAGO von 1782 ist der Erfüllungseid nur auf Antrag aufzuerlegen (§§ 212, 213 ÖAGO). 75 11, § 11, S. 620; vg1. auch I, § XII, S. 618. 78 Statt aller Nettelbladt, Versuch, § 118, S. 53; vg1. Brunne mann IX, Rdnr. 2, S.112. 77 Jurisprudentia forensis I, 11, XVII, Rdnr. 2, 3, S. 22 1. Sp.
IV. Ergebnis
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zogen die meisten aus dieser Tatsache keine Konsequenzen für die Geltung der Regel selbst, sondern beschränkten sich darauf, die Abweichungen als solche zu kennzeichnen und kommentarlos zu registrieren. Nur einige Prozessualisten, darunter allerdings die namhaftesten Juristen ihrer Zeit, begannen, über das Verhältnis von Regel und Ausnahmen nachzudenken. In den Werken dieser Prozessualisten findet sich eine Vielzahl von Sätzen, die auf dieses Problem eingehen. Aus ihnen wird deutlich, wie die zunächst alles verdunkelnde "regula vulgata" allmählich verblaßt und ein neuer Grundsatz sich herauszubilden beginnt. Dabei sind es vor allem folgende Sätze, die ein neues Licht auf den gemeinen Prozeß werfen: "Regulare est judicem officium suum non interponere de negotio aliquo, nisi de eo sit requisitus: sed fit interdum, ut tametsi requisitus non sit, nihilominus officium suum interponat, atque turn dicitur procedere ex officio, et ut vernacula nostra loquimur von Amptswegen" (Vultejus)18. "Siquidem ibi dicitur, quod judex in causis civilibus, prout in causis criminalibus inquirere potest, etiamsi nullus accusator existit, non po test officium suum impertiri, ... nisi eius officium fuerit imploratum, actorque extiterit. Secus autem est, ubi jam actio est instituta, processusque initus, ut hoc in casu, turn enim judex recte officium suum impertiri, et autoritatem suam interponere debet. Inprimis ubi hoc aequitas pro eruenda veritate postulat." (Berlich)19 "Quod si dixeris, judicem suum officium non impertiri, nisi fuerit imploraturn. Respondeo, verum id esse nullo prorsus existente actore: At instituta jam actione, initoque processu, nil amplius impedit judicem, quo minus autoritatem suam interponere queat" (Carpzov)80. "Ratio, [quod judex non obstante regula vulgata ex officio procedere potest] quia judex cuncta rimari, et pro habenda veritate modis omnibus laborare debet .... Multa enim judici permissa, quae partibus prohibita sunt" (Gaill)81. "Judicem officium non impartiri, nisi rogatum. Nam et id regulariter verum est, et in multis fallit pede regula varo" (Zaunschliffer)82. "Habet quidem vulgatum Axioma, judicem nisi imploratum nihil facere aut decernere, attamen id cessat turn ubi de litibus abbreviandis res est" (Mevius)83. "Etsi enim judex alias in his quae ad privatum alicujus commodum pertinent officium suum non impertitur ni si imploratus, tarnen cum de veritatis indagine res est incumbit ipsi nihil negligere quod ad illam conducit" (Mevius)84. "Nisi petitum fuerit, non debere iudicem officium suum in examinando impertiri, tarnen contrariurn nobis iustius videtur. Non est enim iudex intra tarn arctos cancellos inc1udendus, ut veritati per hoc fraus fiat. Impertitur ille officiurn suurn etiam non imploratus, quoties aequitas id poscit" (Leyser)85. I, IV, Rdnr. 262, S. 103. LIII, Rdnr. 45, S. 339 r. Sp. 80 Jurisprudentia forensis I, XXIII, I, Rdnr. 15, 16, S. 215 r. Sp.; ebenso Processus juris XII, II, Rdnr. 13, S. 410. 81 I, CVIII, Rdnr. 5, 6, S. 192 r. Sp. 82 I, V, § 4, S. 15. 83 IV, LXXXVI, 11, S. 530 r. Sp. 84 III, eCCeXVII, (6,7), S. 485 r. Sp. 85 II, CXX, II, S. 563 (564). 78
79
1. Kap.:
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Der gemeine Prozeß
Aus diesen nicht willkürlich hervorgesuchten, sondern an Hand praktischer Fälle ausgesprochenen Sätzen erhellt, daß dort, wo es um die Ermittlung der Wahrheit ging, die Regel "judex ex officio non procedit" zurückwich. Das Argument, Wahrung von Privatrechten sei nicht Sache des Richters, dem diese Regel entsprang, hatte, wie die GemeinrechtIer deutlich erkannten, dann keinen Platz, wenn es sich um die Erforschung des wahren Sachverhalts handelte - "cum de veritatis indagine res est". Folgen aus dieser Tatsache für die Regel selbst zogen indessen zunächst nur Berlich und Carpzov, indem sie deren Geltung auf die Einleitung des Prozesses beschränkten. Erst Justus Henning Boehmer kam angesichts der vielen Ausnahmen der "regula vulgata", wie sie sich ihm nicht nur bei der Ermittlung des Tatsachenstoffes, sondern mehr noch beim Prozeßbetrieb86 darboten, zu einer allgemeinen, die Geltung der Regel selbst betreffenden Erkenntnis. Er, nach Thibauts Urteil 87 einer der helldenkendsten, genievollsten Männer, deren Deutschland sich zu rühmen hatte, dessen Darstellung des Prozeßganges mustergültig erschien88 , traf die alles aussagende Feststellung89 : "Ceterum si actor adest, qui litern movet, et ius suum prosequitur, regula praedicta 90 fere plures exceptiones habet, quam exempla sub regula, ut fere illam invertere possit, et dicere: Regulariter hodie, lite mota, iudicem ex officio omnia facere posse, quae ad veritatis indagationem et iustitiae administrationem faciunt, nisi ubi in specie partium implorationum processus hodierni requirunt. Pleraque, in quibus imploratio specialis requiritur, adducta sunt ... Sed longe maior copia est eorum actuum, in quibus iudex ex officio procedere potest, nemine urgente, ut proinde ab eo, quod utplurimum fit, regula exstruenda esse videatur." Mit diesen Worten drückt Boehmer aus, was Ergebnis dieses ersten Kapitels ist: daß die Regel "judex ex officio non procedit" im gemeinen Prozeß nicht galt. Für die Verhandlungsmaxime folgt daraus, daß dieser Grundsatz des "Nichts von Amts wegen" aus dem Rechtsgebiet, in dem Gönner ihn entdeckt zu haben glaubte, nicht entwickelt werden konnte. In bezug auf die Beschaffung des Streitstoffes äußert sich diese Erkenntnis darin, daß zwar weiterhin die Parteien für dessen Beibringung zu sorgen hatten, dem Richter aber aus Gründen der Erforschung der Wahrheit auch im gemeinen Prozeß ein weitgehendes Mitwirkungsrecht sowohl bei der Aufklärung als auch bei der Beschaffung der Tatsachen zustand. 86 Die also der heute so genannten Dispositionsmaxime und dem Grundsatz des Parteibetriebes unterfallen. 87
88 89 GO
S.138.
Döhring, S. 310 f.
I, § XI, S. 616 (617 f.).
Die Regel "judex ex officio non procedit".
Zweites Kapitel
Das Verhältnis von Richter- und Parteien macht bei der Ermittlung und Aufklärung des Sachverhalts im preußischen Prozeß Nach dem gemeinen Prozeß muß der preußische Zivilprozeß und dabei besonders die Allgemeine Gerichtsordnung (AGO) vom Jahre 1793 Gegenstand einer Untersuchung sein, welche es sich zur Aufgabe gesetzt hat, das Verhältnis von Richter- und Parteienmacht bei der Entwicklung und Aufklärung des Sachverhalts zu beschreiben und die Gönnersche Maximenschöpfung kritisch zu überprüfen. Die AGO war es, welche Gönner dem gemeinen Prozeß gegenüberstellte. So wie dieser sich auf die Regel "judex ex officio non procedit" oder die Verhandlungsmaxime gründet, sei jene auf die Untersuchungsmaxime berechnet!. Alles gehe den Weg einer richterlichen Untersuchung - nach angebrachter Klage geschehe alles von Amts wegen 3• Auch heute wird der Verhandlungsmaxime die Untersuchungsmaxime gegenübergestellt'. Als Beispiel für ihre Geltung wird ebenfalls die AGO genannt 5• Auf diese könnte sich daher die Untersuchung beschränken, auf die Beantwortung der Frage: galt in ihr tatsächlich das "Nichts von Amts wegen", das Gönner und die ihm bis heute nachfolgende Lehre dieser Prozeßordnung zuschreiben? Eine solche Beschränkung erscheint um so mehr angebracht, als nach Auffassung heutiger wie auch älterer Prozessualisten die AGO offenbar allein aus sich heraus verstanden werden kann 6 • Demnach könnte man an Hand jener Prozeßordnung durch bloßes Gegenüberstellen der Richterbefugnisse und der - wenn überHdb. I, 1 S. 263, 260. Hdb. I, 1 S. 263. S Hdb. I, 1 S. 261 f. 4 Statt aller Lent-Jauernig § 25, S. 60 ff. S Lent-Jauernig § 100, S. 278 (279). 8 So liest man, die amtliche Ermittlung der Wahrheit sei Folge der landesväterlichen Fürsorge des aufgeklärten Absolutismus gewesen (Brüggemann, S. 48). Dem absoluten Staat habe es innerlich entsprochen, den Richter zum Herrn des Verfahrens zu machen (Lent-Jauernig § 100, S. 278 [279]). Die Juristen Friedrichs H. hätten absichtlich den Bruch mit dem historisch gewordenen System des gemeinen Rechts vollzogen, um ein Verfahren nach der Natur der Sache zu konstruieren (R. Schmidt SächsA H, 265). I
2
5 Bomsdorf
66
2. Kap.: Der preußische Prozeß
haupt vorhandenen - Parteienmacht feststellen, ob Gönner und mit ihm die heutigen Prozessualisten recht hatten und haben. Doch ist die AGO keine Erscheinung, die gleichsam aus dem prozessualischen Nichts entstanden ist. Ihre Ursprünge liegen in den verschiedenen Ausprägungen, die der preußische Zivilprozeß im 18. Jahrhundert gefunden hat. Will man die AGO nicht nur statistisch auswerten und mit dem Schlagwort vom Absolutismus übergehen, muß man diese Wurzeln des Gesetzes betrachten und erklären, wie es zu der umfassenden Erneuerung des preußischen Prozesses gekommen ist7. Nur so ist das Wesen der AGO zu erfassen, nur so - jenseits bloßen Registrierens von Richterund Parteien befugnissen - festzustellen, ob ihr tatsächlich das "Alles von Amts wegen" der Untersuchungsmaxime zugrunde liegt. I. Von der Kammergerichtsordnung von 1709 zum Codex Fridericianus Marchicus von 1748 1. Eingangs des 18. Jahrhunderts galt in Brandenburg-Preußen gemeines Prozeßrecht. Es hatte sich in einer Anzahl von GerichtsordnungenS, in verschiedenen Einzeledikten und im Gerichtsgebrauch niedergeschlagen. Einen Abschluß bildete in dieser Hinsicht die von König Friedrich 1. am 1. März 1709 erlassene "Neu verfaßte Cammer-GerichtsOrdnung in der Chur- und Marck Brandenburg" . In diesem umfassenden Gesetz sind die Ergebnisse älterer Bestimmungen zusammengefaßt und geordnet 9 • Wenn die KGO 1709 damit auch auf gemeinrechtlicher Grundlage ruht, finden sich in ihr doch Neuerungen, die dem gemeinen Prozeß fremd, für den preußischen Prozeß und seine Reform hingegen wegweisend waren.
Ohne Ausnahme gemeinrechtlich war das Beweisverfahren. Deutlich trat dabei die Mitwirkungsbefugnis des Richters zutage. Augenscheinseinnahme und Zuziehung von Sachverständigen werden von Amts wegen veranlaßt (Tit. XLI §§ 1, 10, 11); ein Fragerecht des Richters bei der Zeugenabhörung ist anerkannt (Tit. XXXVIII §§ 24 f.); auch ohne Antrag hat der Beklagte Urkunden auf Anordnung des Richters herauszugeben, falls "die Warheit der Sachen anderer gestalt nicht entdecket werden könte" (Tit. XXXVII § 3); Erfüllungs- und Reinigungseid sind ex officio aufzuerlegen (Tit. XLIV § 1, Tit. XLVI § 1). Kennzeichnend für die KGO 1709 waren die Abweichungen vom gemeinen Prozeßrecht. Wichtig war hier insbesondere Tit. XXIII § 1: "In 7 Der einzige, der heute diesen Weg geht, ist Nagel, "Die Grundzüge des Beweisrechts im europäischen Zivilprozeß", 1967, S. 183 ff. S Dazu Abegg, S. 15 ff. 9 Hassenpjlug, S. 11.
I. Von der Kammergerichtsordnung zum Codex Fridericianus Marchicus
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Unserm Cammer-Gerichte sollen alle vorkommende Sachen summariter gehöret werden, und ohne besondere Erkäntnüß keine ad Processum ordinarium verwiesen werden." Damit wurde die in Brandenburg-Preußen seit langem geübte Mündlichkeitl° beibehalten und das summarische Verfahren als Regel eingeführt l l . Alle in erster Instanz beim Kammergericht einkommenden Sachen mußten zunächst eine mündliche Verhandlung durchlaufen (Tit. XIX § 3). Erst danach wurde entschieden, ob der Prozeß weiterhin summarisch verhandelt werden konnte. Die summarische mündliche Verhandlung zeichnete sich dadurch aus, daß die Parteien persönlich oder durch einen Bevollmächtigten zugegen sein mußten. Dabei konnte das Gericht das persönliche Erscheinen der Parteien anordnen und erzwingen (Tit. XXIII § 2). Beim Vortrag der Sache hatte der Kläger alle Tatsachen klar und deutlich vorzutragen und gleichzeitig alle Urkunden, auf die er sich stützen wollte, vorzulegen (Tit. XXIII § 4). Ausdrücklich wurde vorgeschrieben, daß das Gericht Einreden "oder sonsten, was Rechtens", obschon in den Parteivorträgen fehlend, von Amts wegen ergänzen konnte (Tit. XLII § 15). Kam es zur Beweisaufnahme, war auch dieses Verfahren mündlich (Tit. XLII § 8). Erwies sich die vor Gericht gebrachte Sache als weitläufiger und konnte sie deshalb "bey summarischen Verhören nicht gründlich und genau untersuchet werden" - diese Frage war allein dem richterlichen Ermessen anheim gestellt -, wurde sie zum Verfahren des "processus ordinarius" verwiesen (Tit. XXX § 1). Dabei sollte in "schrifftlicher Deduction" verfahren werden. Doch auch hier herrschte aus Gründen der Prozeßbeschleunigung teilweise Mündlichkeit. So sollten alle Inzidentpunkte, welche die Hauptsache nicht betrafen, bei einem eigens dazu angesetzten Verhör abgetan werden (Tit. XXX § 13). Mit der KGO 1709 war der Weg für die künftige Entwicklung des Zivilprozesses in Brandenburg-Preußen gewiesen. Die Ergebnisse von Arbeiten der vergangenen zwei Jahrhunderte waren zusammengefaßt und damit für die Praxis eine verbindliche Grundlage geschaffen worden. Die Bedeutung der KGO lag vor allem darin, daß sie das summarische Verfahren mit seinem unmittelbaren mündlichen Verkehr zwischen Gericht und Parteien als Regel einführte. Damit verbunden war eine Stärkung der Richtermacht, wie sie auch im summarischen Prozeß des gemeinen Rechts zu beobachten war. Nur unzureichend kam dies im Gesetz in der Möglichkeit, das persönliche Erscheinen der Parteien anordnen zu können (Tit. XXIII § 2) und in der Normierung eines richterlichen Ergänzungsamtes (Tit. XXIII § 15), welches auch ein Fragerecht umfaßte12 , zum Ausdruck. 10 11 12
S·
Dazu Sethe, S. 27 ff., insbesondere S. 32.
Abegg, S. 33. Hassenpflug, S. 43.
2. Kap.: Der preußische Prozeß
68
2. Theoretisch hatte man nun ein schleuniges Verfahren mit verschiedenen Verhörsterminen. Doch zwischen den Anforderungen der KGO 1709 und ihrer Erfüllung durch die Richterschaft bestand ein erheblicher Unterschied. Der Richterstand war der Aufgabe, die Prozesse in mündlicher Verhandlung zügig zu einem Ende zu bringen, nicht gewachsen 13 . So wurde der als Ausnahme gedachte "processus ordinarius" allmählich wieder zur Regel. Zwar war auch hier ein vorheriger Verhörstermin obligatorisch (Tit. XIX § 3), doch auch er war bald nur noch Formsache, um den schriftlichen Prozeß einzuleiten14•
Dieser mangelnde Erfolg der gut gemeinten Einrichtung lag nicht nur an den Richtern. Auch die Mündlichkeit, von der man so viel erwartete, trug einen großen Teil der Schuld. Es war dies nicht Mündlichkeit im eigentlichen Sinn, als vielmehr ein Verfahren zu Protokoll, "vom Mund in die Feder"15. Dies mußte die Termine unendlich verlängern. Statt zu diktieren, übergaben die Advokaten daher lieber fertige Schriftsätze16. Die Diskrepanz zwischen praktikabler, auf schleunige Rechtspflege abzielender Gerichtsordnung und ihrer Ausführung durch die Praxis änderte sich auch nicht nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms 1. Obschon dieser in dem Bemühen, die Rechtspflege in geordnete Bahnen zu lenken, sogleich eine fieberhafte, überstürzte Reformtätigkeit entfaltete 17 und eine Vielzahl von Edikten erließ1B, obgleich er in Samuel von Cocceji einen Mann gefunden hatte, der sich mit aller Kraft der Justizreform widmete, kam man über zwei Jahrzehnte lang nicht über die Regelungen der KGO 1709 hinaus. Auf sie verwies § 1 der "Verordnung, wornach bey dem Chur-Märckischen Hoff- und Cammer-Gericht das Justitz-Wesen eingerichtet und verfahren werden soll" vom 16. April 1725; auf ihren Grundsätzen beruhte das "Allgemeine Edict, wegen Abkürtzung und Beschleunigung der Processe" vom 2. Mai 1736. In der Einleitung dazu kehrt die alte Klage wieder. Alle Reformen hätten nichts genützt; immer noch sei der Prozeßgang langwierig und schwerfällig. Abhilfe soll wieder die mündliche summarische Verhandlung aller Sachen bringen (Art. VIII). Doch dieses Mittel, das bisher nicht verfangen hatte, konnte auch fortan nichts nützen. 13 14
15 16
17
Schwartz, S. 467. Hassenpf!ug, S. 43. Weißter, S. 315; vgl. auch Schwartz, S. 462 u. Weißler, ebenda. Schwartz, S. 467.
18 "Allgemeine Ordnung, die Verbesserung des Justitz-Wesens betreffend" vom 21. Juni 1713; "Edict wegen Verkürtzung derer Processe" vom 19. März 1717; "Constitution wegen Abkürtzung derer Processe in der Chur-Marck" vom 3. September 1718; "Revidierte Constitution wegen Abkürtzung der Processe in der Neumarck" vom 18. November 1718; "Rescripturn declaratorium, wegen Abkürtzung der Processe" vom 17. Mai 1719; "Fernere Declaration der Königlichen Constitution von Abkürtzung der Processe in der Chur-Marck" vom 29. April 1721.
I. Von der Kammergerichtsordnung zum Codex Fridericianus Marchicus
69
3. Durch diesen Zustand der Rechtspflege wurde vor allem den sozial schwachen Parteien geschadet, deren Prozesse nur geringen Streitwert hatten. Sie sahen sich gezwungen, wegen der hohen Kosten der langwierigen Prozesse die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen oder mehr darauf zu verwenden, als die Sache wert war. Da es eine umfassende Kostenerstattungspflicht nicht gab, hatte selbst die obsiegende Partei mehr verloren als gewonnen l9 •
Ein solcher Zustand erschien dem König unerträglich. Mehr als einmal hatte er sein Bemühen gezeigt, die festgefahrene Justiz entscheidend zu verbessern2o • Kennzeichnend ist sein bei den Vorarbeiten zur "Allgemeinen Ordnung" vom 21. Juni 1713 gefallener Satz21 : "Ich muß leider so ferch sprechen, weil die schlimme Justiz gen Himmel schreiet, und wenn ichs nicht remedire, selber die Verantwortung auf mir lade." Nachdem der König die Erfolglosigkeit seiner bisherigen Bemühungen erkannt hatte, befahl er den Erlaß einer neuen Verordnung, um wenigstens den sozial schwachen Bevölkerungsschichten zu ihrem Recht zu verhelfen. Dies geschah durch das Edikt über das Verfahren in Bagatellsachen vom 24. Februar 1739. Es beginnt mit den die königliche Mißstimmung wiedergebenden Worten: "Nachdem seine Königliche Majestät in Preussen, etc. . .. höchstmißfällig vernommen, daß bey denen hohen und niedern Justitz-Collegiis über Bagatellen und Kleinigkeiten, nicht allein schriftliche Processe, sondern auch verschiedene Remedia verstattet werden, wodurch Dero Unterthanen sich gezwungen sehen, entweder wegen der enormen Kosten, die Sachen liegen zu lassen, oder mehr darauf, als selbige werth sind, zu verwenden; Und dann Allerhöchstdieselben diesem Mißbrauch gäntzlich abgeholfen wissen wollen." Das Edikt, mit welchem dem königlichen Willen entsprochen wurde, ist vielleicht Coccejis wichtigstes Werk auf dem Gebiet des Zivilprozesses. Seine Bedeutung liegt in der Einführung eines Verfahrens ohne Advokaten mit dadurch zwangsläufig gesteigerter Richtermacht. Alle Bagatellsachen waren hinfort "ohne Advocaten, bei einem mündlichen Verhör ... . . . ex officio zu instruiren, und dieselbe ohne alle Kosten, und Verstattung der geringsten Weitläufigkeit auf einmahl abzuthun". Damit trat das Gericht mit den Parteien in unmittelbare Berührung. Zwar wurde das mündliche Verhör auch hier wieder zu Protokoll genommen, doch war durch die Ausschaltung der Advokaten allen Verzögerungen vorgebeugt. Der schleunigen Durchsetzung der Gerechtigkeit diente auch die ex officio stattfindende Instruktion des Prozesses, d. h. die Ermittlung des erheblichen Tatsachenstoffes durch das Gericht oder einen Deputierten. Wie dies im einzelnen geschah, ob durch eine umfassende richterliche 19 20
21
Vgl. Klemm, S. 305. Vgl. Stölzel, S. 39 ff. Bei Stölzel, S. 42.
2. Kap.: Der preußische Prozeß
70
Frage- und Aufklärungspflicht oder/und durch eine von Amts wegen erfolgende Beweisaufnahme, kann nur vermutet werden. Weißler 22 spricht bereits von "Inquisitionsmaxime", ohne dies näher auszuführen. Weitere Anhaltspunkte fehlen. Zumindest kann festgestellt werden, daß das Gericht in einer Art Tatsachen- und Rechtsgespräch mit den Parteien beide Seiten der Streitsache durchging und den Sachverhalt, wie im summarischen Prozeß des gemeinen Rechts, ex officio aufklärte. Das Edikt war von großer Bedeutung. Dies galt um so mehr, als unter Bagatellsachen solche Streitigkeiten verstanden wurden, welche "wenig oder nichts betragen, oder nur auf 50. Thaler und darunter sich belaufen". Dabei sollten die Zinsen bei Geldforderungen nicht eingerechnet werden. Wenn man bedenkt, daß ein Kammergerichtsrat zu jener Zeit zwischen 400 und 620 Talern im Jahr verdiente 23 , war die bei 50 Talern angesetzte Grenze recht hoch. Sie mag weit über die Hälfte aller Prozesse betroffen haben 24 • überdies sollte dasselbe Verfahren auch in Sachen über 50 Taler Streitwert stattfinden, falls eine Partei ohne Advokaten erschien. Mit Recht kann man das Edikt von 1739 als Vorläufer des Corpus Juris Fridericianum (CJF) und der AGO betrachten. Wie dort zu untersuchen sein wird, welches der Grund jener Neuerungen war, erscheint auch hier die Frage angebracht, was Anlaß für die ex officio erfolgende Instruktion des Edikts von 1739 gewesen ist. Dabei liegt die Antwort nahe, daß Cocceji und mit ihm der König glaubten, nur so die wahre Gerechtigkeit verwirklichen zu können. Gewiß hat diese Auffassung 25 einen wahren Kern. Doch war bis zum Jahre 1739 eine Unzahl von Verordnungen über den Zivilprozeß ergangen, ohne daß man auf den Gedanken verfallen wäre, den Richter ex officio das Verfahren instruieren zu lassen. Die eigentliche Ursache ist daher in anderer Richtung zu suchen. Viel spricht dafür, daß sie in der Abneigung des Königs gegen die Advokaten begründet lag. Die Meinung des Königs wie auch Coccejis über diesen Berufsstand kommt deutlich in dem Edikt betreffend die Verkürzung der Prozesse vom 19. März 1717 zum Ausdruck. Dort 26 heißt es: "So dienen auch die weitläufftige Allegationes und Disputationes des Advocaten zu nichts anders, als die Sachen nur immer mehr zu verwirren, den Richter confus zu machen, und durch Verlängerung der Processe von denen armen Partheyen desto mehr Geld zu erpressen." 22 23
24 25
26
S.325.
Weißler, S. 330. Schwartz, S. 477. Sie klingt bei Schwartz, S. 477 an. Ziff. I a. E,
I. Von der Kammergerichtsordnung zum Codex Fridericianus Marchicus
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In Verfolgung dieser Abneigung gegen die Advokaten ging der König rigoros gegen diesen, damals in der Tat zum Teil verkommenen Berufsstand vor. Zunächst schränkte er kurz nach seinem Regierungsantritt die Zahl der zugelassenen Advokaten und Prokuratoren rücksichtslos ein27 . Den nunmehr überzähligen Sachwaltern befahl er, "ein ander Profession anfangen". Für den Fall, daß sie sich weiterhin als Parteivertreter betätigten, sollten sie "gebrant-Marg werden und ewig in die Karre gespannet werden"28. Gleichzeitig ordnete der König an, daß die Adovkaten künftig einen langen schwarzen Mantel tragen sollten, widrigenfalls Zwangsarbeit die Strafe war29 . Da Kleiderordnungen damals häufig waren, war dieser Erlaß an sich nichts Ungewöhnliches. Der Mantel wurde von den Advokaten jedoch von Anfang an als entehrend angesehen. Es mag sein, daß eine dem König zugeschriebene Bemerkung30 über den Zweck des Mantels - "damit man die Spitzbuben schon von weitem erkennen und sich vor ihnen hüten kann" - an die Öffentlichkeit gedrungen war, worauf die Advokaten sich zur Wehr gesetzt haben werden. Dies würde auch die harte Strafandrohung für das Nichttragen des Mantels erklären31 • Die Advokaten ersannen hinfort immer neue Listen, um den Mantel nicht tragen zu müssen - umsonst, der König, der ihre Abneigung wohl kannte, bemerkte dies schnell. Bald trugen alle Advokaten die nach wie vor als schimpflich empfundene Tracht32 . Das führte naturgemäß dazu, daß der Stand in der allgemeinen Achtung noch mehr sank33 und sich kaum mehr anständige Advokaten fanden 34. Höhepunkt dieser königlichen Abneigung war die Verordnung vom 15. November 1739 35 • Der König hatte streng verboten, Suppliken, d. h. Gesuche um königliche Machtsprüche in einer rechtshängigen oder rechtskräftig entschiedenen Sache, über die Potsdamer Grenadiere - die Günstlinge des Königs - einreichen zu lassen. Als dies dennoch weiter geschah, befahl der König, alle Advokaten, die weiterhin gegen dieses Verbot verstießen, ohne Gnade neben einem Hunde aufhängen zu lassen. Mag diese Anordnung auch nur Folge schlechter Laune 36 oder Unmut über den Mißerfolg seiner Reformbestrebungen37 gewesen sein, ist sie doch letzter Beweis dafür, daß der König den Advokaten in keiner Weise 27 28 29
30 31 32
83 84
35 36
37
WeißteT, S. 297 ff. Zitiert nach WeißteT, S. 298. WeißteT, S. 310.
Acta Borussica VI, 1 S. 211.
WeißteT, S. 310 f. WeißteT, S. 311 ff. Vgl. WeißteT, S. 312. WeißteT, S. 313.
Abgedruckt in Kleins Annalen, 8. Bd., S. 255 f.
WeißteT, S. 322 f. WeißteT, Umbildung, S. 27.
