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German Pages [252] Year 2000
HYPOMNEMATA 130
V&R
HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN
Herausgegeben von Albrecht Dihle/Siegmar Döpp/Dorothea Frede/ Hans-Joachim Gehrke/Hugh Lloyd-Jones / Günther Patzig/ Christoph Riedweg/Gisela Striker
HEFT 130
V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N
JÜRGEN PAUL SCHWINDT
Prolegomena zu einer »Phänomenologie« der römischen Literaturgeschichtsschreibung Von den Anfängen bis Quintilian
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Verantwortlicher Herausgeber: Siegmar Döpp
Die Deutsche
Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme
Schwindt, Jürgen Paul: Prolegomena zu einer »Phänomenologie« der römischen Literaturgeschichtsschreibung : Von den Anfängen bis QuintiUan / Jürgen Paul Schwindt. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2000 (Hypomnemata ; H. 130) ISBN 3-525-25227-7
© 2000, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Inhalt
Vorbemerkung
7
I
9
II
III
IV
Einleitung Exkurs. Zur griechischen Literaturgeschichtsschreibung
47
Die Anfänge: Literaturgeschichtsschreibung in Versen
52
Literarhistorie und 'Literaturwissenschaft': M.Terentius Varrò
75
Der Literarhistoriker als Dramaturg: Ciceros Brutus
96
V
Cornelius Nepos als Literarhistoriker
122
VI
Literarhistoriographie als Kulturgeschichte: Velleius Paterculus
139
VII
Literaturgeschichte versus Pragmatie und Kanonizität: Quintilians Literatuφädagogik
153
VIII Literaturgeschichte zwischen memoria und Innovation: Horaz, Seneca maior und Tacitus
IX
im Zeichen der quereile
174
Schluß
207
Literaturverzeichnis
222
Index locorum
240
Vorbemerkung Vorliegendes Buch war im Herbst 1997 im wesentlichen abgeschlossen. Auf später erschienene Literatur ist nach Möglichkeit wenigstens hingewiesen. Die Studie wurde im Wintersemester 1997/98 vom Habilitationsausschuß der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld einstimmig als schriftliche Habilitationsleistung im Fach Klassische Philologie angenommen. Für das liebenswürdige Angebot der Aufnahme des Bandes in die Hypomnemata danke ich herzlich Herrn Siegmar Döpp (Göttingen). In meinen Dank schließe ich die geschätzten Mitherausgeber der Reihe ausdrücklich ein. Teile des Buches waren Gegenstand von Vorträgen an den Universitäten Bielefeld (Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie/WS 1995/96), Paderborn (WS 1996/97), Mannheim (SS 1997) und Kiel (WS 1998/99). Allen, die mich durch ihr Urteil, ihre Hinweise und Fragen gefördert haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Zahlreichen Kollegiimen und Kollegen aus allen Fächern der Fakultät (und darüber hinaus) schulde ich großen Dank für vertrauensvolle Zusammenarbeit und freundschaftliche Unterstützung auch schon in früheren Jahren. Sie haben meine Arbeit in Lehre, Forschung und - nicht zuletzt - Verwaltungsgeschäften mit steter Sympathie begleitet und mir weit mehr mitgegeben, als ich ihnen bis heute zurückgeben karm. Ein herzliches Wort des Dankes geht an Melanie Möller für penible Lektüre und immer anregendes Gespräch sowie an die Studierenden, die der kleinen Bielefelder Klassischen Philologie durch die Jahre hindurch die Treue gehalten und ihren Teil beigetragen haben zu dem, was ich schon heute als "wunderbare Zeit des Anfangs" verkläre, wo alles Lehren ein weit größeres Lernen war. Zwei Freunden, die mir - zuletzt von auswärts - jede erdenkliche Hilfe gewährt haben, bin ich zu besonderem Dank verpflichtet: Reinhold F. Glei (Bochum), dem unermüdlichen Förderer in gemeinsamen Bielefelder Jahren, sowie Karl Heinz Bohrer (Paris), dessen staunenswerter Impetus zur rechten Zeit auch die Bielefelder Philologie - in Lehre und Forschung erfaßt und mit dafür gesorgt hat, daß ihr auch in schweren Zeiten die Lichter nicht ausgingen. Jps
2 7 - 8 - 1999
I. Einleitung
"Die meisten glauben zwar zu diesem Geschäfte [sc. zur GescMchtsschreibung] so wenig eines guten Rates vonnötai zu haben als zum Gehen, Essen oder Trinken. Sie bildai sich ein, es sei nichts Leichters, als Geschichte schreiben; das könne ein jeder, und es brauche dazu weiter nichts, als daß man, was einem vorkommt, zu Papier zu bringen wisse: Aber du, mein Freund, weißt vermutlich besser, daß die Sache eben so ungemein leicht nicht ist und sich nicht so obenhin traktieren läßt; im G^enteil, wo irgendein Fach in der Literatur große Geschicklichkeit und viele Überl^ung erfodert, so ist es dieses ...". (Lukian, »Wie man die Geschichte schreiben müsse«, Kap. 5')
Lukians tiüchteme Einschätzung trifft nicht nur das Fach, dem seine Schrift gewidmet ist: die Geschichtsschreibung, sondern muß mittelbar auch die Geschichte dieses Fachs: die Geschichtsschreibungsgeschichte berühren. Auch wenn man nicht von den Gründen handeln will, die - nach Ansicht des Altmeisters der Literatuφlauderei - 'guter' Historie oft genug im Wege stehen, so wird sich doch gerade heute jeder historiographische Versuch methodologisch ausweisen müssen. Der Versuch zumal, die Geschichte der römischen Literaturgeschichtsschreibung zu schreiben, hätte sich von vorneherein mindestens zweier grani/sätzlicher Einwände zu erwehren: Der erste Einwand ist konservativ und wird außerhalb der engen Fachgrenzen
' In der Übersetzung von Chr.M.Wieland, nach der Erstausgabe in 6 Bdn, Leipzig 1788/89, neu hrsg. v. J.Werner u. H.Greiner-Mai, 3 Bde, Berlin/Weimar 1974 (das Zitat in Bd. 2, S. 268).- Lukians Diatribe Π ω ς δεν ίστορίαν σ υ γ γ ρ ά φ ε ι ν ist der einzige aus dem Altertum erhaltene monographische Versuch einer Theorie der Historiographie (nächste Verwandte sind die konkreten Historikern gewidmeten Essays des Dionysios v. Halikamaß). Zur kaiserzeitlichen Auseinandersetzung mit klassischer Geschichtstheorie s. A.Momigliano,Tradition and the Classical Historian, in: History and Theory 11, 1972, 279-93, sowie A.Georgiadou u. D.H.J Larmour, Lucían and Historiography: 'De Historia Conscnbenda' and 'Verae Histonae', m: ANRW Π 34, 2 (1994), 1448-1509 (bes. 145070, mit weiterführender Literatur [1506-09]) Zum archegetischen geschichtspoetologischen Versuch des Theophrast τιερί ιστορίας (dessen Existenz freilich mitunter auch geleugnet wird [G.Avenarius, Lukians Schrift zur Geschichtsschreibung, MeiserJieim/Glan 1956, 170-73]) s. H.Homeyer in der Einleitung ihrer (nicht unumstrittenen [vgl. die kritischen Bemerkungen v. R.Kassel, Kritische und ex^etische Kleiragkeiten FV, RhM 116, 1973, 97-112, dort 105-09]) Ausg. der Lukianischen Schnft, München 1965, bes. 45-60, u. zuletzt D.Flach, Römische Geschichtsschreibung, Darmstadt 4998, 43-51.
10
Einleitung
kaum mehr erhoben werden^; der zweite Einwand gibt sich aufgeklärtfortschrittlich: 1) Literaturgeschichte mit dem Gegenstand 'Literaturgeschichte' ist metatheoretisch, 'sekцndäφhilologisch' (oder wie man es nennen will) und hat ihren Ort allenfalls in den - zu Recht - in Mißkredit geratenen 'Diskutierseminaren'; kaum jedoch kann sie Thema einer Wissenschaft sein, die, weim sie nicht autoreflexiv und also unschöpferisch werden soll, sich den 'natürlichen' Untersuchimgsobjekten, d.h. den Autoren, Texten, Realien etc. zuwenden muß^.
^ S. jedoch unten Anm. 5. ' Der konservativen Kritik muß Metatheorie umso suspekter erscheinen, als sie die Theoriefahigkeit wenigstens der römischen Kritiker selbst in Zweifel zieht. Fast kanonische Geltung hatte lange Zeit (u. hat in weiten Kreisen noch immer) ein Urteil wie das des einflußreichen Literarhistorikers Wilhelm Kroll, der mit Blick auf J.F.d'Altons Roman Literary Theory and Criticism (London 1931) geurteilt hat: "Ein ... bei solchen Arbeiten schwer zu vermeidender Übelstand ist die Gefahr, die Bedeutung der Theorie zu überschätzen; sie bedeutet überall und natürlich auch für die Römer nicht soviel wie die gesunde und natürliche Entwicklung der Literatur. Es ist in dem Buche besonders von Cicero und Horaz die Rede, die dem Leser leicht als bloße Heroen der Kritik erscheinen könnai; dem g^enüber könnte man beinahe das Paradoxon prägen, daß sie das, was sie sind, trotz der Theorie sind und wir uns die Freude an ihren großen Leistungen nicht durch die ständige Heranziehung ihrer theoretischen Ansichten verkümmern lassen wollen" (Rez. Grwmon 10, 1934, 615f. [vgl. auch unten S. 46]).- Der Konflikt der literaturwissenschaftlichen und philologischen Disziplinen entzieht sich einstweilen der exakten Beschreibung. Vor allem im deutschsprachigai Bereich fehlt es an Dokumenten, die die methodologische Diskrepanz zuverlässig darstellten (vgl. dagegen die Ansätze zu einer ftindierten Erörterung der Problematik in dai Einleitungen zu den von K.Galinsky [The Interpretation of Roman Poetry: Empiricism or Hermeneutícs?, Frankfiirt/Bem/New York/Paris 1992, 1-40] bzw. LJ.F. de Jong u. J.P.Sullivan [Modem Critical Theory arid Classical Literature, Leiden/New York/Köln 1994, 1-26 (J.P.Sullivan)] hrsg. Sammelbänden [u. die wertvolle Besprechung des letzteren durch E.A.Schmidt, IJCT 4, 1998, 433^9]). Allenfalls könnte man auf die Disputation zwischen M.Fuhrmann u. H.Tränkle auf der Tagung des Deutschen Altphilologenverbandes und der Mommsen-Gesellschaft 1970 in Freiburg verweisen (veröffentlicht in dem Bändchen Wie klassisch ist die klassische Antike, Zürich/Stuttgart 1970). Zumindest in der Klassischen Philologie ist die oral history der Fachtraditionen noch immer eine bedeutende, den universitären Lehrbetrieb beherrschende Bildungsmacht. Die Fachgeschichtsschreibung endet zumeist mit der Ära der Mommsen u. Wilamowitz. Wo sie weitergeführt ist, etwa in der v. A.Hentschke u. U.Muhlack verfaßten Einführung in die Geschichte der Klassischen Philologie, Darmstadt 1972, ist der Abstand zu den Anfangen der entschiedenen Auseinanderentwicklung der Fächer noch zu gering. Die Wissenschaftsgeschichte selbst entkommt noch heute nicht leicht dem Inferioritätsverdacht (s. hierzu zuletzt A.Henrichs, Philologie und Wissenschaftsgeschichte: Zur Krise eines Selbstverstandnisses, in: H.FIashar [Hrsg.], Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und hnpulse, Stuttgart 1995, 423-57, bes. 428).
Mögliche methodische Einwände
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2) Geschichtsschreibung ist heute ein anachronistisches Verfahren, das sich nicht einmal die »immer etwas nachhinkende«, »zeitgeistresistente« Юassische Philologie erlauben darf". Dem ersten Einwand wäre entgegenzuhalten, daß sich die historiographischen Versuche des Altertums aus der Femsicht zweier seither verstrichener Millennien zu einem historischen Ensemble zusammenschließen, das -imabhängig von seiner sprachlich-literarischen Gestaltung, seiner Gattungszugehörigkeit, seiner intentionalen Struktur - so gut wie jedes andere überlieferte sprachliche oder monumentale Zeugnis eingehende historische Behandlung und Würdigung verdient. Die Rede vom metakritischen sujet verschleiert die Diskontinuität von antiker und modemer Fachtradition und supponiert einen zeitlichen und wesentlichen Zusammenhang, den kritische Untersuchung allererst nachweisen müßte. Aber gesetzt auch den Fall, 'alte' und 'neue' Literarhistorie fänden sich in engstem moφhologischen Koimex, so behauptete doch die Literaturgeschichtsschreibung der Literaturgeschichtsschreibung als 'Autobiographie' ihr metatheoretisches Recht. Metatheorie ist als Anschauung der Anschauung Xiochgeordnete, aber nicht nachrangige Größe. Nur muß sie selbst in dem Maße, wie ihr die Theorie zum Problem wird, als Metatheorie zum Problem sich werden. Oder (Schlegels Diktum anders gewendet): Die Wissenschaft von der Kunstgeschichte ist die Kunstgeschichtsgeschichte. Geschichte bezeichnet hierbei das Gewahrwerden des Geschichtsimmanenten als des Anderen und (von mir) Verschiedenen; sie ist also zugleich die Kritik der Geschichte und in der summa ihrer kritischen Handlungen ihre Theorie. Metatheorie läßt sich daher verurteilen, wie man Hühner schelten mag, daß sie zu den eierlegenden Lebewesen gehören; kurz: sie ist allem Sprechen über das beschreibende Sprechen anderer immanent, kleide sie sich nun in das Demutsmäntelchen vorgeblich theoriefemer Philologie oder komme sie selbstbewußt im 'stolzen Kothurn' der Epistemologie daher^. " Vgl. die von C.UMig, Theorie der Literarhistorie - Prinzipien und Paradigmen, Heidelberg 1982, 14, mit aller Vorsicht geäußerte Diagnose, wonach "literarhistorische Amnesie . .. in der angelsächsischen Welt, wenn nidit gar der ganzen sogenannten abendländischen Zivilisation und ihrem Bildungssystem ein eklatantes Phänomen (ist), angesichts dessen Literaturgeschichtsschreibung im traditionellen Sinne g^enwärtig zum Anadironismus zu werden droht". Vgl. auch die knappe Doxographie bá R.Wellek, The Fall of Literary History, in: Geschichte - Ereignis und Erzählung, hrsg. v. R.Koselleck u. W.D.Stempel, München 1973 (= Poetik u. Hermeneutik 5), 427-40, dort 427f. ' Der konservative Einwand g ^ e n das Mrtatheoretische erfährt sane überraschende Volte in progressiv sich gebende Kritik in der postmodernen "Skepsis g^aiüber den Metaerzählungen", die schon J.-F.Lyotard - sinnigerwáse 'Erfinder· und erster Chronist der Postmoderne- zu dai Konstituentien postmodernen Denkens rechnet (Das postmoderne Wissen - Ein Bericht, hrsg. v. P.Engelmann, 'Wien 1994, 14 [Orig.: Paris 1979]). Eine
12
Einleitung
Schwieriger wäre es, dem zweiten Einwand mit Gründen zu begegnen. Dazu muß ich etwas weiter ausholen und zunächst die 'Geschichte' des Konflikts in knapper Überschau skizzieren: vielleicht, daß schon im methodologischen Vorspiel absehbar wird, wie die tiefe, an die wissenschaftliche Substanz rührende Verunsicherung der historischen Fächer der Erforschimg des Gegenstandes, dem diese Untersuchung gewidmet ist, kaum weniger ungünstig gewesen ist als die historistische Selbstüberhebung, die ihr vorausging®. Als Theodor Mommsen seine gewaltige Römische Geschichte^ mit geistreichen literarhistorischen Proben schmückte, der Tübinger Gelehrte Wilhelm Sigmimd Teuffei seine große Geschichte der römischen Literatur^ vorlegte, bald darauf Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Friedrich Leo und Eduard Norden mit ihren gedrängten Übersichten über die Geschichte der alten Literaturen® an die Öffendichkeit traten und schließlich Martin Genealogie zeichnet sich ab, die auf irritierende Weise die ältere vorhistoristische (Gottfried Hermann veφflichtete) Wortphilologie mit dem New Criticism, der textimmanentai Interpretation der N a c h k r i ^ j a h r e und dem Strukturalismus verbindet und zuletzt auf einer dritten Stufe - den strukturalistisch-formalistischen Kern der postmodemen Ansätze o f F e n l ^ . Zur Korrelation klassisch-strukturalistischer und dekonstruktivistischer Modelle vgl. jetzt S.Speck, Von Sklovskij zu de Man. Zur Aktualität formalistischer Literaturtheorie, München 1997.- Die Kritik des Metatheoretischen blickt besonders an den Randern der streng akademischai Debatte auf eine lange Tradition zurück, die sich in der Moderne bis zu Montaigne zurückverfolgai läßt ("II y a plus affaire à inteφreter les interpretations qu' à inteφreter les choses, et plus de livres sur les livres que sur autre subject: nous ne faisons que nous entr^osser" [Essais Ш 13, hrsg. v. A.Thibaudet, Paris ^1950, 1199]) und - unter veränderten Vorzeichen - in der G^enwart etwa in Botho Strauß' Nachwort zur dt. Ausgabe von G.Steiners Real Presences (London 1989) fröhliche Urständ feiert: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München/Wien 1990, 303-20. Zur näheren epistemologischen B^ründung s. S. 209f/221 im Schlußteil des Buches. Zur historistischen 'Verstellung' vgl. auch unten S. 22ff. den Abschnitt zur Forschungsgeschichte. ' Bde 1-3: Beriin 1854-56, Bd. 5: Beriin 1885; der gestante Bd. zur Geschichte der römischen Kaiserzeit ist Fragment geblieben und als solches im Privatdruck 1877 als Bd. 4 erschienen (Nachdr.: Hildesheim 1966); alle Bände vereinigt in der Taschenbuchausgabe: München 1976, '1993. Zur Kaisergeschichte vgl. jetzt auch den v. B. u. A.Demandt nach Vorlesungsmitschriften hrsg. Bd. Römische Kaisergeschichte, München 1992. ' Erschienen Leipzig 1870, zuletzt in 3 Bdn in 6Л./6. Aufl., nach L.Schwabe unter Mitwirkung v. E.Юostermann, R.Leonhard u. P.Wessner neu bearb. v. W.Kroll u. F.Skutsch, Leipzig/Beriin 1916/1920/1913. Über Teuffei s. C.Bursians Nekrolog im Anzeige-Blatt zum Jahresbericht über die Fortschritte der classischen Alterthumswissenschafi 5, 1878, I 2f ' U.v.Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische Literatur des Altertums, in: Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, hrsg. v. U.v.Wilamowitz-Moellendorff, K.Krumbacher u.a. (= KultdGgw I 8), Leipzig/Berlin 1905, M912, 3-318 (separater Nachdr. mit einer Einleitung von E.-R.Schwinge: Stuttgart/Leipzig 1995); F.Leo, Die rö-
Krise des Geschichtsbegrififs
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von Schanz' Geschichte der römischen Literatu/° zu dem Riesenbau der Schanz-Hosius-Krügerschen Literaturgeschichte' ' sich auswuchs, da ahnte noch niemand etwas von der Krise und Bedrohung des Geschichtlichen und seiner Repräsentanz in Kunst und Wissenschaft'^. Das Jahrhundert, das seiner Obsession durch die Historie den Beinamen 'historistisch' verdankt'^, ist abgelöst worden durch eine Epoche der Kriege und Katastrophen in weltgeschichtlichem Ausmaß, die den Glauben an geschichtliche Entwicklung und Reifimg wo nicht ausgemerzt, so doch tief erschüttert haben. Die in der unruhigen Zeit zwischen den Weltkriegen und vollends nach dem zweiten Krieg phänomenologisch (Husserl) und existentialphänomenologisch (Heidegger, Sartre) sich entwickelnde Philosophie, die krasse Ausweisung noch des letzten geschichtsphilosophischen Rests aus einer zuletzt gegen den Träger der Geschichte, das Subjekt selbst, sich wendenden, strukturamische Literatur des Altertums, in: Die gr. u. lat. Lit. и. Spr. (s. ebd.), 401-82 (dess. weit ausfuhrlicher a n g e l t e Geschichte der römischen Literatur, Berlin 1913 [Nachdr.: Dublin/Zürich 1967] ist ein Torso gebliebai); E.Norden, Die römische Literatur. Mit Anhang: Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter, "Leipzig 1952, M961, '(als ergänzter Neudr. der 3. Aufl. 1927 hrsg. v. B.Kytzler) Stuttgart/Lapzig 1998. Als Vin. Abtlg des Handbuchs der Altertumswissenschafl in 4 Teilen, München 1890-1904 erschienen. " Teilweise neu bearbeitet v. C.Hosius u. G.Krüger erschienen ebd.: 1: "1927 / П: "1935 / Ш; '1922 / IV 1: ^1914 / IV 2 (neu hinzugekommen): 1920 (alle Bde seither mdirfach nachgedr). Eine Anthologie wichtiger Dokumente zur Theorie der Literaturgeschichtsschrabung im 19. Jh. ist hrsg. v. E.Marsch, Über Literaturgeschichtsschreibung. Die historisierende Methode des 19. Jahrhunderts in Programm und Kritik, Darmstadt 1975. " Zum Hintergrund vgl. die 'klassische' Kurzdarstellung durch A.Momigliano, Historicism Revisited, Amsterdam/London 1974, u. aus jüngster Z a t O.G.Oexle, "Historismus". Überl^ungen zur Geschichte des Phänomens und des B^riffs, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus - Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996, 41-72, dens., Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition, in: ders./J.Rüsen (Hrsg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, Köln/Wamar/Wien 1996, 139-99 (vgl. in demselben Band, 201-19, dai Beitrag von U.Muhlack, Gibt es ein "Zeitalter" des Historismus? Zur Tauglichkeit eines wissenschaftsgeschichtlichai Epochalbegriffs), sowie I.Veit-Brause, Historicism Revisited, in: Storia della Storiografia 29, 1996, 99-125 - Nicht so sehr Rüsens Versuch einer Reetablierung (modernisierter) historistischer Prinzipien als deren begroizte Anwendung nur auf die Geschichtswissenschaft wird zum G^enstand der Kritik bei M.Baßler, C.Brecht, D.Niefanger u. G.Wunberg, Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996 (s. etwa S. 19). Eine "kritische Übersicht der neuestai Literatur" liefert jetzt G.G.Iggers, Historismus - Geschichte und Bedeutung, in: Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion, hrsg. v. G.Scholtz, Beriin 1997, 102-26 Rüsens Rückbesinnung auf ältere, in der 'Postmoderne' ins Abseits geratene Theorie und Methodik der Geschichte ('Historik') erhält jetzt lebhaften Sukkurs durch C.Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln/Weimar/Wien 1997 (niederid. Orig.: Amsterdam 1994).
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Einleitong
listisch werdenden Philosophie haben Folgen gezeitigt, an denen auch die 'Königswissenschaft' der alten historistisch organisierten geisteswissenschaftlichen Fakultät, die Klassische Philologie, nicht vorbeisehen konnte. Die Nachkriegszeit ist den großen Entwürfen abhold, der rassemblement der disiecta membra des wissenschaftsorganisatorischen Gigantismus der preußischen und Weimarer Jahre findet nicht statt; es ist die Zeit einer neuen anderen Blüte, die ihre Wurzeln freilich in demselben Berlin der 20er Jahre hat, in welchem Wilamowitz namenüich in seiner Geschichte der Philologie^^, seinen Erinnerungen^^ und dem imponierenden Vermächtnis des Glaubens der Hellenen^^ die vorerst letzten Schlachten für den Historismus schlug. In einem feinsinnigen Beitrag für das Memorial Wilamowitz nach 50 Jahren^^ hat Emst Vogt den langjährigen schmerzlichen Prozeß der Loslösung einiger hochbegabter Wilamowitz-Schüler von den wissenschaftlichen Maximen des Meisters beschrieben'^. Paul Friedländers Platon^^, Karl Reinhardts Parmenides^°, Wolfgang Schadewaldts Sappho- und Homerstudien^' zeugen von der neuen wissenschaftlichen Ausrichtung der xaadàefin de siècle Geborenen, die, nachhaltig beeindruckt durch den psychagogjschen Radikalskeptizismus des einstigen Wilamowitz-Antagonisten^^ Nietzsche^^ und das ästhetizistische KJima des George-Kreises^", Erschiaien als 1. Heß des 1. Bds der v. A.Gercke u. E.Nordm hrsg. Einleitung in die Altertumswissenschaft, Leipzig/Berlin 1921, im Einzeldr.: ebd. Ί 9 2 7 (Nachdr.: Lapzig 1959 u. [mit e-m Vorwort v. A.Henrichs] Stuttgart/Leipzig 1997). " Erinnerungen. 1848-1914, Leipzig 1928, 4929. 2 Bde, Berlin 1931/32 (Neudr.: Basel 1955; nachgedr. zuletzt: Darmstadt 1994). " Hrsg. V. W.M.Calder Ш, H.Flashar u. Th.Lindken, Darmstadt 1985. ' ' E.Vogt, Wilamowitz und die Auseinandersetzung seiner Schüler mit ihm, ebd., 61331. " 2 Bde, BerlinÄ^eipzig 1928/30, in 3 Bdn: 'BerlinЛ^Iew York 1964-75. K.R., Parmenides und die Geschichte der griediischai Philosophie, Bonn 1916, Trankfurt a.M. 1959. W.S., Sappho - Welt und Dichtung. Dasein in der Liebe, Potsdam 1950; zu Homer s. bes. die Iliasstudien, Leipzig 1938, 'Berlin 1966 (Nachdr.: Darmstadt 1987), u. die in dem Band Von Homers Welt und Werk, Leipzig 1944, ''Stuttgart 1965, gesammeltai Aufsätze. ^^ Die Dokumente zum Streit um die Geburt der Tragödie sind gesammelt von K.Gründer, Hildesheim 1969. S. jetzt auch G.Fernández, El reflejo en el ^istolario de Nietzsche de las criticas de Wilamowitz-MoellendorfF a El Nacimiento de la Tragedia. A propósito de una carta de Friedrich Nietzsche fechada en 1872, in: Perficit 21, 1997, 14346. Zu Nietzsches Antike-Bild s. bes. M.Landfester im Kommentarteil seiner Ausgabe von Nietzsches Geburt der Tragödie. Schriften zu Literatur und Philosophie der Griechen, Frankfurt/Leipzig 1994, v.a. 377-422, sowie die Vorlesungen von H.Cancik, Niö;zsches Antike, StuttgartWeimar 1995. Sein Verhältnis zur 'Zunft' beleuchten E.Howald, Friedrich Nietzsche und die klassische Philologie, Gotha 1920, H.Wismann, Nietzsche et la philologie, in: Nietzsche aujourd'hui?, 2. Bd., Paris 1973, 3 2 5 ^ 4 , R.Escobar, Nietzsche e
Historismus und 'Dritter Humanismus'
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subtile, tiefschürfende Interpretationen v.a. griechischer Autoren in das Zentrum ihrer wissenschaftlichen Arbeit rückten^'. Diese besonders durch Werner Jaeger methodologisch fimdierte^® Schule des sogenannten 'Dritten la filologia, Mailand 1980, H.Cancik, Der Einfluß Nietzsches auf klassische Philologen in Deutschland bis 1945. Philologen am Nietzsdie-Archiv (I), in; Flashar, Altertumswissenschaft, ebd. (Anm. 3), 3 8 1 ^ 0 2 , u. M.Gtiganle, Nietzsche und die Klassische Philologie, in: "Jedes Wort ist ein Vorurteil". Philologie und Philosophie in Nietzsdies Denken, hrsg. v. M.Riedel, Köln/ Weimar/Wien 1999, 151-89. Vgl. auch J.Latacz, Fruchtbares Ärgernis: Nietzsdies 'Geburt der Tragödie' und die gräzistisdie Tragödienforschung, Basel 1998 (= Basler Universitätsreden 94). Weitere Literaturhinweise in der Spezialbibliographie "Nietzsche als Юassischer Philologe" bei B.v.Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (Kapitel 1-12), (Diss. Tübingen 1989) Stuttgart/Weimar 1992, 378-80. " Mit George war Wilamowitz, seit er zuerst mit dessen Lyrik Bekanntschaft gemacht hatte, zerfallen und wurde seinerseits bald zur Zielscheibe heftiger Kritik aus Georges "Kreis". Siehe U.K.Goldsmith, Wilamowitz and the Georgekreis: New Documents, in: Wilamowitz nach 50 Jahren (s. Anm. 17), 583-612, u. demnächst J.P.Schwindt, (Italo)Manie und Methode. Stefan Georges und Ulrich von Wiiamowitz-MoellendorfFs Streit um das "richtige" Antikebild, in: W.Lange u. N.Schnitzler (Hrsg.), Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik, München 2000, 1-19 - Zum Einfluß des George-Kreises auf die Literaturwissenschaft s. den Forschungsbericht von K.Wamar Zur Geschichte der Literaturwissenschafi, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50, 1976, 298-364, dort 355-58 (mit zahlrachm Literaturangaben bis ins Jahr 1975), vgl. jetzt auch H.J.Zimmermann (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposion, Heidelberg 1985 (=Suppl.SHAW 1984/4), G.Zöfel, Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt a.M. &c. 1987, sowie die Baträge in dem v. C.König u. E.Lämmert hrsg. Sammelband Literaturwissenschafl und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt a.M. 1993, bes. E.Osterkamp, Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis, ebd. 177-98. Vgl. jetzt auch U.Hölscher, Strömungen der deutschen Gräzistik in den zwanziger Jahren, in: Flashar, Altertumswissenschaft, ebd., 65-85. Zur Latinistik s. in demselben Bd. P.L.Schmidt, Zwischen Anpassungsdruck und Autonomiestreben: die deutsche Latinistik vom B ^ n n bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, 115-82, bes. 149-81 (vgl. jetzt grundsätzlich die wertvolle ausführliche Besprechung des Bandes durch H.Lloyd-Jones, Interesting Times, IJCT 4, 1998, 580-613). ^^ S. die von ihm selbst hrsg. Sammlung Humanistische Reden und Vorträge, zuerst 1937 -anläßlich der im Jahr zuvor erzwungenen Emigration - erschiaien, in zweiter erweiterter Auflage: Beriin 1960. Hinzuweisen ist bes. auf die Basler Antrittsvoriesung vom 18. 12. 1914 (ebd. 1-16), die sich als Programm der neuen Richtung lesen läßt: "Wir rufen nicht nach Veraigung der Grenzen der Altertumswissenschaft, wir suchen in diesem großen Reich der Alten vielmehr nach der Idee, d.i. nach dem Kraft- und Wertzentrum der philologischen Tätigkeit. Im G^ensatz zur modernen Literaturwissenschaft etwa, l i ^ dieses Zentrum bei uns nicht in der Literaturgeschichte, wird es nie li^en, waingleidi wir nie aufhören werden, Literaturgeschichte zu treiben. Es liegt in dem Besitz der großen Meister selbst und in der Notwendigkeit, sie vor die Augai der heutigai Welt immer wieder hinzustellen und ihr Verständnis zu vermitteln. Diese Aufgabe ist eine wissenschaftliche;
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Einleitung
Humanismus' ist - in charakteristischer Durchmischung mit der Methodik des New Criticism
bzw. der 'textimmanenten Interpretation' - bis weit in die
50er, j a noch in die frühen 60er Jahre hinein in Deutschland die vorherrschende Richtung gewesen^^. Für eine annähernd objektive Einschätzung der 'wissenschaftspolitischen' Tendenzen der Folgejahre ist auch heute, rund dreißig Jahre nach Beginn der revolutionären Umgestaltung der akademischen Bildimgsanstalten, der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Nur soviel wird man sagen dürfen: daß sich zwar Klassische Philologen an der von den Kündem der strukturalistischen Doktrin geforderten Demontage des historischen Subjekts nicht beteiligt^^, aber doch mehrheitlich einem nüchternen sachorientierten Pragmatismus das Wort geredet haben. Das Bedürfnis nach historischer Überschau, nach Synthetisierung des aus historistischen Zeiten überreich bereit liegenden 'Materials' war spätestens nach dem Scheitern der Jaegerschen Synopse^^ gering. Das Gebirge der Schanzschen
Literaturge-
aber sie ist zugleich von ungeheurem, wenn auch unkontrollierbarem Einfluß auf die moderne Geisteskultur, auf Bildung und Ideale des Volkes. Nicht geschichtliche Überblicke über Einzelgebiete der Antike, sondern die Erklärung der Alten selbst gdiört in erster Linie in unseren Hochschulunterricht und unsere Gynmasien" (ebd. 13f). Vgl. auch die am 30. 6. 1932 vor der Berliner Akademie gdialtaie Gedächtnisrede auf U.v.WilamowitzMoellendorfF (ebd. 215-21), wo die geisteswissenschaftlichen Keime im Werk des großen Lehrstuhlvorgängers pathetisch gewürdigt sind: "Zwei Seelei rangai in seiner Brust unaufhörlich miteinander: der Historiker, der nichts anderes wissai will als was gewesen ist, und der Humanist und Philologe, der anbeten und verkünden muß was groß und ewig ist" (ebd. 219). Frühe Kritik äußert freilich schon B.Snell in seiner Besprechung des 1. Bandes der Paideia (GGA 197, 1935, 329-53 [= ders.. Gesammelte Schriften, Göttingen 1966, 3254]): "... uns Philologen ist auch nicht die Aufgabe gesetzt, einen neuen Humanismus zu schaffen, denn wir können nicht mdir tun, als das Griechentum wahrhaft und rein zu erforschen und darzustellen. ... ob es nötig oder förderlich ist, daß wir dazu eigene Theorien und Programme schaffen, wird manchem Philologen zweifelhaft sein" (ebd., 54). Vgl. J.Latacz, Reflexionen Klassischer Philologen auf die Altertumswissenschaft der Jahre 1900-1930, in: Flashar, Altertumswissenschaft, ebd., 41-64, bes. 44—48. Es mag dies seine Ursache im mitunter merkwürdig gebrochenen Verhältnis der Юassischen Philologie zu avanciert«! Konzqjten (vor)modemer Subjektivität haben, doch zeichnet sich hier seit geraumer Zeit ein merklicher Wandel ab: siehe jetzt v.a. die Beiträge einer Eichstätter Tagung (1995) in R.L.Fetz/R.Hagenbüchle/P.Schulz, Geschichte und Vorgeschichte der modemai Subjektivität, 2 Bde, Berlin/New York 1998 - Auch in Philosophie, Kunst- und Literaturwissaischaft hat längst die massive Rückbesinnung auf Fragen der Subjektskonstitution und die Beobachtung der Formation(en) von Subjektivität einges^zt (zur Kunstgeschichte s. jetzt H.Knobeloch, Subjektivität und Kunstgeschichte, Köln 1996). Vom postmodemai Betrieb als "Baustelle für die Subjektskonstruktion" spricht jetzt B.Groys, Die WiedererschafFung des Autors nach seinem Tode, in: T.Hitz/A.Stock (Hrsg.), Am Ende der Literaturtheorie? (=Zeit und Text 8), Münster 1995, 150-63, dort 163. " Hier ist bes. Jägers Versuch "einer neuen Gresamtbetrachtung des Griechentums" zu nennen, als welchen er seine dreibändige Studie Paideia - Die Formung des griechischen
Nach dem Historismus
schichte
17
nutzte man nur mehr als Steinbruch; man überlas gleichgültig oder
auch nachsichtig lächelnd die Fülle veralteter, z.T. unverständlich gewordener Urteile über Werke, Autoren und ganze Epochen und bediente sich nur gerne des verschwenderisch ausgebreiteten Reichtums der Testimonienund doxographisehen Apparate. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeitsweise, den Motiven und Intentionen der vorgängigen Literarhistorie hat es nicht gegeben. N o c h 1961 konnte Emst Sickels 1937 zuerst erschienenes Lehrbuch
der Geschichte
der römischen
Literatur,
'der humanisti-
schen Sendung des Deutschen Hauses' gewidmet, in 2. (durch Zusätze erweiterter) Auflage erscheinen^". Die 1957 bzw. 1961 erschienenen LiteraMenschen (1933^7; 4936-55, Nachdr. [in e-m Bd.] zuletzt: Berlin/New York 1989) ansah: "So oft es auch unternommen worden ist, dai Staat und die Gesellschaft, die Literatur, Religion oder Philosophie der Griechen in ihrer Entwicklung zu schildern, ist bis heute anscheinend noch nicht der Versuch gemacht worden, den geschichtlichen Bildungsprozeß des griechischen Menschen und den geistigen Aufbau des idealen Menschaibildes der Gnechen in ihrer Wechselwirkung darzustellen" (aus dem Vorwort zur 1. Aufl. des 1. Bd. [Oktober 1933]).- Zum Scheitern des Ja^erschen 'Dritten Humanismus' vgl. die Hinweise bei Hentschke/Muhlack, Einführung in die Geschichte der Юassischen Philologie, ebd. (Anm. 3), 135f, sowie die Beiträge in dem von W.M.Calder Ш hrsg. Sammelband Werner Jaeger Reconsidered, ICS Suppl. 3, 1992. S. jetzt auch W.M.Calder Ш u. M.Braun, "Tell it Hitler! Ecco!" Paul Friedländer on Werner Jaeger's Paideia, Quaderni di Storia 43, 1996, 2 1 1 ^ 8 , sowie J.Busche, Klassische Philologie nach dem Ende des "Silbemen" Humanismus, Gymnasium 104, 1997, 1-12. Nicht eigentlich kritisch die W.Jaeger gewidmeten Beiträge von E.Maisching, die jetzt in den Heften Nugae zur Philologie-Geschichte II, Beriin 1989, 60-91, u. IV, ebd., 1991, 25-116, gesammelt sind (dort freilich manch nützliche biographische Hintergrundinformation). In J.Gefïkens zu Heidelberg v e r l i e r Bibliothek der Klassischen Altertumswissenschafien. Bei seinem ersten Erscheinen war das Buch von der deutschen Kritik mit Begeisterung aufgenommen worden. R.Helm spricht in seiner Rez., Philologische Wochenschrift 57, 1937, 638-50, von einem "einzigartigen Buche" (642): "Gerade heute, wo das Bewußtsein von der Bedeutung der Antike und des Römertums fur unsere Kultur und Bildung wieder im Schwinden, jedenfalls im Wankai zu sein scheint, ist ein solches Buch eine Wohltat und eine Notwendigkeit, um aufs neue den Wert 'des römischen Erlebnisses zur Erfüllung der eigenen nationalen Bestimmung' zu Idiren" (649f.). Im englisch- und französischsprachigen Ausland freilich nahm man Bickels 'kulturbiologische' Geschichtsschreibung (vgl. die Rez. v. H.W.Prescott, CPh 33, 1938, 101-04, dort 102), seine 'préoccupations uniquement allemandes, comme Г affinité élertive entre Г inspiration artistique des Grecs et celle des Germains' (A.Emout, Rez., RPh 12 [3' sér ], 1938, 3 3 9 ^ 1 , dort 340) mit Verwunderung zur Kenntnis. Während alle vorgenannten Rezaisenten die Originalität des Bikkelschen Entwurfs hervorhobai und z.T. (Prescott, Helm) Bickels Selbststilisierung zu Mommsais Nachfolger kritiklos hinnahmen, hat A.Rostagni in seiner Rez., RFIC 16 (N.S.), 1938, 298-302, den geistigen Vater der Bickelschai Disposition klar benannt: "Questo tipo di trattazione ci riconduce un poco ai primi tentativi germanici di storia delle letterature classiche, come quelle del Bemhardy" (298); und so H.Dahlmann über die 2. Aufl., Rez. Gnomon 34, 1962, 416f. Dahlmann tadelt Bickels Lehrbuch als "uneinheitliche(s), gespaltene(s) Werk ..., das jeder Kraft der Bildhaftigkeit, zusammaihängender Erzählung, des Versuches, die Werke der Römer selbst lebaidig zu machen, ...
18
Einleitung
turgeschichten von Karl Büchner^' und Ludwig Bieler^^ sind ad usum Delphini geschrieben und sagen wenig aus über das Methodenbewußtsein der zeitgenössischen Philologie. Die jüngst erschienene Geschichte der römischen Literatur von Michael von Albrecht^^ sowie die eben im Erscheinen begriffene Neugestaltung des Handbuchs der Altertumswissenschaft^'* fallen schon in eine Zeit, da die ICrise der Literaturgeschichtsschreibung wenn nicht überwunden, so doch durch konstruktive Neuansätze gemildert scheint^^. Liest man die Vorworte der zuletzt genaimten Werke, blättert man ermangelt" (416) und lobt dagegen Bemhardys Arbeit als "ausgezeichnet ... durch ihre Objektivität, in der sie von der eigenwilligen Subjektivität und eklektischen Ungleichheit des Nachfahren durchaus verschieden ist" (417). Über Bemhardys Grundriss vgl. unten S. 27. Römische Literaturgeschichte - Ihre Grundzüge in inteφretierender Darstellung, Stuttgart 1957, '1994. " Geschichte der römischen Literatur, 2 Tie, Berlin 1961, ''Berlin/New York 1980. '' Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius. Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit, 2 Bde, Bem/München 1992, ^München 1994 (auch als Tb.: München 1994, 4997). " Bisher erschienen: Bd. 5: Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr, hrsg. v. R.Herzog, Mündien 1989 (aktualisierte frz. Fassung: Tumhout 1993), u. soeben Bd. 4: Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur/117-283 n. Chr, hrsg. v. K.Sallmann, München 1997. " Unter den zahlreichen Versuchen einer Rdiabilitation des Literarhistorischen kann als einer der originellsten und einflußreichsten Harold Blooms literaturtheoretische Tetralogie The Anxiety of Influence (1973), A Map of Misreading, Kabbalah and Criticism (beide 1975) und Poetry and Repression (1976) gelten. Bloom stdit - bei aller Nähe zu dai dekonstruktivistischen Koliken P.de Man, J.Hillis Miller u. G.Haitman - durchw^ in pointiertem Gigensatz zu deren fundamentaler Kritik des 'Logozentrismus' der abendländischen Philosophie und Literatur und behauptet emphatisch die Suprematie des denkenden Subjekts. bdessen sind gegen seine "radikale Pathologie der Dichtungsgeschichte" berechtigte Einwände erhobai worden; s. etwa Uhlig, ebd. [Anm. 4], 44-59 (das Zitat auf S. 58).Einer "Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne" (A.Kaes, s. unten) habai sich jüngst die Vertreter des sogenannten New Historicism (namentlich Stephen Greenblatt u. Louis Montrose) verschrieben. Die leitende Frage ist die nadi der Möglichkeit der Geschichtsschreibung unter den Prämissen poststrukturalistischer Philosophie. Freilich, was bis heute an konkreten Umsetzungsversuchen neohistoristischer Theorie vorliegt (darunter so schillernde Untemdimen wie das Werk des Rock-Kritikers Greil Marcus Lipstick Traces. A secret history of the Twentieth Century, Cambridge [Mass.] 1989), ist nicht geeignet, meinen Vorbehalt g ^ e n die problematisdie Chemie der geschichtsorientierten und neostrukturalistischen Doktrinai wesentlich zu entkräften. Zur Einführung in dai New Historicism mögai die Aufsätze von A.Liu, The Power of Formalism: The New Historicism, ELH 56, 1989, 721-71, sowie A.Kaes, "New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichai der Postmoderne?", in: FS E.Läinmert, hrsg. v. H.Eggert u.a., Stuttgart 1990, 5666, dienen (beide Artikel wiederabgedr. in dem von M.Baßler hrsg. Sammelband New Historicism - Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M., 94—163 bzw. 25167 [vgl. dort auch die Einltg. des Hrsg.]). S. jetzt auch B.Schmidt-Haberkamp, New Historicism - Literaturwissenschaft im Spi^elkabinett der Texte, in: Am Ende der Litera-
Neuere römische Literaturgeschichten
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in den klassisch-philologischen Fachorganen der 60er, 70er und 80er Jahre könnte man meinen, es habe eine solche Krise nie gegeben^^. Seltsam unberührt von den Substruktionsversuchen einer avantgardistisch sich gebenden literaturwissenschaftlichen Intellegenzia knüpft die neueste Literarhistorie an die Traditionen ihres Faches an^'; und doch ist ein entscheidender Unterschied zu konstatieren: Nüchterne Analyse ist durchweg an die Stelle voreiligen bornierten ästhetischen Urteilens getreten; dem noch von Bickel lebhaft verfochtenen Glauben an die Verschiedenrangigkeit und Hierarchie der römischen Literaturepochen^® hat man gründlich abgeschworen zugunsten turtheorie? (s. oben Anm. 28), 115-30, u. BThomas, New Historicism, Кикифое11к und das Ende der amerikanischen Geschicáite, in: Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts (s. oben Anm. 13), 13-22 - Die Nouvelle Histoire schließlich ist, wenn nicht alles täuscht, schon zu dem Zeitpunkt, da eine repräsentative Auswahl ihrer programmatischen Äußerungen mit der binational typischen Verspätung (und der solche Verspätung nur schlecht kachierenden pathetischen Überhöhung) auch auf deutsch vorliegt, in das Stadium eingetreten, wo sie zum G^aistand parodistischer Kunstübung wird (J.Le Goff, R.Chartier, J.Revel [Hrsg.], La nouvelle histoire, Paris 1978, dt.: Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt 1990). Wer hätte nicht schon im Übermut geschichtstheoretischer Debattenseligkeit eine Geschichte des Hörens, Riechens, Sdimeckens gefordert? Virtuos gehandhabt, avanciert die Nouvelle Histoire mitunter zur 'Ästhetik der Geschichte': so in J.Rancières Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankflirt a.M. 1994. " Das gilt im Prinzip auch für die nützliche Cambridge History of Classical Literature II: Latin Literature, hrsg. v. E.J.Kenney u. W.V.Clausen, Cambridge &c. 1982, sowie das nach Gattungen g l i e d e r t e Neue Handbuch der Literaturwissenschafl III: Römische Literatur, hrsg. v. M.Fuhrmann, Frankfurt 1974. Das knappe Vorwort (S. V) liefert wenig mehr als eine Skizze pragmatischer populärer Literaturgeschichte. " Bezeichnaiderweise hat die Klassische Philologie von den literaturtheoretischen Modellen der 60er u. 70er Jahre einzig die Rezeptionsästhetik Jaußscher Prägung (u. ihren Rückgriff auf die 'Literaturgeschichte' [H.R.J., Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz 1967, ^1969, erweiterte Fassung in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 1970, 144-207]) in nennenswertem Maße rezipiert. Ich verweise nur auf W.Bamers paränrtisch konzipierten Text Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der Klassischen Philologie, Poetica 9, 1977, 499-521, P.L.Schmidt, Reception Theory and Classical Scholarship: a Plea for Convergence, in: FS H.E.Bames, hrsg. v. W.M.Calder Ш u.a.. Boulder 1985, 67-77, K.Galinsky, Introduction: the Current State of the Мефгееайоп of Roman Poetry and the Contemporary Critical Scene, in: The Interpretation of Roman Poetry (s. Aim. 3), 1-40, dort 8-11, sowie R.Kannicht, "Der alte Streit zwischen Philosophie und Dichtung" - Grundzüge der griechischai Literaturauffassung, in: ders., Paradeigmata - Aufsätze zur griechischen Poesie, hrsg. V. L.Käppel u. E.A.Schmidt, Heidelberg 1996, 183-223, bes. 183-86. Gravierende Einwände g%en die Tauglichkeit des rezeptionsästhetischen Ansatzes in der philologischliteraturwissenschafüichai Praxis jetzt bei R.R.Nauta, Historidzing Reading: the Aesthetics of Reception and Horace's 'Soracte Ode', in: Modem Critical Theory and Classical Literature (s. Anm. 3), 207-30. Davon zeugen schon die Überschriften einzelner Abschnitte seiner Literaturgeschichte, etwa Die satumischen Jahrhunderte (85), Die archaische Blüteperiode ... (95), Der
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Einleitong
einer objektiveren Einschätzmg sowoM der ehemals 'klassisch' genannten als auch der Spätzeiten^®. Nach dieser allmählichen Abschwächimg des antihistorischen Trends auch in der Wissenschaft von der alten Literatur könnten die eingangs geäußerten Skrupel bezüglich einer historiographischen Verfahrensweise als übertrieben erscheinen. Jedoch sind Zweifel erlaubt, ob die Klassische Philologie heute schon über die Mittel (d.h. bes. fachspezifischen epistemologischen Vorarbeiten) verfügt, um jene 'Geschichtsschreibimg nach dem Ende der herkömmlichen Geschichtsschreibung' zu pflegen, die nach den grundlegenden Untersuchungen durch Hayden White'"', Michel Foucault"", Niedergang im dritten Jahrhundert ... (212), Die Nachblüte des vierten Jahrhunderts (233), Das Greisenalter der römischen Literatur... (260). Das methodologisch ambitionierteste Projekt der neueren altpHlologischen Literaturhistorie ist zweifellos G.B.Contes Letteratura latina: Manuale storico dalle origini alla fine dell' impero romano, Florenz 1987 (eine von D.Fowler u. G.W.Most überarbeitete Fassung amerik. v. J.B.Solodow, Baltimore/London 1994). In einer ausführlichen Einleitung gibt Conte penibel Rechenschaft von seinem literarhistorischen Verfahren. Er verficht die 'Maxime' von der 'Enthierarchisienmg' der römischen Literaturgeschichte: Dies kommt schon äußerlich in der Länge der Autorenabschnitte zum Ausdruck: Caesar sind gerade einmal 9 Seiten gewidmet, Lucan ist auf 13, Lukrez gar auf 20 Säten behandelt. Auf Apuleius ist mehr Raum verwandt als auf Tacitus; der ältere Plinius steht kaum hinter dem 'großen' Livius zurück. Contes Buch ist eine Literaturgeschichte nach dem Bruch mit allen "Fetischen" ("the timeless value of classical culture, the worth of certain classical texts for moral training", 8). Er kommt weitgehend ohne literaturkritische Verdikte aus, verzichtet auf herablassende Urteile ebenso wie auf die so beliebt gewordenen 'Rettungen' angeblich verkannter B ä h u n g e n . Contes betont 'postklassizistischer' Ansatz ist von seinen gattungspoetologischen Überlegungen nicht zu trennen: Er (be)schreibt Literaturgeschichte als komplexes System intertextueller und rezeptionsästhetischer Bezüge und gelangt, indem er über der "Literarizität" der Texte ihre "Historizität" nicht vergißt, weit über die starre Doktrin rdn Strukturalistischer Ansätze hinaus. S. auch unten S. 8 7 f - Hinzuweisen ist schließlich noch auf E.Fanthams soeben erschienenen Versuch einer Sozialgeschichte der römischen Literatur: Roman Literary Culture. From Cicero to Apuleius, Baltimore 1996 (dt.: Stuttgart/Weimar 1998). Ich nenne nur sein Hauptwerk Metahistory. The historical Imagination in nineteenth-Century Europe, Baltimore/London 1973. Whites Geschichtstheorie ist in der deutschen Geschichts- und v.a. Literaturwissenschaft noch kaum wirklich zur Kenntnis genommen. S. die ernüchternde Bilanz durch W.Weber, Hayden White in Deutschland, in: Storia della Storiografia 25, 1994, 89-102. Dies könnte sich ändern, seit die genannte Zeitschrift Whites Metahistory zwei Themenbände (24, 1993 u. ebd.) gewidmet hat. Für die altertumswissenschaftliche Beschäftigung mit dem G^enstand sind hilfreich die kritischen Bemerkungen von A.Momigliano, La retorica della storia e la storia della retorica: sui tropi di Hayden White, in: ders.. Sui fondamenti della storia antica, Turin 1984, 46576, bes. 474-76 (engl. Orig. m: Comparative Criticism 3, 1981, 259-68). "" Hier ist bes. an die epistemologischen Hauptwerke Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines (Paris 1966) u. L'archéologie du savoir (Paris 1969) zu denken. Zur Methode s. P.Veynes kongenialen Essay Foucault révolutionne l'histoire (Paris 1978). Vgl. jetzt auch S.Schneck, The Human Sciences and the End of History:
Aporien aktueller Literaturgeschichtsschreibung
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Dominick LaCapra''^ sowie - nicht zuletzt - die Forschimgsgruppe Poetik und Hermeneutik'^^ sinnvoll, d.h. methodisch überzeugend die Stelle der alten 'Großen Erzählungen' vertreten könnte. Selbst die Geschichtstheorie der Vorgenannten hat - wie eben kürzlich wieder Robert F.Jr.Berkhofers anregende Studie Beyond the Great Story. History as Text and Discourse gezeigt hat - noch nicht auf eine wirklich tragfähige, weithin akzeptierte "new poetics and rhetoric of history" geführt''''. Noch anderes spricht gegen den Versuch einer geschichtsmäßigen Darstellung des Stoffes; es sind hier bes. zwei Gesichtspunkte zu benennen: 1 ) die lückenhafte Überlieferang der literarhistorischen Anstrengungen des römischen Altertums; 2) die begriffliche und gattungsmäßige Unbestimmtheit des Gegenstands 'Literarhistorie' selbst. Um mit dem schwierigsten und entscheidenden Punkt (2) zu beginnen"^: Hat es in der (römischen) Antike eine 'Literaturgeschichtsschreibung' gegeben?
H ^ e l , Nietzsche, Weber, and Foucault, in: International Studies in Philosophy 29, 1997, 59ff., K.Windschüttle, Foucault as Historian, in: Critical Review of btemational Social and Political Philosophy 1, 1998, 5fF., R.Wicks, Foucault and the Possibility of Histoncal Transcendence, ebd., 85ff., sowie U.Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln 1998. S. v.a. History & Criticism (Ithaca/London 1985) sowie den gemeinsam mit S.L.Kaplan hrsg. Sanunelband Modem European Intellectual History. Reappraisals & New Perspectives {Ып.яся1Ьопйап 1982). "" Bes. in Bd. 5 Geschichte - Ereignis und Erzählung, hrsg. v. R.Koselleck u. W . D.Stempel, München 1973, 4 9 9 0 . "" Berkhofers Buch ist in Cambridge (Mass.)/London 1995 erschienen (der zitierte Ausdruck S. 76 u. 104).- Noch in Roger Chartiers jüngst erschienenem Buch Au bord de la falaise. L'histoire entre certitudes et inquiétude (Paris 1998) ist vom umfassenden Vertrauensverlust der Geschichtswissenschaft in die überkommene Methodik des Faches die Rede. Von den Problemen der Konstruktion einer postnarrativen Geschichtsschreibung macht man sich eine Vorstellung, wenn man sich mit Jauß daran ennnert, daß schon Droysais Konzept der Überwindung klassischer Erzählformen durch Didaktisierung der Geschichtsschreibung zum Scheitern verurteilt war, weil sich auch das hermeneutische Modell der Erfahrung und Erkenntnis des bereits Erkannten nicht anders als mit erzählerischen Mitteln realisieren läßt (vgl. H R.Jauß, Geschichte der Kunst und Historie, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, ebd. [Anm. 37], 208-51, dort 227f [auch in: Geschichte Ereignis und Erzählung (s. die vorige Anm ), 175-209, dort 190]). Arthur C.Danto gar verfällt - wie wiederum schon Jauß, ebd., 228-30 (bzw. 191f), gesehen hat - über dem Versuch der Neubegründung ипег narrativen Logik der Geschichtsschreibung {Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965) auf älteste poetologische Bestirranui^en, "die im Grunde nur die klassisch aristotelischen Normen der epischen Fabel repristinieren". Punkt (1) ist in der Praxis von der Behandlung des zweiten Punktes kaum zu trennen und wird daher erst unten S. 44 sumrmtim behandelt.
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Einleitung
Die Forschung: GescMchte und gegenwärtige Situation Monographien, Lexika- oder Handbuchartikel, Forschungsberichte oder Bibliographien ziun Thema: 'Antike Literaturgeschichtsschreibung' existieren nicht'*^. Wer sich über die antike wissenschaftliche Arbeit, Literatur betreffend, informieren will, muß zu den Philologiegeschichten von Gräfenhan^^ Sandys^\ Gudeman''^, Kroll^° oder Pfeiffer^' greifen. Weiters wird er sich an die Übersichten halten, wie sie die Literaturgeschichten etwa von Norden^^ und Bickel^^ bieten. Wertvolle Hinweise finden sich in ungezählten Einzelstudien zu literarhistorischen Spezialthemen. Aus der unübersehbaren Fülle von Urteilen über das Problem der antiken Literaturforschung greife ich einige wenige heraus, die in dem berühmten Doppelsinn 'Epoche' gemacht haben, daß sie zugleich Einschnitt (Höhepunkt) und Abschnitt (Abbruch) weiteren Nachdenkens über 'die Sache' gewesen sind. An mehreren Stellen seiner monumentalen Geschichte der Klassischen Philologie im Alterthum verweilt Gräfenhan^'' bilanzierend bei der 'Literaturgeschichte'. Ich muß im folgenden die Hauptstellen - unwesentlich ver-
M.Fuhrmann, Die Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert, in: Cerquiglini, B./Gumbrecht, H.U. (Hrsg.), Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a.M. 1983, 49-72, bdiandelt die antike Tradition, den methodischen Zwängen eines Überblicksbeitrags gehorchaid, nur knapp: die griechische 'Literaturgeschichte' auf 4, die römische auf einer einzigen Seite. Für die griechische Literaturgeschichtsschreibung kann man immerhin auf die einschlägigen Abschnitte bei R.Blum, Kallimachos und die Literaturverzeichnung bei den Griechen - Untersuchungen zur Geschichte der Biobibliographie, Frankfurt a.M. 1977, verwasen. Sidie auch unten S. 47-51 dea Exkurs: Zur griechischen Literaturgeschichtsschreibung. "" A.Gräfaihan, Geschichte der Юassischen Philologie im Alterthum, 4 Bde, Bonn 1843/44/46/50 (Nachdr.: Osnabriick 1973). J.E.Sandys, A history of classical scholarship, Bd.l (from the sixth century b.C. to the end of the middle ages), Cambridge 1903, M921 (mdirfach nachgedr). A.Gudeman, Grundriss der Geschichte der klassischen Philologie, Leipzig/Beriin 1907, M909 (Nachdr.: Darmstadt 1967). W.Kroll, Geschichte der klassischen Philologie, Leipzig 1908, ^Berlin/Lapzig 1919. " R.PfeifFer, History of Classical Scholarship, Oxford 1968 (dt.: Geschichte der Klassischen Philologie - Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, München 1970, η 978). " In dem oben Anm. 9 angefüihrtai Band S. 88-93 ('Die antiken Quellen'). " In dem oben S. 17 (mit Anm. 30) angeführten Band S. 39-46 ('Die literarhistorische Forschung in Altertum und Gegenwart'). S. oben Anm. 47.
Forschungsgeschichte
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kürzt - zitieren, damit das Dilemma der modernen Forschung deutlich werden karm. Ziemlich am Ende des den Anfänge(n) der Philologie bei den Griechen gewidmeten Abschnitts (1 17-332) lesen wir: "Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass sowohl hibhographische als biographische Anfange von den Griechen gemacht waren; aber zur Verarbeitung beider Momente zu einer pragmatischen Literaturgeschichte kam es nicht. Ursachen und Wirkungen nachzuweisen, welche den Gang der Literatur bedingten, die Persönlichkeiten der einzehen Schriftsteller in ihren Werken Aviederzuerkennen und sie mit objektiver Юarheit zu porträtieren, das verstanden die Griechen noch nicht."'' Im Abschnitt über die östliche (d.h. griechisch-ägyptisch-asiatische) Philologie von Aristoteles bis auf Augustus (sic) Alleinherrschaft (1 333 - Π 215) fährt Gräfenhan fort: "Dazu kam, dass man noch keinen Sinn fiir kompendiarische Uebersichten des Literaturstoffes hatte, sondern dass man, wenn man literarhistorisch arbeitete, man (sie) sich mehr in ausführhcheren Darstellungen gefiel, und deshalb nur den einen oder andern Gegenstand zur Bearbeitung auswählte."'® Ähnlich ist der Befund über die westìiche (römische) Philologie desselben Zeitausschnittes (Π 216-420): "Von einer Literaturgeschichte, insofern sie den Entwickelungsgang der Literatur nach Ursache und Wirkung vor Augen rücken soU, oder die Nothwendigkeit nachweisen will, warum die Literatur sich so gestahen musste, wie sie sich gestahet hat, kann hier nicht die Rede sein, wie überhaupt das gesamte Alterthum sich nicht auf den historischen Standpunkt erhoben hat, von dem aus eine solche Literaturgeschichte abgefasst werden kann."'' Und wie ein Generalurteil über die literarhistorischen Anstrengungen der Römer lesen sich Gräfenhans Bemerkungen im Abschnitt über die Philologie im Westen {von August's Alleinherrschaft bis zum Ende des vierten Jahrhunderts, Bd. IV ): "Eine Geschichte ihrer Literatur zu schreiben, vermochten die Römer schon aus Mangel an den hierzu nöthigen Vorarbeiten nicht, wenn wir auch zugeben wollten, dass der Riesenfleiss eines Celsus, oder Plinius, oder Sueton die Masse des Stoffes " Ebd. 323. ''Ebd. Π 199. " Ebd. 4 0 5 f
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Einleitung
zu bewältigen im Stande gewesen wäre. Es ist aber auch nicht das Bedürfiiis einer Literaturgeschichte gefiihlt worden, weil nicht einmal die Idee eines solchen Werkes klar geworden und daher auch kein entsprechender Name dafür vorhanden war. ... Die Literatur als "Verkörperung der gesammten Kultur" eines Volkes aufzufassen und ihre Geschichte mit der Nazionalgeschichte in den innigsten Konnex zu bringen, ist erst eine Idee der neueren Zeit."^
Schon aus der knappen Zitatenlese wird deutlich, daß der Literaturforschung des Altertums (bes. der römischen) in Ermangelimg einer festen 'literaturwissenschaftlichen' Begrifflichkeit und in Ermangelung einer Vorstellimg und eines Typs von 'Literaturgeschichte', die annähernd den modernen Vorstellungen des modernen Interpreten entsprechen, rundheraus das 'Verständnis', der 'Siim', ja überhaupt das 'Bedürfnis' literarhistorischen Verfahrens abgesprochen wird. Der moderne Forscher 'erhebt sich' "auf den historischen Standpunkt ..., von dem aus eine solche Literaturgeschichte abgefasst werden kann", wie er sie negativ, d.i. in der Aufzählung der antiken Defizite, umreißt: danach faßt Literaturgeschichte (ich rekapituliere die Hauptpunkte aus den eben gegebenen Zitaten) "die Literatur als 'Verkörperung der gesammten Kultur' eines Volkes" imd bringt "ihre Geschichte mit der Nazionalgeschichte in den innigsten Konnex"; sie soll "den Entwickelungsgang der Literatur nach Ursache und Wirkung vor Augen rücken ..., oder (will) die Nothwendigkeit nachweisen ..., warum die Literatur sich so gestalten musste, wie sie sich gestaltet hat"; ihr obliegt es, in vorzugsweise "kompendiarische(n) Uebersichten des Literaturstoffes" die "Persönlichkeiten der einzelnen Schriftsteller in ihren Werken wiederzuerkennen und sie mit objektiver Klarheit zu porträtieren". Man sieht sofort: Der moderne Forscher hat seine Idee von 'Literaturgeschichte', die er in anachronistischem Verfahren auf die antiken Verhältnisse angewendet wissen will; wie nicht anders zu erwarten, findet er die literarhistorischen Bemühungen des Altertums seinem aposteriorischen Begriff imangemessen und setzt sie danach auf eine niedere Stufe der 'Gattung' herab. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß vor den Augen der Literaturgeschichtsschreibungsforschung des 19. Jahrhunderts auch die biound bibliographischen Kompilationen eines Gelehrten vom Range Johann Albert Fabricius'^^ keine Gnade finden. Was Gottfried Bemhardy in seinem '' Ebd. 450f. " Hauptquelle unserer biographischen Kenntnis des Fabricius ist die Lebensbeschreibung seines Schwiegersohnes H.S.Reimar De vita et scriptis Joannis Alberti Fabricii commentarius, Hamburg 1737; vgl. Ersch/Gruber I 40, 2, 66-75, ADB 6, 518-21, u. NDB 4, 732f.- Von der Bedeutung der heute als Sammlerfleißgelehrtentum belächelten
Vermischung moderner und antiker Auffassungen
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Grundriss der Römischen Litteratur^ über die Studien zur Geschichte der Römischen Litteratur (S. 140-45) seit den Zeiten der Renaissance bemerkt, kommt ganz mit dem Gräfenhanschen Urteil über die antike Forschung überein: "Jahrhunderte lang (war) die Thätigkeit von Schulen und ausgezeichneten Geistern auf Kritik und Erläuterung der Texte gerichtet, woneben die Details sprachlicher und antiquarischer Forschung, zugleich der Lateinische Stil einen erhebUchen Raum einnahmen; sie ging aber nicht auf Autoren um ihrer selbst und um ihres inneren Zusammenhanges willen ein. Es fehlte mithin die Voraussetzung ebenso sehr als das Bedürfiiiss einer Htterarischen Darstellung; denn für eine solche hätten die Autoren in doppehem Sinne, als individuelle Grössen von bestimmten Werthen und als Träger eines Ganzen, vorhanden sein müssen.... Später legte man Verzeichnisse der Autoren mit Berichten über ihr Leben, ihre Schriften und Ausgaben derselben an; das erste Untemehmen der Art war ein Verdienst von I.Alb.Fabricius, an dessen Bibliotheca Latina unmittelbar eine Reihe von Ergänzungen für alle Litteratur im Lateinischen Idiom sich anschliesst."®'
Barockforschung für die Genese modemer Bilder u. 'Selbstprojektionen' der Philologie, von der Beschaffenheit des langai Weges vom damals bereitgestellten Wissen zum endlichen 'Gewußtwerden des Wissens' pflegt man noch immer keine klarai Vorstellungen zu haben. D a g ^ e n findet die Gelehrsamkeit jener Epoche als "kulturelle Praxis" neuerdings das Interesse kulturwissenschafllicher Forschungsverbünde (s. demnächst die Akten eines von H.Zedelmaier u. M.Mulsow geleiteten internationalen Kolloquiums der Münchner Forschungsgruppe "Frühe Neuzeit" [Bad Homburg 1999]). Erschienen in Halle 1830, zuletzt in 5. Aufl. Braunschweig 1872. Ebd. 140. Von der 'Unfähigkeit' des Zeitalters der Aufklärung zur Literaturgeschichte handelt H.Eichner in der Einleitung seiner Ausgabe von Fr.Schl^els Geschichte der alten und neuen Literatur, München/Paderbom/Wien/Zürich 1961 (= KA VI), ХХХШ-XXXV: "Wo der Mensch ... vor allem als rationales Wesen gesehen wurde, dort mußte die Dichtung, soweit sie Schöpfung des Unbewußten oder der Fantasie ist, in einem schiefen Licht erscheinen. Vor allem aber ist die Ratio gerade der zeitlose und überindividuelle Aspekt des Menschen, und wo dieser Aspekt dominiert, dort scheiden Ort und Zeit aus der Betrachtung des Menschen nur allzu leicht aus" (ebd. XXXIHf.).- Freilich ist zu warnen vor der Konstruktion einer grundsätzlichen Opposition von Aufklärung und Romantik, wie sie im Gefolge des H^elschen Romantikverdikts versucht wurde (s. K.H.Bohrer, Die Kritik der Romantik, Frankfurt a.M. 1989, passim). Germanistische u. romanistische Forschung hat seit Mitte der 60er Jahre die Unversöhnlichkeit des G ^ a i s a t z e s zunehmend in Frage gestellt; vgl. etwa W.Krauss, Französische Aufklärung und deutsche Romantik (1962), in: K.Peter (Hrsg.), Romantikforschung seit 1945, Königstein 1980, 168fF., H.Schanze, Romantik und Aufklärung, Nürnberg 1966, sowie die Beiträge zu S.Vietta (Hrsg.), Die literarische Frühromantik, Göttingen 1983, u. E.Bdiler/J.Hörisch (Hrsg.), Die Aktualität der Frühromantik, Paderbom 1987. S. jetzt auch S.Vietta u. D.Kemper in der 'Einleitung' des von ihnen hrsg. Bandes Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998, 4.
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Einleitung
Es ist, wie wir schon am Beispiel des wissenschaftsgeschichtlich eher unbedeutenden Gräfenhan sahen, nicht leicht möglich, von der Erforschimg der antiken Literarhistorie zu berichten, ohne zugleich auch von den Prinzipien neuerer Literaturgeschichtsschreibung zu handeln. Als Zäsur innerhalb der griechisch-römischen Literaturgeschichtsschreibimg aller Zeiten und Epochen wird seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in der engeren Fachhistorie das Wirken Friedrich August Wolfs angesehen®^. Nicht nur hat Wolf in seinen berühmten Prolegomena ad Homemm^^ die erste wirkliche Textgeschichte wenigstens begonnen, sondern überdies in kleinen, z.T. Fragment gebliebenen Monographien die Postulate einer modernen Literaturgeschichtsschreibung formuliert®". Wolfs Schüler BemMit Vorsicht zu genießen ist die in weiten Teilen unkritische Biographie, die sein Schwi^ersohn W.Körte verfaßt hat; Leben und Studien Friedr.Aug. Wolfs des Philologen, 2 Tie, Essen 1833. Wolfs Briefe sind hrsg. u. erläutert von S.Reiter: Friedrich August Wolf - Ein Leben in Briefen, 3 Bde, Stuttgart 1935 [mit Ergänzungsbänden durch R Sellheim, Halle 1956, u. R.Kassel, Opladen 1990]. Vgl. auch M.Fuhrmann, Friedrich August Wolf- Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959, DVJS 33, 1959, 187-236, J.Ebert, Friedrich August Wolfs Leben und Werk, in: Tagungsbd. anläßlich der Konferaiz Zur 200. Wiederkehr der Gründung des Seminarium Philologicum Haiense durch Friedrich August Wolf am 15. 10. 1787, hrsg. v. J.Ebert u. H.D.Zimmermann, Halle a.d.S. 1989, 9-29, sodann die Beiträge in: F.Tessitore/S.Cerasuolo (Hrsg.), Friedrich Aug. Wolf e la scienza dell' antichità. Atti del c o n v ^ o internazionale (Napoli 24-26 maggio 1995), Neapel 1997, sowie zuletzt A.Neschke-Hentschke, Friedrich August Wolf et la science de l'humanité antique ("Altertumswissenschaft"). Contribution à 1' histoire des sciences humaines, A&A 44, 1998, 177-90. " Erschienen: Halle 1795, П884 (Nachdr.: Hildesheim 1963). Zu ihrer Wirkung im zeitgenössischai Geistesleben s. jetzt J.Wohlleben, Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum in der literarischen Szene der Zeit, Poetica 28, 1996, 154-70. Ihren Einfluß auf die neuere einschlägige Forschung erkundet T.Krischer, Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum und die neuere Homerforschung, Poetica 28, 1996, 171-80. " F.A.Wolf, Geschichte der Römischai Litteratur: nebst biographischen und litterärischen Nachrichten von den lateinischen Schriftstellern, ihren Werken und Ausgaben. Ein Leitfaden für akademische Vorlesungen, Halle 1787 (45 S.) [ein Auszug in: Kleine Schriflen in lateinischer und deutscher Sprache von Fr.Aug. Wolf, hrsg. v. G.Bemhardy, 2 Bde, Halle 1869 (Nachdr. in Vorbereitung), dort Π 691-700]; unvollendet gebliebai dess. Zu den Vorlesungen über die Geschichte der Griechischen Litteratur, Halle 1787 (16 S ); ders., Darstellung der Alterthums-Wissenschaft, in: Museum der Alterthums-Wissenschaft (hrsg. v. F.A.Wolf u. Ph.Buttmann) 1, Berlin 1807, 1-145 (auch in: F.A.Wolf, Darstellung der Altertumswissenschaft nebst dner Auswahl seiner kleinai Schriftai und litterarischen Zugaben zu dessen Vorlesungen über die Altertumswissenschaft, hrsg. v. S.F.W.Hofimann, Leipzig 1833 [Nachdr. in Vorbereitung], sowie in: Юе1пе Schriften, ebd., Π 808-95). Daneben tretai Fr.Aug.Wolfs Vorlesungen über die Alterthumswissenschafl, (posthum) hrsg. v. J.D.Gürtler u. S.F.W.Hoffmann, 5 Bde, Leipzig 1831-35, ^1839: für unsere Zwecke bes. interessant die Vorlesung über die Geschichte der römischen Literatur (Bd. 3).
Friedrich August Wolf
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hardy war es dann, der die Theorie des Meisters zuerst in die literarhistorische Praxis umgesetzt hat, und zwar in dem eben zitierten Grundriss, der sich durch seine zweiteilige Disposition nach einer 'inneren' und 'äußeren' Geschichte der römischen Literatur auszeichnet^'. In Wolfs Worten: "Der erste (sc. Hauptabschnitt) der eine Art von Vorbereitung zu den folgenden ist, enthält diejenigen Thatsätze aus der Geschichte der Römer, die auf den Zustand der Wissenschaften bei ihnen, und auf alles was gelehrte Kultur heisst, Beziehung und Einfluss gehabt haben. Hier wird Zeitalter vor Zeitalter in chronologischer Folge durchgegangen; die historischen Data, woraus die Fort- imd Rückschritte der Nation in Künsten und Wissenschaften erklärbar sind, werden erläutert; die Ursachen des steigenden und sinkenden Geschmacks entwickeh;... (Der) zweite Theil fiihrt uns sodann in das Detail dessen, was die Litteratur der Römer und ihre verschiedenen Zweige näher und ganz eigentlich angeht. Hier erst werden die Lebensumstände aller uns übrig gebliebenen, wie auch der berühmtesten verloren gegangenen Schriftsteller erzählt, die Schriften derselben nach ihrem Werth und Brauchbarkeit und am genauesten nach ihrem Inhah beschrieben, und die neuem Bearbeiter, Herausgeber, Emendatoren und Erklärer derselben bekannt gemacht und beurtheilt."®® Wiewohl die Folgen der Wolf-Bemhardyschen Reform noch heute in vielen literarhistorischen Unternehmungen spürbar sind®^, ist Bemhardys Werk, das zuletzt 1872 in 5. Auflage erscheinen konnte, doch recht bald hart getadelt worden. So bemängelt L.v.Urlichs in seiner Grundlegung und Geschichte der klassischen Altertumswissenschaft^ an Bemhardys Verfahren die "Trennung der bestimmenden Momente von der Litteratur selbst" und fordert vielmehr die zusammenhängende Darstellung von "deren schwieriger aber inniger Verbindung"^'. Es ist hier, so sehr es an einer ftmdierten Problem- und Entwicklungsgeschichte der international so einfluß-
" S. hierzu -rücksichtl. bes. der griech. Literaturgeschichte Bemhardys [Halle 1836/45]- R.Kassel, Die Abgrenzung des Hellenismus in der griechischen Literaturgeschichte, Berlin/New York 1987, dort 5f (auch in: ders.. Kleine Schriften, hrsg. v. H.G.Nesselrath, Berlin/New York 1991, 154-73, dort 157f.). ^^ Geschichte der Römischen Litteratur, ebd. (Kl.Schr.), Π 693f. (das Zitat auch in dem Bemhardys Grundriss als Vorrede beig^ebenen Auszug aus der Wolfschen Geschichte, ebd. S. XD(). " Bemhardys Lästung ist treffend gewürdigt von W.Kirsch, Gottfried Bemhardy und Friedrich August Wolfs Konzept einer äußeren und inneren Literaturgeschichte, in: Zur 200. Wiederkehr... (s. oben Anm. 62), 170-77. In: Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft, Bd. 1 : Einleitende und HilfsDisziplinen, hrsg. V. L.v.Urlichs, F.Blass u.a., München 1886, 4892, 1-145. " Ebd. 30,
28
Einleitung
reichen deutschsprachigen klassisch-philologischen Literarhistorie fehlt^°, nicht der Ort, die literaturgeschichtstheoretischen Debatten der Zunft en detail zu verfolgen. Unerläßlich jedoch ist ein ffinweis auf den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund der Wolfschen Theorie: die denkbar enge Verzahnung der eben aus dem Zusammenhang mit der theologischen Fakultät sich lösenden frühen Klassischen Philologie^' mit den Protagonisten des deutschen klassisch-romantischen Geisteslebens. Winckelmanns revolutionäre Begründung eines 'neohellenistischen' Zeitalters^^, Lessings kritische raisonnements, die antike Literatur betreffend^^, und Herders Literaturphilosophie^'', seine grundstürzenden Ideen zu einer organischen Auffassmg ™ Für die (deutsche) Geschichte der literarischai Studien bis in die Zeit Herders verfugen wir über die großartige Einzelleistung des Warschauer Germanisten Sigmund von Lempicki, dessai Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zuerst 1920 (Göttingen) erschien und - nach seinem gewaltsamen Tode in Auschwitz ( 1 9 4 3 ) - 1968 (ebd.) seine 2. (u. vorläufig letzte) Aufl. erlebte. Eine gewisse Fortsetzung findet von Lempickis Werk in der stärker problemgeschichtlich orientierten Darstellung von K.Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989 (vgl. auch dess. früheren Forschungsbericht [s. Anm. 24], die Beiträge des Sonderhefts der DVJS [61, 1987] sowie Fohrmann [s. unten Anm. 107]).- Die Geschichte der italienischen Historie der lateinischen Literatur ist in einer (noch nicht abgeschlossenen) Reihe von Aufsätzen glänzend aufbereitet von G.F.Gianotti, Per una storia delle storie della letteratura latina, 5 Tie, Aufidus 5, 1988, 47-81, 7, 1989, 75-103, 14, 1991, 43-74, 15, 1991, 43-74, u. 22, 1994, 71-110. Gianotti ist erkennbar um Engführung seiner Darstellung der italienischen Fachgeschichte mit der deutschen Tradition bemüht. Die erste Folge seiner Aufsatzreihe beinhaltet einen nützlichai Überblick über die wichtigsten Stationen der deutschen Geschichtsschreibung der lateinischen Literatur (57-81). " Über die Gründungs-'Legende' (Wolfs Göttinger Immatrikulation als Philologiae studiosus) s. jetzt M.Riedel, Die Erfindung des Philologen - Friedrich August Wolf und Friedrich Nietzsche, A&A42, 1996, 119-36. ^ Über den Einfluß seiner Geschichte der Kunst des Altertums (1764) auf die Entstehung einer modernen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung s. M.Fuhrmann, Die Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung von dai Anfangen bis zum 19. Jahrhundert, ebd. (Aran. 46), 62f ; vgl. auch Gumbrechts Nachwort, ebd., 5 9 0 f - Über den Einfluß des Scaliger'schen Versuchs einer Periodisierung der griechischen hexametrischen (und e i n sehen) Dichtung auf Winckelmanns Epochenmodell s. R.Kassel, Die Abgrenzung des Hellenismus, ebd. [Anm. 65], 12 mit Anm. 32 (bzw. [Юе1пе Schriften] 166f.). Hier ist bes. an das Vade mecum fiir den Hrn. Sam. Gotth. Lange (Beriin 1754), die Rettungen des Horaz (ebd. 1754), die Abhandlung Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind (1755 [laut Titelblatt 1754]), die einschlägigen Partien der Hamburgischen Dramaturgie (1769), die vermischten Schriften zu Poetik und Philologie (s. Bd. 5 der von G.Göpfert hrsg. Werkausgabe, München 1973 [mehrfach nachgedr ], 335-701), Kunsttheorie und -geschichte (Werkausgabe, Bd. 6 [1974]) zu denken. Berühmt ist Herders Ausruf in der zweiten Sammlung seiner Fragmente Über die neuere deutsche Literatur (Berlin 1766/67; in der Werkausgabe v. St.Suphan Bd. 1, 293f ): "Wo ist aber noch ein Deutscher Winckelmann, der uns den Tempel der griechi-
Entstehung der modernen Literaturgeschichtsschreibung
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der Literaturgeschichte zumal^^ haben den Reifungsprozess der Fachtheorie ebensosehr befördert, wie umgekehrt die Leistungen der jungen Philologie den iaitischen discours der frühromantischen avantgarde befrachtet haben. So weiß sich bereits der junge Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz Über die Homerische Poesie^^ (mit dem bezeichnenden Untertitel: "Mit Rücksicht auf die Wolfischen Untersuchungen") den Wolfschen Prolegomena, "diese(m) Meisterwerk eines mehr als Lessingschen Scharfsinns" verpflichtet". In der glänzenden Einleitung zu seiner Ausgabe der Schlegelschen Studien des klassischen Altertums hat Emst Behler gezeigt, wie für Fr.Schlegel "die Bedeutung der Wolfschen PROLEGOMENA ... in der Eröffnung eines historischen Zuganges zur griechischen Poesie (bestand)"^^. Namendich in dem eben erwähnten Aufsatz komme "deutlich zum Ausdrack, daß Friedrich Schlegel von Wolf auf entscheidende Weise zu seiner sehen Weisheit und Dichtkunst so eröffiie, als er den Künstlern das Geheimnis der Griechen von ferne gezeigt?" Vgl. dazu E.Behler im 1. Bd. der Kritischen Friedrich-SchlegelAusgabe, Paderbom/MünchenAVien/Zürich 1979, ХСШ u. Anm. 3 - Eine gute Darstellung der Herderschen Philosophie der Literaturgeschichte bei v. Lempicki, ebd. (oben Anm. 70), 360-414 (dort auch über den Einfluß Montesquieus [De l'esprit des lois], Leibniz', Shaftesburys, Humes, Winckelmanns, Hamanns u. Kants [361-72]). Grundl^end jetzt E.-R.Schwinge, "Ich bin nicht Goethe." - Johann Gottfried Herder und die Antike, Sitzungsber. der Joachim Jungius-Ges. der Wissenschaften/Hamburg 17, 1999, Heft 2. " Hierzu H.Eichner, ebd. (Anm. 61), XXXV-XL, u. V . Z m ^ c , Der Aufstieg des Historismus in Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Literatur, in: E.Wischer (Hrsg.), Propyläen Geschichte der Literatur, Bd. 4, Beriin 1983 (Nachdr.: Frankfurt a.M. 1988), 290314, bes. 291-301. Neben der organologischen Komponente ist der Einfluß der Herderschen Ästhetik und Poetik der Geschichte nicht zu unterschätzen (vgl. H. u. H. Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt 1975, bes. 25-47). Zur Ausbildung eines solchen Modells bedurfte es der Korrektur der Aristotelischen Auffassung der Geschichtsschreibung (Poetik, Kap. 9). Das ο ί α α ν γένοιτο mußte auch auf die Historie appliziert werden. S. zuletzt H.C.Seeba, Geschichte als Dichtung. Herders Beitrag zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung, in: Storia della Storiografia 8, 1985, 50-72. 1796 im 4. Bd. der Zeitschrift Deutschland, 11. Stück, Nr. Π, 124-56, erschienen; in der KA in Bd. 1, 116-32. " K A 1, 116 Anm. 1. Ebd. CLV - Behlers monumentale Edition galt lange als mustergültige KlassikerAusgabe. Seitdem aber 1993 im Sonderheft der Zeitschrift fiir deutsche Philologie (Bd. 112) durch A.Eriinghagen erstmals "beiläufig ... einige Mängel der 'Kritischen FriedrichSchl^el-Ausgabe'" gerügt worden waren (Nachträge zum Brießvechsel Friedrich Schlegels. Unveröffentlichtes aus den Jahren 1795 und 1817), geriet Behlers editorisches Verfahren zundimend in die Kritik; vorläufiger Höhepunkt ist ein herausfordernd "Wie kritisch ist die Kritische Friedrich-Schl^el-Äusgabe?" überschriebener Beitrag Erlinghagais zum neuesten Heft des "Zentralorgans der Radikalphilologen" (L.Müller, FAZ, 3. 9. 97), der Zeitschrift Text. Kritische Beiträge (3, 1997, 77-122). Man wird abwarten müssen, welche Folgen - nach Behlers Tod - der sich abzeichnende Konflikt zeitigen wird.
30
Einleitung
g e s c h i c h t l i c h e n S e h w e i s e v o n der Entstehung, Entfaltung u n d
Vervoll-
k o m m n u n g der e p i s c h e n Gattung angeregt wurde"^'. U m g e k e h r t hat W o l f in seiner
Vorlesung
über
die
Encyclopädie
der
Alterthumswissenschaff°
S c h l e g e l s V e r d i e n s t e i m die Literarhistorie gewürdigt: "Die Geschichte der Wissenschaften kann von Einem nicht umfasst werden, daher muss man sich mit der Geschichte der Plülosophie am meisten befassen; dann mit der Geschichte der redenden Künste, der Dichtkunst und Beredtsamkeit. Es ist Schade, dass wir nichts Befriedigendes weder für Griechen noch Römer haben. Ein t i e f - und scharfsinniger K o p f Schlegel, hat viel geleistet in seinem Werke über die Griechen und Römer und der Geschichte der griechischen Poesie. Nur ist es etwas zu dunkel und verwirrt mit neuerer Philosophie."^' In e i n e m - e n t s c h e i d e n d e n - Punkt gelangt Fr. Schlegel sogar b e d e u t e n d über W o l f hinaus: e s ist dies die Eirmahme e i n e s betont "künstlerischen Standpunktes"^^, die streng ästhetische S i c h t w e i s e "im l e b e n d i g e n Gefühl für die e w i g e n Urbilder des Schönen"^^. Schlegel synthetisiert den W o l f ™ Ebd. C U V . "" Posthum hrsg. v. J.D.Gürtler, Leipzig 1831 (als Bd. 1 der 5bdgen Vorlesungen über die Alterthumswissenschafl hrsg. v. J.D.Gürtler u. S.F.W.Hoffinann, Leipzig 1831-35, ^1839). Ebd. 400. Wolf bezieht sich auf Schl^els 1798 zu Berlin erschienene Geschichte der Poesie der Griechen und Römer, die über die frühepische Dichtung (Homer u. Hesiod) nicht hinauskam. Vgl. auch die insgesamt zustimmenden Bemerkungen Wolfs in seinem Schreiben an S c h l a d vom 8. 6. 1798 (Reiter/Sellheim/Kassel [s. oben Anm. 62] I 252f ). ^ Vgl. S c h l a d s Vorrede zu Bd. 3 der Sämtlichen Werke 0 8 2 2 : Neuausgabe der Geschichte der Poesie der Griechen und Römer), K A I 569f. Ebd.- Hierüber darf freilich nicht übersehen werden, daß es zuletzt doch Wolf war, der im freundschaftlichen Verbund mit Goethe seit B ^ n n des 19. Jahrhunderts die eigentlich ästhetische Epoche der Massischen Philologie eingeleitet hat. S. hierzu M.Riedel, Zwischen Dichtung und Philologie - Friedrich August Wolf, DVJS 71, 1997, 92-109. Die ästhetische Seite der Wolfschen Philologie setzt sich übrigens noch in Bemhardys in Goethes Todesjahr erschienenen Grundlinien zur Encyklopädie der Philologie (Halle 1832) fort. Es mutet ein wenig bizarr an, wenn Bemhardy im ersten Abschnitt seines Reale Wissenschafien der Philologie überschriebenen Kapitels (262fF.) offensichtlich malgré lui den Grundriß der Herderschen ästhetischen Theorie der Literaturgeschichte expliziert: "Hing^en beruht ihre Vollständigkeit [sc. die der antiken Literaturgeschichte] nicht auf einem materiellen und ununterbrochenen Umfang nach Art eines Repertoriums ..., sondern diese Vollständigkeit entspringt nur aus dem hellen gedi^enen Organismus des antiken Lebens und Geistes, welcher sich in den Bildern der Litteratur abspiegelt, und aus ihnen einzig und allein, nach seiner Vortrefflichkeit und seinen Mängeln, begriffen werden kann. Daß aber jenes Leben und Schaffen sich ein äußeres Dasein in Schriften erfand, dafür bedurfte man eines sprachlichen Stoffes, einer rhetorischen Technik ... und zugleich der künstlerischen Abzweckung..., dreier Voraussetzungen, wodurch die gesamten Produktionen Maß und Form erhielten und den hihalt des Fachs bildeten" (262f [die Kursiv, von mir]). Nur die Rede vom "äußerai Dasein in Schriften" verrät die Naivität der metaphori-
Entstehung der modernen Literaturgeschichtsschreibung
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sehen Historismus (in einer Herderisch-organistischen Ausdeutung^'*) mit dem Winckelmannschen Ästhetizismus^^, wie er ihn in Christian Gottlob Heynes Göttinger Seminar - in freilich ganz imgenügender Ansicht^® - kennengelemt hatte, und 'erfindet' so gleichsam die 'moderne' deutsche Literaturgeschichtsschreibimg^^.
In Schlegels literarhistorischer Praxis schlägt
sich solche theoretische Zielsetzung in der versuchten "Vereinigung der Gegenpole
historischer
Einfühlimg
und
kritischer
Urteilsfällimg"
(H.Eichner®^) nieder. Diese gelingt ihm besonders in den berühmten Charakteristiken der Dichter und Werke, die er jeweils als "organische(s) Ganze(s), dessen Stärken und Schwächen die zueinandergehörigen Äußerungen eines einheitlichen Wesenskems sind"®', zu begreifen sucht. Alle 'moderne' Literaturgeschichtsschreibung ist in der einen oder anderen Form, gestehe sie sich dies ein oder nicht, den Herder-Wolf-Schlegelschen Modellen verpflichtet®". Aber ist sie nur diesen veφflichtet? Und waren die romantischen Archegeten nur sich selbst - als Originalgenien gleichsam - verpflichtet? Zurück zur Doxographie, und diesmal wollen wir mit W o l f beginnen. In der posthum veröffentlichten Vorlesung
über die Geschichte
der
römi-
schen Rede und markiert so den Abstand von einer avancierten Theorie der literarliistorischen Imagination. Über Herders Einfluß auf dai jungen ScMegel s. Eichner, ebd., bes. XL. " Die Berufung auf Winckelmanns Geschichte der bildenden Kunst in der eben (Arun. 82) zitierten Vorrede, 569.- Die interessanten Parallelen zur etwa gleichzeitig sich ausbildenden Kunstgeschichte (als Disziplinenname zuerst in Johann Heinrich Campes "Wörterbuch der deutschen Sprache" [1808]) können hier nicht verfolgt werden. Hingewiesen sei nur auf die Studie von F.Steiner, "Das Ganze unserer Wissenschaft ist nodi gar jung", in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunstgeschichtl. Semin. der Univ. Züridi 4, 1997. Schlegel beanstandet namentlich den Partikularismus der Heyneschen Dichterex^ese, "wo die klein zerteilten Stücke des Textes wie einsam grünende Inseln auf dem Weltmeere eines immer strömenden Kommentars einzeln umherschwimmen, und oft darin zu versinken drohen" (KA Ш 297; vgl. Bdiler, KA I Cf [dort auch das Zitat]). " Vgl. die Einschätzung F.Gundolfs, der 1930 in Sdilegels Geschichte der Poesie der Griechen und Römer "die erste strenge und geistige Literaturgeschichte in deutscher Sprache überhaupt" erblickte und als "die literarhistorische Ergänzung Winckelmarms" ansah (in: Romantiker, Berlin 1930, 45; die Stelle bei Behler, KA 1, CLXXX).- Die Engfiihrung histori(sti)scher und genuin ästhetisdier Interessen und Verfahren wird jetzt auch für die politische Geschichtsschreibung im Deutschland jener Jahre behauptet: siehe die beeindruckende Studie von D.Fulda, Wissenschaft als Kunst. Die Entstdiung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860, Beriin 1996. " Ebd., XLIV. "Ebd. Auch die von der neuesten Geschichtstheorie als innovative Entdeckung gefeierte konstitutive Bedeutung der Textualität der Geschichte ließe sich zuletzt auf Herders Ästhetik und Metaphorologie der Geschichte und Geschichtsschreibung zurückfuhren. S. auch oben Anm. 75.
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Einleitung
sehen Literatur^^ hat Wolf in der "Zweiten Abtheilung" des "Zweiten Theils" unter der Rubrik "Prosa / Geschichtsschreibung" einen kleinen Abschnitt der "Litterär-Geschichte"^^ gewidmet. Das Kapitel beginnt mit einer reichlich verschwommenen'^ Ätiologie, den von Wolf diagnostizierten Mangel an römischer Literaturgeschichtsschreibung betreffend: "In Hinsicht der Litterärgeschichte stellen die Römer sich weniger dar, aus dem Grunde, weil ihre Geschichte überhaupt etwas anderes war, als die unsrige. Sie gingen nicht darauf aus, alles, was geschieht, in Geschichte zu fassen, auch nicht das weniger Auffallende, die Fortschritte des menschlichen Geistes, sondern nur große Staatsbegebenheiten waren ihr Zweck. Aus dem Grunde ist eigentUche Litterärgeschichte und Geschichte der Erfindungen ein dürftiges Kapitel in den Alten, imd daher läßt sie hinsichtlich der Erfindungen vieles dunkel"®". Dann handelt er in wenigen Zeilen von Ciceros Brutus^^ und Sueton'®. "Einzehie Stücke aber giebt es auch andemwärts, im Quintiiianus, Tacitus, und überhaupt in allen Historikern, in denen excursus und einzehie Stellen vorkommen, welche auf Litteratur gehen. Mancher Staatsmann, dessen Leben beschrieben wird, lässt sich als Litterator betrachten. Das Meiste, was die Römer hierüber geschrieben, ist verloren gegangen"". Hier ist also schon die entscheidende Tatsache ausgesprochen, daß das Gebiet der alten Literarhistorie nur trümmerhaft überliefert ist und man sich daher Fragmente besonders aus der politischen Historiographie und Biographie'^ zusammensuchen muß. Einen Rückschritt gegenüber Wolf bringt schon die Darstellung seines ersten (literaturhistoriographischen) Nachfolgers Johann Christian Felix Bähr. In seiner Geschichte der Römischen Literatur^^ werden die römischen Literarhistoriker eines eigenen zusammenhängenden Abschnitts nicht mehr " S. oben Anm. 64. Ebd. 288f. " Über die Probleme bei der Herausgabe der Vorlesungen s. die hidiskretionen in Gürtlers Vorbericht, ebd. У-УШ. Ebd. 288. " S. unten S. 96fr. Ebd. 289. "Ebd. " Vgl. Wolfs Bemerkungen zu den vitae des Cornelius Nepos im folgenden, 'Biographie' überschriebenen Abschnitt seiner Vorlesung (ebd. 291). Und dazu vgl. unten Anm. 467 u. 513. " Erschienen Karlsruhe 1828, in 3. Aufl. in 2 Bdn: ebd. 1844/45, ''1868/70 (dazu Suppl.-Bd. zur chnstl.-röm. Lit. in 3 Abtlgai: ebd. 1836 [4872]/1837/1840).
Römische Literaturgeschichten im 19. Jahrhundert
33
gewürdigt. Gemeinschaftlich begegnen sie nur noch im Eingang des Paragraphen über Quellen und Hülfsmittel: "Die Quellen, woraus diese Darstellung der römischen Literatur genommen werden soll, sind einerseits die Werke der verschiedenen Schriftsteller selbst, welche sich erhalten haben, andererseits besonders diejenigen, welche ähnhche geschichtliche Darstellungen m einzehien Theilen der Literatur geliefert haben. Wir rechnen dahin z.B. Cicero in seinem Brutus, femer: Sueton, Quintiiianus, Aulus Gellius und Andere, wovon wir unten am gehörigen Orte [d.h. singulatim, der Verf] näher handehi werden""". Die ungenaue Rede von den "ähnliche(n) geschichdiche(n) Darstellungen" im Altertum verdeckt die Schärfe des Gegensatzes zwischen antiker und neuzeitlicher Literaturforschung, an dessen Feststellung Wolf gelegen war; jedoch ist anzunehmen, daß Bahr, der nicht zwar in der Verfolgung einer äußeren und inneren Geschichte der Literatur, aber doch in der gemischt chronologisch-systematischen Anlage des Ganzen mit Wolfs Ideen ü b e r e i n g e h t ' z u keiner wesentlich anderen Anschauung als Wolf gelangt ist. Er hätte sie uns - bei dem entschiedenen Mangel an Eigenem, das seine Geschichte bietet - nicht vorenthalten'"^. Von dem Wolf-Schüler G.Bemhardy und seinem abschätzigen Urteil über die literarhistorischen Versuche seit Petrarcas Zeiten war schon die Rede'°^. In dem gleichen Studien zur Geschichte der Römischen Litteratur überschriebenen Abschnitt'"'* kommt er abschließend auf "die eigenen Leistungen der Römer" zu sprechen und findet sie "auf gleicher Höhe" mit der modernen Literarhistorie, d.h. recht niedrig stehend: "denn sie (sc. die Römer) haben nur einzelne Punkte behandelt". Als "unmittelbare Quellen für die Litterarhistorie" nennt er "Angaben in politischen Summarien wie von Atticus und Nepos, Schriften des Varrò und die zertrümmerten Geschichtsbücher des Suetonius über Dichter, Grammatiker und Rhetoren, die dem '""Ebd. 183. Vgl. seine methodologischen Bemerkungen im Abschnitt über "Werth und ... Bedeutung einer Geschichte der römischen Literatur", Bdiandlungsweise und Darstellung derselben, ebd. 80-83, mit Wolfs Angaben im Grundriss der Römischen Litteratur, Kl.Schr. [s. Anm. 64], Π 693f "" Vgl. die ironische Würdigung des Heidelberger Geldirtai durch C.Bursian, Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfangen bis zur Gegenwart, München/Leipzig 1883, 565f.: Dort erscheint Bähr als Mann "von umfassender Geldirsamkeit und großem Sammelfleiße, dem es aber an Schärfe des Urtheiles und an Geschmack der Darstellung gebrach, wie dies ... namentlich ... die Geschichte der römischen Litteratur ... beweist". "" S. oben S. 24f 101
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Einleitong
Hieronymus bei Fortsetzung der Eusebischen Chronik als reiche Quelle dienten" und fährt dann fort: "Desto thätiger waren sie für praktische Zwecke des Htterarischen Studiums, vorzugsweise für eine räsonnierende Charakteristik der Beredsamkeit und der Redner: die rhetorischen Schriften von Cicero, die für ihre Zeit als Encyclopädie dieses Gebietes gelten konnten, die mit geschichtlichen Zügen durchwirkte Theorie von Quintilian, die Notizensammlung des älteren Seneca, der meisterhafte Dialogas de Oratoribus, die Bruchstücke des Sueton, die durch Hieronymus fortgesetzte Chronik des Eusebius treten in einem anschaulichen Gemälde zusammen und lassen uns, indem sie zum Ersatz fiir zahlreiche Denkmäler einen UeberbHck der Methoden und Künstler gewähren, auch den praktischen, in alle Richtungen der Oeffentlichkeit eindringenden Nationalsinn mehr als irgendwo verstehen"'"^. An Bemhardys Bemerkungen zur antiken Literaturgeschichte ist auffallend, daß sie - zunächst - mit dem gleichen Blick gesehen ist wie ihre modernen Nachfahren: Dir Wert ist danach zu bemessen, inwieweit ihr "die Darstellung des organischen Stufenganges" gelingt, "der die weiten Räume zwischen den formlosen Elementen und dem Verfall der entwickelten Nationallitteratur ausfüllt"'"^. Des weiteren befremdet die Trennimg sog. "Quellen für die Litterarhistorie" von anderen, "für praktische Zwecke des litterarischen Studiums" bestimmten Schriften. Denn was hindert, die Historiker-, Dichter- oder Rednervitensammlung des Nepos als literarhistorischen Text zu lesen, was hindert femer, Varros einschlägige Forschung (die verloren, aber trefflich bezeugt ist) als das anzusehen, was sie in den Augen ihres Urhebers zweifellos war: Literarhistorie? Andererseits verdient es das als praktisch stigmatisierte Schrifttum der Cicero, Quintilian und Seneca nicht, um seiner Zweckbestimmtheit willen von den 'genuin' literarhistorischen Texten abgesondert zu werden; und was im übrigen bliebe von 'wirklicher' Literarhistorie, wenn sie ganz zweckfrei sein sollte? Nie ist sie weniger zweckfrei gewesen als zu Bemhardys und - Georg Gottfried Gervinus'^°'Zeiten^°^ ""Die Zitate auf S. 142. ""Ebd. 141. 107 , G.G.G., Geschichte der poetischen National=Literatur der Deutsdien, 5 Bde, Leipzig 1835-42. Seine streitbarai Prinzipien hat er aufgestellt in einer Studie Prinzipien einer deutschen Literaturgeschichtsschreibung (1833; nachgedr. in; ders., Schriften zur Literatur, hrsg. V. G.Erler, Berlin 1962, 3-48; Ausschnitte auch in: E.Marsch, Über Literaturgeschichtsschreibung - Die historisierende Methode des 19. Jahrhunderts in Programm und Kritik, Darmstadt 1975 [= WdF 382], 128-52). Schon A.Dove in seinem Nachruf zählt ihn "zu den größten Doktrinären aller Zeiten" {Nachwort über Gervinus, in: hn neuen Reich 1, 1871, 494-96, dort 496), und L.v.Ranke setzt sich im selben Jahr kritisch mit seinen Doktrinen auseinander (Georg Gottfried Gervinus: Rede zur Erößhung der 12.
Gottfried Bernhardy
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Interessant scheint uns Bemhardys Bemerkung, daß die Bruchstücke der antiken Literaturforschung gleichsam "in einem anschaulichen Gemälde zusammen(treten)" und "zum Ersatz für zahlreiche Denkmäler einen Ueberblick der Methoden und Künstler gewähren". Deim an der Verfertigung eines solchen "anschaulichen Gemäldes" hat man sich m.W. bis heute nicht versucht, und auch vorliegende Studie kann im besten Fall nur den Umriß des gewünschten Bildes sehen und zeichnen helfen. Von den Gründen für die merkwürdige Lethargie auf dem Felde der literarhistorischen Archäologie gewiimt man eine Vorstellung, wenn man sich Gräfenhans (der Bernhardy zeitlich am nächsten steht) Darstellung der antiken Literaturgeschichte eriimert. Seine Begrifflichkeit fanden wir dem Untersuchungsgegenstande schon primo obtutu inkommensurabel: Vom 'erhobenen' Standpunkt einer 'aufgeklärten' Moderne aus mußten die antiken Leistungen als ungenügend erscheinen. Mit seltsamer Persistenz hat sich die negative Ansicht der (römischen) Literaturforschung des Altertums bis heute im Prinzip erhalten. Nur ausnahmsweise haben Philologen die antike Literaturgeschichtsschreibung zuweilen ins Blickfeld der Altertumswissenschaft gerückt: Namentlich Hermann Usener hat in einem geistreichen 'epilogus de artis criticae historia' (den er seiner Auswahl von literaturkritischen Fragmenten des Dionysios beigegeben hat'°^) bedeutende Bruchstücke römischer Literarhistorie in ihrem Verhältnis zur alexandrinischen (und postalexanPlenarsitzung der historischen Kommission, in: Historische Zeitschrift 27, 1871, 134—46) [beide Hinweise bei K.Weimar, Zur Geschichte der Literaturwissenschaft, ebd. (Anm. 24), 315]. Gervinus' Einfluß auf die zeitgenössische Historie der alten Literaturen ist noch nicht untersucht. Am diesten wird man hier an die 'Vorbildlichkeit' seines "Blütezeit"-Modells denken (zu letzterem s. W.Pfaffaiberger, Blütezeiten und nationale Literaturgeschichtsschrabung - Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung, Frankftjrt a.M./Bem/Cirencester 1981, bes. 223-31). Auch die nationalpolitische Komponente (Ausbildung eines Volkscharakters u. D^eneration) der Gervinusschen Geschichtsschreibung (hierzu J.Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte - Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesi^eschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989, 146-154, u. zuletzt M.Ansel, G.G.Gervinus' Geschichte der poetischen National-Literatur. Nationbildung auf literaturgeschichtlicher Grundlage, Frankftirt/Bem/New York/Paris 1990) wird ihre Wirkung auf die Alte Philologie nicht verfeWt haben. "" Und sie ist es im Grunde geblieben. In unserem Jahrhundert treten neben die großen humanistischen Entwürfe der Reihe nach die materialistischai, marxistischen, sozialgeschichtlichen, psychoanalytischen, feministischen und 'anti-repressiven' Literaturgeschichten. Als aktuelle kuriose exempla der beidoi letztgenannten Richtungen nenne ich nur l.Schaberts Englische Literaturgeschichte. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung sowie die von A.Busch u. D.Linck hrsg. "lesbisch-schwule Literaturgeschichte in Porträts" Frauenliebe/Männerliebe (beide Stuttgart 1997). Dionysii Halicamassensis librorum de imitatione reliquiae epistulaeque criticae duae, ed. H.U., Bonn 1889 (der epilogus S. 110-42).
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Einleitung
drinischen) Wissenschaft näher beleuchtet, ohne freilich auf eine Charakteristik der römischen Werke auszugehen, die deren Machart und Anspruch gerecht werden konnte. Friedrich Leo sodann sprach in dem bereits erwähnten Abriß Die römische Literatur des Altertums^^° das seither nicht mehr emstlich in Frage gestellte Machtwort: "Von historischer Forschimg auf dem Gebiete der römischen Literaturgeschichte gibt es vor der Begründung der philologisch-historischen Wissenschaften im Anfang des 19. Jahrhunderts eiozelne Ansätze, aber nicht mehr""'. Die Begründung hatte er bereits in seinem vielbeachteten Buch über Die griechisch-römische Biographie nach ihrer litterarischen Form^^^ geliefert: Die literarische Biographie sei "der Ausbildung einer Litterarhistorie grösseren Stils imd umfassenderer Art feindlich gewesen und hinderlich geworden". Und weiter: "Der gesammelte biographische Stoff und die festgelegte Form haben die antike Litteraturgeschichte in Sammlung von Biographien erstarren lassen. ... Neben dem chronologischen Gefuge gab die peripatetische Bezeichnung der Neuerungen und ihrer 'Erfinder' den Zusammenhang; darüber sind die alexandrinischen Philologen nicht hinausgekommen, zu wirkHchen Geschichten der Gattungen auf der Höhe ihrer Entwicklung oder zur Geschichte einer ganzen litterarischen Bewegung haben sie es nicht gebracht. Ja, auf römischem Boden hat die Uebertragung der litterarischen Biographie auf die beherrschenden Persönlichkeiten die Folge gehabt, dass die pohtische Geschichtschreibung sich Jahrhunderte lang mit einer Production begnügte, die der ütterarhistorischen ganz gleichartig und Geschichte so wenig wie diese war"'". Während die lähmende Wirkung, die Leos Biographiestudie auf die Erforschung des genres zweifellos ausgeübt hat"'', seit Wolf Steidles SuetonBuch"^ einem neuen Aufschwung und der Offenheit für neue unorthodoxeS. oben Anm. 9. Ebd. 480. Leipzig 1901 (Nachdr.: Mldesheim 1965). "'Ebd. 322f "" Ich zitiere stellvertretend für viele andere neuere Biographie-Forscher R. Stark: "Gewiß hat Leos Werk, wie man zu sagen p f l ^ , Epoche gemacht - leider im engsten Sinn des Wortes: es hat zwei Generationen von diesem Arbeitsfeld abgeschreckt" {Zur AtticusVita des Cornelius Nepos, lUiM 107, 1964, 175-89, dort 186). S. jetzt auch A.Dihle, Zur antiken Biographie, in: La biographie antique, hrsg. ν. W.W.Ehlers, Genf 1998, 119—46 (mit Diskussion), dort 119-24 u. 141f Sueton und die antike Biographie, Münchai 1951, M963 (= Zetemata 1).
Friedrich Leo. Eduard Norden
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re Sichtweisen der Gattung und ihrer Entwicklung gewichen ist, harrt die Literaturgeschichtsschreibung, als Gattung von Leo als herausragendem Kritiker gleichsam 'in die Acht gethan', wenn nicht geradezu zum bloßen Schemen erklärt, noch immer der gebührenden Aufinerksamkeit durch die Forschung"^. Ihren Platz behauptete die antike Literarhistorie allenfalls noch in den appendices modemer Literaturgeschichten. Die interessanteste und bis heute ergiebigste Darstellung wird Eduard Norden verdankt, der sein knappes Portrait Die Römische Literatur von den Anfängen bis zum Untergang des weströmischen Reiches^^^ mit einer appendix 'Quellen und Materialien' beschloß"^. Im ersten Unterabschnitt liefert Norden den Versuch eines i j stematischen Überblicks über 'Die antiken Quellen'"' zur Rekonstruktion der antiken Literaturgeschichte: Als Hauptpunkte erscheinen (1.) das 'autobiographische Material' (bes. Autobiographien, Memoiren, σφραγίδες, Prologe, Briefe), (2.) 'zeitgenössische Dokumente' (bes. Inschriften u. Briefe) und (3.) die 'gelehrte Forschung des Altertums'. Als Vertreter der letzteren werden genarmt: L.Accius als römischer Archeget der "Literaturgattung" (hier zuerst finde ich in der deutschsprachigen Literatur den Begriff der Gattxmg auf die antike Literarhistorie angewendet). Varrò mit biographischen sowohl wie "streng wissenschaftlich(en)" Arbeiten zur LiteraturgeLeos Ldire wurde noch afBrmiert durch eine apodiktische Äußerung Ernst Robert Curtius': "Das Altertum hatte kein historisches Bewußtsein in unserem, durch Epochenabschnitte bestimmten Sinne. Und was es etwa davon besaß, vermochte es mangels historischer B^rifFsbildung nicht auszudrücken. Es ist so wie wenn wir statt der festumgrenzten Begriffe Altertum, Mittelalter, Neuzat (mit ihren zahlreichen Unterabteilungen) nur das Wort 'Vorzeit' zur Verfügung hätten" (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, "Tübingen/Basel 1993, 257f). Die Epochenabgrenzung ist in der Tat noch keine antike Erscheinung. Ich zweifle jedoch, ob sie allein zum Maßstab fur das 'richtige' historische Bewußtsein erhoben werden darf. Die von Curtius aus Юingners Römischer Geisteswelt (1943) geschöpftei B e l ^ e (bes. Polybios 6, 53, über römische Bestattungszeremonien) bezeugen weniger grundsätzlichen Mangel an historischem Bewußtsan als einen stärker auf Kontinuation und emphatische Verg^enwärtigung des Vergangenen gerichteten Geschichtssinn. Zu weiteren Distinktionen s. den Fortgang der Untersuchung. S. oben Anm. 9. Ebd. 88-135. Es ist B.Kytzlers Verdienst, daß er als Hrsg. der 7. Aufl., Stuttgart/Leipzig 1998, den von Nordai selbst ab der 3. Aufl. (Leipzig 1927) ausgeschiedenen rv. Teil des Anhanges: Gesichtspunkte und Probleme wieder zugänglich gemacht und überhaupt den Text von den Schlacken seiner nachträglichen Erweiterung bes. durch Sekundärliteratur aus der ehedem sowjetische Einflußzone befreit hat. Denn inwieweit die appendix in der Substanz auf Norden selbst zurückging und inwieweit sie das Werk der Bearbeiter v.a. der 4. und 5. Auflage, d.h. besonders E.Diehls und H.Fuchs', war, war nach den ungenauen Angaben im Vorwort zur 4. (5.) Auflage nur im Rückgang auf die früheren Auflagen zu entscheiden. " ' E b d . 88-93.
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Einleitung
schichte, Nepos und Sueton, die Biographen. "Neben einer Literaturgeschichte vorzugsweise biographischen Charakters", fahrt Norden fort, "stand im Altertum eine Spezies, die wir mit modemer Terminologie als ästhetische bezeichnen können; sie enthielt Urteile, κρίσεις, über das Kunstvermögen der einzelnen Schriftsteller und den künstlerischen Wert ihrer Produkte"'^®. Angeführt werden Bruchstücke von Varrò, Volcacius Sedigjtus, Ciceros Brutus, die 'Vorreden' des älteren Seneca, einzelne Satiren und Episteln des Horaz, die literarhistorischen Exkurse bei Velleius, Quintilian X 1, Einzelnes aus Tacitus' Dialogus. Aber auch Norden äußert an anderer Stelle grundsätzlichen Zweifel an der Existenz einer antiken Literaturgeschichte und liefert neben einer originellen Begründung zugleich eine interessante Ansicht modemer Literaturhistoriographie: "Daß die Hellenen (und daher auch die Römer) keine Literaturgeschichte in unserem Sinne besessen haben, mag ein Mangel sein, aber er erklärt sich daraus, daß ihnen die Literatur stets ein Objekt der Forschung geblieben ist, sowohl für die έξήγησις wie für die κρίσις. Wenn wir also darüber hinausgelangt sind und uns immer weitere und höhere Ziele setzen, so müssen wir uns doch immer des relativen Wertes solcher Zusammenfassungen bewußt bleiben: er hegt vor allem darin, daß durch sie die Lücken unseres bisherigen Wissens deutHch zutage treten und die Forschung zu deren Ergänzung angeregt wird.'^'" Von solcher Einsicht in den provisorischen, propädeutischen Charakter der Literaturgeschichtsschreibimg ist es nicht weit zu den Erkenntnissen, die neuere Literaturgeschichtstheorie formuliert hat: zur Rede von der heuristischen Funktion und vom "Konstruktcharakter jeder Literaturgeschichte"'^^. ''"Ebd. 93. In dem oben, Anm. 118, angeführten Abschnitt Gesichtspunkte und Probleme, 120,- Nordens Zurückhaltung in der Approbation einer römischen Literaturgeschichte mag ihre Ursache haben auch in seiner strengen Auffassung von der Methodik der "Formgeschichte", wie er sie in anderen Studien, z.B. im 1913 erschienenen Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, meisterlich gdiandhabt hat. Zur Methode s. jetzt H.Cancik u. H.Cancik-Lindemaier, Formb^riffe bei Eduard Norden, in: Eduard Norden (1868-1941), hrsg. v. B.Kytzler, K.Rudolph u. J.Rüpke, Stuttgart 1994, 47-68. So etwa W.Voßkamp in seiner knappen Skizze Theorien und Probleme gegenwärtiger Literaturgeschichtsschreibung, in: F.Baasner (Hrsg.), Literaturgeschichtsschreibung in Italien und Deutschland. Traditionen und aktuelle Probleme, Tübingen 1989, 166-74, dort 173, u. zuletzt A.Nünning, Kanonisierung, Periodisierung und der Konstruktcharakter von Literaturgeschichten: G r u n d b ^ f f e und Prämissen theori^eleiteter Literaturgeschichtsschreibung, in: ders. (Hrsg.), Eine andere Geschichte der englischen Literatur: Epochen, Gattungen und Teilgebiete im Überblick, Trier 1996, 4 9 9 8 , 1-24, bes. 13-16.
Aporien klassisch-philologischer Literaturgeschichtsforschung
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Nicht so sehr eine Typologie als eine kurze Entwicklungsgeschichte der römischen Literaturforschung hat - seinen Gesamtintentionen gemäß Emst Eickel in seinem Lehrbuch der Geschichte der römischen Literatur gegeben'^^. Ludwig Bieler in seinem nützlichen Überblick über die Quellen der römischen Literaturgeschichte^^'* kommt über die Materialsammlung seiner Vorgänger nicht hinaus, faßt die Zweifel der älteren Forschung jedoch in einem bemerkenswerten Resumé zusammen; die Auflistung der ältesten 'Literarhistoriker' (bis Nepos) beschließt er wie folgt: "In unserem Sinne ist dasfreilichnicht Literaturgeschichte, aber die gab es im Altertum überhaupt nicht. Lebensbeschreibungen von Autoren fallen in das Genos Biographie, Listen der Werke, Echtheitsfragen imd Sprachstudien sind Sache des Grammatikers, die ästhetische Kritik betreibt vor allem der Rhetor, und das Wesen der Literaturgattungen und ihre (oft recht aprioristisch rekonstruierten) Ursprünge behandeh die Poetik, die ein Teil der Philosophie ist. Eine Synthese dieser Gesichtspunkte oder gar der Versuch, in deren Licht die nationale Literatur geschichtlich zu studieren, lag der Antike fem"'^^. Die Aporie, in die die Erforschung der antiken Literaturgeschichtsschreibung seit Leos Zeiten geraten ist'^^, ist umso verwunderlicher, als schon in den späten 60er Jahren des 19. Jahrhunderts Ansätze zu einer kritischen "Geschichte der litterarischen Studien im Alterthum und in der Neuzeit" entwickelt waren. Unter den Auspizien seines um die Erforschung der römischen Literarhistorie verdienten Lehrers Friedrich Ritsehl hatte der junge Friedrich Nietzsche das Projekt einer Geschichte der Literaturgeschichte ins Auge gefaßt. Seine Ausführung hat er nicht mehr unternommen. In den Bänden 3-5 der Torso gebliebenen Historisch-kritischen Gesamtausgabe (HKG) seiner Werke'^^ finden sich zahlreiche fi-agmentarische Skizzen und Entwürfe, die - wie Barbara von Reibnitz gesehen hat - auf
S. oben Anm. 30, dort 3 9 ^ 5 . "^Ebd. (Anm. 32), 15-22. 125 Ebd. 18. Ich komme auf die hier zitierten Einschätzimgen zurück. Sidie unten S. 207ff. Diese Einschätzung ist auch nach dem in jüngster Zeit vermehrten Auftreten sozialgesdiichtlicher Studien zur Literaturgeschichte nicht überholt. Ich nenne nur E.Fanthams Literarisches Leben im antiken Rom (s. oben Anm. 39), wo v.a. in den Abschnitten Studien zur Literatur und das Hobby der Literaturgeschichte (38-43) sowie zu Velleius (12123) en passant "die Begrenzthát römischer Ansätze zu dem, was wir heute Literaturgeschichte nennen", berührt ist und einige Hauptwerke kurz charakterisiert sind. In den Jahren 1 9 3 3 ^ 0 erschienen in der C.H.Beck'schen Verlagsbuchhandlung, München, fünf Bände (mit den [überwi^end] philologisdien Frühschriften aus den Jahren 1854-69). Ein Nachdruck ist 1994 im dtv-Verlag erschienen.
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Einleitung
eine "Hermeneutik der Kanon- und der Traditionsbildung" z i e l e n ' S c h o n in seiner Pfortenser Valediktionsarbeit De Theognide Megaremi verraten Abschnitte De eius [sc. Theognidis] carminum fortuna et de veterum judiciis bzw. über Recentiorum hominum de Theognidea poesi judicia Nietzsches frühes Interesse an einer Genealogie der Dichterkritik in Altertum und Neuz e i t ' S t u d i e n и eher die litterarhistorischen Quellen des Suidas (Pfingsten 1866)'^°, Die Πίνακες der aristotelischen Schriften (Januar 1867)'^' sowie den Sängerkrieg auf Euboea (Juli 1867)'^^ befestigen das quellenkritische Interesse des jungen Nietzsche, der sich schon zu Pfortenser Zeiten die Förderung seines "Hang(s), das Einzelne auf seine tiefsten und weitesten Gründe zurückzufíihren", als eines seiner "unverbrüchliche(n) Gesetze für mein ferneres wissenschaftliches Leben"vorgesetzt hatte. In ihrer knappen Übersicht über "Die philologischen Voraussetzungen der G[eburt der] T[ragödie]" hat von Reibnitz auf zwei Notizen verwiesen, die "den doppelten Vorurteilscharakter der historischen Wissenschaften" klar herausstellen'^'': - "Das Medium, durch das der Historiker sieht, sind seine eign Vorstellungen (auch die seiner Zeit) und die seiner Quellen". - "Wir haben genug zu thun, ja vielleicht zu viel zu thun als möglich ist, wenn wir die 'Subjektivität' unsrer Erscheimmg und der der Quellen abzustreifen suchen: die 'Objektivität' die wir erstreben können, ist weit entfemt es zu sein. Es ist nichts als 'Subjektivität' auf einer weiteren Stufe."'" Es gehört zu den bemerkenswerten Erscheinungen der Philologiegeschichte, daß Nietzsches frühe Denkspuren nie mehr wirklich verfolgt und also auch in ihrer eigentümlichen Sprengkraft bis heute nicht recht verstanden worden sind. In der Tat liefe Philologie, wo sie sich mit der Dekonstruktion ihres Objektivitätsmythos beschäftigte, Gefahr, ihrer Bedeutung, B.v.Reibnitz, Ein Kommmentar zu Friedrich Nietzsche, "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (Kap. 1-12), StuttgartAVeimar 1992, 24. Vgl. Nietzsches Notizen über Theognis als Dichter bzw. sane Studien zu Theognis aus der Übergangszeit Pforta-Bonn (Juni/Juli bzw. September-November 1864); in der HKG in Bd. 3, 1-20 bzw. 69-75; vgl. dort auch dai philologischai Nachbericht S. 398f. bzw. 401. Zur Charakteristik der Theognisstudien s. jetzt H.Cancik, Nietzsches Antike, Stuttgart/Weimar 1995, 9-11. ""HKGS, 137-50. "'HKG 3 , 2 1 2 - 2 6 . HKG 3, 230-^4. Aus: Mein Leben, HKG 3, 66-68, dort 68. •'^Ebd. Ш 324.
Nietzsches Projekt einer Literaturgeschichtsgeschichte
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j a ihres Inhaltes verlustig zu gehen. Zwar hat auch die Erforschung der Literaturforschung ihre Mythen, doch sie kennt sie oder glaubt sie wenigstens als solche zu erkennen. Philologie kommt nicht umhin, den selbstgefertigten Schlüssel
zum
Schatzhaus
ihrer 'Mythologie''^® mitzuliefern.
schaftsgeschichte hat am wenigsten antiquarisches
Wissen-
Interesse: Die Museali-
sierung der überkommenen Dokumente führte nur zur Affirmation der diesen eingeschriebenen prätentiösen Geste des 'Für-wahr-gehalten-werdenWollens' und schriebe den Prozeß der Automythopoiese der Literatur'Wissenschaft' kritiklos fort. Wissenschaftsgeschichte setzt schon bei Dokumenten
den
das kritische Messer der Demythifikation an: diese Methode
ist die Phänomenologie'^^. Phänomenologie weiß um die Mythen des Hi'Mythologisierungen' reichen von Begriff und Vorstellung der «Literatur» (als emphatischer Setzung) über die Kanonisienmgsprozesse (mitunter Bestätigung der qiwsimythologischai Selbstsetzung der Autoren [z.B. Dichterweihe]) bis hin zur Konstruktion literarhistorischer Epochen im Medium der bildlichen Rede (z.B. 'Goldaie', 'Silberne' Latinität). "Phänomenologie" p f l ^ bisweilen als Reizb^riff aufgefaßt zu werden. Ich bin weit davon entfernt, sei es einen etwa vermuteten reflexionsarmen 'Philologismus' mit der Nase auf die irrationalen Ingredienziai seiner Arbeit stoßen, sei es den Poststrukturalismus auf die Tautologien seines Methodendiskurses hinweisen zu wollai. A.Geisenhanslüke hat Foucaults Versuch einer Beendigung aller Phänomenologien durch Phänomenologie (in diesem Sinne H.L.Dreyfiis u. P.Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1987, 67) kürzlich einer scharfsinnigen Analyse unterzogen (Foucault und die Literatur - Eine diskurskritische Untersuchung, Opladen 1997, bes. 23-25).- Schon ihr 'Begründet' faßte die Phänomenologie in einem ganz uncharismatischen Sinn als "Arbeitsphilosophie", die sich ohne feste Bindung an bestimmte Personen am besten "in der Arbeitsgemeinschaft der Philosophen" verwirklichen lasse (E.Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie [1936], in: Gesammelte Werke, Husserliana, Bd. 6, hrsg. v. W.Biemel, Den Haag/Dordrecht 1954, 439).- Man mag das Pathos der großen Phänomenologien heute belächeln: wenn etwa Merleau-Ponty im Vorwort seiner Phénoménologie de la perception (Paris 1945) im Anschluß an Camus das phänomenologische "rapprendre à voir le monde" und den Blick auf die Dinge in statu nascendi beschwört (ähnlich Jean-Pierre Richard im Vorwort seiner Studie Poésie et profondeur [Paris 1955]). Die Radikalität der Philosophie des 'Ersten Blicks' macht sie jedoch zu einer reizvollen literaturwissenschaftlichen Methode, deren angemaßte Kunstnähe ihr Äquivalent in der literarischen Praxis des phänomenologischen Romans der 'klassischen Moderne' (Proust, Joyce, Kafka, Musil) findet. Zu Musil s. zuletzt H.Cellbrot, Die Bew^^ng des Sinnes. Zur Phänomenologie R.Musils im Hinblick auf E.Husserl, München 1988 - Zu spät werde ich aufhierksam auf F.Fellmanns ambitionierten Versuch einer ästhetischen Gnmdl^ung der Phänomenologie als "Wissenschaft von den Strukturen der narrativen Objektivationen" {Phänomenologie als ästhetische Theorie, Freiburg/München 1989, 35). Die Möglichkeitai phänomaiologischer Analyse historischer und mythhistorischer Staikturen in Kunst und Wissenschaft sind zum g^enwärtigen Zeitpunkt noch längst nicht ausgeschöpft. Eine kritische Auseinandersetzung mit einem frühen Vordenker einer formalen Theorie des Mythos in der Literaturwissenschaft, Clemens Lugowski (1904-42), l i ^ jetzt
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Einleitang
storismus, aber auch um ihre eigene Begrenztheit, der die proteische Wandlungskraft und Unerschöpflichkeit ihrer Gegenstände Hohn spricht. Als ein Reden über (uns) Erscheinendes nimmt sie die Subjektivität doppelt in den Kauf: die Subjektivität des (uns) Erscheinenden, das selbst Rede ist, und die unseres Redens über die andere Rede. Der bewußte Vollzug der notwendig 'trügenden' Rede ist das «Wahre» an ihr'^^. Wilamowitz' Verdikt über Nietzsches Tragödienschrift löste den unzeitgemäßen Basler Kombattanten aus dem festgeschlossenen altertumswissenschaftlichen Verbund des eben begründeten Deutschen Reiches. Nicht einmal zu ahnen war damals, lange vor der Erstveröffentlichung der 'Frühschriften', daß hier - fachimmanent - ein Zündstoff bereitlag, der die Philologie von innen her aufsprengen und in ihre 'tragodesken' bühnenmäßigen Fragmente auflösen konnte. Der Kelch dieser erschütternden Selbstbefragung ging einstweilen an der Philologie vorüber, indem die großen, von Nietzsche meisterlich diagnostizierten Krisen in Gesellschaft xmd Wissenschaft den Blick auf die Risse und Schraffuren im (Selbst-)Bildnis der alten Philologie auf lange verstellten. Heute nicht anders als vor hundertdreißig Jahren sind wir weit davon entfernt, eine kritische Geschichte der alten Literaturen zu besitzen, eine Geschichte, die Rechenschaft gibt von den Methoden, nach denen sie selbst verfertigt ist, eine Geschichte aber auch, die den Gründen für die Entstevor in dem v. M. Martinez hrsg. Band Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderbom/München/Wien/Zürich 1996. Auch die moderne Physik als eine Wissenschaft der Darstellung und Beschreibung von Erscheinendem hat erst mühevoll lernen müssen, sich ihrer "metaphorisch-mythischen" Implikationen bewußt zu werden. Sprache, Mythos und den exakten Wissenschaften ist gemeinsam, daß sie Gestalten wahrnehmen durch die Schaffung von Gestalt. Nach der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie kann einem physikalischen Objekt bzw. Zustand nur mdir die räum- und zeitlose Objektivität seiner abstrakten Wellengleichung zugeordnrt werden. Ein Objekt beobachtei nimmt notwaidig in Kauf, es zu einem "Phänomen" in Raum und Zeit zu reduzieren. Zu reduzieren daher, weil es als einem beobachtenden Subjekt Erscheinendes von diesem in saner raum-zeitlichen Gestaltwerdung unter Einbuße seiner Ganzheit als quantentheoretischer Zustand bestimmt wird. Ein Beobachter nimmt stets nur einen Tal des physikalischen Objekts wahr. Das empfangaie Bild ist zwar 'wahres' Bild, aber trügt doch insofern, als ein anderer Beobachter desselben Objekts ein anderes mitunter sogar widersprechaides, komplemaitäres Bild wahrnimmt. Natur beschreiben heißt, sie einer subjektabhängigen Bildhaftigkeit zu unterwerfen, unter welcher sie stets 'wahrer· Mythos ihres verborgenen (weil außerhalb von Raum, Zeit, Geschichte stehenden) Logos ist. [Für den Hinweis danke ich meinem Bruder R.Schwindt.] Vgl. die Darstellung von C.F. v.Weizsäcker, Kunst - Mythos - Wissenschaft, in: Wege des Mythos in der Moderne, hrsg. v. D.Borchmeyer, München 1987, 224—37 (auch in: C.F.V.W., Zeit und Wissen, Munchen/Wiai 1992, 4 2 9 ^ 6 ) , sowie zuletzt H.Pietschmann, Phänomenologie der Naturwissenschaft: Wissaischaftstheoretische und philosophische Probleme der Physik, Berlin 1996.
Phänomenologie als 'Demythifikation' der Literaturgeschichte
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hung des Traditionszusammenhangs, der ihr Gegenstand ist, bis ins Kleinste nachgeht: Eine kritische Geschichte der Literatur wäre immer zugleich eine Geschichte der Literatur-ATnYü, Geschichte der Literaturkritik immer zugleich Geschichte der Literaturtheorie, also Ideen- oder Meinungsgeschichte. Die Bausteine der Ideologie sind die Begriffe. Sehr zu Recht fordert Glenn W.Most in einer kürzlich erschienenen literarhistorischen Recherche eine "Archäologie der literaturgeschichtlichen B e g r i f f l i c h k e i t " A l s erste Beiträge zu einer solchen dürfen - im engeren Kontext der Philologie''"'neben Mösts eigenen Arbeiten''" die Aufsätze von Ulrich Schindel und Wolfram Ax gelten'"*^. Schindel''*^ hat die moderne Literaturgeschichtsschreibung wohl für immer von der unglücklichen Charakterisierung des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts als einer archaisierenden Epoche befreit. Ax' Studie''*'* bezeugt die Schwierigkeiten, vor die sich jeder Begriffshistoriker binnen kurzem gestellt sieht: Die genealogische Spur verliert sich regelmäßig im Dickicht der universalgelehrten Konvolute der Renaissance und des Frühbarock. Archäologie in literarhistorischer Perspektive ist a priori ein interdisziplinär zu organisierendes Unternehmen: Юassische, mittellateinische und neulateinische Philologie, Philosophie, allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft, Anthropologie, Ethnologie und historiIn: Schlegel, Schlegel und die Geburt eines Tragödienparadigmas, Poetica 25, 1993, 155-75, dort 174f. Wertvolle Einzelstudien (überwi^end zur neueren Begriffsgeschichte) liefert seit über vierzig Jahren das Archiv für Begrißsgeschichte. Ich verweise auf die metaphorologischen Untersuchungen von H.Blumenberg (6, 1960, 7-142, sowie 15, 1971, 161-214) und die Beiträge von H.Schäfer, Divinatio. Die antike Bedeutung des B^riffs und sein Gebrauch in der neuzeitlichen Philologie, 21, 1977, 188-225, U.Dierse, Enzyklopädie: Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, Suppl.-Bd. 2, 1977, A.Demandt, Denkbilder des europäischen EpochenbewußUeins, 23, 1979, 129^7, S.Carboncini/R.Finster, Das B ^ f f s p a a r Kanon-Organon, 26, 1982, 25-59, u. M.Schemer, Text'. Untersuchungen zur Begriffsgeschichte, 39, 1996, 103-60. Ich nenne nur die Artikel Neues zur Geschichte des Terminus "Epyllion", Philolpgus 126, 1982, 153-56, Rhetorik und Hermeneutik: Zur Konstitution der Neuzeitlichkeit, A&A 30, 1984, 62-79, u. Zur Archäologie der Archaik, A&A 35, 1989, 1-23, sowie die bisher erschienen Bände der von Most hrsg. Reihe Aporemata - Kritische Studien zur Philologiegeschichte, Göttingen 1997ff. Wertvoll ist in diesem Zusammenhang audi R.Kassels oben, Anm. 65, genannte Studie zur "Abgrenzung des Hellenismus in der griechischen Literaturgeschichte". Dort wichtige Bemerkungen zum Wandel der Epochenvorstellung und -abgrenzung von G.I.Vossius bis in die jüngste Zeit. U.S., Archaismus als E p o c h a i b ^ f F : Zum Selbstverständnis des 2. Jhs., Hermes 122, 1994, 3 2 7 ^ 1 , u. ders.. Neues zur B^fFsgeschichte von Archaismus, Hermes 125, 1997, 249-52. W.A., Quattuor linguae Latirme aetates. Neue Forschungen zur Geschichte der Begriffe "Goldene" und "Silberne" Latinitat, Hermes 124, 1996, 220-40.
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Einleitung
sehe Sozial Wissenschaften müssen sich vereint abarbeiten am Begriffs- und Ideengebäude der Literaturgeschichte und der Literaturgeschichtler. Zu alledem sind vorliegende Prolegomena bestenfalls ein Baustein. Sie handeln von 'Anfang' und erster 'Blüte' (die Vorstellung der 'Blüte': ein Klassiker im Metaphemrepertoire der Literaturgeschichte'"'^) der römischen Literaturgeschichtsschreibimg und den Vorstellungen und Verstellungen der Philologie, die sie über den überlieferten Texten errichtet hat'"*^. Von der Lückenhaftigkeit der Überlieferung römischer Literaturgeschichte (1) war schon mehrfach die Rede'''^. Hier liegt der erste, praktische Grund für die Wahl der phänomenologischen Methode. Wo die Überlieferung einschlägiger Texte einem Trümmerfeld gleicht und der literatur- und schon gar gattungsgeschichtliche Zusammenhang nur als blasser Schemen erkennbar ist, ist Literaturwissenschaft auf die Phänomenalität der Dokumente verwiesen'''^. So wäre, bevor sich an eine 'Geschichte der römischen Literaturgeschichtsschreibung' denken läßt, allererst der Grund zu legen, der die historische Rekonstruktion rechtfertigt: Zu fragen ist nach den Bedingungen der Möglichkeit (d.h. den [literarischen] Voraussetzungen) ebenso wie nach den realen Konstituentien und - schließlich - Erscheinungsformen (φαινόμενα) literarhistorischen Interesses in Rom'''®. "" S. oben Anm. 107. Die oben (S. 40) angeführte Erkenntnis des frühen Nietzsche, wonach das "Medium, durch das der Historiker sieht, seine eign Vorstellungen (auch die seiner Zeit) und die seiner Quellen" sind, impliziert, wenn sie konsequent auch auf die wissenschaftsgeschichtliche Tradition bezogen wird, daß prinzipiell mit einer dreifachen "Verstellung" des Traditionszusammenhangs zu rechnen ist: (a) der eigenai (vielleicht [de]konstruktivistischen) Verstellung des Literaturgeschichtsgeschichtsforschers, (b) den organistischei, klassizistischen, romantizistischai, historistischen, lebensphilosophischen, geistesgeschichtlichen, existentialistischen, psychoanalytischen, marxistischen (oder wie immer) Beimischungen moderner griechisch-römischer Literaturgeschichtsforschung, (c) der 'objektiven' Verstellung, daß die Subjektivität der zu deutenden Artefakte durch keine noch so raffinierte Hermeneutik 'hintergehbar* ist. Siehe bes. S . 3 2 f u . 35. Phänomenologie verstdit sich seit ihrer wissenschaftlichen Grundl^ung durch Husseri als "Arbeit am Tatsächlichen" (s. z.B. E.H., Gesammelte Werke, Bd. 25: Aufsätze und Vorträge [1911-1921], hrsg. v. T.Nenon u. H.R.Sepp, Den Haag/Dordrecht 1987, 61: "Von den Sachen und Problemen selbst muß der Antrieb der Forschung ausgehen").- Treffend spricht G.Funke von "topischer Philosophie" {Phänomenologie - Metaphysik oder Methode?, Bonn 1966, 34), indem der "Rückgang auf die 'Bewußtsanstatsachen' ein Verfahren (verlangt), das wesensmäßig an Ort und Stand der okkasionellen Erfahrung gebunden ist und immer wieder aufs neue Anschluß an sie suchen muß" (K.-H.Lembeck, Einführung in die phänomenologische Philosophie, Darmstadt 1994, 24f ). Zur Kritik der Phänomenologie vgl. untai, Anm. 739. "" Ideahter müßte eine solche Phänomenologie in der Weise des Benjaminschen Passagen-Werks ausgeführt werden: "Die erste Etappe dieses W ^ e s wird san, das Prinzip der
Abschluß der methodischen Grundlegung
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Der Konflikt der historischen und phänomenologischen Vorgehensweise ist kein ideologischer und auch kein methodologisch notwendiger'^". «Phänomenologie» als Eidologje oder Morphologie geht der historischen (Re)Konstruktion voraus. Sie sistiert das Immer-schon-Geschichtliche an ihr selbst, indem sie es kritisch mitbedenkt'^'. Umgekehrt wird die geschichtliche Darstellung immer auf dem phänomenologisch
gefertigten
Fundament aufhihen. Es mag den Leser dieser Darstellung irritieren, daß die Behandlung nur bis an jenen Punkt in der römischen Literaturgeschichtsgeschichte geführt ist, w o nach einem oft zu hörenden Ю18сЬее die 'eigentliche' Literaturgeschichte begiimt: bei Sueton''^. Ist es legitim, den Autor auszuschließen, der auf dem W e g e der Vermittlung durch Hieronymus, Germadius und Isidor wie kein zweiter auf die Literaturgeschichte des Mittelalters imd noch der frühen Neuzeit eingewirkt hat'^^? Ich meine, ja. Suetons biographisch disponierte Literaturhistorie hat nur zu lange den Blick auf die Vielfalt früherer Ansätze und Modelle verstellt. Die serielle Komposition seines Vitenwerkes ist weder eine originale Leistung (einem seiner Vorgänger,
Cornelius
Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleine Einzelmoments den Kristall des Totalgeschdiens zu entdecken. Also mit dem historischen Vulgärnaturalismus zu brechen. Die Konstruktion der Geschichte als solche zu erfassen. In Kommentarstruktur" (Das Passagen-Werk, hrsg. v. R.Tiedemann , Frankfurt 1983, 1 575). Genau genommen wäre Benjamins Programmatik noch zu radikalisierai hin zu einer praekonstruktiven Morphologie der Phänomene. S. die folgenden Bemerkungen. Zur Geschichte des Konflikts aus germanistischer Perspektive F.Sengle, Literaturgeschichtsschreibung ohne Schulungsauftrag, Tübingen 1980, 2-4. Die Darstellung ist nicht ganz unparteilich; bes. die Phänomenologie ist - in ihren Anfängai- merkwürdig verzeichnet zu einer "Nebenerscheinung des aristokratischen oder gar absolutistischen Denkens, das von Nirtzsche, aber auch von Fichte und H^el herkommend, die Toleranz in Deutschland bedrohte" (3). Nicht in den Blick kommt der immanent absolutistische Anspruch der traditionellen literathistorischen 'Wirklichkeits'-Abbildung. Vgl. J.-F.Lyotard, La phénomáiologie, Paris 1954), 5f.: "Elle [sc. la phénoménologie] a â é d'abord et demeure une méditation sur la connaisance, une connaisance de la connaisance; et sa célèbre »mise aitre parenthèses« consiste d'abord à congédier une culture, une histoire, à reprendre tout savoir en remontant à un non-savoir radical. Mais ce refus d'hériter, ce »dogmatisme«, comme Husserl le nomme curieusement, s'enracine dans un héritage. Anisi, l'histoire enveloppe la phénoménologie, et Husserl l'a toujours su d'un bout à l'autre de son oeuvre, mais il y a une intention, une prétention a-historique dans la phénoménologie . . .". H.Naumann, Gab es eine römische Dichter-Biographie?, Sileno 2, 1976, 35-50, leugnet nicht allein - mit Berufung auf Leo - eine vorsuetonische Literaturgeschichte, sondern - ohne nennenswerte Argumentation - selbst die Existenz einer vorgängigen Dichterbiographie. Ich verweise nur auf von Lempicki, ebd., 19.
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Einleitung
Nepos, ist ein eigenes Kapitel gewidmet), noch konnte gerade sie Gnade finden vor dem kritischen Auge der klassisch-modernen Literarhistorie. Als beinahe beliebig kontinuierbare, unaufwendige narratio war sie prädestiniert für die zuverlässige Tradierung; und so ist auch sie allein - neben dem zur annalistischen emmeratio verharmlosten Ciceronischen Brutus^^'* - auf dem Felde der (spät)antiken Literaturgeschichte recht bald kanonisch geworden' Von der Untersuchung ausgeschlossen werden miißten auch die meisten vereinzelten, in diverse gattungsverschiedene Texte integrierten Referenzen auf Literaturgeschichtliches (ich nenne nur die geschichtspoetologisch relevanten, teils autobiographischen, teils annalistisch-dokumentarischen Partien in Ciceros Rhetorica und Philosophica, in augusteischer Lehrdichtung und Elegie, bei Livius, den Plinii und Petron)''®. Den noch 1934 von W.Kroll gegen J.J.d'Altons Roman Literary Theory (1931) erhobenen Einwand, "ob es denn zweckmäßig (sei), die literarische Theorie der Römer darzustellen, die (soweit sie reine Theorie ist) fast dxu-chweg griechisch ist"'^^, wird heute vermutìich niemand erheben. Er ist zu geringfügig und schwerwiegend zugleich. Werm Kroll und seine Mitforscher darin nicht ganz fehlgingen, daß sie nach Jahrzehnten hellenozentrischer Altertumsforschung mit einem Mal das Römische der römischen Literatur in den Mittelpunkt des Interesses rückten, dann wird man sich von der in vorliegenden prolegomena geforderten umfassenden Untersuchxmg römischen Redens über römische Literatur keinen geringen Erkenntnisgewinn versprechen.
S. unten Anm. 734. Im übrigen kann ich jetzt auf die im Herbst 1997 [zu spät, um für vorli^ende Studie noch fruchtbar gemacht werdai zu Icörmen] erschienene ausführhche Darstellung durch P.L.Schmidt u. K.Sallmarm im 4. Bd. des Handbuchs der Lateinischen Literatur der Antike, hrsg. V. K.Sallmann, München, 27-40 (Schmidt) u. 50-53 (Sallmann), verweisen (dort auch erschöpfende bibliographische Auskunft).- Auch der gerade von Schmidt, ebd., 13f., wieder betonte "Umbruch der historiographischen Traditionen und Konventionen" in der Zat des Übergangs von Trajan zu Hadrian, in welcher Sueton geradezu das Exemplum des auch "literarisch auf der Schwelle zwischai der flavischai Nachklassik und der archaistischen Moderne der Zweiten Sophistik" stehenden Autors abgibt, sollte die zeitliche B ^ e n z u n g rechtfertigen. Dem Problem der immanenten Literaturgeschichte ist eine Tagung gewidmet, die auf Anr^ung und unter der Leitung von E.A.Schmidt (Tübingen) im Spätsommer 2000 im Rahmen der Entretiens sur V Antiquité Classique in Vandoeuvres/Gaif stattfinden wird: «L'histoire de la littérature dans les oeuvres poétiques Romaines». '"Ebd. (s. oben Anm. 3),615.
Exkurs: Zur griechischen Literaturgeschichtsschreibung
Wenn im folgenden eine kurze Skizze der griechisch-hellenistischen Literaturgeschichtsschreibung versucht werden soll, bedeutet dies nicht die Aufkündigung des phänomenologischen Verfahrens; Geschichte läßt sich hier so wenig schreiben wie - einstweilen - für das römische Terrain. Dagegen sollen einige Richtpunkte für die Beschäftigung mit den lateinischen Texten gegeben werden; Parallelen und Unterschiede werden mitunter im Vorgriff deutlich werden. Der Historizität der überlieferten Texte wurden sich die Griechen schon früh bewußt: davon zeugt nicht allein das Bemühen um authentische Reproduktion der homerischen Gesänge im rhapsodischen Vortrag'^^ (von dem sich Spuren bereits in den Epen selbst befinden'^'), die Pflege des epischen К о ф и з in Sängergilden schon in ältester Zeit'^°, die filih um die Dichter sich rankende Legende (βίοι, α γ ώ ν ε ς kurz: das Stieben nach KaS. etwa G.Nagy, Early Greek views of poets and poetry, in: The Cambridge History of Literary Criticism I: Classical Criticism, hrsg. v. G.A.Kennedy, Cambridge 1989, 177, doit 6 u. 35f., u. - in demselben Band - G.R.F.Ferrari, Plato and poetry, 92-148, dort 92-99 (zum Platonischen Ion). Man denke v a. an die durch Dieuchidas von M ^ r a berichtete Solonische (vielleicht Pei si strati sehe, s. J.D.Beazley, JHS 54, 1934, 84) Anordnung eines geschlossenen rhapsodischai Vortrags der homerischen Gesichte an den Panathenäen.- Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Ausbildung eines historischen Bewußtseins ist selbstverständlich auch der zundimende Schriftgebrauch. Auf die vor allem durch W. Rosier, Dichter und Gruppe. Eine Untersuchung zu den Bedingungen und zur historischen Funktion früher griechischer Lyrik am Beispiel Alkaios, München 1980, ausgelöste Debatte kann ich an dieser Stelle nicht eingdien. Manches von Rosier Beobachtrte verweist auf die in jener Umbruchsphase vollaids erreichte Schafñmg der Bedingungen der Möglichkeit historischen Denkens. Vgl. nur Od. 8. 487fF. (Demodokos bei den Phäaken). S. etwa W.Schadewaldt, Die Gestalt des Homerischen Sängers, in: ders.. Von Homers Welt und Werk, Stuttgart ''1965, 54-86, dort 54-58. Hier ist v.a. an das sog. Certamen Homeri et Hesiodi zu daiken, von Nirtzsche 1871 ediert (s. KGW Π 1, 339-64); Wilamowitz folgte ihm 1916 in seiner Ausg. der Vitae Homeri et Hesiodi. Siehe E.Vogt, Die Schrift vom Wettkampf Homers und Hesiods, RhM 102, 1959, 193-221, ders., Nietzsche und der Wettkampf Homers, A&A 11, 1962, 10312, M.L.West, The contest of Homer and Hesiod, CQ 17, 1967, 433-50, K.Heldmann, Die Niederlage Homers im Dichterwettstreit mit Hesiod, Göttingen 1982 (= Hypomnemata 75), H.Erbse, Homer und Hesiod in Chalkis, RhM 139, 1996, 308-15, u. R.M.Rosen, Homer and Hesiod, in: A New Companion to Homer, hrsg. v. I.Morris u. B.Powell, Leiden/New York/Köln 1997, 463-88. Vgl. auch G.W.Most, Hesiod and the Textualisation of
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Einleitung
nonisienmg einer als vorbildlich angesehenen Literatur, sondern es zeugt davon in nicht geringerem Maße die rasch imd dynamisch sich fortschreibende Reihe der zahlreichen posthomerischen πρώτοι ε ύ ρ ε τ α ί der anderen (nichtepischen) Gattungen und Stile, mit anderen Worten: die mehr oder weniger bewußte Vermeidung des Kanons'®^ durch Neustiftung literarischer Gattungen im Vollbewußtsein des historischen Fortschritts'®^. Unaufhöriich evoziert das Kanonische teils affirmative teils destabilisierende Äußerung: Literaturkritik, die, w o sie den Maßstab nicht ausschließlich im EthischGesellschaftlichen nimmt (wie bei Xenophanes und Piaton), mitunter deutlich als Vorstufe einer historisch konzipierten Literarästhetik erscheint (so in den Fröschen
des Aristophanes und der Poetik
des Aristoteles)'®". Das
Personal Temporality, in: La componente autobiografica nella poesia greca e latina fi-a realtà e artificio letterario. Atti del c o n v ^ o : Pisa 1991, hrsg. ν. G.Arrighetti u. F. Montanari, Pisa 1993 (= Biblioteca di studi antichi 51), 73-92. Zu Begriff und Geschichte des 'Kanons' s. die unten Aran. 238 u. 579 gegebene Literatur. In Ermangelung einer ausgqjrägten antiken Theorie künstlerischer Progression (zu Recht spricht C.Meier, 'Fortschritt' in der Antike, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. O.Brunner, W.Conze u. R.Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, 353-63, vom Fehlen eines festen Forts c h r i t t s b ^ f f s und schon gar einer "Ideologie" des Fortschritts [353 mit Anm. 5]) hat die moderne philologische Forschung diesem Aspekt historischer Prozessualität bisher verhältnismäßig wenig Beachtung gesdienkt. Seine Behandlung fehlt weitgehend auch bei E.R.Dodds, The Ancient Concept of Progress, Oxford 1973. Wichtige Hinweise jetzt in dem von R.Hexter u. D.Seldoi hrsg. Band Innovations of Antiquity, New York/London 1992. Vgl. demnächst M.Hose, Der alte Streit zwischen Innovation und Tradition. Über das Problem der Originalität in der griechischen Literatur, sowie J.P.Schwindt, Römische »Avantgarden«. Von den hellenistischen Anfangen bis zum 'archaistischen' Ausklang, in: ders. (Hrsg.), Zwischen Tradition und Innovation. Poetische Verfahren im Spannungsfeld klassisch-antiker und neuerer Literatur und Literaturwissenschaft (erscheint). Vgl. E.Howald, Die Anfänge der literarischen Kritik ba den Griechen, (Diss.) Zürich 1910, passim, J.W.H.Atkins, Literary Criticism in Antiquity - A Sketdi of its Developmait, 2 Bde, Cambridge 1934 (Nachdr.: Gloucester [Mass.] 1961), bes. Bd. 1, 1-70, H.Madiler, Die Auffassung des Dichterberufs im frühen Griechentum bis zur Zeit Pindars, Göttingen 1963 (= Hypomnemata 3), G.M.A.Grube, The Greek and Roman Critics, London 1965, bes. 1-65, R.Kannicht, "Der alte Streit zwischen Philosophie und Dichtung" Grundzüge der griechische! Literaturauffassung, ebd. (Anm. 37), D.A.Russell, Criticism in Antiquity, London 1981, ^1995, W.J.Verdenius, The principles of Greek literary criticism, Mnemosyne 36, 1983, 14-59, M.Puelma, Der Dichter und die Wahrheit in der griechischen Poetik von Homer bis Aristoteles, MH 46, 1989, 65-100, G.A.Kennedy, Ancient Antecedents of Modern Literary Theory, AJPh 110, 1989, 492-98, G.Arrighetti, La cultura letteraria in Grecia da Omero a Apollonio Rodio, Rom/Bari 1989, bes. 3-17 u. 142-58, G.Nagy, ebd. (Anm. 158), passim, ders.. Death of a Schoolboy: The Early Greek B ö n nings of a Crisis in Philology, in: On Philology, hrsg. v. J.Ziolkowski, Pennsylv./London 1990, 3 7 ^ 8 (problematisch), H.Schlaffer, Poesie und Wissen, Frankfurt а.М. 1990, bes. 48, H.Kuch, Konträre Positionen in der griechischai Literaturästhetik, Lexis 7/8, 1991, 1 -
Exkurs: Zur griechischen Literaturgeschichtsschreibung
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Reden über den überlieferten Text bietet viele mögliche Anknüpftmgspunkte für den historischen Diskurs: Bibliographie, Überlieferungstechnik und geschichte, Genealogie und Biographie, (historische) Grammatik'^^ und Poetologje sind von Anfang an mögliche Konstituentien eines Konglomerats, das literaturgeschichtlich genannt werden mag. In dem Maße, wie die historische Perspektive stärker ausgebildet ist als die übrigen Komponenten der Darstellung, werden die einschlägigen Texte eher der Literarhistorie als der Literaturkritik oder Literaturtheorie zugeschlagen werden. Von solcher Praeponderanz kann in der griechischen Literatur - n a t u r g e m ä ß - erst spät die Rede sein: im Zeitalter des Hellenismus. Es kann als sicher gelten, daß im Peripatos zuerst der Versuch einer durchgehend historischen Betrachtung der Literatur unternommen worden ist. Von Aristoteles ist bezeugt, daß er neben den einzig erhaltenen einschlägigen Abschnitten der Poetik^^^,
der Rhetorik
und Metaphysik^^^
eine Philosophiegeschichte mit
zahlreichen Unterabteilungen z.B. ΠερΙ της Άρχύτου φιλοσοφίας γ' oder Περί της Σπευσίππου καΐ Ξενοκράτους α', eine den Rhetoren gewidmete συναγωγή τεχνών, auch επιτομή ρητόρων g e n a n n t ' s o w i e mehrere für die Geschichte der Poesie wichtige Schriften, so die Διδασκαλία;, Bücher ΠερΙ μουσικής. Περί τραγωδιών, ΠερΙ ποιητών sowie Πραγματεΐαι τέχνης ποιητικής verfaßt hat. Wir wollen den Verfassern der philologiegeschichdichen Handbücher gerne glauben, daß Aristoteles
11, B.Gaitili, Riflessioni su mito e poesia nella Grecia antica, Aufidus 22, 1994, 7-21, G.Arrighetti, Riflessione sulla letteratura e biografia presso i Greci, in: La Philologie Grecque à Γ Epoque Hellénistique et Romaine, hrsg. ν. F.Montanari, Genf 1994 (= Entretiens 40), 211-49 (mit Diskussion 250-62), u. C.J.Classen, Rhetoric and literary criticism: their nature and their ftmctions in antiquity, Mnemosyne 48, 1995, 513-35. Das Nachdenken über die Sprache b ^ n n t schon mit den ältesten Dichtern; s. zuletzt G.Arrighetti, Poeti, eruditi e biografi - Momenti della riflessione dei Greci sulla letteratura, Pisa 1987, 13-36, u. G.A.Kennedy, Language and meaning in Archaic and Classical Greece, in: Classical Criticism, ebd., 78-91. Man muß nicht die Generalthese von der Autochthonie der griechischen Literatur bemühen, um jenen Entwicklungsgang für plausibel zu halten, der den dominanten literarhistorischen Blick erst bei Autoren späterer Jahrhunderte findet. Bes. Kap. 4 (1448''28-1449'31). Dort der problemgeschichtliche Abschnitt über die Vorsokratiker A 983b-988a, Vorbild für Theophrasts berühmte Philosophi^eschichte Φυσικών δόξαι. Fragmente haben sich erhalten auch von Aristoteles' frühem Dialog Περί φιλοσοφίας, wo die Geschichte der Philosophie von den Anfängen bis zu Plato in kultuihistorischem Kontext behandelt war (s. W.Ja^er, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, ^Berlin 1955, 125-70, u. I.Düring, Aristoteles. Darstellung und 1п1ефге1а11оп seines Denkens, Heidelberg 1966, 185-89). Hierzu R.Blum, Kallimachos und die Literaturverzeichnung bei den Griechen, ebd. (Aran. 46), 97-99.
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Einleitung
am ehesten imstande gewesen wäre, das zu liefern, was man sich gemeinhin unter einer Allgemeinen Literaturgeschichte vorstellt. Aber daraufkommt es gar nicht an. Seit Aristoteles' enzyklopädischen Recherchen ist die Synthese möglich'^®. Die Weite und Unvoreingenommenheit des peripatetischen Literaturbegriffs (und später der römischen eloquentia) muß den Vergleich mit modernen Vorstellimgen gewiß nicht scheuen. Wenn Aristoteles, wie Rudolf Pfeiffer zu zeigen versucht hat'^', auch nicht als Erfinder der Юassischen Philologie im strengen Sirme gelten kann, so hat er doch für die Erfmdimg' der Literarhistorie die bahnbrechende Vorleistung erbracht. Auf seinen biobibliographischen, namentlich didaskalischen Fleiß nicht minder als auf seine literaturphilosophischen Studien ist die Arbeit der folgenden professionellen Literaturgeschichte gegründet'^^. Ich verzichte darauf, die zahlreichen Werke literarhistorischen Inhalts aufzulisten, die den Peripatetikem verdankt werden: es hat sich zumeist nicht mehr als der Name erhalten'^^. Was pergamenische und beträchtlicher noch - alexandrinische Forschung auf dem Feld der Literaturgeschichte zustande gebracht hat, ist gleichfalls fast zur Gänze verloren'^''. Eriimert sei wenigstens an das gewaltige pinakographische Werk der ägyptogriechischen Dichtergelehrten, die über mehrere Generationen hinweg die philologische Profession bis zu einem Grade ausbildeten, der erst wieder im späten 17. Jahrhundert (mit Richard Bentley) erreicht wurde'^^. Gnmdl^end zum Gedanken der 'Synthese' in der griechischen Geschichtsschreibung K.v. Fritz, Probleme der historischen Synthese, in: ders., Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin/New York 1971, 701-26. R.P., Geschichte der Klassischen Philologie - Von dai Anfängen bis zum Ende des Hellaiismus, Hamburg 1970 (engl. Orig.: Oxford 1968), 90-112. Anders Blum, ebd., der "keine Bedenken (trägt), diejenigen antiken Forschungen, die nach unserem B^riff zur 'Philologie' gehören, 'philologisch' zu nennen" (18, Anm. 12). Zur philologischen Vorleistung des Aristoteles im Hinblick auf die alexandrinische Forschung s. jetzt auch N.J.Richardson, Aristotle and Hellenistic Scholarship, in: La Philologie Grecque, ebd. (Anm. 164), 7-28 (mit Diskussion 29-38).- Blum erinnert an dai mit Francis Bacon aufgekommenen B^riff der Historia litteraria oder 'Literärgeschichte' und betrachtet Aristoteles - gewiß nicht zu Unrecht - als den "Ahnherrn" einer sdir weit zu fassenden Kunst- und Wissenschafts-"Kunde" (99). Hingewiesai werden soll waiigstais auf die Fragmente des Chamaeleon von Herakleia, doi F.Leo, malgré lui, fur die Literaturgeschichte erschlossen hat (Griechischrömische Biographie, ebd., 104-07). Denn für die eigentliche Biographie, an deren Gaiealogie Leo interessiert war, war er nicht zu gebrauchen. Die Reste sind gesammelt u. kommentiert von F.Wdirli im 9. Bd. seiner Schule des Aristoteles, Basel 1957. Die beste Darstellung jetzt bei Arrighetti (1987), ebd. (Anm. 165), 141-228. Am vollständigsten in der Erfassung der überiieferten Namen und Titel ist Gräfenhan, Geschichte der Klassischai Philologie, ebd. (Anm. 47), Π 202-07. An dieser Stelle sei ein Hinweis erlaubt auf S.Schröders Geschichte und Theorie der Gattung Paian. Eine kritische Untersuchung mit einem Ausblick auf Behandlung und
Exkurs; Zur griechischen Literaturgeschichtsschreibung
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Mit der editorischen Détailarbeit verbanden sie nicht selten ein bemerkenswertes literarästhetisches iudicium.
Schon die Π ί ν α κ ε ς τ ω ν έ ν
πάση
π α ι δ ε ί α δ ι α λ α μ ψ ά ν τ ω ν κ α ΐ ώ ν σ υ ν έ γ ρ α ψ α ν έ ν βιβλίονς κ' κ α ι ρ' des Kallimachos gingen über die bloße Auflistung des alexandrinisehen Buchbestandes weit hinaus, indem den Titeln kurze Inhaltsangaben und sogar knappe Autorenbiographien beigegeben waren'^^. Eratosthenes,
Aristo-
phanes, Aristarch u.a. schritten auf dem einmal begangenen W e g e fort und verfeinerten die philologische Grundlage der Literaturgeschichte durch eine Fülle methodisch versierter grammatischer'^', metrischer,
textkritischer,
chronologischer, exegetischer und literaturkritischer Studien''^. Die Arbeiten
des
Jüngsten
unter den
direkten Nachfolgern
des Zenodot
und
Kallimachos, des Aristarch'^', fallen schon in eine Zeit, da sich in Rom die ersten Anfänge literaturhistorischer Bemühung regen'^°.
Auffassung der lyrischen Gattungen bei den alexandrinischen Philologen, Stuttgart/Leipzig 1999. Schröder gelangt in Auseinandersetzung mit dem grundl^enden Buch L.Kappels, Paian. Studien zur Geschichte einer Gattung, Berlin/New York 1992, zu wichtigen Einsichten in die historische Fundierung der alexandrinischen Arbeitsweise. S. bes. den Abschnitt V.) Die Auffassung und Behandlung des Paians und der lyrischen Gattungen überhaupt bei den alexandrinischen Philologen, S. 110-53. Daß gerade die antike Schriftstellerverzeichnung immer schon mit einem immensen Aufwand an biobibliographischer, oft richtiggehend philologischer Recherche verbunden war, zeigt eindrucksvoll Blum, ebd., 15-17. Über die grammatischen Studien (im Sinne systematischer Sprachbeschräbung als des μέρος τεχνικόν der übergreifenden τέχνη γραμματική) des Aristophanes, Aristarch und - auf pergamenischer Seite - des Krates von Mallos informiert jetzt bündig W.Ax, Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie, in: Sprachtheorien der abendländischen Antike (= Geschichte der Sprachtheorie 2), hrsg. v. P.Schmitter, Tübingen 1991, 275-301. Alexandrinische Gelehrsamkeit ist für uns am diesten faßbar in den zahlreichen überlieferten Scholien zur älteren griechischen Dichtung. Daß sie sich keineswegs nur auf die schulmäßige grammatikalische Ex^ese beschränkten, Idirt die beeindruckende Studie von R.Meijering, Literary and Rhetorical Theories in Greek Scholia, Groningai 1987. Vgl. auch N.J.Ridiardson, Literary criticism in the ex^etical scholia to the Iliad, CQ 30, 1980, 265-87, u. A.Garzya, Éléments de critique littéraire dans les scholies anciennes à la tragédie, Vichiana 18, 1989, 3-11. Zu Aristarchs Homer-Philologie s. jetzt den instruktiven Aufsatz von F.Montanari, The Fragments of Hellenistic Scholarship, in: Collecting Fragments - Fragmente sammeln, hrsg. V. G.W.Most, Göttingen 1997 (= Aporemata 1), 273-88. Über den bedeutenden Exponenten griechischer Literaturtheorie in augusteischer Zeit, Dionysios v. Halikamaß, s. unten S.166f. Zur nacharistotelischen griechischen Literaturtheorie allgemein s. D.A.Russell, Greek criticism of the Empire, in: Classical Criticism, ebd., 297-329, W.Bernard, Spätantike Dichtungstheorien. Untersuchungen zu Proklos, Heraklátos und Plutarch, Stuttgart/Leipzig 1990, sowie die Beiträge in der FS Schenkeveld, Greek Literary Theory after Aristotle, hrsg. v. J.G.J.Abbenes, S.R.Slings u. I.Sluiter, Amsterdam 1995.
IL Die Anfange: Literaturgeschichtsschreibimg in Versen
"Das kleinste φλμ [Philologem] ist encyklop.[aedischer] Art und kann nur von einem Polyhistor beantwortet werden." (Friedrich Schlad. Zur Philologie Π 60)'"
D i e Anfänge der römischen Literaturgeschichtsschreibung liegen 'im Dunkeln'. Früher jedoch, als man es bei einer jungen, eben erst aus dem übermächtigen Schatten der griechischen Literatur langsam heraustretenden Nationalliteratur erwarten s o l l t e ' f i n d e n sich bereits in den spärlichen Resten, die uns v o m nicht-dramatischen Werk des Accius erhalten sind, Spuren, die von literarhistorischem Bemühen zeugen. Erstaunlicher noch als der filihe Beginn solcher Forschung ist der weitere Umstand, daß Accius seine 'Literaturgeschichten' {Didascalica
und Pragmatica)
möglicherweise min-
destens teilweise in Versen verfaßte. Schon Madvig'^^ und Hermann'^"' hatten in ihren klugen Abhandlungen sogar die vollständige Abfassung der Zum historischen Hintergrund der Schl^elschen Hochschätzung der Fragmentenphilologie s. die wertvollen Bemerkungen bei R.Kassel, Fragmente und ihre Sammler, in; Fragmenta Dramatica, hrsg. v. H.Hofmann, Göttingen 1991, 243-53, dort 250f. (wieder abgedr. in: R.K., Юапе Schriften, hrsg. v. H.-G.Nesselrath, Berlin/New York 1991, 8898, dort 95f.). S. auch E.Ostermann, Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee, München 1991, bes. 101-32, sowie die instruktiven Beiträge von A.C.Dionisotti {Ort Fragments in Classical Scholarship) u. H.U.Gumbrecht (Eat Your Fragment! About Imagination and the Restitution of Texts) in dem von G.W.Most hrsg. Band Collecting Fragments - Fragmente sammeln, Göttingen 1997 (= Aporemata 1), 1-33 bzw. 315-27. Über das Phänomen der 'jugendlosen' römischen Literatur ("mihi ... nulla videtur esse harum litterarum adolescentia") und ihrer unnatürlich frühen Erforschung s. J.N.Madvig, De L.Attii Didascalicis commentatio, (Progr.) Kopenhagen 1831, abgedr. in: ders.. Opuse. Acad, Kopenhagen 1887, 70-89, dort 70f Vgl. auch E.Norden, Sprachliche Beobachtungen zu Plautus, RhM 49, 1894, 194-207, dort 194 (auch in: Kl.Schr, hrsg. v. B.Kytzler, Berlin 1966, 115-27, dort 115). Dieser freilich erst - mit Berufung auf Hermann (s. folgende Anm.) - im Wiederabdruck seines Vortrages, Opuse.Acad. (s. vorige Anm ), 74 Anm. 1. 1831 war er noch für prosaische Abfassung des Werkes eingetreten (ebd. 74). De L.Attii libris Didascalicon (1841), abgedr. in: Godo/redi Hermanni Opuscula, Bd. 8, hrsg. V. Th.Fritzsche, Leipzig 1877 (Nachdr.: Hildesheim/New York 1970), 39094, passim. Hermann schließt mit der Bemerkung: " ... tantum abest ut prosa oratione quidquam ab Attio scriptum fuisse evinci possit, ut etiam Didascalicorum libros scripsisse putandus sit versibus" (394).
Accius' Didascalica
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Werke in Versen behauptet. Lachmann konnte für mehrere Fragmente sotadeisches Versmaß n a c h w e i s e n ' D i e bei Charisius'^^ überlieferte Anrede des Baebius aus dem 9. Buch der Didascalica ist jedoch un2Aveifelhaft prosaisch: "nam quam varia sint genera poematorum, Baebi, quamque longe distincta alia ab aliis, nosce""'. Bücheler vertrat mit Entschiedenheit die Auffassung, daß die Didascalica im K e m prosaisch gewesen seien''®. Die Tatsache, daß neben Sotadeen 1 QO
trochäische Oktonare
1 o/^
und sogar zwei iambische Señare
stehen, könnte
in der Tat für eine reiche Zitatenlese im Werk des Accius sprechen. Jedoch hat Friedrich Leo''' (nach Friedrich Marx''^) die bezwingende Ansicht entwickelt, daß die Didascalica Form der satura Menippea
als prosimetrisches Gebilde geradezu die
vorwegnehmen'^^. Desweiteren hat Leo mit un-
übertrefflicher Einfühlung in das spärliche Material dialogischen Charakter der Didascalica
wahrscheinlich gemacht: Vor allem frg. 14
De versibus Sotadeis et Attii didascalicis (1849^ abgedr. in: Kleinere Schrífien zur Classischen Philologie von K.Lachmann, hrsg. v. J.Vahlen, 2 Bde, Berlin 1876, dort Π 67-72, bes. 69-72. Lachmann irrte jedoch in der Annahme, die Didascalica seien mit den Sotadica identisch ("Quid igitur veri similius esse potest, quam hos Sotadicorum libros, quorum nulla apud alios scriptores mentio est, proprio nomine didascalicon inscriptos fuisse?", ebd. 70); vgl. F.Marx, Accius (1), in: RE I 1, 1893, 142^7, dort 146, u. zuletzt W.-L.Liebermann, Accius, L., in: Der Neue Pauly 1, 1996, 50-53, dort 53. Char. 142 K(eil)/179B(arwick). Die Acdus-Fragmente nach der Ausgabe von Morel/Büchner/Blänsdorf, Fragmenta poetarum Latinorum epicorum et lyricorum, Stuttgart/Leipzig 1995, die obige Stelle: frg. 13. F.Bücheler, Coniectanea (de Silio luvenale Plauto aliis poetis lat.), RhM 35, 1880, 390-407, dort 401 (auch in: Kl.Schr. Π, hrsg. v. O.Hense u. E.Lommatzsch, Leipzig/Berlin 1927, 380-95, dort 389f.). So F.Leo, Geschichte der römischen Literatur, Berlin 1913, 389 Anm. 3, zu frg. 8 g ^ e n Hermann, der trochäische Tetrameter vermutete (ebd. [Anm. 184], 392 [Leo falschlich: 393]). Frg. 9 ("Hi versus fiierunt suntque et posthac erunt senarii". Bücheler, ebd. [RhM], 390). Der den Didascalica des Accius gewidmete Abschnitt seiner Geschichte der römischen Literatur (ebd. [Anm. 9] 386-91) liefert noch immer die beste Bdiandlung des Stoffes. Ebd. (Anm. 185). Ebd. 390. Zustimmend H.Dahlmann, Varros Schrift 'de poematis' und die hellenistisch-römische Poetik, Abh.Ak.Wiss.u.Lit. Mainz 1953, Nr. 3, 94. Vgl. auch F.della Corte, La filologia Latina dalle origini a Varrone, Turin 1937, Florenz 1981, 62 (der freilich seine Vorgänger nicht erwähnt).
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Literaturgeschichtsschreibung in Versen
"vectigalia legerant vestra et servantiir statim" sei, meinte Leo, "nicht anders zu verstehen als daß ein Grieche zu einem Kreise von Römern s p r i c h t " G e r n e würden wir ihm auch in der weiteren Annahme folgen, daß "er [sc. Accius] selbst, wie es im peripatetischen Dialog von Aristoteles bis Ciceros Brutus üblich war, als Hauptperson über römische Literatur und Literaten gesprochen hat"'^', ja, daß Accius, wie Leo an anderer Stelle glauben machen will, "im Mittelpunkt (stand) und ... das Ziel der Darstellung (war), wie Cicero im B r u t u s " D e r hypothetische Charakter dieser Konstruktion bedarf aber, glaube ich, keines Beweises. Doch würde ich nicht so weit gehen wie Courtney in seiner neuen Fragmentausgabe'^^, der die Reste der Didascalica nicht länger unter die Dichterfragmente eingereiht wissen will, indem er - nicht ganz zu Recht auf die Autorität Büchelers sich berufend'®^ - nicht nur Leos Prosimetrum- und Dialogthesen zurückweist, sondern sogar Lachmanns und Leos metrische Analysen, die Deutung mehrerer Fragmente als Sotadeen, in Zweifel zieht''®. Kaum weniger umstritten als die Form der Didascalica ist der Inhalt dieses (nach der Überlieferungslage zu urteilen) frühesten Erzeugnisses römischer Literaturforschung. Bald lesen wir, Accius habe hier "eine Art Geschichte des Dramas" (TeuffeP°°) oder "dramatische Chronik" (Leo^°') vorgelegt, bald erscheint der Mann aus Pisaurum als Verfasser "eine(r) Griechen wie Römer umfassende(n) Poetik", die "über den Rahmen der Werke des Aristoteles und des Karystios von Pergamon über die Didaskali-
Ebd. Vorsichtig zustimmend wiederum DaMmann, ebd., der im übrigen zur Bestimmung des "literarischen Charakters" des Varronischen Werkes De poematis methodisch ähnlich wie Leo verfährt. Vgl. seine Bemerkungen zur Absicherung des spekulativen Verfahrens: ebd. 95. "'Ebd. Ebd. 389. Zum teleologischen Modell des Brutus vgl. unten S. 96 Anm. 389. The Fragmentary Latin Poets, ed. w. comm. by E.Courtney, Oxford 1993. Bücheler, den Courtney vielleicht nicht selbst eingesehen hat (jedenfalls ist die Seitenangabe [441 statt 401] unrichtig), hatte zugestanden, daß "in didascalicis carmina quoque inerant sive facta ab Accio sive ex aliis voluminibus transcripta" (ebd.). Ebd. 60. S. jetzt auch die Kritik des Courtneyschen Verfahrens durch H.D.Jocelyn, Rez. Hermathena 158/59, 1995, 53-77, dort 57: "The case for r ^ r d i n g the remains of Accius' Didascalica ... as prose is not so strong as to justify their exclusion". Ebd. (Anm. 8), 1 243. Vgl. I 246 ("eine Art Geschichte der griech. und rom. Poesie in loser Form, mit besonderer Berücksichtigung der Dramatik und noch die Zeit des Dichters selbst mitbehandelnd"). Ebd., 386, als Übersetzung des Titels Didascalica.