72
2. Kap.: Der preußische Prozeß
gewogen war. Es war daher nachgerade zu erwarten, daß irgendwann ihre völlige Ausschaltung aus dem Prozeß als Hilfsmittel für die Gebrechen der Justiz angeordnet werden würde. Durch das Edikt vom 24. Februar 1739 war dies für den größten Teil der Prozesse geschehen. Man geht kaum fehl in der Annahme, daß der Ausschluß der Advokaten unmittelbar vom König oder doch von Cocceji in Kenntnis der königlichen Absichten veranlaßt worden ist. Notwendige Folge dieses Ausschlusses war die durch das Gericht ex officio erfolgende Instruktion des Prozesses. Notwendig deshalb, weil die Parteien allein eine selbständige Prozeßführung nicht hätten bewältigen können und sich in endlosen Streitereien verloren hätten. Negativ bleibt damit festzustellen, daß irgendwelche Klagen über eine vermeintliche "Grundlage" des bisherigen preußischen oder gemeinen Prozesses, denen man durch "Aufstellung" eines neuen "Prinzips" begegnen zu müssen glaubte, nicht Ursache der verstärkten Richtermacht gewesen sind, die das Edikt von 1739 zum ersten Mal in den preußischen Prozeß einführte. 4. Kurze Zeit nach Erlaß des bahnbrechenden Edikts über Bagatellsachen von 1739 erging am 12. November 1740 die "Declaration des Edicts von Bagatell-Sachen". Von einer ex officio durch den Richter vorzunehmenden Instruktion des Prozesses ist nicht mehr die Rede. Parteibevollmächtigte werden wieder zugelassen; das Verfahren wird auf einen Streitwert bis zu zehn Talern begrenzt. Damit waren alle Neuerungen des Edikts von 1739 gefallen. Die Verhandlung bewegte sich wieder in den alten Bahnen. Dies alles war nicht Folge der Tatsache, daß sich das Edikt nicht bewährt hatte. Dies festzustellen hätte die Zeit noch nicht ausgereicht. Die Deklaration war vielmehr Folge einer Intrige der alten Gegner Coccejis, insbesondere des Etatministers von Arnim38 • Ihnen war es gelungen, nach dem Tode Friedrich Wilhelms 1., dessen Vertrauen Cocceji genossen hatte, den neuen König davon zu überzeugen, daß Coccejis Schöpfung untauglich sei3D • Doch bald hatte dieser auch das Vertrauen Friedrichs 11. erlangt40 • Als der König das Ausmaß der notwendigen Verbesserungen des Justizwesens erkannt hatte, verlangte er sogleich eine umfassende Reform41 • Kein anderer als Cocceji konnte dies vollbringen. Ergebnis verschiedener Vorarbeiten42 war das am 3. April 1748 erschienene "Project des Codicis Fridericiani Marchici". Obwohl der Codex seinem Titel gemäß nur ein Plan war, befahl Friedrich allen Gerichten des Landes, Klemm, S. 317; vgl. auch Stölzel, S. 131 ff. Vgl. Stölzel, S. 144. 40 Vgl. Stölzel, S. 145 ff. 41 Kabinettsordre vom 12. Januar 1746; Zirkularreskript vom 14. Januar 1746; bei Kamptz 59, 72 f. 42 Dazu Abe{}{}, S. 62 ff. und die Aktenstücke bei Kamptz 59, 67-158. 38
39
I. Von der Kammergerichtsordnung zum Codex Fridericianus Marchicus
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bis auf weiteres ausschließlich danach zu verfahren43 • Damit wurde zum ersten Mal im ganzen Königreich Preußen nach einer Prozeßordnung vorgegangen. Auch der Codex Fridericianus Marchicus (CFM) ruht auf gemeinrechtlicher Grundlage. Doch spürt man überall Coccejis Bestrebungen, die Stellung des Richters zu stärken und an das Edikt 1739 anzuknüpfen. Im Titel II des 4. Teiles "Von Bagatell-Sachen" wird die Höhe des Streitwerts, bis zu der die Sache als Bagatelle gilt, wieder auf 50 Reichstaler festgesetzt (§ 9). Die Parteien konnten sich vertreten lassen, jedoch: "Wann der Citatus in Termino in Person erscheinet, muß er die ihm communicirte Klage mit dem Original-Decret produciren, seine Nothdurfft mündlich dargegen vorstellen, der Richter muß dessen Exceptiones ad protocollum nehmen, und die Sache ad duplicas usque instruiren, und keinen Advocat zulassen. Wann ein Theil durch einen Advocaten erscheinet, der andre in Person, muß das Verhör dadurch nicht aufgehalten werden, sondern wann des Advocaten Proposition ad protocollum genommen worden, muß der zur Aufnehmung des Protocolli deputirte Rath dem andern Theil alle angeführten Umstände und Rationes deutlich vorstellen, was er dargegen in facto vorstellen kan, von ihm vernehmen, die Jura suppliren, folglich des Indefensi Nothdurfft ex Officio beobachten, und wann solchergestalt duplicando geschlossen, in der HauptSache nach Recht und Billigkeit erkant werden" (§ 8). Deutlich erkennt man in diesen Vorschriften das Bemühen, unter Ausschließung der Advokaten den unmittelbaren Verkehr zwischen Gericht und Parteien zu ermöglichen. Von dieser Absicht zeugen auch zwei andere Regelungen, aus denen gleichzeitig die Gründe für die verstärkte amtliche Tätigkeit des Richters erhellen. So mußte zu Beginn eines jeden Prozesses ein Güteversuch unternommen werden (4. Teil Tit. VII § 1)44. Erschienen die Parteien dazu persönlich, sollten deputierte Richter sie "mit ihrer Nothdurft hören, ihre Documenta und Briefschaften nachsehen, den gantzen Process ex officio instruiren" (4, VII, § 3). Hatte der Deputierte "die völlige Information eingenommen", machte er Vorschläge zur Güte (4, VII, § 4). Für das Verfahren vor den Untergerichten wurden diese Bestimmungen modifiziert. So schrieb 3, IV, § 11 den Richtern vor: "Sie müssen so viel möglich die Partheyen ohne Advocaten vornehmen, die Güte unter ihnen versuchen, in deren Entstehung aber beyder Theile Vorbringen ad Protocollum nehmen, und insbesondere den Kläger, wann ihm an der Klage etwas abgeleugnet wird, wie er den Beweis führen wolle, umständlich befragen, auch, nach beschehener Erklärung, demselben was er beweisen müsse deutlich vorschreiben. Welches der Richter auch bey denen von dem Beklagten zu erweisenden Exceptionen beobachten, und solchergestalt beyder Theile Jura in das gehörige 43 Zirkularreskript vom 4. April und Edikt vom 15. Oktober 1748, bei Kamptz 59, 157 f. und CCM Cont. IV Nr. XXXI Sp. 83. 44 Zitierweise im folgenden: Teil, Titel, Paragraph.
2. Kap.: Der preußische Prozeß
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Licht setzen, und den gantzen Process ex Officio dergestalt instruiren muß, daß, wann die Güte nicht verfangen will, definitive darin erkannt werden könne." 3, IV, § 13 bestimmte für den Fall, daß eine Partei ohne, die andere mit Rechtsbeistand erschien: "Es muß dadurch ... das Verhör nicht aufgehoben werden, sondern der Richter muß den Advocaten abweisen, und den Process nach Pflicht und Gewissen ex Officio instruiren, und rechtlichen Bescheid darüber erteilen." In diesen Bestimmungen glaubte man später, bereits eine "ratio inquisitionis" zu erblicken 45 • Indessen sind die vorgenannten Vorschriften nichts anderes als eine Fortführung der Ansätze, wie sie das Edikt 1739 und auch die KGO 1709 enthalten hatten. So heißt es auch im CFM wieder: "Bey Unserem Cammer-Gericht sollen alle vorkommende Sachen summariter gehöret, und keine, ohne besondere Erkäntniß, ad processum ordinarium verwiesen werden" (3, V, § 1). Hier fand sich als Regel ausgesprochen, was im gemeinen Prozeß nur beim Verfahren vor dem Einzelrichter im summarischen Prozeß möglich war46 • Grund für die verstärkte Richtermacht war das Streben nach Beschleunigung der Prozesse und - wiederum - die Abneigung gegen die Advokaten, die jedem unmittelbaren Kontakt zwischen Gericht und Parteien im Wege standen. Hinzu kam, daß jedem Prozeß ein Versuch der Güte vorausgehen mußte. Sollte hier wirklich etwas erreicht werden, konnte man nicht die Parteienvertreter über einen Ausgleich verhandeln lassen. Hier wäre es bald wieder zum Streit gekommen. Der Richter mußte der Sache vielmehr von Anfang an selbst ex officio und möglichst ohne Advokaten auf den Grund gehen und herausfinden, wie die Angelegenheit sich nach den Parteivorträgen wirklich verhielt. Erst dann - nachdem "solchergestalt die völlige Information eingenommen" (4, VII, § 4) - konnte er Vergleichsvorschläge machen. Sollten diese nicht verfangen, wurde die Sache zur Erledigung im normalen Prozeßgang verwiesen. Dabei war es nur folgerichtig, daß das Instruktionsprotokoll des mit dem Güteversuch beauftragten Richters der Fortführung des weiteren Prozesses diente (4, VII, § 5). Für den Untergerichtsprozeß hatten die Vergleichsverhandlungen darüber hinaus die Bedeutung, daß die während des Gütetermins ex officio erfolgte Instruktion des Prozesses bereits den gesamten Sachverhalt erfassen sollte, damit danach entweder sofort Beweis erhoben oder definitiv erkannt werden konnte (3, IV, § 11)47. In dieser Funktion stellt sich der Güteversuch als eine der wichtigsten Ursachen für die Prozeßinstruktion von Amts wegen dar4 8 • 45 48
Gaebler, S. 30. Abegg, S. 70.
47
Man vgl. denselben Gedanken in § 499 c ZPO in der Fassung der Novelle
48
Vgl. Schwartz, S. 491 f.
1933.
11. Das Corpus Juris Fridericianum von 1781
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Der andere Grund - die Abneigung gegen die Advokaten - manifestierte sich im CFM in einem eigens diesem Berufsstande gewidmeten Titel mit 61 Paragraphen (1, XIV). Hier schrieb man den Parteibeiständen genau vor, wann Rechtsstreitigkeiten zur Vertretung angenommen werden mußten und wann sie abgelehnt werden durften. Auch die Pflichten der Advokaten gegenüber den Parteien wurden bis ins einzelne festgelegt. Zur Einhaltung dieser Bestimmungen sollte es dem Gerichtspräsidenten jederzeit unbenommen bleiben, Einsicht in die Privatakten der Advokaten zu nehmen (1, XIV, § 14). Hieraus erhellt, daß die Advokaten weniger als selbständige, unter eigener Verantwortung tätige Berater der Parteien, denn als Helfer des Gerichts mit beamtengleichen Pflichten, als - so ist man mit einem heutigen Ausdruck zu sagen geneigt - mit öffentlichen Aufgaben Beliehene betrachtet wurden 49 • Auch dies war Folge einer Entwicklung, die von den zahlreichen Strafandrohungen gegen die Advokaten seit der KGO 1709 ihren Weg über die Abschaffung der Rechtsbeistände durch das Edikt 1739 bis zur Erkenntnis des CFM genommen hatte, daß Advokaten unentbehrlich seien, ihren schädlichen Neigungen aber scharf begegnet werden müsse. Durch ihre Eingliederung in ein beamtenähnliches, jedoch nur Pflichten enthaltendes Verhältnis glaubte man dies erreichen zu können. Die staatliche Bindung der Sachwalter, die hier ihren Anfang nahm, sollte bis zum Jahre 1879 in Preußen erhalten bleiben50 •
11. Das Corpus Juris Fridericianum von 1781
23 Jahre nach dem Inkrafttreten des Codex Fridericianus Marchicus erschien am 26. April 1781 das "Corpus Juris Fridericianum Erstes Buch von der Prozeß-Ordnung"1. Danach waren die Advokaten alter Art fortan aus dem Verfahren verbannt. Der Richter sollte "die Wahrheit von Amts wegen aufzusuchen schuldig" sein 2• Für den gesamten Prozeß war verwirklicht, was die KGO 1709 angedeutet, das Edikt von 1739 für Bagatellsachen und der Codex von 1748 für das Verfahren vor den Untergerichten 49
50
Vgl. Schwartz, S. 493. Döhring, S. 115.
1 Zur Vorgeschichte des Gesetzes Weißler, Umbildung, S. 45 ff. Weißler beschreibt ausführlich den Kampf, der sich seit 1774 zwischen dem damaligen schlesischen Justizminister v. Carmer und dem Großkanzler v. Fürst um die Einführung der neuen Prozeßordnung abspielte. Weißler kann sich dabei auf die gesamten Materialien zur AGO stützen, die sich in den Akten des preußischen Justizministeriums befinden. Allgemein zugängliche Quellen sind heute nur noch die Aktenstücke bei Kamptz 58 (1842) S. 3 ff. und der Bericht Simons in der Allgemeinen Juristischen Monatsschrift für die Preußischen Staaten Bd. 11 (1811) S. 191 ff. 2 Vorbericht zum CJF S. XXIV.
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eingeführt hatte: die Instruktion des Prozesses durch den Richter ex officio. 1. Kernstück der neuen Prozeßordnung war die Abschaffung der Advokaten und die Einführung sogenannter Assistenzräte. Sie nahmen eine merkwürdige Zwitterstellung zwischen Richtergehilfen und Parteivertretern ein, waren aber fest besoldete und beamtete Gerichtspersonen. überhaupt überwog ihre Funktion als Richtergehilfen. Den Parteien hatten sie nur noch gegen etwaige Mißbräuche des richterlichen Amtes beizustehen3 • Ansonsten war ihre Stellung, wie es der Vorbericht zum CJF ausdrückt4, "in so fern, als von der Untersuchung des Facti die Rede, ein würkliches richterliches Amt. Sie sind also keineswegs Söldner und bloße Sachwalter der Partheyen, sondern Beystände und Gehülfen des Richters; deren Pflicht es wesentlich mit sich bringt, das Gericht in seinen Bemühungen zur Ausmittelung der Wahrheit zu unterstützen ... "
Eine Verdeutlichung der Funktion der Assistenzräte mag eine Beschreibung des Verfahrens nach dem CJF bringen. Es beginnt mit der Anmeldung der Klage (1, 2, §§ 1 ff.). Danach wird, sofern der Streitwert über 100 Taler beträgt (2, 2, § 31), "zur würklichen Aufnehmung der Klage" ein Assistenzrat ernannt. Bei diesem hat sich der Kläger zur näheren Vernehmung einzufinden (1, 2, § 11). Der Assistenzrat hat die Aufgabe, sämtliche mit der Klage in Zusammenhang stehenden Tatsachen vom Kläger zu erfragen (1, 3, §§ 1, 4). Gleichzeitig hat er zu ermitteln, wie dieser im Falle, der Beklagte leugne dessen Behauptungen, Beweis führen könne, und sich die Beweismittel angeben zu lassen (1,3, § 5). über all dies wird ein ausführliches Informationsprotokoll aufgenommen (1, 3, § 1). Schließlich ermahnt der Assistenzrat den Kläger zur Wahrheit (1, 3, § 7) und reicht das Informationsprotokoll nebst seinen Akten und einem Hauptbericht über die Klage dem Gericht ein (1, 4, § 1). Dort wird die Klage von einem Dezernenten in der nächsten Sitzung vorgetragen (1, 4, § 1). Ist an ihr nichts auszusetzen, wird sie dem Beklagten samt Beilagen zugestellt (1, 4, § 8). Will dieser es auf einen Prozeß ankommen lassen, wird wiederum ein Assistenzrat bestimmt, der den Beklagten in gleicher Weise wie vorher den Kläger vernimmt (1, 4, § 9 Ziff. 2; 1, 7, §§ 1 ff.). Der Assistenzrat reicht den erstellten Hauptbericht nebst Informationsprotokoll dem Gericht ein (1, 7, § 14). Dieses teilt den Bericht dem Kläger abschriftlich mit und setzt zugleich Termin zum weiteren Verfahren an (1, 8, § 6). Dieser Termin wird durch einen Deputierten des Richterkollegiums wahrgenommen (1, 8, § 7). Er hat die Instruktion der Sache vorzunehmen, das heißt in der Sprache des Gesetzes, "mit Zuziehung der Aßistenzräthe, 3
«
Vorbericht s. XXVI. S.XXV.
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durch vollständige Auseinandersetzung des Facti, Regulirung des Status controversiae und Aufnehmung der Beweise" die Angelegenheit aufzuklären (1, 10, § 1). Alles, was dazu erforderlich ist, kann der Deputierte ex officio verfügen. Die Parteien müssen seinen Anweisungen Folge leisten (1, 10, § 2). Ziel des Instruktionstermins ist Aufstellung eines "status causae et controversiae". Zu diesem Zweck geht der Deputierte mit bei den Parteien die beiderseitigen Darstellungen der Tatsachen durch, klärt durch Fragen Zweifel auf und läßt nicht eher davon ab, "als bis bey jedem Punkt vollkommen deutlich und zuverläßig ausgemittelt ist: was die Partheyen einander davon zugestehen, oder ableugnen" (1, 10, § 10). Dies wird zu Protokoll genommen (1, 10, § 11). Die Assistenzräte haben dabei den Deputierten zu kontrollieren, ob er nichts übersehen und alles aufgeklärt hat (1, 10, § 12). Darauf stellt der Deputierte unter Zuziehung der Assistenzräte fest, was von den streitig gebliebenen Tatsachen als entscheidungserheblich des Beweises bedarf (1, 10, § 13). Danach wird unverzüglich zur Beweisaufnahme geschritten (1, 10, § 14). Nur falls eine Partei oder ein Assistenzrat die Erhebung eines Beweises für überflüssig hält, erfolgt die Beweisaufnahme erst nach entsprechender Entscheidung des Kollegiums (1, 10, § 15 i. V. m. § 3). Ist die Instruktion der Sache durch Aufnahme der Beweise abgeschlossen und der obligatorische Sühneversuch gemacht, geben die Assistenzräte die Rechtsausführungen zugunsten ihrer jeweiligen Partei zu Protokoll (1, 12, § 1). Danach werden sämtliche Akten zur Abfassung des Urteils vorgelegt (1, 12, § 8). Zu diesem Zweck bestellt der Vorsitzende des Richterkollegiums einen Referenten (1,13, § 1), auf dessen Votum - "cum rationibus dubitandi et decidendi" - die Entscheidung ergeht (1, 13, §§ 5, 7). Sie wird mit der Mehrheit der Stimmen getroffen (1, 13, § 7). Diesem Gang des Prozesses liegt das sogenannte Verfahren inter ab sentes zugrunde (1, 9, § 1), d. h. eine oder beide Parteien haben ihren Wohnsitz nicht am Gerichtsort. Dieselben Grundsätze gelten aber auch für das Verfahren inter praesentes, d. h. wenn beide Parteien am Gerichtsort oder doch in der Nähe wohnen (1, 9, § 2). Bei den Untergerichten werden die Vorschriften des ersten Teils der Prozeßordnung ebenfalls angewandt (2, 1, § 1). Nur bei denjenigen Untergerichten, an denen wegen des eingeschränkten Umfanges ihrer Jurisdiktion keine Gerichtsassistenten oder Assessoren angestellt sind (2, 1, § 2), übernimmt der Richter allein die Instruktion des Prozesses (2, 1, § 41). Abweichungen finden sich auch im Bagatellprozeß. Als solcher wird ein Verfahren mit einem Streitwert bis zu 50 Talern angesehen (2, 2, § 1). Assistenzräte sind hier ausgeschlossen und nur Deputierte tätig (2, 2, §§ 4, 20). Dasselbe gilt für Sachen mit einem Streitwert bis zu 100 Talern (2, 2, § 31). 2. Welches waren die Gründe für die Einführung des neuen Verfahrens? Es liegt nahe, das Streben nach materieller Wahrheit als Trieb-
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feder der Reform anzusehen. In der Tat lassen Formulierungen der Schöpfer des CJF an diese Ursache denken 5 • Indessen gehen diese Erwägungen fehl. Zwar war den preußischen Juristen der Unterschied von förmlichem und wirklichem Recht bekannt6 , doch war es ihnen nie eingefallen, formelles und materielles Recht als umfassende und ursprüngliche Kategorien einander entgegenzusetzen, geschweige denn eine Prozeßordnung danach zu entwerfen7 • Die preußischen Justizreformer des 18. Jahrhunderts, von Friedrich Wilhelm 1. und Cocceji bis zu Friedrich H. und Carmer, strebten alle nach Wahrheit, womit die tatsächliche - in der Doktrin des 19. Jahrhunderts - materielle Wahrheit gemeint war. Die Tatsache, daß auf Grund menschlichen Irrtums bisweilen ein Fall falsch entschieden wurde, nahm man nach der Regel "res judicata pro veritate habetur" hin. Doch war dies nur ein casus fortuitus, der tunlichst zu vermeiden war 8 • Der Gedanke, Ziel des Prozesses könne lediglich formelle Wahrheit sein, war dem preußischen Juristen des 18. Jahrhunderts fremd. Für ihn gab es nur eine Wahrheit als Ergebnis des Rechtsstreits. In diesem Sinne mag das Streben nach wahrer Gerechtigkeit als Ziel und Ursache der Justizreform von 1780 angesehen werden. Das aber war Sinn jeder preußischen Rechtserneuerung, ohne daß man sich bisher in den zahlreichen Prozeßgesetzen veranlaßt gesehen hätte, eine ex officio erfolgende Prozeßinstruktion für den gesamten Prozeß einzuführen. Vergleicht man die zahlreichen Reskripte, Kabinettsordres, Immediatberichte und Pläne, welche von den beiden Hauptbeteiligten der Justizreform - Friedrich und Carmer - erhalten sind, fällt eines auf: von der neuen Stellung des Richters ist immer und nur dann die Rede, wenn vorher das Übel der Advokaten gegeißelt worden ist. Wie schon beim Edikt 1739 ist daher die Advokatenfrage eigentliche Ursache des neuen Verfahrens gewesen. Bestätigt wird diese Behauptung, wenn man Carmers und des Königs Ansichten über die Parteivertreter betrachtet. Carmer hatte bereits 1750 als neunundzwanzigjähriger Kammergerichtsreferendar den Gedanken aufgegriffen, die Advokaten abzuschaffen. Aufgegriffen deshalb, weil einmal Cocceji ihm gegenüber diese Möglichkeit geäußert hatte9 , zum andern dieser Vorschlag in verschiedenen Schriften jener Zeit vertreten wurde 1o . Carmer, der 1739 in Jena und seit 1740 in Halle studiert hatte, wo Justus Henning Boehmer lehrte, 3 Plan Carmers vom 18. August 1774, bei Weißler, Umbildung, S. 51 (52); Immediatbericht Carmers vom 14. Januar 1776, bei Kamptz 58, 48 (51); Briefwechsel, 3. Heft S. 23. e Vgl. Briefwechsel, 3. Heft S. 3. 7 Vgl. Daniels, S. 427 Fn. 1 (S. 445). 8 Daniels, ebenda. 9 Weißler, Umbildung, S. 46. 10 Angeführt bei Weißler, S. 350.
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dürften überdies c. 14 X 2,1- "Statuimus praeterea, ut Principales personae non per Advocatos, sed per se ipsas factum proponant ... " - und die sich ebenfalls gegen die Ränke der Advokaten richtenden Worte der Clementine saepe bekannt gewesen sein. Den nächstliegenden Anknüpfungspunkt indessen bot das Bagatell- und Untergerichtsverfahren in Preußen, in dem weitgehend ohne Advokaten mit den Parteien mündlich verhandelt wurde. Diesen Vorbildern folgend, gelang es Carmer noch im Jahre 1750, auf Befehl des Königs fünfzehn verwickelte Prozesse zwischen denselben Parteien binnen acht Tagen zu Ende zu bringen ll , obschon die Advokaten hier noch nicht völlig ausgeschlossen waren l2 • Dies traf erst bei Carmers Instruktion vom 4. September 1770, die Prozesse zwischen Untertanen und Herrschaft betreffend, zu 13 • Kennzeichnend für Carmers Ansichten über die Advokaten ist es, wenn er schreibt l4 : "Es ist natürlich, daß man zur richterlichen Beurtheilung eines Rechtsstreits eine vollkommene Kenntniß von dem wahren Zusammenhang der Sache haben müsse, und daß ohne solche eine richtige Applikation der Gesetze unmöglich sei. Nach unserer Prozeßordnung bekommt der Richter die Acta nicht eher in die Hände, als bis die Advokaten von beiden Theilen den Rechtshandel durch tausend Erdichtungen und Drehungen in die äußerste Verwirrung gesetzt haben; und alsdann sind die Uebel ... unvermeidlich." Nach Carmers Worten an anderer Stelle 15 wenden die Advokaten alle Kunstgriffe an, "den Tatbestand zu verdunkeln, den Umständen desselben eine unrichtige Wendung zu geben, die Aufmerksamkeit des Richters durch unvollständige, zweideutige oder unerhebliche Erzählungen zu zerstreuen, solche von dem wahren Gesichtspunkte abzulenken und durch dergleichen künstliche Verbergungen der Wahrheit die Gegenpartei um ihr Recht zu bringen oder doch jahrelang hinzuziehen". Auf diese Weise erfahre der Richter von den Tatsachen nichts, als was die Advokaten ihm zu sagen für gut befänden l6 • Trotz aller Verordnungen sei diesem übel nicht abgeholfen worden. Auch ein richterliches Fragerecht könne nichts mehr ausrichten l7 • So erschien Carmer als einzig brauchbares Heilmittel die Abschaffung der Advokaten in der Form, wie man sie bisher gekannt hatte. Zu denselben Ansichten war im Laufe der Zeit der König selbst gekommen lS • Bereits 1742 hatte er, über die Reformen seines Vaters und Immediatbericht Carmers vom 18. August 1774, bei Kamptz 58, 6 (7). 12 WeißleT, Umbildung, S. 50. 13Immediatbericht Carmers vom 18. August 1774, bei Kamptz 58, 6 (7). 14 Immediatbericht vom 18. August 1774, bei Kamptz 58, 6 f. 15 Entwurf einer Prozeßordnung vom 18. August 1774, bei WeißteT, Umbildung, S. 51. 16Immediatbericht Carmers vom 14. Januar 1776, bei Kamptz 58,48 (50). 17 Ebenda. 18 Dohm, S. 264, bezeichnet den Ausschluß der Advokaten als Lieblingsidee Friedrichs, ohne dies näher auszuführen. 11
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2. Kap.: Der preußische Prozeß
die einschneidende Zurückdrängung der Advokaten wohl unterrichtet, vorgeschlagen, diese auf ein festes staatliches Gehalt zu setzen 19. 1745 hatte Friedrich den Gedanken wiederholt 20 • Beide Male war es bei dem bloßen Vorschlag geblieben. In seiner 17512 1 erschienenen "Dissertation sur les raisons d'etablir ou d'abroger les loix" wandte sich der König gegen die verführerischen Redekünste der Advokaten22 • Im Laufe der Zeit steigerte sich sein Unmut und äußerte sich in einer Vielzahl von Erlassen23 • Seinen Höhepunkt erreichte er in der berühmten Kabinettsordre vom 14. April 1780 24, in welcher der König sowohl die Abfassung einer Prozeßordnung als auch die Kodifikation des Privatrechts anordnete. Dort heißt es25 : "Es ist wider die Natur der Sache, daß die Partheyen mit ihren Klagen und Beschwerden von dem Richter nicht selber gehört werden, sondern ihre Nothdurft durch gedungne Advocaten vorstellen sollen. Diesen Advocaten ist sehr daran gelegen, daß die Prozesse vervielfältiget und in die Länge gezogen werden; denn davon dependirt ihr Verdienst und ihr ganzes Wohl. Selbst der redliche Mann unter ihnen, welcher mit Hintansetzung seines Interesse, die Pflichten eines guten Bürgers zu erfüllen wünschte, darf als Kläger oder Beklagter nicht offenherzig zu Werke gehen, weil sein Gegner eine umständliche Erzählung des Facti dahin mißbrauchen könnte, ihm eine Menge Beweise auf den Hals zu schieben, und ihn dadurch in ein Labyrinth zu führen, aus welchem er sich ohne Gefahr oder Verlust seines Rechts kaum wieder herauswickeln würde. Denn wenn der Richter die Acten nicht eher in die Hand bekommt, als bis die Advocaten durch ihre Schriftsätze das Factum verdreht und verdunkelt oder mangelhaft vorgetragen haben, so ist es sehr natürlich, daß der Urtelsfasser den rechten Gesichts-Punct verliert, folglich auf unadäquate Beweise erkennet, und weil er auf dem eingeschlagenen irrigen Wege fortgehen muß, oft wider seine Ueberzeugung am Ende ein offenbar ungerechtes Urtel zu sprechen genötigt ist. Ich kann kaum glauben, daß jemalen einer der alten und vernünftigen Gesetzgeber auf die Gedanken gerathen seyn könne, eine dergleichen unnatürliche Prozeßordnung statuiren zu wollen, und vermuthe vielmehr, daß die Barbarey späterer Zeiten, und die Bequemlichkeit der Richter, diese Mißgeburt veranlaßt haben. In der römischen Geschichte finde Ich nichts, so Mich ein anderes vermuthen ließe. Die Richter bey den Römern mußten erst die Sache in Facto selbst untersuchen, ehe die von den Partheyen bestellten Redner angehört und das Urthel gesprochen wurde; und wenn es wahr ist, daß auch die päbst10 Kabinettsordre an Cocceji und Arnim, in Acta Borussica VI, 2 S. 309 (315 f.). 20 Kabinettsordre an Cocceji und Arnim, in Acta Borussica VI, 2 S. 853. U In zweiter Auflage. 22 S. 395 f. 23 Instruktion vom 2. Oktober 1746, bei Kamptz 59, 94 (95); Reskript vom 4. Oktober 1746, bei Kamptz 59, 111 (113 ff.); Konstitution vom 31. Dezember 1746, bei Kamptz 59, 118 (120); Kabinettsordre vom 28. September 1775, bei Kamptz 58, 12; Marginalie zum Bericht Fürsts vom 14. Dezember 1775, bei Kamptz 58, 15; Kabinettsordre vom 4. Januar 1776, bei Kamptz 58, 34 unter b. 24 NCC 6. Bd. Nr. XIII Sp. 1935 ff. und als Vordruck zum CJF S. III ff. 2. S. VI f. (im folgenden zitiert nach dem Vordruck zum CJF).