Accius' Didascalica
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en beträchtlich hinaus(ging)" (Schanz/Hosius^°^); Bahr läßt die Didascalica "nach dem Muster der Griechen, zunächst der Alexandriner, eines Eratosthenes, Callimachus U.A. über die scenische Poesie, über die einzelnen Dichter Rom's u. dgl. sich verbreite(n)"^°^ Marx ist - im Gegenteil überzeugt, daß "die in den Didascalica vertretenen Lehren noch unbeeinflusst von der Forschung der Alexandriner, insbesondere des Aristarch" seiBewiesen wird von den Urhebern dieser Hypothesen beinahe nichts. Halten wir uns also an das nackte Gerüst, wie es die spärliche Überlieferung bereitstellt. Danach machte Accius - nach Gellius' Zeugnis - im 1. Buch Gebrauch von levibus admodum argumentis ... per quae os tendi putat Hesiodum natu priorem [sc. Homerof°^·, zwei weitere Bruchstücke (frgg. 7 und 8) zeigen an, daß die Ilias behandelt war; frg. 9 ist mit epischem Kontext vereinbar. Zwei Fragmente, die dem 2. Buch entstammen, bezeugen - doch wohl kritisch-ästhetische - Behandlung dramentechnischer Fragen, die attische Tragödie betreffend^*^. Für die Bücher 3 bis 7 ist nichts bezeugt. Möglich, daß eines (oder mehr?) der drei in ihrer Zuordnung unsicheren Zeugnisse (16-18) hier seinen Ort hatte^"^. Aus Buch 8 hat sich eine Bemerkung über Requisiten (wohl der attischen Bühne^"^) erhalten (frg. 12). Buch 9 enthielt Bemerkungen darüber, quam varia sint genera poematorum ... quamque longe distincta alia ab aliis (frg. 13)^°^; über frg. 14 läßt sich über das oben Gesagte^'® hinaus nichts ermitteln; der Bezug von frg. 15 ist unbekaimt. Von weiteren Büchern wissen wir nichts. Unsere Skizze ist unfertig, wenn wir nicht neben die angeführten Bruchstücke stellen, was Cicero, ^•"Ebd. (Anm. 11), I 135. '"'Ebd. (Anm. 99), 1 125. ""Ebd. (Anm. 185). 203 Gell. 3 , 1 1 , 4 (alle Gellius-Zitate im folgaiden nach der 2bdg. Ausg. v. P.K.Marshall, Oxford 1968 [verbesserter Nachdr.: 1990]). Siehe dort auch die weiteren Ausführungen. Frgg. 10 u. 11. Vgl. hierzu die kurze Doxographie in Morels Fragmentenausgabe, Leipzig ^1927 (mehrfadi nachgedr ). ^^ Woher E.Norden, Varroniana Π, RhM 48, 1893, 529-51, dort 531 (auch m: Kl.Schr. [s. Anm. 182], 93-114, dort 95), die Zuversicht nimmt zu behaupten, daß Accius "libris qui erant inter tertium et septimum disputasse videtur de poesi Romana, qua ex disputatione supersunt tria fragmenta didascalica ...", verstdie ich nicht. Vgl. Leo, ebd., 387 Anm. 4. '"'Siehe Seite 53.
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Literaturgeschichtsschreibung in Versen
Brut. 72, über die falsche Datierung der ersten römischen Theateraufführung durch Accius berichtet (16), femer die vsaedemm von Cicero, ebd. 229, referierte Bemerkung des Accius se et Pacuvium docuisse fabulant, cum Ule octoginta, ipse triginta annos natus esset (18), sowie ein Gellius verdanktes, von diesem aus Varros 1. Buch De comoediis Plautinis geschöpftes Acciuswort über mehrere fälschlich dem Plautus zugeschriebene Stücke (17). Ich bin nicht sicher, ob die Zuweisung dieser ohne Nennmg des Werktitels angeführten Zeugnisse an die Didascalica als so sicher gelten kann, wie offensichtlich - mit der alleinigen Ausnahme Otto Immischs alle Acciusforscher seit Lachmanns Zeiten anzunehmen geneigt sind^". In seinem Aufsatz Zu Callimachus und Accius warnt Immisch doch wohl zu Recht vor unmethodischer Übereilung bei der Einordnung 'titelloser' Fragmente: "... es ist überhaupt, obwohl es überall geschieht, bare Willkür, wenn angenommen wird, daß die auf römische Litteraturgeschichte bezüglichen Acciuszitate gerade aus den Didascalici stammen müßten. Wir haben ja noch die Titel Annales, Sotadica, Parerga zur Verfügimg, imd es ist keinerlei Sicherheit, irgend etwas in die Didascalici zu setzen, was nicht direkt daraus zitiert wird"^'^. Immisch hätte noch hinzufügen können, daß auch die Pragmatica für solche Zuweisungen grundsätzlich in Frage kommen^'^. Bevor wir unsere Skizze der Didascalica beschließen, müssen wir uns kurz mit diesem zweiten Produkt der Accianischen Literaturforschung beschäftigen. Da den Pragmatica überhaupt nur vier Fragmente sicher zugewiesen werden (davon nur eines mit bestimmter Buchangabe: Accius Pragmaticon lib.I [Non. p. 156, 3 M(erciers)/229L(indsay)], es gab also mindestens deren zwei), sind die Vorstellungen, die man sich vom Inhalt des Werkes gemacht hat, notwendigerweise noch verschwommener als im Fall der Didascalica. Während in der Formfrage, auffallend genug, allgemein angenommen wird, das Werk sei durchgehend in Versen, gar ausschließlich trochäischen Tetrametem verfaßt gewesen^'" (obwohl man doch für möglich halten muß, daß die Pragmatica poly- und vielleicht auch prosimetrisch Ich nenne (außer dem oben [Anm. 207] angeführten Norden) nur Marx, ebd., G.L.Hendrickson, A pre-Varronian chapter of Roman hterary history, AJPh 19, 1898, 285-311, dort 305, Leo, ebd., 387f., u. die Fragmentsammlimgen von Morel, Büchner, Blänsdorf und Courtney. Philologus 69, 1910, 59-70, dort 68f. Seine Ansicht, der Titel der zweiten literarhistorischen Schrift des Accius müsse pragmaticus ('Literaturkonsulait') gelautet haben (ebd. 60-65), kann ich nicht teilen. Auch die behauptete Analogie zu Kallimachos' Werktitel Γραφεΐον (59f.) ist etwas gesucht. Nicht einmal der literarhistorische Charakter jener Schrift ist gesichert (vgl. A.Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, Bem/München Ί 9 7 1 , 806). ^^ So seit Madvig (ebd. [Anm. 182], 88) unumstößlich die communis opinio.
Accius' Pragmatica
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und dialogisch [s. frg. 24!] waren wie die Didascalica), gehen die Auffassungen über den Inhalt der Schrift z.T. weit auseinander: Nach Ribbeck bot die Schrift "eine populäre Belehrung über das Technische der dramatischen Poesie"^'^, Norden unterscheidet nach dem Sprachgebrauch des Dionysios λεκτικόν und πραγματικόν und will schon in den Fragmenten deutlichen 'Sachbezug' erkennen^'^; vor solcher einengenden Auffassung des Inhalts warnt wiederum Immisch, der auf die historische Beziehung verweist, die darin liege, "daß der Dichter fr.27 [= 25 M/Bü/Bl] bei sicinnium auch von dem Namen als solchem redete {nebulosum nomen), was am besten verständlich ist, werm er wie Horaz in seiner Epistel gelegentlich auch auf die Ursprünge der Gattungen, hier des Satyrspiels, eingjng"^'^. Nach dem griechischen Werktitel allein jedenfalls wird man den Charakter des Buchs nicht bestimmen dürfen. Auch die Didascalica stehen ja dem eigentlich didaskalischen Schrifttum (etwa des Aristoteles, Dikaiarch, der Alexandriner, des Krates und Karystios in Pergamon^'^) eher fem, schon weil sie sich nicht auf Bibliographie und Chronologie beschränkten. Die Bruchstücke der Pragmatica passen auf ein Werk, das sprach- und literarkritische (frgg. 2224) mit beschreibend-historischen Interessen (frg. 25) verband. In Fragment 23: "... describere in theatro perperos popularis" scheint die Beziehimg auf das όνομαστί κωμφδενν der Alten Komödie gesichert^^^. Ebenso klar ist in Fragment 24: "et eo plectuntur poetae quam suo vitio saepius ductabilitate nimia vestra aut perperitudiue" der Bezug zur römischen Bühne^^°. Es körmen also in den Pragmatica gleichermaßen griechische und römische Theateφrobleme behandelt gewesen sein. Möglich, daß der Theaterpraktiker Accius hier der Behandlung praktischer Gesichtspunkte (wie der heiklen Beziehung von Autor und Publikum) breiteren Raum gegeben hat. Die Beschäftigung mit aktuellen Kontroversen O.Ribbeck, Geschichte der römischen Dichtung I, Stuttgart 1887, 268. " ' E b d . [Anm. 207], 531-34 (bzw. 95-98). " ' E b d . [Anm. 212], 61. Über die didaskalische Forschung der Genannten s. Gräfenhan, Π 180-82. So jetzt auch Courtney, 63, nach Leo, 391 Anm. 1. Vgl. wiederum Courtney, ebd.
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Literaturgeschichtsschreibung in Versen
(an die Parabasen der Archaia, die Prologe des Terenz, Fragmente des Lucilius erinnernd) ist der Tradierung des Werks kaum günstig gewesen. Was nun Inhalt und Aufbau der Didascalica betrifft, so wird man in den mancherlei Rückgriffen auf das altgriechische Epos und Drama die stärker historische Akzentuierung des Werkes (die deim auch der Titel bei aller Freiheit der Umdeutung sicherstellt) nicht leugnen dürfen, ohne doch wie Immisch das Ganze geradewegs zur Wiedergabe einer griechischen Poetik zu erklären. Denn nach Prüfimg der Pragmatica hat es den Anschein, als fügten sich die 'wissenschaftlichen' chronographischen und echtheitskritischen Bemerkungen zur römischen Literatur in den Zeugnissen 16 bis 18 besser in den 'didaskalischen' als in den 'pragmatischen' Kontext. Eine gemischt griechisch-römische Anlage ist also auch in den Didascalica wahrscheinlich. Weiter läßt sich erkennen, daß die Gattungen der Poesie in der Reihenfolge Epos-Drama-Lyrik behandelt waren (gleichgültig, ob man den 'Abschnitt Drama' schon mit dem 2. Buch oder später beginnen läßt^^'). Daß Accius der pergamenischen Schule wahrscheinlich näher stand als den Alexandrinern, hat man fein aus dem Zeugnis des Gellius (frg. 6) geschlossen, wonach unser Autor in der Weise des Ephoros die Priorität Hesiods gegenüber Homer behauptet habe^^^ (während doch Eratosthenes, Apollodor und Aristarch das Gegenteil als richtig erwiesen hatten)'''. Ich möchte jedoch für möglich halten, daß der Pisaurer den chronologischen Primat des Böotiers noch aus einem anderen Grunde verfocht: weil ihm an der Feststellung der (wie immer gearteten) Superiorität jener Katalog- und Lehrdichtung lag, deren Archeget Hesiod war, in dessen später Nachfolge aber Accius selbst, ein römischer Archeget, sich in seinen dramenkundlichen Werken sehen mochte''". Vom literarhistorischen Anfang des Accius in der 'Gracchenzeit' (wenn der anachronistische Terminus einmal verstattet ist) ist der Weg nicht weit zu dem eine Generation später anzusetzenden "literarischen Kreis des Q.Lutatius Catulus". Dieser etwas prätentiös klingenden Nomenklatur hat In diesem Sinne äußert sich auch Immisch, ebd., der die Möglichkeit nicht ausschließai will, "daß Euripides im 2. Buche nur exemph causa erwähnt war" (70). ^^^ S. Leo, ebd., 387 Anm. L Vgl. della Corte, ebd. (Anm. 193), 67, u. R.d^'Innocenti Pierini, Studi su Accio, Florenz 1980, 58. ^^^ Auf ein weiteres mögliches Argument macht Leo, Plautinische Forschungen, Berlin 1895, П912 (Nachdr.: Darmstadt 1966 u. Dublin/Zürich 1973), 34f., aufmerksam. Vgl. jetzt auch J.Dangel, Accius grammairien?, Latomus 49, 1990, 37-58, dort 50f., u. Liebermarm, ebd. (Anm. 185), 52. Das schließt natüriich nicht aus, daß er manches der einschlägigen Lehrdichtung des Nikander, manches (Formal-Technische) auch seinem römischen 'Vorgänger* Ennius verdankte.
Volcacius Sedigitas
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sich zuerst Richard Büttner in der Überschrift seiner Studie zu Porcius Licinus^^^ bedient. In bester philologischer Tradition erschließt er aus den Trümmern, die der antiquarische Eifer einer späteren, weniger kreativen Zeit uns bewahrt hat, das lebendige Bild einer ehedem versunken geglaubten Gesprächs- und Literatenkultur, die in der Person des Kimbembezwingers Catulus ihren Mittelpunkt hatte. Eine strenge Chronologie der unter die Namen des Volcacius Sedigjtus, Porcius Licinus und Valerius Soranus sich aufteilenden literarhistorischen Fragmente kann natürlich auch Büttner bei allem Spürsinn nicht liefem^^^. Befassen wir uns zunächst kurz mit dem Mann, dem einer der kuriosesten Texte der sog. 'Unbekannten lateinischen Literatur', der 'KomikerKanon', verdankt wird: Volcacius Sedigitus. Das vielbesprochene Fragment (frg. 1, in iambischen Senaren) stammt nach dem Zeugnis des Gellius (der es 15, 24 überliefert) aus Volcacius' Buch De poetis und hat zum Inhalt: "quid de his sentiat [sc. Volcacius], qui comoedias fecerunt, et quem ex omnibus praestare ceteris putet ac deinceps, quo quemque in loco et honore ponat" (ebd.). Wir müssen den zahlreichen Deutungsversuchen^^' keinen weiteren hinzufügen, wollen nur das Wenige festhalten, was unzweifelhaft feststeht: Der Dichter-Kritiker greift ein in einen aktuellen Streit unentschiedenen Ausgangs {multos incertos certare harte rem vidimus) darüber, palmam poetae comico cui déférant. Mit mehr als selbstgewissem Gebaren glaubt Volcacius (die Anrede an ein unbestimmtes Gegenüber [tibi] richtend), die Wirrnis (errorem) leichterhand beheben zu können: "eum^^* meo iudicio errorem dissolvam tibi, ut, contra si quis sentiat, nihil sentiat".
Porcius Licinus und der litterarische Kreis des Q.Lutatius Catulus - Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik der römischen Litteratur, Leipzig 1893 (Nachdr.: Hildesheim 1970). Vgl. auch die von E.Norden, Rez. GGA 1894, 482-93, erhobenen Einwände. ^^ Natürlich hat sich die Forschung vorwiegend, um nicht zu sagen ausschließlich, für das literarkritische κριτηριον des Volcacius interessiert. Einen Überblick über die Hypothesen gibt M.Sdiuster (Volcacius Sedigitus, RE 33, 1, 742-54, dort 744-49), der selbst ansprechend - fur die vis comica als Ordnungsprinzip eintritt (leider verschweigt er, daß sich schon Leo, Geschichte, ebd., 435, ganz ähnlich geäußert hat). Cum codd., corr. Marshall.
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Literaturgeschichtsschreibung in Versen
Es folgt eine Rangliste von zehn Komikern, deren Formulierung an der entschiedenen Subjektivität der Aufstellung keinen Zweifel läßt. Ich zitiere die beweisenden Stellen: 5
"Caecilio palmam Static do mimico^^'. Plautus secundas facile exuperat ceteros. si erit, quod quarto detur, dabitur Licinio. post inseqid Liciniumfacio Atilium.
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...
nono loco esse facile facio Luscium. decimum addo causa antiquitatis Enniiun"^'". Auf Absicherung des Urteils durch Berufung auf andere literarkritische Autoritäten ist ersichtlich kein Wert gelegt. Die Einstufimg soll als leichtes Unterfangen und gleichsam selbstverständlich erscheinen, und das angesprochene Gegenüber (vielleicht das Publikum, vielleicht der Widmungsträger des Werkes) soll sich nur wundem müssen, wie die multi, die sich an der richtigen Einschätzung versucht haben, solange über die wahre Rangfolge der Autoren hatten im Zweifel sein können. Mit Begründimgen für seine Plazierungen verfährt Volcacius überaus sparsam: N w dreimal ist eine solche wenigstens angedeutet: 1) Das Beiwort, das dem siegreichen Caecilius gegeben wird: mimicus ist vielleicht mehr als 'metri causa' gesetztes Füllwort, köimte etwa das expressive gestisch-mimische Talent der Caecilischen Bühnenfiguren herausstreichen^^'. 2) Die Attribuierung des Naevius: qui fervei (so aus dem 'qui servet' der Handschriften hergestellt in der ed. Bellovis [1508]) ist textlich ganz unsicher (mir wenigstens scheint die Prädizierung zu abgerissen und nicht gut lateinisch)^^^, lieferte aber doch zumindest den Ansatz einer Begründung^^^.
^^ Mimico ist Konjektur Jac.Gronovius'. Courtney zieht es vor, das comico mancher Handschriften in cruces zu setzen. Zu weiteren Vorschlägen vgl. seinen Apparat. Courtney, FLP, stellt jetzt um: antiquitatis causa decimum addo Ennium ("... the lack of a caesura would be very exceptional"; vgl. jedoch Crusius, Rom. Metrik, § 73). Vgl. M.Schuster, RE 33, 1, s.v. 'Volcacius Sedigitus', 749. ^^^ Sehr bedenkenswert D.R.Shackleton Baileys Konjektur cum (quom) für qui: '"Naevius, when he warms up, comes third,' with the implication that he falls below third place much of the time" {Notes on Minor Latin Poetry, Phoenix 32, 1978, 305-25, dort 305).
Der'Komiker-Kanon'
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3) Eimius ist - so der vielzitierte Ausspruch - causa antiquitatis mit aufgeführt. So subjektiv, zugleich lakonisch und leidenschaftlich konnte nur jemand urteilen, der entweder seinen Zeitgenossen als anerkannter Kunstrichter galt (dazu paßt das hohe Lob noch bei dem älteren Plinius, der den Volcacius inlustrem in poetica nennt^^'') oder doch selbst von seinem literarkritischen iudicium so überzeugt war, daß er nicht anders als im selbstbewußten Tonfall eines Meisters in poetica sprechen wollte oder koimte. Die herausfordernde Schreibart des Volcacius, der es nicht nötig hat, von den Gründen seiner Urteile Rechenschaft zu geben, paßt, meine ich, besser noch als auf den Stuben- und altersweisen Gelehrten auf einen Mann, der mitten in den Kämpfen und subtilen Auseinandersetzungen eines bewegten literarischen Lebens steht^^' (wie es schon die Prologe des Terenz, die Bruchstücke des Accius und besonders Lucilius für das mittlere und späte 2. Jh. bezeugen). Die verve, mit der er seine Ansichten vorträgt, erinnert (wie man längst gesehen hat^^^) an den agonistischen Eifer des größten und bestbekannten Autors jener Epoche: Lucilius. Ob und in welcher Beziehung Volcacius zu dem frühen Meister der satura gestanden hat, läßt sich nicht mehr ermitteln. Die stark subjektiv ausgerichtete Kritik des Volcacius macht mir die in der Forschung kaum je bezweifelte^^^ - direkte Beziehung auf die πίνακες (Kallimachos, Krates u.a.) und canones^^^ der gelehrten alexanSchuster, ebd., in Übereinstimmung mit seiner oben, Anm. 227, dargestellten GesamtaufTassung des Kanons: "Also auch hier war es italische-jugendliche Feurigkeit... und possenhaft-kraftvolle, ungeschlachte Ausdrucksform, kurz gesagt die vis comica, die des Kritikers Wertmesser bildete". "^Plin. nat. 11,244. Vgl. Büttner, 36, u. H.Bardon , La littérature Latine inconnue I, Paris 1952, 128. Vgl. Leo, ebd., 434, Schuster, ebd., 751. Ich nenne nur Bardon, ebd., 130, Schuster, ebd., 750, u. neuerdings Courtney, FLP, 96 (der aber richtig einschränkt: "This poem is not really a 'canon', but is obviously very like one"). Der Terminus ist (in der heutigen Bedeutung) nicht antik. Erst D.Ruhnken scheint ihn, wie H.Oppel, ΚΑΝΩΝ - Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes und seiner lateinischen Entsprechungen (r^jila-norma), Leipzig 1937 (= Philologus, Suppl. 30/4), 47, gezeigt hat, geprägt zu haben (1768 in seiner Historia critica oratorum Graecorum, wieder abgedr. in seinrai Opuscula L ^Leiden 1823, die hier interessierende Stelle S. 386). Vgl. auch R.Pfeiffer, Geschichte der Klassischai Philologie - Von den Anfangen bis zum Ende des Hellaiismus, Hamburg 1970, ^München 1978 (Orig.: History of Classical Scholarship, Oxford 1968), 255, u. E.A.Schmidt, Historische Typologie der Orientierungsfimktionen von Kanon in der griechischai und römischen Literatur, in: Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II, hrsg. v. A. u. J.Assmann, München 1987, 246-58, bes. 247f.- Zur modernen Kanon-Forschung s. unten Anm. 579.
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Literaturgeschichtsschreibung in Versen
drinisch-pergamenischen Tradition sehr zweifelhaft. Die ästhetischkritische Philologie der griechischen Dichterprofessoren und Bibliothekare ist mit ihrer beinahe exakten wissenschaftlichen Methodik doch schon nach ihren Intentionen etwas ganz anderes^^'. Daß Volcacius mit der hellenistischen Arbeit vertraut war, kann als gewiß gelten^'"'. Es fragt sich jedoch, ob es ihm in seiner Versdichtung um den Transfer imd die genaue Reproduktion einer skrupulös-pedantischen Literaturwissenschaft gegangen sein kann und nicht vielmehr die oberflächlich-gestrickte Didaxe seiner autoritär präsentierten Liste den genialisch sich aufführenden Polterer und populistischen Meinungsmacher verrät, der das tradierte seriöse Verfahren zugegeben gekoimt - mit nahezu parodistischem Elan konterkariert. In der Vita ferenti haben Sueton bzw. Donat drei weitere iambische Bruchstücke des Volcacius überliefert: Einmal, im epimetron des Donat, ist der Name verstümmelt: Scipionis fabulas edidisse Terentium Vallegius in actione (dafür natione in TFV, enumeratione Leo) ait «fec. Bücheler hatte zunächst zu Vagellius, später treffend zu Volcacius verbessert^"'. Auch mit dem Begriff actio ist in diesem Zusammenhang nichts anzufangen^"^. Leos Konjektur in enumeratione greift Suetons (von Leo selbst ergänzte) Formulierung in der Einleitung zu Fragment 2 C(ourtney)^''^ auf: ... quamvis Volcacius de numeratione omnium ita scribat &c, hat jedoch die Disposition des Sueton gegen sich, der die Authentizitätsfrage im Zusammenhang mit den 'Lebensnachrichten' (s. auch die folgende Seite) behandelte. Da auch das letzte Fragment aus Volcacius' Terenzstudien (4 C) keinem bestimmten Werk zugewiesen ist und die einmal sicher bezeugte {e)numeratio als Werktitel nicht zu gebrauchen ist, kermen wir schlechterVgl. zum Problem der Auslese nur Pfeiffer, ebd., 251-56. ^ Über die Art der Vermittlung hellaiistischer Kultur und Wissenschaft entwickelt im Blick auf das supponierte Milieu des Volcacius- sehr konkrete Vorstellungen M.Coccia, D canone di Volcado Sedigjto, StudRom 7, 1959, 62-65: "... Volcacio non può essere rimasto impermeabile all' influenza siriaca operante potentemente n ^ i ambienti colti della capitale, e proprio dal proemio alla racolta di Meleagro può aver tratto l'ispirazione per la sua valutazione critica della palliata romana" (65). RhM 33, 1878, 492. Skeptisch F.Schöll, Die Verse des 'Vallegius' in der Vita Terentii, RhM 57, 1902, 163-65, dort 164. Ribbeck freilich entwickelt die phantasiereiche Hypothese, daß hier "ein Dichter .. ., mag er nun Vagellius oder sonst wie geheißen haben, in einem iambischen Gedichte, die 'Verhandlung' (actio), den Terenz vor Grericht gefordert und über den wahrai Verfasser der nach ihm benannten Komödien zur Rechenschaft gezogen" habe (Geschichte, ebd. [Anm. 215], 269f). Ich gebe die Ziffern nach Courtneys Fragmaitausgabe, weil seine Numerierung erstmals der vermutlich realen Abfolge der Stellen in Volcacius' Werk Rechnung trägt (s. darüber die folg. S .)
Volcacius De poetis
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dings nur den einen Titel: De poetis, dem die Forschung denn auch allgemein und, wie ich glaube, zu Recht die 'titellosen' Fragmente unterstellt hat. Zum Inhalt der Bruchstücke: Fragment 4 С ist der Schluß eines Abrisses über die vita Terenti, der sich ganz wie die metrischen argumenta der Plautinischen Komödien oder die Terenz-Periochen des C.Sulpicius Apollinaris liest: "sed ut Afer populo sex dédit comoedias, iter hinc in Asiam fecit ^'" navem ut semel conscendit, visus numquam est; sic vita vacat". Wenn wir mit Leo annehmen dürfen, daß der Terenzbiographie des Volcacius die (auch von Sueton befolgte) Disposition: "1) die äußeren Lebensnachrichten bis an den Tod, 2) die Produktion, 3) der Tod" zugrunde lag^'*^, werden Fragment 4 С die Fragmente 2 C: "sumetur Hecyra sexta ... ex his fabula"^"^ und 3 C: "hae quae ^'" vocantur fabulae, cuiae sunt? non has iura qui populis [retentibus] dabat honore summo afifectus fecit fabulas?" vorausgegangen sein. Volcacius hat also (wie Accius und - wie wir noch sehen werden - Porcius Licinus) die Echtheitskritik berücksichtigt, hat außerdem sein Urteil auch über die einzelnen Stücke gegeben. Möglicherwei^ Suppl. Roth (probante Leo), nicht Leo, wie Büchner, FPL, und noch Blänsdorf annimmt. Courtney folgt der Überlieferung (cod. S): in navim ut semel / conscendit. ^'Ebd. 433 Aran. 3. ^ Courtney supponiert vorausgehenden Wortlaut des Sinnes: und ergänzt ansprechend a te im vorli^enden Vers (ebd. 88 u. 94f ). Ritsehl hatte (nadi Donats epimetron zur vita Terenti) simitur Hecura sexta exclusast fabula hergestellt {Vita Terenti, a F.Ritsdielio emend. & enarr., in: C.Suetoni Tranquilli praeter Caesarum libros reliquiae, ed. A.Reifferscheid, Leipzig 1860 [Nachdr.: Hildesheim/New York 1971], 26-35, dort 29). Suppl. Courtney (probante Blänsdorf; Morel u. Büchner folgen Bücheler; hae quae vocantur fabulae [als unmetrisch erkannt und ausgeschieden von Courtney, probante M.D.Reeve, CR 49, 1999, 4 2 ^ 5 , dort 43], auf den auch die Athetese im folgenden Vers zurückgeht); über die verwickelte Geschichte der Restauration der Verse macht man sich am besten ein Bild aus Ritschis Apparat (in Reifferscheids Suetonausg., s. die vorige Aran ).
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Literaturgeschichtsschreibung in Versen
se in demselben Werk De poetis fand sich auch sein von Gellius^'*^ bezeugter index Plautimis. Das Urteil des Gellius über die Zuverlässigkeit der Volcacischen Angaben betreffs der Authentizität der Plautinae ist wenig schmeichelhaft und nur deshalb nicht vernichtend, weil es außer Volcacius auch eine stattliche Reihe von anderen, z.T. durchaus angesehenen Grammatikern trifft. Weiter läßt sich über Volcacius und sein Werk nichts Sicheres ermitteln. Da sein Lehrgedicht De poetis überschrieben war, wird es nicht allein von den Komikern, sondern mindestens noch von der Tragödie und vielleicht auch vom Epos gehandelt haben. Es ist auch anzunehmen, daß er sich über römische und griechische Dichter gleichermaßen verbreitete^''®. Auch der nächste Autor, mit dem wir uns in unserer Archäologie der römischen Literarhistorie^'° beschäftigen müssen, hat in Versen geschrieben, in trochäischen Septenaren, soweit wir wissen: Porcius Licinus. Auch sein Werk (wir keimen nicht einmal den Titel) ist bis auf wenige Reste verschollen. Inmierhin sind es Varrò, Cicero und wiederum der ältere Plinius (bei Charisius), Sueton und Gellius, denen die sieben Bruchstücke verdankt werden. Wie Accius ist Porcius Dichter und Kritiker zugleich: Gellius überliefert im 19. Buch seiner Noctes Atticae^^^ neben dichterischen Proben aus Valerius Aedituus und Quintus Lutatius Catulus ein Epigramm des Porcius (frg. 7 C^^^). Hierher könnte auch Fragment 6 С gehören:
"^'0611.3,3, 1. Beide Vermutungen sind schon von Leo, ebd., geäußert. ™ Es ist interessant, in der GescHchte der modernen Literaturgeschichtsschreibung den Prozeß der überaus langsamen Wiedergewinnung 'verschütteter' oder verschüttet geglaubter Autoren zu verfolgen. Porcius Licinus z.B. ist noch in Wolfs Vorlesung über die Geschichte der römischen Literatur, ebd. (Anm. 64), 252, nicht viel mehr als ein Name, der unter den 'Epigrammatisten' b ^ ^ e t (obwohl zugesetzt ist: "Ganz kann man ihn nicht hierher rechnai. Cf Gellius 17, 21. 19, 19"). Die Zeit ist ganz willkürlich als "im zweiten punischen Kriege" bestimmt. Noch knapper die Nachrichtrai in Bährs Geschichte der Römischen Literatur, ebd. (Anm. 99), 501 (mit Anm. 4; übrigais rechnet Bähr den 'Vulcatius Sedigitus' zu "den epigrammatisch«! Dichtem Rom's aus der Kaiserzeit" [ebd. 511]). Auch bei Bemhardy (Grundriss der Römischen Litteratur, ebd. [Anm. 60], 214) kommt Porcius nicht über den Bruchteil aner Fußnote (ebd. in Anm. 159) hinaus. Erst Teuffel (ebd. [Anm. 8], 273f ) hat dem Autor ein Dutzend Zeilen gewidmet, wo die Hauptpunkte kurz berührt sind. Ein ansehnlicher Abschnitt findet sich dann bei Schanz-Hosius (ebd. [Anm. 11], 164f., vgl. 166f); dort auch die erste Biblio- u. Doxographie, die den Namai verdient. 19, 9, 13. Die Zitate wiederum nach Courtney (dort S. 70f u. 82-92).
Porcius Licinus
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Varrò, ling. 7, 104: "multa ab ашшаНгш vocibus tralata in homines ... minus aperta, ut Porcii ab lupo: volitare ululantis"^". Oder hat Porcius selbst in einem Gedicht grammatikalischen Inhalts von der Onomatopoiie gehandelt? Ausgeschlossen ist das nicht^^'*. Umgekehrt muß Fragment 5 C: Char. 129 K(eil) = 164 B(arwick): '"fretus, huius fretus' Porcius Licinus, ut Plioius eodem Sermonis Dubii libro VI refert: salsi fretus" nicht notwendig in den 'gelehrten Schriften' des Porcius gestanden haben (wie Morel, Büchner und Blänsdorf durch die Anordnung des Brachstücks vor den epigrammata suggerieren), sondern kann von Varrò, aus dem Plinius vermutìich schöpft, aus den Distichen oder anderen Dichtungen des Porcius zitiert sein. Wie Volcacius hat Porcius das Leben des Terenz behandelt. Das Dutzend Verse, das Sueton zitiert (3 C), wirft kein gutes Licht auf die Machart der Porcianischen Literarhistorie; ja, es fragt sich, ob man den Begriff der 'Literaturgeschichtsschreibung' nicht gar zu arg verbiegen muß, um ihn, auf Porcius angewendet, noch passend zu finden: "Ehim lasciviam nobihum et laudes fiicosas petit, dum Africani vocem divinam inhiat avidis auribus, dum ad Philum se cenitare et Laehum pulchrum putat, dum se ab his amari credit < > 5 crebro in Albamun ^^^ rapitur ob florem aetatis suae, post sublatis rebus ad summam inopiam coactas est, itaque ex conspectu omnium abiit Graeciam in terram ultimam. mortuust Stymphali, Arcadiae oppido. nil P Scipio profuit, nil Uli Laelius, nil Furius, 10 tres per idem ternpus qui agitabant nobiles facillime; eoram ille opera ne domiun quidem habuit conducticiam, sakem ut esset quo referret obitum domini servolus".
Das Zitat nach der Ausgabe von Goetz/Schöll, Leipzig 1910 (Nachdr.: Amsterdam 1964). ^^ Der von Du Gange, gloss, med. et Inf. iat., s.v. 'baulare' mitgeteilte Auszug aus einem (von Reifferscheid, ebd., 247 u. 437, - falschlich? - Suetons Praia zugeschriebenen) Glossar setzt doch wohl einschlägige antike Forschung voraus. Suppl. E.Fraenkei, MH 19, 1962, 223.
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Literaturgeschichtsschreibung in Versen
Mit dem Scipionenkreis ist Terenz auch bei Volcacius (3 C) in Verbindimg gebracht. Aber bei Porcius zuerst lesen wir vom Verdacht der homoerotischen Verbindung (vgl. die Einleitung des Sueton: [quamvis ...] Porcius smpicionem de consuetudine per haec faciat). Das Faktum mag an sich auch in einer literarhistorischen Biographie seinen Platz haben, Porcius aber hat ein melodramatisches Schmierenstück daraus gemacht, das auf den Erfolg beim breiten Publikum berechnet war. Dabei ist er als Verseschmied nicht ungeschickt, versteht es, das heikle sujet zu inszenieren^^®; die populare, antiaristokratische Tendenz ist unüberhörbar^^^. Gewiß hat sich Porcius auch über den berühmten Vorwurf der Mitautorschaft der 'Scipionen' an Terenzens Komödien (Terenz selbst tritt ihm. Ad. 15-21, entgegen^^^) ausgelassen. Der Behauptung, Terenz habe zuletzt in völliger Mittellosigkeit gelebt (V. 11 f ) , mißtraut übrigens (sicher nicht als erster^^^) Sueton. An die Feststellimg: reliquit [sc. Terentius] ... hortulos XX iugerum via Appia ad Mariis (ebd., 33, 4-6), knüpft er die Bemerkung: quo magis miror Porcium scribere: 'Scipio nihil ei profuit, nihil Laelius, nihil Furius: eorum ille opera ne domum quidem habuit conducticiam'. Noch in einer anderen, literarhistorisch relevanteren Frage hat man versucht, die Glaubwürdigkeit der Porcianischen Geschichtsschreibimg in Zweifel zu ziehen: Wir werden sehen, daß der Vorwurf dieses Mal nicht genügend begründet ist. Gellius berichtet 17, 21, 45 folgendes: "eodem ... anno [sc. anno post R. c. quingentésimo undevicesimo] Cn.Naevius poeta fabulas apud populum dédit, quem M. Varrò in libro de poetis primo stipendia fecisse ait bello Poenico primo idque ipsum Naevium dicere in eo cannine.
Ich verweise nur auf die dramatisch gdiäuften Anaphern dum, dum, dum, dum (1-4) u. nil, nil, nil (8f.), den Gebrauch drastisch-metaphorischer Verbindungen: vocem divinam inhiat avidis auribus (2; vgl. Hör. c. Π 13, 31f : pugnas et exactos tyrannos / densum umeris bibit aure valgus) u. in Albanum ... rapitur ob florem aetatis suae (5; wer denkt hier nicht - mit Fraenkei, ebd. - an Ganymedes?) und intensiver Verba: cenitare (3), agitare (10); die starke Antithesis des in V. 5 zusammengefaßten Giückszustandes mit V. 6: ad summam inopiam coactus est. Vgl. Leo, ebd. 437. Vgl. Volcacius, frg. 3 C, u. bes. Sueton, vita Terenti, 30, 2-14 (Raff ). Es ist bei Sueton in allen Dingen mit dem Einfluß Varros zu rechnai. Vgl. nur Leo, Biographie, ebd., 141 ("Wie Probus an die exegetischen und grammatischen Studien Varros angeknüpft, so hat Sueton die Continuität mit Varrò auf dem litterarhistorischesi, antiquarischen und glossographischen Gebiete wieder hergestellt. ... Die Benutzung Varros l i ^ in Angaben über die aiterai Dichter, Terenz eingeschlossen, gleich augenscheinlich in directer und indirecter Bezeugung vor ..."), u. zuletzt Schmidt, ebd. (Anm. 155), 29, der pointiert von "varronische(m) Wein in griechische(n) Schläuche(n)" spricht.
Porcius Licinus
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quod de eodem bello scripsit. Porcius autem Licinus serius poeticam Romae coepisse dicit in his versibus: Poenico bello secundo Musa pinnato gradu intulit se bellicosam in Romuli gentem feram". Die ältere Forschung (ca. 1880-1940) hat aus dieser Notiz ganz überwiegend den Schluß gezogen, "daß Porcius dem falschen Ansatz der ältesten römischen Dichter folgte"^^. Dagegen hat schon R.Büttner gesehen, daß die Verse unmöglich mit vorennianischer Dichtung in Verbindimg gebracht werden können: Weder passe dazu die Gestalt der griechischen musa (die an die Stelle der älteren camena getreten ist), noch füge sich der holprige Gang der Satumier zum pinnatus gradus der römisch-hellenistischen Dichtung: "In Ennius sah Porcius und die ganze hellenistische Richtung in Rom den Vater der römischen Poesie"^^'. Dieser Auffassimg hat in neuerer Zeit H.Dahlmann zu neuer Geltung verholfen: Bei allen Differenzen in der Deutimg des Verspaares^®^ schien die Beziehung auf den wirklichen Archegeten römischer Kunstdichtung nunmehr evident^®. Erst in jüngster Zeit hat Courtney die Diskussion neuerlich angestoßen und die Anspielung des
^ Teuffei, ebd., 274; vgl. Schanz/Hosius, ebd., 165; F.Leo, Plautinische Forschungen ebd., 67f., dens., Livius und Horaz - Ueber die Vorgeschichte des roemischen Dramas Hermes 39, 1904, 63-77, dort 66 mit Anm. 4, dens., Geschichte, ebd., 436, W.Zillinger Cicero und die altrömischen Dichter, (Diss. Erlangen) Würzburg 1911, 5 Anm. 3, Bickel ebd., 42, della Corte, ebd. (Anm. 193), 68, und noch Bardon, Littérature Latine inconnue 1 124f., u. H.Gundel, Porcius Licinus, in: RE 22, 1, 1953, 232f. Ebd. (Anm. 225), 50-52 (das Zitat S. 51). Vgl. dens., Porcius Licinus über den An fang der römischen Kunstdiditung, RhM 55, 1900, 121-30, u. Ribbeck, ebd. (Anm. 215) 269. Umstritten ist nach wie vor der Bezug von bellicosam (mit se od. in ... gentem Je ram): G ^ e n frühere communis opinio verband Leo se bellicosam {Geschichte, ebd., 436 vgl. auch Plautinische Forschungen, ebd., 67f); begründeter Widerspruch schon bei T.Stangl, Altiateinisches (zu Ennius Sa. 58, Cato DAC pr. 4, Porcius Licinus fr. 1) BPhW 34, 1914, 827-32, dort 830-32, sodann bei P.Frassmetti, Explanationes ad Porci um Licinum Petronium et Minucium Felicem, Athenaeum 32, 1954, 384-92, dort 384-86 W.Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter. Livius Andronicus - Naevius - Ennius, Hildesheim 1968, 303f, u. H.Funke, Porcius Licinus fr. 1 Morel, RhM 120, 1977, 168-72, der zudem ansprechend erwägt, in bellicosi (zu Romuli) zu ändern. S. bes. H.Dahlmann, Studiai zu Varrò 'De Pociis', Wiesbadai 1962, 31f (= Abh.Akad.Wiss.Lit.Mainz 1962/10, 583f), O.Skutsch, On three fragments of Poraus Lidnus and on the Tutiline gate, BICS 17, 1970, 120-23, dort 120f, u. R.Häußler, Das historische Epos der Griechen und Römer bis Vergil I, Heidelberg 1976, 128f
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Literaturgeschichtsschreibung in Versen
Porcius auf Naevius gedeutet^^''. So verdienstlich es ist, daß Courtney das Zitat im Zusammenhang der Gelliusstelle gedeutet wissen will, so offensichtlich ist seine Überschätzung der Sorgfalt und Kohärenz der Gellianischen Darstellung^®^. Ja, Gellius spricht seiner Methode im Eingang des hier in Rede stehenden Kapitels selbst das Urteil, wenn er betreffs seiner munteren Excerpiertechnik unverblümt feststellt: "Neque enim id nobis negotium fuit, ut acri atque subtili cura excellentium in atraque gente homìnum συγχρονισμούς componeremus, sed ut noctes istae quadamtenus his quoque historiaeflosculisleviter iniectis aspergerentur". Mit solcher Schriftstellerei ist es wohl vereinbar, daß Gellius, unbekümmert um die Intentionen des Porcius, dessen Zitat in der eilig gefaßten Meinung, es handle von Naevius, seinem Naeviusabschnitt einfügte (daß er die Verse aus Varrò schöpfte ist, wie Courtney zu bedenken gibt, in der Tat ungewiß^®®; noch weniger wahrscheinlich aber ist es bei seiner, wie er selbst zugibt, flüchtigen Arbeitsweise, daß er den Porcius selbst eingesehen hat; er köimte das Zitat also auch einem anderen Kompilator, etwa der frühen Kaiserzeit, verdanken). Die Alternative ist (Courtney hat sie selbst formuliert), daß das Porciuszitat Ennius meint und auch von Gellius so verstanden wird: In diesem Falle wäre es als Fußnote zur Varronischen Fassung der Frühgeschichte römischer Poesie aufzufassen^®^. Es ist möglich, daß Porcius dem Accius in der falschen Ansetzung der dramatischen Anfänge des Livius folgte; aber darauf kommt es hier gar nicht an; vielmehr sollte in den literarisch so bewegten und nicht zuletzt deshalb kurzlebigen Zeiten eines Lucilius, seiner Freunde und Gegner doch mindestens mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß Porcius - vielleicht mit demselben Freimut, dessen Courtney, FLP, 83-86. Ähnlich H.B.Mattingly, L.Porcius Licinus and the Beginning of Latin Poetry, in: Tria Lustra, essays and Notes presented to J.Pinsent, hrsg. v. H.D.Jocelyn, Liverpool 1993, 163-68, der überhaupt für die Accianische Spätdatierung des Livius Andronicus eintritt. Dem widerspricht nicht, was kürzlich A.D.Vardi, Diiudicatio locorum: Gellius and the History of a Mode in Ancient Comparative Criticism, CQ 46, 1996, 492-514, u. J.P.Jensen, Aulus Gellius als Literaturkritiker: Impressionist oder Systematiker? Versuch einer Aufstellung seiner literaturkritischen Werttypologie, CM 48, 1997, 359-88, in eindringlichen Analysai ermittelt haben. Von einem systematischai oder gar wissenschaftlichen Interesse des Literarkritikers Gellius kann die Rede nicht sein. Zuversichtlich dag^en F.Leo, Plautinische Forschungen, Beriin 1895, П912 (Nachdr.: Darmstadt 1966), 67, O.Leuze, Das synchronistische Kapitel des Gellius (Noct. Att. X V n 21), RhM 66, 1911, 237-74, dort 263, u. Dahlmann, ebd. (Anm. 263), 45 (bzw. 597). Vgl. hierzu unten S. 83f.
Porcius Licinus
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sich sein vermutlicher Zeitgenosse Volcacius bediente - die Anfänge der römischen epischen Literatur nach seinem ästhetisch-kritischen fimdierten Gutdünken ex cathedra mit der beginnenden Wirksamkeit des Ennius zu Rom in eins setzte. Die gleiche Frivolität des Urteils, die aus Volcacius' exzeptioneller Hochschätzung der Naevianischen Komödie spricht, könnte Porcius auf die provozierende Mißachtung desselben Autors in rebus epicis geführt haben. Wie immer man die blassen Schemen, die aus jener lebendigen Epoche urtümlicher literarkritischer Auseinandersetzung geblieben sind, im einzelnen bewerten mag: Wir sind noch recht weit entfernt von der leidenschaftslosen Professionalität sowohl wie dem echten Forschergeist der Varronischen Zeit. Zufällig hat sich ein Bruchstück aus Porcius' Enniuskapitel erhalten: Varrò überliefert es ling. 5, 163; im Zusammenhang einer detaillierten Topographie der Servianischen Mauer schreibt er (nach dem Ausfall zweier Blätter im Archetyp): ligionem^^^ Porcius designai cum de Ennio scribens dicit eum coluisse Tutilinae loca (frg. 2 C). Skutsch hat daraus ansprechend das Trochaeenfragment: "... cóluit Tutilinaé loca" gezogen^^'. Porcius hat also wie vom Leben des Terenz auch von dem des Ennius gehandelt und wie - vermutlich - Volcacius sich nicht auf die dramatische Dichtung beschränkt. Aus dem Abschnitt über die letztere, wohl demselben, dem die von Terenz handelnden Fragmente entstammen, ist auch das letzte bei Cicero erhaltene Bruchstück des Porcius genommen: fin. 1, 2, 5, lesen war: ut, cum Sophocles vel optime scripserit Elee tram, tarnen male conversam A til И mihi legendam putem, de quo Licinus^^° ferreum scriptorem, verum, opirwr, scriptorem tamen, ut legendus sit Seit langem ist der Umfang der von ^^^ Zu den Restitutionsversuchen s. Skutsch, ebd., 121f. Ebd., 121f Zustimmend Courtney, FLP, 86,- Skutsch geht freihch noch weiter und formt aus Hieronymus' knappen Angaben (chron. p. 133 H[elm]; habitavit [sc. Ennius] in Aventino parco admodum sumptu contentus et unius ancillulae ministerio) den folgenden trochäischen Septenar: ádmodum pareó contentus sumptu et una ancíllula, den er sich nicht scheut direkt an das soeben aus Varrò gewonnene Trochäenfragment anzuschließen. A.Traina u. M.Bini, Supplementum Morehanum, Bologna 1986, haben bade Rekonstruktionen, letztere gewiß zu Recht, mit einem Fragezeichai versdien (15). Die Handschriften habai Licinius bzw. Lucinius, woraus Th.Schiche in seiner Ausg., Leipzig 1915 (Nachdr.: Stuttgart 1976 u.ö.), unglücklich Lucilius gemacht hat (den Vorgänger Detlefsen, Philologus 42, 1888, 182, auf den schon Morel verweist, kennt oder naint er nicht). Richtig schon C.F.W.Mueller in der früheren Teubneriana: Licinus.
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Cicero zitierten Porciusstelle umstritten. Madvig war vehement für das Kurzzitat ferreum scriptorem eingetreten^^'; ihm folgen die meisten neueren Erklärer^^^. Wiederum ist es Skutsch, der - auf ältere Forschung (vor Madvig) sich berufend^^^ - die Diskussion neu belebt hat. Danach soll sich das Porciuszitat bis legendus sit erstreckt, also einen vollständigen trochaeischen Septenar und den Anfang eines zweiten Septenars umfaßt haben^^"*. Schwerwiegende Einwände gegen eine solche Auffassung der Stelle hat schon 1952 Henri Bardon formuliert: Das den folgenden Satz anschließende enim {rudern enim esse omnino in nostris poetis aut imrtissimae segnitiae est aut fastidii delicatissimi) "se comprendrait mal s'il se greffait sur une citation; en outre, le septénaire de Büttner, sans être incorrect, présente des césures qui le rendent suspect quand on songe aux réelles qualités métriques des fragments authentiques de Licinus"^^'. Weim wir also auch Skutschs Optimismus, ein lange verdächtigtes Trochaenfragment aufs neue dem Porcius vindizieren zu köimen, nicht durchweg teilen, so lernen wir doch aus der Cicero-Stelle soviel, daß Porcius Accius und Volcacius auch darin ähnlich ist, daß er die ästhetisch-kritische Seite der Literaturhistorie (wie sie schon in der bloßen Prädikation des Atilius als ferreus scriptor zum Ausdruck kommt) nicht weniger pflegte als ihren historisch-biographischen Teil. Es bleibt von den frühesten bekannten römischen Literarhistorikern Q.Valerius zu behandeln übrig, der nach dem volskisch-latinischen Städtchen, dem er entstammt, 'Soranus' beigenannt wird. Über ihn sind wir dank Varrò und Cicero, die ihn beide noch gekannt haben, besser unterrichtet als über Volcacius und Porcius. Für die äußeren Lebensumstände verweise ich auf den trefflichen Aufsatz von Conrad Cichorius Zur Lebensgeschichte des Valerius Soranus^^. Bei Cicero, de orat. 3, 11, 43, trägt er (im Munde des Ausg. Definibus ..., Kopaihagai Ί 8 7 6 (Nachdr.: Hildesheim 1963), ad loc. ^^ Ich netme nur Leo, Gesdiichte, ebd., 437 Anm. 2, Bardon, 125, u. die Sammlungen von Morel u. Büchner. Er hätte auch O.Ribbeck, Die römische Tragödie im Zeitalter der Rqjublik, Leipzig 1875 (Nachdr.: Hildesheim 1968), 608, D.Detlefsen, Verse im Cicero, Philologus 42, 1884, 181-83, dort 182, u. Büttner (1893), 53-55 (probante Norden, ebd. [Anm. 226], 486), anführai könnai. Zustimmend Courtney, ebd., 90, u. jetzt L.D.Reynolds in der neuen Oxoniensis des Werkes De finibus (1998), dessen Vorschlag (im app.crit.), ut legendus sit zu tilgen, vielleicht das Richtige trifft; unentschieden Blänsdorf. Ebd. 125. Hermes 41, 1906, 59-68. Die unglückliche Gleichsetzung des Soraners mit dem Epigrammatiker Valerius Aedituus durch Büttner (1893), 116-24, die noch F.della Corte, Per l'identità di Valerio Edituo con Valerio Sorano, RFIC 13 (N.S.), 1935, 68-70, vertrat, kann heute für erledigt gelten.
Q. Valerius Soranus
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Crassus) den Ehrennamen litteratissimus togatonim omnium. Φιλόλογος άνήρ καΐ φιλομαθής έν ολίγοις heißt er noch bei Plutarch, vita Pomp. 10. Noch die wenigen Fragmente zeugen von einem vielseitigen Gelehrten und Altertumsforscher: Wenngleich sich nichts erhalten hat, das sich eindeutig einem literarhistorischen Werk zuschreiben ließe, gehört doch wenigstens der von Varrò, ling. 10, 70, überlieferte Vers ganz in die Nähe der auch von Accius, Volcacius und Porcius gepflegten 'Literaturdichtung': "Accius Hectorem nollet facere, Hectora mallet" (frg. 1 C). Aus einem (wohl prosaischen) Werk etymologischen Inhalts stammt das Zeugnis bei Varrò, ling. 7, 65: "scrappedam... Valerius a pede ас scnipea" (frg. 3 M/Bü/Bl). Hierher oder in eine unbestimmte antiquarische Schrift wird auch die Notiz des Gellius, 2, 10, 3, gehören: "Varrò ... Q.Valerium Soranum solitum dicere ait, quos 'thesauros' Graeco nomine appellaremus, priscos Latinos 'flavisas' dixisse, quod in eos non rade aes argentumque, sed fiata signataque pecunia conderetur" (frg. 7M [= 6B/B1]). Man wird Morel zustimmen dürfen, wenn er für wahrscheinlich hält, daß Valerius dgl. Bemerkungen auch schriftlich niedergelegt hat. Auf desselben religionswissenschaftliche Abhandlung in Versen, aus der Varrò in dem De cultu deorum handelnden Abschnitt seiner Antiquitates zwei Verse zitiert^^', müssen wir hier nicht eingehen. Auch das geheimnisvoll Έπόπτιδες vüoQT^chÚQbeae. Werk^^^, dessen religionsphilosophischen Gehalt T.Köves-Zulauf in einer geistreichen Abhandlung wenigstens in Umrissen kenntlich zu machen gesucht hat^^', fällt außerhalb unseres Untersuchungsinteresses.
Bei Augustinus, civ. 7, 9. Den Titel überliefert der ältere Plinius, nat. praef. 33. "Έπόπτιδες" des Valerius Soranus, RhM 113, 1970, 323-58.
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Literaturgeschichtsschreibung in Versen
"quid multa? homines visi sumus. Hospes tarnen non is cui diceres: 'Amabo te, eodem ad ше revertere.' Semel satis est. Σπουδαΐον ούδέν in sermone, φιλόλογα multa." (Cicero am 19. 12. 45 an Atticus über einai Besuch Caesars vom selben Tage)
Die - mindestens teilweise - poetischen Anfänge der römischen Literarhistorie haben uns fast in die Hochzeit der spätrepublikanischen Literatur geführt. Es mag daher am Platz sein, dieses Kapitel mit zwei kuriosen Fragmenten aus der poetisch-literarhistorischen'
ffinterlassenschaft
der beiden
überragenden Autoren jener Epoche zu beschließen: In derselben ferenti,
vita
der wir schon die bedeutendsten Bruchstücke des Volcacius imd
Porcius verdanken, zitiert Sueton zum Abschluß vier Verse aus dem /Ifi/ziWKûberschriebenen poetischen Frühwerk^®° des Cicero xmd läßt dann sechs Verse des C. Caesar folgen. Sueton schreibt^^' : "Cicero in Limone hactenus [sc. Terentium] laudai: 'tu quoque qui solus lecto sermone, Terenti, conversum expressumque Latina voce Menandrum in medium nobis sedatis f vocibus f^^^ effers, quiddam come loquens atque omnia dulcia dicens'. item C.Caesar^®': Zur Datierung s. unten S. 74.- Für die Beschäftigung mit Ciceros Poetica noch immer nützlich die kommentierte Sammlung von W.W.Ewbank, The Poems of Cicero, London 1933 (Nachdr.: New York/London 1978 u. zuletzt London 1997). Neben den oben zitierten Fragmentsammlungen (Morel/Büchner/Blänsdorf/Courtney) ist die kritische Ausg. v. A.Traglia, M.Tulli Ciceronis Poetica Fragmenta, Mailand 1963, Ί971, einzusehen. Suet. vita Ter. 7. Das Zitat nach Courtney: Cie. fr. 2 u. Caes. fr. 1 (beide S. 153). Über die Berechtigung der cruces läßt sich trefflich streiten. Barths (von Ritsehl [der freilich auch moribus erwägt] unterstützte) Konjektur motibus ist g^enüber der Überlieferung keine entscheidende Verbesserung. Erwägenswert Courtneys eigener Vorschlag versibus. Diese Zwischenbemerkung wurde als eingeschobene Marginalglosse (zu tu quoque [sc. Brute]) verdächtigt und getilgt von L.Herrmann, César ou Cicerón?, MB 34, 1930/32, 243-45 (zustimmend P.Ferrarino, D "Limon" di Cicerone, SIFC 16, 1939, 51-68). Die Athetese ist überzeugend zurückgewiesen von G.Perrotta, Date a Cesare quel eh' è di Cesare, SIFC 16, 1939, 111-25, L.Alfonsi, Ancora sul "Dimidiatus Menander", RFIC 24, 1946, 3 2 ^ 3 , u. bes. W.Schmid, Terenz als Menander latinus, RhM 95, 1952, 229-72 Die Urheberschaft des Caesar wurde erneut in Frage gestellt durch E.Bickel, C.Caesar L.f, RhM 100, 1957, 1 ^ 1 . Bickel vermutet als Quelle das Carmen didascalicum des C.Julius Caesar L.f Vopiscus Sesquiculus, des in Sullanischer Zeit lebenden Lehrers Ciceros. Vgl hierzu die Erwiderung durch K.M.Abbott, A rediscovered fragment of C.Juhus Caesar L.F. (Vopiscus)?, CJ 58, 1962/63, 68.
Cicero u. Caesar
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'tu quoque, tu in summis, о dimidiate Menander, poneris, et merito, puri sermonis amator. lenibus atque utinam scriptis adiuncta foret vis comica, ut aequato virtus polieret honore cum Graecis neve hac despecta ex parte iaceret^*"! unum hoc maceror ac doleo tibi desse, Terenti'". Beide Dichtungen "gehören offenbar in die Nachfolge der historischkritischen Gedichte, die Volcacius und Porcius über die römischen Dichter verfasst haben" (Leo^^^). Im strengen Sinn mag dies freilich nur für Ciceros Verse gelten, die allem Anschein nach den Caesarianischen vorausgingen^^®. Durch die Überlieferung als excerptum']е.жх /Ι^ί/ζών überschriebenen Gedichtesammlung^^^ wie durch den unvermittelten, offenkundig überleitenden Auftakt (imd den offenen Schluß) geben sie sich als Teil einer wohl thematisch durchkomponierten, vielleicht echt literarhistorischen Sammlung zu erkeimen. Caesars Verse böten dann die okkasionelle vielleicht parodistisch gemeinte - Allusion an die Dichtimg des bekannten Zeitgenossen^^®. Die literaturgeschichtliche Komponente der Ciceronischen ^^ Ich folge hier der editio princeps (Rom 1472). Die codd. haben sinnloses despecta ex parte iaceres, R ^ u s u. Calphumius despectus parte ¡aceres (so auch Morel [probante Jachmann, WS 60, 1942, 71 Anm. 1], Büchner u. Blänsdorf); Courtney liest mit Badirens despecte ex parte iaceres. F L., EHe römische Poesie in der Sullanischen Zeit, Hermes 49, 1914, 161-95, dort 195 (wiederabgedr. in: ders.. Ausgewählte Kleine Schriften, hrsg. v. E.Fraenkel, 2 Bde, Rom 1960, I 249-82, dort 282). Leo mußte die weitere Ausführung seines Gedankens schuldig bleiben. Die posthum erschienene Fortsetzung des 1. Bands seiner Geschichte der römischen Literatur bricht mit dem zitierten Satz ab. ^^ Abhängigkeit der Caesarianischen Verse von den Ciceronischen vertritt - nach Leo, ebd., 194 (bzw. 2 8 1 f ) - u.a. Büchner; "C[icero] könnte, wenn Caesar vorangegangen wäre, kaum Terenz so formlos loben" (K.B., M.Tullius Cicero, Briefe und Fragmente der Dichtungen, in: RE 7, 1 [1939], 1236-74, dort 1258). Jedoch teile ich Büchners Ansicht nicht, daß Caesar hier die Rolle des "Verbesserer(s)" (ebd.) zukommt. Zur Tradition der lateinischen 'Blütenlese(n)' s. zuletzt Verf., Anthologie. [2]: Lateinische Literatur, in: Der Neue Pauly 1 (1996), 737f Zur Geschichte und Überlieferung des (Suetonischen) Pratum s. P.L.Schmidt, Suetons 'Pratum' seit Wessner (1917), m ANRW 33. 5, 1991, 3794-3825, bes. 3801f ^^ Leo, ebd., 195 (bzw. 282) u. Anm. 1, daikt freilich auch hier an einai "Cyklus, eine poetische Übersicht über die Dichter". Den Stegreifcharakter der Caesarverse betont dagegen Schmid, ebd. (Anm. 283), 269f.: "Man könnte sich die Cäsarverse gut als ein aus dem Augenblick heraus entstandenes Billet denken, das bei einem mit der Erörterung literarischer Fragai gewürzten Symposion aus dem Stegreif hingeworfai wurde. ... Möglich, daß bei einer solchen Gelegenheit sogar Cicero selbst dabei war ..." (269 mit Hinweis auf die obai als Motto gegebene Briefstelle). Mir erscheint eine solche Konstruktion plausibler als E.G.Sihlers Rekurs auf die gemeinsame Schülerschaft bei dem Grammatiker Antonius
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Literaturgeschichtsschreibung in Versen
Verse (wenn wir sie denn postulieren dürfen) resultierte aus der kritischen Musterung, vielleicht Zusammenschau einer den chronologischen Gesichtspunkt gewiß nicht ganz vernachlässigenden Reihe bemerkenswerter Autoren. Ich sehe nicht, warum Cicero eine solche Sammlung nicht schon, wie früher allgemein angenommen wurde, als junger Mann vorgelegt haben soll^^®. Bei einem kritischen Organon, einer Blütenlese literarkritischer Urteile ist es sehr wohl denkbar, wenn nicht natürlich, daß es zu Zeiten intellektueller Ausbildung (intensive Lektüren und Stilübungen) und Reifung entstand. Von dem erhaltenen Bruchstück auf das Verlorene zu schließen, ist schwerlich möglich. Immerhin ist deutìich, daß sich die 'besprochenen' Autoren an den griechischen 'Vorbildern' messen lassen mußten. Die Apostrophe {tu quoque ... Terenti ... effers) des Autors und seine Vermittlung mit dem Publikum (nobis) deuten auf eine Verbindlichkeit des Tons, die systematologische und schon gar wissenschaftliche Ambitionen von vornherein ausscЫießt^^°.
Dessen ungeachtet oder gerade deswegen haben Ciceros und Caesars versifizierte Kritiken Karriere gemacht^^' und die gesamte moderne Menander- und Terenzforschung beschäftigt.
Gnipho (E.G.S., C.Julius Caesar, Leipzig 1912, 5, zustimmend K.M.Abbott, О dimidiate Menander: An Echo from a Roman Schoolroom?, CJ 57, 1961/62, 241-51, u. zuletzt Courtney, S. 155). V ¿ . nur Schanz/Hosius I 535f. Die Einwände bei Büchner, ebd., 1258f.: "Gegen Leo ... muß geltend gemacht werden, daß ein so reifes Urteil, das C. zum Anlaß seines Gedichtes nimmt, besser von keinem Knaben oder Jüngling gesprochen wird ... Außerdem wird es C. näher g e l t e n haben, die feine und ruhige Art Teraizens zu würdigen, als er selbst durch die griechische Reise von seiner emphatischen Vortragsweise zu einer ruhigerai sich gefunden hatte". Der historischen Psychologie sind in der philologischen Argumaitation enge Grenzai gesetzt. Zur literaturkritischai Taidenz der poemata s. bes. Schmid, ebd., passim. Zum Stellenwert der Dichtungen (bes. der Aratea) in Ciceros Biographie s. jetzt H.Karamalaigou, L'oeuvre poétique de Cicerón et le loisir romain, in: J.M.André/J.Dangel/P.Demont (Hrsg.), Les loisirs et l'héritage de la culture classique Brüssel 1996, 379-89. Noch Ausonius spielt im Autorenkatalog seines Protrepticus auf Ciceros Poem an: tu quoque, qui Latium lecto sermone, Terenti,/ comis et adstricto percurris pulpita socco,/ ad nova vix memorem diverbia coge senectam (p. 23 Green [der Hinweis bei Courtney]).
III. Literarhistorie und 'Literaturwissenschaft': M.Terentius Varrò
"VARRÒ, Marc. Terent. ein Römer, welcher 60 J. vor C G. um das 3890 J.d.W. gelebet, und sdir viel geschrieben hat, wovon dessen HI Bücher de re rustica mit verschiedener Anmerkungen in Gesneri scriptoribus rei rusticae; was aber noch von seinen Büchern de lingua lat. übrig ist, in Perotti Comu copiae und Gothofredi autoribus linguae latinae, stehen." (B.Hederich, Gründliches mythologisches Lexicon [1770])
Wenn eines römischen Autors Werke in dem von uns behandelten Zeitraum Anspruch machen können auf den Titel wissenschaftlicher
Literarhistorie,
dann sind es vermutlich die einschlägigen Schriften des 'Jahrhundertgelehrten' M.Terentius Hier vor allem dürften all jene in Erklärungsnot geraten, die den Römern a priori
den Sinn fürs Literaturgeschichtìiche abgesprochen, ja das
Vorhandensein römischer Literarhistorie überhaupt bestritten haben. Erhalten hat sich nicht viel, aber seit der sensationellen Entdeckung des einen ansehnlichen Teil der Varronischen Schriften aufführenden Katalogs des Hieronymus durch Thomas Phillipps und Ludwig Urlichs (1848)^^^ haben wir eine Vorstellung von dem Ausmaß der Literaturforschung des Reatiners. Friedrich Ritsehl schrieb noch im Jahr des Fundes seinen grundlegenden
Antike testimonia seiner Wertschätzung bei Funaioli, GRF, 181f. - "И terzo gran lume romano", den dritten großen Römer nach Vergil und Cicero, nennt ihn noch Petrarca {Trionfo della Fama Ш 38), und so hat F.della Corte seine Studie Varrone, Florenz 1954, 4970, untertitelt. Der Katalog aitstammte einer Handsdirift der Bibliothek zu Arras. 1856 machte C.Chappuis, Sentences de M.Terentius Varron et liste de ses ouvrages d' après différents manuscrits (Paris), auf zwei weitere Quellen aufmerksam: die Pariser Handschriften 1628 u. 1629 (darüber s. unten S. 92f.). Der Katalog, den Hieronymus einem noch weit umfangracheren Schriftenverzeichnis des Origenes g^enüberstellte, ist im Zusammenhang eines Auszugs aus einer Vorrede zum Genesiskommentar des Origenes (in der Übersetzung des Rufinus) überliefert. Ritsehl vermutete ansprechend, daß der Werkkatalog auf Varros autobiographische Schrift De vita sua zurückgehe (s. nächste Anm., 489ff.).
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M. Terentius Varrò
Aufsatz über Die Schriftstellerei
des M.Terentius
Varro^^'^, der bis heute
den Ausgangspunkt für jede Beschäftigung mit dem Gegenstand bildet. Die in dem Schriftenverzeichnis aufgeführten literaturgeschichthchen Studien des Varrò sind folgende^'^: 15 Bücher
Imaginum
5 B. Quaestionum ЪВ. De
Plautimrum
poematis
3 B. De scaenicis
originibus^^^
3B. De actionibus 3 B. De actis 3 B. D e
scaenicis^^
scaenicis
descriptionibus
3 B. De proprietate 3 B. De
scriptorum
bibliothecis
3 B. De
lectionibus
3 B. De
personis
Nicht überliefert bei Hieronymus, der seine Leser nicht durch weitere Aufzählung ins fastidium
treiben will^®^, aber aus anderer Quelle bekannt
sind Schriften Depoetis (3 B.) De comoediis Plautinis (? B.) περί Χ α ρ α κ τ ή ρ η ν (3 В. ?) De compositione saturarum (? B.)^^®. Erschienen zuerst im RhM 6, 1848, 481-560 (wiederabgedr. in F R., Opuscula philologica III, Leipzig 1877, 419-505, wonach hier zitiert wird [Nachdr.: HildesheiiWNew York 1978]). Die Schreibweise ist, wo die Überlieferung orthographisch fehlerhaft ist, verbessert (nach Ritschl). De originibus saeculi bei Hieronymus: scaenicis emend. Ritsehl; die geänderte Wortstellung (nach Nonius, Censorinus und Charisius) seit Funaioli, GRF, p. 215. Diese Wortfolge beim älteren Plinius, Charisius und Priscian; Hieronymus: De scaenicis actionibus. Hieronymus bricht ab mit der Bemerkung: et alia plura quae enumerare longum est. Fix medium descripsi invicem et legentibus fastidium est. Zu den genuin literarhistorischen Schriften tritt, wie die Forschungen des DahlmannSchülers H.Geller erhärtet haben, die Menippea Parmeno hinzu ("Die Parmeno-Satire Varros erwies sich als eine Art ars poetica im Gewände einer Menippea", H.G., Varros Menippea "Parmeno", piss.] Köln 1966, 75); die Fragmente bei R.Astbury, M.Terentii Varronis saturarum Maiippearum fragmaita, Leipzig 1985, dort die Nm 385-99.- Auch in den Antiquitates divinae war in den Büchern 9 (de ludis circensibus) und 10 (de ludis scaenicis) manches literarhistorisch Wertvolle mitgeteilt (s. P.L.Schmidt, Postquam ludus
Varros literaturgeschichtliche Arbeit
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Schon aus den bloßen Titeln erhellt für unsere Fragestellung mindestens dreierlei: 1) Die Mehrzahl der Schriften gibt sich durch den Titel als monographische Literaturforschung zu erkennen. Eine Quaestiones Plautinae oder De compositione saturarum überschriebene Studie wird kaum in strengem Siim historiographisch angelegt gewesen sein. Was über diese Schriften zu ermitteln ist (es ist wenig genug), ist von Hellfried Dahlmann, dem besten Kenner der Materie, in zahlreichen Veröffentlichungen zu Varronischen Werken^°° luzide dargelegt. Ich begnüge mich mit diesem Hinweis, weil wir es hier nicht mit monographischen Dokumenten literaturgeschichtlicher Arbeit zu tun haben. 2) Nichtsdestoweniger handelt es sich auch bei solchen Monographien um literarhistorische Arbeit, freilich in dem oben (S. 49) angegebenen weiteren Sinn. Wenn wir also das Vorhandensein genuin literaturwissenschaftlicher Forschung anerkennen müssen, ist die Leugnung literarhistorischer Studien im engen Sinn methodisch mindestens bedenklich. Zumal 3) von den überlieferten Titeln wenigstens drei deutlich auf ihre literaturgeschichtliche Anlage verweisen und auch häufig in diesem Sinn aufgefaßt worden sind; es handelt sich um: a) die 3 B. De actionibus scaenicis bzw. 3 B. De actis scaenicis b) die 15 B. Hebdomades vel De imaginibm c) die 3 B. De poetis. Zu a) In einer Geschichte der dramatischen Literatur pflegt es für Autor und Leserschaft von nicht unerheblichem Interesse zu sein, wann die vorgestellten und zum Teil ausführlicher behandelten Stücke zum ersten Mal aufgeführt wurden. Von dem berühmten sog. Epochenjahr' der römischen Dramatik, der ersten Auffühnmg eines Stückes durch Livius Andronicus
in artem paulatim verterat. Varrò und die Frühgeschichte des römischen Theaters, in: Studien zur vorliterarischen Periode im frühen Rom, hrsg. v. G.Vogt-Spira, Tübingen 1989, 77-134, dort 107f.). ^^ Grundl^end ist der Varros literarhistorischen Arbeiten gewidmrte Abschnitt seines RE-Artikels M.rerenftttó Varrò, RE Suppl. VI, Stuttgart 1935, 1172-1277, dort 122029. S. auch dens., Varros Schrift 'de poematis' und die helleiistisch-römische Poetik, Mainz/Wiesbaden 1953 (= AAWL 1953, 3), dens., Studien zu Varrò 'De poetis', Mainz/Wiesbaden 1962 (= AAWL 1962, 10), dens., Zu Varros Literaturforschung, besonders in "De poetis", in; Varron, Entretiens К , Genf 1963, 1 - 2 0 (wiederabgedr.: Kl.Sehr., Hildesheim/New York 1970, 81-98), dens., Varroraana, in: ANRW 1, 3, 1973, 3-25.
78
M. Terentius Varrò
(240 V. Chr.), wird weiter unten noch die Rede sein^°'. Auf dieses Datum mußte Varrò naturgemäß in allen dramen-, ja literaturgeschichtlichen Schriften Bezug nehmen. Er hat aber vermutlich dem Problem der Chronologie der dramatischen Aufführungen eine eigene Studie gewidmet, nur ist nicht ganz klar imd wohl auch nicht mehr mit Gewißheit zu ermitteln, ob er darüber in den bei Hieronymus genannten, auch vom älteren Plinius, Charisius und Priscian zitierten drei Büchem^°^ De actionibus scaenicis oder in den drei Büchern De actis scaenicis gehandelt hat. Letztere sind überhaupt nur im Katalog des Hieronymus bezeugt. Ritsehl wollte den Titel zu De actibus scaenicis ändem^"^, da er das urkundliche Werk in den Büchern De actionibus scaenicis erblickte. Ich kann den Optimismus Dahlmanns nicht teilen, der noch in seinem zusammenfassenden Aufsatz 'Varroniana' (1973) an die Möglichkeit glauben wollte, die beiden Schriften "in eine Beziehung zu bringen und mit plausibler Begründung zu unterscheiden"^°''. Hatte er doch in seinem früheren Überblicksartikel (1935) selbst die Schwierigkeit betont, "zwischen einem Werk über dramatische Aufführungen und dramatische Urkunden zu u n t e r s c h e i d e n " J e d o c h ist m.W. noch nicht genügend erwogen worden, ob man die Schrift über die actioms nicht als Werk über die Aufführungspraxis (Dramaturgie; vgl. Vitr. 5, 8,2)^°® oder sogar darstellerische Leistung der Schauspieler (vgl. Cie. or. 86) ansehen könne, um dann die Dramatochronographie - wie bereits von Schöll^°^, Norden^°^ und Teuffel^°^ vorgeschlagen - allein den Büchern De actis scaenicis zuzuschlagen. Die wenigen Fragmente, die von ersterem Werk erhalten sind^'°, sind in einer Schrift, die von theaterpraktischen Dingen handelte, leichter vorstellbar als in einer Urkundensammlung, die dem
In dem Abschnitt über De poetis (c), S. 82flf. Nach Charisius, p. 95, 18КУ122, lOB sind es freilich (mindestens) fünf (und so Ritsehl, Schriftstellerei, 455f.). Vgl. jedoch Funaioli, 218, der Verschreibung von Π zu U (= V) annimmt, sowie A.Klotz, Der Katalog der Varronischen Schriften, Hermes 46, 1911, 1-17, dort 12, u. Dahlmann, RE, 1224. Ritsehl, Schriftstellerei, 457. H.D., Varroniana, ebd. (Anm. 300), 11. H D., RE, ebd., 1224. Der Vorschlag von F.Schöll, Varrò und die römischen Didaskalien, RhM 31, 1876, 469-71, dort 471, in i)e actionibus scaenicis habe Varrò von "scenischen Alterthümem" gehandelt, gdit in dieselbe Richtung. Vgl. auch P.L.Schmidt, ebd., 108f (mit Anm. 79).
^»'Ebd. Die römische Literatur, ebd. (Anm. 9), 142. "" Geschichte der römischen Literatur I (s. oben Anm. 8), S. 335. "" Bei Funaioli frgg. 82-86 (p. 218f ).
Theaterkundliches u. Dramatochronographie
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Benutzer doch woM nicht mehr als ein Zahlen- und Faktengerüst an die Handgab^". Die didaskalische Materialkenntnis bezog Varrò aus Aufzeichnungen in den Archiven der zuständigen Magistrate^Die vorhandene didaskalische Literatur (bes. Accius) hat er einer strengen Prüftmg unterzogen und so für eine historisch-kritisch verfahrende Chronographie allererst den Grund gelegt^^^
Zu b) Den Titel Hebdomades vel De imaginibiis überliefert Gellius 3, 10, 1· Aus dem imiständlichen Referat über Varros weitschweifige Einlassungen zur Bedeutung der Siebenzahl (im ersten Buch/''* ist beim besten Willen nicht auf literarhistorischen Inhalt des Werkes zu schließen. Immerhin erfahren wir, daß Varrò in diesem Zusammenhang addit se quoque iam duodecimam annorum hebdomadam ingressum esse et ad eum diem septuaginta hebdómadas librorum conscripsisse (3, 10, 17). Varrò war also zum Zeitpunkt der Veroffentìichung der Imagines^^^ 77 Jahre alt und hatte 490 Bücher verfaßt. Was es mit dem Titel Imagines auf sich hat, erfahren wir diu-ch eine Notiz des älteren Plinius (nat. 35, 11): "Imaginum amoremflagrassequondam testes sunt Atticus Ше Ciceronis edito de üs volumine, M. Varrò benignissimo invento insertis voluminum suorum fecunditati septingentomm illustrium aliquo modo imaginibus, non passus intercidere figuras aut vetustatem aevi contra homines valere: inventor muneris etiam dis invidiosi, quando inunortalitatem non solum dedit, verum etiam in onmis terras misit, ut praesentes esse ubique ceu di possent".
Über Einzelheiten der didaskalischen Praxis vgl. die Vermutungen bei Schöll, ebd., 469f. Vgl. wiederum Schöll, ebd., 469-71. Vgl. Leo, Plautinische Forschungai, 66-69, u. dens.. Die griediisch-römische Biographie nach ihrer litterarischen Form, Leipzig 1901 (Nachdr.: Hildesheim 1965), 136f. "" Die sdiwierige Stelle Gell. 3, 10, 13, την δια τεσσάρων συμφωνίαν betreffend, jetzt zufriedenstellend erklärt durch L.Holford^Strevens, The harmonious pulse, CQ 43, 1993, 475-79. Zu diesem Schluß bereditigt eine briefliche Bemerkung Ciceros (ad Att. 16, 11, 3), die man gewöhnlich auf das Varronische 'Bilderwerk* bezieht: πεπλογραφίαν Varronis tibi probari non moleste fero (zum Ausdruck τιεπλογραφία vgl. Suidas s.v. Πέπλος: Πέπλον έποίησαν τη Άθήνςι και ένέγραψαν τους άριστους έν αύτφ [der Hinweis bá Schanz/Hosius I 562]). Danach hätte Varrò schon im November 44 an den Imagines gearbeitet; die Zahlenspiele des ersten Buches wären dann vielleicht zum Schluß hinzugefugt worden.
80
M. Terentius Varrò
Also um "eine Abart der Litteratur de viris illustribus" (Leo^'®) handelte es sich; und wenn Hieronymus in der Vorrede seiner Literaturgeschichte seine Vorgänger (Varrò, Santra, Nepos, Hyginus) nach der strengen Chronologie nennt, ist Varrò der erste Römer gewesen, der die griechische Schriftstellerei περί ενδόξων ανδρών gepflegt hat. Bei der Verfertigung des neuartigen Bilderwerkes mag ihm die Verlegerwerkstatt seines Freundes Atticus die entscheidende Stütze gewesen sein^'^; Atticus' eigener Bildband^beschränkte sich nach dem Zeugnis des Nepos auf das versifízierte Lob der Feldherm und Staatsmänner: "Namque versibus, qui'" honore remmque gestamm amplitudine ceteros Romani populi praestitenmt, exposuit [ic. Atticus] ita, ut sub singulorum imaginibus facta magistratusque eorum non ançlius quatemis quinisque versibus descripserit" {vita Attici,
18, 5 f ).
Varrò dagegen hatte alle ihm bedeutsam scheinenden Persönlichkeiten des griechischen (wahrscheinlich richtiger: nicht-römischen) mwí römischen Kulturkreises vergangener Tage berücksichtigt. Eine Anzahl von Namen gibt Symmachus (ep. 1,4, 1): Pythagoras, Plato, Aristoteles, Curius, die Catones, die gens Fabia, die Scipiones. Den Spekulationen über Aufbau und Inhalt des Werkes habe ich keine weitere hinzuzufügen^^". Nur soviel scheint heute festzustehen, daß Varrò je einem Band mit nicht-römischen Portraits einen Band römischer imagines folgen ließ^^': jedenfalls erwähnt Ausonius die Behandlung griechischer Architekten im zehnten Buch der Hebdomades:
F.Leo, Biographie, ebd., 136. Vgl. Norden, Römische Literatur, 142. W.Drumann, Gesdiichte Roms in seinem Uebergange von der republikanischen zur monarchischen Verfassung, 6 Tie, Königsberg 1834-44, ^Leipzig 1919, 5, 89, dachte noch an eine Bildnissammlung im Hause des Atticus. Zur Konstruktion s. Nipperdey/Witte (Komm, zu Nepos), ad loc., u. Marshall (Ausg.), ad loc. Vgl. Dahlmann, RE, ebd., 1228, della Corte, Varrone, ebd., 194f, u. zuletzt J.Geiger, Hebdomades (binae?), CQ 48, 1998, 305-09. So schon Ritsch], Disputatio de M.Varronis Hebdomadum sive Imaginum libris, ebd. (Anm. 294), 508-22: "An aequabilitatis concinnitatisque in disponendis argumentis longe studiosissimum Varronem tam sui dissimilem quisquam sibi persuadebit in his potissimum libris extitisse, quibus vel nomai a numerorum συμμετρίςι inderet?" (511). Zustimmaid Dahlmann, RE, ebd., 1228.
Varros Imagines
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"Forsan et insignes hominumque opemmque labores hic habuit decimo celebrata volumine Marcel Hebdomas..." {Moseila 305flF.). Und die Konstruktion als solche findet ihre Stütze in der ganz ähnlichen Komposition der Viri illustres des Nepos^^^. Da Varrò - nach dem Inhalt der oben besprochenen Gelliusstelle zu urteilen - den zweimal sieben Büchern ein Einleitungsbuch vorausschickte^^^, waren die geraden Nummern (weim die griechischen Architekten im 10. Buch standen) den NichtRömem, die ungeraden den Römern gewidmet. Über das Verhältnis des Bildteils zum Textteil entnehmen wir Genaueres zwei weiteren Gelliuszeugnissen: "M. autem Varrò in primo de imaginibus, uter [sc. Homer od. Hesiod] prior sit natus, parum constare dicit, sed non esse dubium, quin aliquo tempore eodem vixerint, idque ex epigrammate ostendi, quod in tripode scriptum est, qui in monte Helicone ab Hesiodo positus traditur" (3, 11, 3). Und ein paar Zeilen später ( 3 , 1 1 , 7 ) erfährt man: "M. Varrò in libro de imaginibus primo Homeri imagini epigramma hoc apposuit: capella Homeri candida haec tumulum indicat, quod hac letae mortuo faciunt sacra." Danach hat man sich die Anlage des Werkes so vorzustellen, daß dem Konterfei der Porträtierten ein Epigramm untergesetzt war^^", dem literargeschichtliche Annotationen (in unserem Beispiel die Datierung des Autors betreffend) folgten. Diese mußten sich nicht auf die Lebensdaten der Personen beschränken, sondern koimten noch manches andere biobibliographische Detail enthalten. Oft genug ist die Abhängigkeit späterer Literarhistoriker von Varrò gewiß, ohne daß ihre Angaben sich einem bestimmten Werk des Reatiners zuweisen ließen^^^ Die Rezeptionsgeschichte des Varronischen Bilderbandes, des ersten uns bekannten illustrierten Buches überS. darüber unten S. 122fr. In das freilich schon die ersten imagines, mindestens die des Homer (und wohl auch des Hesiod) aufgenommen warm: im Kontext der Erörterung der Anfänge der Literaturgeschichte; s. weiter unten diese S. Die epigrammatum adiectìo bezeugt auch Symmachus, ep. 1, 2, 2. S. die incertae sedis fragmenta rerum ad historiam litterarum pertinentìum bei Funaioli, pp. 312-31 (bes. frgg. 298-306).