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lichen Gesetze ausdrücklich verordnen, daß der Richter das Factum untersuchen, und die Advocaten nur die Rechte der Partheyen defendiren sollen, so wird meine obige Vermuthung zur Gewißheit." Aus den letzten Worten des Königs ist offenbar zu schließen, daß Carmer ihn über diejenigen Stellen des römischen und kanonischen Rechts unterrichtet hatte, welche die Befugnisse des Richters bei der Aufklärung und Ermittlung des Sachverhalts betonten. Friedrich hatte damit das Bewußtsein, in seiner Abneigung gegen die Verdrehungskünste der Advokaten von der Geschichte selbst gestützt zu werden. Bei der gemeinsamen Abneigung des Königs und Carmers gegen die Advokaten mögen auch soziale Gesichtspunkte mitgespielt haben26 . Die Existenz von Advokaten führte nach Ansicht der Reformer nicht nur zu dem übel langer Prozesse, sie stand auch einer gleichen Rechtsprechung für alle Untertanen im Wege. Der Begüterte kam eher zu seinem Recht als der Minderbemittelte, der sich, wenn überhaupt, nur einen der weniger begehrten Sachwalter leisten konnte. Zu oft mag es bei einer solchen Ungleichheit vorgekommen sein, daß der geschicktere Advokat nicht dem Recht, sondern seinem Mandanten zum Sieg verhalf. Nach dem Willen der Reformer sollte der Prozeß aber kein Kampf sein, in dem "Kunst, Witz und Verschlagenheit eines geschickten Sachwalters" an Stelle von Wahrheit und Recht die Oberhand behielten27 ; kein Schachspiel, bei dem "gemeiniglich der minder geübte von dem geschicktern überwältigt wird"28. Als sich seit dem Ende des Jahres 1779, nicht ohne Zutun des MüllerArnoldschen Prozesses 29 , welcher die Entlassung Fürsts und die Ernennung Carmers zum Großkanzler zur Folge hatte, die Ideen Friedrichs und Carmers allmählich vereinigten 30, mußten die Advokaten fallen. Die neue Gestaltung des Verfahrens war, wie beim Edikt 1739, nur noch Folge ihres Ausschlusses aus dem Rechtsstreit3 !. Ihre bisherige Tätigkeit Vorbereitung des Prozesses und maßgebliche Mitwirkung daran konnte nicht ersatzlos fortfallen, sondern mußte weiterhin ausgeübt werden. Carmer übertrug diese Aufgaben dem Richter. Er wurde nun zur Hauptperson des Verfahrens. War ihm diese Funktion einmal übertragen, ergaben sich neue unabweisbare Konsequenzen, welche Carmer zog, der König aber nicht erkannte. Friedrich hatte es in seiner Kabinettsordre vom 14. April als seinen ernstlichen Willen bezeichnet, "daß der Richter künftig die Partheyen mit ihrer Klage und Verantwortung selber hören, ihre Erzählungen und 26 27 28 2ß
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Dies kommt insbesondere im Briefwechsel, 3. Heft S. 135 f., zum Ausdruck. Briefwechsel, 3. Heft S. 135. Briefwechsel, 2. Heft S. 19. Dazu Bornhak, S. 253 ff. Vgl. Kabinettsordre vom 6. April 1780, bei Kamptz 46,225. Dies sollte später Mittermaier, Prozeß I, S. 34 ff. deutlich erkennen.
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mitzubringenden Beweisthümer gegeneinander halten, und so den wahren Zusammenhang der Sache, welche zu dem Rechtsstreit Anlaß gegeben, eruiren ... solle"32. Der König hatte damit den erkennenden Richter gemeint33 und - juristisch unbewandert, wie er war34 - geglaubt, dieser könne sich durch bloßes Anhören der Parteien und "Gegeneinanderhalten" ihrer Beweismittel von der tatsächlichen Bewandtnis der Tatsachen überzeugen. Carmer hingegen hatte schon früh erkannt, daß durch die Ausschaltung der Advokaten die Ermittlung des Sachverhalts notwendig zu einer umfangreichen Aufgabe des Richters wurde. Mußte diese Tätigkeit aber integrierende Funktion des richterlichen Amtes sein, genügte es nicht, dem Richter nur ein Frage- und Aufklärungsrecht zu geben, wie es dem König vorgeschwebt haben mag. Vielmehr mußte die gesamte Aufbereitung des der Entscheidung zugrunde zu legenden Tatsachenstoffes dem Richter übertragen werden. Nur so konnten die Parteibeistände ersetzt werden. Das hatte zur Folge, daß nicht das erkennende Richterkollegium diese Aufgabe übernehmen konnte, sondern ein deputierter Richter dafür eingesetzt werden mußte. Dieser konnte jene Aufgabe erfüllen, ohne gleichzeitig schwierige Rechtsprobleme lösen zu müssen; umgekehrt konnten sich die übrigen Richter auf diese beschränken. Indem Carmer die Konsequenzen des Ausschlusses der Advokaten erkannte, mußte er bei der Gestaltung des Verfahrens weiter gehen, als es den Vorstellungen des Königs entsprach. Nur so ist die Diskrepanz zwischen der Kabinettsordre vom 14. April 1780 und ihrer Ausführung durch das CJF selbst zu verstehen35 • Aus alledem erhellt, daß es die Advokatenfrage war, welche das neue Verfahren des CJF veranlaßt hat. Der Ausschluß der alten Sachwalter zog eine Kette von Folgen nach sich, deren erste und wichtigste die Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen war. Deutlich kommt dies in dem von dem bedeutenden Mitarbeiter Carmers Svarez 36 und dem Oberjustizrat Baumgarten zur Propagierung des CJF geschriebenen fingierten Briefwechsel zum Ausdruck. Dort heißt es zur Begründung der Reform37 : "Die Maschine mußte gänzlich aus einander genommen, und neu zusammen gesetzt werden, wenn sie die intendirte ... Richtung erhalten sollte. Den gewesenen Advokaten wurde daher alle Einmischung in das Instruktions-GeS. VII. Gaebler, S. 52. 34 Vgl. Wolf, S. 444. 35 Hieraus erhellt auch, daß Carmer diese Kabinettsordre nicht selbst entworfen hat, wie Stölzel, Svarez S. 156, behauptet. Dagegen spricht ebenfalls, daß das Konzept der Ordre nach Stölzels Angaben nicht vorliegt. 36 über ihn Stölzel, Svarez. 37 3. Heft S. 44 f. 32
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II!. Die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793
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schäfte neuer Sachen untersagt. Dadurch verlohr der Richter den Stab, auf welchen er sich bisher aus Gewohnheit und Bequemlichkeit gelehnt hatte. Er mußte nun selbst gehn und seine eigne Kräfte brauchen lernen." Mit anderen Worten: der Richter mußte den Sachverhalt deshalb ex officio ermitteln, weil die Advokaten ihm keinen Tatsachenstoff mehr lieferten. 111. Die Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten von 1793 Am 6. Juli 1793 erteilte Friedrich Wilhelm H. das Patent zur Publikation einer revidierten Prozeßordnung, die unter dem Namen "Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten" (AGO) in den Jahren 1794/95 im Druck erschien. Sie brachte-in der Gestalt beamteter "Justizkommissare" - die Wiederzulassung der Advokaten als echte Parteivertreter. Damit hielt ein Berufsstand seinen Einzug in das Verfahren, dessen Ausschluß zwölf Jahre vorher zum CJF mit seiner richterlichen ex-officio-Instruktion geführt hatte. Wie ist diese erstaunliche Entwicklung zu erklären? 1. Bereits bei der Bekanntmachung des CJF hatten seine Verfasser die Absicht, das Gesetz nach einer gewissen Zeit der Erprobung einer Revision zu unterziehen1 . Bevor im Jahre 1791 damit begonnen wurde, schaffte man in der Zwischenzeit Schritt für Schritt und ohne dies zugeben zu wollen eine Einrichtung ab, die VOn Anfang an dem Unverständnis des Publikums, vor allem aber der Gesichtspraktiker begegnet war2 : die Assistenzräte.
Dieses Institut war der Erkenntnis des Königs und Carmers entsprungen, daß die Parteien zumindest zur Verteidigung ihrer Rechte eines Sachwalters im Prozeß bedürften. Freilich waren auch hier Friedrichs Vorstellungen und ihre Ausführung durch den Großkanzler auseinandergegangen. Der König hatte in seiner Kabinettsordre zu erkennen gegeben 3 , daß er die Advokaten alter Art abgeschafft wissen wollte. Dennoch sollte keiner Partei die Beiordnung eines "Rechts-Freundes" versagt werden, der im Interesse und zur Ausführung der Parteienrechte fungieren sollte. Dem Eigennutz dieser auch vom König so genannten Assistenzräte glaubte er durch Verwirklichung seines alten Gedankens - feste Besoldung - vorgebeugt. Carmer hingegen gab den Assistenzräten eine Stellung, wie er sie ihnen ähnlich schon in seinem Plan vom 18. August 1774 zugedacht hatte, was damals nicht die Billigung des Simon, S. 274. Vgl. Gneist, S. 11. a S. VIII f. 1
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2. Kap.: Der preußische Prozeß
Königs gefunden hatte 4 • Ihre Hauptaufgabe bestand darin, das Gericht bei der Feststellung des Sachverhalts zu unterstützen. Zugleich hatten sie auf die Rechtmäßigkeit aller Vorgänge zu achten und schließlich den Rechtsstandpunkt der Parteien auszuführen. Damit nahmen sie im Prozeß eine "doppelte Qualität" (3, 3, § 22) ein: zum einen Gehilfe des Gerichts, zum andern Parteibeistand. Diese Vereinung des Unvereinbaren zeitigte keine guten Folgen. Hatten die Assistenzräte bei der Aufklärung der Tatsachen ihres "würklichen richterlichen Amts"5 zu walten, waren sie verpflichtet, auch die einer Partei nachteiligen Fakten zu ermitteln (3, 3, § 26)6. Damit gewannen sie kaum das Vertrauen der Parteien, die daher mit ihrem Wissen zurückhielten7 • Oblag es ihnen als Beiständen der Streitenden, deren Rechtsstandpunkt zu verteidigen (3, 3, § 28), führte das mangelnde eigene Interesse dazu, daß dies nicht mit dem vom Gesetz geforderten Eifer und Nachdruck geschah. Zudem veranlaßte die Angst vor Bestrafung wegen falscher Ausführungen (3, 3, § 26) die Assistenzräte, ihre Funktion häufig ausschließlich als richterliche zu betrachten und die Ansprüche oder Einwendungen ihrer Partei als unbegründet hinzustellen8 • Diese Mißstände konnten nicht ohne Folgen bleiben. Sie äußerten sich darin, daß die Parteien sich mehr und mehr der Justizkommissare bedienten, um sich in Rechtsstreitigkeiten beraten zu lassen. Dieser Berufsstand war von Carmer geschaffen worden, um das N otariat neu zu ordnenD und gleichzeitig den Advokaten, die nicht als Assistenzräte übernommen wurden, die ihnen von Friedrich in seiner Kabinettsordre vom 14. April 1780 versprochene Entschädigung 10 zu gewähren. Obschon den Justizkommissaren die Erledigung außerprozessualer Angelegenheiten zugewiesen war (3, 7, § 4), trugen verschiedene Erlasse ihrem allmählichen, im Mißtrauen gegen die Assistenzräte begründeten Eindringen in den Prozeß, wenn auch widerstrebend, Rechnung. Das Reskript vom 8. Februar 1782 ließ sie an Stelle von Assistenzräten zum streitigen Verfahren wieder zu, falls die Parteien ausnahmsweise nicht persönlich zu erscheinen hatten. Durch Verordnung vom 19. März 1782 wurde es zur "Beruhigung mancher ängstlicher oder mißtrauischer Gemüther"l1 den Parteien erlaubt, nach Schluß der Instruktion die Akten 4 Protokoll Fürsts über die Audienz vom 4. Januar 1776, bei Kamptz 58, 23 (29). 5 Vorbericht S. XXV. 6 Ebenda. 7 Vgl. Zirkulare vom 20. September 1783, NCC 7. Bd. Nr. XLV Sp. 2395. 8 Vgl. Zirkulare vom 19. März 1782, NCC 7. Bd. Nr. XV Sp. 889 unter A 2 (Sp.891). 9 Vgl. WeißZeT, Umbildung, S. 120 ff. 10 S. IX f. 11 NCC 7. Bd. Nr. XV Sp. 889 Ziff. IV (Sp. 910).
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durch einen frei gewählten Justizkommissar durchsehen und von diesem Deduktionen einreichen zu lassen. Die Anlage zum Reskript vom 20. November 1782 ging noch weiter. Unter bestimmten Voraussetzungen wurden wiederum Justizkommissare als Parteibevollmächtigte zugelassen. Doch selbst wenn keiner dieser Ausnahmefälle vorlag, sollte der Deputierte die Instruktion der Sache mit dem statt der Partei erschienenen Justizkommissar versuchen12 • War in diesen Verordnungen die erlaubte Bevollmächtigung auf alte, kranke oder weit entfernt wohnende Parteien beschränkt, dehnte das Reskript vom 6. Januar 1783 diese Möglichkeit auf solche Fälle aus, in denen eine Partei wegen der Vielzahl ihrer Prozesse durch die Pflicht zu persönlichem Erscheinen ihre ganze Zeit hätte aufwenden müssen. Die letzte Schranke fiel durch das Zirkular vom 20. September 1783. Zwar bestand man weiter auf dem persönlichen Erscheinen der Parteien. stellte es ihnen jedoch frei, in jedem Fall einen Justizkommissar zum Prozeß mitzubringen. Der Zuordnung eines Assistenzrates bedurfte es dann nicht mehr13 • Das persönliche Erscheinen der Streitenden war damit nur noch Formsache. Die Advokaten hielten als beamtete Justizkommissare wieder Einzug in das Verfahren. Die Einrichtung der Assistenzräte war praktisch beseitigt l 4, da kaum eine Partei sich ihrer noch bediente. Zwar versuchte man, die Grundsätze des CJF mit der Anordnung zu erhalten, die Justizkommissare sollten sich wie früher die Parteien vernehmen lassen oder im Fall des Erscheinens der Parteien nur darauf achten, ob diese gehörig befragt wurden. Allein dies blieb Theorie. In der Praxis war der Vortrag des Tatbestandes Angelegenheit der Justizkommissare und damit der Advokaten geworden. Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, daß die instruierenden Deputierten oft angehende Richter waren, die sich auf diese Weise qualifizieren sollten, die Justizkommissare hingegen ältere, erfahrene Praktiker. Sie ließen sich von den jungen Deputierten nicht in die Rolle unkundiger Parteien drängen. Als 1791 die Revision des CJF begann, war von den Assistenzräten nicht mehr die Rede. Sie waren klanglos untergegangen. Dementsprechend nahm man diese Einrichtung nicht in die 1793 fertiggestellte AGO auf. Das Gesetz bestätigte, was die Praxis längst vollzogen hatte. 2. Das Verfahren der AGO war im Vergleich zu dem des CJF im wesentlichen dasselbe geblieben. Abweichungen ergaben sich aus der Tatsache der Abschaffung der Assistenzräte und der Zulassung von Justizkommissaren als Prozeßbevollmächtigte. 12
13 14
NCC 7. Bd. Sp. 1715 Ziff. 11 (Sp. 1718). NCC 7. Bd. Nr. XLV Sp. 2395 unter III 2 Sp. 2402 (2403). WeißteT, S. 358.
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2. Kap.: Der preußische Prozeß
Der Rechtsgang 15 beginnt wiederum mit der Anmeldung der Klage. Dies kann durch den Kläger persönlich oder durch einen Bevollmächtigten mündlich oder schriftlich geschehen (1, 4, § 1). Danach kommt es zur Aufnahme der Klage, welche ein Deputierter des Gerichts oder ein Justizkommissar, den der Kläger mit der Führung des Prozesses beauftragt hat, vornehmen kann (1, 5, § 1). In bei den Fällen "muß für die Herbeischaffung einer vollständigen Information gesorgt werden", d. h. der Kläger hat alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die nur irgendwie von Bedeutung sein können (1, 5, §§ 5-7), demjenigen anzugeben, der die Klage aufnimmt. Das kann, wie schon betont, auch der vom Kläger als Prozeßvertreter ausgewählte Justizkommissar sein (1, 5, § 8). Ist nichts zu erinnern und die Information ausreichend, wird die Klage aufgenommen und dem Gericht übergeben (1, 5, § 13). Eine gesonderte Klageanmeldung und Klageaufnahme fällt fort, wenn der abwesende Kläger den Betrieb der Sache einem Justizkommissar übergeben hat. Dieser kann aus den vom Kläger eingezogenen Informationen eine Klage anfertigen und einreichen, muß aber seine Manualakten beifügen (1, 4, § 23 i. V. m.1, 5, § 16). Diese Möglichkeit- als Ausnahme gedacht-sollte bald die Regel darstellen l6 • Nach Eingang der Klage bei Gericht wird sie von einem Dezernenten geprüft und im Kollegium vorgetragen (1, 6, §§ 1, 2). Darauf setzt der Dezernent entweder sogleich Termin zur Instruktion der Sache oder - in schwierigen Fällen - zunächst Termin zur Klagebeantwortung an (1,6, § 11). Ist letzteres der Fall, hat der Beklagte in der Regel persönlich zu erscheinen (1, 6, § 14 Ziff. 2). Er wird vom Deputierten ausführlich vernommen. Dabei sind dieselben Gesichtspunkte wie bei der Aufnahme der Klage zu beobachten (1, 9, §§ 1 ff.). Nun wird ein Beantwortungsprotokoll aufgenommen und dem Gericht eingereicht (1, 9, § 15). Dort wird es von einem Dezernenten in der nächsten Sitzung vorgetragen (1, 9, § 17). Ist die Klage durch einen Justizkommissar schriftlich eingereicht worden (1, 5, § 16), steht es dem Beklagten oder dessen Beistand frei, noch vor dem Klagebeantwortungstermin ein schriftliches Promemoria einzureichen (1, 9, § 15). Hält das Kollegium dieses als Klagebeantwortung für ausreichend, entfällt der Termin. Diese Art der Klagebeantwortung ist in der folgenden Zeit ebenfalls zur Regel geworden17 • Nach Prüfung der Klagebeantwortung wird Termin zur Instruktion der Sache angesetzt, falls noch Tatsachen streitig sind (1, 9, § 29). Dies 15 Die ersten 24 Titel sind für das Verfahren vor den Obergerichten geschaffen, finden aber auch bei den Untergerichten Anwendung (1, 25, § 2). 16 Vgl. Abegg, S. 154 Fn. 318. Dies wird insbesondere dann der Fall gewesen sein, als seit 1799 das persönliche Erscheinen nur noch dann Pflicht war, wenn es zur Ermittlung der Wahrheit unbedingt erforderlich war (Anhang § 1 zu Einl. § 12). 17 Abegg, S. 163 Fn. 348.
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geschieht auch, wenn vorher kein gesonderter Termin zur Klagebeantwortung angeordnet worden war (1, 6, § 12 i. V. m. 1, 9, § 25). Der Instruktionstermin ist wie schon im CJF Kern des Verfahrens. Seine Bestimmung ist (1,10, § 1): daß in selbigem die Parteien über die bei dem Prozesse vorkommenden Thatsachen noch näher gegen einander vernommen, und so weit es möglich ist, darüber vereinigt; 2. daß durch Aufnehmung der unstreitigen Thatsachen, nähere Bestimmung der streitig gebliebenen, und Absonderung der erheblichen von den unerheblichen, der Status causae et controversiae regulirt; 3. daß die streitig gebliebenen erheblichen Thatsachen durch Aufnehmung der darüber vorhandenen Beweismittel möglichst ins Licht gesetzt; 4. daß nach erfolgter Aufnahme des Beweises derselbe den Parteien vorgelegt, sie darüber, und was sie dabei etwa noch zu erinnern und zu ergänzen finden, vernommen, die Sühne unter ihnen mit allem Fleiße versucht, und, wenn diese nicht Statt findet, die Instruktion geschlossen werden soll."
,,1.
Dabei ist der Deputierte berechtigt, alles ex officio vorzunehmen, was zur Instruktion der Sache erforderlich ist (1, 10, § 6; 3, 3, § 22). Nach der Instruktion kommt es entweder sogleich (1, 12, §§ 1,2) oder in einem besonderen Termin (1, 12, § 3) zum Beschluß der Sache. Danach können die Parteien Rechtsausführungen mündlich zu Protokoll geben (1, 12, §§ 11, 13). In der Regel werden, wie 1,12, § 12 anführt, diese Deduktionen von den rechtskundigen Bevollmächtigten der Parteien vorgetragen. Darauf kommt es zur Abfassung und Publikation des Urteils (1, 13, §§ 1 ff.). 3. Obwohl die AGa Advokaten in Gestalt beamteter Justizkommissare wieder zum Verfahren zuließ, war die wesentliche Neuerung des CJF - die Prozeßinstruktion durch den Richter ex officio - geblieben. Auf den ersten Blick ist dies ebenso erstaunlich wie unverständlich. Die Advokaten waren es gewesen, die Anlaß zur Reform des Jahres 1780 gegeben hatten; ihr Ausschluß aus dem Rechtsstreit hatte zur gesteigerten amtlichen Tätigkeit des Richters geführt. Nun nahmen sie wieder ihren Einzug in das Verfahren, ohne daß, wie zu erwarten wäre, die Richtermacht eingeschränkt wurde. Wie kam es zu dieser so ungereimt erscheinenden Tatsache? Die Wiederzulassung der Advokaten in Gestalt beamteter Justizkommissare entsprang offenbar nicht in erster Linie dem Unmut der Parteien über die Assistenzräte. Zwar ist in den zahlreichen Reskripten nach dem Erscheinen des CJF von Wünschen und Beschwerden des Publikums in dieser Hinsicht die Rede. Von einer wirklich stürmischen Bewegung gegen diese Einrichtung indes wird nicht berichtet. Überdies
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war Carmer nicht der Mann, sich dem Willen der Prozeßparteien ohne weiteres zu beugen18. Es scheint vielmehr, daß den Schöpfern der neuen Prozeßordnung selbst der Gedanke gekommen ist, die Einrichtung der Assistenzräte mit ihrer "doppelten Qualität" (3, 3, § 22 CJF) sei nicht sinnvoll. Insbesondere als man im nachhinein den Erlaß des CJF mit Argumenten des zu jener Zeit blühenden Vernunftrechts 19 wie "Natur der Sache"20, "gesunder Menschenverstand"21, "aufgeklärte Vernunft"22 zu rechtfertigen begann, mögen Carmer und seine Mitarbeiter gespürt haben, daß die Existenzberechtigung der Assistenzräte mit diesen Schlagworten nicht zu erweisen war. Gerade SvaTez, der seine juristische Prägung durch den WolfSchüler und Vernunftrechtler Darjes erfahren hatte 23 , mußte es als wider die Natur der Sache vorkommen, daß Assistenzräte, die ihre Partei unterstützen sollten, nötigenfalls auch dieser nachteilige Tatsachen und Rechtsansichten vorzutragen hatten. Die "doppelte Qualität" war alles andere als mit der "aufgeklärten Vernunft" vereinbar. Letztlich war diese Regelung auf eine Versagung des Rechtsbeistandes hinausgelaufen 24, da die richterliche Funktion der Assistenzräte bei weitem überwog. Das hatte der König in seiner Kabinettsordre nicht gewollt. Im übrigen führte der Zwang zu persönlichem Erscheinen der Parteien in vielen Fällen zu untragbaren Härten, so daß eine Zulassung der Prozeßvertretung als Gebot der Gerechtigkeit erschien. Indem die Reformer die Justizkommissare als echte Parteivertreter zum Prozeß zuließen, folgten sie offenbar den soeben wiedergegebenen Gedankengängen. Darauf deutet auch ein Satz aus dem dritten Heft des Briefwechsels hin, in dem man Svarez' Gedankengang erahnt25 . Dort 26 heißt es, man habe den Parteien eine Zeitlang die Freiheit entziehen müssen, sich selbständig Rechtsbeistände zu wählen. Jetzt, da sich sowohl Richter als auch Justizkommissare - die alten Advokaten - an das neue Verfahren gewöhnt hätten, könne man den Parteien diese Freiheit zurückgeben. Doch mutet auch dieser Satz mehr als mühsame Verbrämung der Erkenntnis an, daß ohne Rechtsbeistände ein Prozeß nur schwer zu führen ist, denn als überzeugende Begründung für die Wiederzulassung der Advokaten. Letzten Endes hielten die Reformer die Advokatenfrage, 18
WeißleT, S. 359.
über das Vernunftrecht ausführlich im nächsten Kapitel. Briefwechsel, 3. Heft S. 15, 24, 99. 21 Ebenda S. 24, 99. 22 Ebenda S. 99. 23 Stölzel, Svarez, S. 62 ff. 24 Vgl. Weiß leT, S. 359. 25 Die Disposition des dritten Heftes stammt von Svarez; geschrieben ist es bis S. 95 von Baumgarten, von da an von Svarez. So Stölzel, Svarez, S. 200 f. 19
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S.46.
III. Die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793
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wie aus den folgenden Ausführungen deutlich werden wird, nicht mehr für wichtig27 • Ist der Grund für die Abschaffung der Assistenzräte und die Einführung von Justizkommissaren auch einleuchtend, bleibt die Unklarheit über das Weiterbestehen der ex officio-Instruktion des Prozesses trotz Wiederzulassung der Advokaten bestehen. Doch auch dieses Rätsel löst sich. Die Ursache, die zu dem unverständlichen Nebeneinander von Parteivertretern und offizieller Tätigkeit des Richters in der AGO führte, lag in den Reformen der Jahre 1780/81 selbst begründet. Damals war die Advokatenfrage noch untrennbar mit der Richtermacht verknüpft. Wurden jene ausgeschlossen, mußte diese gestärkt werden. Allmählich aber zeichnete sich eine Trennung dieser kausalen Verknüpfung ab. Die Reformer begannen, ohne sich dessen bewußt zu werden, mehr von dem sich bildenden Prinzip der amtlichen Wahrheitsermittlung als von dessen Motiv - der Advokatenfrage - getrieben zu werden2B • Im CJF war der Richter an die Stelle der Advokaten getreten, um deren Schikane ein Ende zu setzen. Daraus folgte die amtliche Aufklärung der Tatsachen. War dies anfangs noch ganz zum Nutzen der Parteien geschehen, begann sich dieser Standpunkt langsam zu wandeln. Man spürte, daß der Richter nicht dazu da sei, jeweils den Advokaten der einen oder der anderen Partei abzugeben 29 • Die Tatsachenermittlung mußte vielmehr, sollte sie echte richterliche Funktion sein, im objektiven Interesse der Wahrheit ausgeübt werden. Nicht aus abgeleitetem Recht der Parteien, aus eigenem Recht mußte der Richter die wirkliche Bewandtnis des Sachverhalts aufklären. Von diesem Gedanken bis zu der überzeugung, die richterliche Untersuchungspflicht sei nicht so sehr ein Mittel zum Ersatz der Advokaten als eine in sich selbst notwendige Pflicht, war es nur ein Schritt. Aber mit diesem Schritt begann eine neue Sicht der Prozeßreform und ihrer Kodifikationen. Dabei spielten Gedanken des Vernunftrechts 30 eine wesentliche Rolle. Nicht mehr war der Richter negativ dazu da, die Verdrehungen der Advokaten zu verhindern, sondern positiv sollte er die wahre Bewandtnis der Tatsachen ermitteln. Nur wenn er dies mit allen Kräften und Mitteln tue, so begann man zu glauben, könne er ein gerechtes Urteil fällen. Aus der wahren Bewandtnis der Tatsachen werde das wahre Recht von allein folgen. Die Untersuchungspflicht des Richters erschien damit als von der Gerechtigkeit selbst gefordert, als höchstes Prinzip einer jeden 27
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Dies wird deutlich im Briefwechsel, 3. Heft S. 32. Vgl. Gärtner, S. 10 Fn. *. Vgl. Gärtner, S. 148 ff. über das Vernunftrecht vgl. das nächste Kapitel.