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M. Terentius Varrò
haupt, reicht - selbstredend - bis in unsere Tage^^®. Leicht möglich, daß einer populärwissenschaftlich verfaßten Kultur- und Literaturgeschichte nach Art der Varronischen auch heute noch einiger Erfolg beschieden wäre. Zu c) Ein Werk wie die Imagines, das in publikumsfreundlicher Abbreviatur gleichsam eine summa kulturhistorischen Wissens darbot^^^, ist nicht vorstellbar ohne etliche Vorstudien, die teils einzelnen Fragen und Problemen nachgingen, teils um die Aufhellung des historischen Zusammenhangs bemüht waren. Eine Verbindung beider Aspekte hatte Varrò wahrscheinlich in seiner Schrift De poetis versucht. Was sich an Fragmenten erhalten hat, ist fast ausnahmslos bei Gellius überliefert: Besonders in seiner von Roms Gründung bis zum Beginn des zweiten punischen Krieges reichenden Übersicht über die Lebzeiten berühmter Griechen und Römer (17, 21) schöpft er an mindestens zwei Stellen^^^ nachweislich aus Varros Dichter-Schrift: "Claudium et Tuditaniim cónsules secuntur Q.Valerius et C.Mamilius, quibus natum esse Q.Ennium poetam M. Varrò in primo de poetis libro scripsit eumque, cum septimum et sexagesimum annum ageret, duodecimum'^' annalem scripsisse idque ipsum Ennium in eodem libro dicere" (17, 21, 43); und einige Zeilen später (17, 21, 45): "eodem ... anno (sc. post Romam conditam quingentésimo undevicesimo) Cn.Naevius poeta fabulas apud populum dédit, quem M.Varrò in libro de poetis Über die wate Verbrátimg des Werkes bald nach seinem Erscheinen s. T.Birt, Die Buchrolle in der Kunst, Leipzig 1907, 296f. u. 341; Einfluß noch auf die Autorenbildnisse der Wiener Dioskurides-Handschrift (512 n. Chr.) sucht A.v.Salis, Imagines illustrium, in: Eumusia - Festschrift für Emst Howald, Zürich 1947, 11-29, nachzuweisai. Vgl. auch E.Bethe, Über Buch und Bild im Altertum, aus dem Nachlaß hrsg. v. E.Kirstai, Leipzig/Wien 1945, passim. Den Anlaß zur Anfertigung des Bandes erblickt K.Dziatzko, Zwá Beiträge zur Kenntnis des antikm Buchwesens, Göttingen 1892, 17, in dem Auftrag, mit dem Caesar Varrò betraute: nämlich für die Einrichtung öffentlicher Bibliothekai zu sorgen (Suet. Caes. 44); zustimmend Dahlmann, iŒ, ebd., 1227. Vgl. schon Ritsehl, Schriftstellerei, ebd., 4 5 I f , der Varros Literaturforschung überhaupt durch die Übernahme jenes bibliothekarischen Amtes veranlaßt sah. Dahlmann, Studien, ebd., 46-53, vindiziert über die im folgoiden besprochenai Fragmente hinaus auch die Datierung der άκμή des Plautus (17, 21, 46/47) und den Schlußpassus mit der Dichterfolge Ermius, Caecilius, Terenz, Pacuvius, Accius und Ludlius (17, 21, 49) für De poetis, zu letzterem Abschnitt vgl. auch H.Cancik, Varrò (De poetis) über L. Accius, Hermes 96, 1968, 252f (mit neuen Argumentai). Duodecimum codd. : duodevicesimum coniec. Merula.
Varrò De poetis
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primo stipendia fecisse ait bello Poenico primo idque ipsum Naevium dicere in eo cannine, quod de eodem bello scripsit"^^". Varrò hat also im ersten Buch von der Frühgeschichte der römischen Poesie gehandelt. Griechische Literaturgeschichte war demnach - wenn überhaupt - höchstens in einem Prooemialexkurs (in der Art des Ciceronischen Überblicks über die griechische Rhetorikgeschichte im Brutus, 2652) erörtert. Aus den angeführten Zitaten ist ersichtlich, daß Varrò an der Feststellung der absoluten (Ermittlung des amtlichen, durch die Konsuln bezeichneten Geburts- und wohl auch Sterbejahrs) oder doch relativen Chronologie (Synchronie mit politischen Ereignissen) der alten Autoren interessiert war und seine Ergebnisse auch durch Angabe der Quellen stützte; im Fall des Naevius beruft er sich (wie wir dies noch heute mangels Sekimdärüberlieferung oft genug bei vielen antiken, mittelalterlichen und sogar modernen Autoren zu tun gezwungen sind) auf dessen eigene Angaben im Bellum Punicum. Das chronologische Material scheint Varrò, soweit ihm dies möglich war, vollständig gegeben zu haben; warum sonst der Hinweis, Ennius habe im 67. Lebensjahr das 12. (bzw. 18.) Buch der Annalen verfaßt (wiederum mit Ennius' Selbstzeugnis als Quellenangabe)? Im Zusammenhang seiner Frühgeschichte scheint Varrò auch das berühmte Epochenjahr' für den Einzug der dramatischen Bühne in Rom (240 V. Chr.) festgesetzt zu haben. Denn es ist doch sehr wahrscheinlich, daß Varrò der Bürge nicht nur für die Angabe des Geburtsjahres des Ennius ist, sondern auch für die unmittelbar voranstehende Bemerkung (17, 21,42): "Anais deinde postea paulo pluribus quam viginti pace cum Poenis facta consulibus Claudio Centhone, Appü Caeci filio, et M.Sempronio Tuditano primus omnium L.Livius poeta fabulas docere Romae coepit post Sophoclis et Eiuipidis mortem annis plus fere centum et sexaginta, post Menandri annis circiter quinquaginta duobus". Hieran schließt nahtlos die (Varronische) Bestimmung des Ennianischen Geburtsjahrs an: "Claudium et Tuditanum cónsules secuntur Q.Valerius et C.Mamilius, quibus ...". Eher befremdlich wäre die Vorstellung, Gellius (der sich bei der Komposition seiner Geschichtsskizze erklärtermaßen von acri atque subtili cura entfernt hält^^') hätte für zwei einander Vgl. hierzu das oben S. 66f Gesagte. S. schon oben S. 68f
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M. Terentius Varrò
unmittelbar folgende Jahre einmal aus Varrò, das andere Mal (ohne Quellenangabe) etwa aus Nepos' Chronica geschöpft, deren erstes Buch er übrigens zu Anfang seines Abrisses zweimal für die ältere griechische Literaturgeschichte heranzieht (17, 21, 3 u. Noch ein weiteres Zeugnis aus Varros erstem Buch De poetis hat sich erhalten: das Grabepigramm des Plautus, das Gellius mit den folgenden einleitenden Worten überliefert: "Epigramma Plauti, quod dubitassemus, an Plauti foret, nisi a M.Varrone positum esset in libro de poetis primo" ( 1, 24, 3). Dienten die epigrammata der Imagines als metrische Subskriptionen, die kulturhistorisches Grundwissen in populärer Form vermitteln sollten, ist bei den Zitationen des 'Dichter'-Buches eher an ihre autoritative Funktion als authentische, authentisch gemeinte oder Authentizität wenigstens suggerierende Belegstellen (testimonia) in wissenschaftlichem Kontext zu denken^^^. Es wird kein Zufall sein, wenn wir Varrò in den - zugegeben spärlichen Bruchstücken durchweg als textnah arbeitenden Literarhistoriker kermenlemen, dessen Blick unmittelbar adfontes gerichtet ist; die Vorarbeiten der Accius, Volcacius und Porcius werden seinen Ansprüchen an wissenschaftliche Chronographie kaum genügt haben. Gellius zitiert unmittelbar vor bzw. nach der Plautinischen Grabinschrift noch zwei weitere tituli: die des Naevius und Pacuvius. Beide werden demselben Buch des Varrò entnommen sein^^"*. Zu Gellius tritt in der Überlieferung von Varros Dichterschrift einzig Priscian mit dem aus De poetis I gezogenen Sätzchen hinzu: "deinde ad Siculos se adplicavit" (GLK p. 469, 9). Bücheler und Funaioli nahmen an: "Ennium significari, qui Epicharmum scripsit"^^^. Diese Auffassung hat Dahlmaim wohl zu Recht dahingeEinmal, 17, 21, 24, ist eine realgeschichtliche Angabe des Varrò direkt mit der Ansicht des Nepos kontrastiert. Es wird allgemein angenommen, daß die Verse nicht plautinisch sind (s. zuletzt Courtney, FLP, S.50). Ich möchte jedoch mit O.Skutsch, Readings in Early Latin, HSPh 76, 1972, 169-71, dort 169, (g^en Dahlmann, Studien, 97) ausschließen, daß Varrò selbst Verfasser der Grabschrift des Plautus (wie auch der des Naevius [s. das Folgende]) ist. Vgl. Funaioli, ad frg. 57 u. 62, Dahlmann, ebd., 89-100 (mit ausführlicher Doxographie auch zur Echtheitskritik), u. Courtney, ebd., der jedoch nur die Naevius- und Plautusepigramme mit Bestimmtheit auf Varros Vermittlung zurückfuhrt.
Interdisziplinäre Literaturgeschichte
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hend berichtigt, daß er das Fragment (nach Theodor Bergk^^®) auf Plautus' imitatio Epicharmi bezog, auf die auch Horaz, epistula 2, 1, 58, anspielt^^^. Für uns sind die hier versammelten Zeugnisse der zuverlässige Beweis, daß Varrò in De poetis c/zranographische mit ò/ographischen und literarkritischen Interessen verband. Schon Chronographie und Biographie bilden, zur Ereignisreihe verbunden, wichtige Ingredienzien antiker wie 'modemer' Literaturgeschichtsschreibung^^^. Tritt nun noch ästhetische Wertung und Abschätzung des Fortlebens hinzu (wie dies in den epigrammata ungeachtet ihrer primär urkundlichen Bedeutung ja auch tatsächlich geschieht), sind wir vollends nicht länger berechtigt, dem Varronischen Werk De poetis den Namen vorzuenthalten, den es verdient: Literaturgeschichte. Oder wird man sich herausreden: die ästhetische Kritik sei ja von Varrò in einer eigenen Schrift De proprietate scriptorum geübt worden, die im Katalog des Hieronymus aufgeführt, durch Nonius bezeugt und wahrscheinlich auch von Gellius in einer Frage der Stilkritik einmal zitiert worden ist^^'? Wertung mag auch große Teile der Varronischen Werke De sermone Latino^^°, De compositione saturarum^^\ De comoediis Plautinis^"^^ ausgefüllt haben; aber es wäre absurd anzunehmen, daß Varrò in völliger Absehung vom Zusammenhang des Zusammengehörigen es vermocht hätte, seine umfassende Gelehrsamkeit so sehr zu parzellieren, daß dem skurrilen Ordnungsdrang einer pedantischen (meta)philologisehen Nachwelt Genüge Funaioli ad frg. 60; über Büchelers briefliche Mitteilung an E.Bormann s. Dahlmann, Studien, 63 Anm. 1. T.B., Commentationes de reliquiis comoediae Atticae libri Π, Leipzig 1838, 148. S. Dahlmann, Studien, 63f. Die Ermittlung der χρόνοι und βίοι betrachte F.Leo, Plautinische Forschungen, ebd., 65f., als Hauptpunkt der peripatetisch-alexandrinischen Literaturforschung, in deren Tradition er Varrò einordnet. Die Noniusstelle (p. 334, 32-34M/527L) ist wenig ergiebig (vgl. Funaioli, frg. 87); Gell. 6, 14, 6: vera autem et propria huinscemodi formarum exempla in Latina lingua M. Varrò esse dicìt ubertatis Pacuvium, gracilitatis Lucilium, mediocritatis Terentium ist zuerst von Ritsehl, De M.Terentii Varronis disdplinarum libris commentarius, Progr. Bonn 1845, wiederabgedr. in : Op. phil. Ш (s.o. Anm. 294), 3 5 2 ^ 0 2 , dort 365 Anm., für De proprietate scriptorum beansprucht worden (vgl. auch Dahlmann, RE, 1221, der die Gelliusstelle in einer späteren Studie [Studien zu Varrò, 'De poetis', ebd., 116-19; vgl. auch dens., Varros Literaturforschung, s. oben Anm. 300, 6 - 8 ] jedoch mit dem von Charisius [p. 189, 25КУ246, 4B] einmal zitierten Werk τΐερί χαρακτήρων in Verbindung bringt). Über die proprietas als literarkritischen terminus vgl. - neben Dahlmann (Studien, 119f.) - G.Lenoir, A propos de Varron, critique littéraire: la notion de proprietas, REL 49, 1971, 155-61. Vgl. Funaioli, ad frgg. 33- 48, u. Dahlmann, RE, 1215-18. Vgl. Dahlmann, ebd., 1223 Vgl. Dahlmann, ebd., 1225.
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getan wäre; vielmehr hat er, wo es auf literarische Kritik ankam, mit dieser nicht zurückgehalten^'*^ und, wo Realienkenntnis (sei sie bühnengeschichtlicher oder biographischer Art) gefragt war, aus seinem reichen Wissen geschöpft. Immer kommt es auf die Zusammenschau der literaturwissenschaftlichen 'Einzeldisziplinen' an, wo die Behandlung eines noch so speziellen literaturgeschichtlichen Themas erfolgreich sein soll. Dabei mußte sich Varrò an keine tradierte Etikette gebimden fühlen, die ihm etwa bei der Abfassimg einer literarhistorischen Monographie Urteilsenthaltung in allen angrenzende Bereiche betreffenden Fragen verordnet hätte. Es ist gut möglich, daß manche moderne Literarhistoriker, wenn sie ihre griechischrömischen 'Primaten' supervisieren, dem Vorurteil aufsitzen, "scholastische" Manier, "scholastische" Dispositionskunst (wie sie nach Manfred Fuhrmanns Untersuchungen für die enzyklopädisch orientierten Lehrwerke des Varrò charakteristisch ist^'*'') könne einer 'interdisziplinären' Durchdringimg und Darstellung des Stoffes nur hinderlich gewesen sein. Die Tradition der Gattung 'Lehrbuch' macht sich, wie die Forschimgen v.a. von Dahlmann erwiesen haben^'", überwiegend auf der formalen Ebene bemerkbar; die überlieferte Architektonik des Fachbuchs, wie wir sie von Piatos Zeiten bis in die Spätantike verfolgen können, duldet bei aller formalen Konstanz eine erstaimliche Varianz der behandelten Themen: Wissenschaften sind naturgemäß kontinuierlichem Wandel unterworfen^'*®; dem hatte (und hat) die didaktische und wissenschaftsgeschichtliche Aufbereitung und Darstellung des Stoffes Rechnung zu tragen. Die moderne Erforschung der Varronischen Literarhistorie hat sich ganz überwiegend, fast möchte man sagen einseitig, von systematologischen Interessen leiten lassen. Dieser spezifische, recht eigentlich "scholastische" Blick hat seine Ursache vermutiich darin, daß nach einer weit verbreiteten und, wie ich glaube, berechtigten Armahme der antike poetologische Diskurs wesentiich eine gattungspoetologische Auseinandersetzung gewesen ist. Zwar sind fi^h schon Zweifel an der Zuverlässigkeit generologisch orientierter Unterscheidungs- und Zuweisungsverfahren angemeldet worden, und selbst Friedrich Leo - auf dem Höhepunkt systematischer klassisch-
Über Varros ästhetische Kritik aligemein vgl. J.F.d'Alton, Roman literary theory and criticism - A study in tendoicies, London 1931 (Nachdr.: New York 1962), 295-97. ^ In: Das systematische Lehrbuch - Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike, Göttingen 1960, 162-69. S. darüber unten S. 88. ^ Interessante Beobachtungen zum EntwicklungsbegrifF in antiken Fachtexten jetzt bei D.M.Schenkeveld, The Idea of Progress and the Art of Grammar: Charisius Ars Grammatica 1.15, AJPh 119, 1998, 443-59.
'Scholastik' u. dynamischer Gattungsbegriff
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philologischer Literarhistorie^''^ - kann seine Skepsis in bezug auf letztgültige Distinktionen mitunter nicht unterdrücken^'*^, insgesamt jedoch hat sich der Glaube an die - prinzipielle - Möglichkeit der (Re)konstruktion eines weitverzweigten antiken Systems der Gattungen und Subgattungen bis in unsere Zeit gerettet. Und w o bestimmte Ableitungen und Zuweisungen nicht ohne weiteres möglich waren, führte man dies entweder auf handwerklich-künstierische Defizite (in Form ästhetischer Kritik^''^) oder
-
plausibler - auf die brüchige, bestenfalls ausschnitthafte Überlieferung zurück. Zur Ehrenrettung der älteren Philologie muß an dieser Stelle auf Krolls Versuch einer Konzeption eines dynamischen Gattungsbegriffs, bekannt geworden als 'Kreuzung der Gattungen', hingewiesen werden'^". Und in den frühen siebziger Jahren trat Francis Caims mit seiner aufsehenerregenden Studie über Generic
composition
in Greek and Roman poetry
her-
D o c h erst die Forschimgen der seit Beginn der achtziger Jahre um Gian Biagio Conte sich scharenden sog. 'Pisaner Schule' lassen einen grundlegenden Bewußtseinswandel auf dem Felde der historisch-kritisch verfahrenden Poetologie in mittelfristiger Perspektive als möglich erschei-
Eine schöne, Leos philologischem Verfahrai gerecht werdende Würdigung bei W.Ax, Friedrich Leo, in: Die Klassische Alterturmwissenschafi an der Georg-AugustUniversität Göttingen - Eine Ringvorlesung zu ihrer Geschichte, hrsg. v. C.J.Classen, Göttingen 1989, 149-77, bes. 165-68 u. 171. Ax verkennt nicht "Leos Neigung zu einer schematischen, ohne Zweifel von der Textkritik beeinflußten Herstellung literaturgeschichtlicher Abhängigkeiten, die aus der oft vielleicht noch verfrühten Überzeugung entstanden ist, Ordnung und Übersicht in disparate Materialien bringen zu können. In diesem Zusammenhang wirkte sich auch seine Vorliebe für isolierte formgeschiditliche Betrachtungen, überhaupt eine Überbewertung des Stilistischen und Formalen nachteilig aus ..." (171). So besonders in seiner Biographie-Studie (s. oben Anm. 112) in den Kapiteln zu Nepos (193-218) und Ciceros Brutus (219-23). So Leo, ebd., 216, im Fall des Nepos: "Es gibt ... kaum eine Spielart der biographischen Form, die nidit in diesai 25 Abschnitten des Nepos vertreten wäre. Wenn ein Schriftsteller alle Möglichkeiten der Form, die eine Gattung bietet, dem in jedem einzelnen Falle g^ebenen Stoffe entsprechend anwendet, so kann er wohl ein mit dem Scheine der Buntheit doch in der Vielfalt einheitliches Buch hervorbringen; ... Was an Nepos auffallt ist das willkürliche Wechseln, das den Eindruck der Unsicherheit in der Handhabung der Form herbeiführt". W.Kroll, Die Kreuzung der Gattungen, in: ders., Studien zum Verständnis der römischen Literatur, Stuttgart 1924 (Nachdr.: 1964), 202-24. Krolls leider nidit wieder aufgel ^ e s Buch gehört zum Anregendsten, was deutschsprachige Altphilologen (zumal Latinisten) bis zum Zweiten Weltkri^ v o r g e l ^ haben. In der Weite seines Umblicks darf es unbedenklich mit Curtius' Synthese Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter verglidien werden. Erschienen: Edinburgh 1972.
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nen"^. Die traditionelle Vorstellimg vom festgefügten System der Gattungen weicht zunehmend einer - bei allen begründeten Einwänden^'^ - doch langsam in breiteren Kreisen akzeptierten flexibleren Interpretation des Gattungszusammenhangs als eines dynamischen, Autor, Werk und Leser gleichermaßen einbeziehenden Gefìiges^^'*. Mancherlei Rücksichten also sind beim Versuch einer Rekonstruktion auch der literarhistorischen Schriften des Varrò zu nehmen. Es wird zu den bleibenden Verdiensten Dahlmanns gehören, daß er Varros Forschungen zum ersten Mal in einen gattungsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt hat, und doch bin ich nicht sicher, daß wir, um bei der Schrift De poetis zu bleiben, deren Anlage und - spezieller noch - deren praelokutorischen Teil durch Heranziehung aller phänotypisch irgend verwandten Literatur rekonstruieren können^^'. So glaubt Dahlmann, aus dem Aufbau der Einleitungskapitel des Suetonischen Schriftchens De grammaticis et rhetoribus und imter ffinzunahme von Isidors Dichterabschnitt (Vn, 8), den er - wohl zu Recht - für suetonisch hält, auch für den Anfang des Varronischen Dichterbuches das Grundschema ars - artifex (mit den Unterabschnitten: praeartistische Vorstufen, αρχή, αϋξησνς, άκμή - ονομα/εργα des τεχνίτης)
Eine mustergültige Bdiandlung antiker Gattungsprobleme in Auseinandersetzung mit den deformierenden Traditional der Wissenschaftsgeschichte lieferte bereits 1981 E . R.Schwinge, Griechische Poesie und die Lehre von der Gattungstrinität in der Moderne. Zur gattungstheoretischen Problematik antiker Literatur, A&A 27, 1981, 130-62. S. etwa T.Köves-Zulaufs, Rez. Conte, Generi e lettori. Gnomon 65, 1993, 669-72, konstruktive Kritik an der "zu deterministisch" gefaßten "g^enseitige(n) Abhängjgkdt von Verfasser, Werk, Leser voneinander" (671). Siehe v.a. G.B.Conte, Memoria dei poeti e sistema letterario. Catullo, Virgilio, Ovidio, Lucano, Turin 1974, ^1985; dens., Virgilio: D genere e i suoi confini, Mailand 1984, dens.. Generi e lettori; Lucrezio, L ' e l e a d'amore. L'enciclopedia di Plinio, Mailand 1991 (amerik. v. G.W.Most [mit e-m Vorwort ν. C.Segal]: Baltimore/London 1994), dens. u. A.Barchiesi, Imitazione e arte allusiva. Modi e funzioni dell' intertestualità, in: Lo spazio letterario di Roma antica I: La produzione del testo, Rom 1989, 81-114. Vgl. auch A.Fowler, Kinds of Literature: An Introduction to the Theory of Genres and Modes, Cambridge (Mass.) 1982, u. A.Barchiesi, Latracela del modello. Effetti omerici nella narrazione virgiliana, Pisa 1984 - Wenigstens hingewiesen sei an dieser Stelle noch auf die soeben erschienenen Beiträge eines im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 321 an der Univ. Freiburg durchgeführtm Kolloquiums über "Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike", hrsg. v. W.Kullmann, J.Althoff u. M.Asper, Tübingen 1998. Von der Übertragung des Mündlichkeit-Schriftlichkeits-Paradigmas auch auf die wissenschaftliche Literatur sind fruchtbare Anstöße für die künftige gattungstheoretische Diskussion zu erhoffen. Vgl. die ähnlichen Einwände von C.O.Brink u. F.della Corte in der Diskussion nach Dahlmanns Vortrag Zu Varros Literaturforschung, besonders in "De poetis". Entretiens К , Genf 1963, dort 21-31.
Generologische Probleme
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erscMießen zu können^'®. Wenn man ihm hierin auch noch weitgehend zu folgen vermag, so ist Vorsicht doch spätestens an dem Punkt geboten, wo Dahlmann die wenigen sicheren Fragmente mit der größten Bestimmtheit in das eben erst erschlossene praelokutorische Gerüst einsetzt; wie können wir wissen, ob etwa die den Naevius betreffenden Angaben wirklich im αvЗξησгς-Teil der praelocutio^^^ und nicht im Naevius gewidmeten Abschnitt der enumeratio poetarum gestanden haben? Im Trümmerfeld der Varronischen Literaturforschung wissen wir zu wenig, um seine Fragmente mit Gewißheit einem bestimmten Typ der Literarhistorie und schon gar -innerhalb des bestimmten T y p o s - einem schlüssigen Zusammenhang zuzuordnen^^^, aber wir wissen doch nicht wenig genug, um ihm eine herausgehobene Stelle in der Geschichte nicht nur der römischen, sondern der ganzen okzidentalen Literaturgeschichtsschreibung absprechen zu können. Die Leistung des Reatiner Gelehrten ist in der jüngeren Geschichte der Philologie nicht immer wirklich erkannt worden. Dabei ist es interessant, daß der Neubegründer des Fachs, Friedrich August Wolf, zu denen gehört, die eine recht verschwommene Vorstellung vom Werk des Varrò haben^'': In der posthum herausgegebenen Vorlesung über die Geschichte der römi-
S. besonders H.D., Studien zu Varrò 'De Poetis', ebd., 5 ^ 2 , u. dens., Varros Literaturforschung, ebd., 10-20 (bzw. 88-98). So Dahlmann, Studien, ebd., 38f., u. Literaturforschung, ebd., 16 (bzw. 94). Gerne wüßte man, ob sich Varrò bei saner Literaturforschung von ähnlichen (weltanschaulichen) Vorstellungen leiten ließ, wie sie für seine fachhistorischen Werke, bes. die Antiquitates rerum humanarum et divinarum sowie die Schriften De gente populi Romani u. De vita populi Romani, L.Deschamps kürzlich nachzuweisen versucht hat: "Dans l'optique varroniaine, l'histoire aurait ... pour but de rappeler les différents événements qui ont jalonné la progression de la gens populi Romani, d'en expliquer l'évolution, mais elle servirait Clement à mettre sous les yeux les modèles à imiter pour aider à la r^énération. Elle est donc à la fois typologique et téléologique puisqu'elle conduit à Гаvénement du peuple romain comme 'Peuple-Roi'" (L.D., Temps й histoire chez Varron, in: Filologia e forme letterarie: Studi offerti a F.della Corte, 5 Bde, Urbino 1987, 2, 167-92, dort 186). Zu ihnen zählt in neuerer Zdt etwa J.W.H. Atkins, Literary criticism in antiquity - A sketch of its development, 2 Bde, Cambridge 1934 (Nachdr.: Gloucester, Mass. 1961), dessen Kapitel über die Anfänge der Literaturkritik in Rom bezeichnenderweise überschrieben ist: The Critical Beginnings at Rome and the Classical Reaction: Terence, Lucilius, and Cicero (Bd. 2, 1—46, dort 19f über Varrò). Auch D.A.Russell. Criticism in antiquity, London 1981, ^1995, unterschätzt m.E. die Bedeutung der Varronischen Literaturforschung; s. S. 45f (im Kapitel 'Literary History [ebd., 159-68] ist Varrò überhaupt nicht berücksichtigt).
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sehen Litemtur^^ ist im Quellenkapitel^^' von Varrò überhaupt nicht die Rede, dagegen von Sekimdärautoren, die nachweishch von Varrò abhängen (Sueton, Gellius). Ebensowenig begegnet sein Name im Abschnitt über die sog. Litterär-Geschichte^^^ (wo außer den im Mittelpunkt stehenden Cicero und Sueton nur Quintihan und Tacitus noch erwähnt werden). Der Autor ist ausführlicher überhaupt nur in den knappen Abrissen zur Erudition^^^, und zwar in der Rubrik Historie und Antiquitäter?^'^, sowie besonders unter den Landwirtschaftsschriftstellem behandelt: Dort finden sich kurze Bemerkungen auch über literarhistorische Schriften Varros. Aber Prädikationen wie "Marcus Terentius Varrò, der gelehrteste Römer neben Nigjdius Figulus" oder "de(r) erste Polyhistor"^^^ verdecken die Verdienste des Autors mehr, als daß sie sie auch nur andeutungsweise beschreiben. Zu einer klareren Auffassung kommt hingegen schon Friedrich Schlegel. In seiner Geschichte der alten und neuen Literatur (4. Vorlesung)^®^ äußert er sich über Varrò wie folgt: "Varrò ... hat als gelehrter Sammler und Bücherkenner, als Sprach- imd Altertumsforscher am meisten neben den beiden genannten [sc. Cicero und Caesar] dazu mitgewirkt, daß jene Zeit die eigentlich blühende Epoche der römischen Literatur geworden ist"^®^. Der Nachdruck in Schlegels Äußerung liegt auf dem Attribut "römisch", derm im Zusammenhang der Stelle ist vom Römischwerden einer ehedem griechisch dominierten und grazisierenden Kultur die Rede. Die "eigentlich so zu nennende römische Literatur" datiert Schlegel nur bis auf den Tod des Trajan. Mit Hadrian tritt "die griechische Sprache und Literatur ... allmählich wieder in Hrsg. V. J.D.Gürtler, Leipzig 1832 (= Bd. 3 der Sbdgei Ausgabe Fr. Aug. Wolf s Vorlesungen über die Alterthumswissenschafi, hrsg. v. J.D.Gürtler u. S.F.W.Hoffinann, ebd. 1831-35). Quellen der Geschichte der römischen Litteratur, ebd., 6f. Ebd., 288f. Ebd., 330-^00. ^^ Ebd., 364f. Dort über De lingua Latina: "Was jetzt da ist, aithält die Etymologie, die höchst unglücklich ist; kindische Einfalle, wie Wörter können abgeleitet werden. Jedoch machen eine Parthie (sie) gel^entlicher Bemerkungen über die philosophische Grammatik und litterärische hingeworfene und antiquarische Nachrichten dieses Stück sehr schätzbar. Zur Kenntnis des alten Lateins muss man es durchlaufen, und zwar mit den trefflichen Noten von Scaliger". Ebd., 359f. ^^^ Erschienen: Wien 1815, 4S22 (in der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe in Bd. 6, hrsg. V. H.Eichner, München &c. 1961). ^^^ Ebd., 86. Schl^els hohe Wertschätzung des Varrò kommt bereits in einer am 26. 1. 1804 gehaltaien Pariser Vorlesung zum Ausdruck: "Die vorzüglichsten Prosaisten der ersten Epoche [sc. des von Schl^el so benannten 'goldenen Zeitalters'] sind Varrò, Cicero, Caesar, Sallust, Livius und Plinius der Ältere" (in der Kritischen Ausgabe [s. vorige Anm.] in Bd. 11 [hrsg. V. E.Behler, München &c. 1958], 131-37, dort 133).
Varros Leistung im Urteil der Mit- und Nachwelt
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ihre natürlichen Rechte ein". Schlegel faßt also Varros gelehrten Universalismus pointiert als kulturelle Identität stiftende Vorleistung auf dem Wege zu nationalrömischer "Blüte". Schlegel hätte sich für seine Ansicht schon auf Cicero berufen können, der im ersten seiner dialogisch konzipierten Academici libri Varrò wie folgt anspricht; "... nos in nostra urbe peregrinantis domum deduxerunt,
errantisque tamquam hospites tui libri quasi
ut possemus aliquando qui et ubi essemus agnoscere. tu aeta-
tem patriae, tu descriptiones tençoram, tu sacrorum iura, tu sacerdotum, tu domesticam, tu bellicam disciplinam, tu sedum regionum locorum, tu omnium divinarum hiunanarumque rerum nomina genera officia causas apeniisti; plurimum quidem poetis nostris omninoque
Latinis et litteris luminis et verbis attulisti ..."
Durch Sperrung habe ich drei in unserem Zusammenhang besonders wichtige Punkte in Ciceros elogium hervorgehoben: 1) Varros Werke - so Cicero - haben die Römer, die gleichsam wie Fremde in ihrer eigenen Stadt heimatlos waren, 'heimgeleitet', d.h. heimisch gemacht. 2) Sie waren nunmehr imstande zu erkennen, wer und wo sie waren. 3) Varrò hat die Römer 'aufgeklärt' {plurimum ... luminis attulisti, vgl. enlightenment, éclaircissement) über ihre Dichter und überhaupt über ihre Literatur und Sprache^^'. Aus Ciceros Zeugnis spricht geradezu die Vorstellung einer 'nationalerzieherischen' Bedeutung des Varrò, die er gerne über die vorgenannten Lange nach Fertigstellung dieses Kapitels wurde mir die Freiburger Dissertation von T.Baier, Werk und Wirkung Varros im Spinel seiner Zeitgenossen. Von Cicero bis Ovid, Stuttgart 1997, bekannt. Hier eine umsichtige Darstellung des von Empfindlichkeiten nicht freien Verhältnisses zwischen Varrò und Cicero (15-70, vgl. 185f.). Zur Umarbeitung der Acad. libri (Varrò ersetzt die Trias Hortensius, Catulus, Lucullus) s. 23-27. Ich bin nicht sicher, ob man in Ciceros Bemerkung Anspielung nur auf Varros Werke De poetis und De poematis erkennen darf (so L.Straume-Zimmermann u. O.Gigon im Kommentar ihrer zweisprachigen Ausg., M.T.Cicero - Hortensius. Lucullus. Academici libri, München/Zürich 1990, 457). Aber es wird besonders an diese Werke gedacht sein (womit ein wichtiges Indiz für die Datierung dieser Schriften gewormen wäre [für De poetis hat Dahlmann, Studien, 101, schon den September 47 als terminus ante quem ermittelt]: 45 v. Chr. als terminus ante quem auch für De poematis). W.Ax, Disputare in utramque partem - Zum literarischen Plan und zur dialektischen Methode Varros in de lingua Latina 8-10, RhM 138, 1995, 146-77, plädiert für die Beziehung auf die "philologische(n) und sprachwissenschaftliche(n) Arbeiten aus der ersten großen Schaffensperiode Varros (ca. 59-49 v.Chr.) ... z.B. de origine linguae Latinae ad Pompeium Magnum (sicher vor 48 v.Chr.), de sermone Latino ad Marcellum (vor 45 v.Chr.), de similitudine verborum und de utilitate sermonis (nicht datierbar)" (146 Anm. 1).
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Bereiche (xmd über die von Varrò ins Feld geführten Menippeischen Satiren, laudationes^^° und Einleitungen seiner Antiquitates^^^) hinaus auch auf genuin philosophische Studien erweitert sähe: "philosophiam ... multis locis inchoasti, ad impellendum satis, ad edocendum parum"'". Es ist mißlich, daß wir über Varros eigene Intentionen nicht genügend orientiert sind, um die von außen an ihn herangetragenen Ansprüche zu korrigieren^^^. In Ciceros Darstellung jedenfalls zeigt er sich an didaktischen Problemen durchaus interessiert; so kommentiert er seine dialektischen Erörterungen im Satirenwerk mit den Worten: "quae quo facilius minus docti intellegerent, iucunditate quadam ad legendum invitavimus""'. Wenn wir mit Dahlmarm dialogische Komposition des Werkes De poematis für wahrscheinlich^^^ und im Falle von De poetis wenigstens nicht für ausgeschlossen halten^^®, so zeugte auch dies von Varros pädagogischem Sinn^^^. Von der leserfreundlichen Konzeption der Imagines, die übrigens - wie zwei Pariser Handschriften des Hieronymuskatalogs lehren^^^ -
Gemeint sind wohl die Logistorici. Vgl. DaMmann, Varroniana, ebd., 17, u. Straume-Zimmermann/Gigon, ebd., 457. Vgl. ac.lib. I 8. Ebd., I 9. ^^^ Die Orientierungsftmktion der einschlägigen Varronischen Gesdiichtswerke wird in einer biologistisch-geschichtsphilosophischen Ausdeutung zuletzt offensiv vertreten von L.Deschamps, ebd. [Anm. 337], 189f.: "... Notre auteur n'écrit pas des oeuvres historiques par hasard. A ses yeux elles constituent un moyen de faire prendre conscience à ses concitoyens de leur histoire et du point où ils en sont. D cherche à leur rendre évident le rapport que les divers événemaits ont entre eux. D'une série d'époques isolées il fait une continuité, un devenir. ... &c.". Ebd., I 8 H D., Varros Schrift 'de poematis' (s. oben Anm. 300), 5-9. H.D., Studien zu Varrò 'De poetis', ebd., 105-08. Eine gewisse Stütze erhaltai Dahlmanns Überl^;ungen zur dialogischen Disposition der beiden in Rede stdienden Schriftai jetzt durch Ax' überzeugaiden Nachweis, daß die Bücher 8 u. 9 des Hauptwerkes De lingua latina "auch in ihrem jetzigen Zustand noch erkennen (lassen), daß sie ursprünglich als Dialog, und zwar als Dialog nach dem Muster der ciceronischen Dialoge im Stil des disputare in utramque partem geplant waren" (ebd., 174). Vgl. Ritsehl, Ueber des Hieronymus Varronischen Schriftenkatalog, RhM 12, 1857, 147-54 (wiederabgedr. in: Op. phil. Ш [s. oben Anm. 294], 522-30, dort 528f ).
Konzeption der Varronischen Literaturforschung
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auch in einer gewiß umsatzträchtigen vierbändigen έπντομή verbreitet Verden, war schon weiter oben die Rede^^'. Auch die enzyklopädische Anlage seines Gesamtwerkes läßt vermuten, daß er sich mindestens der volkspädagogischen Implikationen seines aufklärerischen Schaffens bewußt war. Nichts jedoch deutet daraufhin, daß die Antriebskräfte seiner wissenschaftlichen Arbeit politische waren; hier ist grundsätzlich zwischen Wissenschaft in politisch-pädagogischer Absicht und einer Wissenschaft zu imterscheiden, die sich - wiewohl sie sich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bewußt ist - keinen anderen als strikt akademisch gefaßten Prinzipien verpflichtet weiß^^°. Wie weit er mit seiner strikt sachorientierten Forschung über die - insgesamt bescheidenen - Erkenntnisse all seiner Vorgänger hinauskam, davon zeugt die prompte A n - und Übernahme seiner Ergebnisse gerade durch die literarhistorisch interessiertesten und gebildetsten Zeitgenossen: Atti cus und Cicero^^'. Über die Art der Varronischen Literaturkritik haben wir hier nicht zu urteilen^^^. Daß er in ästhetischer ffinsicht konservativ verfiihr^^^, läßt sich nur im Nachklang der mit Horaz' Satiren- und Epistelnwerk gewaltig aufkommenden quereile vermuten^^'*. Er tritt dort zwar nirgends namendich in Erscheinung, ist aber unter den von Horaz herausgeforderten critici (ер.
S. oben S. 81f. Die sei es bewußt, sei es imbewußt ausgeübte Orientierungsftmktion der (Literatur-) Geschichtsschreibung wird überschätzt von J.Rüsen, Die Kraft der Erinnerung im Wandel der Kultur. Zur Innovations- und Emeuerungsfunktion der Geschichtsschreibung, in: Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschafisgeschichte als Innovationsvorgabe, hrsg. V. B.Cerquiglini u. H.U.Gumbrecht, Famkftirt a.M. 1983, 29-46. Vgl. hierzu F.Münzer, Atticus als Geschichtsschreiber, Hermes 40, 1905, 50-100, dort 60f., u. Leo, Plautinische Forschungen, ebd., 66f. Allgemein zu großer Vorsicht bei der Beurteilung seiner literarkritischen Lástung rät G.M.A.Gnibe, The Greek and Roman Critics, London 1965, 162f. Erhellende Bemerkungen (zur Varronischen Synthese platonischer u. empedokleischer Literarästhetik) jetzt bei L.Deschamps, Varron et les poètes, Latomus 49, 1990, 591-612. Deschamps' Beobachtungen stützai sich bes. auf das für Varros Literaturkritik noch immer zu wenig berücksichtigte Hauptwerk De lingua Latina. Varros Konservatismus betont bei E.Fantham, The growth of literature and criticism at Rome, in: The Cambridge history of literary criticism I: Classical criticism, ed. by A.Kennedy, Cambridge 1989, 220-44, dort 2 4 2 ^ 4 - Über Varros philosophischen Hintergrund informiert V.d'Agostino, Sulla formazione mentale di Varrone Reatino, RSC 3, 1955, 24-31. Die fragmentarische Überlieferung des Varrò dokumentiert einseitig seine antiquarische Literaturforschung. Wie weit er seine Studie De poetis geführt hat (ob rtwa zeitgenössische Literatur berücksichtigt war), ist unbekannt. Dahlmann, Studien, ebd., 50, hält für sicher, daß die Bdiandlung des Accius den Abschluß bildete- Über die querelle s. ausführlich unten S. 174ff.
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M. Terentius Varrò
Π 1, 51) mitzudenken^^^ Als 'sospitator antiquitatis', den allein man schon zu Lebzeiten in der Bibliothek des Asinius Pollio mit der Aufstellung seiner imago ehrte (Plin. nat. hist. 7, 115), wird er auch zu Augustus' Zeiten unangreifbar gewesen sein, zumal der neue Herrscher sich in Teilen seines großen gesellschaftlichen Restaurationswerkes (Bedeutung der Familien- imd Ahnenforschung, des Kultischen, Romanisierung vieler Bereiche des kulturellen Lebens) zweifellos auf die systematischen Forschungen des Reatiner Gelehrten stützen koimte^^^. Varros Projekt einer römischen Literaturgeschichte hat sich unabhängig von seiner literarkritischen Tendenz durchgesetzt, und zwar auf die paradoxale Weise, daß es überzeitlich wurde, indem es zugrunde ging. Alle, die nach ihm kamen, haben von ihm genommen, was sie brauchen konnten, und es ihren eigenen literarhistorischen Arbeiten eingepflanzt. Die Kermtnisse, die man Varrò entnahm, wurden Gemeingut, das man bald aufhörte mit seinem Namen zu verbinden. Die Literaturgeschichte, die Varrò als erster in allen ihren Zweigen überblickt und zur Darstellung gebracht hat, war in seiner schriftstellerisch entfalteten εγκύκλιος παιδεία ein herausragender Pfeiler; das bekundet Cicero, das bekundet - auch in ihrem Schweigen über die Quellen ihrer Erkenntnis- die gesamte nachvarronisehe antike Literaturgeschichtsschreibimg, die, welche Form auch immer sie annahm, fast ganz von ihm abhängig ist, indem sie bevsaißt oder imbewußt von ihm ihren Ausgang nimmt^^^. Varros Aktualität, seine ungeheure Präsenz noch in der heutigen Literaturforschung ist gut gesehen und - wie so oft - auf den schönen Begriff gebracht von Francesco della Corte, dessen Urteil daher diesen Abschnitt beschließen mag: "Π suo tentativo di una storia letteraria della latinità, anche se non esaurito in un' opera sola, tuttavia rimase sempre per quei tempi il maggior documento dello spirito critico e storico applicato alla letteratura, dal quale i moderni non possono prescindere, ogni qualvolta ripensano metodicamente la evoluzione della letteratura Vgl. hierzu bes. F.Leo, Varrò und die Satire, Hermes 24, 1889, 67-84, dort 79-81, u. zuletzt P.L.Schmidt, ebd. (Anm. 299), 110. Daß sich Horaz die Kenntnisse des Reatiners jedoch durchaus auch zunutze gemacht hat, beweist sein gattungsgeschichtlicher Abriß (ep. 2, 1, 139-55), d e r - w i e P.L.Schmidt, ebd., 110-16, plausibel d a r g e l ^ hat - auf Varros Forschungen, genauer: seine Studie De poematis zurückgeht. S. jetzt auch Baier, ebd. (Anm. 368), 113-20, u. unten S. 180f ^^ Vgl. Dahlmann, Literaturforschung, ebd., 4 (bzw. 82), u. L.Deschamps, ebd. (Aran. 358), 190. ^^ S. den Fortgang der Untersuchung sowie Dahlmann, Literaturforschung, ebd., 4 - 6 (bzw. 82-84).
Varrò: »sospitator antiquitatis«
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latina. Π metodo storico, etimologico e analogico è il medesimo negli studi della lingua come in quelli della letteratura; ma, mentre i risultati linguistici sono oggi ricordati come ingenui tentativi di una pseudoscienza, quelli letterari sono rimasti ancora attuali per la storia letteraria"^*'.
F.d.C., Varrone, ebd., 195. Im einzelnen freilich u n t a r l i ^ della Cortes Darstellung mitunter erheblichem philologischem Zweifel. Dahlmaims Generalkritik (Gnomen 27, 1955, 176-81) ist nicht unberechtigt.
IV. Der Literarhistoriker als Dramaturg: Ciceros Brutus
"TÒ τιερί έαυτου λέγειν ώς τι οντος ή δυναμένου προς έτέρους ... λόγω μεν επαχθές άποφαίνουσι πάντες καΐ άνελεύθερον, εργω δ' ού πολλοί την άηδίαν αύτοΰ διατιεφεύγασιν ούδέ των ψεγόντων." (Plutarch, ΠερΙ τοϋ έαυτόν έπαινεΐν άνεπιφθόνως, 1)
Wenn die Leistung Varros darin besteht, eine wissenschaftliche Literarhistorie in Rom allererst begründet zu haben, so gebührt Cicero - w i e jetzt zu zeigen ist - das Verdienst, die kunstmäßige Form der Literaturgeschichtsschreibung auf ihrer Höhe vorgeführt zu haben. Zugleich hat er stärker als alle römischen Literaturhistoriker vor und nach ihm Literaturgeschichte, d.i. im Brutus·.
7í/íeíonÁ:geschichte, als Entwicklungsgeschichte
geschrieben:
Das τ έ λ ο ς aber, auf das sie - in seinen Augen - zustrebte, war er selbst^^^. Die Stufen der Entwicklung sind folgende: 1) Frühphase mit dem 'Schlußstein' Cato 2) Tib. u. C.Gracchus und ihre Zeit 3) Antonius und Crassus 4) Hortensius imd Cicero.
Hierin vor allem unterscheidet sich die Ciceronische Abhandlung von allen früheren teleologischen Entwürfen, also etwa den kunstgeschichtlichen Darstellungen des Xenokrates v. Sikyon und Antigonos v. Karystos. Daneben kommt die von K.Bringmarm, Untersuchungen zum späten Cicero, Göttingen 1971 (= Hypomn. 29), 29, betonte Neuheit der Applikation des aristotelischen Entwicklungsgedankens (Po. 1449M4f K[assel]: καΐ πολλάς μεταβολάς μεταβαλουσα ή τραγωδία έπαύσατο, έπεί εσχε την έαυτης φύσιν) auf die spezielle (Rhetorik-)Geschichte erst in zweiter Linie in Betracht.- Ganz getrennt zu halten von dem Ciceronischen Modell ist auch der mit Hieronymos aufkommende chronologisch-biographische Literaturabriß, an dessen Ende der Verfasser seinen eigenen Namen fügt.- Eine grundlegende Untersuchung des teleologischen Denkens bei Aristoteles (und seiner Vorgeschichte) jetzt durch W.Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, Stuttgart 1998, 255-312. Neuzeitliche Berufungen auf Aristoteles erscheinen, wie Kullmann im Kontext der "Aktualität der aristotelischen Biologie" glaubhaft machen kann, mitunter problematisch (s. bes. 306-12).
Literaturgeschichte als Entwicklungsgeschichte
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Ich verzichte auf die Beifügung der zugehörigen Paragraphen, da Cicero seine Darstellung nicht kontinuierlich von einem Hauptpunkt zum anderen geführt hat, sondern zahlreiche Windungen, Brechungen und Umwege in den Kauf nimmt. Dies hängt vor allem mit der Konzeption des Ganzen als Dialog zusammen^'®. Die dialogische Struktur ist die Antithesis, die die Thesis von der Literargeschichte als Entwicklungsgeschichte erträglich macht: Das Kontinuum der Ciceronischen Teleologie ist abgebildet vor dem Hintergrund des diskontinuierlich gehaltenen Diskurses über die Geschichte der Beredsamkeit. Der Dialog ist die List, vermittels derer der Leser nrit der Selbstinthronisation des Erzählers als 'Helden' der Geschichte 'versöhnt' wird. Zum Schauplatz des 'Dramas': Der Brutus 'spielt' zur Zeit der Alleinherrschaft des Caesar. Der Ausgang der Schlacht bei Thapsus (6. 4. 46) ist wenigstens am Anfang des Dialogs - noch ungewiß. Cato ist noch lebend gedacht. Wenn später von L.Manlius Torquatus und P. Cornelius Lentulus Spinther als Verstorbenen die Rede ist^", mag dies im Erkenntnisfortschritt während der Niederschrift seine Ursache haben. Cicero wird es bei der abschließenden Redaktion des Werkes entgangen sein^'^. Entstehungszeit und fiktive Zeit des Dialogs fallen annähernd zusammen (Winter 47/46)^^^. Die Gesprächsteilnehmer sind Cicero, der den diexegetisehen Hauptteil bestreitet, M.Iunius Brutus, der Namensgeber des Dialogs und spätere Caesarmörder, sowie T.Pomponius Atticus. Die Szenerie ist ein Wandelgang (xystus) im Garten (pratulum) von Ciceros (Stadt-^''')Haus. Man spricht, nachdem man sich propter Piatonis Über die Gestaltungsmittel Ciœronischer Dialoge und ihr Verhältnis zur akademisch-peripatetischen Tradition oriaitieren E.Becker, Technik und Szenerie des ciceronischen Dialogs, (Diss. Münster) Osnabrück 1938, W.Süss, Die dramatische Kunst in den philosophischen Dialogen Ciceros, Hermes 80, 1952, 419-36, J.Andrieu, Le dialogue antique. Structure et présentation, Paris 1954, u. M.Ruch, Le préambule dans les oeuvres philosophiques de Cicerón - Essai sur la genèse rt l'art du dialogue, Paris 1958. In § 265 bzw. 268. Spuren einer Überarbátung haben im Brutus nacheinander R.Sabbadini, Dubbi sul Bruto, RF 29, 1901, 259-61, E.Norden, Aus Ciceros Werkstatt, SPA, Berlin 1913, 2-32 (wiederabgedr. in: ders.. Kleine Schriftai, hrsg. v. B.Kytzler, Berlin 1966, 133-64, dort 133-37), u. K.Barwick, ßn/te-Ausg., Heidelberg 1949, 5f., entdeckt. Vgl. auch H.Fuchs, Nachträge in Ciceros Brutus, in: Navícula Chiloniensis, FS F.Jacoby, Laden 1956, 12346. Vgl. D.Groebe, Die Abfassungszeit des Brutus und der Paradoxa, Hermes 55, 1920, 105-07 (Dez. 47 bis 1. Feb. 46), E.A.Robinson, The date of Cicero's Brutus, HSPh 60, 1951, 137-46 (Beginn etwa im Okt. 47), Ruch, ebd. (Anm. 390), 143^7 (terminus ante quem. 20. April 46), u. den Kommentar von A.E.Douglas, Oxford 1966, ix f. Vgl. §20: nuper in Tusculano u. §300/Cic.: sed in Cumano auf in Tusculano aliquando, si modo licebit [sc. orationes veteres explicabo].
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Ciceros Brutus
Statuant niedergelassen hat (§24)^'^. Die Reminiszenz an den Rahmen des Phaidros ist eine rein historische: Die Urbanität des römischen Kolloquiluns ist durch und durch attisch^'®, der Gegenstand der Verhandlung ist aber anders gewählt; an die Stelle der Philosophie ist die Geschichte getreten^'^. Das erklärte Ziel des Gewaltmarsches durch die Geschichte der römischen Beredsamkeit ist als Bitte des Atticus an Cicero formuliert; er möge si es animo vacuo (§20) bzw. si tibi est commodum (ebd.) - den kürzlich begonnenen Sermon de oratoribus fortsetzen: quando esse coepissent, qui etiam et quales fuissent (ebd.). Von den Airfängen der Redekunst in Rom also soll Cicero handeln, eine Ahnengalerie aufführen {qui ... fuissent) und eine Charakteristik und Kritik der römischen Redner liefern {quales fuissent). Eine Negativfassung des Themas findet sich Zeilen später zu Beginn des Ciceronischen Berichts: "laudare igitur eloquentiam et quanta vis sit eius expromere quantamque eis, qui sint eam secuti, dignitatem afiferat, neque propositum nobis est hoc loco ñeque necessarium" (§25). Weder ein έγκώμιον auf die Beredsamkeit noch eine Wirkungsästhetik der Rhetorik, weder ein λόγος προτρεπτικός noch eine Soziologie des rhetorischen Geschäfts liegt in Ciceros Absicht, zumal er all diese Aspekte teils in fiΐheren^^^, teils in späteren Darstellimgen^'^ berücksichtigt hat. Zu einem Zeitpimkt, da der Beredsamkeit ihre Hauptwirkungsstätte, das forum als Schauplatz öffentlich wirksamer Rede, auf Dauer genommen scheint, gilt das Augenmerk des Rhetoriktheoretikers der Geschichte. Im Iimehalten,
Die Zitate nadi der (nicht durchw^ zufriedenstellenden) Teubneriana von H.Malcovati, Leipzig П970. ^^^ Becker, ebd. (Anm. 390), übertreibt die Betonung des römischen Kolorits zahlreicher Dialoge. Gerade im Brutus erinnert der stilisiert-improvisatorische Charakter der szenischen Einführung lebhaft an Platonische Eingangssituationai (anders stdit es etwa in De oratore-, über das Verhältnis der platonisierenden und romanisierenden Elemente in dem größeren Werke s. das ausgewogene Urteil bei G.Zoll, Cicero Platonis aemulus - Untersuchung über die Form von Ciceros Dialogen, besonders von De oratore, [Diss. Fribourg 1958] Zürich 1962, 80-82). Freilich verdankt der Brutus nicht zuletzt dem Phaidros die "Vorstellung einer dreifachai Wurzel oratorischer Vollkommenheit" (B.Kytzler in der Einführung zu seiner zweisprachigen Ausgabe des Brutus, ''München/Zürich 1990, 286f ; die "drafache Wurzel" meint: natura [φύσις], doctrina [έτηστημη], industria [μελέτη]). Besonders in seinem dreibändigen rhetoriktheoretischen Hauptwerk De oratore (55 ν. Chr.). Hier ist v.a. an den Orator (46 v.Chr.) und das einer Demosthaies- und AischinesÜbersd:zung beig^ebaie Vorwort De optimo genere oratorum (um 46 v.Chr.) zu denken.
Literaturgeschichte und Literaturgeschichtsschreibung
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ja im (vorübergehenden) Abbruch der Tradition römischer Rede, besinnt sich der - nach Hortensias' T o d - anerkanntermaßen fuhrende römische Redner und Redelehrer auf die Geschichte, auf die Ausbildung, Fortbildung und - wie ihm scheinen will - Vollendung seines Métiers. Wie man von dem alternden Goethe gesagt hat, daß er sich selbst geschichtlich, d.h. zur geschichtlichen Erscheinung geworden sei""®, so läßt sich von Cicero behaupten, daß er im Augenblick, wo die Redekunst fürs erste zum Schweigen gebracht ist, sein rednerisches Wirken als historische Größe begreift: Geschichtsreflexion, deren Quell politische Ohnmacht ist, Nachdenken über Geschichte, heraufgeführt aus dem Schweigen ihres Gegenstands, der in der historischen Evokation zum stummen Appell, zur energischen Einforderung einer vorerst verstellten Zukunft gerät. Indem die Geschichte römischer Rede auf unabsehbare Zeit intermittiert ist, kommt das Subjekt-Objekt des historischen Prozesses, der Redner, als geschichtsbildende und durch Geschichte gebildete Größe 'zu sich selbst': Er tritt heraus aus der Prozessualität der Gattungsentwicklung und schreibt Geschichte. Literaturgeschichte entsteht, die sich dem Unglück ihres Gegenstands verdankt, Literaturgeschichtsschreibung als Dokument eines Scheitems der Literatur. Das eben beschriebene Phänomen der Geschichtswerdung nach der Geschichte ist mitnichten eine paradoxale Figur, findet es doch seine formale Entsprechung in der Ablösung der Literaturgeschichte durch die Literaturgeschichtsschreibung. Ciceros Rednergeschichte ist deutbar als idealtypischer Fall der Überwindimg einer geschichtsträchtigen Kunst durch kunstvolle Geschichte. In äußerlicher Perspektive drängt sich der Vergleich mit den philosophischen Gebäuden der maître-penseurs, Piatons etwa, vor allem Hegels auf Wie Hegel wähnen konnte, dem kolossal errichteten Gebäude seiner Geistesbegrifflichkeit den Schlußstein aufgesetzt zu haben, so konnte """ Vgl. R.Benz im biographischen Abschlußessay der Hamburger Ausgabe (HA), Bd. 14, Hamburg 1960, 'Münchai 1981, 375,- Goethe ist Cicero auch darin ähnlich, daß er im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit eine literarhistorische Skizze des Entwicklungsgangs der deutschen Literatur des 17. u. 18. Jahrhunderts geliefert hat, die in die Beschreibung des eigenen Schaffens einmündet: "Habe ich durch diese kursorischen und desultorischen Bemerkungen über deutsche Literatur meine Leser in ánige Verwirrung gesetzt, so ist es mir g l ü c k t , eine Vorstellung von jenem chaotischen Zustande zu geben, in welchem sich mein armes Gdiim befand, als ..." (HA 9, 282; vgl. auch 9, 258). Goethes Geschichtsschrabung ist nidit teleologisch; der entscheidende Unterschied zum Ciceronischen Modell erhellt aus Goethes lakonischem Eingang: "Die literarische Epoche, in der ich geboren bin, entwickelte sich aus der vorhergehenden durch Widersprudi" (ebd., 258). W.Mahrenholz stilisiert Goethe im Anfang seines Kompendiums Literargeschichte und Literarwissenschafi (Leipzig ^1932) - wohl übertrieben - zum πρώτος εύρετής der modernen Literaturgeschichtsschreibung: "Es ist tatsächlich der erste Versuch einer wissenschaftsähnlichen Beschreibung literargeschichtlicher Phänomene" (4).
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Ciceros Brutus
Cicero glauben, die römische Eloquenz auf die Spitze und durch ihre Historisierung noch über ihren Scheitelpunkt hinaus in die museale Dauer getrieben zu haben. Der schönen geschichtsphilosophischen Konstruktion steht jedoch ein Name entgegen: Brutus. In der monumentalen peroratio^''^ mit der bedrückenden Bestandsaufnahme des rhetorisch-politischen Lebens der Gegenwart ermuntert Cicero den jüngeren Freimd: "tu tamen, etsi cxusum ingeni tui, Brute, premit haec importuna clades civitatis, contine te in tuis perennibus studiis et effice id quod iam propemodum vel plane potius effeceras, ut te eripias ex ea, quam ego congessi in hunc sermonem, turba patronorum" (§332). Auf Brutus ruht Ciceros und Atticus' Hoffnung; "tibi favemus, te tua frui virtute cupimus, tibi optamus eam rem publicam in qua duomm genemm amplissumorum renovare memoriam atque augere possis" (§331)
Niemand konnte im Frühjahr 46 ahnen, daß der so angeredete Brutus nur ein biennium später zum tatmächtigen Protagonisten des Umsturzes werden sollte, daß mithin am Ende des erzwungenen Schweigens nicht das befreit-befreiende Wort, sondern die verzweifelte Tat stand. Aber auch ohne dieses Wissen steht Brutus in 'seinem' Dialog bei aller Ungewißheit für die wie immer geartete Zukunft römischen Redens. Die Ansprache an den 'Hoffnungsträger' legitimiert geradezu die Reflexion über das Geschichtliche. Die narratio und in des Wortes Doppelsiim erschöpfende enumeratio Himderter von Rednern'"'^ erhält durch den mit Mühe aufgerichteten Entwurf einer Zukunft ihre appellative Substruktur: Was Cicero erreicht hat. """ §329-33. Zum fdilendai ScMuß s. die subscriptio des Flavio Biondo zu der von ihm verfaßten Abschrift des Brutus: Non erat amplius in exemplari. a quo abscisse sunt charte due. quamquam ut mihi videtur nedum charte sed panca admodum verba deficiunt. Neben den lunii Bruti kommen hier - mütterlicherseits- die Servila ins Spiel. Douglas, ad loc., verweist zustimmend auf die Deutung durch J.P. V.D.Balsdon, Historia 7, 1958, 91, wonach an vorli^ender Stelle auf das Tyrannenerbe beider Familien (L.Brutus, Servilius Ahala) angespielt und áne versteckte Aufforderung zum Caesaraimord enthalt»! sei. Unaitbehrliches ffilfsmittel im Dickicht der Namen; G.V. Sumner, The Orators in Cicero's Brutus: Prosopography and Chronology, Toronto 1973 (= Phoenix, Suppl.-Bd. 11). Wertvolle Beobachtungen zur Chronologie auch bei A.E.Douglas, "Oratorum aetates", AJPh 87, 1966, 290-306. Zur Prosopographie der erwähnten und nicht erwähnter vorliterarischer römischer Redner s. jetzt auch Suerbaum, unten Anm. 410 u. 415.
Verstummen und (Ohn)Macht des Politischen
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soll in Brutus weiterleben. Brutus selbst hat in einem an Cicero gerichteten Schreiben das Überdauern von dessen politischem Lebenswerk behauptet'*®'*. So kongruiert die adhortatio an den Jüngeren auffällig mit dessen eigenen Wünschen. lUietorik ist in der Krise der späten Republik von Politik nicht zu treimen. Unter der ausdrücklichen Bedingung zwar, ut de re publica esset Silentium (§11), haben Brutus und Atticus Cicero aufgesucht; doch es ist von Anbeginn nicht zweifelhaft, daß vom Verstummen des Politischen nicht geschwiegen werden kann, wo die Politik als Ursache des Verstummens der Redekunst erkannt ist. Ja, das selbst auferlegte Verbot der Rede vom Politischen unterminiert, indem es laut wird, die erklärte Absicht. Die List des Rhetorikgeschichtsdramaturgen Cicero ist es, die Politik durch ihre explizierte (und noch an zwei späteren Stellen wiederholte''"') Aus- und Abgrenzung zum grenzenlosen, wirkungsmächtigen Substrat der literarhistorischen Darstellimg zu machen'*"®. Mehrere Perspektiven also sind im 'Drama' des Brutus miteinander verschränkt. Die Teleologie der römischen Rhetorikgeschichte läßt sich als Prozeß der Vervollkommnung ebensowohl lesen wie als Geschichte eines befürchteten Scheitems. Daß das Scheitern nur befürchtet wird, verbürgt den Appellcharakter des Textes und legitimiert überhaupt seine Entstehung. Soviel zur Szenerie des 'Dramas'. Wie inszeniert man Literarhistorie als Teleologie? Es braucht einen dunklen oder bescheidenen Anfang, bald mäßige, bald beträchtliche Steigerungen zu vorläufigen Höhepunkten und - selbstredend - einen effektvollen Schlußpunkt. Es braucht aber vor allem einen Hintergrund und Bezugspunkt, an dem die römische Entwicklung sich messen läßt. Diesen Bezug liefert im Brutus die griechische Rhetorikgeschichte (§§26-52)''°^. Dabei ^ § 3 3 0 , vgl. §§11-13. §157 erinnert Atticus selbst an sein Schweig^ebot; Dixeram ... a principio, de re publica ut sileremus; itaque faciamus. §266 beklagt Brutus Ciceros vergebliches Eintreten für den Frieden während des B ü r g e r k r i ^ . Hätte man auf ihn gdiört; ... пес istos excellentis viros пес multas alios praestantis civis res publica perdidisset, worauf Cicero entg^et: Sileamus ...de istis, ne augeamus dolorem, nam et praeteritorum recordatio est acerba et acerbior exspectatio reliquorum. itaque omittamus lugere et tantum quid quisque dicendo po tue rit, quoniam id quaerimus, praedicemus. Das Politische ist m.E. zu sehr brtont in C.Rathofers wenig anr^ender Studie Ciceros 'Brutus' als literarisches Paradigma eines Auctoritas-Verhältnisses, Frankfurt a.M. 1986, passim (u. schon - wenngleich mit anderer Stoßrichtung- in M.Gelzers Brutus-Studien, bes. in: Ciceros Brutus als politische Kundgebung, Philologus 93, 1938, 128-31). Jede monistische Deutung muß die komplexe Semantik des £)ialogs verfehlen. Zum Exkurs in die griechische Literatur s. A.E.Douglas, The Intellectual Background of Cicero's Rhetorica: A Study in Method, ANRW I 3, Beriin/New York 1973, 95138, bes. 102-06, E.Fantham, Imitation and evolution: the discussion of rhetorical imitati-
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Ciceros Brutus
fällt auf, daß das griechische exemplum imgeeignet ist, teleologischen Verlauf als solchen zu dokumentieren; im Gegenteil: Als die griechische Redekunst mit Demosthenes ihre Höhe erreicht hatte, begann schon mit der unmittelbar folgenden Generation (Demetrios von Phaleron) ein Prozeß der Entsubstantialisierung und Verweichlichung attischer Rede"*®^. Die einmal erreichte Höhe wird jedoch paradigmatisch gesetzt als quasi-normativer Untergrund auch für die römische Entwicklimg. Dies ist spürbar in zahlreichen Einzelportraits römischer Redner, deren Wissen und Können jeweils mit bestem griechischen Standard verglichen wird. Die teleologische Struktur des Brutus ist eine doppelt komparatistische: Rednerische Leistung auf den einzelnen Stufen ihrer geschichtlichen Entwicklung wird gemessen an dem 'Außen' der griechischen Vorbilder wie an dem 'Innen' der römischen Verlaufsgeschichte mit ihren zweierlei Bezugspimkten: der Unfertigkeit der Frühzeit und der Vollendung und Reife einer schon historisch gewordenen Gegenwart'"''. Hat der Progress römischer Redekunst kompositioneile Spiu^en im Dialog hinterlassen? Ist er formal, an den Brüchen und Fugen der Darstellimg, ablesbar? Betrachten wir den Anfang der Ciceronischen route d'histoire·. Am Anfang der Ciceronischen Rhetorikgeschichte steht die Archäologie. Cicero spricht von jenen Rednern, de quibus difficile est plus intellegere quam quantum ex monumentis suspicari licet (§52)'"°. Daß die monumenta die indirekte historische Überlieferung meinen, geht aus den Mitteilungen über die ältesten 'Redner' hervor (§§53-57): Von keinem dieser Männer las Ciceros Zeit auch nur eine Zeile. 'Konjekturalkritik' also treibt Cicero im Beginn seiner Abhandlung, und so urteilt er selbst:
on in Cicero De oratore 1. 87-97 and some related problems of Ciceronian theory, CPh 73, 1978, 1-16 (dort, 6 - 1 3 , ein eingdiender Vergleich mit der venvandtai friiherai Stelle [de orat. 2, 92-95]), u. K.Heldmann, Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst, München 1982, 133-37 (fundierte Erörterung der Kanon-Problematik). Anders offenbar Rathofer, ebd. [Aran. 406], 71f., dessen drëstufiges Entwicklungsschema: Perikles, Korax/Teisias, Isokrates die anschließende D^eneration außer acht läßt. Zur Praxis der 'komparatistischen' Ästhetik s. unten den ausführliche Abschnitt zur Kritik des Cato (S. 103ff.). Übrigens kann ich Heldmanns Auffassung nicht teilrai, daß "das teleologische Moment im Brutus ... wohl dadurch, daß die Beredsamkeit insgesamt eine vergleichsweise sdir späte ars sei, ... wieder abgeschwächt, der Bezug zu Ciceros persönlicher Leistung ein wenig neutralisiert" werde (ebd. [Aran. 407], 204). Zur Frühphase der römischen Rhetorikgeschichte ist jetzt die mir nach Abschluß dieses Kapitels bekannt gewordene eingdiende Darstellung durch W.Suerbaum, Vorliterarische römische Redner (bis zum B ^ n n des 2. Jhs. v. Chr.) in Ciceros 'Brutus' und in der historischal Überlieferung, WJA 21, 1996/97, 169-98, zu vergleichen.
Aníange der Rhetorik in Rom
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"sed eos oratores hábitos esse aut ошпшо tum ullum eloquentiae praemium fiiisse nihil sane mihi legisse videor'*"; tantummodo coniectura ducor ad suspicandum" (§56). Der erste qualitative Sprung ist ein Sprung noch auf der Ebene des Scheins'" D e n n auch von M. Cornelius Cethegus, älterer Zeitgenosse schon des Cato, war zu Ciceros Zeit nichts erhalten: "quem vero exstet et de quo sit memoriae proditum"" eloquentem fuisse et ita esse habitum, primus est M.ComeUus Cethegus, cuius eloquentiae est auctor et idoneus quidem mea sententia Q.Ennius ..." (§57). Es ist erzählstrategisch interessant, daß es auf dieser Stufe noch nicht des großartigen Hintergrunds der griechischen oder entwickelten römischen Beredsamkeit bedarf. Im Gegenteil: Die bescheidene Leistung der Frühzeit, die zu überschätzen man nie e m s t h a f t versucht sein wird, wird erhöht durch Herabsetzung "gewisser Redner" der Gegenwart. Von Ennius' Urteil über Cethegus berichtet Cicero: "et oratorem appellai et suaviloquentiam"''' tribuit, quae nunc quidem non tam est in plerisque: latrant enim iam quidam oratores, non loquuntur" (§58). Seine wahre Einschätzung der Rednerei des Cethegus und aller Früheren verrät Cicero im Übergang zimi ersten Höhepunkt der narratio: "Hunc igitur Cethegum consecutus est aetate Cato, ... пес ... babeo quemquam antiquiorem, cuius quidem scripta proferenda putem, nisi quem Appi Caeci oratio haec ipsa de Pyrrho et nonnullae mortuorum laudationes forte delectant" (§61). Wie gestaltet Cicero den 'Höhepunkt vor dem Höhepunkt'; was berichtet uns Cicero? 1st, was er berichtet und wie er es berichtet, Literaturge"" "The roughness of early oratory was a commonplace", Douglas, ad loc. (mit Verweis auf Liv. 2, 32, 8 u. Cie. de erat. 1,14). Zu zuversichtlich J.-E.Demarteau, M.Tullii Ciceronis Brutus de claris oratoribus, texte revu et annoté, Möns 1867: "ici nous sommes sur le terrain solide de l'histoire" (ad loc.). "" Zur B^fïlichkeit s. S.Cecchis Komm., Cicerone - Brutus, Mailand/Rom/Neapel 1963: "exstet: è usato impersonalmente ed equivale a constet nel senso di una testimonianza formale, mentre sit memoriae proditum allude ad una testimonianza storica" (ad loc.). Suaviloquens ist "Übertragung des homerischen ήδυεττης (D. A 248)", Jahn/Kroll/Kytzler, ad loc.
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Ciceros Srato
schichtsschreibung, ist es Aimalistik, Biographie, Literarkritik oder ein Konglomerat von all diesem""^? Wie ist die literarkritische Tendenz seiner Ausführungen? Welches sind seine Bezugspunkte? A m Anfang steht die Bestimmung der Lebensdaten über Konsulatsjahr (relativ errechnet zum Konsulat des Cethegus) und Todesjahr"'®. Schon hier ist die Einkleidimg der nüchternen Zahl subjektiv: "eum nos ut perveterem habemus, qui L.Marcio M.'Manilio consulibus mortuus est, annis LXXXVI ipsis ante me comulem. nec vero habeo quemquam antiquiorem, cuius quidem scripta proferenda putem..." (§61). U n d w i e zur Bestätigung dieser Setzung gleitet Cicero ins Polemische ab, wenn er für möglich hält, daß irgend jemanden Appi Caed ipsa de Pyrrho delectant
(§61
(cf. §55""^) et nonnuUae
mortuorum
D a s Stichwort mortuorum
oratio
haec
laudationes'^^^
forte
laudationes
führt auf einen
Exkurs über die Frage der Geschichtsfälschung in Genealogien (§62)'*^°. bi An dieser Stelle sei auf eine weitere mir nachträglidi bekannt gewordaie Studie W.Suerbaums (vgl. oben Anm. 410) wenigstens hingewiesen: Fehlende Redner in Ciceros Brutus? Nebst Hinweisen auf fehlende Entwicklung, fehlende Belege undfehlende Ernsthaftigkeit in einer Geschichte der römischen Beredsamkeit, in: Vir bonus dicendi peri tus. FSA.Weische, hrsg. v. B.Czapla, T.Ldimann u. S.Liell, Wiesbaden 1997, 407-19. Audi Suerbaum hält den Brutus "für eine staunenswerte philologisch-historische Leistung" (408); im einzelnen kann er jedoch vieles beitragen, was der Einschätzung des Cicero als eines detailgenauen Literarhistorikers dier abträglich ist und mir die Berechtigung des von uns gewählten anderen Ansatzes nachdrücklich zu bestätigen scheint. Den uns vomdimlich interessierenden Aspekt der künstlerischen Durchformung des Werkes berührt Suerbaum nur am Rande. Auf die von ihm in Aussicht gestellte eingehende Erörterung der Entwicklungs-, B e l ^ - und Seriositätsfrage (S. 407) wird man gleichwohl gespannt sein. Hier zuerst sind uns die äußeren Daten überiiefert. Vgl. F.Padberg, Cicero und Cato Censorius - Ein Beitrag zu Ciceros Bildungsgang, (Diss. Münster 1932) Bottrop 1933, 34f (vgl. 60). Das Geburtsjahr war nach der Angabe §80: {Catone vivo) qui annos quinqué et octoginta natus excessit e vita leicht zu errechnen. Appius Claudius Caecus (Cos. 307 u. 296) ist für uns der "erste Name" der römischai Literatur, "der erste römische Schriftsteller" (Schanz/Hosius I 40), bes. auch "der erste baiannte Verfasser lateinischer Verse" (Leo, Geschichte, ebd., 42), und galt als solcher offensichtlich schon zu Ciceros Zát. Es trifft sich gut, daß Cicero seine Darstellung der Rhetorikgeschichte gleich an die früheste Literatengestalt anknüpfen kann. Zur frühesten Konsolationsliteratur vgl. die Darstellungen von Schanz/Hosius I 38f u. W.Kierdorf, Laudatio Funebris - Interpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der römischei Leichenrede, Meisenheim a.G. 1980, bes. 50f (zur Brutus-Stelle) u. 94111. Zum Verständnis des gastigen Hintergrunds unentbdirlich R.Kassel, Untersuchungen zur griechischen und römischen Konsolationsliteratur, München 1958, passim. Zu den beidai neglegenda s. jetzt Suerbaum, ebd. (Anm. 410), 176-80. Hierzu F.Münzer, Römische Adelsparteien und Adelsfamilien, Stuttgart 1920 (Nachdr.: Darmstadt 1963), 132-55.
M. Porcius Cato
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§63 leitet Cicero mit den Anfangsworten Catonis autem orationes überschriftartig zu dem ihn vornehmlich interessierenden Ausschnitt des Catonischen oeuvres über und gewinnt durch die negativ komparativische Formulierung non minus multae fere sunt [sc. orationes] quam Attici Lysiae sogleich den klassisch-griechischen Bezugspunkt, der wiederum näherer Erläuterung bedarf. Das 'tertium' ist nur scheinbar die Vielzahl der Reden; denn schon die auffällige Stellung des Beiworts Attici vor dem Namen ist programmatisch im Hinblick auf das Interesse der sich anschließenden Darstellung. Listig-verschmitzt liest sich vor diesem Hintergrund Ciceros biographisch-geographische Rechtfertigung der 'Attizität' des Lysias: "est enim Atticus, quoniam certe Athenis est et natus et mortuus et fimctus omni civium muñere" (§63); als hätte die Landsmannschaft im strengen Sinn mit dem rednerischen Stil zu tun; als müßte er den flos Atticus erst für Attica usuφieren, wie Timaios es quasi Licinia et Muda lege'^^^ (§63) für Syrakus getan hat. Daß Cicero es nicht bei dem zahlenmäßigen Vergleich belassen will, sondern eine wirkliche Synkrisis beabsichtigt, wird schon mit dem nächsten Satz klar: "et quodam modo est nonnulla in eis etiam inter ipsos similitudo; acuti sunt, elegantes faceti breves" (ebd.). Als genüge die Feststellung einer quodam modo vorhandenen nonnulla ... similitudo zum Ausweis der Vergleichbarkeit der Autoren, verbindet Cicero dies literarkritische Vorspiel gleich mit dem Ausblick auf die ganz ungleichmäßige Rezeption: "sed ille Graecus ab omni laude"*^^ felicior" (ebd.). Es folgt ein merkwürdiger Passus, in welchem Cicero den Charakter der Lysianischen Rhetorik vor dem Hintergrund des Geschmacks seiner Anhängerschaft skizziert. Die Inkonzinnität der Gedankenreihe, welche aus
G ^ e n die Anmaßung des römischen Bürgerrechts (95 v.Chr.); s. Jahn/Kroll/Kytzler, ad loc. (mit Hinweis auf Ascon. Com. 60: nam cum summa cupiditate civitatis Romanae Italici populi tenerentur et ob id magna pars eorum pro ctvibus Romanis se gereret, necessaria lex visa est, ut in suae quisque civitatis ius redigeretur). "Ab von Seiten, rücksichtlich", Jahn/Kroll/Kytzler, ad loc.; vgl. Kühner/Stegmann 1, 496.
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Ciceros Brutus
mehreren einander modifizierenden, zumeist konzessiven Satzgliedern geknüpft ist''^^, mag man aus folgender Skizze ablesen: "habet enim certos sui studiosos, qui non tarn habitus corporis opimos quam graciütates consectentur; quos, tenuitas ipsa delectat valetudo modo bona sit, quamquam in Lysia sunt saepe etiam lacerti, sic utfierinihil [ possit valentius; verum est certe genere toto strigosior - , jerfhabet tarnen suos laudatores, qui hac ipsa eius subtih[ tate admodum gaudeant" (§64). Jede 'redlich' gemeinte Literaturkritik und mehr noch eine auf objektive Darstellimg bedachte Literarhistorie wird von der Beobachtung, Detailbeschreibung und -analyse ausgehen; sie darf nicht glätten, was als Widersprüchliches erkannt ist. Bei Cicero nun fällt auf, wie die Beschaffenheit des Lysianischen Redestils an den Erwartungen der Anhängerschaft gemessen bzw. mit diesen kontrastiert wird. So verrät sich die innere Distanz des Historikers zum darzustellenden Gegenstand; nur resultiert sie nicht aus einem Bemühen um Objektivität, sondern aus der kritischen Haltung, mit der er das ihm innerlich Fremde ansieht. Nach solcher Vorbereitung kann Cicero nun plenis velis das betrübliche Bild von der Vergessenheit des römischen Autors entwerfen: "Catonem vero quis nostronim oratorum, qui quidem nunc sunt, legit? aut quis novit omnino?" (§65). Was folgt, ist eine regelrechte laus Catonis^^"^, für dessen literarische Qualität er sich verbürgt: Über 150 Reden (hier erst die definitive Zahl) hat er bis dahin aufgestöbert und durchgelesen: omnes oratoriae virtutes in eis reperientur (ebd.). Auch die Origines, in die bekanntlich nicht wenige Reden eingeflochten sind (vgl. §89), hat er bei der Würdigung des Redners Cato im Blick. Nichtsdestoweniger amatares huic [sc. Catoni] desuní; und auch hier weiß Cicero sogleich die historische Parallele zu schlagen: Vor vielen JahrhunVgl. die Darstellung bei Jahn/Kroll/Kytzler, ad 64. At quem virum, di boni! mitto civem aut senatorem aut imperatorem: oratorem enim hoc loco quaerimus: quis ilio gravior in laudando, acerbior in vituperando, in sententiis argutior, in docendo edisserendoque subtilior? (ebd.).
Catos 'Attizität'
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derten schon sei es Philistos und Thukydides gerade so ergangen. Auch die Erklärung des Phänomens ist analog: "nam ut horum concisis sententiis, interdum etiam non satis apeitis'*^' cum brevitate tum nimio acumino, officit Theopompus elatione atque altitudine orationis suae quod idem Lysiae Demosthenes-, sic Catonis luminibus obstruxit haec posteriorum quasi exaggerata altius oratio" (§66). Dann macht er in einer polemischen Wendung die Unwissenheit seiner Landsleute fur die sträfliche Mißachtung des Cato verantwortlich: "... quod hi ipsi, qui in Graecis antiquitate delectantur eaque subtilitate, quam Atticam appellant, hanc in Catone ne novenmt quidem Hyperidae vohmt esse et Lysiae. laudo; sed cur nolunt Catones? Attico genere dicendi se gaudere dicunt. sapienter id quidem; atque utinam imitarentur nec ossa soliun, sed etiam sanguinem!"*^® gratum est tamen, quod volunt" (§§67f ). Der klassizistischen Ausrichtung der Jungattiker schleudert er ein kompromittierendes "Warum in die Ferne schweifen...?" entgegen. Die den polemischen Teil abschließende Frage: cur igitur Lysias et Hypericks amatur, cum penitus ignoretur Cato? (§68) fuhrt auf eine einzigartige Bezeugung römischen Sinns für Geschichte und geschichtliche Entwicklung: "antiquior est huius sermo et quaedam horridiora verba, ita enim tum loquebantur: id muta, quod tum Ule nonpotuit,...
iam neminem antepones Catoni" (§68)'*^'.
Ich weiß nicht, warum das unsinnige autem (hinter apertis) mitunter nodi immer wenn auch als delendum gekennzeichnet - in unseren Texten erscheint. " " Douglas, ad loc., gibt die treffende Parallele Tac. dial. 21, 8: oratio autem sicut corpus hominis ea demum pulchra est in qua non eminent venae пес ossa numerantur, sed temperatus ас bonus sanguis impìet membra (weiteres Material in nicht immer glücklidier Auswahl in Gudemans D/a/.-Komm., ad loc.; vgl. auch F.Gamberini, Stylistic Theory and Practice in the Younger Pliny, Hildesheim/Zürich/New York 1983, 60-72, zur Metaphorik in literaturkritischer Sprache). Vgl. de orat. 1, 171/Crassus: Quid vero Ule M.Cato? Nonne et eloquentia tanta fiiit, quantam illa tempora atque illa aetas in hac civitate ferre maximam potuit, et iuris civilis omnium peritissimus? Derselbe Tenor, mit charakteristischer Wendung ins Pädagogische, bei Quintilian, der, inst. 2, 5, 21, vor verfrühter Cato- (u. GTacchen-)Lektüre warnt: Fient enim [sc. die jugendlichen Leser] horridi [! cf. Ciceros horridiora verba] atque ieiuni: nam ñeque vim eorum adhuc intellectu consequentur et elocutione, quae tum sine dubio erat optima, sed nostris temporibus aliena est, contenti, quod est Pessimum, similes sibi magnis viris videbuntur. Die nächste Parallele findet sich wohl im Dialogus des Tacitus (bes. 18, 2 u. 19, 2); s. darüber unten S. 202. Erhellende Bemerkungen
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Ciceros Дгм to
Gerade die Einsicht, daß zxx bestimmten
Zeiten bestimmte
Dinge (noch)
nicht möglich sind, zeugt von wirklichem literaturhistoriographischem Bemühen. Mit den Worten id muta, quod tum Ule non potuit begründet Cicero zugleich eine negative Stilistik der Catonischen Rhetorik: "adde numéros et,
aptior sit oratio, ipsa verba compone et quasi coagmen-
ta"*^®, quod ne Graeci quidem veteres factitaverunt" (§68)"^°. Positiv schließt sich Catos Verwendung der τρόποι und σ χ ή μ α τ α an"*^'. D a s Cato-Kapitel klingt aus mit Ciceros Eingeständnis: "nec vero ignoro nondum esse satis politura hune oratorem et quaerendum esse aliquid perfectius" (§69). Mit der Feststellung: "sed maiore honore in omnibus artibus quam in hac una arte dicendi versatur antiquitas" (ebd.) wird übergeleitet zu interessanten Ausflügen in die Geschichte der bildenden Künste (§§70f.)''^^ und der vorhomerischen Dichtung (§71)''^^ In dem Ausspruch: zum Ciceronischen Epochenbewußtsein bei A.Desmouliez, Cicerón et son goût - Essai sur une définition d'une esthétique romaine à la fin de la République, Brüssel 1976, 445-47. Auch hier fragt man sich, ob nicht die spitzen Ю а т т е т (= suppl. vulg.) in den Apparat gehören. "L'expression est transportée de l'architecture à la construction oratoire. Par la symétrie et la bonne disposition des matériaux, ou des mots, arriver au poli et à l'él^ance", Demarteau, ad loc. Vgl. diegeschichtspoetologische Architekturmetaphorik de orat. 2, 63. Lesenswert die so knappe wie informative Würdigung der Catonischen Stilistik durch A.Michel, Rhétorique et philosophie chez Cicéron - Essai sur les fondements philosophiques de l'art de persuader, Paris 1960, 11-15. "" Zum rhetorikgeschichtlichen Hintergrund s. Douglas, Komm., introd. xxvi ff. "" Immer noch wertvoll J.Overbeck, Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen, Leipzig 1868 (Nachdr.: Hildesham 1959). Grundl^end A.Reinach, Textes Grecs et Latins relatifs à l'histoire de la peinture ancienne, Bd. 1, Paris 1921, ^1985, u. H.Jucker, Vom Verhältnis der Römer zur bildenden Kunst der Griechen, Frankfurt a.M. 1950. S. jetzt auch das kunsthistorische Nachwort zu Bd. 35 der zweisprachigen Gesamtausg. der Naturalis historia des Plin. (Darmstadt ^1997) v. I. Scheibler (S. 369-84).- Zu Ciceros kunsthistorischem Sachverstand s. jetzt A.Leen, Cicero and the Rhetoric of Art, AJPh 112, 1991, 229-45. Während Aristoteles nur bemerkt hatte: των μεν ούν προ Όμηρου ούδενός εχομεν είτιειν τοιούτον ποίημα, είκός δέ είναι πολλούς (Po. 1448''28f K[assel]),
Ciceros geschichtlicher Sinn
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"nihil est enim simul et inventimi et perfechim" (ebd.) kommt abermals tiefes Wissen um die Notwendigkeit langer literaturgeschichtlicher Entwicklung und Reifimg zum Ausdruck. Vor dem Hintergrund solch weiser Relativierung der literarhistorischen Bedeutung des Cato köimte es scheinen, als sei es Cicero vornehmlich um die literaturkritische Rehabilitierung des Landsmannes aus wissenschaftsarchäologischem Interesse zu tun. Dazu stimmt die Stilisierung Catos zum Archegeten römischer Redekunst, seine Zeichnung als alter Lysias. Nicht zu überhören aber sind die kritischen Untertöne gegen die Adepten des attischen und attisierenden Redestils'*^'*. Müssen wir danach Ciceros Catoportrait als ersten Stützpfeiler einer antiattizistischen Strategie verstehen, in welcher der jeder Anwandlung von Attizismus"^^ ganz unverdächtige Mann aus Tusculum zum willfährigen exemplum des als advocatus diaboli sich gerierenden Historikers gemacht ist? Cicero selbst liefert uns eine bedeutende Entscheidungshilfe: An einer weit entfernten Stelle dicht vor dem Schlußteil des Dialogs führt Atticus seinen Generalangriff gegen einige Hauptpunkte des Ciceronischen Rednerapologs; u.a. will er es dem Freunde nicht durchgehen lassen, daß er Cato auf eine Stufe mit Lysias, Philistus
gibt Cicero die textimmanent erschlossene B^ründung, die noch heute Ausgangspunkt jeder Spekulation über Vorhomerisches ist (s. etwa A.Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, 'Bern/München 1971, 29-34, bes. 31): quod ex eis carminibus intellegi potest, quae apud ilium [sc. Homenim] et in Phaeacum et in procorum epulis canuntur. Zu Ciceros "litterarische(r) Fehde mit dai Attikem" lesenswert noch immer R.Haenni, Die litterarische Kritik in Ciceros "Brutus", (Diss.) Fribourg 1905, 57-62. Die beste Darstellung des komplexen Hintergrundes der Auseinandersetzung nach wie vor bei J.F.d'Alton, Roman Literary Theory and Criticism, London 1931 (Nachdr.; New York 1962), dort Kap. rV: Cicero and the Atticists, 208-65. Vgl. auch A.D.Leeman, Orationis ratio - The stylistic theories and practice of the Roman orators historians and philosophers, 2 Bde, Amsterdam 1963, I 136-67, sowie Douglas, Intellectual Background, ebd. [Anm. 407], 119-31. Einseitig in der Betonung der politischen Instrumentalisierung des literanschen Richtungsstreits wiederum Rathofer, ebd. [Anm. 406], 17-23. Zur Begriffsgeschichte noch immer unübertroffen U.v.Wilamowitz-Möllendorff, Asianismus und Atticismus, Hermes 35, 1900, 1-52; vgl. außerdem T.Gelzer, Klassizismus, Attizismus und Asianismus, in: Le classicisme à Rome aux Γ" siècles avant et après J.-C., Entretiens 25, Genf 1979, 1-41 (mit Diskussion 42-55). Ideengeschichtlich wertvoll der Beitrag von A.Dihle, Der B ^ n n des Attizismus, A&A 23, 1977, 162-77. Viele wichtige Beobachtungen jetzt auch bei T.Hidber, Das klassizistische Manifest des Dionys von Halikamass. Die Praefatio zu De oratoribus veteribus - Einleitung, Übersetzung, Kommentar, Stuttgart/Leipzig 1996.
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Cicems Brutus
und Thukydides stellt: bella ironia, si iocaremur (§293)'*^^. Kein Wort davon, keine Mutmaßmg darüber, daß Cicero die Jungattiker in polemischer Absicht mit der Nase habe auf ihre lückenhafte Kenntnis der nationalen Literaturgröße stoßen wollen. Kein Gedanke an eine Instrumentalisierung des alten Cato. Dagegen bekräffigt Atticus die von Cicero selbst vorbereitete Relativierung der Verdienste des Cato: eine Zurücknahme jener glänzenden Spitzen und Schärfen der grell verblendeten laudatio, die den alten Redner nicht ins Dunkel der oratorischen Frühgeschichte zurückstößt, sondern seinen Platz in seiner Zeit ihm zuweist. Die Antithesis des Atticus ist die wirkliche Rettung des alten Meisters. Dessen Kritik und Zerlegung in Historie mitgedacht ist, dessen Stellung kann in der Literaturgeschichte auf Dauer ungefährdet behauptet werden. Fassen wir zusammen: Was wüßten wir von den rednerischen Künsten des alten Cato, wenn uns nichts als Ciceros Würdigung im Brutus^^^, weder weitere Bezeugungen'*^® noch gar Fragmente der Reden'*^' überliefert wären? Wir erführen, daß er gar nicht lange vor Cicero gelebt und es zu bedeutenden politischen und militärischen Ämtern gebracht hat; daß er nach Meinung Ciceros der erste römische Redner ist, dessen Schrifttum Beachtung verdient; daß er mehr als 150 Reden (soviele las noch unser Gewährsmann) und rhetorisch bemerkenswerte Origines verfaßt hat; daß er - wie Lysias acutus, elegans, facetus, brevis heißen darf, aber anders als sein griechischer 'Vorläufer' zu Unrecht - wie Cicero meint - vergessen ist oder doch wenigstens nicht mehr gelesen wird. Die Gründe dafür sind nicht leicht zu benermen: wohl antiquior est huius sermo et quaedam horridiora verba. Allein dies liegt ganz in der Zeit des Cato begründet. Man füge einige weZum Problem der ironischen Rede in Ciceros Dialogen vgl. besonders A.Haury, L'ironie et l'humour chez Cicéron, Leiden 1955 (zum Brutus lOf. u. 177-80), u. A.Desmouliez, A propos du jugement de Cicéron sur Catón l'ancien (Brutus XVI-WTH 63-69 et LXXXV-LXXXVn 292-300), Philologus 126, 1982, 70-89. Neben die direkte tritt die indirekte 'Bezeugung' durch Nachahmung (s. zuletzt P.Cugusi, Catone oratore e Cicerone oratore, Maia 38, 1986, 207-16). Bei Cicero selbst bes. de orat. 1, 171 [s. oben Anm. 427]; vgl. Padberg, ebd. [Anm. 416], passim. Von weiterai Bezeugungen nenne ich nur Liv. 39, 40, 6-8, Gell. 6, 3 (Quid Tiro Tullius, Ciceronis libertus, reprehenderit inM.Catonis oratíone, quam pro Rodiensibus in senatu dixit; et quid ad ea, quae reprehenderat, responderimus) u. Plu. Cat. ma. 7 - Vgl. М.О.Baumgart, Untersuchungen zu den Reden des M.Porcius Cato Censorius, Breslau 1905. Von annähernd 80 Reden habai sich Spuren erhalten. Die Fragmente in Bd. 1 der Oratorum Romanorum fragmenta, ed. E.Malcovati, Turin 1930, "1976, S. 12-97. S. auch B.Janzer, Historische Untersuchungen zu den Redenfragmenten des M.Porcius Cato, (Diss.) Würzburg 1936.
Ciceros literaturgeschichtliche Methode
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nige damals noch unbekannte Komplemente hinzu: iam neminem antepones Catoni. Auch τρόποι und σ χ ή μ α τ α , wie sie griechische Kunstlehre fordert, standen ihm in reichem Maße zu Gebote. Gewiß gibt es Vollkommeneres als die Reden des Cato. Doch in ihrer Zeit sind sie eine ganz unverächtliche Leistung. Das ist, meine ich, Literaturgeschichte, die in der informationellen Substanz noch dem Anspruch an eine 'moderne' Darstellung der Rhetorikgeschichte genügt. Annalistische sind mit biographischen und literarkritischen Momenten zu einer nicht eben ausgeglichenen, doch literarhistorischem 'Standard' vollauf genügenden Darstellung vereinigt. Die Aufbereitung ist gewiß unorthodox: bald krass subjektiv, bald polemisch, immer jedoch kurzweilig und interessant. Der erste Höhepunkt der römischen Rednergeschichte ist auch in seiner narratio als Höhepunkt gestaltet. Nur hinweisen möchte ich auf die erstaunliche Nähe des hier iiteraturhistenographisch Geleisteten zu Ciceros eigenen Postulaten bezüglich der Geschichtsschreibung, wie sieöfe orat. 2, 51-64, von Catulus und besonders Antonius formuliert werden"^. Letzterer bemerkt §63f : rerum ratio ordinem temporum desiderai [1, cf. die dironologische Einordnung Вги/. §61], regionum descriptionem [2 (fdilt; die Synkrisis mit Lysias als historische Topographie?)],· volt etiam quoniam in rebus magnis memoriaque dignis Consilia primum [3a (cf. Catos laudare, vituperare, docere/disserere §65)], deinde acta [4a (Catos Reden, seine Urgeschichte)], postea eventus [5a (Catos n a t i v e Rezeption)] expectantur, et de consiliis signißcari quid scriptor probet [3b (s. die Bewertung der unter 3a aufgeführten Consilia durch Cicero, ebd.)], et in rebus gestis declarari non solum quid actum aut dictum sit, sed etiam quomodo [4b (Ciceros Stilkritik)], et cum de eventu dicatur, ut causae explicentur omnes vel casus vel sapientiae vel temeritatis [5b (die Ungunst der rhetorischen Frühzeit)] hominumque ipsorum non solum res gestae, sed etiam, qui fama ас nomine excellant, de cuiusque vita atque natura [6 (die biographischen Bemerkungen)]. verborum autem ratio et genus orationis fitsum atque tractum et cum levitate quadam aequabiliter profluens sine hac iudiciali asperitate et sine sententiarum forensibus aculéis persequendum est [7 (s. oben zur sprachlich-stilistischen Gestaltung des Cato-Abschnitts)]^'. Nimmt man nodi den archäologischen Exkurs über die Geschichtsfalschung und das hier sdion vorbereitete Thema der Wahrhaftigkeit der Ciceronischen Darstellung (Atticus' Ironievorwurf) hinzu, ist der Eindruck nicht abzuweisen, daß die Cato-
Zum Historiographie-Exkurs s. die wertvollen Vorbemerkungen im Komm, von A.D.Leeman, H.Pinkster u. H.L.W.Nelson, M.Tullius Cicero - De oratore libri Ш, Bd. 2, Heidelberg 1985, 248-52. Der Text nach der Ausg. von K.F.Kumaniecki, Leipzig 1969 (Nadidr.: Stuttgart/Leipzig 1995).
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Ciœros Brutus
Partie des Brutus als Baustein einer 'Literaturgeschichte' diese bereits mit staunaiswerter Vollständigkeit en miniature enthält.
Wie aber verhält sich der Abschnitt zum τέλος der Gesamterzählung, als 'Höhepunkt vor dem Höhepunkt'? Catos Bedeutung ist - nach Ciceros Darstellung - groß, sofern er sich unbedenklich dem vielgepriesenen Lysias vergleichen läßt. Daß er die Begeisterung fur den Klassiker nicht ohne weiteres teilt, erhellt aus der distanzierten Charakteristik des Redners ebenso wie aus den scharfen Seitenhieben gegen den einseitigen άττικισμός mancher Zeitgenossen. Die (inkriminierte) Verblendung der Attizisten gibt Cicero Gelegenheit, den 'verkannten' Cato für die nationalrömische Rhetorikgeschichte zu 'retten', ohne daß eine Revision der Modellvorstellung von der steten Fortentwicklung der Beredsamkeit notwendig würde. Atticus' Ironievorwurf ist die vollgültige Beglaubigung der wahren Mittelstellung des Cato zwischen den ungeschlachten Anfängen römischer Rede und der avancierten Rhetorik nachfolgender Generationen. Wo Cicero seiner Spottlust gegen eine verbreitete Kunstströmung seiner Tage allzu gerne die Zügel schießen ließ, greift vermittelnd der um Sachlichkeit bemühte Historismus des Freundes ein. Literarhistorizität siegt über die literarkritische verve, wo sie am ungeeigneten Gegenstand sich bewährt. Ingeniös ist die Inszenierung dieses Disputs: wenn Literaturkritik in der ironischen Verkleidung über sich selbst hinausweist und nach ihrer eigenen Aufhebung (als Relativierung) in der Geschichte strebt. An die Behandlung des Cato schließt sich eine Fülle kürzerer Portraits teils älterer, teils jüngerer Zeitgenossen an'*''^. Erst mit Servius Galba ist wieder ein ZwiÂc/zewhôhepunkt (im Übergang zur nächsten wirklichen Höhe, den Gracchen) erreicht: "... inter hos [gemeint ist eine Anzahl jüngerer Redner der Catozeit] aetate paulum his antecedens sine controversia Ser. Galba eloquentia praestitit" (§82). Die Demonstration der Ciceronischen Dramaturgie ließe sich beliebig fortsetzen; sie wird sich nie allein auf die Verifizierung erzähltechnischer Elemente verlassen köimen, weil mit der Konstatierung des Technischen als Technischem für die Aufhellimg der rhetorischen Struktur, der erzählerischen Strategie des Werkes noch nichts gewonnen ist. Es wäre absurd zu §§ 77-80. Die data bei Sumner, ebd. [Anm. 403]. Unter den Gaiannten ist auch der große Scipio; Cicero läßt keine Gel^enheit aus, die 'Tradition', an deren Ende er als Kulminationspunkt erscheinen wird, durch Einordnung auch nicht einschlägiger Größen zu stärken und so die eigene Transgressionsleistung noch glänzender erscheinen zu lassen.
Ironie und Dramaturgie
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meinen, der Brutus ließe sich als 'Lehrgebäude' in eine feste Tradition didaktischen Schrifttums einordnen''"^. Inhalt und Gehalt sind hier schlechterdings nicht zu ti-ennen. Die Rede vom Reden ist selbst rhetorisch strukturiert. Der kumtmäßige Bau, der nicht so sehr der Tradition der Schriften de viris illustribus'^^As den werk- und wirkungsästhetischen Absichten seines Autors veφflichtet ist, bedingt die Rhetorizität des Werkes. Tradition, wo sie konstitutiv ist für die formale Disposition des Brutus, wird überformt und verwandelt durch den Kunstwillen des Autors, der nichts weniger als eine Lehrschrift de claris oratoribus, sondern einen sehr persönlichen Bericht über die Entwicklung römischer Rede geliefert hat. Noch ein Wort über die Repräsentanz des Dramaturgen im Erzählwerk: Wie gelingt die 'Selbstinthronisation' des Erzählers als τέλος der römischen Rhetorikgeschichte im Medium des Dialogs? Welchen Weg legt das erzählend-erzählte 'Ich' im Brutus zurück? Zunächst: Das ego des Erzählers ist es, das den Hauptteil des literarkritischen Projekts bestreitet. An ihm ist es, über φύσις (ingenium), τέχνη (ars) und μελέτη {industria) der Rhetoren zu urteilen. Es ist bezeichnend für das dramaturgische Geschick des Autors, daß es im Dialog seine Mitunterredner sind, die ihm die literarhistorische Aufgabe abfordern: "nunc vero ... , si es animo vacuo, expone nobis quod quaerimus" (§20). Dies kann er umso weniger abschlagen, als er im Begrüßungsgespräch sowohl Brutus als auch Atticus in ihren Erwartungen vorderhand enttäuschen mußte. Weder kaim er - im Augenblick - den ihm gewidmeten Liber annalis des Atticus mit einer Gegengabe vergelten noch unmittelbar Brutus' unbestimmtem Wunsch entsprechen, ut scribas ... aliquid (§19). Die doppelte Mißlichkeit wird er dwch die 'Abwicklung' der ihm gestellten Aufgabe (sermonis explicatio, vgl. Ciceros Worte §24) kompensieren. Es muß hier auf die kunstvolle Klammer verwiesen werden, mit der Prooimion, Einlatungsgespräch und Rednerapolog aneinander geknüpft sind: Am Anfang steht der neu evozierte Schmerz um den Tod des großen und einzigen Rivalen Hortensius (cum quo
Dgl. Versuche sind schon oben, S. 85-88, zu Varros literarhistorischen Schriften, zurückgewiesen. Weiteres (bes. g ^ e n Dahlmann) bei Bringmarm, Untersuchungen zum späten Cicero, ebd. [Anm. 389], 21-24. Besonnen urteilt schon F.Leo, Die griechischrömische Biographie nach ihrer litterarischen Form, Leipzig 1901 (Nachdr.: Hildesheim 1965), 219-23. Über die zweifelhafte Herkunft des Nebentitels des Brutus, de oratoribus claris s. wiederum Leo, ebd. 219.
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Ciceros Brutus
certare erat gloriosius quam ormino adversarium non habere, §3). Cicero tröstet sich mit dem Gedanken, daß Hortensius "tum occidit, cum lugere facilius rem publicara posset, si viveri, quam iuvare, vixitque tam diu quam licuit in civitate bene beateque vivere" (§4). Roms Misere aber und die damit verbundene Verwaisung des Forums (forum populi Romani, quodfuisset quasi theatrum illius [sc. Hortensii] ingeni, voce erudita et Romanis Graecisque auribus digna spoliatum atque orbatum, §6) waren auch Gegeistand der im Eingangsgespräch erwähnten früheren Unterredung (nuper in Tusculano, § 20): Atticus erinnert Cicero daran, wie dieser Bruti dolentem vicem quasi deflevisse iudiciorum vastitatem et fori (§21). Die Wiederaufnahme der früheren Unterhaltung ist der Einstig in das literarhistorische Kolloquium, das am Ende in den an Brutus gerichtetai beschwörenden Worten zu dem Anfangsthema des Schmerzes zurückkdirt. Man verkennte die ironische Struktur der Genese des Brutus (und hat sie m.W. regelmäßig verkannt), wenn man im Zustandekommen des literarhistorischen Sermons allein eine kompensatorische Leistung erblickte. Vielmehr ist das Kompensat (die Ausgleichszahlung) annähernd das von den Freunden Geforderte: Die Rede über die Redner ist übergeführt in den schriftlichen Text, das Buch, auf das Cicero im zweiten Band De
divinatio-
ne (2, 4) zurückblickt, das Buch, auf das Brutus während der langen, von Atticus beklagten intermissio zwar nicht eigentlich
studiorum
gewartet hat. D a s Buch ist zugleich
die im Eingangsgespräch Atticus in Aussicht gestellte
ά ν τ ί δ ο σ ι ς für dessen Liber annalis
(die - wie es scheint - politische Ge-
schichte zum Inhalt haben sollte)'*''^, in einem tieferen Sinne freilich ist sie es doch, ftißt sie doch materiell und spirituell auf den (aJt)historischen Forschungen des Freundes: materiell,
weil sie sich durchweg auf die neuesten,
von Atticus exponierten Erkenntnisse stützt"'''®, spirituell,
weil das durch
Atticus' Schrift ausgelöste Erweckungserlebnis fraglos auch der literarhistorischen Versatilität des Cicero zugute kam {istae [sc. litterae (gemeint ist Vgl. hierzu §16 u. bes. 19. Hierzu F.Münzer, Atticus als Geschichtsschreiber, Hermes 40, 1905, 50-100 (vgl. dens., Cicero und Hortensius bei historischai Studiai, Hermes 49, 1914, 196-213), u. neuerdings M.Fleck, Cicero als Historiker, Stuttgart 1993, 162-78, bes. 162-68. Danebai ist der Einfluß Varros nicht gering zu schätzai (s. H.Dahlmann, Studien zu Varrò 'De poetis', 53-58, u. Fleck, ebd., 194-98). Vgl. außerdem L.Alfonsi, Nepote fonte di Cicerone?, RhM 93, 1949, 59-65 (ad Brut. 41^3), u. allgemein zur Quellenbenutzung G.L.Hendrickson, Literary sources in Cicero's Brutus and the technique of citation in dialogue, AJPh 27, 1906, 183-99, u. E.Rawson, Cicero the Historian and Cicero the Antiquarian, m S 62, 1972, 3 3 ^ 5 (dort, 42, skeptisch zur Benutzung des Atticus).
Ironie und Dramaturgie
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der Uber annalis)] ... non modo delectatiomm mihi, sed etiam, ut spero, salutem adtulerunt, Cicero §13, u. - noch stärker, ebd.: [liber,] quo me hic [sc. Atticus] adfatus quasi iacentem excitavit). Wenn Cicero seine Mitimterredner auf die geforderte Einlösung seiner 'Versprechen' ausdrücklich Verzicht leisten {ego vero et exspectabo ea quae polliceris, nee exigam nisi tuo commodo et erunt mihi pergrata, si solveris, Atticus §17, vgl. dens. §19 als 'Anwalt' des Brutus) und mit abbrechender Geste (sed illa, cum poteris; atque ut possis, rogo, nunc vero ... expone nobis quod quaerimus, Atticus §19) zu einem 'neuen' Gegenstand überleiten läßt, ist dies nichts weniger als eine Unachtsamkeit des Autors, ein kompositorisches Mißgeschick, das den Anschluß des Hauptteils ans Vorspiel verdürbe. Es ist vielmehr die absichtliche kunstvolle Verdunklung des àvxiôoaiç-Charakters des entstehenden Buches, das sich erst als fertiges durch Hineinnahme noch des Protokolls über die Anfänge seiner Entstehung - als Geschenk und Freundesgabe verrät. Sehen wir nun weiter zu, wie das ego des Geschichtsdramaturgen, während es Epochen und Generationen römischer Redner durchläuft, sich selbst inszeniert und Hörer wie Leser auf den Kulminationspunkt der Erzählung gespannt macht: Als Brutus in einer Zwischenbemerkung (§150) das Verhältnis des Crassus und Scaevola mit Ciceros Verhältnis zu Servius Sulpicius vergleicht, weist Cicero die Wendung des Gesprächs ins Persönliche energisch zurück: De me ... dicere nihil est necesse (§151). Was zu diesem Zeitpunkt noch als Geste der Bescheidenheit gedeutet werden könnte, wird erst vor dem Hintergrund des weiteren Dialogverlaufs besser verständlich: Ciceros Redekunst ist recht eigentlich unvergleichlich; sie ist zwar fest in griechisch-römischer Tradition verankert, führt aber doch zu neuer, ehedem unbekannter Höhe. Ausweichend antwortet Cicero auch wenig später, als er sich eben angeschickt hat, die eingehende σύγκρισις des Antonius und Crassus mit den Worten zu beschließen: "Quod idcirco posui, ut dicendi Latine prima maturitas in qua aetate exstitisset posset notan et intellegeretur iam ad summum paene esse perductam, ut eo nihil ferme quisquam addere posset, nisi qui a philosophia a iure civili ab historia fuisset instructior" (§161). Darauf Brutus: Erit ... out iam est iste quem exspectas? (§162), und Ciceros Antwort: nescio. Solche Einsilbigkeit ist - selbstredend- auf den Aufbau einer hintergründigen Spannung berechnet; das scheinbare Nicht-
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Cicetos Brutus
wissen des überlegenen Führers durch die römische Rhetorikgeschichte läßt (in Verbindung auch mit der wenige Kapitel zuvor ausgesparten Persönlichkeit des Erzählers) auf den Fort- und Ausgang der Geschichte gespannt sein. Eine Unbestinmitheitsstelle, die den narrativ entfalteten Bogen weiter dynamisiert und den Leser ermuntert, Erwartungshaltungen sei es zu korrigieren, sei es allererst aufzubauen'*''^. Nichtwissen schützt Cicero noch an einer weiteren Stelle vor: ... ego quae de me populi sit opinio nescio, behauptet er § 190. Da hat er unmittelbar zuvor von Cottas und Hortensius' Überlegenheit in ihrer Generation und von beider Anerkanntheit beim Volke gesprochen und anschließend den Brutus sagen lassen: "Quid tu ... quaeris alios? de te ipso nonne quid optarent rei, quid ipse Hortensius iudicaret, videbamus? qui cum partiretur tecum causas - saepe enim interfiii - perorandi locum, ubi plurumum poUet oratio, semper tibi relinquebat" (ebd.). Man sieht, wie die Bewegung des Ausweichens Methode ist, die die Frage nach Ciceros Stellung im Kosmos der römischen Beredsamkeit immer dringlicher macht; wo alles bestimmt ist und der certus ordo rhetorum wie an der Kette gezogen an den Ohren und Augen der Hörer und Leser vorüberzieht, muß auf kurz oder lang auch der Erzähler selbst, unangreifbar bislang als maître du discours, seinen Platz in der Geschichte selbst sich weisen. Neuerlich betont er dagegen §232 auf den bestimmten Vorschlag des Brutus hin, man möge recht bald ad te et ad Hortensium zu sprechen kommen: "Immo vero ... ad Hortensium; de me alii dicent, si qui volent". Brutus will das nicht hinnehmen: "nam etsi me facile omni tuo sermone tenuisti, tamen is mihi longior videtur, quod propero audire de te; nec vero tam de virtutibus dicendi tuis, quae cum omnibus
Dabei klingt schon hier eben jene vom vollendeten Redner zu fordemde Trias von Kaintnissen der Philosophie, des Rechts und der Geschichte (nisi qui a philosophia a iure civili ab historia fuisset instructior) an, die später, auf dem Höhepunkt der - indirekten Selbstdarstellung, in autodenuntiatorischer Absicht wiederkehrt: nemo qui philosophiam complexus esset...; nemo qui ius civile didicisset...; nemo qui memoriam rerum Romanarum teneret... (§322; s. auch unten S. 113). Vgl. Heldmann, ebd. (Anm. 407), 204.
Strategien der 'Selbstinszenierung'
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tum certe mihi notissumae sunt, quam quod gradus tuos et quasi processus dicendi studeo cognoscere" (ebd.). Da endlich läßt sich Cicero bewegen: "Geretur ... tibi mos, quoniam me non ingeni praedicatorem esse vis, sed laboris mei" (§233). Nachdem so die Erfüllung des den Mitunterrednem geschickt soufflierten Wunsches in Aussicht gestellt ist, gelingt wenig später sogar ein kurzer heiterer Wortwechsel, der als Ironisierung der Überlegenheit' des Erzählers sich darstellt. Brutus, von Cicero nach seinem Urteil über Marcellus befragt, gibt zur Antwort: quid censes [sc. me iudicare]... nisi id quod habiturus es similem tui? (§249)'*''®. Darauf Cicero: ne ego ...si itasi, velim tibi eum piacere quam maxume (ebd.). Wiewohl die Exponierung der Ciceronischen virtutes dicendi in §232 ausdrücklich ausgeschlossen worden war und Cicero sich scheinbar überhaupt nur um den Preis eines Verzichts auf jede praedicatio ingeni (vgl. §233) für eine spätere 'Selbstdarstellung' hatte gewinnen lassen, nimmt Atticus, da er von Cicero aufgefordert wird, über Caesars rednerische Leistung zu urteilen (§251), Gelegenheit, den Lobpreis Ciceros, in Caesars Worte gekleidet, zu singen: Da heißt Cicero princeps copiae atque inventor, der sich "um Namen und Ansehen des römischen Volkes wohl verdient gemacht" habe (§253)''''^; und als sei die hommage nicht deutìich genug, wird Brutus zum Exegeten des Caesarianischen Diktums ernannt: "hanc autem ... gloriam testimoniumque Caesaris tuae quidam supplicationi"^" non, sed triumphis multomm antepono" (Brutus §255). Vgl. audi die Äußerung des Brutus §250: ... cum eum [sc. Marceilum] antea tui similem in dicendo viderim, tum vero nunc a doctissumo viro tibique, ut intellexi, amicissumo Cratippo instructum omni copia multo videbam similiorem. Atticus zitiert aus dem Prooem (primo ... in libro) einer Cicero gewidmeten Schrift de ratione Latine loquendi (§253), die wir u.a. aus Quint, inst. 1, 7, 34, Suet. lul. 56. 5, Gell. 19, 8, 3, u. Fronte p. 224, 13-17 v.d.H. als zweibändiges Werk De analogia kennen. Die Fragmente bei Funaioli, GRF, S. 145-57. S. auch G.L.Hendrickson, The De analogia of Julius Caesar. Its Occasion, Nature, and Date, with Additional Fragments, CPh 1, 1906, 97-120. Zum historischen Hintergrund des Analogie-Anomalie-Streits s. jetzt W.Ax, Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie (s. oben Anm. 177), 289-95. Gemeint ist die supplicatio nach Aufdeckung der Catilinarischen Verschwörung. "Ihre Erwähnung hier dient nur Ciceros Eitelkeit" (Jahn/Kroll/Kytzler, ad loc., mit Hinweis auf Cie. Catil.3, 23).
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Ciceros Brutus
Mit gespieltem Großmut relativiert Cicero das elogium, шп es mngehend durch einen Seitenblick auf die große Politik noch zu erhöhen: "plus ... certe adtuHt huic populo dignitatis quisquís est Ше, si modo est aliquis, qui non inlustravit modo, sed etiam genuit in hac urbe dicendi copiam, quam illi qui Ligurum castella expugnavenmt..." (ebd.). ffier ist nur mehr der Anschein einer Verschlüsselung der teleologischen Struktur der Ciceronischen Geschichtserzählung gewahrt. Der Erzähler hat sich von jener ersten Zusage im Einleitungsgespräch (faciam vobis satis, §21), mit der er in den literarhistorischen Sermon einwilligte, auf mannigfachen Umwegen (wo er die Kunst, beredt zu schweigen, perfekt kultiviert hat) durch die Anfeuerungsrufe der jetzt enthemmt schmeichlerisch gezeichneten Freunde bis in die kaum mehr verhüllte Selbststilisienmg als Deutero-Caesar, als Phidias in einem ästhetisierten Gemeinwesen (§257), treiben lassen. Der autobiographische Entwurf, das unverhüllte Sprechen-von-sichselbst am Ende des 'Dramas' ist nach diesem Vorspiel nur die Einlösung des unter mancherlei Kautelen schließlich gegebenen Versprechens. Nur den oberflächlichen Leser kann es überraschen, daß die autobiographische Rede nun nicht im Kothurn pathetischer Rede daherkommt. Die περιαυτολογία ist am Ende der Rednergeschichte, eingebettet in die Behandlimg des vielbewunderten, vielbetrauerten Hortensius, zunächst als unanmaßlicher Bericht über die Lehr- und Wanderjahre des Cicero gestaltet"*^'. Noch in seinem letzten Vorverweis auf die autobiographische Rede hatte Cicero Wert gelegt auf'demokratische' Rückversicherung: "sed redeamus ad eum, qui iam unus restât, Hortensium; tum de nobismet ipsis, quoniam id etiam. Brate, postulas, pauca dicemus" (§279). "" J.Graff, Ciceros Selbstauffassung (Diss. Basel 1961) Heidelberg 1963, 63, hat nach G.Misch, Gesdiichte der Autobiographie, Bern M 949, I 1, 3 4 9 - gesdien, daß die "stufaiförmige Entwicklung [sc. des "schrittweisen Aufstieg(s) der römischen Redekunst"] noch einmal in dem autobiographischen letztai Teile wiederholt" ist.- Die antike Diskussion über Theorie und Praxis diverser Formen verschriftlichten Selbstbewußtseins dokumaitiert jetzt, leider mit ungenügaider Rücksicht auf Cicero, L.Pemot, Periautologia. Problèmes et màhodes de l'éloge de soi-même dans la tradition éthique et rhàorique grécoromaine, REG 111,1998, 101-24: Es ist zwar richtig gesdien, daß "la periautologia cicéronienne est une s t r a t t e élaborée", aber die weitere Bestimmung, daß sie (sc. die periaut.) "a pour fonction de construire l'image de Vorator et d'affirmer son auctoritas politique et oratoire" (197) greift - waiigstens für dai Brutus - viel zu kurz.
Literaturgeschichte und Autobiographie
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Fast immerklich setzt mitten in der HortensiuserzäMung der autobiographische Bericht ein: "Erat Hortensius in bello primo anno miles, altero tribunus mìlitum, Sulpicius legatus; aberat etiam M.Antonius; exercebatur una lege indicium Varia·*'^, ceteris propter bellum intermissis; quoi frequens aderam ..." (§304). Ganz im Sinne der früheren Abmachung (vgl. § 232f.) ist die Betonung auf Anstrengung, Fleiß und Einsatz während der Ausbildimgsphase gelegt {cotidie ...fere a nobis in contionibus audiebantur, §305 [von den Magistraten], cupidissumiis audiendi, ebd., reliquos frequenter audiens acerrumo studio tenebar cotidieque et scribens et legens et commentons oratoriis tantum exercitationibus contentus non eram, ebd., iuris civilis studio multum operae dabam Q.Scaevolae Q.f, §306, usw./''*. Von Zeit zu Zeit unterbricht sich der Erzähler und streut - in apologetischer Absicht methodische Bemerkungen ein: "Haec etsi videntur esse a proposita oratione'*^' diversa, tarnen idcirco a me proferuntur, ut nostrum cursum perspicere, quoniam voluisti. Brate, possis - nam Attico haec nota sunt - et videre quem ad modum simus in spatio Q.Hortensium ipsius vestigiis persecuti" (§307). Als wolle er Länge und Ausführlichkeit des Berichts entschuldigen, vergewissert er sich der wohlwollenden Zustimmung vor allem des jüngeren Hörers. Die Schilderung seines Aussehens als junger Mann führt er mit folgenden Worten ein:
" " Die nach Q.Varius Hybrida benannte lex aus dem Jahre 90 war g ^ e n die Verursacher des Bundesgenossenkrieges gerichtet. Vgl. Jahn/Kroll/Kytzler, ad 221, u. Douglas, ad 205. Müllers Ergänzung ist notwendig (anders offenbar Malcovati). Rathofer, ebd., 40, vermutet, daß das ingenium deshalb ausgespart ist, weil es den offenkundig weniger begabten Brutus fiiir die gemeinsame rhetorische Sache zu gewinnen galt: "Einen B ^ b u n g s m a n g e l nämlich, dai Brutus nun einmal hatte und dem Cicero in seiner Darstellung entsprechend Rechnung trägt, hätte er niemals ausgleiche können; Ciceros Beredsamkeit wäre ihm verschlossen geblieben". " " Die Überiieferung ist unbrauchbar (α proposito rottone diversa), aber von Ascensius mit Blick auf §292 (or proposita oratione) leicht geheilt (und so in ihren Ausgaben T.Stangl [Leipzig 1886], A.S.Wilkins [Oxford 1903] u. B.Kytzler [Zünch '1979 bzw. Darmstadt ''1990]); Malcovati liest (mit anderen) a proposita ratione.
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Ciceros Brutus
"Nunc quonìam totum me non naevo aliquo aut crepimdiis sed corpore omni videris velie cognoscere, compicciar nonnulla etiam quae fortasse videantur minus necessaria" (§313). Wiederum einige Kapitel später erinnert er neuerlich an den Generalkonsens vor der Einwilligung in die 'Selbstdarstellung': "nimis multa videor de me, ipse praesertim; sed omni huic sermoni propositum est, non ut ingenium et eloquentiam meam perspicias, unde longe absum, sed ut laborem et industriam" (§318). Bis ЫегЬег erscheint Cicero als wortgetreuer Exekutor eines konsensual ermittelten Verfahrens. Auf dem Scheitelpunkt der Hortensischen vita indes, die er teilweise in Engfthrung mit den eigenen Anfängen dargestellt hat, zu dem Zeitpunkt also, da Hortensius beginnt, hinter die selbstgesetzten Maßstäbe zurückzufallen, erliegt Cicero doch noch der Versuchimg, einmal ganz von den Rudimenten imd Additamenten seines rednerischen Werdegangs zu abstrahieren und seine eigene Bedeutung, ja unumstrittene Größe im Widerschein des Versagens und planen Unvermögens der 'anderen' aufleuchten zu lassen. Die Selbstcharakteristik, die breit als Negativstilistik, als defizitäre Rhetorik der anderen entwickelt ist, muß hier nicht ausgeschrieben werden; bezeichnend ist die Einleitung: "Nihil de me dicam: dicam de ceteris, quorum nemo erat qui..." (§322). Mit äußerster Konsequenz ist Cicero, wie man sieht, seiner dramaturgischen Konzeption treu geblieben. Von Anbeginn hat er eine RJretorik des Schweigens verfolgt, die am lautesten dort tönt, wo uns Cicero nach dem Abgang noch des letzten großen Redners der Epoche in dem Vakuum zurückläßt, das nur der übermächtige Schatten des selbst sich zum Schweigen verurteilenden Autobiographen füllt. Indem zuletzt der Erzähler der einzige ist, der noch spricht, bezeugt der Ausklang des Dialogs im Monolog die Vollendung der Rednergeschichte in der 'Periautologie'. Cicero sprach, so wissen wir jetzt, von Anfang an von sich selbst, Roms Rhetorikgeschichte ist seine Geschichte, Roms rednerische Anfänge sind seine Anfänge, Roms rednerische Entwicklimg ist seine Entwicklung, ihr τέλος war er selbst, doch hat er die Bahn noch nicht einmal ganz durchschritten {doleo me in vitam paulo serius tamquam in viam ingressum, priusquam confectum iter sit, in hanc rei publicae noctem incidisse, §330). Jetzt bleiben - n a c h
Literaturgeschichte und Periautologie
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Hortensius' Tode - er und Brutus als sein natürlicher Erbe orbae eloquentiae quasi tutores zurück. Persönlicher kann die Katastrophe römischer Rede nicht sein. Das τέλος der römischen Rhetorikgeschichte ist Apotheose (Ciceros und seines Zöglings, Brutus') und Apokalypse (des häßlichen Staates) zugleich.
V. Cornelius Nepos als Literarhistoriker
"Nqjotis epistulam exspecto. cupidus ille meorum? qui ea, quibus maxime γαυριώ, l^enda non putet. et ais 'μετ άμύμονα'! tu vero άμύμων, ille quidem άμβροτος." (Cicero am 9. 7. 44 an Atticus)
Das literarhistorische oeuvre
des N e p o s umfaßte neben den Viten griechi-
scher und römischer Historiker und Dichter"*^® sowie vermutlich Grammatiker'*'^ und (vielleicht) Redner"*'^ die dreibändigen (v.a. aus Catulls Widmimgsgedicht bekannten''^®) Chronica
(soweit sie - n a c h dem Vorgang
Apollodoros' V. Athen - literaturgeschichtliche Ereignisse berührten) sowie die ausführlicheren Einzelviten des Cicero und Cato"*®®. Literarhistorisch wertvoll war vielleicht auch der Briefwechsel mit Cicero, von dem sich nur wenige Spiu-en''®' erhalten haben. Über die sogenannten dimMen Jahrhimderte hinweg haben sich überhaupt nur zwei, dem Uber de Latinis
historiéis
entstammende·*®^ Lebensbeschreibungen sowie ein längeres Fragment aus demselben Buch''®^, der berühmte Auszug aus einem Brief der Mutter der
Diese beiden Gruppen allein sind sicher bezeugt (die Dichter bei Sueton, vita Ter. 1, cf. 3 [=frg. 53 bzw. 54 Marsh.]). " " Vgl. wiederum Sueton, gramm. 4, 1 (= frg. 61 Marsh.). S. Leo, Biographie, 193 u. Anm. 1. Siehe jedoch unten S. 129. Über Catulls Verhältnis zu Nepos vgl. die divergierenden Ansichtai von M.Gigante, Catullo, Cornelio e Cicerone, GEF 20, 1967, 123-29, u. J.P.Elder, Catullus I, His Poetic Creed, and Nepos, HSPh 71, 1966, 143-49. Auf letztere verweist Nepos selbst am Ende der erhaltenai Kurzvita des Cato (3, 5); erstere erwähnt Gellius (15, 28, 2). Cie., Att. 16, 2, 5; Suet., lul. 55, 2; Lact., inst. 3, 15, 10; Macr. Sat. 2, 1, 14. Zum Briefwechsel s. J.Geiger, Cicero and Nepos, Latomus 44, 1985, 261-70, dort bes. 26467. Die Viten sind in der handschriftlichen Überlieferung ausgewiesen als excerptum e libro Cómela Nepotis de latinis historicis (so überschreiben die codd. Parcensis u. Guelferbytanus die Cato-Vita; die Atticus-Vita ist in den codd. Leidensis u. Guelferbytanus wie folgt überschrieben: ex libro Cornelii Nepotis de latinis historicis. Incipit vita attici [SIC]).
Frg. 59 Marsh. Die überlieferte Zuweisung ist umstritten (s. oben Anm. 458); vgl. jedoch unten S. 129.
Cornelius Nepos als Literarhistoriker
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Gracchen, in den Archetypos unserer Neposüberlieferung gerettet'*^. Das Cornelia-Fragment kommt für unsere Zwecke leider nicht in Betracht. Daher mag ein Blick auf die Viten des Atticus und des älteren Cato, diese frühesten überlieferten Zeugnisse römischer Literatenbiographie, die Arbeitsweise und Interessenrichtung des Sachautors N e p o s ein wenig erhellen. Die Legion der diskreditierenden, ja diskriminierenden Äußerungen über die Schriftstellerei des N e p o s hier anzuführen, versage ich mir, weil die Aburteilung des Autors für gewöhnlich auf unzulässiger Synkrise mit Cicero beruht, die allerdings nicht günstig ausfallen kann. So sehr alle Literaturgeschichtsschreibung (man könnte hier sogar auch auf die indotibetische, chinesische, auch wohl arabische Tradition verweisen) auf Vergleichung, Wertung und Kanonisierung gründet, so wenig darf sich die Erforschung der Literarhistorie auf den subjektiven ästhetischen Relativismus literarhistorischer Entwürfe einlassen, wie er bis weit in unser Jahrhundert hinein in zahlreichen Darstellungen (nicht nur altphilologischer Provenienz) dominiert''®^.
Über das - nach Ausweis des cod. Guelf. Gud. lat. 278 - gleichfalls dem Historikerbuch entstammende Cicero betreffende Bruchstück (frg. 58 Marsh.) s. unten S. 129,- Zur handschriftlichen Tradition s. P.K.Marshall, The Manuscript Tradition of Cornelius Nepos, London 1977 (= BICS Suppl. 37), sowie die Vorrede seiner Ausgabe des Nepos, Leipzig 1977, 'Stuttgart/Leipzig 1991, V - K . Aus der alterai Forschung sei nur an G.Bemhardys Einstufung der Feldhermviten als "Skizzenwerk mit eintönigem Ausdruck und flacher Komposition" erinnert, dessen "niedrige, bisweilen idiotische Schreibart" die Urheberschaft des Nepos als "ein(es) Mitglied(s) der Ciceronianischen Periode" sdir zweifelhaft mache {Grundriss der Römischen Litteratur, 'Braunschwag 1857, 604f ). E.Norden, dessen Hauptwerk Antike Kunstprosa (zuletzt 'Stuttgart/Leipzig 1994) in seinen Urteilen rasdi kanonische Geltung eriangte, hielt Nepos für einen Mann, "der, während er sich im Dunstkreis der Größten seiner Zeit bew^te, selbst nirgends das Niveau auch nur der Mittelmäßigkeit erreichte" (I 204f ). Berühmtberüditigt in jüngerer Zeit die Einschätzung des Autors als "intellectual pygmy whom we find associating uneasily with the literary giants of his generation" (N.Horsfall in: CHCIL Π, Cambridge 1982, 290; vgl. jedoch die vorsichtige Einschränkung schon im Vorwort seines Nepos-Komm., Oxford 1989, vf ). Um die Rdiabilitierung des Nepos haben sich nach K.Büchner, Humanitas. Die Atticusvita des Cornelius Nepos, Gymnasium 56, 1949, 100-121, u. O.Schönberger, Cornelius Nepos - Ein mittelmäßiger Schriftsteller, Altertum 16, 1970, 153-63 (vgl. dens., Cornelius Nepos von einem herrschenden Vorurteil befreit, Hermes 96, 1968, 508f), bes. J.Geiger, Cornelius Nepos and ancient political bic^aphy, Stuttgart 1985, passim, N.Holzberg, Literarische Tradition und politische Aussage in den Feldhermviten des Cornelius Nqjos, WJA 15, 1989, 159-73, sowie P.Krafft u. F.OlefKrafft im Nachwort ihrer zweisprachigen Nqjos-Ausgabe, Stuttgart 1993, 417-53, verdient gemacht. Vgl jetzt auch N.Holzberg, Enkomionstruktur und Reflexe spätrepublikanischer Realität in der Atticus-Vita des Cornelius Nepos, in: P.Neukam (Hrsg.), Anschauung und Ansdiaulichkeit, München 1995, 29-43. S. auch unten A 513f
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Cornelius Nepos
Die Literatenbiographie ist für uns in der Restmasse des aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert Erhaltenen allein mit dem Namen des Nepos verbunden''^®; schon deshalb verbietet sich jeder Vergleich mit den zeitgenössischen Autoren, wo es auf die Behandlung der Gattung ankommt. Soweit ich sehe, ist die Atticus-Vita (imi zunächst von dieser zu handeln) zwar häufig als Fundgrube für literaturgeschichtlich interessante Details genutzt"*®^, aber nie wirklich als zusammenhängendes literarhistorisches Zeugnis gelesen und gedeutet worden^'^l Vielleicht hat des Nepos' eigenes Bekenntnis {vereor, si res explicare incipiam, ne non vitam eins [sc. Pelopidae] enarrare, sed historiam vichar scribere. Pel. 1, mit dazu beigetragen, daß auch bei der Erforschimg der Atticus-Vita der historische hinter den biographischen Aspekt zurücktrat. Wagen wir einmal die petitio principa und lesen die Atticus-Vita als literarhistorischen Text. Wo, wie und in welcher Absicht äußert sich Nepos literarhistorisch? Zunächst - stichwortartig - die Stellen''^": 1, 2 1, 3
Bildimg des Vaters, der Atticus in den schönen Künsten unterrichtet Atticus' erstaunliche Lernfähigkeit, sein gewinnender Ausdruck, rasche Auffassungsgabe, ausgezeichnete Aussprache 1, 3/4 daher Ansehen bei Mitschülern, darunter M. Cicero 2, 2 A. begibt sich während der Bürgerkriegswirren, idoneum tempus ratus studiis obsequendi suis, nach Athen
In das erste Jh. gdiört neben Varrò, von dessen Literaturforschimg oben S. 75fF. ausführlich gdiandelt ist, vermutlich auch der von Hieronymus doch wohl chronologisch nach Varrò und vor Nqjos angeführte Santra (s. Leo, ebd., 137f.). Ich nenne wiederum nur die Literaturgeschichten von Teuffei, I 350-52, u. Schanz/Hosius, I 329-32. Die literarhistorische Bedeutung der -vita ist schon erkannt von Wolf: "Auch kommen darin interessante litterarische Bemerkungen vor" (Vorlesung über die Geschichte der römischen Literatur [s. oben Anm. 64], 292). Widersprüchlich über dai Quellenwert der vita in bezug auf die historischen Werke des Atticus äußert sich F.Münzer, Atticus als Geschichtsschreiber, Hermes 1905, 50-100: vgl. das S. 50 Gesagte mit der Einschätzung S. 77. Ansätze zu einer solchai Lektüre am ehestai bei V.d'Agostino, La vita Comeliana di Tito Pomponio Attico, RSC 10, 1962, 109-20, bes. 113-16. Die Stelle ist zu verbindai mit Polybios' Bemerkungen anläßlich dnes Exkurses zur Biographie Philopoimais, dem er schon vor Abfassung des Geschichtswerkes eine Lebensbeschreibung gewidmet hatte (10, 21); vgl. A.Dihle, Die Entstehung der historischen Biographie, Heidelberg 1987, 9 f , u. dens.. Zur antiken Biographie, in: La biographie antique, hrsg. V. W.W.Ehlers, Genf 1998, 1 1 9 ^ 6 (mit Diskussion), dort 127-29. Solche Stellen, die nicht unmittelbar auf das literarhistorische sujet Atticus Bezug nehmen, sind in eckigen Klammern g ^ e b a i . Die Zitate nach Marshall (s. oben Anm. 464).
Die Atticus-Vita als literarhistorischer Text
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3
erfolgreiches Wirken in Athen, jener Stadt, die nach Meinung des A/^' antiquitate, humanitate doctrinaque praestaret omnes [sc. civitates] 4, 1 Sulla ist captus adulescentis et humanitate et doctrina: Atticus' hervorragende Kenntnis des Griechischen, gewinnender lateinischer Sprachstil, unübertrefflicher Vortrag griechischer u. lat. Dichtungen 4, 3 in Athen Beschäffigung u.a. mit litterae 5,3/4 verwandtschaftliche u. freundschaftliche Verbindung mit den Cicerones u. Hortensius {qui iis temporibus principatum eloquentiae tenebat] 12, 4 [Lob des L.Iulius Calidus, der nach dem Hinscheiden des Lukrez und Catull als poeta multo elegantissimus gelten könne] 13, 3 der gebildete Hausstand des A. (pueri litteratissimi), Beschäftigung von anagnostae und Ubrarii 13, 7 A. u. Nepos in persönlicher Beziehung 14, If Lese- u. Gesprächskultur im Hause des A. 16 humanitas des A. : 16,1/2 in der Jugend dem alten Sulla, im Alter dem jungen Brutus angenehm, bestes Einvernehmen mit den Gleichaltrigen Hortensius u. bes. M. Cicero: 16, 3 davon zeugen des letzteren Bücher (in quibus de eo [sc. Attico] yäc/Y mentionem) u. bes. seine an A. gerichteten Briefe 16,3/4 Bedeutung dieses Briefwechsels"^^ 17 pietas des A 17, 3 ethisches Handeln, das auch auf doctrina (principum philosophorum praecepta) beruht 18 Werkkatalog: 18,1/2 Uber annalis 18,3/4 familiengeschichtliche Werke 18,5/6 Imagines mit Versunterschriften griech. Werk De consulatu Ciceronis 20,Ml gelehrter Briefwechsel mit Octavian Augustus 20, 4 Briefwechsel mit Antonius
Ehe Ergänzung eines verbum iudicandi in Ш 3 (Z. 15 bei Marshall) darf als sicher gelten. Es ist Nepos' Verdienst, daß er als erster die Bedeutung dieses Briefwechsels erkannt hat. L.Ross Taylor, Cornelius Nepos and the Publication of Cicero's Letters to Atticus, in: Homm. J.Bayet, hrsg. v. M.Renard u. R.Schilling, Brüssel 1964, 678-81, vermutet, daß die Herausgabe der Briefe auf Nepos' Initiative zurückgeht.
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Cornelius Nepos
Auch andernorts bezeugt sind: - die Ehe der Schwester des Atticus mit Q.Cicero (oben 5, 3): z.B. Cie. Att. 1, 5, 2; 1, 6, 2; 5, 1, 3; vgl. 1, 17, 3; 6, 3, 8; - die verlegerische Tätigkeit des Atticus (vgl. oben 13, 3): s. die Stellensammlung bei R.Feger''^^; - Atticus u. die doctrina des Epikur (vgl. oben 17, 3): z.B. Cie. Att. 14, 20, 5; leg. 1, 21; fin. 5,3/Atticus u. Ciceros Tusculanae disputationes: Cie. Att. 15,4, 2; - alle in Kap. 18 genaimten Werke des A. (mit Ausnahme der familiengeschichtlichen [3/4]): s. die Übersichten bei Teuffei I 35If u. Schanz/ Hosius 1 330-32. Erhalten haben sich schließlich die meisten der Schriften, in quibus de eo [sc. Attico] yâc/i [sc. Cicero] mentiomm (oben 16, 3), sowie ll"^'' Bücher Briefe an Atticus (vgl. oben 16, 3/4). Der literarhistorische Informationswert der Atticus-Vita ist, wie man aus vorstehender Aufstellung ersehen kaim, nicht gering. Vieles ist nur hier überliefert. Manches köimen wir über Parallelüberlieferung (bes. des Corpus Ciceronianum) kontrollieren. Die Quellenfrage stellt sich nicht in der Schärfe wie bei den anderen erhaltenen Viten, da wir hinreichende Vertrautheit des Autors mit den Lebensverhältnissen des Atticus voraussetzen dürfen (s. 13, 7: atque hoc non auditum, sed cognitum praedicamus: saepe enim propter familiaritatem domesticis rebus interfuimus; vgl. 19, 1). Daß Nepos Kontakt zu den Hinterbliebenen des Freundes gesucht hat, ist anzunehmen, daß er Zugang hatte zum Nachlaß des Verstorbenen, nicht unwahrscheinlich'*^^.
T.Pomponius Atticus T.f., RE Suppl. УШ, Stuttgart 1956, 503-26, dort 517-20. Über Atticus als Verlier speziell der Ciceronischen Schriften s. R.Sommer, T.Pomponius Atticus und die Verbreitung von Ciceros Werken, Hermes 61, 1926, 389-422, u. zuletzt J.J.Phillips, Atticus and the publication of Cicero's works, CW 79, 1986, 227-37. Über das Problem der von der überliefertai 16-Zahl abweichaiden Angabe s. den Nepos-Kommentar von Nipperdey/Witte, "Berlin 1911 (= '^Dublin/Zürich 1967), ad loc., Marshall, ad loc., sowie zuletzt Wirth (s. unten Anm. 478), S. 3 u. ad loc. Mit der Entstehungssituation der vita aufs engste verknüpft ist die Frage der Überarbeitung (s. Att. 19, 1) des Nepotischen oeuvres. Vgl. hierzu die kontroversen Standpunkte von H.Rahn, Die Atticus-Biographie und die Frage der zweiten Auflage der Biographiensammlung des Cornelius Nepos, Hermes 85, 1957, 205-15 (mit neuen Argumenten unterstützt jetzt von Holzberg [1995, s. oben Anm. 465]), u. R.Stark, Zur Atticus-Vita des Comehus Nepos, RhM 107, 1964, 175-89.
Die Atticus-Vita als literarhistorischer Text
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Die oben gegebene Liste lehrt zugleich, daß die literargeschichtlich relevanten Partien der Vita ganz ungleichmäßig auf die 22 Kapitel verteilt sind. Namentlich zwischen 5, 3/4 und 12, 4 klafft eine große Lücke. Dort steht (5-12) ein längerer Abriß über den homo politicus Atti cus, besser: den Privatmaim Atticus im Verhältnis zu den wechselnden Geschicken seiner res publica*^^. Die breite Entfaltung der stillen Diplomatie des Atticus steht jedoch mit der Zeichnung der geistig-seelischen Physiognomie in den Kapiteln und 13-18 nicht im Widersprach. Die humanitas und philosophisch fundierte pietas des Atticus''^^ sind es, die ihn sicher durch die Fährnisse des bewegten Jahrhunderts führten. Man könnte versucht sein, die Darstellung des 'Intellektuellen' Atticus bloß als Hintergrund seines abwechslungsreichen Diplomatenlebens zu lesen"^^. Jedoch verbietet schon die Einordnung der Vita in den Uber de Latinis historiéis die Margjnalisierung des literarischen Elements. Nichts hinderte Nepos, das Andenken seines bewunderten Freundes nach dem Vorbild der Cicero- und ausführlicheren Cato-Vita, also in gesonderter, von thematischen Zwängen befreiter Form, zu verewigen. Um seines literarischen, geisteswissenschaftlichen Verdienstes willen, so müssen wir annehmen, hat Nepos den Polymathes Atticus unter die Historiker eingereiht'*^® und so dauerhaft in seine literarischen Rechte gesetzt. Da er aber zugleich über Atticus mit dem sonst gebotenen Abstand nicht schreiben mochte oder koimte, sind ihm mitunter Über Atticus als "Zeugen der römischen Revolution" s. zuletzt F.Millar, Cornelius Nepos, 'Atticus' and the Roman Revolution, G&R 35, 1988, 40-55 (dt. in: Vom frühen Griechentum bis zur römischen Kaiserzeit - Gedenk- und Jubiläumsvorträge am Heidelberger Seminar ßr Alte Geschichte, hrsg. v. G.Alföldy, Stuttgart 1989, 41-54); den 'Bankier' Atticus behandelt E.Löfstedt, Roman literary portraits, Oxford 1958, 128-37 Zur politischen und finanzpolitischen Rolle des Atticus vgl. jetzt die Studie von O.Perlwitz, Titus Pomponius Atticus, Stuttgart 1992. Vornehmlich mit diesen Aspekten der Atticus-Vita hat es Büchner in dem oben, Anm. 465, genannten Aufsatz zu tun. So deutet bezeichnenderweise G.Wirth in seinem realienkundlich-historisch ausgerichteten Kommentar (Cornelius Nepos - Lateinisch. Deutsch, Amsterdam 1994) die Verfolgung wissenschaftlicher Interessen nur als "Vorwand" für Atticus' ersten Aufenthalt in Athen (ad 2, 2). Auch daß Sulla captus adulescentis et humanitate et doctrina den jungen Atticus nicht von seiner Seite lassen wollte, zieht er in Zweifel: "Nahe liegen eine politische Absicht angesichts verwandtschaftlicher Bezidiungen wie zugleich die Möglidikeiten einer Sachwalterrolle, die A. zweifellos nicht ungern übernahm" (ad 4, 1; mit Belegmaterial). Ganz auf dieser Linie liegt schon Leo, wenn er den Katalog der Werke des Atticus (18) als "Vorwand" betrachtet, "ihn (sc. Atticus) unter den historici latini zu behandeln" {Biographie, 213). Bekanntlich hat er Atticus auch den Uber de excellentibus ducibus exterarum gentium gewidmet (vgl. dort den prologus, 1). Widmung des Gesamtwerkes an Atticus hält für möglich d'Agostino, ebd., 112.
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Cornelius Nepos
warmherzigere Schilderungen seines 'Helden' unterlaufen, als es für das genus der Vita üblich ist''^®. A u c h der historische Bericht ist auffallend mit R e ferenzen auf Atticus' Tugendliebe durchsetzt. Z u Recht hat daher schon Leo die enkomiastischen Z ü g e der Atti c u s - V i t a betont''^'. Ein Rückschluß auf Gehalt und Gestalt der verlorenen Literatenviten des N e p o s ist bei dieser Ausgangslage fast unmöglich. U n d doch könnte uns nur die Kermtnis auch der übrigen Biographien die literarhistorische Methode
des N e p o s lehren.
Fest scheint allein dies z u stehen, daß er bei der Anordnung der Viten innerhalb eines Sachgebiets chronologisch verfuhr, also eine nach Gattungen differenzierte Literarhistorie in Lebensbildern schrieb''^^. M a n c h e s spricht dafür, daß innerhalb der einzelnen Viten das chronologische Prinzip zunächst hinter einer (vielleicht
ringförmigen)
Disposition nach den Leitthe-
men: Anfänge (γένος, παιδεία, φύσις, εΤδος - Lebensgang - Charakter Werke - T o d zurücktrat und nur innerhalb der Unterabschnitte bestimmend war"*®^. W e n i g s t e n s liegt dieses Ordnungsschema der A t t i c u s - V i t a (imd in leicht abgewandelter Form auch der kompendiarischen Cato-Vita"'^'') zugrunde.
Zur biograpMschen Tradition vgl. außer den schon genannten Büchern von Leo (s. dazu die eingeiiaide Kritik durch R.Stark, ebd. [Anm. 475], 183-89), Dihle (oben Aran. 469) u. Ehlers (Hrsg. [obei Arun. 469]) Dihles frühere Untersuchung Studien zur griechischen Biographie, Göttingen 1956, ^1970, E.M.Jenkinson, Genus scripturae leve: Cornelius N ^ o s and the Early History of Biography at Rome, ANRW I 3, 1973, 703-19 (vgl. dies.: Nepos - An Introduction to Latin Biography, in: Latin Biography, hrsg. v. T.A.Dorey, London 1967, dort 1-15) u. S.Swain, Biography and Biographic in the Literature of the Roman Empire, in: Portraits. Biographical Representation in the Greek and Latin Literature of the Roman Empire, hrsg. v. M.J.Edwards u. S.Swain, Oxford 1997, 1-37. "" Biographie, 213-15 (vgl. jetzt auch Holzberg [1995, s. oben Anm. 465]). Nur muß man sie nicht gleich, wie Leo es tut, in die Nähe des Xenophontischai Agesilaos rücken, ist sie doch, wie Büchner, ebd., 114f, gezeigt hat, nach Form und Gdialt ganz verschieden gestaltet. Zur Vorsicht im Gebrauch nicht eindeutig bestimmter termini (wie έγκώμιον) rät Stark, ebd., 180 mit Anm. 6 . - Über andere enkomiastisch disponierte Viten des Nepos s. W.Steidle, Sueton und die antike Biographie, München 1951, П963 (= ZÄemata 1), 145 Anm. 2 (in Auseinandersetzung mit Leo). Die 'Rdiabilitierung' des έγκώμιον bzw. seines n ^ t i v e n Pendants, des ψόγος, als wichtiger, der Tradition entnommener Konstituentien der Neposbiographien hat kürzlich Holzberg (1989), ebd. (oben Anm. 465), bes. 163ff., versucht. Zu weiterai Überl^ungen zur Gesamtdisposition der Nepotischen Viten s. den Schlußteil des Buches S. 217f Steidle, Sueton, ebd., I46f., setzt von einer stärker chronologischen Erzählung (Kap. 1-5) einen per species g l i e d e r t e n Hauptteil (6-18) ab, der seinerseits eine "Zweiteilung nach dai Gesichtspunktai 'öffentliches-privates Leben'" aufweise (ebd., 148). Vgl. Leo, ebd., 212.
Literaturgeschichte und Biographie
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Geme wüßte man, ob in den verlorenen Literatenviten der Aufweis einer künstlerischen Entwicklung (etwa durch die engere Verflechtung von Biographie und Darstellung des literarischen Werkes) versucht war (wir kommen am Ende des Kapitels auf diese Frage zurück'*^^). In der AtticusVita ist dergleichen offensichtlich nicht angestrebt, hnmerhin knüpft Nepos den Werkkatalog an die Beobachtung, daß Atticus moris etiam maiomm sumntus imitator fuit antiquitatisque amatar, quam ... diligenter habuit cognitam (18, 1). Die historiographische Arbeit des Atticus erfährt ihre nachdrückliche Würdigung dadurch, daß sie nach dem Urteil des Biographen die Lebensleistung des Portraitierten nicht nur ergänzt, sondern vertieft und abrundet. Zu Recht hat Dihle"^® gegen Leo die Eigenständigkeit der römischen Biographie gegenüber griechischen Vorbildern betont. Danach wird auch das Intellektuellenleben zunächst vor der Folie des staatsbürgerlichen Daseins gezeichnet. Jedoch ist die Opposition von privatem und öffentlichem Leben: otium und negotium in Nepos' Darstellung aufgehoben in der Aura einer Persönlichkeit, die politisch und a-politisch zugleich ist: Sie repräsentiert die Privatisierung des Öffentlichen (die Reduktion der Öffendichkeit auf die Initiative militärisch bzw. wirtschaftlich mächtiger Privatmänner) ebenso wie die 'Veröffentlichung', d.h. Öffendichmachung des Privaten (das wachsende Interesse am einflußreichen Individuimi, wie es vornehmlich in der biographischen Gestaltung zum Ausdruck kommt). Wohl mag es ein Zufall der Überlieferung sein, daß sich von den Literatenbiographien des Nepos gerade die Lebensbeschreibungen zweier Männer erhalten haben, deren künstlerische Neigungen nicht das hervorstechende Merkmal ihres βίος und ήθος gewesen sind; nimmt man jedoch die Reste der literarhistorischen Abschnitte über den jüngeren Gracchus sowie M.Cicero hinzu, die kurioserweise beide als Bruchstücke des Abschnitts über die hisiorici Latini überliefert sind"*^^, wird man vielleicht nicht abgeneigt sein zu glauben, daß der Synergismus politischer (d.h. in dem eben entwickelten weiten Verständnis: kommunitaristischer) und literarischer Antriebe konstitutiv wenigstens für die Darstellung der Historikerviten (unter den Künsderviten) gewesen ist. An der Übertragbarkeit des Modells auf die Vertreter einer genuinen (fast möchte man sagen: autonom verfaßten) poetischen Existenz sind Zweifel erlaubt: Vergessen wir aber nicht, daß in den Nachrichten, die vom Leben der Poeten aus republikanischer Zeit auf "" S. unten S. 135f. A.D., Entstehung, ebd., 22-27. Das Cicero-Fragmait wird freilich mitunter der Einleitung des Historiker-Buches zugewiesen (s. Schanz/Hosius I 356).
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Cornelius Nepos
uns gekommen sind, dem Verhältnis der Dichter zum politisch-sozialen Kontext ihrer Lebzeit durchweg ein kaum zu übersehender Stellenwert beigemessen ist. V o n dem alten Naevius hat sich besonders die Erinnerung an seine eminent politische Auseinandersetzung mit den Metellem erhalten"*^^, jeder noch so knappe Abriß der Ennianischen vita enthält einen Hinweis auf den Umstand, daß er im Gefolge des Cato vor Zeiten nach Rom gekommen war''®^; die Verbindxmg des Terenz mit dem Scipionenkreis, die politische Leidenschaft des Lucilius sind zu bekaimt, als daß ich hier darauf hinweisen müßte, w i e N e p o s sehr wohl literarische matters
und facts vor dem Hinter-
grund einer politischen Verhaltensweise entwickeln kormte. Selbst der g e m - und falsch - als weltflüchtig gezeichnete Lukrez'*®" und der jedem politischen engagement
abholde Catull ließen sich - ich nenne nur die in der
Überlieferung schillernden Namen Memmius und Caesar'*^' - in ihrem wie immer gearteten Verhältnis zum öffentlichen Leben darstellen. W i e man sich eine Nepotische Dichterbiographie vorzustellen hat, könnte ein Blick auf das oeuvre
des Sueton und die Trümmer seiner Poe-
tenviten lehren. Spielt hier nicht das Verhältnis zur politischen Welt eine
Ps.Ascon. Verr. p.215 St.: dictum facete et contumeliose in Metellos antiquum Naevii est: fato Metelli Romae fluni cónsules', cui tunc Metellus consul iratus versu responderat senario hypercatalecto, qui et Satumius dicitur: 'dabunt malum Metelli Naevio poetae'. Die Zuverlässigkeit der Überlieferung ist sdir zweifelhaft. S. liierzu E.Cocchia, N ^ i incunabula della poesia latina, AAN 5, 1916, 289-309, bes. 291, G.Jachmann, Naevius und die Meteller, in; Άντίδωρον, FS Wackemagel, Göttingen 1923, 181-89, T.Frank, Naevius and Free Speech, AJPh 48, 1927, 105-10, H.B.Mattingly, Naevius and the Metelli, Historia 9, 1960, 414-39, W.Richter, Staat, Gesellschaft und Dichtung im Rom des 3, und 2. Jhs, v. Chr. (Naevius, Ennius, Lucilius), Gymnasium 69, 1962, 286-310, dort 291f, u. H.D.Jocelyn, The Poet Cn.Naevius, P.Comelius Scipio, and Q.Caecilius Mrtellus, Antichthon 3, 1969, 3 2 ^ 7 . Hier, chron. a. Abr. 1777 (p. 133, 3-8 H[elm]): Q.Ennius poeta Tarenti nascitur, qui a Catone quaestore Romam translatus habitavit in monte Aventino parco admodum sumptu contentus et unius ancillulae ministerio. Zur literarhistorischen Tradition dieses Eintrags s. auch oben Anm. 269 u. W.Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter, ebd. (Anm. 262), 142. Für die Authentizität der Tradition jetzt v.Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, I 106 Anm. 1 (g^en E.Badian, Ennius and his Friends, in; Ennius, Entretiens 17, [Vandoeuvres 1971] Genf 1972, 149-99 [mit Diskussion 200-08]), u. C.J.Classen, Ennius; Ein Fremder in Rom, Gymnasium 99, 1992, 121—45, dort 122 (wieder abgedr. in; ders.. Die Welt der Römer. Studien zu ihrer Literatur, Geschichte und Religion, unter Mitwirk. v. H.Bemsdorff hrsg. v. M.Vielberg, Berlin/New York 1993, 62-83). Zur Kritik des Mythos s. zuletzt R.F.Glei, Erkenntnis als Aphrodisiakum - Poetische und philosophische voluptas bei Lukrez, A&A 38, 1992, 82-94, bes. 85f S. hierzu M.B.Skinner, Parasites and Strange Bedfellows; a study in Catullus' political imagery. Ramus 8, 1979, 137-52, bes. 148, u. neuerdings D.Braund, The Politics of Catullus 10; Memmius, Caesar and the Bithynians, Hermathaia 160, 1996, 45-57.
Der Werkkatalog der Atticus-Vita
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ausgezeichnete Rolle auch dort, wo man es nicht unbedingt und a priori erwarten kann? Sind nicht die gräzisierenden und hellenisierenden Dichtergelehrten Vergjl und Horaz besonders eindringlich in ihrer Beziehung zum Kaiserhaus gezeichnet'''^? Doch unterziehen wir nun den 'Werkkatalog', das Zentrum der AtticusVita in literarhistorischer Perspektive, einer genaueren Prüfung: Was erfahren wir, und wie erfahren wir es; was erfahren wir nicht? Atticus' beflissene Nachahmung des mos maiorum und seine Begeisterung für die Altertumskunde haben ihn, so lesen wir 18, 1, dahin geführt, daß er eam totam [sc. antiquitatem] in eo volumine exposuerit, quo magistratus ordinavit. Die Periphrase steht statt des anderweitig bezeugten, hier (in für Atticus schmeichelhafter Weise?) als bekannt vorausgesetzten Titels (Uber) annalis (so Cie. Att. 12, 23, 2) und hebt vielleicht ein Charakteristicum des Bandes hervor, das ihn auch vor Nepos eigenen Chronica auszeichnete"*'^. Zur Begründung des tota läßt Nepos die populär gefaßte Erklärung folgen: nulla enim lex neque pax ñeque bellum ñeque res illustris est populi Romani, quae non in eo suo tempore sit notata (18, 2) und erweckt so freilich den verkehrten Eindruck, der annalis handle ausschließlich von der römischen Geschichte. Aus Cie. orat. 120 wissen wir, daß auch die Geschichte nichtrömischer Völker und Regenten berücksichtigt war. Nepos fährt fort: et, quod difficillimum fuit, sic familiarum originem subtexuit, ut ex eo clarorum virorum propagines possimus cognoscere (ebd.). Der Präzisionsarbeiter Atticus also ist es, der hier gerühmt wird; und nicht abwegig ist die Vermutung Münzers, daß Atticus mit der Integration der schwierig darzustellenden Filiationsverhältnisse in seinen Uber Neuland betreten habe'*'". Wenn wir gleich vom ersten Werk der 'Werkschau' weder Titel noch inhaltliche und, so dürfen wir jetzt hinzufügen, zeidiche Begrenzung des Gegenstandes'"^ noch die (wenigstens ungefähre) Zeit der Abfassung'*'® erfahren, so läßt dies schon jetzt an jenen Typ der 'privaten', auf intimer Keimtnis des Gegenstands beruhenden Literarhistorie denken, die uns aus einigen Redneφortraits des Ciceronischen Brutus vertraut ist"®^: Sie verschweigt, was großzügig als bekannt vorausgesetzt oder als quantité négliKein Hinwas bei Schmidt/Sallmann, ebd. (Anm. 155). Überhaupt ist die Darstellung im neuen Handbuch - im charakteristischen Unterschied zur überschießenden Urteilsfreude des abzulösenden Vorgängers - wenig 1тефге11егеп0. So Münzer, ebd. (Anm. 467), 58. Münzer, ebd., 59. S. auch NipperdeyAVitte ad 18, 2. Darüber Cie. orat. 120. S. Cie. Brut. 19 u. 44, u. dazu Münzer, ebd., 50f. u. Anm. 1. S. oben S. 96fF.
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Cornelius Nepos
geable angesehen werden kann, und setzt dafür die Vorzüge der besprochenen Literatur ins helle Licht; die Auswahl und Anordnung der zu einem Werk zu treffenden Feststellungen ist subjektiv und folgt, soweit sich dies in der Tradition beobachten läßt, keinem irgendwie bestimmten Schema. Doch zurück zum Atticus-Katalog: Mit dem Hinweis auf das familiengeschichtliche Interesse des annalis ist die Brücke zu den einschlägigen genealogischen Separatschriften des Atticus geschlagen. Wir erfahren, daß er auf Betreiben des Brutus die Geschichte der Junier a stirpe usque ad harte aetatem verfolgt hat, notons, qui a quo ortus quos honores quibusque temporibus cepisset (18, 3), und geradeso habe er es auf die Bitte des Marcellus Claudius hin mit den Marcellem imd, dem Wimsch des Cornelius Scipio und Fabius Maximus entsprechend, mit den Fabii und Aemilii gehalten (18, 4). Diese Angaben sind verhältnismäßig bestimmt, und es besteht kein Grand, ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Nepos beschließt seine Bemerkungen zur Familienforschung des Atticus mit dem werbenden Satz: quibus libris nihil potest esse dulcius iis, qui aliquant cupiditatem habent notitiae clarorum virorum (ebd.). Zweifellos hat Nepos mit dieser Wertung dem historiographisch verdienten Freimd einen Teil seiner persönlichen Dankesschuld erstattet. In der Weise eines Anhangs ist an dritter Stelle des Katalogs das poetische oeuvre des Atticus behandelt: attigit poeticen quoque (18, als gelte es, etwaiger Kritik an den diesbezüglichen Versuchen des Freundes von vorneherein den Wind aus den Segeln zu nehmen, läßt Nepos sogleich die konziliante Mutmaßimg folgen: credimus, ne eius expers esset suavitatis (ebd.). Wieder spricht aus Nepos' Worten anderes als der nüchterne Sinn des unparteiischen (Literar-)Historikers: Urteilt er doch als altersweiser connaisseur, der selbst auf ein (von Plin. epist. 5, 3, 6, bezeugtes) poetisches Frühwerk zurückblicken kann. Es folgt eine knappe und klare Beschreibung der Imagines des Atticus, die auch durch Plin. nat. 35, 11 bezeugt sind: Gegenstand {qui honore rerumque gestarum amplitudine ceteros Romanipopuli praestiterunt [ebd.]"'®) und Machart der Bild- und Versdichtung des Freundes werden benannt; abermals schließt Nepos mit einem überschwenglichen Lob: quod vix credendum sit tantas res tam breviter potuisse declarari (18, 6)^°°. Ein vager Hinweis auf das einzige griechisch
Nach Auffassung d'Agostinos, ebd., 115 Anm. 1, "la frase significa che Attico non dovette nutrire un vero interesse per la poesia" (mit Hinweis auf Cie. Arch. 19). "" Zur Konstruktion: namque versibus (erg.: eos), qui ..., exposuit vgl. Nipperdey/Witte ad loc. 500 Über die Imagines des Varrò s. oben S. 79-82.
Die Cato-Vita
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verfaßte Werk des Atticus bescMießt den Überblick: est etiam unus Uber Graece confectus, de comuiatu Ciceronis (ebd.)^°'. Die Ungunst der Überlieferung, die uns von der literarhistorischen Arbeit des Nepos allein die sicher untypische, weil auf ganz unmittelbarer Anschauung beruhende Atticus-Vita und die gewiß nicht minder untypische, weil aus einem größeren Ganzen kontrahierte Cato-Vita erhalten hat, macht, wie wir bereits feststellten'"^, ein verbindliches Urteil über die Methode des Nepos so gut wie unmöglich. Vergleichen wir dennoch den Werkkatalog der Atti cus-Vita mit dem der Cato-Vita (Kap. 3)'°^; denn möglicherweise ist der Umstand, daß zwei Texte sowohl von einander als auch vom übergeordneten Textcorpus phänotypisch deutìich verschieden sind, beim Versuch einer wenigstens umrißhaften Rekonstruktion des Ganzen dann kein Nachteil, wenn sich bei der Vergleichung einzelner Teile doch manches Gemeinsame entdecken läßt: An die Bemerkung, daß Cato in allen Bereichen des Lebens mit unermüdlichem Fleiß tätig war und so et agricola sollers et peritus iuris consultus et magnus imperator et probabilis orator et cupidissimus litterarum fuit (3, 1), knüpft Nepos die rühmende Feststellung: quarum [sc. litterarum] Studium etsi senior arripuerat, tarnen tantum progressum fecit, ut non facile reperiri possit neque de Graecis neque de Italicis rebus, quod ei fuerit incognitum (3, 2). Der rednerische Teil des Werkes wird, wie in einem Buch De Latinis historicis nicht anders zu erwarten, mit einem flüchtigen Hinweis gestreift: ab adulescentia confecit orationes (ebd.)'"''. Senex, fährt Nepos fort, historias scribere instituit (ebd.), und liefert dann Zahl (earum sunt libri Septem) und Inhalte der Bücher (3, 3). Auch der Titel des Werkes (Origines) und seine (vermutete) Herleitung (die Bücher 2 und 3 schilderten, unde quaeque civitas orta sit Italica, ob quam rem omnes Origines vide tur appellasse [ebd.]) fehlen nicht. Bemerkenswert sind die erzähltechnischen Hinweise, daß im Catonischen Geschichtswerk zimi einen omnia "" Vgl. Cie. Att. 2, 1, 1. "" S. oben S. 128. Der literarhistorische Teil der Cato-Vita hat das Interesse der Forschung, soweit ich sdie, bisher nicht geftmdai. Mit einer flüchtigen Bemerkung gestreift wird er jetzt von V.Ramon, El "Cato" de Cornelio Nqsote y los orígenes de la biografia politica grecolatina, QS 39, 1994, 279-87: "La atención que presta Nepote a la obra literaria de Catón redunda en la consideración del personaje como historiador, no como politico, lo que explica que Nqjote se extienda precisamente en la obra historiográfica de Catón (3, 3-4)" (281). S. die vorige Anm.- Sollte Nepos die Würdigung des Redners Cato durch Cicero (im Brutus, s. oben S. 103-11) damals schon vorgelegen haben (so Leo, Biographie, ebd., 169 Anm. 2), konnte er sich guten Gewissens jeden weiteren Hinweis auf das rhetorische oeuvre sparen.
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Cornelius Nepos
capitulatim sunt dicta (ebd.), zum anderen in den beiden letzten Büchern, die es mit der Zeitgeschichte zu tun haben, die Namen der Protagonisten imterdrückt sind (3, 4). Des weiteren erfahren wir, daß Cato in seinem Werk^°^ auch berichtet habe, quae in Italia Hispaniisque out fierent aut viderentur admiranda (ebd.). Möglicherweise hat also Cato in den Origines etwas geliefert, das für die fiinfbändige Exemplensammlimg des Nepos, von der xms u.a. der ältere Plinius, Pomponius Mela und Gellius Spuren bewahrt haben^°^, amegend xmd nutzbringend sein mochte. Nepos beschließt den Abschnitt, indem er auf das industria-Jhema des Eingangs zurücklenkt: in quibus [sc. libris] multa industria et diligentia comparet, nulla doctrina (ebd.). Halten wir den 'Cato-Katalog' mm mit dem 'Atticus-Katalog' zusammen, fällt auf, daß die Unterschiede in der Tat nicht so groß sind, wie man angesichts der verschiedenen entstehungsgeschichtlichen Voraussetzxmgen erwarten konnte. Hier wie dort finden wir Deskription und ästhetische Wertung in charakteristischer Mischung. Eulogische Töne vernehmen wir in beiden Darstellungen (wermgleich gemäßigter in der Cato-Vita). Auf abgerundete vollständige Charakteristik oder auch nur Skizzierung (Titel, Gestalt, Inhalt, Entstehungszeit) der Werke ist auch dort nicht Wert gelegt, wo der Raum vorhanden gewesen wäre (Atticus-Vita). Als wolle er dem Leser die pedantische Explikation en detail möglichst ersparen, eilt er 'von Pimkt zu Punkt', indem er den ihm am interessantesten scheinenden Schriften: dem 'Jahrbuch' und den genealogischen Forschungen die ersten Plätze und knapp zwei Drittel des ganzen Abrisses einräumt, um dann, locker angereiht mit quoque (18, 5) imd etiam (18, 6) die historische Versdichtung und den Uber De consulatu Ciceronis folgen zu lassen. Der ganze passus ist mit aparten Bemerkungen durchsetzt, sei es über die Schwierigkeit einer wissenschaftlichen Arbeit {dijjicillimum fuit, 18, 2), sei es über die Sorgfalt bei der Ausarbeitung {nulla enim lex ... quae гюп ... suo tempore sit notata, 18, 2), über die konzise Abfassung der Imagines (... vix credendum sit tantas res tam breviter potuisse declarari, 18, 6) oder - nicht zuletzt - die Nützlichkeit der Schriften (ut ex eo [sc. volumine] clarorum virorum propagines possimus cognoscere, 18, 2; quibus libris nihil potest esse dulcius iis, qui ..., 18, 4). Gerade aber der Hinweis auf den Nutzen der Werke (in bezeichnender Einkleidung in den Übernamen dulcedo) bezeugt deutlich den kompendiösen, populärwissenschaftlichen Charakter der Atticus-Biographie. Die inne-
"" Dam in eisdem bezieht sidi genau wie das folgende in quibus gewiß nicht nur auf die letzten Bücher der Origines. S. NipperdeyAVitte, ad loc. S. Marshall, frgg. 10-35.
Cato-Vita und Atticus-Vita
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re Teilnahme des Autors am zu verhandelnden sujet ist deutlich spürbar. Hierin vor allem unterscheidet sich die Lebensbeschreibung des Freundes von der des Mannes aus Tusculum: Das Werk des letzteren ist weniger aufdringlich ins Licht gesetzt, das Lob ist sachlicher, einmal, am Schluß des Abschnitts, wird gar fehlende doctrina konstatiert - vor dem Hintergrund des feinsinnigen literarkritisehen portraits, das Cicero (wahrscheinlich nicht lange zuvor) im Brutus geliefert hatte^"^, ein milder Tadel. Möglich, daß Nepos in der längeren Fassung der Cato-Vita in den literarhistorischen Partien 'modernen' Vorstellungen von Literaturgeschichtsschreibung noch weitergehend entsprach. Immerhin verrät schon das Exposé, daß der Autor die literarischen facta sehr wohl als Teil und Ausfluß der ganzen vita zu fassen verstand: "In omnibus rebus singulari fuit industria: nam et agrícola sollers et perítus iuris et magnus imperato! et cupidissimus Htterarum fiiit" (3, 1). Leitsatzartig sind mit der ersten Aussage Lebensbereiche (Tätigkeitsfelder) und literarische Arbeitsgebiete erfaßt. Catos Literatur ist (man hat den Römern solch wachen Sinn für die Durchdringung biographischer und wissenschaftlich-künstlerischer Elemente allzu oft abgesprochen) nur vor dem Hintergrund seines reichen und bunten Lebens, seiner reichen imd vielseitigen Begabung zu verstehen^"'. Auch von der Möglichkeit künstlerischer Entwicklung und Reifung hat der Verfasser der vita Catonis wenigstens einen Begriff (für die Atticus-Vita mußten wir feststellen, daß die Darstellung eines solchen Entwicklungsganges nicht einmal versucht war; wir ahnen jetzt, daß es sachliche Gründe waren, die dgl. verhindert haben; möglich, daß die original-geniale Anlage des Atticus und ihre biographische Reproduktion auch nur den Gedanken an ein derartiges Unterfangen verdrängt hat): "quarum [sc. Htterarum] studiiun, etsi senior arripuerat, tarnen tantum progressum fecit, ut non facile reperiri possit neque de Graecis neque de Italicis rebus, quod ei fiierit incognitum" (3, 2).
""S.obenS. 103-11. "" Nicht von ungefähr ist in dem kurzen biographischen Abriß (Kap. I u. 2) Wert auf die Feststellung gelegt, daß Cato von Sardinien quaestor superiore tempore ex Africa decedens Q.Ennium poetam deduxerat; denn Nepos fahrt fort: quod non minoris aestimamus quam quemUbet amplissimum Sardiniensem triumphum (1, 4). S. dazu auch oben Anm. 489.
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Cornelius Nepos
Von selbst fällt nach solcher Feststellung minderes Gewicht auf die Erzeugnisse der Jugend: "ab adulescentia confedt orationes. senex historias scribere instituit" (ebd.). Noch an einer weiteren Stelle auf kürzestem Raum bekundet Nepos Einsicht in die wechselseitige Durchdringung lebens-, werk- und zeitgeschichtlicher Momente: Die scheinbar belanglose Mitteilung, daß Cato in den Origines bei der Schilderung der jüngeren kriegerischen Auseinandersetzungen duces non nominavit, sed sine nominibus res notavit (3, 4), besagt doch nur, daß schon Cato sich des mitunter heiklen Verhältnisses von künstlerisch-historiographischer Arbeit und wacher Teilnahme am politischen Leben bewußt war: beides von mancherlei Rücksichtnahme auf die άγραφοι νόμοι des politischen Betriebes bestimmt. An einer einzigen Stelle, nämlich der schon mehrfach angeführten Überleitung von der Charakterzeichnung zum Werkkatalog (17/18), hatte auch die Atticus-Vita das Wissen des Autors um die wechselseitige Bedingtheit von Leben und Werk des Porträtierten bezeugt: Wie einerseits das praktische Handeln des Atticus in der Beschäftigung auch mit doctrina, d.h. mit principumphilosophorum ... praeceptfis) gründet, so erscheint andererseits das wissenschaftliche Werk des Freundes als Ausfluß einer leidenschaftlich gepflegten imitatio moris maiorum. Das Interessanteste, das wir zumal aus dem größeren Bruchstück aus Nepos' literaturwissenschaftlichem oeuvre, der Atticus-Vita, erfahren, ist vielleicht die staunenswerte Selbstverständlichkeit, mit der hier Kunstverstand, Bildsamkeit und wissenschaftliche Neugier mit Geschäftssinn und feinem Gespür für politische Entwicklungen in völligem Einklang sind und - wichtiger noch - wie diese bildimgsbürgerliche mélange von Nepos unprätentiös bis zur Formlosigkeit mit sicheren Strichen gezeichnet ist: Der Privatmann und Privatgelehrte Atticus hat in Nepos seinen 'kongenialen' Literarhistoriker geñmden. Gerade die 'idiotische', recht eigentlich 'privatmännische' Schreibart macht Nepos als Zeugen bourgeois-römischer Kultur im Übergang von der späten Republik zimi Prinzipat glaubhaft. Der Erforschung des literarischen Lebens jener Epoche gereichte es nicht zum Vorteil, wenn sie den Autor von ihren Bemühungen ausschlösse. Römische Literarhistorie tendiert, weim - nach den bisherigen üntersuchungen - der Anschein nicht trügt (Nepos jedenfalls liefert einen weiteren starken Beweis), zu publikumsbezogener, pragmatischer Darstellung. Von dieser Bewertung muß man von den bisher behandelten Autoren selbst Varrò nicht ausnehmen; seine Imagines haben Atticus' und Nepos' Schriftstellerei ent-
»Idiotische« Literaturgeschichte
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scheidend beeinflußt^"'; die gelehrten Schriften De poematis
und De
poetis
waren möglicherweise dialogisch konzipiert^'" und also auf ein Publikum berechnet, das über den engen Kreis der Fachleute hinausging. D i e eingangs mehrfach berührte Frage nach dem Wert der Nepotischen Schriftstellerei stellt sich jetzt (wenn - den Intentionen dieses Buches entgegen - einmal die literaturdidaktische Pointe erlaubt ist) ganz anders: W e der muß man ihn lesen, weil er ein großartiger und, wie uns zuletzt Joseph Geiger in seiner Neposstudie glauben machen will^", innovativer Autor ist^'^, noch ist er als dilettantischer Stümper a priori
schon von den Schulen
femzuhalten, w i e Friedrich August W o l f in seiner Vorlesung
über die En-
cyclopädie
"Nepos
der
Alterthumswissenschaft
gefordert
hat:
und
Eutropius", schreibt er, "mußs wegbleiben. Das Lesen derselben ist ein unsinniges""'; - und ein streitbarer Pädagoge hat gar anno 1850 ein Pamphlet De Cornelio
Nepote
a loco quem in scholis
ob tine t removendo^^^ übertitelt.