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2. Kap.: Der preußische Prozeß
Prozeßordnung, dem alle anderen Motive sich unterzuordnen hatten31 • Sie allein entsprach der Natur der Sache. Eindrucksvoll kommt diese Entwicklung, dieses Abreißen der Verknüpfung zwischen Advokatenfrage und Richtermacht und die Bildung eines neuen Grundsatzes in den Schriften der Reformer selbst zum Ausdruck. Svarez bezeichnet es im Jahre 1780 32 noch als Grund der Prozeßreform, dem "landverderblichen Uebel" der Advokaten abzuhelfen. Doch fügt er schon hinzu, vornehmster Endzweck sei es, den Richter in den Stand zu setzen, die Wahrheit selbst aufzusuchen. Dazu sei er schuldig und befugt, alle erlaubten und sachgemäßen Mittel anzuwenden. Über drei Jahre später spürt man die Verdichtung dieser Gedanken zum Prinzip, wenn Svarez im dritten Heft seines Briefwechsels schreibt33 : "Die neue Prozeß-Ordnung beruht also würklich auf Grundsätzen, welche die aufgeklärte Vernunft als richtig erkennt und billigt; und ihre Maßregeln bey Anwendung dieser Grundsätze sind aus der Natur der Sache genommen; sind der Absicht, die erreicht werden soll, angepaßt."
Diese Absicht war, "den Richter in den Stand zu setzen, daß er bey jeder Streit-Sache die Wahrheit des zum Grunde liegenden Facti kurz, gründlich und vollständig entdecken ... könne"34. Von den Advokaten ist nicht mehr die Rede. Ihre nunmehrige Bedeutungslosigkeit für die Prozeßreform kommt in demselben, 1784 erschienenen Heft des Briefwechsels zum Ausdruck, wenn es heißt 35 , es sei gleichgültig, ob der Partei ein Assistenzrat zugeordnet werde oder sie sich selbst einen Justizkommissar wähle. Nur darauf komme es an, dem Richter die Macht zu belassen, die Wahrheit von Amts wegen aufzusuchen. Damit war die Folge des Ausschlusses der Advokaten zur alles weitere bewegenden selbständigen Idee geworden. Die Advokaten konnten daher als Justizkommissare wieder zum Verfahren zugelassen werden, ohne daß sich an der zum Prinzip gewordenen Instruktion des Prozesses ex officio etwas änderte. 4. Das neue Prinzip, der Gedanke, das Gericht müsse zur Fällung wahrer Urteile die Gewalt haben, die Bewandtnis der Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln, hat in der AGO seine Ausprägung erfahren. Davon zeugt vor allem die der eigentlichen Prozeßordnung vorangestellte programmatische Einleitung. In ihr legen die Verfasser der AGO in ausführlicher Breite die Grundzüge des neuen Gesetzes dar. Hinter diesen Sätzen Vgl. Gärtner, S. 9. Vorbericht S. XXII f. Der Vorbericht ist ein Abdruck einer von Svarez für die Landesjustizkollegien ausgearbeiteten Unterweisung über die Grundsätze und das Wesen des neuen Verfahrens vom 15. August 1780. Vgl. Abegg, S. 103. 33 S.99. 34 S.98. 35 S.32. 31
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II!. Die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793
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spürt man den Ernst und die überzeugung von Männern wie Carmer undSvarez. Ausgehend davon, daß jeder Rechtsstreit entweder die Richtigkeit von Tatsachen, die Ableitung der daraus nach dem Gesetz fließenden Folgen oder beides zugleich betrifft (Einl. § 4)36, wird in der Einleitung ausgeführt: § 5 "In jedem Prozesse muß also vor allen Dingen untersucht werden: was für
Thatsachen dabei zum Grunde liegen, und wie sich dieselben nach der Wahrheit verhalten." § 6 "Der vom Staat geordnete Richter, welcher den Streit durch richtige Anwendung des Gesetzes auf die dabei zum Grunde liegenden Thatsachen entscheiden soll, hat die nächste Pflicht, folglich auch das nächste Recht, sich von der wahren und eigentlichen Bewandtniß dieser Thatsachen zu versichern. " § 7 "Der Richter ist also schuldig und befugt, den Grund oder Ungrund der in einem Prozesse vorkommenden Thatsachen selbst und unmittelbar zu untersuchen, und so weit es zur richtigen Anwendung der Gesetze auf den vorliegenden Fall erforderlich ist, ins Licht zu setzen." § 10 "Die Pflichten des Richters bei der Instruktion eines Prozesses beruhen also auf dem wesentlichen Grundsatze: daß er sich bemühen müsse, die Wahrheit der dabei zum Grunde liegenden erheblichen Thatsachen auf dem sichersten und zugleich nächsten Wege zu erforschen und auszumitteln." Deutlich kommt hier die große Idee der umfassenden Wahrheitsermittlung zum Tragen. Auch in anderen Bestimmungen, die das CJF noch nicht enthielt, spürt man die Verdichtung dieses Gedankens in der AGO. So läßt sie dem "ganzen Geiste und Zwecke der Prozeßordnung gemäß" (1, 15, § 11) die Anführung neuer Tatsachen und Beweismittel bis zum Aktenschlusse und danach, ja selbst noch in der Revisionsinstanz zu (1,10, § 3; 1, 15, §§ 11,14,15). Nach dem CJF war die Instruktion mit dem "status causae" abgeschlossen (vgl. 1, 12, § 5 CJF); ein förmliches Revisionsverfahren fand gar nicht statt (1, 15, § 6 CJF). Auch § 34 Einl. AGO ist Ausdruck des verselbständigten Prinzips der Wahrheitsermittlung von Amts wegen. Dort heißt es: "Alle übrige Vorschriften, welche das Verfahren des Richters bei der Instruktion näher bestimmen, und die Schritte, welche er dabei zu thun hat, sind nur als Mittel zum Zweck anzusehen, und müssem diesem Zwecke einer gründlichen, vollständigen, und möglichst schnellen Erforschung der Wahrheit stets untergeordnet bleiben; also, daß in jedem vorkommenden Falle diese Anweisungen nur so weit, als es nach den Umständen des Falles erforderlich und hinreichend ist, angewendet werden sollen." 5. Damit scheint sich Gönners Behauptung, die AGO ruhe auf dem "Alles von Amts wegen" der Untersuchungsmaxime, zu bestätigen. Auch 38 Die Einleitung kennt keine Paragraphen, sondern nur Ziffern mit einem dahintergesetzten Punkt. üblicherweise werden aber Paragraphen zitiert.
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2. Kap.: Der preußische Prozeß
darin, daß die Prozeßordnung auf dieses Prinzip berechnet sei, muß man ihm in Hinblick auf den Entwicklungsgang vom CJF zur AGO offenbar recht geben. In der Tat hat Gönner hier klarer gesehen als beim gemeinen Prozeß. Doch auch die AGO hatte eine Kehrseite. Auch sie kannte das Bestehen von Parteibefugnissen, in die der Richter sich nicht mischen durfte. Diese andere Seite hat Gönner, der schon im gemeinen Prozeß nur die Regel und nicht die diese derogierenden Ausnahmen erfaßt hatte, auch hier außer acht gelassen. So steht es dem Kläger frei, zu dem angesetzten Instruktionstermin nicht zu erscheinen (1, 6, § 18). In diesem Fall wird angenommen, daß er dem Prozeß entsagt. Die Akten werden abgelegt (1, 9, § 42; 1, 20, § 19). Auch dem Beklagten bleibt es unbenommen, dem Klagebeantwortungstermin fernzubleiben (1, 8, § 9). Tut er dies, wird nicht etwa wie im gemeinen Recht negative, sondern affirmative Litiskontestation angenommen und der Beklagte aller in der Klage angeführten Tatsachen für geständig erklärt (1, 8, § 10). überhaupt hat jede Weigerung, sich auf gegnerisches Vorbringen zu erklären - in der Sprache des Gesetzes: jeder Ungehorsam - zur Folge, daß die vom Gegner behaupteten Tatsachen für zugestanden oder nicht vorgebracht angesehen werden, wie es dem Säumigen am nachteiligsten ist (Einl. § 14; 1, 9, § 44). Keineswegs macht sich der Richter daran, die Wahrheit der Tatsachen nun von Amts wegen aufzusuchen. Auch in bezug auf den Streitgegenstand äußert sich die Macht des Richters kaum. Zunächst haben die Parteien deutliche und bestimmte Anträge zu stellen, aus denen ihre Absicht klar hervorgeht (1, 5, § 17 Ziff.3; 1, 9, § 16 Ziff.4). Zwar hat der Richter bei der Instruktion auch andere Tatsachen zu berücksichtigen, als der Kläger zur Stützung seines Antrages vorgebracht hat. Wenn diese jedoch einen anderen als den geltend gemachten Anspruch betreffen, können sie nur Beachtung finden, wenn der Kläger seinen Antrag ändert (1, 5, § 21). Das ist nur bis zum Beschluß der Sache in erster Instanz möglich (1, 5, § 22). Vergleich (1, 11, § 1) und Anerkenntnis (1, 6, § 14 Ziff. 1; vgl. 1, 10, § 125) des gegnerischen Anspruchs können jederzeit ausgesprochen werden. Beim Urteil ist der Richter gehalten, nicht ultra petita zu erkennen (arg. 1, 5, §§ 4 Ziff. 5, 17 Ziff. 3, 19; 1, 23, § 58; arg. e contrario 1, 23, §§ 58, 63)37. Die Ausnahme von dieser Regel- die Möglichkeit, ex officio Zinsen, Kosten und Früchte zuzusprechen (1, 13, § 41; 1,23, §§ 58,63) - galt auch im gemeinen Prozeß38. Endlich ist die Macht des Richters erheblich eingeschränkt, wo man sie am ausgedehntesten erwartet: im Bereich der Tatsachen. Zunächst dür37 3R
Daniels, S. 452 f. Statt aller: Zaunschlijjer 11, XIV, § 3, S. 114 f. m. w. Nw.
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fen ex officio nur solche Tatsachen verwertet werden, die "sich aus dem Vortrage der Parteien und aus dem Zusammenhange ihrer Verhandlungen ergeben" (Einl. § 17). Der Instruent darf damit im Instruktionstermin nur solche Beweise erheben oder solchen Umständen nachgehen, die in den Protokollen der Deputierten enthalten sind oder die ihm von den Parteien selbst angegeben werden. Keinesfalls ist es ihm erlaubt, Tatsachen zu verwerten, "worauf weder die Angaben der Parteien, noch der Zusammenhang der Sache, noch der Inhalt der Urkunden oder Zeugenaussagen führen, sondern die bloß in seiner Privatwissenschaft beruhen" (1, 10, § 5b). Im Beweisverfahren ist es den Parteien möglich, sich statt anderer Beweismittel der Zuschiebung des Eides an die Gegenseite zu bedienen (1, 10, § 252). Dies soll aus Gründen der Kostenersparnis und der Abkürzung der Prozesse selbst dann gelten, wenn andere Mittel zur Aufklärung der Tatsachen vorhanden sind (1, 10, § 253). Der Richter hat hier nur die Pflicht, die Parteien an die Bedenklichkeit des Eides und an die anderweitig gegebenen Beweismittel zu erinnern. Er kann den Eid, durch den die Parteien sich zum Richter in eigener Sache machen (1, 10, § 255), jedoch nicht verhindern (1,10, § 254). Schließlich regelt die AGO das Geständnis als echtes Beweismittel (1, 10, §§ 82 ff.)39. Dabei ist nicht nur das Geständnis der Partei selbst, sondern auch das des Bevollmächtigten oder Stellvertreters bindend. Dies gilt sogar dann, wenn dieser entgegen den Aufträgen seines Mandanten gehandelt hat (1, 10, § 87). Eine Zurücknahme des Geständnisses ist nur möglich, wenn der Grund des Irrtums und die wahre Bewandtnis der Sache nachgewiesen werden (1,10, §§ 27a, 88b). Hier gilt damit ebenfalls nicht die Regel, daß der Richter mit allen Mitteln die Wahrheit erforschen soll (Einl. § 17). Im Gegenteil - für diese wichtige Materie werden im dritten Teil der AGO "Von den Pflichten der bei der Justiz angesetzten Personen" die Instruenten ausdrücklich angewiesen, im Falle eines Geständnisses nicht weiter nachzuforschen (3, 3, § 27). Diese Vorschrift ist von solcher Bedeutung, daß ihr Wortlaut hier wiedergegeben sei: "Wenn auch bei den Instruktionen wirklich erhebliche Thatsachen vorkämen, gegen deren umständliche Entwickelung beide Theile protestiren; und es sind dieselben darin einig, daß das Faktum an sich zugestanden werde; so muß der Instruent sich damit begnügen, daß er selbiges nur allgemein, so wie es von den Partheien vorgetragen und eingestanden wird, aufnehme, ohne auf die speciellen Umstände desselben genauer einzugehen." 3D Vgl. Nagel, S. 184. Nagel erwähnt Eideszuschiebung und Geständnis freilich nur im Zusammenhang mit dem CJF, obschon beide Regelungen auch in der AGO galten. Man kann daher die bemerkenswerte Folgerung Nagels, beide Institute seien mit der "reinen Inquisitionsmaxime" unvereinbar, auch auf die AGO beziehen.
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2. Kap.: Der preußische Prozeß
Zugestandenen - wie auch unbestrittenen (Ein!. § 14; 1,9, § 44) - Tatsachen darf also der Richter nicht weiter nachgehen. Damit gilt in der AGO, die nach den Angaben der heutigen Prozessualisten auf der "Untersuchungsmaxime" ruht, ein Satz, der nach Meinung eben derselben Rechtslehrer wesentlich die Verhandlungsmaxime der heutigen ZPO ausmacht40 • Ist die Vorschrift des § 27, als dem "Alles von Amts wegen" und dem Prinzip der umfassenden Wahrheitsermittlung entgegen, bereits erstaunlich genug, soll die Überraschung doch erst folgen. Die Bestimmung fährt fort, indem sie als Beispiel für das ausgesprochene Verbot, zugestandene Tatsachen ex officio aufzuklären, anführt: "Wenn also z. B. in einer Ehescheidungssache der klagende Ehegatte behauptet, was gestalten der beklagte Theil sich eines verdächtigen Umgangs mit anderen Personen schuldig gemacht habe; der Beklagte aber so viel einräumt, daß er zu dergleichen Verdachte wirklich Anlaß gegeben; so darf der Instruent den speciellen Umständen, mit wem und wie weit solcher Umgang getrieben worden u.s.w., nicht weiter nachforschen; es wäre denn, daß der eine Theil auf die gesetzlichen Strafen der Ehescheidung antrüge, der andere sich derselben nicht schuldig geben wollte, und daher, um zu beurtheilen, in wie fern diese Strafen wirklich Anwendung finden, unumgänglich nothwendig wäre, die Gründe der Ehescheidung genauer und umständlicher auseinander zu setzen." Die AGO verbietet damit dem Richter, dort selbständig vorzugehen, wo es die heutige ZPO (§§ 617, 62211) wie auch gemeines Prozeßrecht41 ihm vorschreiben. In ihr gilt, um in der Sprache der Maximentheoretiker zu reden, in dem Bereich "Verhandlungsmaxime", in welchem im gegenwärtigen Verfahrensrecht "Untersuchungsmaxime" herrscht. Während die ZPO - jedenfalls nach ihrem Wortlaut - eine Konventionalscheidung unmöglich macht, leistet die AGO ihr nachhaltig Vorschub 42 • Ein wirksameres Argument gegen die These des "Alles von Amts wegen" als das Verbot an den Richter, bei ausdrücklich unbestrittenen Tatsachen auch und gerade im Eheprozeß von sich aus zu ermitteln, läßt sich nicht denken. Aus alle dem wird deutlich, daß die AGO sich bei ihrem Bestreben, die Wahrheit zu ermitteln, nicht über die Rechte der Parteien hinwegsetzte. Jederzeit stand es ihnen, ohne daß der Richter hätte eingreifen können, frei, den Anspruch des Gegners anzuerkennen, auch wenn er in Wirklichkeit nicht bestand. Ebenso konnten sie der richterlichen Tätigkeit immer dadurch Schranken setzen, daß sie vom Gegner behauptete Tatsachen zugestanden. Da zudem niemand trotz bestehender Wahr40 Bernhardt § 23 I, S. 133 (134 u.); Rosenberg § 63 II 2 a, S. 295; LentJauernig § 25 IV 2, S. 62. 41 Vgl. Boehmer II, § V, S. 623 (624). 42 Eine Tatsache, die Koch, Rechtsverfassung, S. 25 ff., im Jahre 1843 nach-
drücklich verurteilt.
IIr. Die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793
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heitspflicht (Ein!. § 13) zu erscheinen und auszusagen gezwungen war, ist die Behauptung, der AGO eigne ein inquisitorisches Verfahren, unbegründet. Mit Recht hat sich schon Carmer selbst gegen diesen Vorwurf gewandt43 • Der preußische Richter hielt sich genau wie der des gemeinen Rechts zunächst an die Vorträge der Parteien. Sie sind, wie es das Gesetz ausdrückt (Ein!. § 12), gewöhnlich am besten imstande, über ihre Angelegenheiten Auskunft zu geben. Erst wenn sich daraus keine Klarheit ergab, war der Richter gehalten, der tatsächlichen Bewandtnis der Sache mit allen erlaubten Mitteln ex officio auf den Grund zu gehen. Dadurch werden, wie die Reformer selbst betonen44 , weder die Eigentumsrechte noch die Freiheit der Parteien verletzt. Verfügungen über den Streitgegenstand durch Anerkenntnis und Geständnis waren nach wie vor möglich. Keine Partei konnte jedoch verlangen, daß der Richter ausschließlich das von ihr Vorgetragene beachtete. Die AGO kannte kein Recht der Parteien auf den von ihnen vorgetragenen Tatbestand45 • 6. Aus dem Vorangegangenen erhellt, daß das Gönnersche "Alles von Amts wegen" den preußischen Prozeß in wesentlichen Bereichen nicht erfüllte. Zwar war der Prozeßbetrieb weitgehend Sache des Gerichts. Was jedoch die Tatsachen und die Verfügungsbefugnis der Parteien über ihre Rechte angeht, brachte das Verfahren der AGO keineswegs eine die Befugnisse der Parteien verdrängende richterliche Inquisition oder Bevormundung. Auch in dem scheinbar nur aus der Vernunft geschöpften Prozeßgesetz fanden Grundsätze Anwendung, wie sie ebenfalls das Verfahren des gemeinen Rechts kannte. So galt auch in der AGO die Regel "judex secundum allegata et probata partium, non secundum conscientiam suam judicare debet"; auch in ihr durfte der Richter nicht selbständig Tatsachen ergänzen, die sich weder aus den Angaben der Parteien noch dem Zusammenhange der Verhandlungen ergaben; auch die AGO verbot, ultra petita zu erkennen. Zwar hatte der Satz "judex ex officio non procedit" im preußischen Prozeß keinen Platz. Doch diese Regel war im gemeinen Prozeß von einer solchen Anzahl von Ausnahmen durchbrochen, daß nur die Gewöhnung der Lehre an diesen überkommenen Satz sowie die Bequemlichkeit der Praxis ihre völlige Derogation verhinderten. überhaupt konnte die AGO ihre vielfach gemeinrechtliche Grundlage nicht verleugnen46 • Auch in ihrer Grundidee, daß der Richter das Urteil im Rahmen der gesetzlichen Beweistheorie (1, 13 §§ 8 ff.) nur nach seiner überzeugung von der Wahrheit der angeführten Tatsachen fällen könne, 43 44
45
48
Immediatbericht vom 14. Januar 1776, bei Kamptz 58, 48 (50 f.). Carmer, ebenda S. 51; Briefwechsel, 3. Heft S. 85. Vgl. Carmer, Immediatbericht vom 14. Januar 1776, bei Kamptz 58, 48 (51). Vgl. Goetze, S. 23; Mittermaier, Prozeß I, S. 38.
2. Kap.: Der preußische Prozeß
96
entsprach die AGO den Aussprüchen der römisch-kanonischen Quellen des gemeinen Prozesses. Der Unterschied bestand nur darin, daß die Gemeinrechtler diese Sätze von Fall zu Fall zur Erzielung gerechter Ergebnisse anwandten, während der preußische Gesetzgeber sie in Verfolgung desselben Zieles als Regel aussprach. Daraus resultierte keine Inquisition oder das Bestreben, jederzeit "materielle" Wahrheit zu ermitteln. Die Idee, daß der Richter nach seiner Überzeugung von der tatsächlichen Bewandtnis der Tatsachen zu urteilen habe, führte nur dazu, ihn nicht auf das zu beschränken, was die Parteien ihm durch ihre Advokaten anboten, sondern ihm aus eigenem Recht die Befugnis zu geben, ex officio für Vollständigkeit und Zuverlässigkeit des Streitstoffes zu sorgen. Daß dabei die Privatrechte der Parteien nicht verletzt wurden, ist bereits dargetan worden. Die AGO stellt sich damit als Endpunkt einer Entwicklung dar, die mit der KGO 1709 angefangen und über das Edikt 1739, die Regelungen des CFM und den Wendepunkt des CJF zu ihr geführt hat. Sie verwirklichte den Gedanken, den zum ersten Mal die KGO 1709 ausgesprochen hatte: alle Streitigkeiten summarisch, d. h. in unmittelbarem Verkehr zwischen Richter und Parteien zu einem Ende zu führen. Im Gegensatz zum gemeinen Recht, wo sich der Prozeß der Obergerichte eher auf die Untergerichte ausdehnte, brachte die AGO die Übernahme des Untergerichtsprozesses für die Rechtshändel vor allen Gerichten. In diesem Sinne kann man das Verfahren der AGO im Vergleich zum gemeinen Recht als einen ausgedehnten summarischen Prozeß bezeichnen47 • In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn die preußischen Reformer über ihre Prozeßordnung anführten48 , sie sage im Grunde nichts mehr, als was durch ältere, auf gemeinem Recht ruhende Gesetze schon feststehe; sie sage es nur bestimmter. Ein absoluter Gegensatz zwischen gemeinem und preußischem Prozeß besteht damit nicht. Weder liegt dem gemeinrechtlichen Verfahren ein "Nichts von Amts wegen" noch dem preußischen ein "Alles von Amts wegen" zugrunde. Wie schon die Verhandlungsmaxime findet auch die Untersuchungsmaxime im positiven Recht, wie es sich Gönner im Jahre 1801 darbot, keinen Ausdruck.
47
So Puchta, Grenzen, S. 149, und im Anschluß an ihn Daniels, S. 469 Fn. 3
(470).
48 Briefwechsel, 3. Heft S. 84. Der Satz ist zwar auf das CJF gemünzt, gilt aber ebenso für die AGO.
Drittes Kapitel
Die Entstehung von Verhandlungsund Untersuchungsmaxime Als im Jahre 1801 das "Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses" von Nikolaus Thaddäus Gönner erschien, begegnete es allgemeiner Zustimmung. Kritiker, die sonst nicht mit ihrem Tadel zurückhielten, bescheinigten seinem Verfasser Klarheit der Darstellung und Scharfsinnigkeit des Urteilst. Gegen die Aufstellung der Prozeßmaximen erhob sich kein Widerspruch. Im Gegenteil - gerade ihre Entwicklung wurde lebhaft begrüßt. Nicht ohne Belehrung und wärmsten Dank gegen den würdigen Autor werde man das Kapitel über Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime aus der Hand legen, so gab ein Rezensent des Handbuches die allgemeine Auffassung wieder2 • Der Mangel an Kritik überrascht. Nicht lange war es her, daß Justus Henning Boehmer seinen Satz von der Umkehrung der Regeln geprägt, Svarez und Baumgarten auf die gemeinrechtlichen Grundlagen der AGO hingewiesen hatten. Doch die juristische Welt an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert erinnerte sich kaum mehr dieser Männer. Dafür blickte man auf Gönner und seine offenbar unumstößlichen Wahrheiten. Um so mehr stellt sich heute die Frage, wie Gönner zur Entwicklung der beiden ersten Grundsätze jeden Verfahrens kam, obwohl sich trotz aller Verschiedenheit der zwei Rechtsordnungen weder im gemeinen Prozeß das "Nichts von Amts wegen" der Verhandlungsmaxime noch in der AGO das "Alles von Amts wegen" der Untersuchungsmaxime fand. Jedes Geisteswerk hat zwei Ursachen: zum einen die Zeit, aus der heraus es entsteht, zum andern den Menschen, der es in dieser Zeit hervorbringt. Zunächst ist es die Zeit - mit ihrer Philosophie und Kunst, ihrer Politik und Wirtschaft; dann der Mensch, der in diesen Gegebenheiten wirkt. Kein Werk der Vergangenheit kann daher ohne seinen geschichtlichen Hintergrund verstanden werden. Alles Erklären ohne Berücksichtigung dieser Tatsachen muß vordergründig bleiben. Nichts anderes gilt für die Prozeßmaximen und ihren Schöpfer Gönner. Auch 1 ALZ 1803, 1. Bd., Nr. 37, Sp. 289; 1804, 1. Bd., Nr. 67, Sp. 529; CritA 3. Bd. (1803), S. 436 ff. 2 JLZ 1801, Nr. 40, Sp. 314 (Nr. 44, Sp. 346).
7 Bomsdorl
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3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime
er ist nicht aus sich selbst heraus zu begreifen, sondern nur als eingebettet in den Geist und die Eigenart seiner Zeit. Ihr und den in ihr lebendigen Strömungen der Rechtswissenschaft im allgemeinen und des Zivilprozeßrechts im besonderen muß zunächst die Aufmerksamkeit gelten3 . Erst dann kann Gönner selbst Gegenstand der Untersuchung sein. I. Der geistige Hintergrund
Die in der Folgezeit für den deutschen Zivilprozeß so bedeutsamen Verfahrensmaximen Gönners entstanden zu einer Zeit, da sich das geistige Leben in einem tiefgreifenden Umbruch befand. Das 18. Jahrhundert in seiner zweiten Hälfte war die Hochzeit der Aufklärung gewesen - mit ihrem Glauben an die Allmacht der Vernunft, an die Mündigkeit und den unaufhaltsamen Fortschritt des Menschen. Den Anfang des 19. Jahrhunderts hingegen kennzeichnete der Niedergang dieser Ideen in den geistigen Strömungen der aufkommenden Romantik. Nicht mehr die ratio war jetzt alleinige Richtschnur für das Handeln des Menschen. Gefühl und Eingebung, überlieferung und still waltende Kräfte begannen für den Lauf der Dinge entscheidend zu werden. Eine ähnliche Einteilung trifft man landläufig für die Rechtswissenschaft. Danach ist das 18. Jahrhundert das Zeitalter des Naturrechts; die Wende zum 19. Jahrhundert bringt die Herrschaft der historischen Rechtsschule. Mag diese zeitliche Abgrenzung der großen Geistesströmungen auch als grober Anhaltspunkt seine Richtigkeit haben, wird dadurch doch der Eindruck erweckt, als habe die Rechtswissenschaft von heute auf morgen einen neuen Weg eingeschlagen. Diese Annahme ist indessen verkehrt. Wie jede geistige Evolution vollzog sich auch der übergang vom Naturrecht zur historischen Rechtsschule nur allmählich. So war gegen Ausgang des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts das Naturrecht in seiner späten Phase vielfach noch die herrschende Geistesströmung. Kaum einer der Rechtsgelehrten jener Zeit konnte sich ihrem Einfluß entziehen; dies um so mehr, als das Naturrecht in seiner Verbindung mit der Aufklärung als die juristische Wahrheit schlechthin erscheinen mußte. Diese Dominanz hat für den heutigen Betrachter ihre Vorteile. Konnte kein Jurist des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts der Auseinandersetzung mit der Naturrechtslehre entgehen, läßt sich aus seiner wie auch immer gearteten Reaktion auf diese Auffassungen auf seinen eigenen geistigen Standpunkt schließen. Es läßt sich feststellen, ob die jeweiligen Werke des Verfassers mehr Er3 VgI. Bruns, § 16 II 1, S. 113 Fn. 17. Bruns weist zu Recht darauf hin, daß Gönners Maximenschöpfung nur historisch verständlich ist. Auch EkeWf, S. 214 ff., erkennt die Zeitgebundenheit Gönners.