Lesen, meine ich, muß man ihn; und zwar nicht trotz, sondern wegen Mittelmäßigkeit, besser: Mittelständigkeit.
seiner
Schützen muß man den Autor
"" Nach U.Fleischer, Zu Cornelius Nepos, in: FS B.Snell, München 1956, 197-208, dort 206f., hat sich Varros Einfluß auch strukturell in Nepos' Feldherm-Buch niedergeschlagen. Vgl. J.Geiger, Cornelius Nepos, De regibus Exterarum Gentium, Latomus 38, 1979, 662-69, dort 663. S. oben S. 92 mit Anm. 375-77. Ebd. (s. Anm. 465), passim. Vgl. jedoch die kluge Relativierung der Geigerschen These durch Holzberg, ebd., passim - Auch der Versuch, den Autor in geschichtsphilosophischer Perspektive zu rehabilitieren (so jetzt L.Havas, Geschichtsphilosophische Interpretationsmciglichkeiten bei Cornelius Nepos, KJio 67, 1985, 502-06), ist m.E. verfdilt. Ganz im G^enteil könnte Nepos' Verzicht auf jede geschichtsphilosophische Konstruktion meine im Schlußteil des Buches (s. unten S. 217f.) ausgesprochene TTiese von der stupaiden Modernität des Nepotischen Modells einer seriell strukturierten 'Geschichtsschreibung' stützen. Dabei ist ganz unbestritten, daß seine Vitensammlung eine Tradition gestiftet hat, in die sich zuletzt noch Namen eingereiht haben, die man für die neuzeitlichen Urheber "erste(r) bescheidene(r) Versuch(e) einer 'Geschichte der römischen Literatur"' ansieht: Bocaccio und Sicco Polentonus (vgl. R.Pfeiffer, Die Klassische Philologie von Рйгагса bis Mommsen, München 1982 [Orig.: Oxford 1976], 41 [dort das Zitat] mit Anm. 144, u. zuletzt den A'epos-Artikel v. U.Schindel, in; Hauptwerke der Geschichtsschreibung, hrsg. V. V.Reinhardt, Stuttgart 1997, 453-56, dort 456). In der von J.D.Gürtler, Leipzig 1839, hrsg. Ausgabe S. 252. Das Verdikt geht vor allem g ^ e n die Dunkelheit, d.h. im Kontext der Wolfschen Äußerungen: sachliche Unzuverlässigkeit der genannten Autoren. In dieser Hinsicht stellt er sogar Aurelius Victor über Nepos (ebd., 256). G.L.R.Hanow, (Progr.) o.O. 1850. Weiteres Köstliche zu Nepos' carrière als Schulautor bei F.A.Eckstein, Lateinischer und griechischer Unterricht, hrsg. v. H.Heyden, Leipzig 1887, 207-17. Zur schulischen Eignung des Autors aus neuerer (didaktischer) Perspektive s. C.Stolz, Inteφretationsbeispiele zu C.Nepos, AU 14/3, 1971, 19-42, bes. 19f.
138
Cornelius Nepos
vor seinen allzu eifrigen Tadlem wie - und dies besonders - seinen neu erstandenen Bewimderem. Der nüchterne Sinn des Historikers ist gefragt, wenn die schöne literarhistorische Konstruktion von der schönen Kunst der späten Republik an einem μέσος άνήρ, wie Nepos es war, nicht zuschanden werden soll.
VI. Literarhistoriographie als Kulturgeschichte: Velleius Paterculus
"Aber warum giebt es so wenig Originale? Niciit darum, weil die Emdte der Scribenten vorüber ist, und weil die großen Schnitter des Alterthums keine Naclilese übrig gelassen haben; auch nicht deßw^en, weil die Gebänmgs=Zeit des menschlichen Verstandes verflossen ist, oder weil er unvermögend wäre, eine Geburt hervorzubringen, die noch nie da gewesen; sondern weil berühmte Beyspiele an sich ziehen, mit Voruithäl erfüllen und zaghaft machen. Sie ziehen unsere Aufmerksamkeit an sich, und verhindern uns dadurch an der gehörigen Erforschung unserer selbst; sie erfüllen unsere Beurtheilungskraft mit Vorurtheil für ihre Geschicklidikeit, und so vemngem sie in uns das Gefühl unserer eigenen; sie machen uns endlich zaghaft durch den Glanz ihres Ruhms, und so ersticken sie unsere Fähigkeiten durdi unser Mißtrauen. Das was unserer Natur wirklich unmöglich ist, ist weit untersdiieden von dem, was unserm Mißtrauai unmöglich scheint." (Edward Young, Über die Originalwerke [in einem Schreiben an Samuel Ridiardson]"')
Im Konzert der Autorenstimmen, die Anspruch machen können auf den Namen literaturgeschichthcher Arbeit, gehört zu den oft genannten, aber immer noch wenig bekannten die des frühkaiserzeitiichen Militärs und Historikers Velleius Paterculus^In mehreren Exkursen^'^ handelt er vom In der Übersetzung v. H.E.v.Teubem (Leipzig 1760) hrsg. v. K.Jahn, Bonn 1910, 12.
F.A.Wolf und der jüngere Schl^el, die Protagonisten der neueren Literaturgeschichtsschreibung, haben von Velleius' literarhistorischer Arbeit noch keine oder wenigstens keine genaue Vorstellung. Schl^el erwähnt den Historiker, auf den er sich im Zusammenhang seiner Philosophie der Literaturgeschichte doch auch hätte berufen können (vgl. Behler in der Einleitung zum 1. Bd. seiner Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe [= KFSA], Paderborn &c. 1979, CV mit Anm. 5), nur in kompromittierendem Kontext: "Wie schnell selbst die Historie, in der die Römer doch am größten waren, unter dem furchteriichen Druck der nachfolgenden [sc. auf Augustus folgenden] Cäsaren auch als Kunst entartet sei, zeigt der geschraubte Styl des Vellejus, der unwürdigen Schmeichelei nicht zu gedenken" (Geschichte der alten und neuen Literatur, 3. Vorlesung [gehalten in Wien 1812], Wien 1815, 4 8 2 2 , in der KFSA in Bd. 6, hrsg. v. H.Eichner, München &c. 1961, 83).- Wolf, der um den kompendiarischen Charakter des Werkchens weiß, läßt den Historiker und Stilisten Velleius immerhin gelten ("Er ist ein artiger Schriftsteller, der selt a i acumina hat, welche geschmacklos sind". Vorl.Röm.Lit. 276), erwähnt aber unter den Quellen der Geschichte der römischen Litteratur (ebd., 6f.) den Autor wenigstens nicht namentlich. Über seinen literaturhistoriographischen Erben Bemhardy s. unten S. 148.
140
Literaturgeschichte als Kulturgeschichte
frühgriechischen
Epos (I 5: Homer, I 7, 1: Hesiod), den Höhepunkten der
griechischen und römischen Literatur (I 1 6 - 1 8 ) und noch eirmial der römischen Literatur bis auf die Zeit des Sulla (Π 9) bzw. des Augustus (Π 36). Einzig in seiner Art ist der Abschnitt, der das erste Buch des Kompendiums beschließt (I 16-18); Hier ist nach den Gründen fur literarische 'Blütezeiten' und ihren Verfall gefragt. D o c h zuvor - stellvertretend für die eher konventionell gestrickten übrigen Exkurse''^ - ein Blick auf den ersten, Homer gewidmeten Abschnitt. A u f einen Überblick über die frühen festlandgriechischen Kolonisationsbewegungen (I 4), der mit der Nennung berühmter äolischer Gründungen in Юе1па81еп (darunter Smyrna) und auf Lesbos schließt, folgt eine enkomiastisch disponierte Überleitung zur Literaturgeschichte: "Clarissimum deinde Homeri inluxit ingenium" (I 5, 1)^"; am Anfang stehen ein ästhetisches Urteil und seine Begründimg: Homers ingenium
ist unvergleichlich groß (sine exemplo
dient, poeta operis,
maximum).
Er allein ver-
genannt zu werden. Zur Begründung wird auf die
magnitudo
also etwa die 'Großartigkeit des Entwurfs''^®, und den fulgor
carmi-
Den Ausdruck 'Exkurs' meidet R.J.Starr in seiner erzäMtechnischai Studie Velleius Patercuius: A literary introduction, (Diss. Princeton 1978) Ann Arbor 1980, und spricht stattdessen lieber von "pauses in the course of the narrative": "There are no gaps in the treatment, no periods left untreated ... These chapters are, therefore, not digressions but rather pauses in the course of the narrative, intended to cover literary history from the beginnings of Greek literature to the contemporary period" (71). Vgl. hierzu die Überblicke bei A.Schöb, Velleius Patercuius und seine literarhistorischen Abschnitte, (Diss.) Tübingen 1908, u. J.Gustin, Les péricopes littéraires dans l'ouvrage de Velleius Patercuius, (Diss.) Louvain 1944 (mss ). Weitere Hinweise bei J.Hell^ouarc'h, État présent des travaux sur Г 'Histoire Romaine' de Vellaus Patercuius, in: ANRW 2, 32, 1, 404-36, dort 430-3, u. M.Elefante (s. die folgende Anm.), 4 5 ^ 7 u. jeweils ad loc. Die Zitate nach der Teubneriana von W.S.Watt, Leipzig 1988 (korrigierter Nachdr.: Stuttgart/Leipzig 1998); Abweichung«! sind am Ort vermerkt.- Lange nach Abschluß des Kapitels ist mir M.Elefantes neue kommentierte Gesamtausgabe des Velleius, Hildesheim/Zürich/New York 1997 (= Bibliotheca Weidmanniana Ш), bekannt geworden. Soviel wage ich schon nach Verglach ausgewählter Partien zu sagen, daß die Verf. zwar mit großem dokumentarischem Fleiß zu Werke g^angen ist, jedoch an textkritischem iudicium weit hinter Watt zurückbleibt. Letzteres gesteht sie freilich auch ein: "Nei casi disperati, dove non è possibile fare luce, se non con lambiccate congetture, ho preferito far ricorso alle cruces, registrando nell' apparato gli interventi critici più significativi, discussi, di volta in volta, nel commento. Ho evitato di avanzare nuove congetture ..." (13). "" Anders Gustin, ebd., 6: "Je serais d'avis de laisser plutôt a 'magnitudo' sa valeur concrète et de traduire par 'étendue de l'oeuvre'. Ainsi les deux notions 'magnitudo operis' et 'fulgor carminum' se distingueraient nettement, Г une marquant l'extraordinaire fécondité.
Der Homer-Exkurs
mm,
141
seine glanzvolle Ausführung'^', verwiesen (ebd.). Seine Ausnahme-
stellung wird noch unterstrichen dadurch, daß behauptet wird, "quod neque ante illum quem ipse imitaretur neque post Шит qui eum imitan posset inventus est. neque quemquam alium, cuius operis primus auctor fiierit, in eo perfectissimum praeter Homerum et Archilochum reperiemus" (I 5, 2). Beide Aussagen sind in der weiteren Geschichte der Homerliteratur geradezu topisch geworden. Mag der Satz von der Frühvollendung der epischen Gattung bis heute seine Gültigkeit behalten haben"^, so ist die Forschung über die Annahme der Voraussetzungslosigkeit der homerischen Dichtung {neque ante illum quem ipse imitaretur ... inventus estf^^ längst hinweggegangen. Auf die Feststellung, daß Homer der πρώτος εύρετης des Epos gewesen sei, folgt ein approximativer Datierungsversuch. Zunächst wird die verschiedendich geäußerte Auffassung, Homer habe nicht lange nach dem Trojanischen Kriege gelebt, zurückgewiesen mit Hinweis darauf, daß er (zu ergänzen ist wohl "nur") "ferme ante annos DCCCCL floruit, intra mille natus est" (I 5, 3)"·*. In der Art einer Folgerung formuliert Velleius einen zweiten beweisenderen Grund: l'autre exprimant le caractère génial du poète". Dos wäre freilich ein schwacher даё wohlfeiler Ehraititel (poeta), der nach quantitativen Gesichtspunkten vergeben würde. Auf die Lebendigkeit und Farbigkeit der literarkritischen Terminologie des Velleius hat bereits P.Santiru, Caratteri del linguaggio critico-letterario di Velleio Patercolo, in. Studia Fiorentina A. Ronconi sex. obi., Rom 1970, 383-91, dort 384f u. 391, hingewiesen. Der fulgor carminum fügt sich gut in die von ihm diagnostizierte "espressione metaforica imperniata sul concetto della 'luce"' (384). Schob, ebd., 5, hat gesdien, daß nur bei Velleius die Tatsache, "dass in Homer und Archilochus Erfinder und Vollaider zusammenfallen", mit Nachdruck ausgesprochen ist. Ich kann Schob beim besten Willen nicht zugeben, daß "der Gedanke über die Nachahmung des Homer" sich bei Velleius und Quintilian "in überraschender Ähnlichkeit" finde (ebd. 5). Auch sonst sind die von Schob bdiaupteten Ähnlichkeiten von so oberflächlicher Art, daß sich mir nicht anmal der gemeinsame "rhetorische Standpunkt" (ebd. 6) als zwingend ergibt. Schon gar nicht sind wir (mit Schob) "berechtigt, . . . für Velleius I 5 Clarissimum - inventus est und Quintil. X 1, 46.50 áne gemeinsame rhetorische Quelle anzunehmen" (ebd.). Über den chronographischen Hintergrund vgl. Schob, ebd. 6-8 u. 11. Als Quelle fur die Angabe des Velleius vermutet er eine Kommentarschrift, "die einen Grammatiker zum Verfasser hat, der im Fahrwaser von Aristarch-Apollodor sich bewegt, in manchen einzelnen Punkten aber selbständig ist" (11).
142
Literaturgeschichte als Kulturgeschichte
"quo nomine non est mirandum quod saepe Mud usurpât, '^^; hoc enim ut hominiun, ita saeculoram notatur differentia" (ebd.)^^''. Ein textiimnanent gewonnenes argumentum also wird zur Affirmation des zeitlichen Abstandes zwischen Stoff und Autor bemüht. Velleius beschließt diesen ersten literarhistorischen Exkurs etwas überraschend mit einer biographischen Einzelheit, die in der Homerliteratur fnih Karriere gemacht hat"^: "Quem si quis caecum genitumputat, omnibus sensibus orbus est" (ebd.). Die Trias von ästhetischem Urteil, zeitlicher Einordnung imd biographischem curiosum^^ kehrt übrigens in dem kürzeren Abschnitt über Hesiod (I 7, 1) wieder. Von ganz anderer Art ist der Exkurs I 16-18. Seine kunstvolle Disposition erhellt sogleich daraus, daß er mit einem regelrechten exordium be-
"Cum haec partícula operis velut formam propositi excesserit, quamquam intellego mihi in hac tam praecipiti festinatione, quae me rotae pronive gurgjtis ac verticis modo nusquam patitur consistere, paene magis necessaria praetereunda quam supervacanea^'® amplectenda, nequeo tamen temperare mihi quin rem saepe agitatam animo meo ñeque ad hquidum ratione perductam signem stilo" (I 16, 1).
Suppl. Puteanus; zu dessen Velleius-Emendationen s. Watt im conspectus librorum S XIV. Schob, ebd. 8, verweist treffend auf das Scholion zu E 304: πολλω κατωτέρω των ήρωικών έστιν. διό τω δναστήματι του χρόνου πιστουται τάς ύπεροχάς των χρόνων. Die Hintergründe bei Schob, ebd. 8 f , u. Gustin, ebd. (Anm. 518), 13f Vgl. Starr, ebd. (Anm. 517), 72 Anm. 1: "For an historian writing such a short work, Velleius seems inordinately fond of disputes, particularly in the early part of his history . .. Perhaps he felt they added a touch of spice to a rapid, sometimes bald narrative". Ich erspare den Lesem bei der Besprechung des folgenden Abschnittes die detaillierte Auseinandersetzung mit Schob, der über die intellektuelle Disposition des Ganzen nichts zu sagen weiß, auch nur seitenlang Quisquilien über mögliche und unmögliche Abhängigkeiten des Velleius von Früheren hortet: Meine recensio würde notwaidig eine sehr ernüchternde sein. "" Orellis Emaidation aus supervania in Amerbachs Apographon ist so evident, daß die spitzen Klammern supervanea (so Watt) fortbleiben können. Supervacua in der editio princeps ist wohl flüchtige Konjektur des Beatus Rhenanus (von Elefante jetzt wieder - ohne zureichende B^ründung - in den Text gesetzt).
Der Exkurs 1 16-18
143
Die umständlich vorgebrachte excusatio für die angestrebte vorübergehende Sistierung des Erzählflusses'^' läßt keinen Zweifel daran, daß ein Thema von nicht geringer Bedeutung eingeführt werden soll. Die zu verfolgende Thesis ist in die Form einer rhetorischen Frage gekleidet: "quis enim abunde miran potest quod eminentissima cuiusque professionis ingenia in ean formam et in idem artati temporis congraere spatium et, quemadmodum clausa сашро'^^ aHove saepto diversi generis ammalia nihilo minus separata alienis in unum quaeque corpus congregantur, ita cuiusque clari operis capacia ingenia [in]''' similitudine et temporum et profectuum semet ipsa ab aliis separaverunt?" (I 16, 2)"". Die Exponierung des Phänomens der raum-zeitlichen und gattungsmäßigen Koinzidenz imd Koexistenz gerade der hervorragendsten Geister erhält schon durch den Vergleich mit dem Verhalten eingepferchter Tiere verschiedenster Gattung einen kulturbiologischen Unterton^^^. Er wird in dem an eine lange Reihe von exempla sich anschließenden Erklärungsversuch (I 17, 5-7) noch stärker vernehmlich werden. Die Beispiele sind zu gleichen Teilen aus der griechischen und römischen Literatur genommen: Auf die attischen Tragiker folgen die Triaden der Alten und der Neuen Komödie (I 16, 3), die akadcmisch-peripatetischen
Das Motiv der festinatío b ^ ^ e t im kompendiarischen Geschichtswerk des Velleius r^elmäßig. Über die Hintergründe s. H.Sauppe, M.Velleius Paterculus (1837), in: H S., Ausgewählte Schriften, Berlin 1896, 39-72, dort 46. Campo coni. Watt. 'Überliefert' ist in B.Amerbachs Abschrift des verlorenen Archetyps clausa capso (ThLL 3, 363, 43ff. s.v. 'capsus': fere i.q. cavea), eine dodi wohl tautologische Verbindung; besser in der Lesarten des Archetyps enthaltenden appendix zur editio princeps 'clausa capso' (so jetzt wieder Elefante). J.Delz (capsus - Zu Velleius Paterculus 1, 16, 2, MH 27, 1970, 4 5 ^ 8 ) erwägt, vielleicht riditig, pascua Delevi. Amerbadi und Beatus geben in similitudinem·, Ruhnken schrieb in similitudine. Der Passus ist in der Überlieferung ganz unleserlich und auch in der hier gegebenen Form unbefriedigend. Zu einzelnen Stellen vgl. bes. Watt im app. crit. Nicht gesdien von Elefante, deren Explikation auf rein formal-stilistischem Niveau verbleibt: "La predilezione per la metafora, quale strumento di presa più forte e immediata, risultato di un progressivo, inarrestabile processo di artificializzazione del linguaggio, lascia intravedere lo sforzo di raggiungere un tono elevato, conforme all' argomento, ma riesce ricercato fino all' affettazione, concettoso e a volte oscuro (cf. 1, 16, 2, similitudine d ^ i animali)" (S. 46f ; befremdlicherweise ist dieses Urteil im Kommentar zur Stelle beinahe wörtlich wiederfiolt [ad 16, 1]). Zum Metaphernreichtum der Velleianischen Sprache vgl. M.Cavallaro, D linguaggio metaforico di Velleio Patercolo, RCCM 14, 1972, 269-79, u. F.Missaggia, Alcuni aspetti del linguaggio metaforico di Velleio Patercolo, Anazetesis 2/3, 1980, 30-^7.
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Literaturgeschichte als Kulturgeschichte
Philosophen (I 16, 4) imd die Redner zur Zeit des Isokrates (I 16, 5). Aus der römischen Literaturgeschichte werden die Tragiker und Komiker (I 17, 1), die Historiker und Dichter (117, 2) sowie Redner (117, 3) bemüht. Auch von den Leistungen der Grammatiker, Bildhauer, Maler imd Gemmenschneider soll gelten, daß "eminentiam cuiusque operis artissimis temporum claustris circumdatam" (117, 4). Mit deutlichem Rückbezug auf das exordium des Exkurses wiederholt Velleius noch einmal die Fragestellxmg und kleidet sie bescheiden in den nachdrücklich geäußerten Vorbehalt, daß Gewißheit in der Ursachenforschung nicht zu erreichen sei: "Huius ergo t recedentis iaque saeculum f^^® ingeniorum similitudinis congregantisque se et in Studium par et in emolumentum causas cum saepe requiro, numquam reperio quas esse veras confidam, sed fortasse veri similes, inter quas has maxime" (I 17, 5). Der nun folgende Erklärungsversuch sticht durch seine geschliffene Formulierung deutlich von der gewundenen Einleitungspartie ab: "alit aemulatio ingenia, et nunc invidia, mmc admiratio imitationem^^' accendit, matureque''* quod summo studio petitum est ascendit in summum, difficilisque in perfecto mora est, naturaliterque quod procedere non potest recedit" (I 17, 6). Wetteifer befeuert, so Velleius, die Ausbildung der Begabungen, bald entzündet Neid, bald Bewunderung das Verlangen nach Nachahmung; was beizeiten mit äußerstem Einsatz erstrebt werde, erreiche schnell den Gipfel der Kunst; dort zu verweilen, sei schwierig; wo Fortschritt nicht (mehr) möglich sei, sei ein Ermatten die natürliche Folge^^®. In wenigen Worten Die Stelle ist nahezu hoflhungslos verderbt, der Herd immerhin von Watt richtig bezeichnet (ansprechend sein Vorschlag [z.T. nach Früheren] recidentis infquej saeculum). Sauppes recedentis in quodque saeculum, von Elefante aufg^rifPen, ist w ^ e n des nicht-enklitischen Pronominalgebrauchs auch im Velleius problematisch. Imitationem ist von Acidalius richtig hergestellt aus incitationem. Acidalius' Konjektur matureque verdient vor der Überlieferung naturaque (so jetzt wieder Elefante) den Vorzug. Die unschöne Konfrontation mit dem folgenden naturaliterque wird vermieden. Mature und natura gehen in der Überlieferung auch Π 10, 1 durcheinander (der Hinweis bei Watt). Der Satz vom gleichsam naturgesetzlich verbürgten Abstieg der entwickeltai (Rede-) Kunst b^egnet schon bei Cicero, Tusc. 2, 5: "Atque oratorum quidem laus ita ducta ab
Velleius' literaturgeschichtliche These
145
liefert Velleius die summa seiner kulturhistorischen Einsichten. In seiner Modellvorstellung mischen sich kunstpsychologische mit kulturbiologischen Erkenntnissen'. Die dynamische Konzeption des Velleius ist denkbar weit von früheren teleologischen Modellen (dem Aristotelischen^'*® oder etwa auch der Ciceronischen Re-Konstruktion der Rednergeschichte) entfernt"" , die das Dynamische immer nur in Aufschwungphasen diagnostizieren mochten. Literaturgeschichte ist für Velleius ein hochbeweglicher Schauplatz der Auf- und Abschwünge: Organisiert ist er nach den agonalen Prinzipien der aemulatio und imitatio^'^^, die konstitutiv sind für die Herhumili venit ad summum, ut iam, quod natura fert in omnibus fere rebus, senescat brevique tempore ad nihilum ventura videatur" (der Hinweis bei Norden, Kunstprosa, 245; vgl. Gustin, der, ebd., 62, zu Redit den mtschieden größeren Gültigkeitsbereich der Velleianisdien Formulierung [als einer "loi générale qui régit tous les genres littéraires"] hervorhebt). Der Ciceronische Kontext, die enge Verknüpfimg des Schicksals der Redekunst mit dem ersehnten Anbruch eines 'philosophischen Zeitalters' verbiete jedoch, wie Heldmann, Antike Theoriai über Entwicklung und Verfall der Redekunst, München 1982, 38, gesehen hat, die mißbräuchliche Deutung der Stelle "als B e l ^ für die antike Theorie vom Verfall der Beredsamkeit". Femzuhalten ist auch die berühmte Stelle im ersten Kontroversienbuch des älteren Seneca (§7), wo er über den Anteil des Fatums am Verfall der rhetorischen Studien nach Cicero sinniert und des Schicksals maligna perpetuaque in rebus omnibus lex darin erblickt, "ut ad summum perducta rursus ad infimum velocius quidem quam ascenderant relabantur" (vgl. wiederum Norden, ebd., u. Gustin, 61f.). Wir fassen hier den locus classicus für das pessimistische Deszendenzmodell; s. die eingdiende Behandlung bei Heldmann, ΊΙ-Π, u. vgl. E.Cizek, L'image du renouvellement historique chez Velléius Paterculus, StudClas 14, 1972, 85-93 . - Auf die medizinischen Wurzeln des Dekadenzgedankens macht E.Bolaffi, Tre storiografi Latini del I secolo D.C., GIF 13, 1960, 336-45, aufmerksam: "... l'archrtipo del motivo retorico della seconda parte (matureque ... recedit) era m origine un aforisma ippocrateo, che, nel campo stesso della medicina, passò in Celso" (340). ^ Vgl. Poetik 1449M4f: κ α ι π ο λ λ ά ς μεταβολάς μ ε τ α β α λ ο υ σ α ή τραγωδία έ π α ύ σ α τ ο , έπεί ε σ χ ε την έαυτης φύσιν. Trotzdem bestehen natüriich gewisse Ähnlichkeiten mit anderen, früher entwickelten kulturhistorischen Überiegungen, namentlidi den Ciceronischen in den Vorreden zum erstai Tusculanen-Budn, §4 ("honos alit artes, omnesque incenduntur ad studia gloria, iacentque ea semper, quae apud quosque improbantur"), bzw. zum Orator, 3-6: Dort wird die Notwendigkeit kontinuierlichen Einsatzes in den Künsten hervorgdioben. Doch schon das 'geflügelte Wort' prima... sequentem honestum est in secundis tertiisque consistere (§ 4) zeigt die gänzlich andere Ausrichtung der früheren Stelle. Cicero spricht in pragmatischer, Velleius in kultur-'theoretischer' Absicht. Vgl. auch oben Anm. 539. ^^ Über die Begrifilichkeit in Wettbewerbsverhältnissen schöpferischer Nachahmung orientiert (trotz der berechtigten Einwände von M.Fuhrmann, Rez. Gnomon 33, 1961, 445—48) noch immer am besten die Arbeit des Dahlmann-Schülers A.Reiff, interpretatio, imitatio, aemulatio - B ^ f i f und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern, (Diss. Köln 1958) Würzburg 1959, passim. Die "literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter" sind jetzt bdiandelt von A.N.Cizek in der so materialreichen wie anr^enden Studie Imitatio et tractatio, Tübingen 1994 (nidit zu VelleiUS).
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LiteraturgescMchte als Kulturgeschichte
ausbildung von Klassiken^''^ und, wenn ihre Kraft schwindet, den Niedergang der Kunstformen unweigerlich nach sich ziehen. Für die Selbsteinschätzung des römischen Literaten ist es interessant, daß hier offensichtlich kein Unterschied gemacht ist zwischen den Systemen der griechischen und lateinischen Literatur. Letztere war man schon in der Antike gewohnt als interkulturell-imitativ verfahrende Kunst zu beschreiben^'*''. In den DarstelIimgen der griechischen Literaturgeschichte dominiert die Vorstellimg v o m originalgenialen Künstler, der sich nur der π ό λ ι ς und sich selbst verpflichtet weiß. Velleius hat nun die 'Lehre' von den individualpsychologischen Antriebskräften der griechischen Literatur auf die römische Literaturgeschichte übertragen. Heldmann hat sehr zu Recht die Einzigartigkeit des Velleianischen Theorems in der Überlieferung betont^"^, zweifelt jedoch, daß der Transfer der griechischen Lehre geglückt ist: "Die Geschichte der artes als die großer Einzelleistungen im Agon der Genies stellt eine literaturgeschichtliche Abstrahierung dar, die mit römischem Selbstverständnis kaimi vereinbar ist"^''®. Darin aber gerade liegt die Kühnheit und Originalität des ^^ Zu Herleitung, Anwendung und Entwicklung des B ^ f F s des Klassischen in Antike und deutscher 'Юassik' und Romantik s. M.Fuhrmann, Klassik in der Antike, in: H.J.Simm (Hrsg.), Literarische Klassik, Frankfurt a.M. 1988, 101-19. Vgl. auch die einschlägigen Bemerkungai bei E.R.Curtius, Europäisdie Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, "Tübingen/Basel 1993, 253-56. Wichtige Beiträge zur 'Klassizität' antiker Zeitalter jetzt in den von W.Voßkamp hrsg. Symposionsakten Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken, Stuttgart/Weimar 1993. Ich verweise v.a. auf die Aufsätze von B.EfFe, Юassik als Provokation. Tradition und Innovation in der alexandrinischen Dichtung, 317-30, A.Wlosok, Die römische Klassik: zur 'Юassizitat' der augusteischen Poesie, 331-47, u. R.Warning, Zur Archäologie von Klassiken, 446-65, bes. 448-51. ^ Vgl. die beeindruckende Stellensammlung bei Reiff, ebd. (Anm. 542), passim. ^^ Es ist an dieser Stelle vielleicht nicht unpassaid, an ánen modemai, noch immer aktuellen Nachfahrai der psychologisch fundierten Deutung literaturgeschichtlicher Prozesse zu erinnern: Harold Blooms Anxiety of Influence (London/New York 1973), eine Pathologie der Literarhistorie, die sich zu gleichai Teilai aus psychoanalytischen und dekonstruktivistischen Quellen speist. Die literaturhistorisch wirksamai Impulse sind freilich - im gaiauen Gegensatz zu den Velleianischen Prämissen - antimimetischer, antiimitativer Art. Nur die sechste der sogaiannten "revisionary ratios", die nach den gerichtsfreien Tagen zu Athai αποφράδες benannt ist, ist nicht aggressiv gegai das literarisch Vorgängige gerichtet (Anxiety of Influence, 141 u. 147f.). ^ Ebd., 37. Zur Quellenfrage allgemein vgl. die Studien von F.della Corte, I giudizi letterari di Velleio Patercolo, RFIC 15, 1937, 154-59 (Einfluß des literarischen Zirkels um P.Vinicius), u. Gustin. Letzterer, ebd., 189, sehr überzeugaid g ^ e n Schob: "... il est impossible qu'un homme quelque peu cultivé ne connaisse pas les littérateurs illustres qui vécurent à son époque. La supposition selon laquelle Velleius aurait trouvé dans un ouvrage ou compendium quelconque les noms de Tite Live, de Tibulle, de Virgile etc. attribuerait donc à l'auteur l'ignorance d'un béotien". Vgl. auch Dihie (dem Gustin nicht zugänglich war), C.Velleius Paterculus, m: RE 8A, 1 (1955), 637-59, dort 644.
Velleius' literaturgeschichtliche These
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Velleianischen Entwurfs, daß er den Unterschied der interkulturellen römischen imitatiolaemulatio und iimergriechischen aemulatio nach bCräften verwischt und die 'römischen' Юassiken als Klassiken gleichen, ja eigenen Rechts vorstellt. Das Bestreben, die römische Literatur als eine der griechischen gleichwertige zu behandeln, hat den Autor auf die gewagte Adaptation noch der Bedingungen der Möglichkeit 'großer Literatur' geführt. Wenn solche Übertragung im Kontext der zeitgenössisch-römischen Literaturtheorie fremd sich ausnimmt und auf lange folgenlos bleibt, ist dies noch kein Beleg für die mangelnde Berechtigung der eigenwilligen Anschauung. Velleius führt seine motivationspsychologischen Überlegungen im folgenden noch weiter aus: "et ut primo ad consequendos quos priores ducimus accendimur, ita ubi aut praeteriri aut acquari eos posse desperavimus, studiiun cum spe senescit, et quod adsequi non potest sequi desinit et velut occupatam relinquens materiam quaerit novam, praeteritoque eo in quo eminere non possumus aliquid in quo niteamus^"' conquirimus, sequiturque ut frequens ac mobilis transitus maximum perfect! operis impedimentum sit" (I 17, 7). Agonal ist wiederum die Terminologie des Eingangssatzes: consequi aliquos priores ducere - accendi - aliquos praeterire/aequare,
auffällig die
literaturbiologische Metapher vom Altem des Studium. Der ganze Abschnitt liefert - auch in der nach Anschaulichkeit strebenden Anwendung zum "wir" - gleichsam die individualisierte Fassung der zuvor gnomisch formulierten Thesis. Was zunächst aus der Perspektive der zu vervollkommnenden und schließlich vollendeten Kunst gesehen war, ist jetzt mit dem Blick der erst sich bemühenden, dann scheiternden Adepten gesehen. Zu dem mit geradezu philosophischer Stringenz formulierten Satz: diffidi is ... in perfecto mora est, naturaliterque
quod procedere
non potest recedit tritt nun das
kontingente argumentum vom 'Auf und Ab' menschlichen Einsatzwillens hinzu. Mangelnde Stetigkeit aber und häufiges Wechseln des Métiers, so Velleius, sind dem 'großen Kunstwerk' nicht förderiich^'*®. Ein schönes Beispiel für eine wiridiche emendatio des vielleicht Velleianischen Textes (nitamur): Die palma gebührt Heinsius, dessen eniteamus Cludius' niteamus antezipiert. Konservativ Elefante nitamur. Dai entscheidenden Unterschied zu Cie., orat. 3: "vereor ne, si id quod vis effecero eumque oratorem quem quaeris expressero, tardem studia multorum, qui desperatione debilitati experiri id noient quod se assequi posse diffidant" hat Schob gesehen: "Cicero bestreitet das Recht dieses Satzes; Vellaus erwähnt ihn als g^ebene Tatsache und findet in dem aus ihr entstandenen frequens ac mobilis transitus das Haupthindernis eines vollkommenen Werkes" (ebd., 36f.). Dem Velleianischen 'Kunstschüler* eignet also gerade
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Literaturgeschichte als Kulturgeschichte
Der erste deutsche 'Юа881кег', der die Bedeutung des Velleianischen Exkurses erkannt hat, ist bezeichnenderweise kein Philologe gewesen^'*®. Während noch Bemhardy über die literarhistorischen Einlassungen des Autors mit einem flüchtigen Satz hinwegging ("es ist hierbei nichts interessant als dass er für die Litteratur gewisse fmchtbare und günstige Momente der Entwickelung annimmt, in denen ... die talentvollen Geister sich drängten"^'°) und in schulmeisterlicher Manier Velleius' Kenntnis der griechischen und römischen Literatur als "flach und auf etliche Maximen ... und Namen ... beschränkt"'^' rügte, hat der in Winckelmanns wissenschaftliche und künstlerische Biographie vertiefte Goethe 1805 in seinem Beitrag zu dem Sammelband
Winckelmann
und sein
Jahrhundert^^^
die Vorläufer-
schaft des Velleius im Hinblick auf eine 'wirkliche' Kunstgeschichte gewürdigt. Goethe beschreibt die archegetische Leistung Winckelmanns^'^ und setzt sie dann ins historische Verhältnis zu Velleius (und Quintilian''^'). Die Stelle ist so bedeutend, daß ich sie im Zusammenhang imd nur unwesenflich gekürzt zitiere''': "Doch bald erhob er [sc. Winckelmann] sich über die Einzelheiten zu der Idee einer Geschichte der Kunst und entdeckte, als ein neuer Kolumbus, ein lange geahndetes, gedeutetes und besprochenes, ja man kann sagen ein früher schon gekanntes und wieder verlomes Land. Traurig ist immer die Betrachtung, wie erst durch die Römer, nachher durch das Eindrängen nordischer Völker und durch die daraus entstandene Verwirrung das Menschengeschlecht in eine solche Lage gekommen, daß alle wahre, reine Bildung in ihren Fortschritten für lange Zeit gehindert, ja beinahe für alle Zukiuift unmöglich gemacht worden. nicht der aufb^ehrende furor, der aus Verzweiflung sich nährende antiautoritäre hnpuls, dai Goethe, Maximen und Reflexionen 798, treffend beschreibt: "Das Schrecklichste für den Schüler ist, daß er sich am Ende doch g ^ e n den Meister wiederherstellen muß. Je kräftiger das ist, was dieser gibt, in desto größerem Unmut, ja Verzweiflung ist der Empfangende". Von hier ist der W ^ nicht weit zu H.Blooms Psychoanalyse der Literarhistorie (s. oben Anm. 545). Vgl. oben Anm. 516. G.B., Grundriss der Römischen Litteratur (M857), 190 Anm. 135. "'Ebd., 617. In Briefen und Aufsätzen hrsg. v. Goethe, Tübingen 1805. Zu Winckelmanns Bedeutung für Goethes Umgang mit der Kunstgeschichte s. H.v.Einem, Goeüie-Studien, München 1972 (= Collectanea Artis Historiae 1), 120-31. Winckelmanns Kunstgeschichtsschreibung im Verhältnis zu ihren barockai u. frühklassischen Vorläufern beleuchtet J.Schlosser, Die Kunstliteratur - Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien 1985 (Nachdr. der Ausg. von 1924), 449-61. S. darüber unten S. 153f Das Zitat nach Bd. 12 der HA, textkrit. durchges. v. E.Trunz u. H.J.Schrimpf, komm. V. H.v.Einem u. H.J.Schrimpf, München '1981, 1 lOf.
Goethe über Velleius und Winckelmann
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Man mag in eine Kunst oder Wissenschafì hineinblicken, in welche man will, so hatte der gerade, richtige Sinn dem alten Beobachter schon manches entdeckt, was durch die folgende Barbarei und durch die barbarische Art, sich aus der Barbarei zu retten, ein Geheimnis ward, blieb imd für die Menge noch lange ein Geheimnis bleiben wird, da die höhere Kultur der neuem Zeit nur langsam ins Allgemeine wirken kann.... Zu diesen Betrachtungen werden wir durch einige Stellen alter Autoren veranlaßt, wo sich schon Ahndшgen, ja sogar Andeuttmgen einer möglichen und notwendigen Kunstgeschichte finden. Velleius Paterculus bemerkt mit großem Anteil das ähnliche Steigen und Fallen aller Künste. Ihn als Weltmann beschäftigte besonders die Betrachtung, daß sie sich nur kurze Zeit auf dem höchsten Punkte, den sie erreichen können, zu erhaben wissen. Auf seinem Standorte war es ihm nicht gegeben, die ganze Kunst als ein Lebendiges (ζφον) anzusehen, das einen unmerkHchen Ursprung, einen langsamen Wachstum, einen glänzenden Augenblick semer Vollendung, eine stufenfallige Abnahme, wie jedes andre organische Wesen, nur in mehreren Individuen, notwendig darstellen muß. Er gibt daher nur sittliche Ursachen an, die freilich als mitwirkend nicht ausgeschlossen werden können, seinem großen Scharfsinn aber nicht genugtun, weil er wohl fühlt, daß eine Notwendigkeit hier im Spiel ist, die sich aus freien Elementen nicht zusammensetzen läßt". Es folgt die annähernd wörtliche Übersetzung der Partie I 17, 4-7, durch Jacobs (Leipzig 1793). Niemand hat schärfer als Goethe gesehen, daß die Kunst- und besonders Literaturgeschichte "ein früher schon gekanntes und wieder verlomes Land" ist. Dieselben Römer, die er für die wissenschaftliche und künstíerische Regression hinter die hellenischen Leistungen verantwortlich macht, zeigten, so Goethe, schon "Ahndungen, ja sogar Andeutungen einer möglichen und notwendigen Kunstgeschichte". Wenn er nun aber an der literaturtheoretischen Skizze des Velleius mangelnde Einsicht in den vermeintlich organischen Bau der Kunstgeschichte feststellen zu müssen glaubt, verrät er sich ganz als Kind seiner Zeit, den unter Herders Aegide entwickelten Vorstellungen eines organischen Entwicklungsganges der Künste verhaftet^^^. Die Ätiologie des Velleius muß folglich als defizitär erscheinen: "Er gibt daher nur sittliche Ursachen an ..." Im Horizont der praktischen Philosophie seiner Zeit diagnostiziert Goethe als sittliches Phänomen, was wir eingangs als motivationspsychologische KompoErst Droysen hat mit dem illusionären Historismus der Romantik, der "falsche(n) Doktrin der sog. organischen Entwicklung in der Geschichte" aufgeräumt (Historik: Vorlesung über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. v. R.Hübner, München '1967, 152). Interessanterweise zeigt Droysen selbst sich dem entelechrtischen Entwicklungsb^riff des Aristoteles уефЯ1сЬ1е1 - nur scheinbar im Widerspruch zu seiner durchgdienden Ablehnung der "Naturahsierung" der Geschichte, wie jetzt Z.Norkus, Droysen und Aristoteles, in: Storia della Storiografia 26, 1994, 39-57, dort 47ff., nachweisen kann.
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Literaturgeschichte als Kulturgeschichte
nente des Velleianischen Modells bestimmten. Es ist sehr imwahrscheinlich, daß Velleius den Primat einer sittlichen Dimension seiner literargeschichtlichen Theorie hätte gelten lassen. Das Kräftefeld der aemulatio und imitatio ist physiopsychologisch nach der Verlaufskurve der menschlichen Willensanstrengung organisiert. Sollten hier ethische Momente eine Rolle spielen, so hat Velleius sie mit keinem Wort herausgestrichen^^^. Hingegen berührt sich seine literaturbiologische These stärker mit den organistischen Überzeugungen der deutschen Юassik, als wenigstens Goethe, auf Abgrenzung des frühen Vorläufers vom zum πρώτος εύρετής der Kunstgeschichte stilisierten Winckelmarm bedacht, sich dies eingestehen wollte. Dabei eignet in der historischen Rückschau der römischen Darstellung gegenüber der Goetheschen sogar der Vorzug, daß der organistische Grundzug des literaturgenetischen Modells nicht verallgemeinert und in eine biologistische Philosophie der Literaturgeschichte transferiert wird, sondern immer nur an der konkreten Einzelpersönlichkeit (an konkreten Einzelpersönlichkeiten) vorgeführt wird. Der metaphysische Beigeschmack der Herderschen Lehre ist vermieden, ja Vergleichbares wäre dem römischen Autor auch wohl nie in den Sinn gekommen. Der Unterschied der Haltungen ist der, daß Velleius einer dunkel vermuteten Gesetzmäßigkeit literaturgeschichtìicher Verlaufsformen auf die Spur zu kommen sucht, ohne sich doch seiner Sache je ganz gewiß fühlen zu körmen, wo Goethes Zeit sich berechtigt glaubte, ein Gesetz aprioristisch und apodiktisch zu formulieren. Der Politikhistoriker beobachtet die fremde Domaine und trägt seine am Material, d.h. induktiv gewonnenen Einsichten mit allerlei Kautelen versehen vor, während der Vertreter eines romantisch grundierten Idealismus seinen Hang zum Systemischen nicht verleugnen kann. Nun kennt zwar auch schon die römische Antike in Form des Lebensaltervergleichs die Parallelisierung der Entwicklung des Menschen mit dem Verlauf der Geschichte^^^, es kommt jedoch - bezeichnenderweise - nicht L. Alfonsi, La dottrina dell' 'aemulatio' in Velleio Patercolo, Aevum 40, 1966, 37578, hat Velleius' Aemulatio-Vnsoúe in einen Traditionszusammenhang eingeordnet, der uns am bestai im Prooimion des ersten Tusculanenbuches kenntlich wird. Aber auch die ideelle Verbindung mit dem ennianisch-ciceronischen laus alit artes fuhrt noch nicht auf eine genuin sittliche Grundlage künstlerischen Wettbewerbs. Die Hauptstellen sind: Seneca (maior?) bei Lact. inst. 7, 15, 15-16; Flor. e^)it. prooem. 4-8; Hist. Aug. Car. 2; die beste Besprechung der Problematik bei R.Häussler, Vom Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs, Hermes 92, 1964, 313-41 [vgl. dens.. Neues zum spätrömischai Lebensaltervergleich, in: J.Harmatta (Hrsg.), Actes du VIT Congrès delà FffiC, Bd. 2, Budapest 1983, 183-91]. Vgl. auch M.Ruch, Le thème de la croissance organique dans la pensée historique des Romains, de Caton à Florus, in: ANRW I 2, 1972, 8 2 7 ^ 1 , S.Döpp, Nec omnia apudpriores meliora. Autoren des frühen Principáis über die eigaie Zeit, RhM 132, 1989, 73-101, dort 77-79, u. W.Ax, Quattuor
Abgrenzung von geschichtsphilosophischer Vereinnahmung
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zur Ausbildung einer geschichtsphilosophischen Konstruktion. Geschichte als Abbild organischer Prozesse ist eine rein literarische Vorstellimg, ein ästhetisches addendum zum dürren Zahlen- und Faktengerüst zumal der epitomierenden Geschichtsschreibung in der Weise des Florus'^'. Man mag dies bedauern (und glaubt auch, aufrichtiges Bedauern noch aus jüngsten Inteφretationen herauslesen zu können'^, doch der dirnipf über dem 'tieferen' Zusammenhang einer natürlichen und einer historischen necessitas brütende römische Historiker ist eine doch wohl reichlich skurrile Wunschvorstellung der modernen Wissenschaft. Nur zur Ergänzung seiner These fügt Velleius einen kurzen Abschnitt über die Topographie griechischer literarischer 'Klassiken' an: "Transit admiratio ab condicione temporum [et]'®' ad urbium" (I 18, 1). Dann streicht er die überragende Bedeutung der urbs Attica heraus: Ihre kunstsprachlichen Leistungen (so wird man eloquentia hier am ehesten fassen, will man die absurde Einschränkung auf die öffentiiche und Gerichtsrede vermeiden) stellen die Anstrengungen des ganzen übrigen Griechenlands in den Schatten^®^: "adeo ut corpora gentis illius separata sint in alias civitates, ingenia vero soUs Atheniensium muris clausa existimes" (ebd.). Der zeidichen Konzentration der ingenia korrespondiert also, wie übrigens im eingangs zitierten Tierpferch-Vergleich bereits angedeutet, der linguae Latinae aetates. Neue Forschungen zur Geschichte der B ^ f f e "Goldene" und "Silberne" Latinität, Hermes 124, 1996, 220-40. Zum Lebensaltervergleich im Geschichtswerk des Florus s. die ausgezeichnete Darstellung bei M.Hose, Erneuerung der Vergangenheit - Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Die, Stuttgart/Leipzig 1994, bes. 65-76. So charakterisiert noch M.v. Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, 1126, den Lebensaltervergleich als "bescheidene(n) 'geschichtsphilosophischen' Versuch". Es ist unb^eiflich, wie einige neuere Herausgeber des Velleius an dem Einsdiiebsel festhalten konnten (z.B. R.Ellis in der Oxoniensis, ^1928, der Gruners Athetese nicht άηmal erwähnt, M.Giebel in ihrer zweisprachigen Ausgabe, Stuttgart 1989, ^1992, und jetzt auch Elefante). Der Passus ist innerhalb des insgesamt schlecht überlieferten Textes ganz besonders verderbt. Watt hat ingeniös, doch nicht eigentlich glaubhaft konjiziert: una urbs Attica pluribus a«to eloquentiae quam universa Graecia operibusque floruit. Näher am Überlieferten mit achtbaren Konjekturen von Froelich (probante Haupt) und Popma R.Ellis: una urbs Attica pluribus omnis eloquentiae quam universa Graecia operibus usque floruit. Unbefriedigend bleibt Popmas operibus usque (aus operibusque).
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Literaturgeschichte als Kulturgeschichte
rämnliche ZusammenscMuß der Talente^^^. Simultanität und Koexistenz der Begabungen sind die Merkmale der 'Blütezeiten', über die Velleius sich verwundert. Bewundernde Anschauung einer geschichtlichen Entwicklxmg, deren Prozeßhaftigkeit ins Auge fällt, hat ihn auf ein Erklärungsmodell geführt, dessen Stärke seine unprätentiöse Nüchternheit, der "richtige Siim" (Goethe) seines Entdeckers ist: rechnet es doch mit keinen anderen Faktoren als dem menschlichen Einsatz und Willen in seinen verschiedenen Ausprägungen (ambitio, aemulatio, imitatio, lassitudo u. dgj.). Velleius' 'literaturgeschichtstheoretische' These mag als Gemeinplatz anthropologischen Wissens erscheinen. Ihn zu formulieren, war er sich nicht zu schade. Die trivialen Einsichten sind es oft, die alle Mythologien der Wissenschaft überdauern. Dazu freilich bedarf es eines Staimens, das das Gewohnte nicht als das Selbstverständliche nimmt. Staunen wird der Nichtfachmann mitunter leichter als der professionelle Betrachter. Möglich, daß solcher Umstand den Militär imd Historiker, den "Weltmaim" Velleius (Goethe), bei seinem tastenden Vorgriff auf das "lange geahndete Land" gefördert hat.
Velleius verzichtet auf eine besondere Erklärung des topographischen Befunds (s. Gustin, ebd., 74); sie ist in der Ätiologie der Gleichzeitigkeit der Begabungen mitenthalten.
VIL Literaturgeschichte versus Pragmatic und Kanonizität Quintihans Literaturpädagogik "Friedrich liebte auch einige methodische Werke. Er wollte sich in der Gewohnhat erhalten, seine Gedanken in Ordnung zu stellen. Die rhetorischen Vorschriften des Cicero, die Lehrait von Port Royal, von Rollin gefielen ihm lange Zeit. In den letzten Tagen, als er merkte, daß der Geist sich verwirre, trübe, schwach werde, nahm er die Anleitungen Quintilians wieder vor, die voll Verstand und Ordnung sind, und las dazu leichte Schriften von Voltaire, in welchai Lebhaftigkeit herrschend ist. Auf alle Art und Weise wollte er sich aufgeweckt erhalten, und so kämpfte er gegen das letzte Hinschlummern." (aus G o ^ e s Übersetzung einer Rede Johannes v. Müllers "La Gloire de Frédéric" [1807])'
Wo immer von den literarhistorischen Ansätzen der Römer die Rede ist, fällt regelmäßig der Name des Quintilian'^". Auf Goethes Berufung auf den prominenten Rhetoren war schon im Zusammenhang mit der Erörterung des Velleianischen Entwicklungsgedankens hingewiesen^^^. Freilich zitiert der Autor des Winckelmann-Aufsatzes nur Quintilians "bündigen Entwurf der alten Kunstgeschichte", der "als ein wichtiges Denkmal in diesem Fache * Das Quintilian-Kapitel ist Teil der Festgabe, die Gerhard Binder (Bochum) am 24. 10. 1997 anläßlich der Vollendung seines 60. Lebensjahres überreicht wurde. Herrn Binder sei hiermit herzlich für wiederholte mündliche und briefliche Ermunterung gedankt. So in Wolfs Vorlesung über die Geschichte der römischen Literatur, hrsg. v. J.D. Gürtler, Leipzig 1839, 7. Es zeugt von der dilettantischen Redaktion dieser Vorlesungsmitschrift, daß Sätze wie die folgenden (über Quintilians literarhistorische Notizen) stehen geblieben sind: "Besonders gehört hierher sein zehntes Buch, worin die Charakteristik der griechischen und römischen Redner steht, welches besonders für den Redner zu empfdilen ist. Es werden darin aus allen Classen die besten genannt" (ebd.). Weiter vgl. man J.C.F.Bähr, Geschichte der Römischen Literatur L Carisruhe M844, 83, G.Bemhardy, Grundriss der Römischen Litteratur, Braunschweig Ί 8 5 7 , 711 ("unschätzbares Matenal zur Geschichte der Römischen Bildung und Litteratur"), Schanz/Hosius Π, 749, E.Norden, Die römische Literatur, ^Leipzig 1961, 146 ("ästhrtische Literaturgeschichte"), E.Bickel, Lehrbuch der Geschichte der römischen Literatur, Heidelberg 4961, 45 ("Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge"), G.B.Conte, Latin Literature - a History, Baltimore/London 1994, 513f.; in der Cambridge History of Classical Literature Π (1982) ist Quintilian ausführlich als akademischer Vertreter des hterary criticism behandelt (M.Winterbottom, 3 9 ^ 3 ) . S. oben S. 148.
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Quintilian
ausgezeichnet zu werden" verdiene^®^. "Ohne es zu wissen oder zu wollen", sei Quintilian über dem Versuch, die griechischen bildenden Künstler zu charakterisieren, "genötigt" worden, "eine Kunstgeschichte selbst darzustellen". Das Prädikat der Kunstgeschichtsschreibung aber gebührt Quintilians "Entwurf' nach Goethe deshalb, weil "jedesmal der Kunstcharakter mit dem Zeitcharakter zusammenfällt". Der Meisterlehrer römischer Rede ist von dem hellsichtigen Nachgeborenen an die Hand genommen und wird auf die kunsthistorischen Ingredienzien seiner Abhandlung aufinerksam gemacht. Nach klassizistischer Manier ist Quintilian zum Kind der Frühe stilisiert, das über seiner Freude am konstruktiven Gedankenbau noch nicht die in seinem phantastischen Spiel enthaltenen Keime großer Entdeckungen' späterer 'Blütezeiten' gewahr wird. Der usurpatorische Zug jeder entwicklungsgeschichtlichen Deutung tritt einmal mehr beispielhaft zu Tage. Quintilian selbst schreibt als 'Spätling' mit Blick auf eine - wie es manchmal scheinen will - klassizistisch umwölkte Frühe^®^. Er ist der Kanoniker und Pädagoge^®^ unter den Literatur- und das heißt im ersten nachchristlichen Jahrhundert ÄÄetonÄtheoretikem^^®. Bekannter als seine 'Kunstgeschichte' sind in philologischen Kreisen die im zehnten Buch der Institutio enthaltenen Lektüreempfehlungen für angehende Rhetoren geworDie Zitate nach Trunz/Schrimpf (HA 12) [s. oben Anm. 555], 112. Die Quintilianische 'Kunstgeschichte' in Buch 12 der Institutio, Kap. 10, 3-9,- Dem Thema 'Quintilian bei Goethe' hat O.Seel ein Kapitel seines Quintilian-Buches (Stuttgart 1977 [Nachdr.: München 1987], 288-313) gewidmet, das aber für unsere Stelle ganz unergiebig. ' ' ' Daß dieses Urteil, das die Quintihanforschung lange gepflegt hat, heute so nicht mehr haltbar ist, wissei wir spätestens seit K.Heldmanns eindringlichen Untersuchungen über Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst (München 1982 [Zetemata 77]) sowie Dekadenz und literarischefn) Fortschritt bei Quintilian und bei Tacitiis (Poetica 12, 1980, 1-23). S. darüber unten Anm. 616. Zu Quintilians Pädagogik (mit besonderer Berücksichtigung der Bücher 1, 2 u. 10) s. V.E.Alfieri, La pedagogia di Quintiliano, Athenaeum 42, 1964, 400-15. Seit kurzem besitzen wir eine glänzende Einführung in die diedem 'silbem' genannte Latinität: G.O.Hutchinsons Latin Literatiire from Seneca to Juvenal. A Critical Stucfy, Oxford 1993 (zu Quintilian s. bes. 5-9). Zu Rhetorik und schulmäßigem Deklamationsbetrieb vgl. S.F.Bonner, Roman Declamation in the Late RepubHc and Early Empire, Liverpool 1949 (Nachdr.: ebd. 1969), G.A.Kennedy, The Art of Rhetoric in the Roman Worid 300 B.C. - A.D. 300, Princeton 1972, M.Winterbottom, Quintilian and Rhrtoric, in: T.A.Dorey (Hrsg.), Silver Latin Π: Empire and Aftermath, London 1975, 79-97, P.L.Schmidt, Die Anfange der institutionellai Rhetorik in Rom. Zur Vorgeschichte der augusteischen Rhetorenschulen, in: E.Lefèvre (Hrsg.), Monumentum Chiloniaise. Studien zur augusteischen Zeit. FS E.Burck, Amsterdam 1975, 183-216, E.Fantham, Imitation and Decline. Rhetorical Theory and Practice in the First Caitury after Christ, CPh 73, 1978, 102-16, u. M.Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einfuhrung, München 1984, Ί990.
Das 10. Buch der imtitutio
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Da diese beinahe den gesamten Horizont der damals noch erreichbaren griechischen und römischen Literatur umfaßten, kommt gleichsam en passant ein literaturgeschichtliches Kompendium zustande, das unter dem erhaltenen antiken Schrifttum seinesgleichen sucht. Höchst originell ist die Einordnung des Stoffes in den lehrbuchmäßigen Zusammenhang der Imtitutio oratoria. Die Disposition des rhetorischen Riesenbaus ist zuletzt luzide erörtert von Joachim Adamietz^^'. Vorzüge und Mängel der Stoffgliederung liegen danach klar zu Tage. Die uns interessierende Stelle ist ein Unterabschnitt innerhalb der Bemerkungen zur elocutio, die auf breitestem Raum, nämlich in den Büchern 8-11,1, behandelt ist. Das 10. Buch hat im Rahmen der nach Ciceros Vorbild'^^ in vier Teilen präsentierten Stiltheorie {Latinitas [8, 1] -perspicuitas [8, 2] - omatus [8, 3 - 9] - apte dicere [И, 1]) ergänzenden Charakter: in ihm ist die Trias von legere - scribere - dicere behandelt'^^. Der traditionell De copia verborum überschriebene Abschnitt inst. 10, 1 nun ist zum größeren Teil (§§ 46-131) ein kritisch kommentiertes Verzeichnis griechischer und lateinischer Literatur nach Gattungen. Dun voraus gehen didaktische Hinweise zum bestmöglichen Erwerb hinreichender Ausdrucksfiülle {copia verborum)·. neben dem Anhören der besten Redner (bes. §16f ) wird mit Nachdruck ihre Lektüre empfohlen: "Ac diu non nisi óptimas quisque et qui credentem sibi minime fallat legendus est, sed diligenter ac paene ad scribendi sollicitudinem nec per partes modo scratanda omnia, sed perlectus liber utique ex integro resumendus" (§20)''"'. Die Lesestudien des angehenden Redners sollen sich jedoch nicht auf das oratorische Schrifttum beschränken, sondern auch Dichterlektüre (§§27-30), Geschichtsschreibung (§§31-34) und Philosophie (§35f) einschließen. Es folgt eine Einleitimg in den 'Lektürekanon':
LektüreratscMäge erteilt Quintilian auch an anderen Stellen seines Lehrgebäudes: Das achte Kapitel des ersten Buches ist der Dichterlektüre im grammatischen Anfangsunterricht gewidmet; von der Redner- und Historikerlektüre auf der Rhetorenschule handelt der Abschnitt inst. 2, 5, 1-26. J A., Quintilians 'Institutio oratoria', in: ANRW Π 32, 4, Berlin/New York 1986, 2226-71, dort 2254-59. AdamieU, ebd. 2258, verweist treffend auf rfe orat. 3, 37ff. Nützliches zur Einordnung des 10. Buches in das Gesamtwerk bá B.Schneider, Die Stellung des zehnten Buches im Gesamtplan der Institutio oratoria des Quintilian, WS 96, 1983, 109-25. Die Zitate nach M.Winterbottoms Oxoniemis (1970).
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Quintilian
"Credo exacturos plerosque, cum tantum esse utilitatis in legende iudicemus, ut id quoque adiungamus operi, qui sint '^', quae in auctore quoque praecipua virtus" (§37). Danach dürfen wir einen literarkritischen Durchgang durch die Reihe der lesenswerten' Autoren erwarten. Da jedoch persegui singuìos infiniti fiierit operis (ebd.), sei jene Devise, so Quintilian, "am sichersten", quae apud Livium in epistula ad filium scripta, legendos Demosthenen atque Ciceronem, tum ita ut quisque esset Demostheni et Ciceroni simillimus (§39). Bezeichnenderweise erinnert Quintilian zur Rechtfertigung seines kompendiarischen Verfahrens an Ciceros Brutus·. "Quippe cum in Bruto M.TulIius tot milibus versuum de Romanis tantum oratoribus loquatur et tamen de omnibus aetatis suae, qui quidem tum vivebant, exceptis Caesare atque Marcello, silentiimi egerit: quis erit modus si et illos et qui postea fuerunt et Graecos omnis et philosophos * (§38) und stellt sich damit selbst in eine Tradition, die wdr als die Tradition des iitereahistorischen Diskurses bezeichnen dürfen: geschichtìich ist der Rückgriff auf ältere, bereits kanonisierte exempla des Schreibens; ungeschichtlich ist der affirmative Rekurs auf den Livianischen Kanon: Er begegnet übrigens schon in den Bestimmungen über die schulische Anfangslektüre (1, 5, 20). Indes vergißt Quintilian nicht, das Urteil des Paduaners dahingehend einzuschränken, daß sich auch von den schwächsten Autoren manches lernen lasse'^^. Jedoch: "non quidquid ad''* aliquam partem scientiae pertinet, protinus ad faciendam etiam phrasin, de qua loquimur, accomodatum" (§42).
Erwägenswert bleibt M.Kiderlins {Zu Quintiiianus X1, Hermes 23, 1888, 161-78, dort 161). Ältere haben sinngemäß persequamur ergänzt; Winterbottom folgt (doch wohl richtig) Claussai u.a., die Ausfall der Dichter und Historiker vermuten. Der konservative Spalding (s. unten Anm. 597) nimmt Ellipse an ("duriuscula sane, sed ... non invenusta ellipsis", ad loc.) und fährt dann ganz unschuldig fort: "Quare autem poetas hic non recenseat [sc. Quintiiianus], de quibus tamen et ipsis dicturus est, equidem non dixerim" (ebd.). "Quotus enim quisque inveniri tam demens potest qui ne minima quidem alicuius certe fiducia partis memoriam posteritatis speraverit?" (§41). Winterbottoms Klammem habai nur philologiehistorischen Wert, die Ergänzung ist unstrittig.
Pragmatie und Kanonizität
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Spezifischer kann man das Interesse, das die literargeschichtlichen Bestrebungen des Autors leitet, nicht fassen: Zu Redegeläufigkeit und Ausdrucksiulle soll das in Aussicht gestellte Lektüreprogramm den Redner fuhren. Dabei soll die Frage nach den Stilarten einstweilen noch zurückgestellt werden (§43f.). "... summatim quid et a qua lectione petere possint qui confirmare facultatem dicendi volent attingam. Paucos (sunt enim eminentissimi) excerpere in animo est: facile est autem studiosis qui sint Ms simillimi iudicare, ne quisquam queratur omissos forte aliquos ipse valde probet; fateor enim pluris legendos esse quam qui nominabuntur. Sed nunc genera ipsa lectionum, quae praecipue convenire intendentibus ut oratores fiant existimem, persequor" (§44f ). Die lange Vorrede zeugt lebhaft vom Unbehagen des Kanonikers am Kanon''': als Redelehrer und Erzieher muß er pragmatisch verfahren. Sinnvolle praxis aber läuft zunächst auf Auswahl, Scheidung des Passenden vom Unpassenden, des 'Wichtigen' vom 'Unwichtigen' hinaus. Der homme de lettres fi-eilich blickt weiter und weiß um die Gefahren der Selektion: auch vom geringsten Autor läßt sich noch lernen; wo ist die Grenze zu ziehen? 'Gerecht' ist nur die vollständige Liste, der erschöpfende Katalog, die Enthaltung von allem Urteil: Literaturgeschichtsschreibung als Biobibliographie. Hingegen erschafft Hierarchisierung durch Wertung die Grenze zwischen Literaturhistorie und Archiv, zwischen Literaturgeschichtsschreibung und Statistik, zwischen Kunst und vollendeter Bürokratie. Die Aussparung steht am Beginn der literarhistorischen (Re)Konstruktion. Dem Verschweigen der einen korrespondiert die emphatische Setzung anderer Autoren. Die Reproduktion älterer kanonischer Urteile verfestigt die Kanonizität der empfohlenen Literatur. Die Übergangenen, Ungenaimten entgleiten nur zu bald der kollektiven memoria, fallen rasch aus der unaufiiörlich regsamen
Die Kanon-Forschung erlebt zum Ende der 90er Jahre ihre киНифоНизсЬ motivierte ('emanzipatorische' versus 'traditionelle' Pädagogik; sidie die Zei'i-Debatte Mai/Juni 1997) Hochkonjunktur. Hinzuweisen ist auf zwei aktuelle Tagungsbände: Kanon und Theorie, hrsg. V. M.Moog-Grünewald, Heidelberg 1997, u. Kanon - Macht - Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kcmonbildungen, hrsg. v. R.v.Heydebrand, Stuttgart/Weimar 1998. Vorang^angen waren A. u. J.Assmann (Hrsg.), Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation П, München 1987 (dort der grundlegende Beitrag zum Kanon in der Antike: E.A.Schmidt [s. oben Anm. 238], 246-58), G.W.Most, Canon Fathers: Literary, Mortality, Power, Arion 3, 1990, 35-60, J.Gorak, The Making of the Modern Canon. Genesis and Crisis of a Literary Idea, London/Atlantic Highlands (NJ) 1991, und v a. H.Blooms aufsdienerregende Studie The Western Canon. The Books and School of the Ages, New York 1994.
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Quintilian
Maschinerie der Literaturgeschichte heraus. Literaturgeschichte aber ist in den Hochzeiten des fragilen Papyrus und auch noch des so belastbaren Pergaments ein dramatischer Prozeß fortwährenden Absterbens und Wiederauflebens ganzer Literaturzweige. Jede mühreiche Abschrift prolongiert den Fortbestand des Textes auf eine Zeit. Selbst vor kanonisierten Schriften macht der Mahlstein der Epitomierung und Parzellierung nicht halt. Der Literarkritiker xmd Pädagoge Quintilian schreibt im Bewußtsein der Brüchigkeit literarischer Tradition. Dieses Wissen hinwiederum gründet in der Einsicht, daß literarische Werturteile notwendig relativ sind; die Quintilianischen aber sind pragmatisch, für einen Leitfaden zur rhetorischen Ausbildung geschrieben. Auslassungen sind prinzipiell entschuldbar; der Appell an das eigenständige Urteil der rhetorischen Adepten unterstreicht den liberalen, ja liberalistischen Gestus der pädagogischen Doktrin: facile est autem studiosis qui sint his (sc. eminentissimis) simillimi iudicare, ne quisquam queratur omissos forte aliquos ipse vaJde probet (§45). Damit entläßt sich der Redelehrer aus der Verantwortung, noch den letzten Autor, der zum Vorbild dienen könnte, nermen zu müssen. Sein Lektürekanon steht Weiterungen offen'^"; er läßt sich fortspinnen, xmd mehrfach münden seine Empfehlungen in die abbrechende Geste des Έtcetera'; dabei beweist er großen Einfallsreichtum, wenn es gilt, weiteren Namensnennungen zu wehren: "Audire videor undique congerentis nomina plurimorum poetarum. Quid? HercuHs acta non bene Pisandros? Quid? Nicandrum frustra secuti Macer atque Vergilius? Quid? Euphorionem transibimus? Quem nisi probasset Vergilius idem, numquam certe conditorum Chalcidico versu carminum fecisset in Bucolicis mentìonem. Quid? Horatius fiiistra Tyrtaeum Homero subiungit?" (§56). Durch launigen Gebrauch der praeteritio verewigt er die Namen der 'Übergangenen' und hält sich so bei möglichen Kritikern seines Kanons schadlos. Und er fährt fort: "Nec sane quisquam est tam procul a cognitione eorum remotus ut non indicem certe ex bibliotheca sumptum transferre in libros suos possit" (§57).
"" In diesem Sinne jetzt auch A.Wlosok, Die römische Klassik: zur 'Klassizität' der augusteisdien Poesie, in: Klassik im Vergleich (s. obai Anm. 543), 3 3 1 ^ 7 : "Der Autorenkanon Quintilians ist ... nicht geschlossen, sondern nach vome, für die Zukunft offen" (344). S. auch R.Nicolai, La storiografia nell' educazione antica, Pisa 1992, bes. 251-53 u. 264f. (mit Rücksicht auf den Historiker-Kanon).
Die Lektüreempfehlungen: Makrostruktur
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Einen 'Lektürekanon für mündige Leser' also will Quintílian liefern; mc ignoro igitur quos trameo пес utique damno, ut qui dixerim esse in omnibus utihtatis aliquid (ebd.). Ahnlich beschließt er das Kapitel über die römischen Historiographen: "Sunt et alü scriptores boni, sed nos genera degustamus, non bibliothecas excutimus" (§104). Wie ist der Kanon aufgebaut? (I) Zur Makrostruktur: 38 Abschnitte sind der griechischen, 46 der römischen Literatur gewidmet. Die Poeten werden jeweils vor den Prosaikern behandelt. In einem nach Gattungen gegliederten Überblick bespricht Quintilian der Reihe nach die 'wichtigsten' griechischen Epiker, Didaktiker und Bukoliker, Elegiker, Jambiker und (Chor)Lyriker, die Vertreter der alten Komödie, der Tragödie und neuen Komödie, die Historiker, Redner imd Philosophen und läßt dann mit den gattungsspezifischen Änderungen^'' und annähernd eodem ordine^^^ die römischen Autoren folgen. Die gattungsmäßige Gliederung wird besonders in den Cicero und Seneca gewidmeten Abschnitten unterbrochen: bei der Besprechung der rednerischen Verdienste Ciceros wird der epistolographische und dialogische Teil seines oeuvres gestreift (§107). Am Ende des Abschnitts über die römische Philosophie ist Seneca in einem monographisch disponierten Anhang behandelt (Reden, Dichtungen, Dialoge [§§12531])^'^. Die Übergänge zAvischen den Unterabschnitten des griechischen Während die hellenistische E l ^ e (Kallimachos, Philetas) noch mit einer beiläufigen Bemerkung abgehandelt wurde (§58), werden die römischen Vertreter (wohl um des günstigen Ausgangs der σύγκρισις willen) hervorgdioben (§ 93). Die Satire tritt naturgemäß - als Gattung neu hinzu (§§93-95). "Idem nobis per Romanos quoque auctores ordo ducendus est", b^innt Quintilian §85 die römische Liste. Die Reihenfolge ist durch Einschub bzw. Auslassung der rein griechischen (bes. Archaid) bzw. rein römischen Gattungen (bes. Satire, Togata) natürlich nicht mehr pari passu gehalten. Die Seneca-Passage gdiört zu den mastbehandelten der Institutio. ich verweise nur auf die jüngeren Arbeiten von T.Gelzer, Quintilians Urteil über Seneca. Eine rhetorische Analyse, MH 27, 1970, 212-23, W.Trillitzsdi, Seneca im literarischen Urteil der Antike, Amsterdam 1971, O.Seel, ebd. [Anm. 566], 188-219, G.Ballaira, Π giudizio di Quintihano sullo stile di Seneca (inst. 10, 1, 129s.), GB 9, 1980, 173-80, K.Heldmann, Dekadenz und literanscher Fortschritt bei Quintilian und bei Tacitus, Poetica 12, 1980, 1-23, dort 1219, P.V.Cova, La critica letteraria nell' "Institutio", in: Aspetti della 'paideia' di Quintiliano, hrsg. v. P.V.Cova, R.Gazich u.a., Mailand 1990, 9-59, bes. 28-31, u. M.Laureys, Quintilian's judgement of Seneca and the scope and puφose of Inst., 10, 1, A&A 37, 1991, 100-25.
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Quintilian
Teils der Quintilianischen 'Liste' sind bald fließend (so an der Fuge von attischer Tragödie u. Nea: Rune [sc. Euripidem] et admiratus maxime est... et secutus ... Menander [§69]), bald abrupt katalogmäßig (so im Anscliluß an die Neue Komödie: Historiam multi scripsere praeclare [§73]) gestaltet. Im römischen Sektor ist durchgängig Parallelisierung bzw. Kontrastienmg mit den griechischen Pendants erstrebt: von Satire, Lyrik und Togata^^" abgesehen tritt die römische Gattung bzw. ihr vornehmster Vertreter jedesmal zu den griechischen Vorläufern in Konkurrenz: Vergil, so Quintilian, komme dem Homer beinahe gleich unter den Tragikern ... Vari Thyestes cuilibet Graecarum comparavi potest (§98)'^®; kollektiv gefaßt stehen die römischen Elegiker (bes. Tibull [§93]^^'), Geschichtsschreiber (Sallust imd Livius treten mit Thukydides und Herodot in die Schranken [§101]) und Redner (Cicero wird Demosthenes an die Seite gestellt [§§105-12]'®^) den Griechen nicht nach. Nur die Komiker (§99f.)^®', Philosophen(§123) und mit Einschränkungen^^" - die lambographen (§96) körmen im Vergleich mit den Hellenen nicht standhalten. (Π) Zur Mikrostruktur: Irmerhalb der einzelnen Gattungsabschnitte wird in der Regel der als führend anerkarmte oder von Quintilian für führend gehaltene Autor zuerst genannt. Unter den Griechen ist Homer den Epikern, Pindar den (Chor-) Ly-
Im Fall der Satire und Togata erübrigt die (relative) Neuheit der Gattung den Vergleich. Vgl. A.Wlosok, Zur Geltung und Beurteilung Vergils und Homers in Spätantike und früher Neuzat, in: dies.. Res humcmae - res divinae. Kleine Schrifien, hrsg. v. E.Heck u. E.A.Schmidt, Heidelberg 1990, 476-98. Der Abschnitt über die ältere Tragödie (Accius u. Pacuvius, §97) ist besprochai bei L.Galli, Quintiliano e la tragedia latina arcaica: stratigrafia di un giudizio. Lexis 11, 1993, 215-23. Vgl. auch A.Pocina, Quintihano y el teatro latino, CFC 17, 1981/82, 97-110. Quintilians Urteil ist erläutert bei E.Delbey, Morale, ήθος, esthétique: la douceur dans Γ amertume chez Tibulle, REL 69, 1991, 86-100. - Zur Einschätzung des Ovid s. jetzt U.Todini, Ovidio 'lascivo' in Quintiliano, in: Aetates Ovidianae. Lettori di Ovidio dall'Antichità al Rinascimento, hrsg. ν. I.Gallo u. L.Nicastri, Neapel 1995, 77-119. S. zuletzt E.Paratore, Le jugement de Quintilian sur 1' éloquence et la rhétorique de Cicéron, in: J.Dangel (Hrsg.), Grammaire et rhétorique: notion de Romanité, Straßburg 1994, 121-23. Vgl. S.M.Goldberg, Quintilian on comedy. Traditio 43, 1987, 359-67. "" Die mangelnde Exzellenz der iambischen Literatur wird mit der beschränkten Autonomie der Gattung b^ründet: "Iambus non sane a Romanis celebratus est ut proprium opus, t quibusdam interpositus t"(§96). Es ist auffallend, daß Catull unter den Jambikem aufgeführt wird; fur die zurückhaltende Einschätzung seiner Kunst (vgl. auch inst. 11, 1, 38) ist vielleicht Cicero verantwortlich (so zuletzt D.Gagliardi, Π giudizio di Quintiliano su Catullo, RFIC 115, 1987, 35-39; vgl. auch P.V.Cova, La critica letteraria nell' "Institutio", ebd. [Anm. 583], 47-50).
Die LektüreempfeMungen: Mikrostruktur
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rikem'", Menander den Dichtem der Ήβα, Demosthenes den Rednern, Plato den Philosophen''^ vorangestellt. Thukydides und Herodot führen gemeinsam die ffistoriker an. Aristophanes, Eupolis und Cratinus bilden das Dreigestim der Archaia. Nur in der Darstellung der Tragödie geht der ältere Aischylos den jüngeren, von Quintilian höher eingeschätzten Sophokles und Euripides voraus. Die Abfolge der den Führenden nachgeordneten Autoren ist bald von chronologischen (Epos, Lyrik, Philosophie), bald qualitativen (Geschichtsschreibung), bald technisch-ästhetischen Rücksichten (Rhetorik) bestimmt. Auch im römischen Abschnitt ist kein durchgängig verfolgtes Prinzip zu erkennen: Der in der Qualität am höchsten stehende Autor^'^ führt gewöhnlich (bei den Satirikem wird Lucilius als πρώτος εύρετής begreiflicherweise vor dem Vollender der Gattung Horaz^^'' genannt) eine stärker chronologisch als qualitativ disponierte Gruppe an. Betrachten wir stellvertretend für die übrigen Gattungen und Autoren den den griechischen ffistorikem gewidmeten Abschnitt (§§73-75) und messen ihn anschließend an Quintilians eigenen theoretischen Vorgaben (§31-34)^'^. Der Passus beginnt mit einer schwungvoll eingeführten Synkrise der Meister der Gattung, Thukydides und Herodot''^: "Historiam multi scripsere praeclare, sed nemo dubitai longe duos ceteris praeferendos, quonun diversa virtus laudem paene est parem consecuta" (§73). Zur Beurteilung des Stesichoros (§62) s. jetzt G.Arrighetti, Stesicoro, Quintiliano e la Poetica di Anstotele, in: ders. (Hrsg.), Poesia Greca, Pisa 1995, 123-36. Über den Aristoteles betreffenden Abschnitt im Verhältnis zur Darstellung J. von Salisburys (De secta PeHpateticorum) s. A.Dalzell, Quintilian Institutiones oratoriae 10, 1,83, Phoenix 42, 1988, 261-63. E.A.Schmidt, ebd. (Anm. 579), hat schön gesehen, wie sehr der Quintilianische Kanon der "Selbstkanonisierung ... der augusteischen Autoren" veφflichtet ist: "In seinem ... Kanon prast Quintilian überall dort, wo es einen augusteischen Vertreter der entsprechenden Gattung gibt, diesen am höchsten" (248). Zum Abschnitt über die Satire allgemein s. C.J.Classen, Satire, the elusive genre, SO 63, 1988, 95-121; zu Horaz vgl. G.Calboli, Qumtilian and Horace, Scholia. Natal studies in classical antiquity 4, 1995, 79-100, sowie R. Valenti, D giudizio di Quintiliano su Orazio, in: Letture oraziane, hrsg. ν. M.Gigante u. S.Cerasuolo, Neapel 1995, 291-304; vgl. femer G. d'Anna, Quintiliano e il classicismo di età flaviana, in: La storia, la letteratura e V arte a Roma da Tiberio a Domiziano. Atti del c o n v ^ o (Mantua 1990), Mantua 1992, 217-30. Zur "Geschichtsschreibung bei Quintilian" vgl. jetzt W.Ax' Beitrag zur FS Classen, Memoria rerum veterum, Stuttgart 1990 (=Palingenesia 32), 133-68. Zur Tradition der Thukydides- und Herodotkritik im Altertum s. den knappen Überblick bei E.Bolaffi, La critica filosofica e letteraria in Quintiliano, Brüssel 1958 (= Coll. Latomus 30), 39 Anm. 1.
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Die nachdrückliche Formulierang läßt am kanonischen Rang der Autoren nicht den leisesten Zweifel: Dire herausragende Stellung {longe ... praeferendos) ist allgemein anerkannt {nemo dubitai)·, wiewohl mit unterschiedlichen Gaben gesegnet {diversa virtus), haben sie doch annähernd gleichen Ruhm erlangt. Es folgt - in kontrastierender Manier - die rhetorisch-literarkritische Bewertung: Beide Autoren gewinnen Kontur vor dem Hintergrund der Charakteristik des jeweils Anderen: Thukydides' gedrängter energischer Kürze {densus et brevis et semper instans sibi Thucydides [ebd.]) steht der lichte anmutige Erzählfluß des Herodot gegenüber {dulcis et Candidus et fusus Herodotus [ebd.]). Die dreifache Opposition des Schlußsatzes {ille concitatis, hic remissis adfectibus melior, ille contionibus, hic sermonibus, ille vi, hic voluptate [ebd.]) beleuchtet schlagwortartig, was von den so Charakterisierten furs rhetorische Geschäft zu lernen ist. Mit Rücksicht auf das Rhetorische und die Vorbildlichkeit der erstgenannten Autoren ist die weitere Liste der Historiker erstellt: Theopomp folgt zuerst (§74), weil er his [d.h. Thukydides imd Herodot] proximus ist, d.h. dem Rang nach am nächsten steht: zwar ist er in historia praedictis minor, jedoch oratori magis similis, ut qui, antequam est ad hoc opus soUicitatus^^, diu fuerit orator (ebd.). Der rhetorische Nutzen ist nur noch äußerlich, mit einem biographischen Detail, begründet. Über einen Vergleich mit Thukydides kommt Philistus, deutlich alter als Theopomp, ins Spiel: "PhiHstus quoque meretur qui turbae quamvis bonorum post eos auctorum eximatur, imitator Thucydidi et ut multo infirmior, ita aliquatenus lucidior" (§74). Die einleitende Phrase hält in ihrer Bildhaftigkeit das literarkritische Szenario gegenwärtig: den Redelehrer, wie er "aus der Menge" der schätzbaren Autoren einen weiteren "herausgreift", der solche Vorstellung "verdient". Ephorus, der nächste Historiker wird mit dem rhetorischen Vor-Urteil des Isokrates {ut Isocrati visum) gerichtet: calcaribus eget (ebd.). Clitarchus' Talent wird ausdrücklich anerkannt, seine Zuverlässigkeit jedoch in Zweifel gezogen: probatur ingenium, fides infamatur (ebd.). Die Reihe beschließt der 'Spätling' Timagenes, welcher hoc est ipso probabilis, quod G.L. Spalding, M.Fabii Quintiliani de institutione oratoria libri duodecim, 6 Bde, Leipzig 1798-1834 [Nachdr.: Hildesheim 1962-69] erklärt passraid (mit Hinweis auf Cie., de erat. 2, 57): "solicitatus, ab Isocrate magistro" (ad loc. [Bd. 4, Leipzig 1816/ Hildesheim 1969]).
Der Abschnitt über die griechischen Historiker
intermissam historias scribendi industriam nova laude reparavit Xenophon soll unter den Philosophen behandelt werden (ebd.).
163
(§75)^'^.
Die Reihimg der Namen und Urteile scheint einigermaßen willkürlich'^^. In der Tat hat ja Quintilian selbst in seinen dem Kanon vorangehenden allgemeineren Lektüreempfehlimgen den Abgrund konstatiert, der für gewöhnlich die Geschichtsschreibung von der Rhetorik trennt: "Verum et ipsa [sc. historia] sic est legenda ut sciamus plerasque eius virtutes oratori esse vitandas" (§31). Es ist also von vorneherein ausgeschlossen, daß Quintilians Übersicht irgend Anspruch auf literarhistorische Geltung jenseits des ihr gesteckten rhetorikdidaktischen Rahmens machen k ö n n t e ^ . Ja, die völlige Unbrauchbarkeit eines Werks in rednerischer Perspektive muß nicht durchaus zu seinen Mängeln rechnen: Die vielgerühmte Sallustiana lactea ubertas^^
brevitas^^
und Livi
würden nur zu bald an der durch und durch pragmatischen
Gesinnung römischer Richter zuschanden werden, die non speciem tionis (wie Livius sie bietet), sedfidem
quaerit
exposi-
(§32). Für solchen Vorbehalt
kann sich Quintilian schon auf Cicero berufen, der ne Thucydiden
quidem
"Quintiliano non tiene conto, a tacere d'altri, nè di Timeo, nè di Polibio, i quali continuarono con molta lode dopo Clitarco e prima di Timagene la tradizione della storiografia" (D.Bassi, Komm., Buch Χ, ad loc.); v ¿ . Bolaffi, ebd. [Anm. 596], 39f. (mit fast identisdiem Wortlaut ohne Hinweis auf Bassi). Heldmann (1980), ebd. [Anm. 567], 2 f , hat unsere Stelle ansprechend mit dem besonders aus Dionysios bekannten klassizistischen Konzept des "Dreischritts 'einstige Größe - Niedergang - Wiederherstellung der einstigen Größe'" (M.Fuhrmann, Einfuhrung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 169 [zum "klassizistischen Dreischritt" s. jetzt auch die umsichtige Behandlung durch T.Hidber, Das klassizistische Manifest des Dionys von Halikamass. Die Praefatio zu De oratoribus veteribus - Einleitung, Übersetzung, Kommentar, Stuttgart/Leipzig 1996, 14-25]) in Verbindung gebracht. Ich teile jedoch den von Ax geäußerten Vorbehalt (ebd., 148), wonach sich "weder bei Timagenes noch beim Anonymos mit letzter Sicherheit nachweisen" lasse, "daß jeweils eine Dekadenzperiode mit Hilfe einer Neuorientierung an klassischen Mustern überwunden wurde". Die Stellung der Geschichtsschreibung im antiken Erziehungs- und Bildungswesen ist umfassend untersucht durch Nicolai, ebd. (Anm. 580). Vgl. auch die einschlägigen Bemerkungen bei M.Hose, Emeuerung der Vergangenheit. Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio, StuttgartA^pzig 1994, 5-18 (15f zu Quint). Zum Phänomen vgl. zuletzt A.Klinz, Brevitas Sallustiana, Anregung 28, 1982, 18187. Das Maßgebliche hat bereits Norden, Antike Kunstprosa, 200-04, gesagt. Quintilians Verhältnis zu Sallust beleuchtet Seel, ebd. [Anm. 566], 96-113. ^ Zum Verständnis der Junktur s. F.Quadlbauer, Livi lactea ubertas - Bemerkungen zu einer quintilianischen Formel und ihrer Nachwirkung, in: E.Lefèvre/E.Olshausen (Hrsg.), Livius. Werk und Rezeption. FS Burck, München 1983, 347-66; vgl. auch P.V.Cova, ebd. (Anm. 583), 54-56.