I. Der geistige Hintergrund
99
zeugnisse der allgemeinen Naturrechtswelle oder wirklich selbständige Schöpfungen ihres Urhebers waren, mochte auch das Naturrecht dabei nicht bedeutungslos gewesen sein. Das Naturrecht ist damit gleichsam der Probierstein, mit dessen Hilfe sich Haltung und Auffassung jedes Juristen an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert feststellen lassen. Ihm muß zunächst die Aufmerksamkeit gelten, seinem Wesen, seinem Verhältnis zur Rechtswissenschaft und seiner späten Phase. 1. Das Aufkommen des juristischen Naturrechts im 17. Jahrhundert ist aus einer methodischen Notlage der Rechtswissenschaft im Vergleich zu den übrigen Disziplinen jener Zeit zu erklären4 • Die Revolution der physikalischen und philosophischen Methoden am Beginn des 17. J ahrhunderts hatte zu einem neuen Weltbild geführt. Mittels der Vernunft war es dazu gekommen, daß nicht mehr bloß die Natur, wie sie sich dem Menschen darbot, sondern auch die durch Versuche hervorgebrachte und meßbar gemachte Natur Anschauungsstoff für den Forscher war5 • Nun, da man sie auf Verhältnisse von Zahlen reduzieren konnte, kam es zur Aufstellung besonderer Naturgesetze, woraus sich allgemeine Regeln und schließlich Axiome ergaben6 • All dem hatte die Rechtswissenschaft nichts entgegenzusetzen. Wohl war auch sie von der ratio beherrscht, doch war dies keine Alleinherrschaft. Der ratio untrennbar verbunden war die auctoritas - die Autorität des Corpus Juris7 • So konnte die Vernunft nicht zu fruchtbarer Kritik der alten Gesetzbücher genützt werden, sondern mußte sich auf die stetige Auslegung der Texte beschränken, ohne diese jemals in Frage stellen zu dürfen. Die Jurisprudenz war inmitten des allgemeinen geistigen Aufbruchs eine Wissenschaft der Exegese und des Kommentierens geblieben8 • Sie steckte noch im Mittelalter. Auch der Humanismus hatte daran nichts geändert. Wenn er auch reformierte, so doch nur im Sinne einer Reinigung der Texte und einer Besinnung auf die antiken Quellen.
Bei diesem Rückstand der Rechtswissenschaft konnte es nicht bleiben. Gerade infolge der - wie man glaubte - zeitgebundenen Verwirrtheit der Jurisprudenz, infolge der Fremdheit des Rechts und der Unzufriedenheit mit der Rechtspflege, wartete man auf die Entdeckung des "jus certum"9, strebte nach Erlangung derselben Exaktheit für die Rechtswissenschaft, wie sie Mathematiker und Physiker in ihren Disziplinen bereits erreicht hatten. Für diesen Ausbruch aus dem Mittelalter genügte nicht mehr eine Reform des Bestehenden, hier bedurfte es einer geistigen , Vgl. Wieacker § 15 I 2, S. 251. 5 Vgl. Wieacker § 15 I 3, S. 253 (254). 8 Wieacker § 15 I 3, S. 253 (255). 7 Vgl. Wieacker § 15 I 2, S. 251. 8 Wieacker § 15 V 1 c bb, S. 275. g Vgl. Thieme ZRG 56, 202 (223). 7'
100 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime Revolution. Diese Revolution erschien in Gestalt des neuzeitlichen Naturrechts. Von unmittelbarer Bedeutung für die deutsche Rechtswissenschaft war dabei die Begründung einer neuen juristischen Methodik durch Samuel Pufendorf (1632-1694). Hatten die ersten profanen Naturrechtler, insbesondere Grotius, ihre Wahrheiten noch im Stil der mittelalterlichen Wissenschaftslehre geschöpft, indem sie Gedanken aneinanderreihten, sie mit gehäuften Zitaten verschiedener Autoritäten belegten und durch Beispiele aus der Geschichte veranschaulichten1o , ging Pufendorf nach Art der Naturwissenschaftler vor. Aufbauend auf Grotius, Hobbes, auch Spinoza und damit nicht ohne Einfluß der galileischen Mechanik und des cartesianischen Rationalismus schuf er mittels einer mathematischen Methode ein axiomatisches System der allgemeinen Rechtstheoriel l . Dieser "mos geometricus" - so wurde die neue Methode nach Spinozas Hauptwerk "Ethica more geometrico detractata" genannt - verzichtete nicht auf induktive und anschauliche Momente, sondern verband Deduktion und Induktion, analytische und synthetische Methode12 • Pufendorf hat damit das Naturrecht erst für die praktische Rechtswissenschaft nutzbar gemacht, ohne dabei im Positivismus eines Hobbes oder Spinoza zu enden, und so eine Periode einer sich in der Folge immer mehr verselbständigenden Rechtswissenschaft eingeleitet1 3 • Das 18. Jahrhundert, in dem auch Gönner seine wissenschaftliche Prägung erfuhr, brachte ein speziell juristisches Naturrecht 14 • Kennzeichnend für diese Zeit ist die Blüte einer ausschließlich mathematischen Methode sowie die Hinwendung zu einer philosophischen Art der Argumentation zum Ende des Jahrhunderts hin. Die beherrschende Gestalt dieser späten Phase des Naturrechts ist der Aufklärungsphilosoph Christian Wolff (1679-1754). Er war der Meister der mathematischen Methode, mit der er in einem auf die Spitze getriebenen Rationalismus aus wenigen "ex ipsa hominis rerumque essentia" gefolgerten Grundwahrheiten ein umfassendes Rechtssystem entwick:elte I5 • Ohne das geringste anschauliche Element gelangte er in einer beständigen Verknüpfung rein deduktiv von ersten Axiomen zu den kleinsten Einzelheiten16 • Er ging dabei völlig unhistorisch vor und ließ die Erfahrung allein in politischen Fragen walten11 • Trotz dieser ausschließlich rationalen Haltung wollte Wolff keine neuen Rechtswahr10 11 12
13 14 15 16 17
VgI. Dahm, S.112; Schönfeld, S. 317. VgI. Wie acker § 17 III, S. 305 ff. Wieacker § 17 III 3 b, S. 308.
Wolf, S. 365. VgI. Wolf, S. 374. Thieme ZRG 56, 202 (224). VgI. Wieacker § 18 III 3, S. 319. Thieme ZRG 56, 202 (227).
I. Der geistige Hintergrund
101
heiten schaffen, sondern nur bereits bestehende ans Licht bringen, wollte weniger Erfinder als Entdecker des verborgenen "jus certurn" sein und so der Praxis den Weg weisen18. Mit dieser statischen Haltung ist Wolffs Verhältnis zum positiven Recht verknüpft. Dieses stand nicht - wie man erwarten könnte - gesondert unter dem natürlichen, richtigen Recht, sondern war in sein Naturrechtssystem integriert19 . Gerade im positiven Recht konnte Wolff mit der ihm eigenen Methode rational-logische Rechtssätze entdecken und gleichzeitig seinem Bestreben folgen, Nützliches für die praktische Rechtswissenschaft zu schaffen. Zunächst wurden diese Rechtssätze abstrakt-mathematisch von ersten, apriori gewonnenen Erkenntnissen deduziert, dann das positive Recht an den naturrechtlichen Wahrheiten gemessen. Stimmte bei des überein, war das positive Recht naturrechtgemäß; wo das nicht der Fall war, trat nach Auffassung Wolffs die Verbesserungsbedürftigkeit der Gesetze zutage 20 . Nur zu oft kam Wolff dabei zu dem Ergebnis, daß das positive Recht dem natürlichen entsprach. Die in der Folgezeit oft gehörte Meinung, das römische Recht sei geschriebene Vernunft 21 , hat hier seinen Ausgang. Das Naturrecht wird damit in Wolffs System zur "überpositiven Rechtfertigung des positiven Rechts"22. Wirkliche Folgen für das bestehende Recht zog Wolff aus seinen naturrechtlichen Erkenntnissen nicht. Ihm genügte es, ein in sich ruhendes naturrechtliches System aufgestellt zu haben23 • Wolffs Einfluß auf die juristische Nachwelt ist kaum zu überschätzen24 • Von seinen Fernwirkungen abgesehen25 , wurde seine Auffassung vom Naturrecht durch seine Schüler bald zum juristischen Gemeingut26 • überall demonstrierte und systematisierte man nun nach der mathematischen Methode. Dabei war man wie Wolff bestrebt, das Naturrecht wirklich zu gestalten, indem man alle Definitionen und Obersätze des positiven Rechts in die naturrechtlichen Systeme einbezog 27 • Eine Grenze zwischen positivem Recht und Naturrecht - "angewandtern" Naturrecht, wie es nun bezeichnend hieß - bestand nicht mehr. 2. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vollzog sich allmählich eine Abkehr von der ausschließlich mathematischen Syllogistik der Wolffschen Schule und eine Hinwendung zu einer mehr philosophischen Art 18 19 20
21 22
23 24
25 26
27
VgI. Thieme ZRG 56, 202 (225, 227 f.). Verdross, S. 140. Thieme ZRG 56, 202 (227). VgI. Thibaut, S. 137 f. Thieme ZRG 56, 202 (228). Ebenda, S. 226. Wieacker § 18 III 4, S. 320.
Dazu Wieacker, ebenda.
VgI. Thieme ZRG 56, 202 (226). Landsberg, 1. Hlbbd. S. 297.
102 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime der naturrechtlichen Argumentation. Dabei strebte man nicht mehr nach der Aufstellung umfassender Systeme des Naturrechts, sondern wandte sich Einzelfragen zu. Gerade bei derartigen Problemen kam man mit der Wolffschen Methode, bei der Kriterium für die Geltung eines Rechtssatzes allein die Widerspruchsfreiheit der logischen Ableitung innerhalb des Systems schien28 , nicht weiter. So wurde die Vernunft, der gesunde Menschenverstand zur Autorität - das Naturrecht wandelte sich zum Vernunftrecht29 • Es ist nicht mehr ein in sich ruhendes allumfassendes Rechtssystem, sondern Methode der Rechtsfindung 30 • Kennzeichnend für die Methode der Vernunftrechtler ist die Argumentation mit bestimmten Schlagworten. Dabei sind jene von der "Natur der Sache" und dem "Geist der Gesetze" am häufigsten. Mit diesen Begriffen ging der Jurist der Zeit an das positive Recht heran und versuchte, anstatt umfassende, aber doch nur Theorie bleibende Naturrechtssysteme Wolffscher Prägung aufzustellen, praktische Einzelfragen zu lösen. Dabei wurde wiederum verschieden vorgegangen31 • Manche Vertreter des Vernunftrechts kamen vom positiven Recht her und verwandten nur zur Begründung ihrer besonderen Ergebnisse naturrechtliche Argumente. Häufiger aber findet man, daß eine Einzelfrage zunächst so entwickelt wurde, wie sie sich "nach vernünftigen Grundsätzen" darstellte, um dann die Regelung des positiven Rechts zu beschreiben32 • Hier tauchen die Formulierungen vom Gegenstand der Untersuchung "an sich" oder "überhaupt" und - als Gegensatz - "im besonderen" oder "im geltenden Recht" auf. Wie dieses Vorgehen zeigt, hielt der Einfluß Wolffs und seiner Schule an. Wenn man sich auch Einzelfragen zuwandte, blieb doch der naturrechtliche Ausgangspunkt von apriori geschöpften Ideen bestehen. Dabei war die zunächst von den Vernunftrechtlern gesuchte Lösung aus der "Natur der Sache" von der Entwicklung der Probleme "ex ipsa hominis rerumque essentia" bei Wolff so sehr nicht verschieden. Den eigentlichen Unterschied zwischen Juristen Wolffscher Prägung und denen des späten Naturrechts glaubt man heute darin zu sehen, daß 28
Wieacker § 18 !II 3, S. 319.
über die Gründe dieser Benennung vgl. Feuerbach, Beweisgründe, S. 8 Fn. *. Wieacker, S. 249 ff., bezeichnet die gesamte Periode - von den Anfängen des weltlichen Naturrechts bis hin zu den naturrechtlichen Kodifikationen ausgangs des 18. Jahrhunderts - als Vernunftrecht. Dieser Begriff ist jedoch eher ein terminus technicus, mit dem die Juristen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ihre besondere Denkweise charakterisierten, so daß hier nur für diesen Zeitabschnitt von Vernunftrecht gesprochen werden soll. 30 Thieme ZRG 56, 202 (235). 31 überhaupt läßt sich bei den Vernunftrechtlern keine völlig einheitliche methodische Richtung feststellen; vgl. Döhring, S. 336. 32 Schönes Beispiel bei Wirschinger: Inhaltsangabe §§ 23 ff. einerseits, §§ 45 ff. andererseits. 29
I. Der geistige Hintergrund
103
die VernunftrechtIer die Empirie wieder in ihr methodisches Instrumentarium aufgenommen haben 33 • Wenn dies auch für die Angehörigen der sogenannten philosophischen Richtung des angebrochenen 19. Jahrhunderts wie etwa Mühlenbruch, Kierulff und Wächter zutrifft34 , war dies bei den Vernunftrechtlern des ausgehenden 18. Jahrhunderts in dem Maße noch nicht der Fall. Zuzugeben ist, daß sich bei Juristen, die heute als beispielhaft für die empirische Haltung des späten Naturrechts gelten 35 , Aussprüche finden, welche diese Auffassung stützen. So schreibt Feuerbach 36 , die Jurisprudenz müsse "wenigstens zur Linken von der vernünftigen Philosophie, zur Rechten von der verständigen reinen Empirie geführt" werden. Thibaut3 7 meint dasselbe mit seiner Aussage, die anstehenden Probleme der Rechtswissenschaft könnten nur durch eine Methode gelöst werden, in der Philosophie und Geschichte Hand in Hand gingen. Doch gerade Thibaut und Feuerbach wurden - zumindest in ihren frühen Werken - ihren eigenen Forderungen oft nicht gerecht. Auch sie gingen häufig ausschließlich philosophisch vor und leiteten Rechtssätze aus apriori geltenden Prinzipien ab 38 • Die vielen Juristen schließlich, die sich als fleißige, aber vergleichsweise unbedeutende Geister an die Bearbeitung von Einzelfragen machten, erteilten der Empirie nur zu oft eine Absage und ließen allein die philosophische Methode gelten 39 • Das Zurückgreifen auf die Erfahrung ist daher weniger Kennzeichen der VernunftrechtIer des ausgehenden 18. Jahrhunderts als eher Ausnahme von der allgemeinen vernunftrechtlich-philosophischen Richtung, welche die Masse der Juristen noch beherrschte. Daß der Begriff der Empirie dennoch bisweilen auftauchte, mag seinen Grund darin gehabt haben, daß man Einzelprobleme nicht, wie die mehr oder minder im leeren Raum konstruierten Systeme Wolffscher Prägung, ohne jeden Bezug auf den historischen Hintergrund behandeln konnte. Wahrhaft kennzeichnend für das Vernunftrecht am Ende des 18. Jahrhunderts und von großer Bedeutung für die juristische Nachwelt war ein anderer Zug der Rechtswissenschaft jener Zeit: der Umformungstrieb der damaligen Juristen. Diese Neigung resultierte aus Methode und Absicht der Rechtswissenschaftler. Sie begnügten sich nicht mehr mit der Aufstellung eines in sich ruhenden Systems des Naturrechts, das dem positiven Recht entgegenzusetzen war. Vielmehr wollten sie das 33
34
35
Thieme ZRG 56, 202 (230). Vgl. Döhring, S. 336, und die bei Schönfeld, S. 373 Fn. 174, Genannten. Thieme ZRG 56, 202 (217).
Vorrede 4. Seite. S.142; vgl. auch S.174. 38 Vgl. Feuerbach, S. 191 (202); Beweisgründe S. 9 ff.; Thibaut, S. 141, 144. Auch Döhring, S. 336, betont, daß die philosophische Betrachtung bei Feuerbach und Thibaut stark im Vordergrund stand. 39 Als Beispiel Wirschinger, S. 36. 36
37
104 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime
Naturrecht im positiven Recht "praktisch machen"40 und beweisen, daß man im Besitze einer Gesetzgebung sei, die mit der Vernunft übereinstimm te 41 • Charakteristisch für diese Tendenz waren Büchertitel wie "Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts nach der Natur der Sache und der positiven Gesetzgebung" (Kleinschrod), "Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts" (Feuerbach) oder "Versuch einer philosophischjuristischen Darstellung der Criminalgesetzgebung des republikanischen Frankreichs" (Almendingen). Dabei beschränkten sich die wenigsten Juristen darauf, unter vernunftgemäßen Gesichtspunkten Einheit in das positive Recht zu bringen und auch die vermeintlich aus dem Rahmen der Vernunft fallenden Regelungen zu beschreiben, um so das Verständnis der Gesetze zu erleichtern 42 und ihre Reformbedürftigkeit darzutun. Vielmehr ging man daran, bestehende Bestimmungen unter verschiedenen Gesichtspunkten zusammenzufassen und als aus höheren Prinzipien abgeleitet zu betrachten. Dabei unterstellte man dem Gesetzgeber, er habe aus solchen Gründen der reinen Vernunft gehandelt. Fanden sich Regelungen, die mit den aus der Natur der Sache gewonnenen Vernunftsätzen nicht übereinstimmten, wurden sie durch Auslegung dermaßen umgestaltet, bis dieser Einklang vorhanden war43 • Erschien dies unmöglich, erklärte man die Bestimmungen zu unbedeutenden Abweichungen von einer allgemeinen Regel, an deren Geltung sie nichts änderten 44 • So tatsächliche Ausnahmen geschickt übergehend, formten die philosophischen Juristen das positive Recht um, indem sie überall Grundsätze entdeckten, unter welche sie die einzelnen Vorschriften bisweilen geradezu zusammenpreßten45 • Dabei ging man oft derart vor, daß man zunächst allgemeine Grundsätze aus der Natur der Sache abstrahierte, besondere Bestimmungen - auch des positiven Rechts - aus ihnen ableitete und, um die Gründe der Grundsätze klar zu machen, wiederum die Gründe der abgeleiteten Bestimmungen heranzog 46 • So wurden in dieser Zeit kaum entdeckte Grundsätze vorschnell angewandt; alles wurde mit einer Geschäftigkeit bearbeitet, "welche mehr einer handwerksmäßigen, speculierenden Indüstrie, als wahrem philosophischen Eifer zu gleichen scheint"47. Die Folgen dieses Vorgehens wurden von Thibaut, einem der wenigen Juristen, die diesem Hang nicht oder nur kaum erlagen, ebenso 40 U 42
43 U
45 46
47
Schott § 374 Ziff. 2, S. 257. Vgl. Thibaut, S. 136. Wie Thibaut, S. 141 f., 166, es empfahl. Vgl. Thibaut, S. 152. Als Beispiel Feuerbach, S. 191 (202). Vgl. Thibaut, S. 151. Thibaut, S. 151; vgl. auch Thieme ZRG 56, 202 (218 Fn. 2). Thibaut, S. 126 f.; vgl. auch S. 168.
I. Der geistige Hintergrund
105
kurz wie treffend mit den Worten charakterisiert48 : "Das positive Recht muß nothwendig durch solche gewagte Versuche verunstaltet werden." Nicht immer hatte die Umgestaltung des positiven Rechts negative Folgen. Indem das Einzelne der allgemeinen Gesetzlichkeit geopfert wurde49 , gewann das Recht vielfach an Klarheit. Zudem wurden die Gesetze den Erfordernissen der Neuzeit angepaßt. Zu solchen Ergebnissen konnten indessen nur wahrhaft bedeutende Geister gelangen, die in festen philosophischen Grundlagen wurzelten. Die Masse der Juristen besaß diese Bildung nicht. Sie gefiel sich in juristischer Grundsatzhascherei und verdrehte damit das positive Recht, anstatt es zu reformieren. In blindem Umformungseifer stellte man - bewußt oder unbewußt - das Recht nicht so dar, wie es war, sondern wie es sein sollte. 3. a) Im Zivilprozeßrecht gewann das naturrechtliche Denken erst spät an Einfluß. Diese Tatsache hat mehrere Gründe. Zunächst gab es im bürgerlichen Verfahrensrecht keine Regelungen, die naturrechtlichaufgeklärte Ideen auf den Plan rufen mußten, wie es etwa im Strafrecht mit seinen aus dem Mittelalter stammenden Strafen und ihrer Vollziehung der Fall war. Darüber hinaus kam es dem Drang der NaturrechtIer zur Theorie, zur Bildung eines "allgemeinen Teils" nicht entgegen, daß der Prozeß herkömmlich zur "praktischen Rechtsgelehrtheit" gezählt wurde 50 , ja die Ausdrücke Prozeßrecht und praktische Rechtsgelehrtheit oft synonym gebraucht wurden 51 . Man schrieb für und als Praktiker und tat dies ganz im alten Stil, indem man neben den römisch-kanonischen Quellen gemeinrechtliche und andere Autoritäten wie Mevius, Carpzov, Brunnemann etc. anzog und auf diese Weise die einzelnen Regelungen des Verfahrensganges belegte. Überdies blühte das kasuistische Schrifttum bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Die Fallsammlungen Mynsingers und Gaills wurden von Ludolf und eramer, Mevius' Arbeit von Engelbrecht fortgesetzt (1748 ff.). Dazu kamen neue Werke wie Lynckers "Consilia" (1700 ff.), Horns "Consultationes" (1711), Justus Henning Boehmers "Consultationes" (1733 ff.); später die Sammlungen Pufendorfs und Strubes (1744 ff., 1761 ff.)52. Schließlich wurden auch Leysers "Meditationes" (1717-1748), welche ebenfalls die gerichtliche Praxis verarbeiteten, noch lange Zeit von den Gerichten als wichtiges Nachschlagewerk benutzt53 • Alle diese Arbeiten stellten maßgeblich auf den Einzelfall ab und gelangten auf diese Art zu gerechten Ergebnissen. Den
Thibaut, S. 168. Vgl. Dahm, S. 116. 50 Vgl. Schott, Inhaltsverzeichnis, 1. Teil 1. Abschnitt 11. Abteilung I. Unterabteilung einerseits, H. Unterabteilung 3. Kap. andererseits. 51 Vgl. den Titel von Nettelbladts Prozeßlehrbuch "Versuch einer Anleitung zu der ganzen praktischen Rechtsgelahrtheit". 48
49
52 53
Döhring, S. 316 f. Döhring, S. 315.
106 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime
Axiomatikern der Wolffschen Schule eröffnete sich damit zunächst kein Betätigungsfeld. Auch die VernunftrechtIer hätten hier vergeblich versucht, allgemeine, aus der Natur der Sache genommene Rechtsgrundsätze zu schöpfen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts begann sich dieser Zustand des Prozeßrechts allmählich zu ändern. Man schrieb nicht mehr nur für die Praxis, sondern auch für den Universitätsbetrieb. Es galt nun, den Studenten mit dem Prozeßrecht vertraut zu machen, was bei der Vielfalt von Reichsgerichts-, gemeinem und partikularem Prozeß und deren umständlichen Verfahren nicht einfach war. Der kasuistischen Methode, mit der man es teilweise versuchte, war dabei kein Erfolg beschiedens4 • So ging man daran, den derart unterschiedlich geregelten Zivilprozeß in ein System zu fassen, allgemeine Regeln des Verfahrens aufzustellen, an die sich der Lernende zunächst halten konnte, welche aber auch dem Praktiker Leitlinie sein solltenss • Hier fand das naturrechtliche oder wie es nun hieß - das vernunftrechtliche Denken sein Betätigungsfeld. Da gerade im gemeinen Prozeß vieles gar nicht oder nur unvollständig geregelt war, ging man daran, "aus der Natur der Sache", "nach vernünftigen Grundsätzen" Lösungen der einzelnen Probleme zu suchen. Was dabei herauskam, waren häufig nur Verallgemeinerungen von Ergebnissen, die in den Entscheidungssammlungen für gewisse Fälle getroffen worden waren. Sie wurden jetzt als aus der Natur der Sache geschöpfte Grundsätze ausgegeben. Dabei ließ man Ausnahmen, welche in ihrer Zahl den unter die vermeintliche Regel zu subsumierenden Fällen gleichkamen oder sie gar übertrafen, außer acht. Mit dem Vordringen des Vernunftrechts wurde auch hier das Einzelne der allgemeinen Gesetzlichkeit geopfert. Dies geschah um so mehr, als man mit Fortschreiten des Jahrhunderts über den Zivilprozeß "an sich", "überhaupt" nachzudenken begann. b) Eine Betrachtung der über das bürgerliche Streitverfahren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienenen Werke macht das allmähliche Vordringen des Vernunftrechts deutlich. Zwar blieben einzelne Prozessualisten wie Justus Claproth S6 , Wilhelm August Friedrich Danz57 und Christoph Martin S8 von seinen Einflüssen weitgehend unberührt oder wandten sich gar wie MartinS9 gegen die Methoden des Vernunftrechts. Doch standen sie mit ihrem herkömmlichen Vorgehen, das dennoch nicht VgI. Döhring, S. 317. VgI. Liekefett, 1. Teil, Vorrede 8. Seite. 58 Einleitung in den ordentlichen bürgerlichen Proceß, 1. Abtlg. 1779, 2. Abtlg. 1780. 57 Grundsätze des gemeinen ordentlichen bürgerlichen Processes, 1791. 58 Lehrbuch des Teutschen gemeinen bürgerlichen Processes, 1800. ~A Vorrede 3. Seite. 54
55
I. Der geistige Hintergrund
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ohne Einwirkung des Vernunftrechts blieb, allein. Die weitaus größere Zahl der Bearbeiter entfernte sich mehr und mehr von den Quellen und gewann allgemeine Grundsätze des Prozeßrechts zunehmend aus der Vernunft, dem Geist des Prozesses und der Natur der Sache. Die dem Einzelfall angemessenen Entscheidungen eines Berlich, Mevius oder Boehmer, die noch ohne einen allgemeinen Teil des Prozeßrechts ausgekommen waren, gerieten in Vergessenheit. Johann Georg Estor 80 , Johann Andreas Hofmann 61 und Leopold Friedrich Fredersdorf62 schrieben noch überwiegend für die Praxis. Aber schon bei Hofmann finden sich in Überschriften wie "Von den Klagen überhaupt", "Vom Beweise überhaupt" naturrechtliche Anklänge. Fredersdorf gar entwickelte aus der Vernunft und der "natürlichen Billigkeit" ein bestimmtes Prozeßziel, woraus er eine allgemeine Regel und aus ihr besondere Grundsätze folgerte 63 • Das eigentliche Vordringen des Vernunftrechts begann mit dem "Systema elementare universae iurisprudentiae positivae" (1749) und der "Praktischen Rechtsgelahrtheit" (1767) des Wolff-Schülers Daniel Nettelbladt. Doch stand auch hier, trotz Überschriften wie "Theorie des Civilprocesses", noch die Praxis im Vordergrund. Immerhin sind Nettelbladt klare Definitionen der Prozeßinstitute und Rechtshandlungen sowie eine scharfe, organische Gliederung des Verfahrens zu danken64 • Sehr umfassend gliederte auch Philipp Carl Boell in seinem 1780 erschienen Werk "Processus Germaniae civilis communis theoria", indem er sich zunächst65 mit der Idee des Prozesses "in statu naturae" und "in civitate" beschäftigte, um dann66 unter der Überschrift "Processus Pars Generalis" einen allgemeinen Teil des Prozeßrechts zu schaffen. Dabei finden sich in jedem Kapitel immer weitere Aufgliederungen, die Boell als Systematiker Wolffscher Herkunft erscheinen lassen. Vernunftrechtlich war trotz seines Titels auch Gottlob Eusebius Oeltzens "Anleitung zur gerichtlichen Praxis" (1782). In der Vorrede schrieb Oeltzen67 , er habe seine Regeln aus der Natur der Sache, d. i. aus dem wesentlichen Zweck der rechtlichen Handlungen herzuleiten sich bemüht. Dabei ließ er das positive Recht nicht außer acht, sondern baute es - kennzeichnend für den VernunftrechtIer - in sein natürliches Verfahrensrecht ein. Allmählich kam auch der vernunftrechtliche Umformungstrieb zum Tragen. Beispiel dafür ist das Werk Samuel Gottfried Liekefetts "Voll60 61
62
Anfangsgründe des gemeinen und Reichsprocesses, 1.-4. Teil 1752-1756. Teutsche Reichspraxis, 1765. Anweisung für angehende Justitz-Beamte und Unterrichter, 3 Bände 1772
bis 1774. 63 1. Bd., S. 295 ff., §§ 6 ff. 64 Vgl. Landsberg, 1. Hlbbd., S. 296. 65
M 67
S. 9 ff. S.13 ff.
3. Seite.
108 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime
ständige Erläuterung des gemeinen Teutschen und Sächsischen Processes" (1792-1794). Liekefett teilte den Prozeß in den "natürlichen", d. h. von der Vernunft als wesentlich erforderten, und den "positiven", d. h. von den Menschen willkürlich eingerichteten ein68 • Dabei sollte das positive Recht möglichst mit dem vernünftigen Recht übereinstimmen. Wo das nicht der Fall war, hatte eine richtige Theorie die Praxis zu leiten69 • Besonders beim Beweis, so schrieb LiekefetFO, müsse man untersuchen, "ob darin neue Entdeckungen gemacht, die Regeln zu mehrerer Vollkommenheit gebracht, und die bisherigen Lehren mit unstreitigen Vernunfts ätzen und Erfahrungen übereinstimmender gemacht, auch in ein mehr zusammenhängendes System gebracht werden können"71. Eine solche Prüfung des positiven an Hand des Vernunftrechts nahm, wenn auch ungleich intensiver, Emil August Friedrich Eggers in seinem "Philosophischen Abriß von dem allgemeinen bürgerlichen Rechtsverfahren" (1790) vor. Überzeugt, daß in den bisherigen Werken des Prozeßrechts der theoretische Teil fehle 72 , wollte Eggers eine "natürliche, zweckmäßige Ordnung ... philosophisch, folglich nach angegebenen Begriffen, Erfordernissen und Beweisen" ausführen73 . Alles sollte dabei nach der Natur der Sache dargestellt werden 74 • An Hand der so gewonnenen Grundsätze und der daraus vernünftig abgeleiteten Regeln prüfte Eggers die "willkührlichen einzelnen Bestimmungen" des positiven Rechts75 • Dabei gab er oft genug als bestehendes Recht aus, was als solches nur in seinen Ideen existierte. c) Im Vergleich zu den abstrakten Erörterungen Eggers' hielt sich die "Theorie des gerichtlichen Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten" (1800) von Karl Grolman mehr an das positive Recht. Gleichwohl bedeutet sein Werk einen vorläufigen Höhepunkt der vernunftrechtlichen Prozeßlehre. Grolmans Vorgängern war es trotz der immer wieder geäußerten Absicht nicht gelungen, aus der Natur der Sache ein System allgemeiner Regeln für das Verfahren aufzubauen. Man war bei vernunftrechtlichen Halbheiten stehengeblieben und oft in den alten Stil der Autoritätenhascherei zurückgefallen. Dies meinte Grolman, wenn er schrieb 76 , daß die Theorie des Zivilprozesses noch sehr wenig fortgeschritten sei. Er selbst ging daher daran, eine solche Theorie zu schaffen. 88 89 70
1. Teil, S. 6. 2. Teil, S. 459 f.
Ebenda.
71 Diesen Satz hat Liekefett der ebenfalls vernunftrechtlichen Monographie v. Tevenars über das Beweisrecht entlehnt. Vgl. dort S. 8. 72 Vorrede 3. Seite. 73 Vorrede 4. Seite. 74 75
7"
Vorrede 7. Seite. Vorrede 8. Seite. Vorrede S. VIII.
I. Der geistige Hintergrund
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überzeugt, daß es aus den positiven Gesetzen, die er als unmittelbare Quelle betrachtet77 , und der Natur der Sache, für ihn mittelbar gesetzliche Quelle7s , abzuleitende prozessuale Grundregeln gebe 79 , fühlt Grolman sich veranlaßt, einen allgemeinen Teil des Prozeßrechts zu schaffen so • Dabei geht er von einem charakteristisch vernunftrechtlichen Denkansatz aus, der sich in dieser Reinheit zum ersten Mal bei ihm findet. Es ist dies die Frage nach dem Prozeßzweck. Ursprünglich hatte man sich über den Sinn des bürgerlichen Rechtsverfahrens kaum Gedanken gemacht, sondern war ohne weitere Erörterungen davon ausgegangen, daß es sowohl dem Einzelnen wie auch dem Staat diene81 • Mit dem Aufkommen des Naturrechts begann man der Frage mehr Beachtung zu schenken. Zum Wohl des Ganzen und des Einzelnen sei der Zivilprozeß geschaffen, so hieß es zunächst weiterhin82 • Doch langsam gewann eine Meinung an Boden, welche die Funktion des Rechtsstreits allein darin sah, dem Einzelnen zur Durchsetzung seiner Rechte zu verhelfen83 • Diese Ansicht wird nun von Grolman mit Nachdruck vertreten84 • Aus dem so verstandenen Prozeßzweck leitet er alle weiteren Regeln ab, indem er davon ausgeht, daß "alle einzelnen, bey dem gerichtlichen Verfahren vorkommenden Handlungen ... auf die ... Erreichung des Endzwecks des gerichtlichen Verfahrens berechnet seyn" müssen 85 • Da jedoch das positive Recht, wie Grolman es vorfand, nicht immer mit den auf diese Art gewonnenen Regeln und Grundsätzen übereinstimmte, wurde es vernunftrechtlich umgeformt. Grolman selbst deutet dies an, wenn er in der Vorrede seiner "Theorie" schreibt86 , man werde in seinem Lehrbuch "das Ganze sowohl, als auch vorzüglich einzelne Lehren in einer ganz anderen Gestalt erblicken, als man bisher denselben geben zu müssen geglaubt hat". Nur wenig erinnert bei Grolmans "Theorie des gerichtlichen Verfahrens" noch an die praktische Rechtsgelehrtheit alter Art. Auch wenn die allgemeinen Grundsätze seines Buches, das vornehmlich für den Universitätsbetrieb geschrieben war, teilweise unfertig scheinen und der alte Stil bisweilen noch zu spüren ist, hatte sich mit ihm das Vernunftrecht endgültig des Zivilprozesses bemächtigt. Grolmans Werk ist Abschluß einer Entwicklung, die um 1750 eingesetzt und kontinuierlich zu seiner S.10. S.10. 79 S.22. 80 S. 23 o. 81 Brunnemann II, Rdnr. 9, S. 45; Ziegler XXXV, § 27, S. 617; Ludovici § 68, S. 54 (55). 82 Vgl. Eggers, S. 17. 83 So schon Fredersdorf I, S. 295, § 6. 84 S.98. 85 S. 98 f. 86 S. VIII. 77
78
110 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime "Theorie" geführt hatte. Gleichzeitig ist Grolman erster Vertreter eines ausschließlich vernunftrechtlich orientierten Prozeßrechts, einer Richtung, die nicht lange währen und in Ludwig Harscher von Almendingen und seinem 1808 erschienenen Werk "Metaphisik des Civilproeesses" bereits ihren letzten Verfechter haben sollte. War der vernunftrechtlichen Lehre vom Zivilprozeß auch nur kurze Dauer beschieden, haben ihre Vertreter die Zeit ihrer Herrschaft doch zu tiefgreifender Durchdringung des positiven Rechts genutzt. Die Wirkung ihrer Gedanken ist heute noch zu spüren. Methode und Ziel dieser Richtung finden sich nirgends besser ausgedrückt als in den programmatischen Sätzen Almendingens. Sie mögen der Kennzeichnung des vernunftrechtlichen Prozeßrechts dienen. Almendingen schreibt als Einführung in seine "Metaphisik"87: "Für das wirkliche Leben im Staat vereinigter Bürger gegebne Gesezze können ihrer Natur nach nichts anderes als Ausflüsse der Philosophie, oder einer philosophischen alle Verhältnisse des Menschen und Bürgers umfassenden, über die Launen kurzsichtiger Despoten erhabnen Ansicht seyn. Schlechte, inkonsequente, sich selbst oder der menschlichen Natur widersprechende Gesezze können nicht angewendet werden. Sie sind die Quelle einer willkührlichen Praxis, eines schwankenden Gerichtsgebrauchs, juristischer Controversen, an welchen der Sophismus seinen Scharfsinn übt, welche aber nie zum wissenschaftlichen Frieden führen. Die herabgewürdigte Philosophie beugt sich vergeblich unter ihrem Joch. Was nicht aus ihr hervorging, kann auch nicht durch sie geadelt und gereinigt werden. Der todte Buchstabe einer geistlosen Gesezgebung kann höchstens dem genielosen Fleis Stof und Nahrung darbieten. Aber der Staub von Folianten zeugt keine für die Anwendung brauchbare Maximen ... Nichts ist daher auch für die Praxis nothwendiger als die Zergliederung der bestehenden Gesezgebung in ihre höhe rn allgemeinen Principien, welche ich die Metaphysik des positiven Rechts nennen möchte. Nur eine solche Metaphysik erzeugt Harmonie zwischen der Form und dem Inhalt, dem Buchstaben und dem Geist des Gesezzes. Indem sie lezteres von der Sanktion eines launen vollen sie volo, sie jubeo entkleidet, erhebt sie es in die höhern Regionen des Nothwendigen und Wahren. Indem sie die menschliche Natur als Obersaz, und die bestehende bürgerliche Verfassung als Untersaz betrachtet, sieht sie in dem Gesez die nothwendige Folgerung gegebner Prämissen. Diejenige Ansicht, welche die Gesezgebung ... in Harmonie mit der ganzen Verfassung aufgefaßt hat - diese Ansicht und nichts anderes ist die Natur der Sache. Wer diese Ansicht richtig construiert, ist in die Natur der Sache eingedrungen. Und wer die aus jener Ansicht nothwendig folgenden Resultate darstellt, hat Grundsätze aufgestellt, welche ihre gesezliche Sanktion in sich selbst tragen, und für die Anwendung volle Gültigkeit haben, wenn sie auch in keinem Gesez geschrieben stehn, und sich kein Herkommen darüber nachweisen läßt. Jedes geschriebne Gesez dagegen, welches solchen nothwendigen Resultaten widerspricht, ist keiner Anwendung fähig. Vielleicht ist kein Theil unserer positiven Gesezgebung einer solchen Behandlung mehr fähig als die Theorie des gerichtlichen Verfahrens ... " 87 S. 3 ff.
II. Nikolaus Thaddäus von Gönner
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In diesen wahrhaft metaphysischen Gedanken wirkten die vernunftrechtlichen Prozessualisten. Ihr bedeutendster Vertreter war Nikolaus Thaddäus von Gönner. 11. Nikolaus Thaddäus von Gönner als Haupt der vernunftrechtlichen Prozessualisten 1. Am 18. Dezember 1764 wird Nikolaus Thaddäus Gönner in Bamberg als Sohn eines Amtmannes und domkapitularischen Kastners und Rechnungsrevisors geboren l • Ab 1773 besucht er das Bamberger Gymnasium und bezieht bereits 1777 die dortige Universität. Nach philologischen Studien widmet er sich bald der Geschichte und besonders der Philosophie, wodurch ihm nach den Worten seines Biographen Jäck "auch die verworrensten Begriffe und Lehrsätze der Physik und Mathematik" enträtselt werden 2 • 1781 erwirbt er die philosophische Doktorwürde und wendet sich der Rechtswissenschaft zu. Nach mehreren Studienjahren in Bamberg geht Gönner zur Vertiefung seiner Kenntnisse 1787 nach Göttingen, wo er bei Pütter, G. L. Boehmer, Runde und Claproth die Rechte, bei Spitteler und Schlözer Geschichte hört. Auf Pütters Rat begibt er sich im Jahre 1788 nach Wetzlar, um dort das Verfahren des Reichskammergerichts kennenzulernen. So gebildet kehrt Gönner 1789 nach Bamberg zurück, wo er noch im selben Jahr zum ordentlichen Professor der Institutionen und Beisitzer der Juristenfakultät ernannt wird. 1791 wird ihm die Professur für Pandektenrecht übertragen. Dasselbe Jahr bringt auch den Beginn von Gönners bis zu seinem Weggang andauernder Tätigkeit im Dienst der Bamberger Fürstbischöfe. Im weiteren Verlauf seiner Bamberger Zeit scheint Gönner sich mit allen Disziplinen der damaligen Rechtswissenschaft befaßt zu haben3 , ohne von seiner Professur für Privatrecht zu einem anderen Gebiet überzugehen. Dies geschieht erst 1796, als Gönner zum Lehrfach des deutschen Staatsrechts wechselt, wie es schon in seiner Göttinger Zeit vorgesehen war4 •
1799 erreicht Gönner ein Ruf auf die Lehrkanzel für deutsches Staatsrecht an der alten Jesuitenuniversität Ingolstadt, die Kurfürst Maximilian IV. Joseph im Sinne der Aufklärung reformierte. Verärgert über ihm nicht wohlwollende Kreise des Bamberger Hofes nimmt Gönner an und begibt sich umgehend nach Ingolstadt. Dort wirkt er maßgebend an der Verlegung der Universität nach Landshut im Jahre 1800 mit5 • In 1 2
3 4
5
Zu seinem Leben vgl. Jäck und Holzbauer. S.7. Jäck, S.17; vgl. auch Gönner, Motive, S. 3 Fn. *. Jäck, S. 18. PrantI, S. 648 ff.
112 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime Landshut wird Gönner 1801 zum Rektor gewählt. 1803 und 1804 amtiert er als Vizekanzler6 • Noch sieben Jahre wirkt Gönner in Landshut, bis er 1811 nach München gerufen wird, um an der Schaffung eines zeitgemäßen einheitlichen Rechts für das Königreich Bayern mitzuarbeiten. Vier Jahre bekleidet er die Stelle des zweiten Direktors am Apellationsgericht für den Isarkreis, ehe er 1815 - inzwischen geadelt - in den Ministerialdienst übernommen wird. An jedem Gesetzesentwurf beteiligt7, muß Gönner neben manchen Erfolgen, besonders bei der Neuordnung des bayerischen Hypothekenwesens, auch mehrere Mißerfolge erleben. So bleibt der von ihm 1811 mitverfaßte Entwurf eines Zivilgesetzbuches ohne Folgen. Auch sein 1812 fertiggestellter Entwurf einer Prozeßordnung wird nur kritisiert, erlangt aber keine Gesetzeskraft. Gönners dennoch fortgesetzter Arbeit an der Reform des geltenden Rechts setzt am 18. April 1827 der Tod ein plötzliches Ende. Über Gönners Charakter sind uns zahlreiche Urteile seiner Zeitgenossen erhalten. Sie sind sich einig in der Kennzeichnung Gönners als eines begabten, aber durch Mißgunst und Eitelkeit, maßlosen Ehrgeiz und ungehemmte Machtgier sich um die Früchte seines Talents bringenden Mannes8 • Der bayerische Minister Montgelas äußert über Gönner, dieser habe sich in Beziehung auf Fleiß und moralischen Charakter mehrmals den öffentlichen Tadel und jenen der ihm vorgesetzten Stellen zugezogen 9 • Der eher zurückhaltend urteilende Savigny nennt Gönner "einen talentvollen, aber höchst eitlen und dabei ruchlosen Menschen, der das gründliche Studium verschmäht und verspottet, in Schriften und auf dem Katheder"lo. Einem solchen Manne konnte nicht gelingen, was seinen Fähigkeiten entsprochen hätte: einen Platz unter den bedeutendsten bayerischen Juristen einzunehmen. 2. a) Seinem juristischen Standpunkt und seinem methodischen Vorgehen nach war Gönner ein unverfälschter Vernunftrechtlerl l . Vom Vernunftrecht soll seiner Ansicht nach alles Recht ausgehen12 • Dabei ist das Vernunftrecht bei Gönner wie bei fast allen gleichgesinnten Juristen nicht etwa dem positiven Recht derart entgegengesetzt, daß das eine anfängt, wo das andere aufhört. Beide sind vielmehr ineinander verwoben 13 : "Das positive Recht schöpft aus dem Vernunftrechte als seiner Quelle, trägt dessen Bestimmungen in die Sphäre des Aeusseren und sinnlich Erkennbaren Vgl. Prantl, S. 698 f. Vgl. Holzbauer, S. 1057 ff. S Vgl. Radbruch, S. 66. 9 Gutachten vom 24. November 1809, Mlnn 23254. 10 Zitiert nach Radbruch, S. 66 f. 11 Wie Ekelöf, S. 214, zu der Annahme kommt, Gönner sei ein Jurist mit Sinn für praktische Realitäten gewesen, ist nicht ersichtlich. 12 Gesetzgebung, S. 144. 13 Gesetzgebung, S. 26 f. 6
7
II. Nikolaus Thaddäus von Gönner
113
über, und giebt durch Verbindung mit jenen Bestimmungen, welche an sich zufällig, jedoch in Harmonie mit den leitenden Prinzipien nach Zweckmässigkeit gewählt sind, dem Rechte ... Vollständigkeit und Festigkeit ... So erhält das Recht, was es unter Menschen braucht, Seele und Körper zugleich; als Vernunftrecht würde es nur Seele ohne Körper, als blos positives Recht nur Körper ohne Seele seyn ... " Das Vernunftrecht - "die Seele des Rechts" - ist danach gleichsam der materiale Kern, der in der Form des positiven Rechts seine Ausprägung gefunden hat14 • Dieser Ausprägung des Vernunftrechts im positiven Recht widmet sich Gönner in allen seinen Werken. überall sucht er den "Geist der Gesetze"15 - nichts anderes als die "Seele, Vernunft, naturalisratio" - und zeigt auf diese Weise die "leitenden Grundsätze" oder die "Rechtsprinzipien" auf, von denen das Gesetz nach seiner Ansicht getragen wird18 • Jedes positive Recht scheint Gönner dabei in dem Grade vortrefflicher, "wie es mehr dem gesunden Menschenverstande entspricht"17. Nur zu oft ist er dabei geneigt, im positiven Recht die geschriebene Vernunft zu entdecken 18 oder, wie Savigny es ausgedrückt hat1 9 , in jedem Gesetz eine prästabilierte Harmonie zu sehen und so zu beweisen, daß man im Besitz vernünftiger Gesetze sei. b) Markanter Vertreter des Vernunftrechts ist Gönner auch in der bei ihm zu beobachtenden scheinbaren Verbindung von ratio und Empirie 20 • So schreibt er, der Gesetzgeber müsse das Buch der Erfahrung ebensowohl zur Hand nehmen, als die Erfahrung durch die Urquelle des Vernunftrechts läutern 21 • An anderer Stelle fährt er, dem positiven Recht sich zuwendend, fort, man müsse dieses historisch, gleichzeitig aber vom wissenschaftlichen Standpunkt, d. h. rationell bearbeiten22 • Diese Äußerungen Gönners täuschen indessen. Sie sind in seinen frühen Werken Ausflüsse richtiger Erkenntnis, der jedoch kaum Rechnung getragen wird, in seinem späteren Schaffen, insbesondere seiner "Gesetzgebung", Verteidigung gegen Savignys Vorwurf, das Vernunftrecht ermangele des historischen Sinnes23 • Vgl. Gesetzgebung, S. 41. Gesetzgebung, S. 53, 78, 221, 269; Reform, S. 183. U Vgl. Gesetzgebung, S. 71,221; Staatsdienst, Vorrede S. IX. 17 Gesetzgebung, S. 224. 18 Vgl. Handbuch (Hdb.) I, 2 S. 119. IV ZgeschRw 1. Bd. (1815), S. 373 (404). 20 Auch Gönner wird von Thieme ZRG 56, 202 (217 Fn. 3) für seine Charakterisierung des späten Naturrechts in Anspruch genommen. Was den Zug zur Empirie betrifft, geschieht dies zu Unrecht. 21 Gesetzgebung, S. 57,145; Gönners Archiv 2. Bd. (1808/09), S. 238 ff. t! Gesetzgebung, S. 143; Hdb. I, 2 S. 322 f. 13 Deutlich Gesetzgebung, S. 141 f. 14
15
8 Bom.dorf
114 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime Die Wirklichkeit sah bei Gönner anders aus. Der Gesetzgeber könne sehr wohl allein auf dem Wege der Erkenntnis vorgehen, ohne des historischen Sinnes zu bedürfen, schreibt er an einer Stelle24, um an anderer auszuführen 25, er wolle über die engen Grenzen der römischen Fälle - die Erfahrung - hinweggehen und lieber an den gesunden Menschenverstand appellieren. Der Entwurf eines Gesetzbuches schließlich könne "nicht bloß durch Erfahrung" gerechtfertigt werden, sondern durch "Uebereinstimmung der in Vorschlag gebrachten Verordnungen mit den unabänderlichen Naturgesetzen, mit reinen Grundsätzen"26. Der letzte Hauch von Empirie schwindet, wenn man die folgenden, von Gönner 1806 geschriebenen Sätze liest27 : "Niemals kann die positive Rechtswissenschaft als ein Inbegriff von Gegenständen des blos empirischen Wissens betrachtet, niemals nur nach empirischen Gesichtspunkten geordnet werden, denn diese Behandlung zerstöhrt den Begriff einer Wissenschaft, welche von aller Empirie oder Erfahrung unabhängig ist, und ohne systematischen Zusammenhang, der alles Einzelne nach den Forderungen der Vernunft in seiner Uebereinstimmung und Einheit darstellt, gar nicht denkbar ist." Die Bevorzugung der Philosophie durch Gönner hat bereits seine Umwelt wahrgenommen. Sein Biograph Jäck bezeichnet ihn als Begründer einer philosophisch-juristischen Schule28 • Der Rezensent des Critischen Archivs - eine wahrhaft unabhängige und eher zu vorsichtige Instanz, da Gönner selbst seit dem vierten Bande mit zu den Herausgebern zählte - trifft in einer Besprechung von Gönners Staatsrecht den Kern, wenn er in Anspielung auf Gönners Vorgehen schreibt 29 , man dürfe nicht sogleich philosophisch apriori argumentieren, sondern sei es der Wahrheit schuldig, das positiv Gegebene in seiner historischen Individualität darzustellen, wenn man nicht Gefahr laufen wolle, ein anderes Recht in der Idee und ein anderes in der Wirklichkeit zu haben. c) Ebenfalls vernunftrechtlich ist die Methode Gönners, mit der er die im positiven Recht enthaltenen Bestimmungen des Vernunftrechts in die Sphäre des Äußerlichen und sinnlich Erkennbaren überträgt. Er selber kennzeichnet seine Art wissenschaftlichen Vorgehens mit folgenden Worten 30 : "Der wissenschaftliche Sinn gehet aus von Begriffen durch Erkenntnis (a priori), und führt das positiv Gegebene zurück auf jene Begriffe, von welchen aus auf demselben Wege weiter geschlossen wird ... "
Wie aus diesem Satz Gönners - und aus all seinen Werken - erhellt, wird seine Methode von einem sich in drei Stufen vollziehenden Ge24
25 26 27
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29 30
Gesetzgebung, S. 146. Hdb. IV, 2 S. 64. Hdb. I, 2 S. 200 f. Reform, S. 168. Vorrede S. Irr; ebenso Pierers Lexikon, 7. Aufl., unter "Gönner". 4. Bd. (1804), S. 377 (387). Gesetzgebung, S. 143.
II. Nikolaus Thaddäus von Gönner
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dankengang gekennzeichnet. Der erste Schritt besteht im Aufstellen von Begriffen und Rechtssätzen, die durch Erkenntnis - apriori - geschöpft werden. Diese ersten Sätze gewinnt Gönner nicht durch tiefgehendes, im eigentlichen Sinne philosophisches Eindringen in die Problematik der jeweiligen Rechtsfrage. Vielmehr kommt hier die Natur der Sache, das Wesen der Dinge an sich, die reine Vernunft, der gesunde Menschenverstand zum Tragen. Mit Hilfe dieser vernunftrechtlichen Formeln erschließen sich Gönner reine Grundsätze und Grundbegriffe. Sie sind vom positiven Recht zunächst noch völlig unabhängig, obschon der Anstoß zu ihrer Bildung oft aus ihm herrührt. Es folgt der zweite Schritt. Er wird von Gönner als Zurückführen des positiv Gegebenen auf die zunächst apriori gewonnenen Begriffe charakterisiert. Weniger vernunftrechtlich ausgedrückt bedeutet dies, daß hier die Einzelheiten des positiven Rechts unter die ersten, der Vernunft entstammenden Grundsätze subsumiert werden, um die Harmonie der Einzelbestimmungen mit den leitenden vernunftrechtlichen Prinzipien darzustellen31 und das Theoretische am Praktischen als wahr zu erweisen32 • Hier setzt zum ersten Mal die vernunftrechtliche Umformung oder - krasser, aber nicht weniger richtig bezeichnet - die Verfälschung des positiven Rechts ein. Nicht alle Einzelbestimmungen lassen sich auf die im ersten Schritt gewonnnenen Grundsätze zurückführen. Viele gar können nur den genau entgegengesetzten Begriffen zugerechnet werden, wie es Zweckmäßigkeit oder Zufall bei der Bildung des positiven Rechts gefügt haben. Dennoch. gelingt Gönner die Vereinigung dieser Bestimmungen mit den im ersten Schritt gewonnenen Begriffen. Einmal geschieht das, indem er den ersten Sätzen im vor- oder nachhinein die Voraussetzung eines gewissen Zweckes hinzufügt. Unter dieser Voraussetzung, d. h. von einem willkürlich gewählten Standpunkt aus, der im positiven Recht nicht nachzuweisen ist, harmonieren im zweiten Schritt auch die zufälligen mit den ohne diese logische Operation auf die ersten Begriffe zurückführbaren Einzelheiten. Wo dies nicht gelingt, bewältigt Gönner das positive Recht, indem er dessen Bestimmungen - nach einem Ausdruck Landsbergs3 3 - im Notfall vergewaltigt. Durch allerlei opportunistische Drehungen und Wendungen, durch Weglassen oder Hinzufügen wesentlicher Eigenschaften werden die Einzelheiten so lange geschnürt oder gestreckt, bis sie unter die ersten Begriffe passen34 • Was dabei nach außen wissenschaftlich exakt aussieht, ist in Wirklichkeit das, was Thibaut als Mißbrauch der Philosophie durch die Rechtswissenschaft geißelt und als Mißhandlung des positiven Rechts durch widernatürliches 31 32
33 34
Gesetzgebung, S. 27. Vgl. Staatsdienst, Vorrede S. XIII f. 2. Hlbbd., S. 152. Vgl. ALZ 1815,3. Bd., Sp. 289 (293 f.).
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Zusammenpressen unter eine seinsollende philosophische Form brandmarkt35 • Zuweilen kam es vor, daß positive Einzelheiten auftauchten, deren "widernatürliches Zusammenpressen" unter die im ersten Schritt gewonnenen Grundsätze selbst Gönner nicht möglich war. In diesen Fällen wendet er eine andere Art vernunftrechtlicher Bewältigung an. Zum einen geschieht das dadurch, daß die nicht zurückführbaren Einzelheiten als unbedeutende Abweichungen der ersten Sätze oder als Ausflüsse eines untergeordneten Prinzips gekennzeichnet werden, die an der Geltung der Regel nichts ändern und dem apriori geschöpften Grundsatz, den sie als Ausnahmen geradezu bestätigen, nachgehen36 • Die andere Art der Bewältigung derartiger Einzelheiten besteht schlicht darin, daß sie als "anomalisch" verschwiegen werden37 • Der dritte Schritt der Gönnerschen Methode bringt eine weitere, folgenreichere Verfälschung des positiven Rechts. War Gönner zunächst von den ersten Begriffen zu den gegebenen Einzelheiten hinabgestiegen und hatte, indem er diese auf jene zurückführte, die obersten Grundsätze als im positiven Recht bestehend erwiesen, begibt er sich nun wiederum zum positiven Recht hinab. Diesmal gilt seine Aufmerksamkeit denjenigen Einzelheiten, die er im zweiten Schritt als unbedeutende Abweichungen vom Prinzip bezeichnet oder verschwiegen hatte. Diese Bestimmungen werden jetzt von Gönner als nicht mit dem obersten Grundsatz übereinstimmend, als "fremdartig"S8 ausgeschieden. Gönner nennt dies schlicht "Weiterschließen" von den im positiven Recht als existierend erkannten Begriffensu • d) Die von Gönner nach dieser Methode behandelten Rechtsgebiete gewannen sehr an übersichtlichkeit und Klarheit4o • Das positive Recht jedoch mußte unter einer solchen Bearbeitung leiden. Das vernunftrechtliche Vorgehen Gönners verschüttete die Quellen gerade des gemeinen Rechts und tilgte als nicht den aus der Natur der Sache gewonnenen Grundsätzen entsprechend, was historisch gewachsen zumeist Zweckmäßigkeitserwägungen entsprungen war. So erschien in Gönners Werken die Vernunftgemäßheit des positiven Rechts als tatsächlich bestehend, während sie in Wirklichkeit allein in seinem Wunschdenken existierte. Von seinen Zeitgenossen wurde die für das gegebene Recht verhängnisvolle Neigung Gönners oft erkannt. Zum Ausdruck kommt dies in den S.151. Vgl. Gönner, Staatsrecht, § 88 S. 94 f., § 90 S. 98 f.; CritA 4. Bd., S. 377 (387,389). 37 Vgl. CritA 4. Bd., S. 377 (387). 38 Gesetzgebung, S. 36. 39 Gesetzgebung, S. 143. 40 Vgl. Landsberg, 2. Hlbbd., S. 148. 35
38
II. Nikolaus Thaddäus von Gönner
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Rezensionen seiner Bücher. Dort tauchen Formulierungen wie die folgenden auf: " ... durch kein Gesetz bestätigt"41; " ... mit allgemeinen Rechtsbegriffen so auffallend im Widerspruch"; " ... lässt sich mit den Gesetzen nicht vereinigen"; " ... offenbar gegen die bestehenden Gesetze"42; " ... als bestehendes positives deutsches gemeines Recht ausgegeben in der Ausdehnung offenbar durchaus unrichtig"43; " ... ein anderes Staatsrecht in der Idee und ein anderes in der Wirklichkeit"44; " ... zu rein apriorisch"45; " ... von dem, was in dem rein rationellen Vernunftsstaate Rechtens seyn müsse ... ist aber die Frage nicht"46. Deutlich kommt in diesen kritischen Sätzen zum Ausdruck, wie oft Gönner der Neigung erlag, das Recht nicht so darzustellen, wie es war, sondern wie es seiner Auffassung nach sein sollte. 3. Von seinem vernunftrechtlichen Standpunkt hat Gönner auch das gemeine deutsche Prozeßrecht bearbeitet. Ursprünglich nicht zu seinen Lehrgegenständen gehörig, war ihm diese Materie - abgesehen von seinem Aufenthalt am Reichskammergericht - dadurch vertraut geworden, daß er im Jahre 1800, offenbar in Zusammenhang mit seinem Ruf nach Ingolstadt, Vorlesungen über den gemeinen Prozeß gehalten hatte 47 • Dabei hatte er das Lehrbuch von Grolman zugrunde gelegt und sich überzeugt, "daß durch die Bearbeitung dieses würdigen Gelehrten der gemeine Prozeß eine neue Tendenz erhalten habe"48. Diese neue Tendenz lag in der vernunftrechtlichen Bearbeitung des Prozeßrechts, wie sie gerade bei Grolman einen vorläufigen Höhepunkt gefunden hatte. Grolman nachzueifern, ihn zu übertreffen, war nun Gönners Entschluß49. Mit seinem vierbändigen "Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses", das in nichts an seine "Erörterungen über den gemeinen Prozeß" vom Jahre 1799 und in vielem an Grolman erinnert, hat er ihn in die Tat umgesetzt. Er wollte damit, wie er in der Vorrede schreibt50 , "das Mangelhafte ergänzen, das Unerörterte erörtern, das Unrichtige berichtigen, und die Wissenschaft selbst durch neue Forschungen weiter zu bringen suchen". In dieser Absicht sollten alle Sätze des gemeinen Prozesses bearbeitet
ALZ 1800, 1. Bd., Sp. 105 (109). ALZ 1803, 1. Bd., Sp. 289 (290 f.). 43 ALZ 1804, 1. Bd., Sp. 529 (531). 44 CritA 4. Bd. (1804), S. 377 (387). 45 Ebenda, S. 388. 46 CritA 4. Bd. (1804), S. 377 (395). 47 Hdb. I, 1, Vorrede S. II. 48 Ebenda. 49 Wie Landsberg, 2. Hlbbd., S. 147, zu der Annahme kommt, Gönner seinerseits habe durch seine "Erörterungen über den gemeinen Prozeß" Grolman zu seinem Lehrbuch veranlaßt, ist unverständlich. Die "Erörterungen" bauen auf Danz auf, der alles andere als ein Vernunftrechtler war. Demgemäß sind sie noch ganz im alten Stil geschrieben und können schon daher kein Vorbild für Grolman gewesen sein. 41
42
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S. II!.