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Quintilian
aut Xenophontem utiles oratori putat, quamquam ilium 'bellicum canere', huius ore 'Musas esse locutas' existimet (§33). Von partiellem Nutzen ist nach Quintilian der maßvolle Gebrauch des historicus nitor in den Exkursen (ebd.); wertvoll ist die Kermtnis der Geschichte, wo sie dem Redner glaubhafte exempla und untrügliche Testimonien an die Hand gibt (§34). Mißt man an diesen theoretischen Vorgaben den knappen Abriß über die griechischen Historiker, kann die fast schroffe Kürze der Autorenbehandlung nicht verwundem. Zugleich wird deutlich, wie Quintilian auf dem schmalen Feld, das er der Geschichtsschreibung im Gesichtskreis des Rhetorischen gesteckt hat®°^, engste Abstimmung mit den eigenen Prämissen sucht und findet: So werden an Thukydides' Werk die contiones, an Herodot der anmutige Erzählduktus bewundert; Philistos hat vor Thukydides den Vorzug größerer Юarheit; vor Clitarchus' mangelnder Glaubwoirdigkeit wird ausdrücklich gewarnt. Und doch ist die natürliche 'Rhetorizität' eines Autors nicht das Hauptkriterium für seine Berücksichtigung und Einstufiing. Denn gerade die ersten Plätze werden an die Protagonisten der Gattung vergeben. Die Kanonizität der führenden Autoren steht höher als ihre rhetorische Verwertbarkeit. Das Festhalten am Kanon bezeichnet die Differenz des Quintilianischen Kompendiimis von der bloßen Lektüreliste. Literarhistorie wird sie eben durch die Bestätigung des tradierten νόμος. Die Literaturgeschichte ist das Koordinatensystem, in dem die rhetorische Pragmatie des Quintilian sich bewegt®"".
G.Kennedy, Quintilian, New York 1969, übt scharfe Kritik an Quintilians "restricted view of the function of liistory" (105): "Though Sallust and Livy are cited, the political interests of the one and the moral рифове of the other are both ignored. ... Strangely, nothing is said here [sc. 10, 1, 31-34] about the oratory which constitutes such an important part of ancient historiography, though the speeches in Thukydides and Livy are later praised ..." (ebd.). Der literarhistorische Aspekt ist daher zu Recht auch von Ax in seiner Analyse der Quintilianischai Historiographiebdiandlung hervorgdioben (neben den stärker ausgebildeten didaktischen und gattungstheoretischen Gesichtspunkten); ebd., 146-48. Ax argumentiert freilich nicht (kanon-)diskurstheoretisch, sondern mit kritischem Rekurs auf ein differenziertes Modell des "'klassizistischen' Dreischritt(s) 'Klassik - Dekadenz - Wiederaufsti^'", das - eingeschränkt - auch für Quintilians Abrisse der griechischen und römischen Geschichtsschrabung Gültigkeit besitze (ebd., 147f); vgl. oben Anm. 599. Zur literarhistorischai Komponente vgl. außerdem P.Steinmrtz, Gattungen und Epochen der griechischen Literatur in der Sicht Quintilians, Hermes 92, 1964, 454-66, dort 457. Skeptisch zuletzt Laureys, ebd. (Anm. 583), 114f.
Quintìlians literaturgeschichtlicher Sinn
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Daß Quintilian einen sdir bestimmten B ^ f F von den latenden Komponenten literaturgeschichtlicher Arbeit hatte, erhellt auch aus einer den Abschnitt über die progymnasmata einleitenden Bemerkung im 1. Budi der Instìtutìo. der Autor blickt auf das zuletzt Bdiandelte zurück und konstatiert: "Et finitae quidem sunt partes duae quas haec professio pollicetur, id est ratio loquendi et enarratio auctorum, quarum illam methodicen, hanc historicen vocant" (inst. 1,9, 1). Gerade die Beiläufigkeit, mit der hier die zuvor behandelte enarratio (im Abschluß der lectio) in toto (und mit Berufimg auf eine anonyme Mdirheit von Sachverständigen: vocant) für histórica erklärt wird (schon 1, 8, 18 die Attribuierung enarratio historiarum), bezeugt Quintilians Glauben an die Literaturgeschichtlichkeit der Autorenerklärung stärker, als dies eine breite terminologische Auslassung vermocht hätte. Ernst Robert Curtius hat mit Bezug auf unsere Stelle - entg^en seiner sonst skeptischai Ansicht des antiken historischen Bewußtseins'"' - geurteilt: "Die Dichtererklärung wird also mit der Historik gleichgesetzt, und damit haben wir in nuce die Literaturgeschichte, und zwar sowohl der Sache wie dem Wort nach""^. Den früheren Abschnitt über die lectio aber wird man kaum von der umfassenden Erörterung des 10. Buches trennen wollen. Und wenn auch die enarratio historiarum jetzt selbst in den Hintergrund tritt, so tut sie dies nur, damit das Ganze der (rhetorikrelevanten) Literaturgeschichte in den Blick komme. Dieses Ganze kann von den Leistungen der schulmäßigen Tradierung und historischen Erklärung nicht unabhängig gedacht werden. S. oben Anm. 116. ^ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, "Tübingen/Basel 1993, 435. Es darf nicht verschwiegen werden, daß die Auffassung des Terminus historicus umstritten ist. Ax, ebd., 156 Anm. 1, bestreitet (ohne auf Curtius einzugdien) die oben gegebene Deutung des B^riffs: "Es ist zu beachten, daß historia von Quintilian doppeldeutig verwendet wird. Im Kontext des Grammatikunterrichts heißt historia "Sadiwissen, Sadikommentar, Sacherläuterung" entsprechend dem méros historikón der antiken Grammatik". Vgl. audi G.A.Press, The Development of the Idea of History in Antiquity, (Diss. San Diego) Ann Arbor 1974 (micr ), 98f Die historische Konnotation, d.h. geschichtlichzdtliche Dimension auch des Sachunterrichts sollte aber doch unzwdfelhaft san. Wie problematisch die Trennung der baden semantischen Komponenten ist, b e l l e n Stellen wie Plin. epist. 5, 8, 4: historia quoquo modo scripta delectat. Sunt enim homines ruitura curiosi, et quamlibet nuda rerum cognitione capiuntur ...- Noch Winckelmann macht sich die Ambiguität des B^riffs zunutze; sane Geschichte der Kunst des Altertums (Dresden 1764 [letzter Nachdr.: Darmstadt 1993]) b^jnnt mit dem Satz: "Die Geschichte der Kunst des Altertums, welche ich zu schreiben unternommen habe, ist kane bloße Erzählung der Zatfolge und der Veränderungen in derselben, sondern ich nehme das Wort Geschichte in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der griechischen Sprache hat, und mdne Absicht ist, einen Versuch anes Ldirgebäudes zu liefern".
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Quintilian
Umgekehrt orientiert sich der Schulbetrieb am literarhistorischen Kanon. Quintilians Literaturgesdiichte zeugt vom gediegenen Selbstbewußtsein der sekundären Macht des ex^etisdiai und literaturdidaktischen Diskurses: Der pädagogische Betrieb schlägt zurück auf die kreativen Quellen, aus denen er sich speist'"'. Hier fassen wir anschaulich die Dialektik der Literatuigeschichte, wie sie aus den originalen Antriebskräften im (Zerr)Bild ihrer akademischen und institutionellen Behandlung als ein tertium von neuer agener Dynamik herauswächst. Mit Absicht habe ich die Frage der Originalität des Quintilianischen Entwurfs bisher zurückgestellt. Sie hat die Philologie zumal des 19. Jahrhunderts mehr als j e d e andere Frage beschäffigt. Nachdem H.Stephanus in seiner editio princeps
der literarkritischen Schriften des Dionysios (Paris
1554) sogar die völlige Abhängigkeit des Quintilian vom augusteischen Autor behauptet hatte®°^ haben besonders H.Usener^°^ und W.Peterson®'° dieses Urteil entscheidend modifiziert: Nicht erst Quintilian, so übereinstimmend die beiden Gelehrten, sondern schon Dionysios steht in einer literaturkritischen Tradition, die bis in die Hochzeiten der alexandrinischen Philologie zurückreicht®". Komplementärtexte®'^ w i e Cicero, de orat. 2, 5 5 - 5 8 , und ein Bruchstück aus dem Hortemius^^^ oder Dio Chrysostomos' Rede περί
λόγου
"" Daß auch die 'Quellen' immer schon vermittelt sind in der historisch-ästhetischen Kritik, darüber s. unten S. 167f "Quintilianum proferto, qui quam plurima alia e libris Dionysii in suas institutiones transtulit, multa hinc etiam mutuatum constat: quibus modo nomine suppresso pro suis utitur, modo addito verbo putant sua non esse declarat" (Stephanus, 57). "" Dionysii Halicamassensis iibrorum de imitatìone reliquiae epistulaeque criticae duae, ed. H.Usener, Bonn 1889. M.Fabi Quintiliani institutionis oratoriae liber decimus, a revised text w. introd. essays, crit. & expl. not. & a facsim. of the Hariáan ms. by W.Peterson, Oxford 1891 (Nachdr.: Hildesheim 1967). Noch weiter geht in der Bdiauptung der Eigaiständigkeit des Quintilian N.Tavemini: "Le coincidenze fra Quintiliano e Dionisio sono più spesso formali che sostanziali ... Π substrato di pensiero è frequentemente assai diverso, per cui appare che non di rado il Nostro [se. Quintiliano] si manifesti palesemente originale ... Non fu però essa unico nè 'praecipuus fons'" (Dal libro decimo dell' institutio oratoria alle fonti tecnico-metodologiche di Quintiliano, Turin 1953, 50f). Vgl. auch Steinmetz, ebd. (Anm. 604), 456. Steinmetz vermutet eine "im Kreise des Aristophanes von Byzanz und des Aristarch von Samothrake" verfaßte "stilkritische Geschichte der griechischen Literatur" als Voriage (458, vgl. unten die folgenden Seiten).- Zu traditionalen Momaiten der Literaturkritik des Dionysios vgl. jetzt auch S.Fomaro, Dionisio di Alicamasso. Epistola a Pompeo Gemino - Introduzione e commento, Stuttgart/Leipzig 1997, 165 u. passim. Unentbdirliches Hilfsmittel bei alien quellenkritischen Studien der StellenThesaurus von J.Cousin, Études sur Quintilien, Bd. 1: Contribution à la recherche des
Originalität des Quintilianschen Entwurfs
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ασκήσεως (or. 18) bezeugen die Wirkungsmächtigkeit kanonischer Überlieferung, aber - und dies sei mit Nachdruck gesagt - auch die Freiheit der Autoren im Umgang mit dem Kanon. Um nur von dem oben behandelten Passus über die griechischen Historiker zu sprechen: Quintilian nennt Thukydides, Herodot, Theopomp, Philistos, Ephoros, Klitarch, Timagenes und (mit Querverweis) Xenophon; Dionysios paarweise Herodot und Thukydides, Philistos und Xenophon, sonst nur noch Theopomp®'Cicero, de orat. 2, 55-58, Herodot, Thukydides, Philistos, Theopomp und Ephoros, Xenophon, Kallisthenes, Timaios; derselbe, in den Hortensiusfragmenten (mindestens) die fünf erstgenannten (gleiche Reihenfolge); Dio, or. 18, empfiehlt Herodot, Thukydides, Theopomp und schließt den Ephoros namentlich aus. Die Verschiedenheiten der 'Listen' reichen jedoch über abweichende Namensneimungen und -auslassungen weit hinaus: Die ungeheure Breite der Variation in der Iiterarkritisehen Attribuierung hat Peterson in seinem Testimonienapparat eindrucksvoll nachgewiesen. Es ist eben ein Unterschied, ob eine Autorenliste (wenn dieser Ausdruck überhaupt verallgemeinerbar ist) in historiographiegeschichtlichem (Ciceros De Oratore), rhetoriktheoretischem (Dionysios) oder literatuφädagogischem Kontext (Quintilian, Chrysostomos) begegnet. Überhaupt könnte das Abhängigkeitsund imitatio-Konzept Geltung nur für den griechischen Teil der Lektüreempfehlungen beanspruchen; aber auch hier ist die Kanonisierung nicht weiter als bis zu den fiühen hellenistischen Autoren gelangt. Schon Apollonios wurde in den Kanon nicht aufgenommen: "in ordinem a granunaticis datum non venit, quia Aristarchus atque Aristophanes, poetanim iudices, neminem sui temporis in numenim redegerunt" (inst. 10, 1, 54).
Die lateinische Liste hat Quintilian zweifellos nach eigenem Geschmack und Urteil gearbeitet. Die Vorstellung, der führende römische Redelehrer habe bei der Erstellung seines Potpourris zu didaktischer und fachwissenschaftlicher Literatur seine Zuflucht genommen, wäre absurd; jeder Oberschüler, so sollte man meinen, würde noch heute imstande sein. sources de Γ institution oratoire, (thèse principale) Paris 1935 (Nachdr.: Amsterdam 1967); zu Kap. Χ 1 s. ebd. 541-83. Zuerst beigezc^en und mustergültig besprochen von Usener im Epilogus seiner Ausg. der literarkritisehen Fragmente des Dionysios (s. oben Anm. 609), 114-26. Zu weiteren Cicero-Reminiszenzen s. die eingehende Untersuchung durch Tavemini, ebd., 71-85. Das Fällen 'nachklassischer" Autoren bei Dionysios zutreffend erklärt von Nicolai: "... Dionigi ... considera il periodo successivo alla morte di Alessandro un' qjoca di decadenza della letteratura e crede in una rinascita dell' eloquenza prodotta dal dominio mondiale di Roma e dal ritomo ai modelli attici" (ebd., 312).
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Quintilian
aus dem Kopf einen Strauß der als 'kanonisch' geltenden deutschspracliigen Autoren nach Gattungen zu erstellen, indem er nur etwa die Namen Lessing, Goethe, Schiller, Юeist, Büchner u.a. fürs Drama, die Werke Юорstocks, Goethes, Hölderlins, Heines, Brechts u.a. für die Lyrik und so fort herzuzählen hätte ... Gewiß kannte Quintilian die einschlägige Literatur seit des Accius Tagen, aber ebenso gewiß war noch im Rom der Flavier der Kanondiskurs der frühen Юassik lebendig; Tacitus' Dialog über die Redner ist ein weiteres glänzendes Zeugnis für die seit Horazens kämpferischer Augustusepistel nie ganz beigelegte querelle der alten kanonischen imd der nachrückenden jungen Literatur. Das 'Kanonisieren' hat als Schöpfimgsakt zweiter Ordnung, als Literaturstiftung von frühesten Zeiten an Roms intellektuelle Eliten begeistert. Zwar hat erst postmoderne Theorie dem allmählich erwachten Bewußtsein von der vielfältigen Dependenz literarischen Schaffens die Begrifflichkeit geliefert, in der Sache jedoch ist die demiurgische Gewalt des Literarkritikers altbekannt: Nicht erst die Literaturgeschichte ist das Konstrukt kritischer, d.h. scheidender, sondernder Phantasie, schon die Literatur ist nach Begriff und Vorstellung ein Erzeugnis der ästhetischen Kritik; die Autoren sind die 'Macher' und 'Schreiber' (ποιηται imd συγγραφείς bzw. poetae, scriptores [rerum]); im Spiegel der Kritik erst entsteht der Mythos 'Literatur'. Dire Geschichte ist potenzierter Mythos, Mythologie. Die Geschichte ihrer Geschichte aber behauptet ihren qualitativen Unterschied von der Mythologie einzig darin, daß sie im Vollbewußtsein des mythologischen Verblendungszusammenhangs das mythodisch (μυθφδης) Konstruierte ihres Gegenstands, der Literaturgeschichte, immerzu 'abti-ägt'. Quintilians Liste bewegt sich in diesem Spannungsfeld, das die Mythopoiese umschreibt: Dir sichtbarer Ausdruck ist der Kanon; der Kanon ist eine rhetorische und literaturpädagogische Macht; an ihr müssen sich junge Redner und Autoren bewähren. An ihren Sturz und eine vollständige commutatio rerum ist unter den Produktionsbedingungen und Einstellungen der römischen Antike nicht zu denken; interpretatio, aemulatio, imitatio sind die Weisen des Umgangs mit dem Kanon. Den Kanon herausfordern heißt ihm sich ähnlich zu machen im Eigenen und dies Eigene dann als ästhetisches suψlus zu behaupten, Anverwandlung des Fremdkanonischen an die unverwechselbaren Konditionen der eigenen Persönlichkeit. Die ICritik aber entscheidet, ob das "Neue' als kanonisch gelten und dem 'Alten' als ebenbürtig zur Seite ti-eten darf. Herausforderung des Kanons ist zugleich Herausforderung der Kritik: Alle großen Umschwünge und Richtungsänderungen der römischen Literatur sind von Autoren herbeigeführt, die zugleich Kritiker waren oder doch mit einflußreichen Kritikern sich umgaben; zu erinnern
Literaturgeschichte als Mythopoiese
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wäre an den Kreis des Q.Lutatius Catulus und die Neoterik, die Ciceronischen Reformen der lateinischen Kunstprosa, die augusteischen Zirkel um Maecenas und Messalla, den jüngeren Seneca, Pronto (um nur die wichtigsten zu nennen). Auch mit dem Namen des Quintilian verbindet die 'Literaturgeschichte' ein kritisches momentum der römischen Tradition. In dem römischen Redelehrer erreicht die klassizistische Strömung nach der Zeitenwende einen ersten Höhepunkt. Schon in den Literaturbriefen des Livius und im Mémoirenwerk des älteren Seneca ist vorbereitet^'', was in der Imtitutio des Quintilian (und in Tacitus' Redner-Dialog) seinen vorläufigen Abschluß findet: die Rück- und Hinwendung zu den rednerischen Idealen des Cicero®'^. Da wir seit Heldmanns Untersuchungen zur Literaturgeschichte über die Grenzen, ja über das Inadäquate der Rede vom Quintilianischen 'Klassizismus' wohl unterrichtet sind^'^, ziehe ich vor, vom pragmatischen Neoklassizismus des Redelehrers zu sprechen. Der pädagogische Generalbaß seines Lektürekanons dringt auf produktive 'imitatio', auf schöpferische Nachahmung der kanonisch gewordenen Literatur: Das Literatuφädagogische wdrd zum Katalysator der antagonistischen Momente der Literarhistorie; im Lehrbuch, in der Konstruktion einer Literaturgeschichte, die in der Behauptung des Kanons ihr affirmatives, im ständigen Rekurs auf das quid ad nos ihr konstruktives, dynamisches Moment hat, gelingt die Synthesis von Pragmateia und Kanonglauben, zweier urrömischer Haltungen. Über Cicero nun geht der Orientierung suchende Blick noch weiter zurück zu den Koryphäen der altgriechischen und klassisch hellenischen Literatur. Wie Cicero ist Quintilian bestrebt, der als paradigmatisch eingestuften griechischen Literatur ein ebenbürtiges römisches Panorama entgegenzusetzen. Er tut dies, indem er in bombastischem Entwurf alles aufmarschieren läßt, was in den einzelnen Gattungen Rang und Namen hat: Schnell ist das griechische Vorbild wenigstens zahlenmäßig übertroffen. Der Ciceronianismus Quintilians ist nicht nur ein rhetorisch-stilistisches Phänomen, sondern vor allem auch ein ideologisch-kulturpolitisches; wozu der Meister römischer Rede noch dreier Anläufe, dreier Versuche über die Theorie, Praxis und Geschichte der Rhetorik bedurfte, das ist bei dem spanischen Zum Beitrag des älteren Seneca zur Kanonisierung Ciceros s. jrtzt R A.Kaster, Becoming 'Cicero', in: Style and Tradition. Studies in Honor of WerìdeH Clausen, hrsg. ν. P.Knox u. C.Foss, Stuttgart/Lápzig 1998, 248-63. Zu den herausragenden Verdiensten des Heldmannschen Buches [oben Anm. 567] gehört, daß es mit dem weit verbreiteten Glauben an einen nostalgisch verbrämten Vulgärklassizdsmus im Werk des Quintilian aufgeräumt hat. Quintilian ist nichts weniger als rückschrittlich gesinnt; seinem Optimismus, die stete Fortentwicklung der Literatur betreffend, hat er des öfteren Ausdruck gegeben. Vgl. auch G. d'Anna, Quintiliano e il classicismo di età flaviana, ebd. (Anm. 594).
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Quintilian
Redelehrer in dem Riesenwerk der Institutio gebündelt. Quintilians Ciceronismus ist überzeugender, als es - naturgemäß - der Ciceronische in seiner Zeit zu sein vermochte. Ciceros Rang und - wichtiger noch - sein philosophisch-politisch-oratorisches Programm kommen im Werk des Calagurritaners nachdrücklicher zu Bewußtsein und Geltung, als es ihnen in den Wirren der republikanischen Spätzeit vergönnt war^'^. Einige charakteristische Akzentverschiebimgen wie die Quintilianische Umkehrung der Ciceronischen Subordination des Rhetorischen unter das Philosophische^^^ tun der überragenden Mittlerfunktion des Späteren keinen Abbruch. Nur am Rande sei bemerkt, daß zu den abenteuerlichen Wendungen, die erst die erkenntnistheoretische Philosophie der Postmoderne herbeigeführt hat, auch die mögliche Neubewertung des Quintilianischen Standpunktes gehört. Überraschend modern nimmt sich nun aus, was man bisher als banausischen Technizismus, wenn nicht Technokratismus belächeln mochte. Wie konnte es angehen, daß der berühmte Gelehrte, der durch die Schule Piatos, Demosthenes' und Ciceros gegangen war, die Rhetorik höherstellte als selbst die Philosophie? Heute ist uns die Vorstellung nicht fremd, daß das begriffswissenschaftliche Fundament der Philosophie analog den 'Gesetzen' der Rhetorik organisiert sei, ja daß Philosophie im Widerstreit ihrer konstruktivistischen (dialektischen) und anteristischen Momente ihre elementare Rhetorizität beweise. Kaum mehr zu zählen sind die Studien, die der 'Rhetorik' geistig-seelischer, aber sogar auch sinnlich-körperlicher Strukturen und Prozesse nachforschen; allenthalben sind Theorien der Metapher und Allegorie, der Simulation und überhaupt des tropischen Sprechens wie Pilze aus dem Boden geschossen®^". Daß die Quintilianforschung von der stürmischen renaissance des Rhetorischen erkennbar profitiert hätte, läßt sich wenigstens zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht behaupten; daß sie hier und da konstruktiv und oft genug ernüchternd auf den Enthusiasmus der Neorhetoriker einwirken könnte, ist gewiß. Über die ки11ифо1ШзсНеп und philosopHschen Ambitionen des Spaniers Treffliches bei O.Seel, ebd. (Anm. 566), 41. Vgl. S.Döpp, Die Nachwirkung von Ciceros rhetorischen Schriften bei Quintilian und in Tacitus' Dialogus. Eine typologjsche Skizze, in: P.Neukam (Hrsg.), Reflexionen antiker Kulturai, München 1986, 7-26, dort 13. Zum Problem zuletzt ausgleichaid G.E.Manzoni, Π retore Quintiliano di fronte ai filosofi, in: Aspetti della 'paideia' di Quintiliano, ebd. (Anm. 583), 143-72. Vgl. die Textsammlungen Theorie der Metapher, hrsg. ν. A.Haverkamp, Darmstadt 1983, ^1996 (dort, 455-91, eine beeindruckaide Zusammenstellung einschlägiger Literatur) u. Der Streit um die Metapher. Poetologische Texte von Nietzsche bis Handke, hrsg. V. K.Müller-Richter u. A.Larcati, Darmstadt 1998 (mit Lit.-verz. 380-92); s. jetzt auch H.F.Plett (Hrsg.), Die Aktualität der Rhetorik, Münchai 1996 (dort, 2 2 7 ^ 0 , eine "Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur" 1970-1995).
Rhetorik und Philosophie
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Der Panrhetori2dsmus des römischen Redelehrers ist bekanntermaßen nicht zu trennen von seinem sittlichen Untergrund: Quintilian hält fest an dem uralten Catonischen άπόφθεγμα, daß nur "ein guter Mann ein guter Redner" sein könne®^'. Wie ein Säulenwerk umrahmt die Formulierung des Ideals vom "guten Redner" die zwölfbändige Lehrschrift. Gleich in der Vorrede ist die Forderung ausgesprochen: "Oratorem autem instituimus illum perfectum, qui esse nisi vir bonus non potest, ideoque non dicendi modo eximiam in eo facultatem sed omnisflnimivirtutes exigjmus" (1, praef. §9). Ausfuhrlich behandelt sind die sittlichen Grundlagen der Redekunst im ersten Kapitel des dem artifex gewidmeten Abschnitts der Imtitutio (12, 1 9 u. 1 A b e r selbst von der Ethisierung des Rhetorischen führt noch eine Spur in die moderne 'ästhetisierte Lebenswelt'. Die Frage nach dem Verhältnis des Ästhetischen zum Ethischen stellt sich freilich ganz neu: Nicht der Unterwerfung des Ästhetischen unter das Ethische wird weiter nachgedacht, sondern den vielfältigen "ethische(n) Implikationen und Konsequenzen aktuellen ästhetischen Bewußtseins"^^^. Quintilians ethische Überzeugungen haben seine rhetorische Lehre jedoch nicht in einem Maße affiziert, das sie für non-ethíca¡ users unbrauchbar machte. Das Lehrgebäude der ars dicendi folgt weitergehend, als es seine chaotisch scheinende Riesenhaftigkeit vermuten ließe, traditionellen Bestimmungen über die Anlage sachkundlicher Literatur®^'*. Dabei ist die
Vgl. Döpp, ebd., 12f Vgl. die Darstellungen von C.J.Classen, Der Aufbau des zwölften Buches der Institutio oratoria Quintilians, MH 22, 1965, 181-90, dort 183, G.Kennedy, Quintilian, New York 1969, 123fr., S. Döpp, Weisheit und Beredsamkat - Gedanken zu ihrer Relation bei Cicero, Quintilian und Augustinus, Dialog Schule - Wissenschaft 16, München 1982, 3763, dort 53f., u. dems., Cicero-Rezeption bei Quintilian am Beispiel von inst. orat. 12, 2, 23-26, WS 19, 1985, 159-71, dort 159. W.Welsch in dem von C.Wulf, D.Kamper u. H.U.Gumbrecht hrsg. Sammelband Ethik der Ästhetik, Berlin 1994, 17. Auf die noch kaum erkannten Probleme, die mit der Reethisierung des Ästhetischen verbunden sind, kann ich im Rahmen dieser Studie naturgemäß nicht eingehen. Die Debatte ist noch zu führen Zum Verhältnis der philosophischen Disziplinen s. jetzt auch M.M.Eaton, Aesthetics: The Mother of Ethics?, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 55, 1997, 355-64. Grundsätzliche Bedenken betreffs der disziplinaren Engführung des Ästhetischen mit dem Ethischen schon bei K.H.Bohrer (am Beispiel Kierkegaards, Musils u. Adornos); Ethiic und Ästhetik - Nicht Polarität, sondern Differenz (1992), in: ders.. Die Grenzen des Ästhetischen, München/Wien 1998, 160-70. Vgl. M.Fuhrmann, Das systematische Lehrbuch - Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike, Gottingen 1960, 9.
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Quintilian
'rednerische Unterweisung' nie starr, das System ist flexibel^^^, w e i ß dogmatische Enge ebenso zu vermeiden w i e die Eintönigkeit gleichmäßigzähen Lehrflusses®^®. Auch die literarhistorische Literaturpädagogik des 10. Buches vereint in sich die Vorzüge pragmatisch kurzer, unaufdringlicher Empfehlung und lebendigen Vortrags. Ja, die Darstellung ist selbst in hohem Maße rhetorisiert: schwungvolle Elogen auf die Meister der Gattungen (bes. Homer, § § 4 6 - 5 1 , Menander,
§ § 6 9 - 7 2 , Vergil, § § 8 5 - 8 7 ,
Cicero,
§ § 1 0 5 - 1 1 2 ) , die Miniatur eines Panegyrikos auf den amtierenden Kaiser ( § 9 1 i ) , effektvolle makro- und mikrostioikturale Gliederung des Stoffs nach dem Prinzip von Thesis und Antithesis^^^, die enorme Häufimg rhetorischer Fragen (allein fünf im ersten, Homer gewidmeten Abschnitt), die den Leser als Mitwisser all des bunten literaturkritischen und -geschichtlichen Materials erscheinen läßt, das der Autor mehr parlierend als dozierend ausbreitet^^l W o z u die Lektüre der von Quintilian Empfohlenen anleiten soll, das ist schon in der Empfehlung passim
verwirklicht. Rhetorisierte, kunstmäßig
ausgeführte Pädagogik bezeugt glaubhaft die Vorzüge, die das literarische Programm verheißt. Der Primat des Rhetorischen, dem der Redelehrer alle
Die Kardinalstelle ist inst. 2, 13, 1 : "Nemo autem a me exigat id praeceptonjm genus quod est a plerisque scriptoribus artium traditum, ut quasi quasdam l ^ e s inmutabili neœssitate constrictas studiosis dicendi feram" (vgl. auch das Folgende). Vgl. B.Deinlein, Das römische Sachbuch, (Diss.) Erlangen-Nümberg 1975, 19f. (zur Exkurstechnik), 25 (über "poetischen Ornat"). Vgl. auch E.Zundel, Lehrstil und rhetorischer Stil in Quintilians institutio oratoria, (Diss.) Frankfurt a.M. 1981, der inst. 1 prooem. 23 ("His omnibus admiscebitur, ut quisque locus postulabit, docendi ratio quae non eorum modo sciaitia quibus solis quidam nomen artis dederunt studiosos instruat et, ut sic dixerim, ius ipsum rhetorices interpretetur, sed alere facundiam, vires augere eloquentiae possit") richtig als programmatische Äußerung des Autors versteht {docendi ratio meint "method of treatment" [F.H.Colson, Komm. inst. I, Cambridge 1924 ]; anders H.Rahn, Ausg. Darmstadt 4988; "Überl^ungen über die Lehrmethode"). Wo der Sprödigkeit des Stoffs mit rhetorischen Kunstmitteln nicht beizukommen ist, gesteht Quintilian dies freimütig und unter vielem Bedauern ein (z.B. inst. 3, 1, 2-5, bes. 5: "Sed nos veremur ne parum hic liber mellis et absinthii multum habere videatur, sitque salubrior studiis quam dulcior" [mit Bezug auf Lucr. 1, 936-38]). Über die komparativische Struktur im Großen s. oben S. 159f. Im Юапеп sind des öfteren zwei (oder mehrere) Autoren derselben Gattung in 'produktiven' Kontrast gesetzt (so Aischylos und Sophokles/Euripides §67, die beiden letztgenannten §67f, Menander und Philemon §72, Thukydides und Herodot §73, Macer und Lucrez §87, Accius und Pacuvius §97, Sallust und Livius miteinander und mit Thukydides und Herodot §101f, Cicero und Demosthenes [sowie Plato u. Isokrates] §§105-09). Weitere Einzelheiten bei Zundel, ebd., 140-42.
Rhetorísierte Literaturpädagogik
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Literatur unterstellt, ist Form geworden in dem didaktischen Oratorium', als welches er die Literaturkritik und -geschichte inszeniert. Die Allmacht der artifiziellen Rede im Quintilianischen Welt- und Kulturbegriff hat in der literarhistorischen summa des zehnten Buches einen gültigen Ausdruck geftmden.
vili. Literaturgeschichte zwischen memoria und Innovation Horaz, Seneca maior und Tacitus im Zeichen der querelle
"Warn aber einer ... gleich furchtet, er möchte etwas hören lassen, was über das Verständnis der Zeit, in der er selbst lebt, hinausgeht, so müssai die Konzeptionen eines solchen Geistes als unreife und blinde Fehlgeburten zur Welt kommen, die fíir den Nachruhm längst nicht ausgetragai sind". (Pseudo-Longin 14, 3'")
Ein phänomenologischer Aufriß der römischen Literaturgeschichtsschreibung darf jene Texte nicht übergehen, über deren Nichtzugehörigkeit zur Gruppe genuin hterarhistorischer Schriften zwar kein Zweifel besteht, die aber dermoch mit literaturgeschichtlichem Gedankengut aufwarten, das den Diskurs der römischen Literaturgeschichtsforschung in dem von uns gestekken Zeitrahmen bereichert hat. Weder Horaz noch den älteren Seneca noch Tacitus würde man bei unbefangener Prüfung als Literarhistoriker bezeichnen, und doch haben sie alle auf ihre Weise entscheidend eingegriffen in die literaturgeschichtlichen Debatten ihrer Zeit. Wiewohl drei verschiedenen Generationen angehörend und mit ihrer Lebenszeit mehr als 150 Jahre umfassend, sind sie evident durch ein thematisches Interesse verbunden, das sich mit dem modernen Namen der querelverbindet. Das Phänomen des Streits um den Wert der älteren und Übersetzt von H.F.Müller, Die Schrift Über das Erhabene, dt. mit Einltg. u. Erläuterungen, Heidelberg 1911.- Cf. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie, 1 246 (Schlechta): "Jene naiven Historiker nennen Objektivität' das Messen vergangner Meinungen und Taten an den Allerwelts-Meinungen des Augaiblicks: hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Arbeit ist, die Vergangenheit der zeitgemäßen Trivialität anzupassen. Dag^en nennen sie jede Geschichtsschreibung 'subjektiv", die jene Popularmeinungen nicht als kanonisch nimmt". "" Das Phänomai der querelle hat eine eingehende Würdigung durch die alte Philologie noch immer nicht erfahren, geschweige denn daß die Fruchtbarkeit des agonistischen Prinzips als eines literaturwissenschaftlichen Theorems (nach Nietzsche und Bloom) voll erkannt wäre.- Beste Vorarbeit wiederum bei J.F.d'Alton, Roman Literary Theory and Criticism - A Study in Tendencies (s. oben Anm. 434), 266-353 {Ancients v. Modems). Gute
Römische querelles
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neueren Literatur ist nicht erst mit Horaz' programmatischen Satiren und Literaturbriefen in die W e l t gekommen; wir fassen es in R o m schon auf einer der frühesten Überliefenmgsstufen, in den apologetischen K o m ö d i e n prologen des Terenz: w e n n der Komiker mit verve
g e g e n seine Herausfor-
derer auf den Plan tritt (Haut. 4 3 , Eun. 43, Phorm. 1)"'. A u c h Ciceros Brutus
läßt sich als Streitschrift in der Auseinanderset-
zung mit den rebellierenden Jungattizisten lesen^^^. U n d schon Catull und die Seinen w o l l e n als Neuerer den atavistischen Schwulst mancher dilettierenden Kombattanten nicht gelten lassen^^'. A u s stolzem Selbstbewußtsein ebenso w i e aus der Geducktheit des in die D e f e n s i v e geratenen Literaten kann die querelle
als fiiichtbarer, bald erbittert (s. Terenz, Catull), bald im
Zeichen vornehm überspielten Ungehaltenseins (s. Horaz), bald mit weltmännischer Gelassenheit (s. Tacitus) geführter Streit um die literarische Selbstvergewisserung oder Selbstbehauptung erwachsen.
Einfuhrung auch bei E.R.Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (s. oben Anm. 606), 256-61 (Die "Alten" und die "Neueren"). Grundl^end für die neuere Gescdiichte noch immer H.Rigault, Histoire de la querelle des anciens et des modernes, Paris 1859 (Nachdr.: New York o.J.) [dort, 13-17, über den Taciteischen Dialogus] S. jetzt auch M.Fumaroli, La querelle des Anciens et des Modernes. Sans vainqueurs ni vaincus, in: le débat 104, 1999, 73-88. Wichtig weiterhin H.R.Jauß, Literarische Tradition und g^enwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, 11-66 (vgl. auch desselben Einleitung zum Facsimiledruck der 4bdg. Orig.-ausg. der M.Perrault'schai Parallele des Anciens et des Modernes [Paris 1688-97], München 1964, 8-64), u. K.H.Bohrer, Die Furcht vor dem Unbekannten. Zur Vermittlungs-Struktur von Tradition und Moderne, in: ders., Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, 68-85, bes. 71f. Vgl. auch M.Fuhrmann, Die 'Querelle des anciens et des modemes', der Nationalismus und die deutsche Юassik, in: Classical Influences on Western Thought A.D. 1650-1870, hrsg. ν. R.R.Bolgar, Cambndge 1979, 107-29. Die Stellen schon bei Curtius, ebd., 257. Zur Auseinandersetzung mit Luscius Lanuvinus und seinem Kreis s. d'Alton, ebd., 7-27, u. E.Fantham, The growth of literature and criticism at Rome, in: The Cambridge History of Literary Criticism I: Classical criticism, hrsg. v. G.A.Kennedy, Cambridge 1989, 220-44, dort 224-27. S. oben S. 107-10. Vgl. auch die kämpferische Einleitung des ersten TusculanenBuches (§lf.), ein Zeugnis für die noch größere Auseinandersetzung Rom-Griechenland. Hierzu noch immer Idirreich R.Harder, Das Prooemium von Ciceros Tusculanen (Die Antithese Rom-Griechenland), in: ΕΡΜΗΝΕΙΑ, FS O.Regenbogen, Heidelberg 1952, 104—18.- Auf formale Parallelen in der Gestaltung "monologischer Dialogpartien" (fleti interlocutores) in Ciceros Brutus und Horaz' Augustusepistel hat kürzlich in einem kurzen Statement J.M.May hingewiesen (The monologistic dialogue as a method of literary criticism: Cicero, BRUTUS 285-289 and Horace, EPISTLE 2. 1. 34-39, Athenaeum 68, 1990, 177-80). Z.B. die als cacata carta verunglimpften 'Annalen' des Volusius (Catull. 36, cf. 95, 7). Auch vor einem 'Klassiker* wie Antimachos machte die Kritik nicht Halt (Catull. 95, 10).
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Literaturgeschichte im Zeichen der quereile
"Comme Horace est un véritable Protée, qui praid milles formes différentes, on l'a souvent perdu: & ne sachant plus comment le repraidre, on l'a accroché comme on a pu; & on lui a donné en beaucoup d'aidroits des sentiments, non seulement qu'il n'a point, mais qui sont précisément ceux qu'il reftite." (A.Dacier, Les oeuvres d'Horace, Paris 1709)
Das klassische Dokument theoretisch ansprachsvoller Parteinahme im Streit zAvischen Alt und Neu ist Horaz' Augustusbrief, der die zweite Epistelnsammlimg eröffnet®'*. Aus dem eingangs wie beiläufig geäußerten Gedanken, daß die verdienten Heroen des Mythos Grund hätten zur Юage "suis non respondere favorem / speratum meritis" (9f.), wird fast unmerklich das literaturgeschichtliche Thema des Briefes entwickelt, indem die Unvernunft des Volkes inkriminiert wird, welches als selbstherrlicher "fautor veterum"''' (23) "... nisi quae terris semota suisque temporibus defuncta videt, fastidii et odit" (2 I f ) , dag^en selbst die unleidlichen Zwölftafelgesrtze wie Musenworte hochhält (23-27). Horaz wendet sich g ^ e n den Widersinn, daß banale Numerik über die Qualität dichterischer Produktion entscheiden soll: " 'est vetus atque probus centum qui perficit annos' " (39)"^, und zieht alle quantifizieraiden Aufstellung«! ins Lächeriiche: "quid? qui deperiit minor uno mense vel anno, inter quos referendus erit: veteresne poetas, an quos et praesais et postera respuat aetas?" (40-42). In polemischem Referat liefert er dann einen kurzen Aufriß der Literaturgeschichte, wie die unbestimmt bleibenden critici (51) sie entworfen haben: Ennius'^', Naevius, Pacu^^ Die Zitate nach der Ausgabe von C.O.Brink, Horace on Poetry Ш/Epistles Book Π: The Letters to Augustus and Florus, Cambridge &c. 1982. Deutung des Genetivs als Masculinum nicht unmöglich; nach den Neutra in 20-22 jedoch eher unwahrscheinlich (s. Brink Π, ad loc.). "Quasi ex alia persona", РофЬут1о.
Horaz' Augustosbrief
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vius, Accius, Afranius, Plautus, Caecilius, Terenz bilden den Kanon der epischen, tragischen und komischen Autoren (50-62). An der mangelnden Berechtigung übertriebener Elogen wie an der Vemünftigkeit, ja Billigkeit der eigenen Aufstellungen läßt Horaz keinen Zweifel: "interdum vulgus rectum videt"', est ubi peccat; si veteres ita miratur laudatque poetas ut nihil anteferat, nihil illis comparet, errat; si quaedam nimis antique, si pleraque dure dicere credit eos, ignave multa fatetur, et sapit et mecum facit et love iudicat aequo"'" (63-68). Horaz beklagt das geringe intellektuelle Niveau einer Debatte, in der das Neue um seiner Neuheit willen zurückgewiesen wird: "indignor quicquam reprehendí, non quia crasse compositum illepideve putetur sed quia nuper" (76f ). Auch die kanonischen und nadi Ansicht des Horaz zu Recht verehrten Werke der Griechen sind einmal "neu" gewesen (90-92). Der schöpferische Leichtsinn der Griechen, ihre Entdeckerfreude und unbändige Lust am Neuen haben den althellenisdien Künsten ein urbares Feld nach dem anderoi eröffiiet (93-102)^. Rom dag^en hatte sich schon früh
Die Verse 50-54: Ennius et sapiens et fortis et alter Homerus, / ut critici dicunt, leviter curare videtur / quo promissa codant et somnia Pythagorea. / Naevius in manibus non est et mentibus haeret /paene recens? adeo sanctum est vetus omne poema sind jetzt befriedigend erklärt von P.White, Horace, Epistles 2. 1. 50-54, TAPhA 117, 1987, 22734. White bezidit die levis cura des Ennius überzeugend auf "Ennius' sense of craftmanship". In sarkastisch fingierter Solidarität mit den 'Archaisten' mache Horaz dem Ennius zum Vorwurf, daß er "was pursuing an idle concern with his manifesto about lifting the standards of Roman poetry: that seems plain (videtur), because the hoary Naevius whom Ennius mocked has come to be as warmly admired as Ennius himself (233). So spielt die überl^ene R ^ e des Horaz, indem sie eine sub-querelle (Naevius-Ennius) inszeniert, den einen Altmaster g ^ e n den anderen aus. Zur literaturkritischen Terminologie ist durchgehend Brink Ш, ad loca, einzusehen. E.Lefèvre, Horaz - Dichter im augusteischen Rom, München 1993, hat richtig gesehen, welche Ironie darin l i ^ , daß Horaz das Fehlurteil der critici mit der - wenigstens zuweilen "richtigen" - Meinung des Volkes kontrastiert: "Hier wird das einfache Volk gegen die gelehrten Philologen ausgespielt" (312). ^ Die beste Darstellung des Verhältnisses der "Griechen und Römer im Augustusbrief des Horaz" gibt L.Bösing in der gleichnamigen Abhandlung, Konstanz 1972. Hier die weisliche Korrektur des älteren Ansatzes (bes. Fraenkel), wonach für Horaz "griechische Poesie ... bei all ihrer Vollkommenheit doch Ergebnis und Folge einer unmännlichen, moralisch unterl^enen Lebenshaltung", dag^en "das frühe Rom, gesund, männlich und voll
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Literaturgeschichte im Zeichen der querelle
ganz aufs Geschäftsmäßige gestellt (103-07). Doch grassiert auch hier tnittlerweile ein ungdiemmter Schreibdrang (108-17), dai man freilich nicht zu kritisch ansdiai soll"': "hic error tamai et levis haec insarüa quantas virtutes habeat sie collige ..." (118f ). Dann aitwirft er in launiger Rede ein anschauliches Bild vom sozialanthropologischei Fundament der Dichtung: der Dichter als nicht nur nicht schädlicher, sondern nützlicher Zeitgaiosse, als Erzidier und Ldirer des Volkes (119-38). In kaum merklidiem Übergang läßt Horaz den Ansatz zu einer geschichtlichen Darstellung der römischai Poesie folgai. Aus dem Genrebild einer ländlichai Szene entwickelt der Dichter die Ätiologie der Fescenninen (145f). Unter Griechailands Einfluß schwand allmählich das ungeschlacht Geschmacklose der Frühzeit: "... sed in longum tamen aevum manserunt hodieque manent vestigia ruris" (159f ). Genaueres Studium der griechischai Literatur hat bald "nach den Punischen Kriegen""^ zu einem ersten Aufschwung der römischen Literatur auf der tragischen Bühne gefuhrt (161-66); mangelnde Feile hat freilich noch größere Leistungen verhindert; dies gilt besonders für die an sich schwierigere Komödie, wo Plautus das Baspiel des oberflächlichen flickschusternden Autors abgibt (167-176). Über der lebhaften Schilderung des eitlen Bühnengenres mit seinen allzu flüchtigen Erfolgen und Tiefpunkten, über der Beschreibung seines abstoßenden, jahrmarktmäßig sich aufführenden Publikums verliert sich Verantwortungsgefühl, der Poesie abgaieigt" gewesen sei. Horaz nun glaube an die Möglichkeit, "das Beste aus diesen beiden Welten zu ndimen und die moralischen und politischen Tugoidai eines Römers mit den besten Gabai der griechischen Muse zu verbinden" (E.Fraenkel, Horaz, Darmstadt 1963, ^1983 [Orig.: Oxford 1957], 459). Demg^enüber deutet Bösing die Horazische σύγκρισις als unchauvinistisch [vgl. seine Formulierung S. 32]-wertneutrale kultuφhysiognomische Skizze. Erwägaiswert auch der Vorschlag von K.Bringmann, Struktur und Absicht des horazischen Briefes an Kaiser Augustus, Philologus 118, 1974, 236-56, die Verse 93-110 als ironisches Portrait der "Daikwdse und Einstellung der Gegner des Horaz" zu lesen; enthüllt werden solle "das Ressentimait, das Horaz zufolge der Abldmung der augusteischen Literatur zugrunde lag: die Abneigung des Römers vom alten Schrot und Kom g ^ a i Literatur und Literataitum" (244). Aber kommt solch subtile Tropik ganz ohne binnentextliche spradiliche Signale aus? Die von Bringmann, Anm. 34, beigebrachten Argumente überzeugen mich nicht. Der Dialog mit den G ^ e m (ab 28) war - wie Bringmann selbst, 239-43, scharf herausarbeitet - bis dahin mit klaren Konturen geführt. ^^ Vgl. dag^en den beißenden Spott ars 295-304 u. 453-76, und s. dazu R.ffiußler, Der Diditerling - Zu einem ungeschriebenen Kapitel der Poetik, in: Kontinuität und Wandel. FS F.Munari, hrsg. v. U.J.Stache u.a., Hildesheim 1986, 217-53, bes. 244f u. 249f Zur Chronographie vgl. die folgende S.
Literaturgeschichte als Standortbestimmung im literarischen Richtungsstreit
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aufs neue die historische Spur. Indem Horaz von den Exzessen des Theaters sich distanziert, rückt am Ende des Briefes die epische Dichtung in den Mittelpunkt des Interesses. Sie ist es, die über die Dignität ihres G^enstandes: das Herrscherlob wirkliche Größe gewinnen kann; in Vergjl und Varius besitzt Rom zwei Epiker von Rang. Horaz' eigener Anspruch reicht nidit so hoch. Die Epistel schließt mit Formulierungen aus dem klassischen Repertoire der Bescheidenheits- und Rekusationstopik. Aus der Rekapitulation der für die Typologie der Literaturgeschichtsschreibung relevanten Stellen des Augustusbriefes erhellt sogleich, daß das Literaturgeschichtliche hier nicht um seiner selbst willen auf den Plan gerufen wird. Die chronologische Abgrenzung einer älteren von einer neueren Literatur dient der Standortbestinunung verschiedener literarischer Richtungen. Der 'Historiker' nimmt Partei, indem er selbst den moderneren Strömungen der Gegenwartsliteratur sich zugehörig fühlt^^. Geschichtliche Abgrenzung tritt in den Dienst der genaueren Profilierung. Die Chronometrie als solche wird sogar ridikülisiert. Unbefangene Qualitätsprüfimg und nicht der bloße Ausweis ehrwürdigen Alters soll über die Reputation poetischer Produktionen entscheiden. Nun ist nicht anzunehmen, daß der reife hochgeehrte V e r f a s s e r ^ der Augustusepistel um seine literarische Geltung emsthaft besorgt sein mußte. Aber das Bedürfiiis nach entschiedener Abgrenzung von den törichten Vergottern einer in praxi obsolet gewordenen älteren Tradition muß er doch lebhaft empfimden haben. Die Erinnerung an schwierige Anfänge, an die allmähliche Durchsetzimg eines neuen Tons in der römischen Poesie mochte ihn zu polemischen Ausfällen beflügeln. Horaz ist nie ein volkstümlicher Dichter gewesen. Die hohe Verehrung, die er bei den Gebildeten genoß, konnte in den Kreisen der einfachen Leute keine Entsprechung finden"'. Und selbst im Milieu der litteratores, grammatici und critici muß es Vgl. Fraenkel, ebd., 460; "Wal sich Horaz in einen erbitterten Kampf für seine und seiner Freunde künstlerische Ideale verwickelt siäit, und nicht weil er über einen Abschnitt der Literaturgeschichte berichten will, läßt er sidi auf die lange Auseinandersetzung ab 139 ein". Im Streit der Früh- und Spätdatierungen ist noch immer keine überzeugende Lösung herbeigeführt. Die Ansätze schwanken zwischen 19 v. Chr. (G.d'Anna, La cronologia dell' epistola di Orazio ad Augusto, Vichiana 12, 1983, 121-35) und der - sdir viel wahrscheinlicheren - Spätdatienmg 12 v. Chr. (Brink Ш 552-54 u. Rudd, Komm., If ) A.La Penna, Orazio, Augusto e la questione del teatro latino, ASNP 19, 1950, 14862, deutet die Augustusepistel ganz in diesem Sinne als programmatisch gefaßte Intervention des Dichters gegen Bestrebungen des Augustus, durch Restauration der populären Bühnenkunst eine volkstümliche Literatur zu begründen. Diese Auflassung ist in Ansätzen entwickelt schon bei O.Immisch, Horazens Epistel über die Dichtkunst, Leipzig 1932 (= Philologus Suppl. 24, 3), 143f. Zur elitistischen Dichtungskonzeption des Horaz s. dem-
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Literaturgeschichte im Zeichen der querelle
viele gegeben haben, die die exquisite Artifizialität des Venusiers nicht durchweg goutierten^''^. Daß er wie wenige die Gunst des Kaisers genoß, machte ihn unangreifbar; wenn einer gegen die άγραφοι νόμοι des Uterarischen Lebens Einspruch erheben konnte, so war Horaz wie wenige dazu berufen. Und dies umso mehr, als nach der Überlieferung des Sueton^"' Augustus selbst beklagt haben soll, daß sein Dichterfreund ihn mit literarischen Sendschreiben nicht eben verwöhne. So erwächst also die Augustusepistel aus der konkreten Bedachtnahme auf einen kaiserlichen Wunsch. Das literaturgeschichtliche Thema wird willkürlich^^, aber nicht unelegant aus den Grußpräliminarien entwickelt. Das Willkürliche als das nicht Notwendige gehört zu den literarischen Lizenzen und dementsprechend Usancen der frühaugusteischen Kultur. Es schafft eine liberale Atmosphäre Urbanen Sprechens, das immer etwas weniger verbindlich ist, als es der Comme~ilyöMi-Kodex den 'besseren' Kreisen auferlegt. Das System der geschmeidigen Übergänge®'*' ist charakteristisch für die subtile Dispositionskunst des Horaz, deren offenkundige Unangestrengtheit der zugnmdeliegenden Feile Hohn zu sprechen scheint®^". Der unprätentiös gleichsam en passant entfaltete Sermon stimmt aufs genaueste zu den epikureischen Lehren über die in allen Lebensfragen wünschbare Unaufgeregtheit. Nonchalance feit den Autor gegen den möglichen Vorwurf fanatischer Parteinahme. Auch durch den Verzicht auf die namentliche Nennung der critici, denen der Dichter entgegentritt, vertiert die Kontroverse an Schärfe®^'. Das Vorurteil bezügnächst Verf., Römische »Avantgardai«. Von dai hellenistischen Anfängen bis zum 'archaistischai' Ausklang, in: ders. (Hrsg.), Zwischen Tradition und Innovation. Poetisdie Verfahren im Spannungsfeld klassisch-antiker und modemer Literatur und Literaturwissenschaft (erscheint). Vgl. Bringmanns skeptische Einschätzung der Wirkung der augusteischen Poesie in den Kreisen der Gebildeten (ebd., 2 5 5 f ) . - Zu den künstlerischen Überzeugungen des Horaz s. den noch immer wertvolloi Aufsatz von E.-R. Schwinge, Zur Kunsttheorie des Horaz, Philologus 107, 1963, 75-96. Siehe p. 46. 7 - 1 2 R[eifferscheid]. Büchner urteilt gar, die Partie 5-27 könne man "wirklich nicht ernst nehmen. ... Es sind Kapriolen, in denen sprunghaft das, was Horaz im ersten Teil b e w ^ , erreicht wird" (Horazens Literaturepistel an Augustus, in: Studien zur römischen Literatur, Bd. 8, Werkanalysen, Wiesbaden 1970, 97-115, dort 99). S. hierzu bes. F.Klingner, Horazens Brief an Augustus, SBAW 1950, Heft 5, bes. 20f (= ders., Studien zur griechischen und römischen Literatur, Zürich/Stuttgart 1964, 410-32, dort 422f ). "" Zu Recht spricht C.Becker, Das Spätwerk des Horaz, Göttingen 1963, 227, von "scheinbarer Zufälligkeit und Spontaneität" (die Hervorhebung von mir), die im BriefAufbau walte. Zum B^riff des κριτικός und seinen lateinischen Aequivalenten s. die 2. Appendix bei Brink Ш 414-19. Daß hier vomdimlich Varrò und die von ihm abhängigen
Horazens »Archäologie« der römischen Literatur
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lieh der Verdienste der 'Alten' ist so weit verbreitet, daß Horaz die Rubrizierung auf die 'FacMeute' rasch aufgibt und den Überbegriff der Roma potens (61) bzw. des vulgus (63) vorzieht. Wenn vom literaturgeschichtìichen Gehalt der Epistel die Rede ist, denkt man für gewöhnlich zunächst an die 'Archäologie' 139ff. Die sozialanthropologischen Aufstellungen dieses zentralen Briefteils dürfen in der Betrachtung freilich nicht isoliert werden von jenem früher stehenden Kanon der Kritiker (50ff ), der als 'Vulgärhistorie' {interdum valgus rectum peccai) den Hintergrund abgibt, von dem sich Horaz' kulturhistorische und -psychologische Darstellung vorteilhaft abheben kann. Die offensichtliche Willkür der überlieferten Setzungen {est vetus atque probus, centum qui perficit annos, 39), die Unverbindlichkeit und Überspanntheit der Vergleiche mit griechischen Vorbildern {dicitur Afrani toga convenisse Menandro, 57), das sklerotisch Undynamische des ererbten Wertehorizonts wird transzendiert durch die herausfordernd lebensweltliche Disposition des Horazischen Gangs durch die Entwicklung der römischen Literatur: Die lebendige Schilderung eines ländlichen Fests entpuppt sich als Ätiologie der Fesceninnen-Poesie. Die Geschichte des Spottverses, der sich bald zur ungezügelten Grobheit {saevos iocus), ja offenen Tollheit {aperta rabies) entwickelt, wird in Kürze als "rezeptionsästhetisches" Phänomen entwickelt. Griechenlands wachsender Einfluß nach seiner Eroberung bildet die Zäsur in der Scheidung der "Epochen"^^^. Erst jetzt wird deutlich, daß alles Frühere gleichsam zur "vorliterarischen" Zeit rechnen muß. Als Maßstab wird nun die Kunstfertigkeit {artes, 156), der feine Geschmack {munditiae, 159) errichtet - und zwar rückwirkend auch für die ersten Anfänge der Versdichtung. Äußeres Kennzeichen für die neue kunstmäßige Ausrichtung der "Literatur" ist das Schwinden des atavistischen satumischen Versmaßes;
"Varronianer" (so zuerst Leo, Geschichte der römischen Literatur, 399 Aniti. 2) gemeint seien, ist unumstritten (vgl. KiessUng/Heinze, ad loc., H.Dahlmann, Varros Schrift 'de poematis' und die hellenistisch-römische Poetik, Abh.Ak.Wiss.u.Lit. Mainz 1953, Nr. 3, 146f., C.O.Brink, Horace and Varrò, m: Varron, Entretiens EX, Genf 1963, 173-206, passim, ders. Π 85-91 u. Rudd, ad loc.). Aufschlußreiches zum sozialen Milieu der 'G^ner" bei Bringmann, ebd., 245^8. A b w ^ g scheint mir der Gedanke, daß an der berühmten Stelle 156f.: Graecia capta ferum victorem cepit et artes / intulit agresti Latió 'artes' die archäologische Ausbeute des Mummius bezeidinen sollai (in diesem Sinne G.Nend, Graecia capta ferum victorem cepit (Her., Ep., 2, 1, 156), ASNP 8/2, 1978, 1007-23; zuriickgewiesen schon von Brink, ad 156 bzw. 156/7). Widitiges zum kulturiiistorischen Hintergrund des Passus jetzt bá A.Henrichs, Graecia Capta. Roman Views of Greek Culture, HSPh 97, 1995, 243-61.
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Literaturgeschichte im Zeichen der querelle
"...
sed in longum tarnen aevum
manserunt hodieque manent vestigia n m s " (159f ).
Solche Einschätzimg ist ein sicheres Indiz für das ausgebildete kulturhistorische Bewußtsein des Horaz. Die römische Literatur hat sich zwar seit ihren Anfängen beträchtlich entwickelt, jedoch ist der Prozeß der Verfeinerung der Maßstäbe und - danach - der Kunstwerke noch auf lange nicht abgeschlossen. Aus der nüchtern-pessimistischen Feststellimg spricht vernehmlich der Glaube an die Perfektibilität der literarischen Gattungen. Bekanntlich hat Charles O. Brink, der beste moderne Kermer der Horazischen Briefe, versucht, die literarhistorische Lektüre der Augustusepistel zugunsten der literarkritisehen zurückzudrängen®'^. Und dies mit einigem Recht. Es galt, den vielerlei Versuchen einer oft genug grotesken Vereinnahmung des Kunstbriefes als eines quellenmäßigen Zeugnisses zu wehren. Wieder und wieder wurde der Text bemüht, sei es die Varronische, sei es die - abweichende - Accianische Rekonstruktion der Römischen Bühnengeschichte zu stützen®^'*. Solcher Mißbrauch erklärt sich zum Teil aus der Inteφretationsgeschichte der Sermones, deren ästhetische Schätzung seit jeher zu den schwierigsten Fragen der Philologie gehört®^'. Friedrich Klingner vor allem hat aufgeräumt mit der absurden Verszählerei und arithmetischen Esoterik etwa noch Kurt Wittes und einem angemesseneren, kunstgerechteren Verständnis der Briefe neue Wege eröffnet®'®. So irritierend Brinks Auskunft sich ausnehmen mag, daß Horaz nicht durchaus eine bestimmte Chronologie vor Augen gehabt haben müsse®'^, sondern mit beEbd. (Anm. 634), passim, bes. 183-86 u. 206. Ganz ähnlich verfahrt er mit dai verwandten Stellen der Ars poetica, vgl. nur die einleitenden Bemerkungen zu ars 275-84, Brink, Horace on Poetry Π: The 'Ars poetica', Cambridge 1971, 311 ("quasi-historical character"). Die wichtigsten bibliographischen Angaben bei Brink, ebd., 206f. Besormaies zur Quellenfrage schon bei R.Reitzenstein, Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspiels (1918), in: ders., Aufsätze zu Horaz, 29-54, dort, S. 50, über Hör. ^ i s t . 2, 1, 161fF.: "Was Horaz weiter hinzufügt, sind allgemeine Betrachtungen, für die er eine antiquarische Quelle nicht bedarf. Wenn er wirklich in v. 162 die falsche Datierung des Andronicus durch Accius voraussetzt, was mir nicht ganz sicher erscheint, so ist nur er selbst, nicht die Quelle, für dies Festhalten an einem längst berichtigten Irrtum seines Ldirers verantwortlich". Vgl. die einschlägigen Kapitel bei E.Stemplinger, Horaz im Urteil der Jahrhunderte, Leipzig 1921, und in dem Sammelband Orazio nella letterattira mondiale, hrsg. ν. E.Castle, A.Forsström u.a., Rom 1936. Vgl. die Würdigung durch E.Burck im Nachwort zur 5. Aufl. des Kommentars von Kiessling/Heinze, Berlin 1957, 3 8 1 ^ 2 5 , dort 398. So ist schon nach Becker, ebd., 216, "die Frage, welches Jahr, welchen Zeitpunkt Horaz bei der Wendung post Punica bella im Sinne hat, allem Anschein nach überhaupt
Bausteine literaturgeschichtlichen Bewußtseins
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wußter Ungenauigkeit von literaturwissenschaftlicher Akribie sich femgehalten habe, so treffend ist damit doch das approximative, zugleich assoziative, ganz über die konkrete Anschauung organisierte Verfahren des Dichters charakterisiert. Freilich muß die vernünftige Ablehnung einer Suprematie des literarhistorischen Standpunktes nicht bedeuten, daß man zugleich über die evidenten Bausteine eines fortschrittlichen literaturgeschichtìichen Bewußtseins hinwegsieht. Gradmesser der diagnostizierten Entwicklung ist der Kunstverstand der Autoren; indem sie sich - spät genug ( 1 6 1 f ) - den griechischen 'Originalen' zuwandten, es dabei jedoch an der nötigen Feile {litura, 167) fehlen ließen, haben sie raschere, deutlichere Fortschritte ihres Métiers verhindert^^^. Am Beispiel des geschäftstüchtigen Plautus wird ex negativo die Perspektive einer möglichen Vervollkommnung der Gattung entwickelt (170-76)"^. Es zeugt vom Urbanen Tonfall der Literaturepistel, daß mit Unmutsäußerungen über die bornierte Ästhetik der zeitgenössischen Kritik zwar nicht gespart wird, die eigene 'Partei' jedoch zumeist diskret im Hintergrund verbleibt. Horaz vermeidet das laute Bekenntnis, die aggressive Programmatik. Die "Neuerer' erscheinen in der Defensive, eine Position, die geeignet ist, sich sehr vorteilhaft von der blindwütigen Idolatrie der Konservativen abzuheben: "iam Sallare Numae carmen qui laudat et ilbd quod meciun ignorât solus vult scire videri, ingeniis non ille favet plauditque sepultis, nostra sed inçugnat, nos nostraque lívidas odit" (86-89). Das Eigenrecht der neuen literarischen Bewegung, der Horaz sich zurechnet, wird aus der polemischen Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist entwickelt. Ihre Ziele sind aus dem Katalog der Mängel abzuleiten, die falsch gestellt". Der Nachdruck in 162 l i ^ e entschieden auf quietus. Schon "an den Griechen hat er [sc. Horaz] früher herausgehoben, daß sie sich beim Aufatmen nach schwerster äußerer Bedrängnis der Dichtkunst zuwandten (a.p. 208fF., im Augustusbrief selbst 93fF.)". Auch Henrichs, ebd. (Anm. 652), betont die Ambivalenz der Horazischen Chronographie: "Horace was a poet, not a historian of Latin literature, and it would be risky business indeed to demand documentary accuracy from him. We must not press him too hard on such matters" (255). Der Vorwurf mangelnder Feile trifft die fruhrömische Literatur auch ars 290-94; auch dort war der Blick auf Thespis u. Aischylos (u. die ältere Komödie) (275-84 in Form eines kurzen historischen Abrisses) vorausg^angen. Auch in der Ars poetica gibt Plautus das Beispiel technischer Unvollkommenheit ab: ars 270-74; sogar sein Witz wird als inurbanum in Zweifel gezogen.
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Literaturgeschichte im Zeichen der quereile
passim an der älteren Dichtung aufgezeigt werden. Die positive Bestimmung der horazischen Dichtungsideale kann freilich sowenig wie der literarhistorische Unterbau mit wissenschaftlicher Schärfe gefaßt werden. Dies wird nur zum Teil an den (wohl früher zu datierenden) einschlägigen Ausführungen der ^ ra poetica liegen, auf die der Leser bequem rekurrieren koimte. Wichtiger ist die konsequente Verfolgung eines indirekten, bisweilen ironisch gebrochenen®^" Demonstrationsverfahrens, das darauf verzichtet, einer Partei, die das Alte um seines Alters willen schätzt, das Neue um seiner Neuheit willen bekämpft, dadurch zu begegnen, daß es in den gleichen sturen Mechanismus "unter umgekehrten Vorzeichen" verfällt. Die Literatur der (augusteischen) Gegenwart ist in einer prekären Lage. Gegen den obstinat dem Alten nachhängenden Geschmack der breiten Masse und einflußreicher Kritiker steht eine Gruppe von Autoren, deren literarische Anfänge zur Zeit der Bürgerkriegswirren liegen, die sich dem eben neu entstehenden Hofe verbunden fühlen und teils direkte Beziehungen zum Kaiser pflegen, teils sich im näheren Umkreis der patronage durch einflußreiche Kaiserfreunde erfreuen. Gegen das Beharrungsvermögen der Konservativen wie den Dilettantismus der dichtenden Masse (108-17)®®' setzt Horaz die unhintergehbare Forderung der Vervollkommnung der Künste. Die vestigia ruris (160) gelte es auszumerzen. Feile und Schweiß {sudor, 168f) bei der Verfertigung der Bühnenstücke einzufordern. Viel größere Aufmerksamkeit als das nach grellbunten Effekten haschende Theater verdiene die 'Leseliteratur', der besondere Förderung durch den princeps zu wünschen sei (214ff ). Der Entwicklungsgedanke hebt die ahistorische blinde querelle auf, die Horaz imd die Seinen selbst geschaffen haben, indem sie gegen die vorherrschenden Meinungen auf den Plan traten; in literaturgeschichtsphilosophischer Perspektive ist eine quereile, solange die in Rede stehende Literatur entwicklungsfähig ist, immer schon entschieden. Der literaturkritische, auf Verfeinerung der Kunstwerke bedachte, also immer auch literarhistorische Blick, der in seinem Ungenügen am status quo eine obsolet gewordene Gegenwart in die Geschichte zurückdrängen möchte, behauptet sich gegen die
Die Ironie ist sehr stark betont schon von Klingner, ebd. (Arm. 649), u. Lefèvre, ebd. (Anm. 639). Beide verweisen auf die kunstvolle Formulierung besonders der ironischai Selbstkritik im Zentrum des Briefes U l f (Klingner, 419-21, Lefèvre, 316). Becker, ebd., 199, sidit richtig, daß der Dichter bei der Schilderung des munteren Versifizierens "dem protreptischen Sinn (aus)weicht", den die ähnlich gearteten Stellai ars 379ÍF. u. 412ff. haben. Das paßt zum Urbanen Tonfall der jüngeren Epistel. Die Distinktionen der Ars poetica wirken freilich fort, es genügt ein reminiszierendes Bild, sie dem Leser des Augustus-Briefes sofort vor Augen zu fuhren.
Literaturgeschichte und Avantgarde
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Starren Doktrinen der Varronianer, die einst selbst einen bedeutenden Richtimgskampf abscHießend für sich entschieden: den der eingeschworenen Hellenisten und selbstbewußten römischen "Neuerer'. Als Mitschöpfer und Schilderer der frühaugusteischen querelle steht Horaz zugleich in und außer, d.h. über ihr; deshalb die vornehme Zurückhaltung; borniertes Parteigängertum wird überwunden durch die Balance, die erst das Literaturgeschichtliche errichtet. Hatte Horaz noch in den Satiren den Einzelkampf gegen den großen Vorgänger Lucilius gefochten und nur an ihm sich gemessen und ihn durch die Einforderung und Einlösung von Maßstäben überwunden, die nicht von ungefähr an die bedeutenden Postulate der Spätzeit erinnem®^^, so ist der Autor des Augustusbriefs sich selbst historisch geworden. Er ist - nach dem Renommée seiner literarischen Interventionen zu urteilen - Protagonist einer Avantgarde, die durch hellwache, hochbewußte Rekonstruktion der nationalen und griechischen (!) Literaturgeschichte sich selbst als Teil und vorläufigen Abschluß einer Entwicklung konstituiert. Bemerkenswert ist dabei, daß der Dichter den Kampf für die neuere Poesie auf jenen literarischen Feldern ausficht, auf denen er selbst sich - nach eigener Aussage - nie versucht hat; in der dramatischen und epischen Form. Wie wertvoll die von Horaz so häufig geübte recusatio gerade im Kontext des Augustusbriefes ist, wird, meine ich, erst vor dem Hintergrund der querelle und ihrer literaturgeschichtlichen 'Aufliebung' deutlich. Die Unbescheidenheit, die in der vollständigen Ablehnung eines literarischen Betriebes liegen mochte, den der Kaiser nicht durchaus verwerfen wollte, wird aufgewogen durch die 'Inszenierung' einer Bescheidenheitstopik in der 'peroratio' der Briefrede. Indem die Lyrik und ihre zeitgenössische Kritik ausgelagert ist in die Diskussionen des Florusbriefes und der Epistel I 19, rückt Horaz scheinbar außerhalb des Zentrums der literaturkritischen Debatte. Wenn seine vehemente Fürsprache für eine erneuerte Poesie irgend glaubwürdig scheinen sollte, mußte allzu deutliche Autoapologetik möglichst vermieden, die Entscheidung auf anderem Gebiet herbeigeführt werden. Übrigens ist mir nicht sicher, daß Augustus von Horaz je einen großen epischen Wurf erwartet haben soll, wie die meisten Inteφreten in allzu großem Zutrauen auf die Selbstdarstellung des Autors annehmen. Wenn Horaz aber Zur Auseinandersetzung mit Lucilius s. außer in den einschlägigen Kommentaren G.C.Fiske, Lucilius and Horace - A study in the classical theory of imitation, Madison 1920 (Nachdr.: Hildesheim 1966), W.J.N.Rudd, Horace on Lucilius, (Diss.) Dublin 1958 (ms ), ders.. Had Horace been criticized? A study of Serm. I, 4, AJPh 76, 1955, 165-75, ders., The poet's defence. A study of Horace Serm. I, 4, CQ 5, 1955, 142-56, sowie С W.Müller, Aristophanes und Horaz - Zu einem Veriaufsschema von Selbstbehauptung und Selbstgewißheit zweier Klassiker, Hermes 120, 1992, 129-41.
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Literaturgeschichte im Zeichen der querelle
nicht auf eine solch einschlägige Aufforderung reagieren konnte, so mußte diese imbedingt fingiert werden. Der Autor hat seinen epistolaren kleinepischen Kampf gegen die Begrenzungen der zeitgenössischen Literaturkritik gefochten. Augustus dediziert er so ein Werk, das aus der pointierten Verweigerung eines vorgeblich Angesonnenen herauswächst imd als selbstbewußtes Bekenntiüs zu einer neuen römischen Literatur Verfasser
wie
Adressaten zufiiedenstellen mochte.
"necesse est ergo me ad delidas componam memoriae meae ... (Sen., contr. 1, praef. 5) "semper citra veritatem est similitudo." (id., ibid., 6)
Kürzer fassen körmen wir uns bei der Erörterung der beiden anderen 'Supplementär'-Literarhistoriker: des älteren Seneca und Tacitus'. Das 'querellistische' Interesse des ersteren köimte von dem des Horaz verschiedener kaum sein. Seneca ist nicht eigentlich Partei®®^. A m Ende seines Lebens, das ihn von den Wirren der späten Republik bis in die Zeit des Caligula geführt hat®^^ liefert er in seinen Erinnerungen' reiches Anschauungsmaterial aus dem rhetorisch-literarischen Betrieb der frühen Kaiserzeit^^^. Alle großen Nichts deutet daraufhin, daß er selbst als Redner in Erscheinung getreten ist. Auch den Beinamen riwtor f№rte er in der Überlieferungsgeschichte allem Anschein nach zu Unrecht. S. zuletzt L.A.Sussman, The Eider Seneca, Leiden 1978, 25; J.Fairweather, The Eider Seneca and Declamation, m: ANRW Π 32, 1 (1984), 514-56, dort 518 ("Speculation about his main occupation in life ... must continue to prove fruitless"), sowie dies., Seneca the Elder, (Diss. London 1977) Cambridge 1981, 8. Zur Datierung der Schrift s. Sussman, ebd., 92f (R^erungszeit des Caligula); vgl. K.Heldmann, Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst, München 1982, 92 Anm. 156, der "eine Niederschrift unter Tiberius zwecks späterer Publikation nicht aus(...)schließen" will. Noch 1902 konnte H.Bomecque in der Einleitung seines anr^enden Buches Les déclamations et íes déclamateurs d'après Sénèque le père, Lille (Nachdr.: Hildesheim 1967), die eklatante Vernachlässigung der Rhetorik-Forschung innerhalb der Юassischen Philologie beklagen ("Jai à é frappé de voir à quel point l'étude de tout ce qui touche aux déclamations et aux déclamateurs avait été n^igée, peut-être plus encore à l'étranger qu'en France", 1). Seither sind mehrere bedeutende Studien erschienen. Außer den oben genannten Büchern von Sussman und Fairweather (vgl. die schöne synkritische Rez. durch T.Piscitelli Carpino, A proposito di due recenti studi su Seneca Retore, BStudLat 12, 1982, 24-33) nenne ich nur S.F.Bonner, Roman Declamation in the Late Republic and Early Empire, Liveφool 1949 (Nachdr.: 1969), G.A.Kennedy, The art of rhetoric in the Roman world, Princeton 1972. Vgl. auch die knappen Annotationen bei M.Winterbottom, Roman Declamation, Bristol 1980.
Senecas Mémoirenwerk
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Redner hat er g e h ö r t ^ , viele woM auch persönlich gekannt. D i e Diagnose, die er - in der praefatio zum ersten Buch der controversiae^^ - dem deklamatorischen Betrieb der Gegenwart ausstellt®^^, ist alles andere als günstig: von seinen drei Söhnen®^' aufgefordert, "quid de his declamatoribus sentiam, qui in aetatem meam inciderunt, indicare et si qua memoriae meae nondum elapsa sunt ab Ulis dicta coUigere" (contr. 1, praef
If
erklärt er sich zur Übernahme des gewünschten Unternehmens auch aus dem Grunde bereit, "ut possitis aestimare, in quantum cotidie ingenia decrescant et nescio qua iniquitate naturae eloquentia se retro tulerit" (ebd. 6). Seneca ist - nach Ciceros pessimistischem Ausblick im rhetorischen Spätwerk^^' - der erste, der das Thema anschlägt, das von da an den rhetoriktheoretischen
und -geschichtlichen Diskurs des ersten nachchristlichen
Jahrhunderts prägen wird: der allmähliche Verfall der Redekunst^^^. Als mögliche Ursachen erwägt Seneca deren drei: Omnes autem magni in eloquentia nominis excepto Cicerone videor audisse (§11) Über die Senecani sehen praefationes handelt nur ioiapp T. Jansen, Latin Prose Prefaces - Studies in Literary Conventions, Stocidiolm 1964, 49f.; wichtig der Hinweis, daß hier zuerst in der überlieferten rhetorischen Literatur Vorreden in Briefform gekleidet sind Vgl. auch Sussman, ebd., 51-58, bes. 51 u. Anm. 51. Über die erste praefatio s. bes. des letzteren frühere Studie: The Artistic Unity of the Elder Seneca's First Preface and the Controversiae as a Whole, AJPh 92, 1971, 285-91. Die eingdiendste Untersuchung des kunst- und stilkritischen Sprachgebrauchs des Autors ist noch immer H.Bardons Le vocabulaire de la critique littéraire chez Sénèque le rhéteur, Paris 1940 (Lexikon mit wertvollen Anhängen). ^^ Zur Topik der Adresse s. die erhellenden Bemerkungen ba C.W.Lockyer Jr., The fiction of memory and the use of written sources: convention and practise in Seneca the Elder and other authors, (Diss.) Princeton 1971, 195-205. Alle Zitate nadi L.Hâkansons Teubneriana (L.Annaeus Seneca maior - Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores, ree. L.H.), Leipzig 1989. Daneben ist immer zu vergleichen M.Winterbottoms vorzügliche Ausgabe, 2 Bde, Cambridge (Mass.) 1974. Wichtige Beiträge zur Textkritik durch W.S.Watt, Notes on Seneca "Rhetor", HSPh 88, 1984, 103-12 (nidit mdir berücksichtigt von Häkanson), sowie S.Lundström, Vindikationen zu Senecas Controversiae und Suasoriae, Eranos 91, 1993, 106-19. " ' S . oben S. 101. ^^ Noch immer wertvoll die Hinweise in Nordens Kunstprosa, 1, 245-48. S. audi H Capian, The Decay of Eloquence at Rome in the First Century, in: Studies in Speech and Drama, FS A.M.Drummond, Ithaca 1944 (Nachdr.: New York 1968), 295-325, K.D.Bracher, Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen Kaiserzeit. Studien
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Literaturgeschichte im Zeichen der querelle
1) den luxus temporum {nihil enim tarn mortiferum ingeniis quam luxuria est), 2) den Umstand, daß cum pretium pulcherrimae rei cecidisset, translatum est omne certamen ad turpia multo honore quaestuque vigentia^^^, 3) fatum quoddam, cuius maligna perpetuaque in rebus omnibus lex est, ut ad summum perducta rursus ad infimum velocius quidem quam ascenderant relabantur (§7). Nur auf den ersten Punkt geht Seneca mit großer Ausführlichkeit ein^^''. Er zeichnet ein überaus drastisches Bild von der décadence der römischen Jugend; Gedanken und Sprache erinnern stark an die einschlägigen Partien im Geschichtswerk des Sallust®^'. Seneca beschließt sein Sittengemälde mit dem pathetischen Ausruf:
zum ZeitgefiUil und Geschichtsbewußtsein des Jahrhunderts nach Augustus, Wiai/Köln/Graz 1987 (ursprgl. ms. Diss. Tübingen 1948), Bonner, ebd., 71f., K.H.O.Schönberger, Die Юagen über den Verfall der römischai Beredsamkeit im ersten Jahrhundert nach Christus. Ein Beitrag zum Problem der Dekadenz, (ms. Diss.) Würzburg 1951, G.Williams, Change and decline - Roman literature in the early empire, Berkeley/Los Angeles/London 1978, 6-51, E.Fantham, Imitation and decline: Rhetorical theory and practice in the first century after Christ; CPh 73, 1978, 102-16, L.A.Sussman, The Elder Seneca's Discussion of the Decline of Roman Eloquence, CSCA 5, 1972, 195-210, sowie bes. Heldmann, ebd., passim, v.a. 60-62 u. 91-97, u. S.Döpp, Nec omnia apud priores meliora. Autoren des frühen Prindpats über die eigene Zeit, RhM 132, 1989, 7 3 101.
Die ersten beiden 'Gründe' sind auch bei Ps.-Longin, freilich in umgekehrter Reihenfolge, behandelt (§44); zu weiterem s. Heldmann, ebd., 286-93. Eine schöne Würdigung des Saiecanischen Ursachenkatalogs bei Sussman (1972), ebd.; vgl. jedoch die wichtigen Korrekturen durch Heldmann (s. die nächste Anm.).Sussman zieht aus seiner Inteφretation des Passus die bemerkenswerte Schlußfolgerung: "... both the Controversiae and to a lesser extent the Suasoriae should now be recognized for what they are: works of literary history, which preserve examples of the past, speculate on literary developments, and display excellent critical standards" (209). Man vgl. vor allem die Vorrede der Coniuratìo Catilinae 10, 1; hist. frg. 1, 12 u. 16. Auf auffallige Übereinstimmungen mit der Haltung des Velleius macht A.D.Leeman, Orationis ratio, Amsterdam 1963, 248f., aufmerksam (die comparatio jetzt auf ein noch breiteres [nämlich auch sprachlich-stilistisches] Fundament gestellt von J.Hellegouarc'h, Velleius Paterculus et Sénèque le Rhéteur: remarques de langue et de style, in: Hommages à H.Bardon, hrsg. v. M.Renard u. P.Laurens, Brüssel 1985, 212-24).- Richtig betont Heldmarm, ebd., g ^ e n Ältere, daß Seneca dem Sittenverderb mit Blick auf den Verfall der Redekunst größere Bedeutung beimißt als einem etwa kritisch diagnostizierten Wandel der politischen Verhältnisse: "Sicher weiß Seneca sehr gut, daß die Beredsamkeit im Rom der Republik eine andere Funktion erfüllt hat als zu seiner Zeit. Aber er sidit darin kein Problem und weiß nichts von einer historischai Krise der Redekunst" (96; g ^ e n Sussman [1972]). Zur politischen Ätiologie des Maternus im Taciteischen Dialogas s. unten S. 204f
Die Verfallsthese
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"in hos [gemeint sind die verweicMchten Jünglinge] ne dii tantum mali ut cadat eloquentia®'®; quam non mirarer, nisi ánimos, in quos se conferret, eligeret" (§9). Damit ist zugleich der Anknüpftmgspunkt für eine Rudimentärgeschichte der römischen Beredsamkeit gegeben, die Seneca mit patemalischem Gestus als charismatische entwickelt. Er rühmt Cato um seines Ideals vom sittlichen Redner willen und hebt Cicero als Rieht- und Höhepunkt der Rhetorikgeschichte hervor®". Von anderen Rednern schweigt er®'^. Indem über der Behandlung des Catonischen Rednerideals {orator est. Marce fili, vir bonus dicendi peritus, Cato-Zitat §9) die ethische Fundierung der Beredsamkeit in den Blick kommt (an der, wie wir sahen [S. 171], noch Qiuntilian festhalten wird)®^^, tritt die Kluft, die solchen Anspruch von einer geschichtsvergessenen, selbstgefälligen Gegenwart trennt, desto deutlicher zutage: "ite nunc et in istis vulsis atque expolitis et nusquam nisi in libidine viris'*° quaerite oratores. merito talia habent exempla qualia ingenia, quis est qui memoriae studeat? quis est qui non dico magnis viribus sed suis placeat? sententias a disertissimis vins factas facile in tanta hominmn desidia pro suis dicunt et sie sacerrimam eloquentiam, quam praestare non possunt, violare non desinunt" (§10). Der dreisten Akklamation des Eigentumsrechts am literarischen Fremdbesitz gilt es durch die Kjaft der memoria zu wehren:
Vgl. auch des jüngeren Plinius Klagen über die Depravation der Centumviralgerichtsbarkat durch Horden von audaces atque etiam magna ex parte adulescentuli obscuri (epist. 2, 14, 2), die ohne angemessaie Einführung bei Gericht gleich mit Centumviralprozessen begönnen. Vgl. A.F.Sochatoff, Basic Rh^orical Theories of the Elder Seneca, CJ 34, 1938/39, 345-54, dort 347. S. auch oben Anm. 615. Calvus, immerhin, wird - mit Cicero - als Theor^iker eingeführt, der dem römischen Deklamationswesen terminologisch die Bahn bereite hat (§12). J.B.Hall, Seneca, Controversiae 1. praef. 12, PACA 12, 1973, 11, brtrachtrt die Worte "Ciceronem et" (§12) als 1п1ефо1айоп und läßt Seneca somit allein dem Calvus die Einführung des terminus technicus 'declamatio' zuschreiben. Zum Problem der Moralität in der Deklamationliteratur s. jetzt G.Anderson, Ut ornatius et uberius dici posset. Morals into Epigram in the Elder Seneca, in: Ethics and Rhetoric. FS Donald Russell, hrsg v. D.Innes, H.Hineu. C .Pellmg, Oxford 1995, 75-91. D.R.Shackleton Bailey, More on Seneca the Elder, Philologus 137, 1993, 38-52, dort 38, vergiácht jetzt Ног. carm. 1, 37, 9f
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Literaturgeschichte im Zeichen der quereile
"ipsis quoque multum praestatunis videor, quibus oblivio imminet, nisi aliquid, quo memoria eorum producatur, posterie traditur" (§11). ffier fassen wir ein Leitmotiv der Senecanischen 'ErzäHung' an der Wurzel: den Wunsch, daß das rednerische Vermächtnis der post-ciceronischen Generationen in der memoria überdauere®^'. Dabei beflügelt den Historiographen ein geradezu wissenschaftlich zu nennender Erkeimtnistrieb: "fere ... aut nulli commentarli maximoram declamatorum extant aut, quod peius est, falsi, itaque, ne aut ignoti sint aut aliter quam debent noti, summa cum fide suiun cuique reddam" (§11). Es ist befremdlich, daß die moderne Altertumswissenschaft mit solchen Bekenntnissen beinahe nichts anzufangen gewußt hat. Wo der ältere Seneca überhaupt begegnete, wurde er lange zumeist im Zusammenhang der frühkaiserzeitlichen Deklamationspraxis als Quellenautor 'ausgeschlachtet'. Symptomatisch etwa die 'Behandlung' durch Schanz/Hosius im 2. Band der Geschichte der römischen Literatur, wo Seneca - im Unterschied zu den von ihm behandelten Rednern - nicht einmal ein eigenes Kapitel gewidmet ist; vielmehr muß man die einschlägigen Informationen einem Abschnitt entnehmen, der überschrieben ist: Die Schulberedsamkeit und der ältere Seneca als Quelle^^^. Solche Subsumption ist bezeichnend für den funktionalistischen, technizistischen Zugriff der 'Literatur'-Geschichtsschreibung in späthistoristischer Zeit. Wie fremd die Autoren dem "schillernden" Textcoφus gegenüberstehen, verrät schon der einleitende Satz: "Unsere Kenntnis von der Beredsamkeit der ersten Kaiserzeit beruht auf einem merkwürdigen Buch, auf einer Blumenlese Senecas"®®'. Dabei ist der Ausdruck "Blumenlese" in postmodemer Perspektive nicht einmal unglücklich gewählt. Seine Autoren gebrauchen ihn jedoch eindeutig peiorativ. Anders kötmte man sich eine Bemerkung wie die folgende iticht erklären:
Über den latmotivischen Charakter des ebd., 78 Anm. 140. SchanzMosius, §335, S. 338-42. ^^^ Ebd. 338.
memoria-Thmas vgl.