118 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime
werdensI. Schon hier ist der vernunftrechtliche Denkansatz erkennbar. Das Neue soll nicht entwickelt und für eine künftige Gesetzgebung nutzbar gemacht, vielmehr im positiven Recht entdeckt werden. In Verfolgung dieser Absicht ist Gönner bestrebt, "die Prozeßtheorie überall auf die ersten Grundsätze alles Rechts zurückzuführen"s2. Er will sich nicht bei Einzelheiten aufhalten, wie einer, "der nur auf das schwört, was ihm Pomponius und Paulus im römischen und irgend ein Pabst im kanonischen Recht sagt"53. Die Probleme könne man nur lösen, wenn man "in den Geist des gemeinen deutschen Prozesses eindringt, die Gegenstände, die man antrifft, aus richtigen allgemeinen Principien ableitet, und die Harmonie der Grundsätze, welche in den Gesetzen enthalten sind, mit den ersten Forderungen der Rechtslehre durch eine richtige Entwickelung darstellt"54. Mit diesem Vorsatz geht Gönner daran, einen allgemeinen Teil des Prozeßrechts zu schaffen55. Dabei ist er sich der Tatsache bewußt, wie vermessen seinen Zeitgenossen dieses Unterfangen bei dem damaligen Zustand des gemeinen Prozesses erscheinen muß. Kaum könne man nach Gönners eigenen Worten56 von seinen Quellen, diesem sonderbaren "Gemische von Verordnungen des römischen und kanonischen Rechts, von deutschen Gesetzen und von Gerichtsgebrauch"57 eine richtige Tendenz erwarten, um so weniger als "besonders das römische und kanonische Recht so selten ein ganzes Gebäude von Grundsätzen, wie sie wissenschaftlich entwickelt werden müssen, aufstellte, sondern größtentheils aus Entscheidungen einzelner Fälle ohne Zusammenhang besteht"58, überdies die Quellen "im römischen und kanonischen Recht nur Fragmente lieferten, für andere Staatsverfassungen, Zeitalter und Verhältnisse gegeben wurden, und selbst in den Reichsgesetzen kein für Deutschland überhaupt geradehin aufgestelltes vollständiges Gebäude darstellen"59. Auf Grund dieses desolaten Zustandes der Quellen kommen Gönner Zweifel, ob nicht "durch solche Untersuchungen mehr niedergerissen als aufgebaut würde"60. Doch sind diese nur zu berechtigten Bedenken ausschließlich rhetorischer Art. Gönner setzt sich schnell über sie hinweg: "Im deutschen gemeinen Prozesse hatte Vernunft von jeher ein entschei51 52
53 54 55 58 57
58 59 80
S. IV.
Hdb. I, 2, Vorrede S. XVI. Hdb. I, 2 S. 133. Hdb. I, 2 S .134. Hdb. I, 2 S. 135; vgl. auch S. 172. Hdb. I, 2 S. 129. Hdb. I; 2 S. 177. Ebenda. Hdb. I, 2 S. 129. Hdb. I, 2 S. 177.
II. Nikolaus Thaddäus von Gönner
119
dendes Uebergewicht, und ein großer Theil der philosophisch rechtlichen Untersuchungen in diesem Rechtszweige, kann als Materiale jeder Prozeßgesetzgebung betrachtet und benützt werden 61 ." Damit hat Gönner auch für den gemeinen Prozeß eine prästabilierte Harmonie als Voraussetzung jeder vernunftrechtlichen Bearbeitung geschaffen. Mit dieser Gewißheit geht er daran, das Prozeßrecht auf die ersten Grundsätze allen Rechts zurückzuführen. Im ersten Schritt seiner Methode gewinnt Gönner die Hauptgrundsätze des gemeinen Prozesses. Dabei geht er von einer Auffassung vom Prozeß aus, wie sie zusammen mit dem Vernunft recht allmählich in das Verfahrensrecht eingedrungen war, und wie sie Grolman als erster klar ausgesprochen hatte. Es ist dies die Ansicht vom Rechtsstreit als Ersatz der Selbsthilfe62 mit dem alleinigen Zweck des Schutzes von Privatrechten63 , dem gegenüber eine öffentliche Funktion des Prozesses, wie sie früher vielfach angeklungen war, wenn nicht geleugnet, so doch verschwiegen wird. Dem entspricht es, wenn Gönner das Prozeßrecht, das Thibaut zum Regierungs-, also zum öffentlichen Recht zählt64 , zum Privatrecht rechnet65 • Aus dem derart verstandenen Prozeßzweck gewinnt Gönner durch Erkenntnis zwei Grundwahrheiten, auf denen der gesamte allgemeine Teil seines Lehrgebäudes ruht. Den einen der beiden Grundsätze folgert er unmittelbar aus dem Sinn des Verfahrens: "Jedes gerichtliche Verfahren kann nur zum Schutz des Seinen im Staate abzwecken, und dieser Schutz fordert, daß niemand ungehört verurtheilt, keinem die Vertheidigung abgeschnitten werde; es muß also das ganze gerichtliche Verfahren auf eine Einleitung zur wechselseitigen Vertheidigung der Rechte beyder Partheyen abzielen, und Einleitung zur Vertheidigung muß der oberste Grundsatz alles Prozesses seyn66 ." Der zweite wesentliche Grundsatz des Gönnerschen Prozeßsystems wird ebenfalls aus dem Zweck des Verfahrens, jedoch nur mittelbar durch einen dar an anknüpfenden Gedankengang gewonnen. Ist Zweck des Zivilprozesses Durchsetzung der Privatrechte mit anderen als den eigenen Mitteln, müssen dabei alle die Sätze gelten, die bei Wahrung der Privatrechte ohne Prozeß wirken67 • Hier erkennt man als Axiom an, daß jeder auf seine Rechte verzichten kann. Damit gilt dieser Satz, schließt Gönner, auch im Prozeß: "Mein und Dein unter Privaten hat das Merk61 62
63 84 65
66 87
Hdb. I, 2 S. 129; ähnlich S. 177 f. Hdb. I, 2 S. 120, 125. Hdb. I, 1 S. 91, 95,103; Hdb. I, 2 S. 306; Hdb. IV, 2 S. 5. Encyc1opädie, § 74, S. 102. Entwurf II, 1 S. 6 f. Hdb. I, 1 S. 95. Hdb. I, 2 S. 264; Entwurf II, 2 S. 509.
120 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime mal seiner Veräusserlichkeit in sich, wer auf das Recht selbst Verzicht leisten kann, ist auch zum Verzichte auf die Mittel zur Erhaltung des Rechts befugt68 ." Neben diesen beiden Hauptwahrheiten des allgemeinen Teils gibt es in jeder der Gönnerschen Abhandlungen andere, minderwichtige Grundsätze. Sie sind nur für die jeweils behandelte Frage von Bedeutung. Naturgemäß kann Gönner sie nicht alle aus dem Zweck des Verfahrens ableiten, wie er ihn versteht. Dafür deduziert er aus den bei den Hauptgrundsätzen - beiderseitiges Gehör und Befugnis zum Verzicht - zahlreiche Untersätze. Wo das nicht möglich scheint, kommt die Natur der Sache, die letztlich auch bei der Schöpfung der ersten beiden Sätze beteiligt war, wieder zu Ehren 69 , oder die Vernunft wird zur unmittelbaren Rechtsquelle 70 • So kann Gönner, wenn ihn das positive Recht auf der Suche nach Ansatzpunkten für die Bildung allgemeiner Grundsätze im Stich läßt, erleichtert ausrufen: "Zum Glüke brauchen wir zu so einer Sache keine grosse Unterstützung aus positiven Gesetzen, wo die Natur der Sache, wenn wir derselben getreu folgen, uns sicher leitet71 ." Und Gönner folgt ihr getreu - die in jedem Kapitel zu findenden, aus der Natur der Sache, der Vernunft geschöpften Grundsätze zeugen davon. Dem ersten Schritt der Bearbeitung des Prozeßrechts folgt der zweite: das Zurückführen der positiven Einzelheiten auf die ersten Grundsätze. Hier gibt es für Gönner keine Schwierigkeiten. In bereits bekannter Manier subsumiert er, hilft durch Verdrehen und Zusammenpressen einzelner Institute, notfalls auch durch deren Vergewaltigung nach, läßt als anomal oder unbedeutend aus, was nicht in den Rahmen paßt. So erreicht er die Harmonie der einzelnen Bestimmungen des gemeinen Prozesses mit den vorher gewonnenen Grundsätzen und beweist seine anfangs apodiktisch geäußerte Auffassung von der Vernunftgemäßheit des Verfahrens 72 • Der zweite Schritt Gönners bringt damit die erste Verfälschung des gemeinen Prozeßrechts. Neben dem Beiseiteschieben unliebsamer Einzelheiten und dem regelrechten Erfinden nicht vorhandener, aber erwünschter Rechtssätze besteht sie vor allem darin, daß als vernünftig hingestellt wird, was in Wirklichkeit oft das genaue Gegenteil ist7 3 • Hdb. I, 2 S. 122. Hdb. I, 1 S. 494. 70 Hdb. I, 2 S. 325. 71 Hdb. I, 1 S. 494. 72 Die VI. Abhandlung in Hdb. I, 2 S. 118 ff. ist schon ihrer überschrift nach - "Vergleichung des deutschen Prozeßes mit dem aus der Idee des Staates entwickelten Zwecke der richterlichen Gewalt: oder Beantwortung der Frage: ist die Grundlage des gemeinen Prozesses vernunftmäßig" - ein Beispiel für den ersten und zweiten Schritt, der in den §§ 3 bis 9 jedesmal vorgenommen wird. 73 Vgl. Engelmann, S. 132 f. 68
69
III. Die Maximenschöpfung
121
Der dritte Schritt bringt durch Ausscheiden der im zweiten Schritt unterdrückten Einzelheiten oder ihre Veränderung durch "Weiterschließen"74 von den als richtig erwiesenen ersten Grundsätzen eine weitere Umformung des positiven Rechts75 . Zum Teil ist sie hier nicht derart folgenreich wie im zweiten Schritt. Gönner gibt seine Neuschöpfungen nicht mehr stets als bestehendes Recht aus, sondern erkennt, daß es sich bisher anders verhalten hat. Da diese Regelungen jedoch nicht mit den aus der Vernunft abgeleiteten Grundsätzen übereinstimmten, müsse man zumindest für die Zukunft - heute würde man sagen: de lege ferenda-die Dinge anders betrachten. Doch läßt Gönner häufig durchblicken, daß diese sich bereits bisher so verhalten haben, wie er sie nun als erster vernunftrechtlich konstruiert. Kennzeichnend für seine Haltung sind vielfach anzutreffende Formulierungen wie "Berichtigung"76 und "Revision"77. So berichtigt Gönner die bisherigen Auffassungen über prozeßhindernde Einreden 78 , verwirft die herrschende Meinung vom Ungehorsam der Parteien und entwickelt eine neue Ansicht7 9 , von der er überdies behauptet, sie liege den positiven Gesetzen zugrunde 80 ; schafft einen neuen Begriff von Justizsachen8t, revidiert die Lehre vom Beweise82 , entdeckt die richtige Auffassung von den Rechtsmitteln 83 . Auf diese Weise wird in nahezu jeder Abhandlung das positive Recht um- und neugeformt. Es entsteht ein vernunftrechtliches Prozeßrecht, das Grolmans Lehrgebäude übertrifft und auch später einzig bleibt. Daß dabei die Klarheit auf Kosten der Wahrheit geht, ist wie bei allen anderen Werken Gönners auch in seinem Handbuch unvermeidbare Folge seiner vernunftrechtlichen Denkmethode. Gönner erscheint damit als einer der letzten Vertreter des Naturrechts, das in seinem Prozeßhandbuch noch einmal einen späten Höhepunkt erreicht84, ehe es in den Anfängen der heraufziehenden historischen Rechtsschule untergeht. III. Die Maximenschöpfung
Das vernunftrechtliche Prozeßrecht Gönners ist heute vergessen. Sein Name ist als der des Schöpfers von Verhandlungs- und Untersuchungsa VgI. Gesetzgebung, S. 143. 75 Beispiele für den Dreierschritt: Hdb. I, 1 S. 94 ff. (1. Schritt) S. 100 ff. (2. Schritt) - S. 119 ff. (3. Schritt); Hdb. II, 2 S. 168 §§ 4, 5 (1. Schritt) - S. 169 § 6 (2. Schritt) - S. 170 § 7 (3. Schritt). 76 Hdb. 1,1 S. 93 u., 152,406; Hdb. II, 2 S. 1. 77 Hdb. II, 2 S. 241; Hdb. III, 1 S. 109. 78 Hdb. I, 1 S. 152 ff. 79 Hdb. I, 1 S. 406 ff. 80 Hdb. II, 2 S. 158 f. Al Hdb. II, 2 S. 1 ff. 82 Hdb. II, 2 S. 241 ff. 83 Hdb. III, 1 S. 105 ff. 84 VgI. Landsberg, 2. Hlbbd., S. 148.
122 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime maxime geblieben. Zu danken ist dies einem Kapitel seines in zweiter Auflage 82 Kapitel umfassenden Handbuches 1 . Dort liefert Gönner unter der Überschrift "Verschiedenheit der beiden Maximen, auf welche eine jede Prozeßordnung berechnet seyn kann, erläutert durch eine Vergleichung des gemeinen deutschen Prozesses mit der neuen königlich preussischen Prozeßordnung" den wichtigsten Beitrag zum allgemeinen Teil seines Prozeßrechts. Nun, da das Vernunftrecht des ausgehenden 18. Jahrhunderts vor Augen steht, da Gönner als in diesem Vernunftrecht wurzelnd erkannt worden ist, erscheint möglich, was oben verfrüht war: eingehend die Gönnersche Maximenschöpfung zu analysieren und die Frage zu beantworten, wie Gönner Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime geschaffen hat. 1. Alle seine ersten Sätze schöpft Gönner nicht abgetrennt vom positiven Recht allein aus philosophischer Erkenntnis, wie es etwa Eggers in seinem "Philosophischen Abriß vom bürgerlichen Rechtsverfahren" tat. Vielmehr bedarf er regelmäßig eines konkreten Anstoßes, um dann unabhängig von diesem seine Grundwahrheiten vernunftrechtlich zu entwickeln. Dabei handelt es sich bei den Grundsätzen Gönners nicht, wie man meinen könnte, um Abstraktionen aus dem positiven Recht, die als aus der Vernunft geschöpfte Wahrheiten ausgegeben werden2 • Das positive Recht ist lediglich gleichsam Ideenreservoir des stets auf der Suche nach philosophischen Rechtsgrundsätzen befindlichen Gönnerschen Geistes3 • Auf dieser Suche genügen schon gewisse, sich dem Sinne nach wiederholende Vorschriften der positiven Gesetze, eine in verschiedenen Rechtsgebieten gleiche oder sich widersprechende Regelung, eine unverständliche Bestimmung, um Gönner zum Nachdenken darüber zu veranlassen, wie es sich nach der Natur der Sache, dem Geist der Gesetze, der Vernunft verhalte. Aus diesen Überlegungen entstehen die "ersten Sätze alles Rechts" - erst danach steigt Gönner tatsächlich zum positiv Gegebenenhinab.
Ebenso verhält es sich bei der Entwicklung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime. Wenn auch den wahren Anlaß für beide Verfahrensgrundsätze nur Gönner selbst nennen kann, sind Vermutungen in dieser Richtung doch fest gegründet. Danach waren es offenbar zwei Dinge, die Gönner zu seiner Maximenschöpfung veranlaßt haben: zum einen Grolmans "Theorie des gerichtlichen Verfahrens", zum anderen die preußische Allgemeine Gerichtsordnung. 1 11. Kap. der 1. Aufl.; 8. Kap. der 2. Aufl. Im folgenden wird die 2. Aufl. zitiert, da Gönner nach seinen eigenen Worten besonders in ihr den gemeinen Prozeß vernunftrechtlich bearbeitet hat; vgl. Gönners Archiv 2. Bd. (1808/09),
S.486. 2
3
Dieser Ansicht ist Ekelöf, S. 217. Vgl. Gönner, Staatsdienst, Vorrede S. XIII f.
III. Die Maximenschöpfung
123
Grolman, der erste ausschließlich vernunftrechtliche Prozessualist, scheint einer der wenigen Juristen der damaligen Zeit gewesen zu sein, dessen Ansichten Gönner schätzte. Grolmans Lehrbuch hat er seinen Vorlesungen zugrunde gelegt" und Grolman war es, der Gönner zu seinem Handbuch veranlaßt hat 5 • Ihn zitiert er dort am häufigsten, und manche Abhandlungen bauen geradezu auf Grolman auf. In Grolmans Lehrbuch finden sich in den §§ 78 und 80 des allgemeinen Teils der Theorie des gemeinen Prozesses folgende Ausführungen6 : "Da jeder Bürger mit seinen Rechten nach freier Willkühr zu schalten befugt ist, da jeder sein Recht, sey es nun ganz oder zum Theile, aufopfern darf; so folgt, dass der staat nur dasjenige jedem zu schützen habe, was dieser auch wirklich als das Seine anerkennt, und, bey demselben geschützt zu werden, verlangt. Der Endzweck des gerichtlichen Verfahrens erhält also hierdurch die genauere Bestimmung: dass das Seine jedes Bürgers, welches dieser als solches betrachten will, geschützt werde ... Hierdurch erhalten alle Haupttheile des gerichtlichen Verfahrens, als insgesammt nothwendige Mittel zu dem angegebenen Endzwecke, ihre nähere Bestimmung. Nämlich die Entscheidung sowohl als die richterliche Prüfung ... sind bedingt durch die Erklärung des Fordernden, was er als sein Recht betrachte. Darum giebt es kein Verfahren von Amtswegen in Civil-Rechtsstreitigkeiten, darum kein Verfahren, ausser veranlasst und in allen seinen Theilen bestimmt durch die Erklärung (das Vorbringen) des Fordernden. So wird daher durch die Regel, dass die Parthei, deren Vorbringen Gegenstand der richterlichen Prüfung ist, dem Richter die Mittel zu dieser Prüfung an die Hand geben müsse, ... das Recht der Partheien, selbst noch während des Laufes der Verhandlung, mit dem Ihrigen nach Belieben schalten und walten zu können, anerkannF." "Der Richter hat nicht die Verbindlichkeit, sich selbst unaufgefordert Gründe zum Beweise aufzusuchen, denn sobald nur etwas wirklich unter den Partheien streitig ist, muss der Beweis als die Bedingung des anzuerkennenden Rechtes betrachtet werden, und: von Amtswegen beweisen wäre eben so viel, als: von Amtswegen Rechte anerkennen, deren Existenz doch von dem Willen dessen abhängt, für welchen sie anerkannt werden sollen (§ 88)8." Diese Ausführungen Grolmans waren für das gemeine Recht neu. Zwar war in der bisherigen Prozeßliteratur der Satz "Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter" mit seinen Folgen bereits häufiger erörtert worden. Hier aber wurde philosophisch ein bisher unbekannter Satz entwickelt. Gerade er war Ausdruck der neuen Tendenz, welche Gönner Grolmans Lehrbuch zugeschrieben und die ihn zu seinem Lehrbuch veranlaßt hatte. Bedenkt man, daß hier bereits alle Eigenheiten und Konsequenzen der Verhandlungsmaxime beschrieben wurden, ohne daß dieser Begriff genannt wird, erscheint die Annahme begründet, daß in den wiedergegebenen AusHdb. I, 1 Vorrede S. II. Ebenda. e S. 103 f., 106 f. 7 § 78, S. 103 f. 8 § 80, S. 106 f. Die Paragraphenangabe Grolmans - § 88 - ist ein Versehen. Es muß § 78 heißen. 4
5
124 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime
führungen Grolmans ein wesentlicher Anstoß für Gönners Maximenschöpfung zu sehen ist. Dennoch wäre es vielleicht nie zur Prägung der Begriffe Untersuchungs- und Verhandlungsmaxime gekommen, wenn nicht ein zweiter Anstoß, diesmal aus dem positiven Recht, auf Gönner zugekommen wäre. Dies war die Regelung, welche die Aufklärung des Sachverhalts in der preußischen AGO gefunden hatte. Wie allen am gemeinen Prozeß orientierten Beobachtern mußte auch Gönner das preußische Verfahren so erscheinen, als ob in ihm sich alles anders verhalte als im gemeinen Prozeß. Mit dieser Wahrnehmung hätte es bei einem unbefangenen Betrachter sein Bewenden gehabt. Doch dem Vernunftrechtier Gönner, auf dem Gebiet des Prozeßrechts neu und sich daher an Grolman haltend, mußte die Regelung der AGO als mit den Sätzen seines Vorbildes schlechthin unvereinbar erscheinen. Gleichzeitig wurde ihm Anlaß gegeben, grundsätzlich zu werden und über das Verhältnis von Richter- und Parteienmacht im Zivilprozeß "an sich" nachzudenken 9 • Die Vergleichung, sagt Gönner an anderer Stelle 10 , erleuchtet. Gerade für den Vernunftrechtler Gönner, dessen erklärte Absicht es war, das Prozeßrecht überall auf die ersten Grundsätze allen Rechts zurückzuführen, trifft diese allgemeine Wahrheit besonders zu. überdies gab es bereits zur Zeit der Entstehung des Handbuches Stimmen in der juristischen Literatur, welche die Eigenheiten des preußischen Prozesses als "Inquisitions- und Befragungsmethode"l1 oder "procedure inquisitionelle"12 bezeichneten, ohne dem gemeinen Prozeß gleichzeitig eine entgegengesetzte Methode zuzuschreiben13 . Hier konnte, ja mußte Gönner geradezu einsetzen 14 . In der AGO ist damit der zweite, entscheidende Anstoß zu sehen, der den an Grolmans vernunftrechtlicher Prozeßauffassung - dem ersten Anstoß - orientierten Gönner zu seiner Maximenschöpfung veranlaßt hat15 . Vgl. Hdb. I, 2 S. 178 f., 189 u. Gesetzgebung, S. 78 f.; vgl. auch Thibaut, S. 160. 11 Ausspruch Friedrichs H. in einer Audienz von Rebeur, bei Hymmen 3. Slg. (1779), S. 179. Im Original hatte der König gesagt: "Cette methode d'inquisition et d'interrogatoires", Kamptz 58, 318 (320). 12 Rebeur in der Vorrede (Avis). 13 Griesinger, S. 47, gibt im Jahre 1820 eine Äußerung wieder, die der preußische Jurist v. Reibnitz im Jahre 1798 getan haben soll. Darin ist bereits von der Untersuchungsmaxime des preußischen und der Verhandlungsmaxime des gemeinen Prozesses die Rede. Da Griesinger keinen Beleg für diese Äußerung gibt, sie sich in den Werken v. Reibnitz' auch nicht findet, ist nicht anzunehmen, daß Gönner sie gekannt hat, wenn sie überhaupt so, wie sie Griesinger mitteilt, gefallen ist. 14 Vgl. Hdb. I, 2 S. 200. 15 Vgl. Abegg, S. 120 Fn. 266; Goetze, S. 8 f. 9
10
III. Die Maximenschöpfung
125
2. a) Dem ersten Schritt der Maximenschöpfung schickt Gönner einen Satz voraus, mit dem er verdeutlichen will, weshalb er die folgende Untersuchung unternimmt16 : "Aus dem Zwecke der richterlichen Gewalt im Staate habe ich einen Grundsatz entwickelt, auf welchen ein jedes Verfahren in allen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten berechnet seyn mußl7. Ich habe gezeigt, daß der gemeine deutsche Prozeß darauf berechnet ist, und diese Untersuchung hat einen nicht unbedeutenden Gewinn an practischen Wahrheiten geliefert. Allein dieser allgemeine Grundsatz giebt noch keinen Aufschluß über die Art und Weise, Verhandlungen eines Rechtsstreits einzuleiten; auch die Ordnung des gerichtlichen Verfahrens muß auf einem allgemeinen Grundsatz ruhen, und dieser allgemeine Grundsatz muß mit reinen Vernunfts ätzen übereinstimmen." Dabei gilt Gönners Forschen trotz dieser Formulierung nicht einer allein möglichen Maxime, wie er hinfort die Verfahrensgrundsätze nennt1 8 • Vielmehr hat ihm der preußische Prozeß gezeigt, daß es offenbar verschiedene Grundlagen einer Verfahrensordnung geben könne, der gemeine Prozeß also nicht der einzig möglich sei l9 • Gönner umreißt daher sein Vorhaben mit den Worten20 : "Es sollen ... die verschiedenen Maximen entwickelt werden, auf welche eine jede Ordnung des gerichtlichen Verfahrens berechnet seyn kann; hierauf werde ich sie mit ihren Folgen durch eine Vergleichung des gemeinen deutschen Prozesses mit dem preussischen erläutern." Aus diesen sein künftiges Vorgehen ankündigenden Worten Gönners erhellt die Methode der Maximenschöpfung. Danach wird sie sich zunächst auf der ersten - Aufstellung der Grundsätze - und der zweiten Stufe Zurückführen der Einzelheiten des positiven Rechts auf diese Grundsätze - bewegen. Von der dritten Stufe - nochmaliges Hinabsteigen zum positiven Recht - ist nicht die Rede. Begründet liegt das darin, daß dieser letzte Schritt mit seinem so folgenreichen Weiterschließen von den als bestehend nachgewiesenen Grundsätzen erst in anderen Kapiteln des Gönnerschen Handbuches vorgenommen wird. Der Satz Gönners bedeutet nicht, daß die dritte Stufe seiner Deduktion hier fehlt. b) An den Anfang des ersten Schrittes der Maximenschöpfung stellt Gönner einen Satz, der trotz seiner Kürze und seines scheinbar einleitenden Charakters eine wichtige Voraussetzung der folgenden Ausführungen enthält21 • "Denken wir uns die Ueberzeugung des Richters von der Wahrheit eines Factums, auf welchem die Anerkennung des Rechts einer Partei ruht, als einen untergeordneten Zweck, so lassen sich aus reinen U 17
18 19 20 21
Hdb. I, 2 S. 176 f. Es ist der Grundsatz des beiderseitigen Gehörs. Hdb. I, 2 S. 178. Hdb. I, 2 S. 179. Hdb. I, 2 S. 180. Hdb. I, 2 S. 181 f.
126 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime
Prinzipien zwei Wege denken, welche, ihrer wesentlichen Verschiedenheit ungeachtet, zum nämlichen Ziele führen." Diese Formulierung Gönners enthält die Kennzeichnung des Ausgangspunktes, von dem aus er beide Maximen entwickelt. Wenn dieser Ausgangspunkt auch nicht ausdrücklich genannt wird, ist er doch in der negativen Formulierung, überzeugung des Richters von der Wahrheit des Parteivorbringens sei als untergeordneter Zweck des Prozesses zu denken, enthalten. Der negativen Formulierung entspricht eine positive, der untergeordnete Zweck setzt einen übergeordneten voraus. Dieser kann bei der ausschließlich privatrechtlichen Auffassung des bürgerlichen Streitverfahrens bei Gönner nur in der Durchsetzung der Privatrechte liegen, die Gönner wiederholt als Zweck des Prozesses bezeichnet hat. Ihr ordnet er nun die überzeugung des Richters von der Wahrheit des Parteivorbringens unter - eine Denkvoraussetzung, deren Richtigkeit weder jetzt noch später erwiesen wird. Sowohl Verhandlungs- als auch Untersuchungsmaxime haben damit denselben privatrechtlich-freiheitlichen Ausgangspunkt. e) Nach diesen vorbereitenden Ausführungen beginnt Gönner mit der Entwicklung des ersten der von ihm für denkbar gehaltenen zwei Wege 22 • An den Anfang seiner Deduktion stellt er den Satz, daß jeder Bürger frei mit seinen Rechten schalten könne. Diese Grundwahrheit des Gönnerschen Prozeßrechts hatte ihre Bedeutung bisher vornehmlich zu Beginn eines Rechtsstreites gezeigt. Für diesen Teil des Prozesses hatte Gönner die Regel "Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter" aus der Veräußerlichkeit und Verzichtbarkeit von Privatrechten abgeleitet und die Geltung dieses vernunftgemäßen Satzes im gemeinen Recht nachgewiesen 23 • Nun dehnt Gönner dieses Prinzip von seinem Ursprung 24 - Einleitung des Prozesses - auf seinen gesamten Verlauf aus. In allen Teilen des Verfahrens könne man von dem Satz ausgehen, daß jeder Bürger mit seinen Rechten nach Willkür zu schalten befugt ist. Diese Einsicht entspringt Gönners Erkenntnis, daß alle Regeln des privaten Rechtsverkehrs auch im Prozeß gelten. Folge dieses Satzes ist nach Gönner nicht lediglich, daß der Staat nur dann schützt, wenn dieser Schutz verlangt wird, sondern auch, daß er nur schützt, "was man als das Seine anspricht, nur so, wie man geschützt zu werden begehrt, und daß der Richter nur diejenigen Mittel braucht, wodurch man die Anerkennung seines Rechts erwirken will". Der Grundsatz, daß es kein Verfahren von Amts wegen in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gibt, wird damit "allgemeine Maxime für alle Theile des 22
23 24
Hdb. I, 2 S. 182 f. Hdb. I, 2 S. 122 f.
Vgl. Eisenhart, S. 514.
II!. Die Maximenschöpfung
127
ganzen Verfahrens vom Anfange des Rechtsstreits bis zu seinem Ende". Jeder Schritt des Richters ist bestimmt und bedingt durch das Vorbringen der Parteien. Diese nehmen die herrschende Rolle ein, der gegenüber der Richter im wesentlichen passiv bleibt. "Er ist im ganzen Laufe des Prozesses nur thätig, wo ihn das Vorbringen der Parteien in Bewegung setzt; und er ist im Ganzen, wo es nicht der Subsumtion unter das Gesetz allein gilt, sondern wo es auf Thatsachen ankommt, eingeschränkt auf das Vorbringen der streitenden Theile." Es folgt der den ersten Weg Gönners zusammenfassende Satz: "Nichts von Amtswegen ist hier die allgemeine Maxime, welche, nur wenige Ausnahmen abgerechnet, für das ganze gerichtliche Verfahren in allen seinen Theilen aufgestellt wird, und welche man die Verhandlungsmaxime nennen kann, weil alles von dem Vorbringen der Parteien, oder von ihren Verhandlungen abhängt." d) Der zweite Weg, den nach Gönner eine Verfahrensordnung gehen kann, ist wie der erste auf die Freiheit des Bürgers, über seine Rechte zu verfügen, gegründet25 • Auch hier kann der Richter nicht ohne Aufforderung der Parteien handeln. Äußerte sich dieser Grundsatz bei der Verhandlungsmaxime während des gesamten Verfahrens, bleibt nun seine Wirkung allein auf den Beginn des Rechtsstreits beschränkt. Aus der allgemeinen Anrufung der richterlichen Hilfe bei Anbringung der Klage wird geschlossen, daß der Kläger in die Vornahme aller Maßnahmen einwilligt, mittels deren die Durchsetzung seiner Rechte erreicht werden kann. Den Richter trifft nun die Pflicht, von Amts wegen all das vorzunehmen, "wodurch die Merkmale des Factums, welches einem Prozesse zum Grunde liegt, nach dem gesetzlichen Grade als gewiß hergestellt werden". - "Hier geschieht nach angebrachter Klage Alles von Amtswegen; dieses ist die allgemeine Maxime, welche bey diesem Prozesse für das ganze Verfahren in allen seinen Theilen, nur wenige Ausnahmen abgerechnet, aufgestellt wird; bey ihr gehet alles den Weg einer richterlichen Untersuchung; man kann sie daher die Untersuchungsmaxime nennen." e) Der erste Schritt der Maximenschöpfung - Aufstellung der Verfahrensgrundsätze - ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst wird die oben getroffene Feststellung, die negative Formulierung Gönners von der Wahrheitsfeststellung als untergeordneter Zweck des Prozesses kennzeichne den privatrechtlich-freiheitlichen Ausgangspunkt der Maximenschöpfung, bestätigt. Beide Maximen werden aus dem Satz von der Verfügungsfreiheit des Bürgers über seine Rechte abgeleitet. Der Unterschied besteht darin, daß dieser Grundsatz bei der Verhandlungsmaxime seine Wirkung im Lauf des gesamten Verfahrens äußert. Bei einem auf die Untersuchungsmaxime gegründeten Rechtsstreit hin25
Hdb. I, 2 S. 183 f.
128 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime gegen ist, obschon auch hier der Satz von der Verfügungsfreiheit gilt, eine Disposition des Klägers nach Prozeßbeginn nicht mehr möglich. Der Kläger hat durch Erhebung der Klage dem Richter gleichsam eine unwiderrufliche Generalvollmacht für alle seine Rechte wahrenden Maßnahmen gegeben. Gönner selbst charakterisiert den Unterschied lediglich mit den Worten, bei der Verhandlungsmaxime tue der Richter nichts, bei der Untersuchungsmaxime alles von Amts wegen26 • Dabei ist seiner Ansicht nach keine der beiden Maximen die einzig mögliche. Da beide auf den Schutz der Privatrechte abzielen, entsprechen sie dem Zweck der richterlichen Gewalt und dem des Staates. Sowohl Verhandlungs- als auch Untersuchungsmaxime sind daher vernunftgemäß - keine schließt die andere aus 27 • Nun wird deutlich, daß die Aufstellung der beiden Maximen nur unter der hypothetischen Voraussetzung möglich war, daß Überzeugung des Richters von der Wahrheit des Parteivorbringens untergeordneter Zweck des Verfahrens ist. Wäre diese Überzeugung erstes oder gleichgeordnetes Ziel des Prozesses, ließe sich die Verhandlungsmaxime, bei der der Richter kraft seines Amtes nichts zur Herstellung seiner Überzeugung von der wahren Bewandtnis der Sachlage tun kann, nicht "aus reinen Prinzipien" rechtfertigen. Allein die Untersuchungsmaxime wäre in diesem Fall zu deduzieren. Ist aber lediglich Durchsetzung der Privatrechte erster Zweck des Rechtsstreits, wie Gönner vorausgesetzt hat, lassen sich beide Grundsätze gewinnen. Demselben Ausgangspunkt der Maximen muß folgerichtig ein identisches Ergebnis beider Verfahrensgrundlagen entsprechen. Das bedeutet, die Wahrheitsfindung als untergeordneter Zweck darf nicht nur am Anfang, sondern muß auch am Ende der Deduktion stehen. Diesem Erfordernis der Logik trägt die Maximenschöpfung Gönners Rechnung. Ergebnis des Prozesses ist für ihn sowohl bei Verhandlungs- als auch Untersuchungsmaxime sogenannte formelle Wahrheit. Gönner ist ganz allgemein der Auffassung, nur die "certitudo juridica" könne und solle am Ende eines Rechtsstreits stehen28 • In bezug auf die Untersuchungsmaxime drückt er diese Haltung in dem Satz aus, die amtliche Wahrheitserforschung sei nur Mittel zum Zweck, d. h. zum Zweck der Durchsetzung der Privatrechte29 • Dabei habe der Richter die dem Prozesse zugrunde lieHdb. I, 2 S. 191. Hdb. I, 2 S. 184 f. 28 Hdb. I, 2 S. 139; Hdb. II, 2 S. 255. Gönner hat diese Ansicht, die er als "tief in der Natur der Sache gegründet" betrachtet, von Justus Möser übernommen. Dieser hatte im Jahre 1780 in einer "Von dem wichtigen Unterschiede des wirklichen und förmlichen Rechts" überschriebenen Abhandlung (Patriotische Phantasien, 4. Bd., S. 110 ff.) den Unterschied zwischen juristischer und tatsächlicher Wahrheit, der bereits den frühen Gemeinrechtlern bekannt war, ins öffentliche Bewußtsein gerückt. 29 Hdb. I, 2 S. 188. 26
27
III. Die Maximenschöpfung
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genden Tatsachen nur nach dem gesetzlichen Grade als gewiß herzustellen30 • Auch bei einem auf die Untersuchungsmaxime berechneten Verfahren gilt damit laut Gönner die gesetzliche Beweistheorie. Diese ist für ihn Kriterium für das Ziel eines Prozesses31 • Wo sie herrscht, kann Ergebnis des Rechtsstreits nur formelle Wahrheit sein. Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime, die später zu Synonyma des sogenannten Prinzips der formellen oder der materiellen Wahrheit werden sollen, unterscheiden sich damit in dieser Hinsicht bei Gönner noch nicht. Dem gemeinsamen Ausgangspunkt der Verfahrensgrundsätze entspricht das gemeinsame Ergebnis: formelle Wahrheit. Doch Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime, wie Gönner sie entwickelt, haben nicht nur Gemeinsames. Neben dem in der verschiedenen Intensität von Richter- und Parteienmacht begründeten Gegensatz besteht ein anderer wesentlicher Unterschied. Er liegt darin, daß die Verhandlungsmaxime Gönners einen größeren Wirkungskreis umfaßt als die Untersuchungsmaxime. Diese Tatsache ist auf den Ausgangspunkt der Maximenschöpfung - Verfügungsfreiheit der Parteien - zurückzuführen. Wichtig ist dabei besonders der Begriff "Verfügung", wie Gönner ihn versteht. Über seine Rechte verfügen kann man nach Gönner auf zweierlei Art32 • Einmal, indem man unmittelbar auf sein Recht einwirkt: man stellt einen bestimmten Klageantrag, wodurch man sein Recht im Umfang des Antrages in Anspruch nimmt und auf die Geltendmachung eines über diesen Antrag hinausgehenden Rechts verzichtet; man erkennt den Anspruch des Gegners trotz Bestehens eines eigenen an und verzichtet ebenfalls auf sein Recht; man unterläßt es, die Säumnis des Beklagten zu rügen und gibt zu erkennen, man wolle daraus keine Rechte herleiten. Dieser unmittelbar auf die Vornahme oder das Unterlassen einer Handlung gegründeten Einwirkung kommt bei Gönner eine nur mittelbare Disposition der Parteien gleich. Diese besteht darin, daß die Partei Tatsachen, von denen die Anerkennung ihrer Rechte abhängt, vorbringen oder dies unterlassen kann. Die Partei macht so ebenfalls ihre Rechte geltend oder verzichtet auf diese. Gönner drückt die Möglichkeit, durch Disposition über Tatsachen über seine Rechte zu verfügen, mit den Worten aus, die Parteien seien zum Verzicht auf den Zweck des Prozesses - Wahrung ihrer Rechte - befugt, könnten also auch über die Mittel zum Zweck - die entscheidungserheblichen Tatsachen - verfügen33 • 30
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Hdb. I, 2 S. 183 f. Hdb. II, 2 S. 255. Vgl. Hdb. I, 2 S. 183,236, 240, 242. Hdb. I, 2 S. 240; ähnlich Hdb. I, 2 S. 242.
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130 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime
Für Gönner sind beide Arten der Einwirkung auf das Recht, die unmittelbare und die mittelbare, gleich. Beide zusammen machen seiner Ansicht nach die Dispositionsfreiheit der Parteien aus. Die Verhandlungsmaxime, die Gönner auf diese Freiheit gründet, umfaßt daher folgerichtig beide Arten der Einwirkung: die auf Umfang und Gang des Verfahrens gerichteten Handlungen der Parteien und das Beibringen des notwendigen Tatsachenstoffes34 • Sowohl das eine wie das andere nehmen ausschließlich die Parteien vor. "Nichts von Amts wegen" ist hier tatsächlich allgemeine Maxime. Daraus erhellt, daß die Verhandlungsmaxime Gönners in ihrem ersten Schritt nicht nur die Verhandlungsmaxime, wie sie gegenwärtig verstanden wird, sondern auch die heute so genannte Disposi tionsmaxime umfaßt. Anders verhält es sich mit der Untersuchungsmaxime. Bereits Gönners Ausführungen beim ersten Schritt ihrer Entwicklung machen deutlich, daß sie nicht die unmittelbare Disposition der Parteien über ihre Rechte betrifft, sondern auf die Ermittlung des Tatsachenstoffes beschränkt ist. So schreibt Gönner, der Staat könne nach Anrufung der richterlichen Hilfe unmittelbar auf die Mittel wirken, ohne welche der begehrte Schutz nicht möglich sei, d. h. es dem Richter zur Pflicht machen, den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln35 • Davon, daß der Richter ex officio den Streitgegenstand bestimmen, ultra petita erkennen oder ein Anerkenntnis als unrichtig zurückweisen kann, ist nicht die Rede. Die Untersuchungsmaxime verbietet damit bereits im ersten Schritt ihrer Entwicklung nicht die unmittelbare Disposition der Parteien über ihre Rechte, sondern allein die mittelbare durch Einwirken auf den entscheidungserheblichen Tatsachenstoff. Sie umfaßt nicht die heute so genannte Offizialmaxime, welche Inhalt und Gang des Verfahrens der Verfügung der Parteien weitgehend entzieht. Begründet liegt dies offenbar in dem Bewußtsein Gönners, daß auch in einem auf die Untersuchungsmaxime gegründeten Prozeß, dessen Zweck ebenfalls Durchsetzung der Privatrechte ist, den Parteien die unmittelbare Verfügung über ihre Rechte erhalten bleiben muß. Dennoch kennzeichnet Gönner die Untersuchungsmaxime mit dem Schlagwort "Alles von Amts wegen". In vernunftrechtlicher Manier betont er die Polarität beider Verfahrensgrundsätze, anstatt darauf hinzuweisen, daß sie sich bereits bei ihrer philosophischen Deduktion teilweise decken. 3. a) Der Aufstellung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime als der zwei möglichen Wege allen Verfahrens folgt der zweite Schritt der Maximenschöpfung: das Zurückführen der Einzelheiten des positiven Deutlich Hdb. I, 2 S. 183 0., S. 185 0., S. 236. Hdb. I, 2 S. 183 u., ähnlich auch S. 185 U.; in Gegenüberstellung zur Verhandlungsmaxime S. 185 o. 84
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Rechts auf die im ersten Schritt gewonnenen Prozeßgrundsätze. Dies geschieht nicht, wie man bei Kenntnis der Gönnerschen Methode erwarten könnte, durch Aufzählung verschiedener Bestimmungen des gemeinen und preußischen Prozesses, die jeweils unter Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime subsumiert werden. Gönner gibt sich vielmehr unmittelbar zu Beginn seines zweiten Schrittes apodiktisch, indem er die lapidare Feststellung trifft, ein Verfahren könne auf die Verhandlungsmaxime berechnet sein - dies sei der Fall beim gemeinen Prozeß - oder auf die Untersuchungsmaxime; diese finde man im preußischen Prozeß36. Offenbar spürt Gönner selbst, daß es mit dieser Behauptung nicht getan und die Harmonie zwischen ersten Grundsätzen und positiven Einzelheiten erst dann tatsächlich hergestellt ist, wenn diese in irgendeiner Weise doch noch auf die im ersten Schritt gewonnenen Maximen zurückgeführt werden. Zu diesem Zweck gibt er eine Darstellung des Verfahrens nach der AGO. Gerade dadurch, glaubt Gönner37 , könne die Verschiedenheit der Maximen des deutschen gemeinen und preußischen Prozesses eingesehen und nachgewiesen werden, daß jener tatsächlich auf der Verhandlungs-, dieser auf der Untersuchungsmaxime ruhe. Wie Gönners Darstellung des preußischen Prozesses zeigt38 , ist seine Annahme berechtigt. Überall, insbesondere bei der Einleitung zur AGO, gelingt es ihm, die Bestimmungen auf die Untersuchungsmaxime zurückzuführen 39 • Dabei kommt ihm der häufige Gebrauch des Wortes "untersuchen" durch die AGO entgegen. Gleichzeitig weist Gönner teils ausdrücklich 40 , teils implizite auf die den preußischen nach seiner Auffassung diametral entgegengesetzten Regelungen des gemeinen Prozesses hin. So soll deutlich werden, daß er auf einer der Untersuchungsmaxime der AGO ebenso entgegengesetzten Grundlage ruht. Auf diese Art weist Gönner nach, daß das positive Prozeßrecht aus dem Vernunftrecht als seiner Quelle geschöpft und dessen Bestimmungen in die Sphäre des Erkennbaren getragen hat 41 • Sowohl der gemeine als auch der preußische Prozeß ruhen für Gönner auf einem allgemeinen Grundsatz, der mit reinen Vernunftsätzen übereinstimmt, wie er selbst es eingangs der Abhandlung gefordert hatte42 • b) Die allgemeine Harmonie wird nur durch diejenigen Einzelheiten des positiven Rechts gestört, die sich nicht auf die aus reinen Prinzipien gewonnenen Verfahrensgrundsätze zurückführen lassen. Gönner hat der36 37
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39 40 U 4!
9'
Hdb. I, 2 S. 190. Hdb. I, 2 S. 193 u. Hdb. I, 2 S. 194 ff. Hdb. I, 2 S. 197 u., 203 0., 206. Hdb. I, 2 S. 203 o. VgI. Gesetzgebung, S. 27. Hdb. I, 2 S. 177.
132 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime artige Ausnahmen gekannt - an mehreren Stellen seines Handbuches ist von ihnen die Rede. überdies schränkt er bereits im ersten Schritt der Maximenschöpfung das "Alles oder Nichts" der beiden Grundsätze durch die Formulierung "nur wenige Ausnahmen abgerechnet" ein43 • Dasselbe ergibt sich bei einer Gegenüberstellung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime, wenn Gönner die Parteien bzw. den Richter als das "zunächst (principaliter)" handelnde Subjekt bezeichnet44 • Auf die Existenz dieser Ausnahmen geht Gönner, nachdem er noch einmal die Polarität von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime ausführlich dargestellt hat 45, mit den Worten ein 46 : "Man darf sich indessen nicht wundern, wenn man einem jeden Prozesse, der auf eine dieser beiden Maximen berechnet ist, Grundsätze beygemischt sieht, welche der andern Maxime zukommen, wenn z. B. der gemeine Prozeß den Satz aufstellt, judici non concluditur, judici fit probatio, um ihm Rechte einzuräumen, wo er vom Vorbringen der Parteien nicht abhängt, oder wenn der preussische Prozeß die Folgen des Geständnisses, verabsäumter Termine, des Widerspruchs im Vorbringen einer Partei u. d. aus dem Gesichtspunkt ableitet, daß jeder auf sein Recht Verzicht leisten kann; denn der Prozeß ist immer ein sehr zusammengesetzter Gegenstand, und bei ihm treten in vielen Fällen so verschiedene Rücksichten ein, daß nach dem obersten Gesetze, der Zweckgemäßheit öfters nothwendig wird, die Bestimmungen nach einer oder der andern Rücksicht zu machen." Aus diesen Ausführungen erhellt zunächst, daß Gönner sich der Tatsache bewußt war, daß auch der preußische Prozeß die Verfügungsfreiheit der Parteien in bezug auf ihre Rechte und teilweise auf Tatsachen während des gesamten Verfahrens wahrt. Charakteristisch ist dabei Gönners Formulierung "und dergleichen", hinter der sich die vernunftrechtliche Verdrängung nicht mit der Untersuchungsmaxime vereinbarer Einzelheiten verbirgt, welche Gönner ebenfalls bekannt waren. Dazu gehört die Möglichkeit des Vergleichs47 , die Bestimmung des Anspruchsumfanges durch den Kläger48 und die mangelnde Befugnis des Richters, bei Einigkeit der Parteien über Tatsachen von sich aus untersuchend vorzugehen49 • Aus diesen Ausnahmen indessen zieht Gönner keine Konsequenzen für die Untersuchungsmaxime, sondern bezeichnet sie als bloße Beimischungen der entgegengesetzten Maxime. Ebenso verfährt Gönner mit der Verhandlungsmaxime des gemeinen Prozesses. Dabei überrascht, daß er als Ausnahme der Regel den Satz "judici non concluditur, judici fit probatio" anführt. Gönner spricht damit nur die jedem Prozeß inhärente Wahrheit aus, daß nicht die Parteien, 43
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Hdb. I, 2 S. 183 f. Hdb. I, 2 S. 191; vgl. auch S. 188, 236. Hdb. I, 2 S. 191 f. Hdb. I, 2 S. 192 f. Hdb. I, 2 S. 196. Hdb. I, 2 S. 203. Hdb. I, 2 S. 196, 199,210.
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sondern der Richter die vorgebrachten Tatsachen unter das Gesetz zu subsumieren hat. Der Satz ist damit ebensowenig eine Ausnahme der Verhandlungsmaxime wie das römisch-rechtliche "jura novit curia". Gerade Gönner muß dies bekannt gewesen sein, hatte er doch zu Beginn der Maximenschöpfung jeden Einfluß der Parteien bei der Reflexion des Richters ausgeschlossen und die Maximen ausschließlich für den vor dieser Reflexion liegenden Teil des Verfahrens entwickeUSo. Um so weniger verständlich ist es, daß Gönner gerade diesen Satz als Beispiel für Ausnahmen der Verhandlungsmaxime anführt, als ihm genug Fälle bekannt sind, die tatsächlich Ausnahmen darstellen. Später wird sich ergeben, daß dieses Vorgehen Gönners wohlbeabsichtigte Einzelheit seines vernunftrechtlichen Prozeßgebäudes ist. Nachdem Gönner die Ausnahmen der in der AGO herrschenden Untersuchungsmaxime genannt und die der Verhandlungsmaxime des gemeinen Prozesses angedeutet hat, folgt ein für die weitere Entwicklung der Verhandlungsmaxime bedeutungsvoller Satz51 : "Es kömmt aber in der Beurtheilung, auf welche Maxime eine Prozeßordnung berechnet sey, auf diese Nebenpunkte gar nicht an, sondern man muß in den Geist eines Verfahrens im Ganzen eindringen, und hiernach bestimmen, auf welcher von beiden Maximen derselbe ruhe, welche von beiden also in dem gerichtlichen Verfahren die herrschende sey." In diesem Satz liegt die Verfälschung des positiven Rechts im zweiten Schritt der Maximenschöpfung. Gönner hat die bei den Maximen als ein Alles oder Nichts von Amts wegen konzipiert. Nun kommt er, durch das positive Recht gezwungen, zu der Einsicht, daß Inhalt der Maximen kein Alles oder Nichts, sondern nur ein Mehr oder Weniger von Amts wegen bildet. Eigentliche Maxime jedes Verfahrens wäre danach das "oberste Gesetz der Zweckgemäßheit", das Gönner selbst zur Begründung der Abweichungen von seinen Maximen heranzieht. Doch Gönner verschließt sich bewußt oder unbewußt dieser Erkenntnis und setzt zur vernunftrechtlichen Umformung an. Die Ausflüsse der jeweils anderen Maxime sind für ihn "Nebenpunkte", auf die es nicht weiter ankommt. Wichtig sei allein, "in den Geist eines Verfahrens im Ganzen" einzudringen. An die Stelle logischer Argumente tritt vernunftrechtlich-nebelhaftes Räsonnement und die Empfehlung, zur Feststellung, ob eine Prozeßordnung auf der Verhandlungs- oder der Untersuchungsmaxime ruhe, zu ermitteln, welche von beiden die herrschende sei. Gönner begreift nicht, daß eine herrschende Verhandlungs- oder Untersuchungsmaxime, also ein herrschendes "Alles" oder "Nichts von Amts wegen" eine contradictio in adiecto ist. 50 51
Hdb. I, 2 S. 181. Hdb. I, 2 S. 193.
134 3. Kap.: Entstehung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime Mit dem angeführten Satz Gönners ist der Grund für die weitere Behandlung der Prozeßmaximen gelegt. Durch eine ausführliche Beschreibung des Verfahrens der AGO hat Gönner nachgewiesen, daß in ihr das "Alles von Amts wegen" der Untersuchungsmaxime "herrscht". Die Darstellung des preußischen Prozesses ist damit abgeschlossen. Die folgenden Abhandlungen gehören dem gemeinen Prozeß. In ihnen soll noch eine Vielzahl von Ausnahmen der Verhandlungsmaxime auftauchen. Diese Fälle voraussehend, hat Gönner sie durch den angeführten Satz im vorhinein bewältigt, indem er sie - ohne eine echte Ausnahme beim Namen zu nennen - als unbedeutende Abweichungen, allenfalls als Ausfluß eines untergeordneten Prinzips bezeichnet. Durch diesen vernunftrechtlichen Kunstgriff zieht Gönner sämtliche Ausnahmen der Verhandlungsmaxime gleichsam vor die Klammer und vermeidet durch ihre pauschale Bewältigung die Schwierigkeit, andernfalls bei jeder später auftauchenden Ausnahme das Verhältnis von Regel und Abweichung darzustellen. Gleichzeitig geht Gönner der Möglichkeit aus dem Wege, daß die Zahl der Ausnahmen die Regel nicht mehr erkennen läßt. Darüber hinaus behält er sich ihre Behandlung für ein späteres Kapitel vor, das die Ausnahmen ebenfalls vernunftrechtlich als Ausflüsse eines bestimmten Prinzips behandelt. Die Einordnung nicht mit der Verhandlungsmaxime übereinstimmender Einzelheiten des gemeinen Prozeßrechts erweist sich damit als Musterbeispiel für die vernunftrechtliche Bewältigung der positiven Gesetze. Gönner hat das in Wirklichkeit nicht existierende "Nichts von Amts wegen" der Verhandlungsmaxime als im gemeinen Prozeß herrschend und daher bestehend erwiesen. 4. a) Der erste und der zweite Schritt der Maximenschöpfung sind mit dem achten Kapitel des Handbuches beendet. Für Gönner steht nun unverbrüchlich fest, daß die AGO auf der Untersuchungsmaxime, der gemeine Prozeß auf der Verhandlungsmaxime ruht. Von den Ausnahmen der Verfahrensgrundsätze, die Gönner angedeutet hat, ist keine Störung der Harmonie zwischen Maximen und positivem Recht mehr zu erwarten. Gönner sieht sich daher in der Lage, die Abweichungen von der Verhandlungsmaxime des gemeinen Prozesses in einer eigenen Abhandlung - dem zehnten Kapitel 52 - ausführlich darzustellen. Dabei werden die Ausnahmen jedoch nicht als solche bezeichnet, sondern unter einen schnell aufgestellten neuen Grundsatz subsumiert: die Prozeßdirektion. Unter diesem in seinem Handbuch noch recht vagen Begriff faßt Gönner alle Einzelheiten zusammen, die er im achten Kapitel pauschal als unwichtige Nebenpunkte ausgeschlossen und ihnen jede Bedeutung für die Prozeßmaximen abgesprochen hat. Die Prozeßdirektion umgreift damit 52 Hdb. I, 2 S. 235 ff. In der 1. Aufl. war es noch das 27. Kap. im 2. Bd. gewesen. Aus der Voranstellung in der 2. Aufl. erhellt der Zusammenhang mit