Sussman (1978),
Desiderate der Seneca-Forschung
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"Die Anthologie Senecas wurde allem Anschein nach viel benutzt. Nur so läßt sich erklären, daß jemand auf den Gedanken kommen konnte, einen Auszug von den zehn Büchern der Controversiae zu verfassen"®*". Wenige Philologen werden bemerkt haben, daß der ältere Seneca wohl der einzige römische Autor von Rang ist, der bis heute einer Übersetzung ins Deutsche harrt. Dagegen ist er früh - und gleich zweimal - ins Französische übertragen worden: Den 'klassischen' Versionen durch Mathieu de Chalvet (Paris 1604) bzw. B.Lesfargues (Lyon 1663)®®' trat 1902 das großartige Übersetzungswerk Henri Bomecques zur Seite, das 1992, behutsam überarbeitet von Jacques-Henry Bomecque und versehen mit einer glänzenden préface von Pascal Quignard, in neuer (dritter) Auflage erscheinen konnte®^®. Eine englische Übersetzung von hohem Rang hat 1974 M. Winterbottom seinem vorzüglichen Text beigegeben^®^. Während unsere phantasiebegabten und rhetorisch versierten französischen und englischen Nachbarn mindestens seit Ende der siebziger Jahre dem Autor manch feine Detailstudie gewidmet haben®®®, verharrt die deutsche Forschung - mit der rühmlichen Ausnahme des anregenden Abschnitts in von Albrechts Geschichte der römischen Literatu/^^ - in hartnäckigem Schweigen. Diese vollständige Abstinenz ist umso verwomderlicher in Zeiten, da die Erforschung des "kulturellen Gedächtnisses" zumal in deutschen Akademikerzirkeln sich der größten Beliebtheit erfreut®'". Die Lektüre des älteren Seneca könnte feien gegen die Überschätzimg der als Innovation gefeierten cultural studies. So sehr man namendich Jan Assmanns ftmdierte kulturwissenEbd. 339. Lesfargues hängt jedoch weitgehend von de Chalvet ab; vgl. Sussman (1978), ebd., 172 Anm. 95. Eine zweite Auflage war 'Paris 1932' erschienen. ' ' ' The Eider Seneca - Declamations, transi, by M.Winterbottom, 2 Bde, Cambridge (Mass.)/London 1974. S. oben Anm. 665. In Bd. 2, München 1994, 987-94. Vgl. S.J.Schmidt in der Einleitung seines Beitrages zum Sammelband Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hrsg. v. A.Assmann u. D.Harth, Frankfurt a.M. 1991, 378: "Gedächtnisforschung hat Konjunktur: Eine neue Zeitschrift Memory and History ist g^ründet worden, Sammelbände werden publiziert..." etc.- Im selben Jahr konstatiert A.Haverkamp, Auswendigkeit - Das Gedächtnis der Rhetorik, in: Gedächtniskunst: Raum - Bild - Schrifl - Studien zur Mnemotechnik, hrsg. v. A.Haverkamp u. R.Lachmann, Frankfurt a.M. 1991, 25-52: "Während in Sachen Erinnerung und Gedächtnis Bergson und Freud, Proust und Benjamin längst zur abg^riffenen Münze im ideologischen Geschäft zwischen 'Theorie der Gesellschaft und Sozialtechnologie' geworden sind, avanciert Mnemotedinik vom antiquarischen Steckenpferd zu einem Zitat mit postmodemen Qualitäten" (25).
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Literaturgeschichte im Zeichen der querelle
schaftliche Komparatistik schätzen muß®', mehr als epistomologisch verbrämte Binsenwahrheiten kommen bei manchen seiner eifrigen Nachbeter nicht heraus^'^. Besonders das bedeutsame Reden von Oralität, Literalität, Reoralisierung etc. hat nicht immer zu wirklich neuen Erkenntnissen gefuhrt. Die Hypostasierung der Medien zur allmächtigen Substanz der Künste wird einer späteren Wissenschaftsgeschichte vielleicht einmal als Ausweis der letzten idealistischen Verstellung eines selbstvergessenen literaturwissenschaftlichen Betriebs erscheinen: Die ängstlich Gläubigen trieben die Mimikry an den profanen Stoff: den Laut, den Buchstaben, die Schrift. In Senecas erster praefatio ist es manifest, daß der Autor im Vollbewußtsein der traditionserhaltenden Macht der memoria im Medium der verschriftlichten Rede schreibt: Weil der Sachverhalt als solcher so schön wie banal ist, hat er eine Theorie daraus nicht gemacht, sondern im Vertrauen auf die Wirkung seiner Praxis seine "Erinnerungen" mit wünschenswerter Breite zu Papier gebracht. Die in der Forschimg lebhaft diskutierte Frage, ob Senecas mnemotechnische Grundlegung seiner Darlegungen glaubwürdig sei oder vielmehr als Fiktion zu gelten habe®^^, ist für uns nur insoweit von Belang, als der Nachweis des fiktionalen Charakters zugleich als Indiz für die metaphorische Bedeutung gelten könnte, die der memoria beigelegt wäre. Hätte SeneIch denke hier besonders an sein Hauptwerk Das kulturelle Gedächtnis - Schrifi, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, ^1997. Substantielle Beiträge auch von A.Assmann (in zahlreichen, tals allein, teils mit J.Assmann verantworteten Sammelbändai) u. D.Harth (zuletzt Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften, Dresden/Münchai 1998). Unterschiedlich ist das Niveau der einschlägigen Sammelbände: Schrifi und Gedächtnis - Archäologie der literarischen Kommunikation I, hrsg. v. A. u. J.Assmann u. C.Hardmeier, München 1983, ^1993, versammelt eine Fülle wertvoller Einzelstudien (ich verweise nur auf die Beiträge von Gadamer [Unterw^ zur Schrift?], 10-19, J.Assmann [Schrift, Tod und Identität. Das Grab als Vorschule der Literatur im alten Ägypten], 6493, W.Rösler [Schriftkultur und Fiktionalität. Zum Funktionswandel der griechischen Literatur von Homer bis Aristoteles], 109-22, H.U.Gumbrecht [Schrifilichkeit in mündlicher Kultur], 158-74, u. das Nachwort v. A.u.J.Assmann [Schrift und Gedächtnis], 265-84); Mnemosyne - Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hrsg. v. A.Assmann u. D.Harth, Frankfurt a.M. 1991, ist eine nicht ganz ausg^ichene Sammlung diverser sozialgeschichtlicher Aspekte der 'Erinnerung'. ' ' ' S. den Forschungsüberblick bei Lockyer, ebd. (Anm. 669), 8-16. Vgl. jetzt die nützliche Übersicht über den Kanon euroamerikanischer Gedächtniskünstler von Pythagoras bis Kasparow bei U.Emst, Die Bibliothek im Kopf: Gedächtniskünstler in der europäischai und amerikanischen Literatur, Zeitschrift f Lit.-wiss. u. Ling. 105, 1997, 86-123,Zu den loci classici für römische mnemotechnische Instruktion (Rhet.Her. 28—40, Cic.de orat. 2, 351-60, Quint, inst. 11, 2, 1-51) s. jetzt F.L.Müller, Kritische Gedanken zur antiken Mnemotechnik und zum Auetor adHerennium, Stuttgart 1996.
Die konstruktive Leistung der memoria
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ca sich - entgegen seinen Bekimdimgen - in beträchtlichem Maße auf schriftliche Hinterlassenschaft gestützt, erwiese dies nicht so sehr die Haltlosigkeit seiner Behauptungen, sondern bezeugte über den affirmativen Rekurs auf eine gesamtantikische traditionelle Topik Senecas Glauben an die konstruktive, vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsstiftende Macht der Mnemosyne, die als "kommunikatives Gedächtnis" den Faden der Erinnerung nicht abreißen läßt und schließlich als "kulturelles Gedächtnis" transpersonal tradiert wird. Nun haben spätestens die Forschungen von Lockyer erwiesen, daß der Anteil der dokumentarischen Arbeit am "Erinnenmgswerk" des Seneca betrachtìich ist®''*. Schlüsse hat man daraus keine anderen gezogen, als daß man in einem naiven Sinn die gerettete Authentizität der Senecanischen "Erinnerungen" begrüßte: "For if Seneca was relying on memory alone, the authenticity of the excerpts would be gravely suspect" (L.A.Sussman^"). Das Erkenntnisinteresse, das hier formuliert ist, ist von dem oben angegebenen, für die ältere Forschung charakteristischen Interesse am Quellenautor Seneca nicht wesentìich verschieden. Hier liegt die Peinlichkeit nicht weit entfernt, daß solcherlei Wissenschaftsdetektivik sich flugs ins postmoderne Mäntelchen der Mythendekonstruktion hüllt: "Glanz und Elend der Senecanischen memoria". Dabei gibt es mindestens zwei Gründe, an der überragenden Bedeutung der memoria jenseits aller topischen Fixierungen festzuhalten: Von Senecas intuitiver vortheoretischer Einsicht in das Konstruktionsprinzip der Literaturgeschichte als (sei es schriftlos, sei es schriftlich) eriimerter war schon die Rede. Es tritt eine tiefe innere Affinität der eriimemden und erinnerten Verfahren, der Eriimerung und des Erinnerten hinzu: Die castis selbst, die den erinnerten Rednern 2axm Vorwurf dienen, sind kollektives Gedächtnis in dem Sinne, daß sie dem reichen griechischrömischen Schatz geschichtlicher (vorwiegend juristischer) Erfahrung, aber auch - in nicht zu imterschätzendem Maße - kollektiver Imagination entstammen. Man hat schon früh erkannt, daß die römische Deklamationspraxis nur zum Teil an der Kechtswirklichkeit ihren Gegenstand hat. Schon der junge Cicero in seiner Erstlingsschrift De inventione autorisiert zu Übungs^^ Ebd., passim, bes. 158-90. Die Vermutung ist mit Bestimmtheit ausgesprochen schon bá O.Immisch, Wirklichkeit und Literaturform, RhM 78, 1929, 113-23, dort 11416. Vgl. die Darl^ungen bei Sussman (1978), ebd., 75-83.- Lehrreich Lockyers Studien zur literarischen Tradition der stilisierten memoria, denen der Großteil seines Buches gewidmet ist (bes. die Kap. Ш-VI, 49-157). Ebd., 79.
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Literaturgescbchte im Zeichen der querelle
zwecken die Fingierung von Rechtsfällen (2, 40, 118)®^ Solche "Rechtsphantasien" konnten topisch werden, wie die häufige Wiederkehr mancher bei Seneca vorkommender "Improvisationen" bei späteren Rednern und Redelehrem beweist^^^. Die senecanische memoria ist danach eine zweifache: die stiUsierte, vorgeblich authentische Erinnerung an rednerische Leistungen fhiherer Jahre und die Aufhebung des Erinnerten, das teilweise- seinerseits individuell überformte Rechtserfahrung und imagination ist. Aber vielleicht ist die Unterscheidung des 'wirklichen' vom fingierten Recht wissenschaftlich gar nicht zu vertreten, die Fiktionalität der juridischen Verhältnisse auf den ganzen Bereich auszudehnen. Daim hätte der Setzungs- und Spielcharakter des Rechtswesens®^ an den methodologischen Zurüstungen des Mnemotechnikers Seneca seine irritierende Karikatur: Dem Mnemo-Kosmos einer burlesken Welt proto- und postfingierter Rechte stünde das launische Eriimerungswerk des Autors gegenüber, der zum Ausweis wissenschaftlicher Rechtschaffenheit- eine Eriimerungsmächtigkeit fingiert, die nicht zwar die Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen erhärten kann, aber seinem Gegenstand doch darin kommensurabel ist, daß sie metaphorisch einsteht für die 'Wahrheit' der erkünstelten Welt. Was so lange die höhere Schätzung des Autors verhindert hat: die kuriose, unförmige, jeder platten Einordnung in Sparten wie 'Rhetorisches Lehrbuch', 'Rhetorikgeschichte', 'Memoirenliteratur' sich entziehende Gestalt des überlieferten Тех1софи8 - das sollte im Kontext der zeitgenössischen literaturtheoretischen Debatten ein willkommener Anstoß sein. Die vaste Memorierkunst Senecas, die Erinnerung als Obsession, die exuberante unaufliörliche Rede transzendiert die traditionelle Opposition: Literarizität versus wissenschaftliche Glaubwürdigkeit. Die ungehemmte, nur durch die tripartitio in sententiae, divisiones, colores gesteuerte Rede, der раг-/огсе-Ш\Х durch den überreichen Bilderwald (griechisch-römischer Imagination verbürgt geradezu eine parawissenschaftliche ObjektiviVgl. Bomeque (1902), ebd., 60. Bomeque hat die fingierten Fälle in einer Übersicht zusammengetragen (ebd., 6 0 63). Von dem auch manche antike Autoren eine recht prägnante Vorstellung haben; man vgl. nur die Darlegungen Philus' (als des advocatus diaboli) im 3. B. der Ciceronischen Staatsschrift (etwa 3, 18). Das Bewußtsein von der 'natürlichai' Ambiguität der Rechtssetzung hat die Entwicklung einer tragfahigen Hermeneutik der Rechtsprechung nicht gdiindert, sondern vermutlich - gefördert. Zur Vorleistung der römischen rhetorisch-juristischen Distinktionskunst für die europäische Tradition juristischer und literarischer Hermeneutik s. zuletzt O.Zwieriein, '1п1ефге1айоп' in Antike und Mittelalter, in: Interpretation, hrsg. v. G.Funke, A.Iüethmüller u. O.Zwierlan, Stuttgart 1998, 31-53, dort 32-36.
Senecas paradoxe'Modernität'
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tat. Wo Literaturgeschichte als Sammlimgsstätte diverser Projektionen gesehen, die memoria als geschichtsstiftende Kraft und der Orcus des Vergessens als reale Gefahr auch für größte Leistungen erkannt ist, gewinnt die strömende Rede, je gestaltloser sie ist®^^, eine Autonomie, die sie in den Rang eines unverächtlichen Dokuments erhebt. Erinnerung, die vornehmlich auf umfangreiche Zitationen rekurriert und als eindringliche repetitio gegen den Strudel des Vergessens anspricht, wächst sich aus zum Archiv des Wissens, das den Autor entmächtigt, den lesenden Miteriimerer aber zum Co-Autor und Co-Architekten der literargeschichtlichen Konstruktion erhebt. Senecas Atavismus ist seine 'Modernität'; sein pädagogisch motiviertes Verschwinden hinter der erinnernden Rede ist seine Präsenz; sein Unwille zu eigener Formung ist seine Originalität, sein Archivarentum seine Meisterschaft: der Barockkünstler als wahrer Authentiker und wissenschaftlich nobilitierter Zeuge des literarischen Lebens; das Unfertige als das Fertige und Ferment authentischer Rekonstruktion. Frohlocken sollten die Protagonisten des New Historicism ob des glücklichen Paradigmas, das sich ihnen in Senecas Erinnerungsbuch darbietet. Doch auch für die Юassische Philologie hält das ро1утофЬе oeuvre gewiß noch manch überraschende Entdeckung bereit^"". Es würde nach dem Vorstehenden nicht wundernehmen, wenn sie über der eigenwilligen Konstruktion des Mémoirenwerkes zugleich den ingeniösen Nachschöpfer eines so traditionalen wie unverbraucht-lebendigen Imaginariums gewahr würde.
Nach Senecas eigener Aussage ist die Struktur des Deklamationswerkes selbst memorati v; vgl. den widitigen Abschnitt §4f.; "illud necesse est impetrem, ne me quasi certum ahquem ordinem velitis sequi in contrahendis quae mihi occurrent; necesse est enim per omnia studia mea errem et passim quidquid obvenerit adprehendam. controversiarum sententias fortasse pluribus locis ponam in una declamatione dictas; non enim, dum quaero ahquid, invenio, sed saepe quod quaerenti non comparuit, aliud agenti praesto est; quaedam vero, quae obversantia mihi et ex aliqua parte se ostendentia non possum occupare, eadem securo et reposito animo subito emergunt. aliquando etiam seriam rem agenti et occupato sententia diu frustra quaesita intempestive molesta est. necesse est ergo me ad delicias componam memoriae meae, quae mihi iam olim precario paret". Ein erstaunliches Programm (früher Vorbote einer erst von den Surrealisten radikalisierten écriture txutomatique"}), dessen Umsetzung sich in dem eihaltenen Text aus naheli^enden Gründen nicht lacht nachweisen läßt. ™ In diesem Sinne schon Leeman, ebd., 224: "His [sc. Seneca's] work Sententíae Divisiones Colores ... deserves more attention than it is awarded by the average student of the classics".
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Literaturgeschichte im Zeichen der querelle
"In via plane non nulla leviora statimque delenda ea garrulitate qua sermones in vehículo seruntur extendi. His quaedam addidi in villa, cum aliud non liberei. Itaque poemata quiescunt, quae tu inter nemora et lucos commodissime perfid putas. Oratiunculam unam alteram retractavi, quamquam id genus opens inamabile inamoenum, magisque laboribus runs quam voluptatibus simile". (Plinius, epist. 9, 10, 2f., an Tacitus)
Zu den klassischen Dokumenten römischer querelles gehört zweifellos Tacitus' Dialogus de omtoribus. Wie Senecas Deklamationswerk fiißt Tacitus' Darstellung auf einer Gedächtnisleistung: "... non ingenio sed memoria et recordatione opus est, ut quae a praestantissimis viris et excogitata subtiliter et dicta graviter accepi, cum singuli diversas f vel easdem t sed probabiles causas adferrent, dum formam sui quisque et Animi et ingenü redderent, isdem nunc numeris isdemque rationibus persequar, servato ordine disputationis" (§3)'°'. Im Unterschied zu dem älteren Seneca verzichtet Tacitus auf die nähere Keimzeichnung der ars memorativa^°^; sie wird ihm nicht zum Problem, auch nicht zum glorreichen Gegenstand einer methodologischen έπίδειξις™^ Thema und Tendenz des erinnerten Dialogs sind mit dem ersten Satz gegeben: "Saepe ex me requiris, luste Fabi, cur, cum priora saecxda tot eminentium oratorum ingenüs gloriaque floraerint, nostra potissimum aetas deserta et laude eloquentia orbata vix nomen ipsum oratoris retineat..." (§1). Die Frage nach Wert und Unwert der älteren und neueren Literatur ist, scheint es, schon mit Beginn der Schrift entschieden. Es gilt nur, den Gründen für den deutlichen Abfall der jüngeren gegenüber der älteren Bered-
Ich folge der Ausgabe von M.Winterbottom u. R.M.Ogilvie, Oxford 1975. Den fiktionalen Charakter der Versicherung des Autors, er habe dem Gespräch beigewohnt, hat schon R.Hirzel, Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch, 2 Bde, Leipzig 1895 (Nachdr.: Hildesheim 1963), dort Π 50, mit guten Gründen behauptet. Erhellendes zum fiktiven Charakter der Taciteischen Geschichtsschreibung bei G.Petersmann, Die Fiktionalisierung von Fakten - Kompositionsstrukturen als Fiktionalitätssignale bei Sallust und Tacitus, AU 36/1, 1993, 8-18.
Tacitus' Diaìogus de oratoribus
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samkeit nachzuspüren'"'*. Ganz so leicht, wie es zunächst scheinen könnte, macht es sich der Autor mit der Entscheidimg der Frage jedoch nicht: "neque ... defuit qui diversam quoque partem susciperet ас multum vexata et inrisa vetustate nostrorum temporum eloquentiam antiquorum ingeniis anteferret" (§4). Immerhin, der Fürsprecher der Moderne, M.Aper, wird als advocatus diaboli eingeführt'®^, die von ihm bekämpften Ansichten daditfch als MehrDe causis corruptae eloquentiae war auch eine (verloraie) Schrift des Quintilian überschrieben. Über ihren Inhalt informieren einige Stellen der Institutio (5, 12, 17-23; 2, 4, 41f.; 2, 10, 4; 8, 3, 57f.; 8, 6, 76). Die maßgebliche Studie jetzt C.O.Bnnk, Quintihan's De causis corruptae eloquentiae and Tacitus' Dialogus de oratoribus, CQ 83, 1989, 472503 (methodisdi glänzende Darstellung der Taciteischen Quintilian-Rezeption; B. warnt nachdrücklich vor der Gleichsetzung Messalla=Quintilian / Matemus=Tadtus). Aus der reichen Literatur über das Verhältnis des Dialogus zum erhaltenen Werk des Quintilian nenne ich nur H.Bardon, "Dialogue des orateurs" et "Institution oratoire", REL 19, 1941, 113-31 (Tacitus - bei aller künstlerischen Originalität - rhetoriktheoretisdi abhängig von Quintilian; über Auseinandersetzung mit dem 'Vorbild' Besinnung auf künftige historiographische Aufgabe), R.Güngerich, Der Dialogus des Tacitus und Quintilians Institutio oratoria, m: Tacitus, hrsg. v. V.Pöschl, Darmstadt 1969, 349-60 (zuerst: CPh 46, 1951, 15964) (stringenter Nachweis der Priorität der Institutio durch Interpretation ausgewählter Stellen; bes. interessant 356-58 zu den literarischen Urteilen), F.Santini, Terminologia retorica e critica del "Dialogus de oratoribus", AATC 33, 1968, 1-109 (passim), R.Häußler, De causis corruptae eloquaitiae. Variationen eines römischen Themas, in: Actes de la ХП" Conférence htemationale d'Études Classiques "Eirene", Bukarest/Amsterdam 1975, 311-16, K.Abel, Tacitus: seine geistige Gestalt. Ein Vortrag (1990), in: ders., Aus dem Geistesleben des frühen Prinzipats (Horaz - Seneca - Tacitus), Marburg 1991, 83-113, dort 91f, u. A.Alberte, Dialogus de oratoribus versus Institutio oratoria, Minerva (Valladolid) 7, 1993, 255-67 (Tacitus' Messalla berichtigt Quintilians Wiedergabe Ciceronischer Anschauungai).- Zur Deszendenz-These bei Cicero, Saieca maior, Velleius, den Plinii, Petron u. Seneca vgl. grundsätzlich die oben, Anm. 672, g ^ e bene Literatur.- Das Verhältnis zum Ciceronischen Brutus beleuchtet S.Borzsák, Le "Dialogue" de Tacite et le "Brutus" de Cicerón, BAGB 1985, 289-98. Borzsák verweist zugleich - am Rande - auf die Nähe zur querelle im Horazischen Augustus-Brief (293). Die Stellung des Aper im Dialog gdiört zu den meistumstrittenen Problemen der Schrift. Eine kurze Doxographie gibt H.Gugel, Die Urbanität im Rednerdialog des Tacitus, SO 42, 1967, 127-40, dort 136 Anm. 1. Gugel führt die Kennzeichnung der Aperschen Anschauungai als advocatura diaboli überzeugend auf den Urbanen Tonfall des E)ialogs zurück, "weil sie aus dem Bemühen der Gesprächspartner erw(ä)ch(st), über den persönlichen Affekt hinaus den freundschaftlichen Ton zu wahren" (ebd.). Immer bedenkenswert W.Deuses feinsinnige Argumentation für Tacitus' Strategie einer ambivalenten Darstellung des 'modernen' Lagers, die eindeutige und einfache Interpretationen bewußt vermeidet: "Zur advocatus-diaboli-YusMxon Apers im Dialogus und zur Methode ihrer Deutung", GB 3, 1975, 51-68. Neuere Literatur bei D.Bo, Le principali problematiche del Dialogus de oratoribus - Panorama storico-critica dal 1426-1990, Hildesheim/Zürich/New York 1993, 222-27. Die beste Darstellung gibt T.J.Luce, Reading and response in the Dialogus, in: Tacitus and the Tacitean Tradition, hrsg. v. T.J.Luce & A.J.Woodman, Princeton
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Literaturgeschichte im Zeichen der querelle
heitsmeinung herausgestellt. W i e die Sympathien in der v o n Tacitus referierten Gesprächsrunde verteilt sind, ist schon daran erkennbar, daß die G e genrede des M e s s a l l a v o n Maternus schon i m Ansatz a b - imd zurückgebog e n wird z u der bereits i m Prolog aufgeworfenen Frage nach den Gründen des Verfalls der Redekunst; "neque enim hoc coUigi desideramus, disertiores esse antiques, quod apud me quidem in confesso est, sed causas exquirimus, quas te solitum tractare paulo ante " (§27). D i e Taciteische querelle
gewinnt ihre eigentümliche Komplexität durch
die Verbindung der Hauptfrage mit dem Subthema der diversen Vorzüge einer zeitgenössischen R e d n e r - bzw. Poetenexistenz^°®. Beredter A n w a l t der letzteren ist M a t e m u s , der sich von seinem öffentlichen Advokatorenamt zurückgezogen hat ( § 4 u. bes. § 1 1 , 3 ) und sich nunmehr v o r w i e g e n d dem dramatischen Dichten widmet'"^. In seiner A p o l o g i e der dichterischen Existenz läßt er einmal den strepitus
des heillosen Gerichtswesens mit den
(N.J.) 1993, 11-38, bes. 18-20. S. jetzt auch C.Champion, Dialogus 5.3.-10.8: A reconsideration of the character of Marcus Aper, Phoenix 48, 1994, 152-63. Der inhaltliche Konnex der ersten baden Redq)aare (Aper/Matemus §§5-13 ^er/Messalla §§16-26) hat dai Interpreten lange große Rätsel aufg^eben; vgl. nur W.den Boer, Die g^enseitigen Verhältnisse der Personen im Dialogus de oratoribus und die Anschauung des Tacitus, Mnemosyne 3, 7, 1939, 193-224 ("Das erste Paar der Reden hat mit dem Hauptthema nichts zu tun", 211); den Boers Lösungsversuch ("Der Schriftsteller will ... den großen Unterschied zwischen beiden [sc. Aper und Matemus] von vornherein klarl^en, nimmt zu diesem Zwecke ein Thema, das sich durch die Charakterisierung der Personen rechtfertigt und verwendet hierzu eine Form, die er bei Cicero und Plato gefimden hatte", 213) ist ganz unbefriedigend. Zum bloßen Ausdruck der Verschiedenheit der Charaktere hätte es bei der höchst ökonomischen Disposition des Dialogus der langen sermones nicht bedurft. Überzeugender K.Bringmann, Aufbau und Absicht des taciteischai Dialogus de oratoribus, MH 27, 1970, 164-78, über das "doppelte Ergebnis" des ersten Redepaares; "Einmal zeichnen sich die Bedingungen ab, unter denen sich nach Tacitus' Auffassung die Beredsamkeit entwickelt, zum anderai wird auch die Verengung deutlich, der die Beredsamkeit in der Kaiserzeit unterliegt" (168). Eine ausfuhrliche Doxographie bei U.Haß-von Reitzenstein, Beiträge zur gattungsgeschichtlichen Interpretation des Dialogus "de oratoribus", (Diss.) Köln 1970, 144-^8, der im übrigen auch die bis dahin beste Darstellung des Zusammenhangs der Redepaare verdankt wird (150-55); unbedingt zu vgl. ist jedoch G.Wille, Der Aufbau der Werke des Tacitus, Amsterdam 1983, 151-217. Zur dramatischen Produktion des Maternus vgl. die Studien von J.Stroux, Vier Zeugnisse zur römischen Literaturgeschichte der Kaiserzeit: I. Maternus, Redner und Dichter, Philologus 86, 1931, 338-49, K.Barwick, Der Dialogus de oratoribus des Tacitus (Motive und Zeit seiner Entstehung), Beriin 1954, bes. 40-42, u. D.Bo, ebd. (Anm. 705), 228-36.
Poesie versus Redekunst
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loca pura atque innocentia, den sedes sacrae der dichtenden Seele kontrastieren (§12, 1) und fährt fort: "haec eloquentiae primordia, haec penetralia; hoc primum habitu cultuque commoda mortalibus in illa casta et nuUis contacta vitiis pectora influxit: sie oracula loquebantur" (§12, 2). Die so eingeleitete Kurzarchäologie der Literatur^°^ wird xmversehens mit dem größeren Thema der quereile verknüpft, das bislang im Hintergrund verblieben war und jetzt ein erstes Mal mit Vehemenz angeschlagen wird; denn schon im nächsten Satz heißt es: "nam lucrosae huius et sanguinantis eloquentiae usus recens et ex malis moribus natus atque, ut tu dicebas. Aper, in locum teli repertus. ceterum"" felix illud et, ut more nostro loquar, aureum saeculum, et oratorum et criminum inops, poetis et vatibus abundabat, qui bene facta canerent, non qui male admissa defenderent" (§12, 2 f ) .
Die Poesie ist also, pointiert gesagt, nicht nur 'besser', sondern auch wesentiich älter als die professionalisierte Redekunst. Diese hat an den glücklichen, 'unschuldigen' Anfängen der Literatur keinen Anteil, ihr Objekt, die crimina (herausfordernd die Beiordnung saeculum et oratorum et criminum inops) waren noch nicht vorhanden. Matemus'/Tacitus' Kurzarchäologie ist Sozialgeschichte der Literatur in nuce·, hier das göttemahe aureum saeculum mit seinen göttlichen und halbgöttlichen Sängern, dort eine 'entartete' Zeit, in der die Advokatorenkunst wie eine Sumpfblüte wuchert. Richard Reitzenstein hat das erste Rededuell treffend als contentio charakterisiert und in die Nähe des Platonischen Phaidros (u. des Redepaars Lysias - Sokrates) gerückt^'". Wie im Phaidros, so Reitzenstein, gehe der Dialog "nach den Kunstreden ... auf ein ganz anderes Thema über". Dies kann nach dem Vorstehenden offensichtlich nur in ganz oberflächlichem Betracht gelten: Form xmd Gehalt der ersten Reden sind agonal bestimmt; Eloquentia hier im weiten Sinne "Literatur"; vgl. die Kommentare von Gudeman u. Güngerich, ad 4, 2 bzw. ad loc.- Zur erweiterten Bedeutung der eloquentia mit besonderem Bezug auf die Charakterisierung der literarisdien Gattungen durch Aper (§10) s. P.Santini, Spunti di critica letteraria nel Dialogus de oratoribus fra antico e nuovo, A&R 14, 54, 1969,21-30. ™ Ceterum. 'andererseits' (s. Gudeman, ad loc.). "" R.R., Bemerkungen zu den kleinen Schriften des Tacitus, in: ders., Aufsätze zu Taatus, Darmstadt 1967, 17-120 (zuerst in: Ж G W G 1914/15, 173-276), dort 50f.
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Literaturgeschichte im Zeichen der querelle
indem, wie auch Reitzenstein sieht, "für den Verfasser des Dialogus de oratoribus ... Poesie und Beredsamkeit dasselbe, die Poesie nur die ursprünglichste und höchste Art der eloquentia" vorstellt^", ist - im Vorgriff - schon ein Wink auf die Ausgleichung der quereile im Schlußteil gegeben"^. Mit dem Auftritt des Messalla §14 nimmt das Gespräch eine entschiedene Wendung zur querellistischen Problematik. Schon in Messallas erster Erwiderung auf die einladenden Worte des Secundus^'^ schwingt mehrfach die ironische Distinktion einer amusischen neueren und einer kultivierten älteren Redekunst an: so, wenn er seine Freude darüber äußert, "quod vos, viri optimi et temponim nostrorum oratores [konzessives Genetivattribut?], non forensibus tantum negotiis et declamatorio studio ingenia vestra exercetis, sed eius modi etiam disputationes adsumitis quae et ingenium alunt et emditionis ac Htteraram iucundissimiun oblectamentum cum vobis qui isla disputatis affenmt, tum etiam iis ad quorum aures pervenerint" (§14, 3), Eminent 'thematisch' auch die freundschaftliche Rüge^''* an Aper, "quod nondum ab scholasticis controversiis recessit et otium suum mavult novomm rhetorum more quam veterum oratomm consumere" (§14, 4). Aus dem nun aufbrechenden Konflikt der konservativen und modernistischen Kräfte, der nach längerem Wortwechsel zwischen allen Beteiligten in ein Rededuell Apers und Messallas eiimiündet, können hier nur einige Hauptpunkte hervorgehoben werden: 1) Beide Parteien suchen die Gegenseite für ihren eigenen Standpunkt zu vereinnahmen. Dies geschieht a) durch 'Formalisierung' und Stilisierung der Gegenseite ziu· advocatura diaboli {ñeque ...te ipsum, Aper, quamquam interdum in contrarium disputes, aliter sentire credo, Messalla §15, 2; ас ne ipse quidem ita sentit,
Ebd., 52. ^ Darüber unten S. 203-06. Über die Rolle des Secundus im Dialogus s. zuletzt P.Steinmetz, RhM 131, 1988, 342-57. Der überlieferte Text, wonach zu dem oben zitierten Satz aus dem Vorhergehenden "probari" zu ergänzen ist, ist doch wohl nicht haltbar. Vielmehr ist Ausfall eines "improban" wahrscheinlich (suppl. Andresen). Siehe Güngerich, ad loc., dem freilich Heubner in einer appendix widerspricht (Widerspruch schon bei Gudeman, ad loc.).
Oie TuciXeiscki querelle
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sed more veten et a nostris philosophis saepe celebrato sumpsit sibi contra dicendi partes, Maternus über Aper §24, 2; гюп recónditas, Materne, causas [sc. für den angenommenen Niedergang der Beredsamkeit] requiris пес aut tibi ipsi aut huic Secundo vel huic Apro ignotas, etiam si mihi partes adsignatis proferendi in medium quae omnes sentimus, Messalla, §28, mindestens für die übrigen Unterredner wird Einmütigkeit ostentativ vorausgesetzt (haec nostra pro antiquorum laude concordia, vgl. Matemus §16, 3); b) durch das urbane Geltenlassen mancher nicht durchaus negativer Züge der Gegenseite (so Aper, §23, 6: nam ... te, Messalla, video laetissima quaeque antiquorum imitantem] Messalla, §26, 4: equidem non negaverim Cassium Severum, quem solum Aper noster nominare ausus est, si iis comparetur qui postea fuerunt, posse oratorem vocarif^^·, c) durch den Nachweis anachronistischer Durchbrechung der Fronten (so Matemus, §24, 1, von Aper: quanto non solum ingenio ас spiritu sed etiam eruditione et arte ab ipsis mutuatus est per quae mox ipsos incesseretiy^^; d) durch Relativierung der literaturgeschichtlichen Zeitintervalle (so bes. Aper §16, 4ff.; §17, 6, wird das biologische Kriterium der physischen Kontinuität behauptet: ne dividatis saeculum et antiquos ac veteres vocetis oratores quos eorundem hominum aures agmscere ac velut coniungere et copulare potuerunt). Die Vereinnahmung der als advocatura diaboli gekennzeichneten Position geht so weit, daß das Lob der neueren Beredsamkeit nach dem ausdrücklichen Wimsch Matemus' unterbleiben soll {igitur exprome nobis non laudationem antiquorum [satis enim illos fama sua laudai], §24, 3, zu Messalla, u. vgl. oben S. 198).
Auch ironische Ausdeutungen g ^ e r i s c h e r Handlungen und Unterlassungen sind hier zu nennen: wenn etwa Messalla Apers Verzicht auf die namentliche Nennung hervorragender 'neuer Redner· wie folgt begründet: neminem ... laudare ausus est [sc. Aper] nisi in publicum et in commune, veritus credo ne multos offenderei si paucos excerpsisset (§26, 7). ™ Zur "Urbanität im Rednerdialog des Tacitus" vgl. grundsätzlidi den so überschriebenen Aufsatz von Gugel, ebd. (Anm. 705). Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die feinsinnige Charakteristik Apers bei K.V.Fritz, Aufbau und Absicht des Dialogus de oratoribus, RhM 81, 1932, 275-300, wonach "das ästhetische Urteil des Aper ganz intakt" ist, indem in seiner Kritik der alten Redner "solche Einzelmängel an speziellen Leistungen älterer Redner h e r a u s g ^ f f e n (werden), die immer und zu jeder Zeit Fdiler bleiben, diesen aber das Idealbild einer Beredsamkeit g^enübergestellt (wird), die all jene Mängel vermeidet, mit dem wirklichen Aussdien der gegenwärtigen Beredsamkeit aber nur mdir sehr wenig Ähnlichkeit hat" (312f ).
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Literaturgeschichte im Zeichen der quereile
2) Zim Beweis der infinita differentia (§15, 2) zwischen Alt imd Neu wird auch die griechische Literatur herangezogen, wo der Gegensatz noch schärfer sei (Sacerdos Nicetes versus Aischines und Demosthenes [Messalla §15, 3])''^ 3) Die 'progressive' Seite (Aper) arbeitet mit der Einsicht' in die historische Bedingtheit und Entwicklung der Literatur^'^: so vor allem §18, 2: "agere ... fortius iam et audentius volo, si illud ante praedixero, mutari cum temporibus formas quoque et genera dicendi"
und §19, 2 bei der Verteidigung des "Neuerers' Cassius Severus: "vidit [sc. Cassius] namque, ut paulo ante dicebam, cum condicione temporum et diversitate aurium formam quoque ас speciem orationis esse mutandam"^^.
Die Entwicklung des Publikumsgeschmacks (diversitas aurium) und seine Rückwirkung auf eine zu verfeinernde Redekunst ist - in den Grundzügen- §19, 2-5, behandelt. Eine Reihe von Beispielen (§20, 1) soll die Inkommensurabilität von historisch überlebter Rede und zeitgenössischem Publikumsgeschmack dartun. Aper schließt euphorisch: "horum [sc. auditomm] auribus et iudiciis obtemperans nostrorum oratorum aetas pulchrior et omatior extitit" (§20, 6). Gefallen köimen aber nach Apers Einschätzung nur solche Reden, "in denen wir Glanz und Erhabenheit unserer eigenen Zeit erkeimen können" {in quibus nitorem et altitudinem horum temporum agnoscimus, §21,3; vgl. §21, 9: laetitiam nitoremque nostrorum temporum exprimere). Es liegt eine auffällige Inkonsequenz darin, weim Aper seine Frontstellung gegenüber Dag^en ist - wie S .Döpp, Die Nachwirkung von Ciceros rhetorischen Schriftai bei Quintilian und in Tacitus' Dialogas. Eine typologische Skizze, in: P.Neukam (Hrsg.), Reflexionen antiker Kulturen, München 1986, 7-26, dort l l f , betont hat - auffallig, daß die griechische Literatur als (quasi-normativer) Vergleichspunkt der römischen Redekunst bei Tacitus kaum mdir eine Rolle spielt. ™ Luce, ebd. (Anm. 705), erblickt in Apers Bemerkungen zur Geschichtlichkeit der Redekunst zu Recht einen entscheidaiden und - glaubwürdigen Bátrag zur DialogusDebatte: "... although we may reject Aper's main thesis, his ideas on many matters are acute and credible" (35). ™ Der Entwicklungsgedanke wird von der G^enseite teilweise anerkannt: So will Messalla über die Qualität der Reden des Servius Galba und C.Laelius nicht rechten, cum fatear quaedam eloquentiae eorum ut nascenti adhuc пес satis adultae defitisse (§25, 7).
Geschichtlicher Sinn im Dialogus
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den Konservativen mit der ciceronischen Haltung vergleicht {ad Ciceronem vetiio, cui eadem pugna cum aequalibus suis fuit quae mihi vobiscum est: Uli enim antiques mirabantur, ipse suorum temporum eloquentiam anteponebat, §22, 1): Die avantgardistische Pose, die nunmehr für den zeitgemäßen Redner beanspracht wird, widerspricht offensichtlich dem rezeptionstheoretischen Modell, das der literarischen Entwicklung eingangs grundgelegt war. 4) In bewußter Absetzimg von den als veraltet gezeichneten Idealen ciceronischer Rede entwirft Aper den Grundriß einer zeitgemäßen Poetik der Rede (§22, 3-5). 5) Die querelle zwischen den Vertretern einer älteren und der neuen Beredsamkeit wird wirkungsvoll den Auseinandersetzungen auf anderen Feldern der Literatur parallelisiert; so - von Aper - §23, 2f (... vobis utique versantur ante oculos isti qui Lucilium pro Horatio et Lucretium pro Vergilio legunt, quibus eloquentia Aufidi Bassi aut Servili Noniani ex comparatione Sisennae aut Varronis sordet, qui rhetorum nostrorum commentarios fastidiunf^\ Calvi mirantur). In der querelle kommt die Literatur zu sich selbst. In der historischen Konstruktion wird sie ihres Standpunktes und Wesens mit Bestimmtheit sich bewußt. Das querellistische Interesse des Taciteischen Dialogus ist dem Horazischen genau entgegengesetzt. Hatte jener den Primat der fortgeschrittenen Gegenwartsliteratur über die älteren Werke behauptet, so wird bei Tacitus die Degeneration der kunstmäßigen Rede zum schnöden Kunsthandwerk kaiserzeitlicher Deklamationspraxis konstatiert. Es ist für die vornehm resignative Stimmung der taciteischen Gesprächsrunde charakteristisch, daß der Abfall von den alten Idealen nicht eigentlich beklagt, sondern lebensweise in den Kauf genommen wird: denn, so Matemus im Abschluß seiner letzten Rede, "magna illa et notabilis eloquentia alumna Ucentiae, quam stulti Ubertatem vocant, comes seditionum, effienati populi incitamentum, sine obsequio sine severitate, contumax temeraria adrogans, quae in bene constitutis civitatibus non oritur" (§40, 2).
Die Glosse oderunt (hinter fastidiunt) sollte man guten Gewissens in den apparatus criticus verabschieden.
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Literatargeschichte im Zeichen der querelle
Matemus' Ursachenforschung mündet in eine Apologie des flavischen Prinzipats^^^. Die 'Theodizee' des Staates wird so weit getrieben, daß die verbliebenen Relikte originärer Beredsamkeit als Indikatoren für ein noch nicht völlig geordnetes Gemeinwesen gedeutet werden: "quis enim nos advocat nisi aut nocens aut miser?" (§41, 2). Solche politisch-sozialhistorische Balancierung literarhistorischer Entwicklungen karm nicht überraschen, wo gesellschaftliche Einrichtungen und ihre Veränderungen schon als Parameter für die Décadence des Rhetorischen benutzt waren: Die Ätiologie des Messalla begann mit einem detaillierten Vergleich der erzieherischen Verhältnisse in republikanischer und monarchischer Zeit (§28, Als ein weiterer kapitaler Grund für das hohe Niveau der älteren Beredsamkeit werden nun §36, I f f , Macht und Ansehen der fähigsten republikanischen Redner ins Feld geführt. Matemus/Tacitus^^'' ist weit entfernt, die zunehmende Sublimierang, Rhe^^ A.Köhnkais scharfsinniger Versuch, Maternus' Schlußsätze als ironisch zu deuten (A.K., Das Problem der Ironie bei Tacitus, ΜΗ 30, 1973, 32-50; zustimmaid Heubner im Anhang des von ihm hrsg. Güngerich-Komm., 208f., u. zuletzt H.Merklin, Probleme des "Dialogus de oratoribus" - Möglichkeiten und Grenzen ihrer methodischen Lösung, A&A 34, 1988, 170-89, dort 184-89), kann mich nicht überzeugen. S. bes. die eindringliche 1п1ефге1айоп bei T.D.Barnes, The Significance of Tacitus' Dialogus de oratoribus, HSPh 90, 1986, 225-44, dort 243. Der vielleicht wichtigste Beitrag zum Thema wird T.J.Luce, ebd. (Anm. 705), verdankt, der die zahlreichen (scheinbaren) Inkonsistenzen des Dialogus systemisch als Bausteine einer Argumentationsstrat^e auswertet: "The characters are indeed 'consistent,' but in ancient, not modem, terms. By training, habit, and volition the speakers aim to present the strongest case they can for a particular point of view. This results in what moderns perceive to be exaggeration and contradictions, but what the ancients would have r ^ r d e d as a natural and obligatory result for any speaker worth his salt. Thus, when Maternus gives two quite dissimilar pictures of contemporary public life, the differences are due chiefly - probably wholly - to the different rhetorical aims of his two speeches. ... Paradoxically put, Maternus is being consistent in his inconsistency" (33). Hilfreich sein könnte hier ein Blick auf altbekannte Probleme der Inteφгetation der Charaktere in der Tragödie (ich verweise nur auf Euripides' Alkestis u. Iphigenia Aul.).- Noch immer wertvoll Reitzenstein, ebd. (Anm. 710), 79-96 (hinzuzunehmen die überzeugenden Berichtigungai von Bringmarm, ebd. [Anm. 706], 175f.; s. jetzt auch S.Döpp, "Zeitveihältnisse und Kultur" im Taciteischen Dialogus, in: Prinzipat und Kultur im 1. und 2. Jahrhundert, hrsg. v. B.Kühnert, V.Riedel u. R.Gordesiani, Bonn 1995, 210-28, dort 223f ). Hierzu 1.Р.МифЬу, Tacitus on the Education of the Orator, ANRW 2. 33. 3 (1991), 2284-97. Vgl. auch Bardon (1941), ebd. [Anm. 704], 120f, wo auf Quintilianische Vorbildstellen hingewiesen ist (ähnlich P.Desideri, Lettura storica del "Dialogus de oratoribus", in: FS P.Treves, Rom 1985, 83-94, dort 89f ). ™ Der Querstrich ist nicht im flach identifikatorischen Sitme, sondern allein zum Zweck der Beiordnung gesetzt. Vor Übertrabungen bei dem Bestreben, Tacitus in seinen
Politische Ätiologie und dialogische Kunst
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torisierung und Ästhetisierung der kaiserzeitlichen Rede, die in Apers Verteidigungsrede als künstlerischer Progreß gefeiert war, als mildernden Umstand in Rechnung zu stellen. Die Redekunst ist für ihn eine eminent gesellschaftlich-politische Größe; in dem Maße, wie sie ihre soziale Bedeutung einbüßt, muß sie auch ihrer literarischen Bedeutung verlustig gehen. Konrad Heldmann hat an das rezeptionsgeschichtliche curiosum erinnert, daß dem modernen Betrachter der politikhistorische Blick auf die römische Literaturgeschichte der Zeitenwende so selbstverständlich (geworden) sei, daß darüber die Neuheit der Perspektive, unter der Tacitus den literarhistorischen Verlauf betrachtet, als solche kaum je gewürdigt wurde^^^. Weder Cicero noch der ältere Seneca'^^, weder Velleius noch Quintilian haben die grundstürzende Änderung der politischen Verhältnisse als die vorrangige Ursache für den literarischen Wandel angesehen: "Wenn in Wahrheit", so Heldmann^^^, "erst der Dialogus den Blick dafür frei gemacht hat, so spiegelt sich darin einer der größten Erfolge der 'augusteischen' Propaganda wider, während sich die unbewußte Gleichsetzung der Taciteischen mit antiker Erkeimtnis als ein faszinierendes Beispiel für die Wirkung des Tacitus auf die Neuzeit erweist"^^^. Es bliebe ein fader Beigeschmack von der Lektüre des Dialogus, verwechselte man die dramaturgische Pointe: die geschickt arrangierte Ausgleichung der Temperamente im Schlußteil: "Crédité, optimi et in quantum opus est disertissimi viri, si aut vos prioribus saeculis aut illi quos miramur his nati essent ас deus aliquis vitas ас [vestra] tempora repente mutasset, nec vobis summa illa laus et gloria in eloquentia neque Ulis modus et temperamentum defuisset. nunc, quoniam nemo eodem tempore adsequi potest magnam famam et magnam quietem, bono saeculi sui quisque citra obtrectationem alterius utatur" (§41,5) mit der poetologjsehen Quintessenz des Dialogs. Nicht umsonst ist ja die peinliche eloge der anästhesierten, fruchtlos gewordenen Rede vermieden; da umgekehrt auch die Stilisierung der kaiserzeitlichen Kunstrede zu einem Figuren zu 'finden', warnt zuletzt C.O.Brink, History in the 'Dialogus de oratoribus' and Tacitus the Historian, Hermes 121, 1993, 3 3 5 ^ 9 , dort 337f.- Über den Redner Tacitus s. A.D.Leeman, Orationis ratio I, Amsterdam 1963, 321-23. K.H., Antike Theorien (ebd. [Anm. 664]), 297-99. S. oben Anm. 675. Ebd., 298. 728 ' Zur 'qDochalen' Leistung des Taciteischen Matemus vgl. auch S.Döpp, Nec omnia apudpriores meliora. Autoren des frühen Principats über die eigene Zeit, RhM 132, 1989, 73-101, dort 91f.
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Literaturgeschichte im Zeichen der querelle
ästhetischen Gebilde eigenen Rechts abgelehnt wird, ist der Leser nachdrücklich auf andere literarische Gattungen verwiesen, deren eine in einer früheren Partie des Dialogs leidenschaftlich verteidigt wird, deren andere im taciteischen Werk selbst bezwingend Gestalt gewonnen hat: lyrische, epische und dramatische Poesie werden weiterhin als angemessene Formen künstlerischen Ausdrucksstrebens betrachtet^^'; daneben tritt vermittelnd der kunstmäßige Dialog'^® als Medium literaturgeschichtlicher Reflexion. Das Ästhetische hat sein unbestrittenes refugium in den von Aper ridikülisierten nemora et luci (§9, 6, vgl. 12, 1) nicht minder als im literarischen Kolloquium. Die Versöhnung der freimdschaftlich Streitenden, die scheinbar einhergeht mit der Anerkennung einer Überlegenheit des Gesellschaftlichen über die Kunst^^', hat Bestand nur auf der materialen Ebene der formalen Komposition. In Wahrheit fuhrt die ostentative Beglaubigung realpolitischer Ansprüche auf die Selbsterhöhung der dialogischen Kunst; werm Versöhnung ПШ· im literarischen Werk gelingt, hebt sie sich schon in der ersten Andeutung der Symbiose auf und bezeugt nurmehr die demiurgi sehe Kraft der Literatur. Wenn es wahr ist, daß das vollendete Gemeinwesen seinen Ausweis darin hat, daß niemand mehr spricht, so ist auch dies wahr: daß das Schweigen des schönen Staates nur in der reflexiven Rede des dialogischen Kunstwerks noch Jahrtausende später vernehmlich ist^^^.
™ Schon G.Williams, Change and decline (ebd. [Anm. 672]), 47, warnt davor, den im Dialogus konstatierten Niedergang der genuin oratorischen eloquentia auf die übrigoi Zweige der Literatur auszuddinen.- Die Bedeutung der Poesie im Dialogus ist vielleicht am treffendsten beschrieben von R.Haussier, Zum Umfang und Aufbau des Dialogus de oratoribus, Philologus 113, 1969, 24-67, dort 55-67. Grundsätzliches zur literarischen Form bei Hirzel, ebd. (Anm. 702), der aber für unsere Fragestellung unergiebig (vgl. Π 47-61). Vgl. auch die Darstellungen von A.Michel, Le "Dialogue des orateurs" de Tacite й la philosophie de Cicerón, Paris 1962, 11-32, H.Gugel, Untersuchungen zu Stil und Aufbau des Rednerdialogs des Tacitus, (Diss.) Innsbruck 1969, U.Haß-von Reitzenstein (obai Anm. 706) u. zuletzt L.Fiocchi, La cornice drammatica del Dialogus de oratoribus, in: De tuo tibi. Ommagio degli allievi a Italo Lana, Bologna 1996, 287-302. Desi utopischen Charakter des von Matemus im Abschluß seiner Rede entworfenen Bildes von der non emendata пес usque ad votum composita civitas (§41, 1) hat besonders eindringlich D.Flach, Tacitus in der Tradition der antiken Geschichtsschreibung, Göttingen 1973, 200-08, betont. Vgl. jetzt auch Döpp (1995), ebd. (Anm. 722), 223. ™ Zum 'Nachlebai' des Tacitus s. jetzt die schöne Anthologie (mit ausfuhrlicher Einleitung [xvii-liv] u. nützlicher Bilbliographie [245-49]) Tacitus - The Classical Heritage, hrsg. V. R.Mellor, New York/London 1995. S. auch dens., Tacitus, New York/London 1993, 137-67, sowie das oben mehrfach zitierte Buch von Luce u. Woodman (Anm. 705), bes. die Kap. 7-9.
IX. Schluß
'"Age vero' inquit Antonius 'qualis oratoris et quanti hominis in dicendo putas esse historiam scribere?' 'si ut Graeci scripserunt, summi' inquit Catulus; 'si ut nostri, nihil opus est oratore; satis est non esse mendacem' ... 'vidaisne quantum munus sit oratoris historia? haud scio an ilumine orationis et varietate maximum; neque eam reperio usquam separatim instructam rhetorum praeceptis; sita sunt enim ante oculos . ."' (Cie. de orat. 2, 51 u. 62 [Antonius]'").
Als ich mit ersten Aufzeichnungen für dieses Buch begann, war es mein Ehrgeiz, den Nachweis zu führen, daß es in Rom sehr wohl eine 'Literaturgattung' gegeben habe, die den Namen 'Literarhistorie' verdiene. Befremdlich schien mir die Tatsache, daß die neuere und neueste Literaturgeschichtsschreibung beinahe regelmäßig mit Stillschweigen über die Hervorbringungen der römischen Literaturforschung hinwegging. Nicht, daß man die einschlägigen Dokumente geradezu übersehen hätte: man ordnete sie vielmehr mit der größten Gelassenheit einer jener zahlreichen gängigen, auch terminologisch gesicherten Sparten römischer Literaturgeschichte zu, so daß das Trümmerfeld der literarhistorischen Überlieferung umso desperater erscheinen mußte, je weiter es nun auch von der gattungsorientierten Synopse entfernt war. Die frühesten poetischen Versuche einer zusammenhängenden Darstellung der Geschichte einzelner Gattungen (Accius, Volcacius, Porcius) ließen sich bequem der 'Lehrdichtung' zuordnen. Varros einschlägige Werke wurden einer Gattung 'Fachbuch' zugeschlagen. Ciceros Brutus konnte als rhetorikgeschichdiches Handbuch mit autobiographischen Elementen figurieren. Nepos' literaturgeschichdiche Arbeit war schnell der Biographie zugeordnet; Velleius' Exkurse fielen im Kontext seiner komprimierten Weltgeschichte nicht weiter ins Gewicht; Quintilian macht aus der literaturpädagogischen Bestimmung seiner Abrisse selbst keinen Hehl. Von dem einigenden Band zwischen den versprengten 'Loci classici' gab man sich umso weniger Rechenschaft, als offensichtlich auch die AutoZitiert nach der Ausgabe von K.F.Kumaniecki, Leipzig 1969 (Nachdr.: Stuttgart/Leipzig 1995).
208
Schluß
ren selbst über die Traditionen literatiirgeschichtlicher Arbeit, in denen sie etwa stehen, nur sparsamste Mitteilungen machen. Wohl fällt schon in den poetischen Fragmenten der Frühzeit des öfteren der N a m e Accius als Zielscheibe polemischer iCritik; Cicero und N e p o s würdigen den Liber
annalis
des ihnen befreundeten Atticus; Quintilian vergjßt nicht, auf Ciceros Brutus hinzuweisen. V o n einem besonderen (uns noch keimtlichen) Verweisungssystem kann aber auf dem Feld der Literaturgeschichte die Rede nicht sein^^^ Es kommt erschwerend hinzu, daß es im römischen wie schon im griechischen Bereich offensichtiich an Versuchen fehlt, eine eigenständige Theorie der Literaturgeschichte zu entwickeln^^^. Schon die Begrifflichkeit ist schwankend: Bildlich charakterisiert Cicero, ac. 1, 9, die 'Literaturgeschichtsschreibung' des Varrò: plurimum quidem poetís nostris omninoque Latinis et litteris luminis et verbis
attutisti...
Als Aufgabe der eigenen literarhistorischen Darstellung, des Brutus, benennt er (durch Atticus) die Ermittlung, quando esse coepissent [sc. oratores], qui etiam et quales fiiissent
^^ Das wird nachweislich anders erst mit der Kirchenschriftstellerei des Hieronymus, der in der Vorrede zu den 135 Kapiteln De vins intustribus auf eine feste literarhistorische Tradition zu sprechai kommt: "Hortaris, Dexter, ut Tranquillum sequens ecciesiasticos scriptores in ordinem digeram et, quod ille in enumerandis gentilium litterarum libris fecit inlustribus viris, ego in nostris hoc faciam, id est, ut a passione Christi usque ad quartum decimum Theodosii imperatorie annum omnes qui de scripturis sanctis memoriae aliquid tradiderunt tibi breviter exponam. Fecerunt quidem hoc idem apud Graecos Hermippus peripateticus, Antigonus Carystius, Satyrus, doctus vir, et longe omnium doctissimus Aristoxaius musicus. Apud Latinos autem Varrò, Santra, Nepos, Hyginus, et, ad cuius nos exemplum provocas, Tranquillus" [der Text nach der Ausg. v. C.A.Bemoulli (Hieronymus und Gamadius - De viris illustribus), Freiburg/Leipzig 1895 (Nachdr.: Frankfurt 1968)]. Sich selbst kann er - der Neuheit des geschichtlichen Ckgenstands w ^ e n - in diesen Überlieferungszusammenhang nicht leidit einordnen: "... non est mea et illorum similis condicio, mi enim historias veteres annalesque replicantes potuerunt quasi de ingenti prato non parvam opusculi sui coronam texere. Ego, quid acturus, qui nullum praevium sequens Pessimum ut didtur magistrum memet ipsum habeo?". Dann verweist er jedoch auf die hilfrache Kirchengeschichte des Eusebius und Ciceros Brutus·. "... Dominum lesum precor, ut, quod Cicero tuus, qui in arce Romanae eloquentiae stetit, non est facere dedignatus in Bruto oratorum latinae linguae texens catalogum, id що in ecciesiae eius scriptoribus enumerandis digne cohortatione tua impleam". Ein bemerkenswerter Hinweis darauf, wie man die prekäre Dramaturgie des Brutus überlesen (ja zur Bescheidenheitsgeste umdeuten: quod Cicero ..., qui in arce Romanae eloquentiae stetit, non est facere dedignatus ... texens catatogum) und so Ciceros Namen als literarhistorische Autorität 'retten' konnte! Um die Theorie der (gemeinen) Geschichtsschrabung ist es nicht viel besser bestellt. Vgl. jedoch oben S. U l f . zur bemerkaiswerten Konsequenz, mit der gelegentlich Hauptpunkte einer allgemeinen Geschichtstheorie (nach de orat. 2, 51-64) auf literarhistorische Verfahren appliziert scheinen.
Methodenkritik
209
(§20 ). Das literarhistorische Verfahrai wird vorgestellt als illustrium hominum aetates et tempora persequi (§74), oratorum genera distinguere aetatibus (ebd.) bzw. oratorum aetates et gradus persequi (§122) und - unschärfer - turbam patronorum in sermonem congerere (vgl. §332). Die archäologische Konjekturalkritik ist beschrieben als ex monumentis suspicari (§52) bzw. tantummodo coniectura duci ad suspicandum (§56). Durch die Darstellung des Ciceronischen Werdegangs hofft Brutus, gradus tuos [sc. Ciceronis] et quasi processus dicendi cognoscere (§232). Die Geschichte, die Cicero erzählend durchläuft, erscheint als ein ordo aetatum (ebd.). Tacitus' Messalla spricht von Ciceros Rednergeschichte als commemoratio veterum oratorum und läßt ihn im abschließenden autobiographischen Teil sua initia, suos gradus, suae eloquentiae velut quondam
educationem
beschreiben (dial. 30, 3). Chronographie und Darstellung der stilistischen Entwicklung erscheinen als die defmitorischen Hauptpunkte in der Selbst- und antiken Fremdcharakteristik der Ciceronischen Literaturgeschichtsschreibung'". Quintilian charakterisiert sane eigene eklektische (paucos ... excerpere in animo est, 10, 1, 45) Literarhistorie als ein genera lectionum persequi (ebd.) und stellt fest: nos genera degustamus, non bibìiothecas excutimus {\0, 1, 104).
Und doch konnten diese gravamina, so war meine Überzeugung, jedes für sich genommen, aber auch in ihrer summa keinesfalls zu den z.T. weitreichenden Schlüssen berechtigen, die neuere Literaturgeschichte gezogen hat. Dies umso weniger, als das Studium der modernen Literaturgeschichte jeden sorgfältig Prüfenden nur zu bald auf die zahlreichen Risse, Frakturen, ja terminologischen und philosophischen Untiefen führt, die für das Gros der 'Gattung' charakteristisch zu sein scheinen. Wo neuere griechische und lateinische Literaturgeschichte über ihre Prinzipien sich ausspricht, neigt sie mitunter zur Verabsolutierung der in eigener Sache aufgestellten Grundsätze. Das hohe Maß an zeitgebundener Setzung, das ganze Konglomerat einer durch imd durch situativ gebildeten Nomothetie bringt sie sich selten zu Bewußtsein. Am empfindlichsten muß solche Normierung jenen Teil des Untersuchungsgegenstandes treffen, der Anlage und Zielrichtung der Untersuchenden innerlich verwandt ist. Wenn Analyse selbst von ihren Begrenzimgen sich nicht die genaueste Rechenschaft gibt, wird sie bei der Prüfung eines Fremdanalytischen noch weit weniger zur exakten Feststellung der Mittel, Methoden und Intentionen imstande sein. Vielmehr wird sie, vielleicht ohne dies zu beabsichtigen, dazu neigen, die verwandte Literaturform am eigenen Anspruch zu messen, wobei der ältere Teil naturgemäß immer
™ Vgl. noch Quint, inst. 10, 1, 3 7 f , Pronto 121, 14 v.d.H., u. bes. Hier. vir. ill. praef. (s. Anm. 734).
210
Schluß
in dem Nachteil ist, sich dem Späteren nicht mehr akkommodieren zu können. So sollte also meine Untersuchimg eine antike Literarhistorie vor dem nivellierenden Zugriff ihrer selbstbewußten Nachfahrin in Schutz nehmen und als Literatur ähnlicher Machart und gleichen Rechts rehabilitieren. Begnügen wollte ich mich mit dem Aufweis, daß auch in der römischen Antike schon beinahe allem vorgearbeitet ist, was in neuerer Zeit Literaturgeschichte heißen kann. Den selbstbewußten Stiftungsreden besonders der germanistischen Forschung galt es, den nicht minder selbstbewußten Nachweis entgegenzusetzen, daß "alles schon dagewesen ist". Der Igel: die graecoromanische Literatur wäre dem Hasen: der neuphilologischen Zimftsgeschichtsschreibung immer schon zuvor gekommen. Das alte Spiel, der alte Reflex, gegen dessen vermutete wissenschaftsmethodische Insuffienz namentlich Michel Foucault zeit seines Lebens mit spitzen, oft überspitzten Parolen zu Felde . Es ist freilich nicht zu leugnen: Die traditionelle Stoßrichtung archäologischer Verfahren ist immer in der Gefahr, den ideologischen Unterbau modemer wissenschaftlicher Verfahren zu affirmieren. Die erforschte Antike wird Teil des ideologematischen Zusammenhangs, den das Interesse ihrer modernen Erforscher vorstellt. Wäre danach eine Rehabilitierung, die über Affinitäts- und Identitätsbehauptungen verläuft, am Ende nicht sogar atavistischer als das teleologische oder gar entelechetische Modell, das Vorformen, Praefigurationen u. dgl. benennt? Damit wäre die Aporie benannt, auf die der enge Komplex zwischen Wissenschaft und ihrer Geschichte unweigerlich fuhrt. Wissenschaft entkommt nicht ihrer Vernetzung mit, ihrer Realisierung durch Wissenschaftsgeschichte. Selbst der phänomenologische Blick, in dem guten Glauben, der Graben der Geschichte lasse sich überspringen und das Objekt der Forschung köime noch einmal primo obtutu erfaßt werden, ist geschichtlich. Und doch behauptet die phänomenologische Methode gegenüber allen historisierenden, entwicklungsgeschichtlichen Modellen ihr Recht. Als hermeneutische Wissenschaft leistet sie auf letzte Wahrheitsansprüche Verzicht. Sie destruiert nicht nur die historischen Weiterungen und Metamor-
"... Chercher dans le grand amoncellement du déjà-dit le texte qui ressemble »par avance« à un texte ultérieur, fureter pour retrouver, à travers l'histoire, le jeu des anticipations ou des échos, remonter jusqu'aux germes premiers ou redescendre jusqu'aux dernières traces, faire ressortir tour à tour à propos d'une oeuvre sa fidélité aux traditions ou sa part d'irréductible singularité, faire monter ou descendre sa cote d' originalité, dire que les grammairiens de Port-Royal n'ont riai invaité du tout, ou découvrir que Cuvier avait plus de prédécesseurs qu'on ne croyait, ce sont là des amusements sympathiques, mais tardifs, d'historiais en culottes courtes" (M.F., L'archéologie du savoir, Paris 1969, 187f.).
Methodenkritik: Die »Phänomenologie«
211
phosen ihres Gegenstandes, sondern immer auch die je und je prätendierte Letztgültigkeit ihrer eigenen Aufstellungen^'^. Sie hält fest an der Erkennbarkeit und Beschreibbarkeit ihrer Gegenstände, weiß aber um die unüberschreitbare Subjektivität ihrer Ansichten. Obwohl sie bestrebt ist, diese ihr wesentlich eignende Subjektivität durch ständige Ver- und Ausgleichung mit Fremdmeinungen - intersubjektiv- möglichst zum Verschwinden zu bringen, kann sie dies kompensatorische Geschäft nie vollenden. Daß sie es gleichwohl versucht, bestimmt den Ort ihrer wissenschaftlichen Dignität^^'. Bekanntlich hat die phänomenologische 'Abbaubewegung' auch Heideggers Destruktion der abendländischen Metaphysik u. Derridas Dekonstruktion Pate gestanden (s. zuletzt B.Waldenfels, Einfuhrung in die Phänomenologie, München 1992, 17, 48-56 u. 13 If.; zu Heideggers noch g ^ e n Husserl selbst sich richtende Destruktion mancher selbstverständlicher Annahmen der Phänomenologie [etwa der Rede von 'Setzung' und 'Voraussetzungslosigkeit'] s. M.Riedel, Die Urstiftung der phänomenologischen Hermeneutik. Heid^gers frühe Auseinandersetzung mit Husserl, in: Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Edmund Husserls, hrsg. v. C.Jamme u. O.Pöggeler, Frankfurt 1989, 215-33; zu Derridas Husserl-Ex^ese s. jetzt P.Völkner, Derrida und Husseri: Zur Dekonstruktion einer Philosophie der Präsenz, Wien 1993, u. L.Lawlor, Distorting Phenomenology: Derrida's Interpretation of Husserl, in: Philosophy Today 42/2, 1998, 185ff.). Zur Kritik des klassisch-hermeneutischen B^rifFs der Selbstreflexion s. K.H.Bohrer, Die "Antizipation" beim literarischen Werturteil. Über die analytische Illusion, ebd. (Anm. 630), 29-42, dort 32f ™ Der mit der Geschichte der phänomenologischen Richtung vertraute Leser wird den hier praktizierten freien Umgang mit der phänomenologischen Tradition längst bemerkt haben. Traditionelle, bes. die Husserlsche Phänomenologie, stdit seit langem in der philosophischen Kritik: vgl. nur K.-H.Lembeck (1994), ebd. (oben Anm. 148), 25: "Das Postulat der Selbst- und Letztverantwortung führt sie [sc. die Ph.] ... in das Dilemma, zwecks Begründung des begrifflichen Instrumentariums ihrer Arbeit gewissermaßen 'im Zickzack· operieren zu müssen. Ist die Rückführung aller B ^ f l F e auf ihre 'Urquellen in der Anschauung' das Ziel, so fragt sich, wie es diesbezüglich mit jenen in der phänomenologischen Forschung selbst verwendeten B^riffen steht, die doch zunächst noch konventionell und ungeklärt verwendet werden müssen. Es sind solche Fragen der phänomenologischen Selbstbegründung, die Husserls 'Ursprungsforschung' von Anfang an problematisch erscheinen lassen".- S. auch J.F.Lyotard, La phénoménologie (oben Anm. 151), 7f: "On comprend alors les deux visages de la phénoménologie: une puissante confiance dans la science impulse la volonté d'en asseoir solidement les accotements, afin de stabiliser tout son édifice et d'interdire une nouvelle crise. Mais pour accomplir cette opération, il faut sortir de la science même et plonger dans ce dans quoi elle plonge »innocement«. C'est par volonté rationaliste que Husserl s'engage dans l'anté-rationnel. Mais une inflexion insensible peut faire de cet anté-rationnel un anti-rationnel, et de la phénoménologie le bastion de l'irrationalisme. De Husserl à Heid^ger il y a bien héritage, mais il y a aussi mutation ...".- Vgl. P.Ricoeur, A Γ école de la phénoménologie, Paris 1986, 141, und s. jetzt die scharfsinnige Kritik des Husserlschen Traditionsb^rifFs durch N.Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien 1996, 22f Feine Beobachtungen zu Problemen der Heid^er-Gadamerschen Hermeneutik jetzt bei G.Funke, "Zu den Sachen selbst" oder "ist alles 1пГефге1аГ10п?", in: Interpretation, hrsg. v. G.Funke, A.Riethmüller u. O.Zwierlan, Stuttgart 1998, 5-15, bes. 10-13.
212
ScMuß
Radikalere S t r a t ^ a i sind im Gefolge der strukturalistischen Pliilosopliien seit Anfang der sechziger Jahre entwickelt worden, die Geltimgsansprüche "traditioneller" Wissenschaft zu erschüttern und das q)isternologische "System" (nannte man es nun logozentristisch, kapitalistisch, lust- oder frauarfeindlich) ins Wanken zu bringen. Nicht in den Bhck kam dabei, daß gerade die als maître-penseurs
denunzierten Spitzen des "abendlän-
dischen" philosophischen Diskurses (besonders Piaton und H^el) ihre eigme Dekonstruktion schon immer mitbedacht hatten. Piatos "Frühphase", die man verharmlosend die sokrateische zu nennen p f l ^ , liefert geradezu das klassische Programm jeder radikalen Begriffszerl^ung.
Über
der
ererbten,
sophistisch
überformten
Begrifflichkeit
der
"voφiatonischen" Philosophie errichtet Plato die subtile Tektonik seiner aporetischen Dialoge, die über gezielte B^rifFszertrümmerung die überforderten Mtunterredner r^elmäßig in den schwindelerr^endai Wirbel einer an sich selbst irre werdenden ratio hineinzidien. Die oft aenigmatische Struktur der Fruhdialoge wird in den großen Haupt- und Spätwerken nidit überwunden, sondern lebt in den tartaresken Tiefen, die unter den B^riffsgebirgen der sogenannten maître-pensée sich wölben, als häretischer Anstoß, als irritierende Unwortmasse fort. Daß der Logos über dem fiiror der Selbstvergewisserung immer zuletzt g ^ e n sich selbst sich wendai könnte, ist eine Ahnung, die wohl jeden Leser, der sich dem obsessiven Duktus platonischer Sprachkunst überließ, einmal beschlichen hat''"'. Eine merkwürdige Unbestimmtheit, so scheint es, eignet nicht nur der gelehrten Rede über die zu erforschende Tradition, sondern schon dem Gegenstand, an dessen Beschreibung sie sich versucht. Dabei ist es müßig zu fragen, ob die Unscharfe ihre erste Ursache im Gegenstand oder in der Inkommensurabilität seiner Wahmehmimg hat. Der ätiologische Zirkel läßt sich nur beschreiben, nicht auflösen. D i e terminologische und wesensmäßige Bestimmung der Literaturgeschichte ist deshalb so problematisch, weil sie nur in den Grenzen und mit den Mitteln des Gegenstandes geschehen kann, um dessen Definition es ihr zu tun ist: der Literaturgeschichte. Literaturgeschichtsphilosophische Deduktionen aber sind wertlos. Wenn phänomenologische Analyse nichtsdestoweniger auf eine recensio des Beobachteten führen soll, kann dies am ehesten mit dem doppelten
™ Die entg^engesetzte Position vertritt - in der Konsequenz seiner logozentrismuskritischen Einstellung- J.Derrida; Eine "gewisse unzerstörbare und unvorhersdibare Ressource des griechischen Logos" mache sich stets desto stärker geltend, je heftiger man sich ihr zu entziehen suche (Violence et métaphysique. Essai sur la pensée d' Emmanuel Lévinas, in: ders., L' écriture et la différence, Paris 1967 (zitiert nach der dt. Fsg. v. R.Gasché, Frankfurt a.M. 1972, 170). Vgl. jetzt R.Bemasconi, Ethische Aporien: Derrida, Lévinas und die Genealogie des Griechischen, in: H.-D.Gondek u. B.Waldenfels, Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a.M. 1997, 345-84.
Ergebnisse
213
Vorbehalt gelingen, den der Verzicht auf die naiv-phänomenologische 'Wesensschau' ebensowohl wie auf das Pathos der Dekonstruktion des vermuteten Verstellungszusammenhangs^'" vorstellt. So lassen sich im Abschluß des Buches vielleicht die folgenden Einsichten formulieren: 1 ) Der römischen Literaturgeschichtsschreibung geht genau das ab, von dem sich die moderne Geschichtswissenschaft soeben verabschiedet hat: ein fester Epochenbegriff^''^. Dagegen verfügt sie über ein flexibles, ex
promptu
zu aktivierendes System der Έpochen'^'''-Abgrenzгmg (Ciceros
oratonim
aetates,
Tacitus' u. Horaz' querellistische Zeitrechnung, Velleius' 'Blütezei-
ten'; vgl. unten zu 3). Die Unbekümmertheit, mit der sie dabei über politisch-gesellschaftliche und schon gar ökonomische Zäsurierungen hinweggeht, zeugt weniger von der hartnäckigen Verkennung objektiv einwirkender lebensweldicher Mächte als vom Selbstbewußtsein der Literatur und ihrer mehr oder weniger professionellen Erklärer. Indem sie auf den besonderen, epochalen
Ausweis ihrer Gesellschaftlichkeit Verzicht leistet, erhält
sie sich ihre ästhetische Souveränität. Roland Barthes' apodiktisches Wort, "Literaturgeschichte ist nur möglich, wenn sie soziologisch wird, wenn sie sich für die Tätigkeiten und Institutionen, nicht aber für die Individuen in-
"" Mit Blick auf die römische Literaturgeschichte und ihre Erforschung ließe sich mit einigem Recht mindestens von einer systematologisehen (frühe Poeten-Philologai, Varrò) und einer (auto)biographistischen (Cicero, Nepos) Verstellung sprechen. Ich verweise nur auf den von R.Herzog u. R.Koselleck hrsg. Bd. 12 der Forschungsgruppe 'Poetik und Hermeneutik· Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987 (hervorzuheben das in Herzogs Beitrag Epochenerlebnis 'Revolution' und Epochenbewußtsein 'Spätantike' - Zur Genese einer historischen Epoche bei Chateaubriand [195-219] erörterte Phänomen der "Epochenimagination" [218], W.Bamers Ausführungen Zum Problem der Epochenillusion [517-29] u. H R. Jauß über die Ablösung des epochalen Schemas durch die Polyphonie der Avantgarden [Der literarische Prozeß des Modemismus von Rousseau bis Adorno, 243-68, bes. 249f.]).- Den grundsätzlichen Zweifehi am Sinn und sogar an der Möglichkeit epochaler Gliederungsmodelle zum Trotz werden auch heute noch immer wieder Vorschläge zur Revision gängiger Epochenschemata lanciert, so zuletzt aus systemtheoretischer Perspektive von G.Plumpe, Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Wiesbaden 1995 (die Beliebigkeit der traditionellen EpochenbegrifFe soll durch "homogene und kompatible, zuallererst aber einheitlich referentialisierte" Kategorien [S. 30] ersetzt werden; Vorschlag: Romantik, Realismus, Ästhetizismus, Avantgarde, Postimus [mit unzureichender B^ründung der l^zten 'Epoche']). ™ Eine kurze Geschichte des 'Epoche'-B^fFs geben H.Diller u. F.Schalk, Studien zur Periodisierung und zum Epochebegriff, Wiesbaden 1972. Diller lakonisch zur 'Epoche' in der griech. Geschichtsterminologie: "... Im empirisch gesdienen Geschichtsablauf hat der Terminus keinen Platz" (4).
214
Schluß
teressiert"^'''', ist durch Roms Literaturgeschichte gleichsam immer schon überholt - und im übrigen auch durch poststrukturalistische Geschichtstheorie vielfach widerlegt. 2) Das hindert sie nicht, dem 'Politischen' große Bedeutung im Rahmen literarischer und literarhistorischer Diskurse zuzuerkennen. Die Ansicht, die Nepos (und ähnlich noch Sueton) vom Leben der Literaten gibt, ist immer auch an den politischen Umrißlinien interessiert. Ciceros Schweigegebot kann die Fatalität der politischen Konstellation nicht übertönen; Varros Literaturforschung deutet er als Beitrag zur 'Selbstfmdung' des römischen Volkes. Horaz weiß um die Bedeutung der 'richtigen' Kulturpolitik unter einem funktionierenden Prinzipat. Tacitus benennt als erster in aller Schärfe den Zusammenhang von politischer Unfreiheit und degenerierender Literatur. 3) Das Fehlen einer konstanten epochalen Begrifflichkeit wird ausgeglichen nicht nur durch ein nuanciertes Zeit- imd Geschichtsempfmden (besonders Accius, Varrò, Cicero, Tacitus zeigen sich um möglichst exakte Chronometrie und Chronographie bemüht; Aimalistik und Didaskalik, Epigraphik und frühere Historiographie, nicht zuletzt Selbstbezeugungen der Autoren [Sphragides und Autobiographisches] werden kritisch gesichtet), sondern auch durch ein ausgeprägtes Bewußtsein von literarischer Entwicklung: Künstlerischer Fortschritt und Regreß ist mit den Mitteln der Stilkritik und einer differenzierten Inhaltsanalyse (Philosophie und Einzelwissenschaften) feststellbar. Im Brutus etwa ist die kraft Begabimg und Fleiß fortentwickelte ars in Verbindung mit ausgedehnter Kenntnis der Philosophie, des Rechts, der Geschichte das Kriterium für den Vollkommenheitsgrad rhetorischer Leistung. Horaz mißt literarischen Progreß an strengsten Maßstäben künstierischer Vervollkommnung. Velleius' Blütezeiten' sind per definitionem 'Epochen' originell sich vollendenden Kunstschaffens. Gegenwart wird diu-chweg als Έtappe' in der Auf- oder Abwärtsentwicklung literarischer Standards erlebt. Die Insistenz auf literarischen Kriterien führt mitunter (und zwar schon in frühester Zeit: Volcacius) zur Aufhebung des Moments der Zeitfolge im Kanon. An die Stelle der Epoche tritt die affiliierte Generation, an die Stelle der Historie die Genealogie. Die versuchte Zerreißung des kontinuierlichen Affiliationszusammenhangs konstituiert die "" R.B., Literatur oder Gesdiichte, Frankfurt a.M. 1969, 22 (der Titelaufsatz erschien zuerst in der Zeitschrift Annales [3, Mai/Juni 1960], sodann als 3. Tl. des Buches Sur Racine, Paris 1963).
Ergebnisse
215
Avantgarde (Neoterik, Augusteer, Lucan - Seneca - Petron). Als Herausforderung des Kanons schreibt sie ihn um (Neoterik, Augusteer) oder - fort (Tacitus' Aper). Dies geschieht nicht selten auf dem Wege der querelle'*^. Die Verfolgung der römischen querelles war uns deshalb so wichtig, weil von ihrer Fortset2^mg im 17./18. Jahrhundert moderne Geschichtstheorie den Maßstab für die Evaluation kunsthistorischen Sinnes nimmt^"^. Mehr als fraglich ist, ob die gängigen Rekonstruktionen von der Genese des Geschichtsdenkens an den römischen Indizien vorbeisehen können, ohne an ihrer Glaubwürdigkeit Schaden zu nehmen. Das 'querellistische Denken', das die römische Literatur in ihren richtungsentscheidenden Phasen regelmäßig begleitet hat, ist der zuveriässigste Beweis für die Haltlosigkeit der in den modernen Theoriedebatten immer wieder programmatisch gesetzten Ahistorizität des literarischen Überlieferungszusammenhangs. T.S.Eliots markantes dictum, wonach " the whole of the literature of Europe from Homer ... has a simultaneous existence and composes a simultaneous order" übersieht, daß mit den emphatischen imitativ-aemulativ-inteφretatorischen Rückbezügen und Vergegenwärtigungen älterer Tradition fast regelmäßig die bewußte Distanzierung zimeist rezenter, kulturell dominanter Strömungen einhergeht. Ja, das literarische Parousie-Erleben bezieht seine Emphatik wohl überEs gibt freilich auch unfruchtbare, 'zitierte' querelles. Dieselbe Auseinandersetzung, die in Tacitus' Dialogus - in urbaner Atmosphäre zwar, doch mit beinahe existentieller Schärfe - gefuhrt wird, verwässert im Munde des jüngeren Plinius zum bildungsbürgerlichen Zitat: Sunt ex its qui mirer antiquos, non tarnen (ut quidam) temporum nostrorum ingenia despido (epist. 6, 21, 1). Die Halbherzigkeit und kompromißlerische Seichtigkeit seines Bekenntnisses zur neueren Literatur zeugt lebhaft von der frühkaiserzeitlichen 'Verbürgerlichung' der Literatur. Die querelle dient nicht mdir der Selbstvergewisserung der Literaten u. der Literatur, sie schafft nicht länger Literaturgeschidite: sie ist es. Erst mit Frontos "Archaismus aus Modernität" wird sie wieder zur Waffe, die Entstehung einer christl. lateinischen Literatur sodann führt zu neuen produktiven 'Querelen' (Höhepunkt: römische Renaissance im Symmachus-Krds). S. z.B. Hanneiore Sdilaffer, Der Ursprung des ästhetischen Historismus in der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, in: H.u.H.SchlafFer, Studien zum ästhetischen Historismus (s. oben Anm. 75), 23-71, dort 23: "In der Tat entwickelte sich ein genuin historisches Verständnis zuerst aus der 'Querelle des Anciens et des Modernes'". T S E., Tradition and the Individual Talent, in: ders., The Sacred Wood, London 1920, 4950, 49. Vgl. auch W.P.Ker, Collected Essays, hrsg. v. C.Whibley, 2 Bde, London 1925, I 100: "Some historians of literature go wrong, and spoil their work by writing as if their matter were all past, like the events of history; ... Some part of literary history no doubt is busied conjecturally with epic poems and others which ... have the misfortune not to exist. But the main part of it deals with extant things, which live for the present day when the seeing eye falls on them; they are unjustly treated when they are kept by the historian at a distance from the eye, as unrealisai though permanent possibilities of sensation".
216
Schluß
haupt erst aus dem Bewußtsein des zeitenzusammenscMießenden Sprungs. Das synchronisierende Bewußtsein aber ist ein evident historisches. Es genießt die Synthese nur, solange es 'weiß', daß historisch weit auseinanderklafft, was es zusanunendenkt^'*^. 4) Die Erfassung, Beschreibung und Beurteilung der Literaten und der Literatur ist immer geschichtìich darin, daß sie von einem gegenwärtigen Standpunkt aus geschieht. Wie aktuell auch immer der Gegenstand der Darstellung sein mag; seine narratio distanziert ihn zur Geschichte. In dem Maße, wie der Abstand selbst, der die Gegenwart des Literarhistorikers von der seines Objekts trennt, reflektiert wird, ist das Schreiben Geschichtsschreibimg, in dem Maße, wie verschiedene literarische Gegenwarten (es kann auch die des Geschichte schreibenden Literaten sein) miteinander ins Verhältnis gesetzt werden, Literaturgeschichtsschreibung. Die Korrelation kann als einfache narratio (Teile des Brutus und des Quintilianischen Kompendiums), als comparatio (wie vorher, Teile des Taciteischen Dialogus), als Reihe (Nepos' Viten, vielleicht die Zyklen der poetischen Literarhistoriker) erfolgen. 5) Römische Literaturgeschichtsschreibung kennt, woran auch moderne Literaturwissenschaft festhält: Bibliographie, Echtheits- und ästhetische Kritik, Biographie. Aber sie hat sich, um das verdictum modemer Literarhistorie einmal gegen sie selbst zu kehren, nie zu jenem übergeordneten Standpunkt erhoben, der für eine nur zu lange modern sich wähnende Literaturtheorie die condicio sine qua non des Literarhistorischen war. Während etwa die germanistische Literarhistorie des 19. Jahrhunderts sich trotz ihrer je verschiedenen ideologischen Zurüstung als relativ konstante Gattung präsentiert, dabei jedoch über den Rang eines durchweg in epigonaler Haltung verfaßten fortlaufenden Metakommentars selten hinauskommt, eröffnet die römische Literaturgeschichtsschreibung gerade wegen ihrer generologischen Inkonstanz, ihrem Changieren zwdschen ganz unterschiedlichen fachlichen Traditionen (τέχναν), kurz: ihrer gattungssprengen-
Paradox anmuten mag in Zeiten, da die Aufrechnung künstlerischer Fortschritte längst als unfruchtbares Verfahren erkannt ist (s. etwa K.H.Bohrer, Die Furcht vor dem Unbekanntai, ebd. [Anm. 630], 76), die argumentative Anstrengung zugunsten einer historischen Fundierung noch der Augenblicksemphase. Jedoch könnte der Nachweis solcher Historizität - jenseits aller wissaischaftsgeschichtlichen L ^ t i m i t ä t - dann seine aktuelle Pointe gewinnen, wenn er nicht auf Relativierung, sondern Intensivierung des Erlebnisses literarischer G^enwart ausginge. Literaturgeschichte bezöge iliren besonderen Sinn aus ihrer Fähigkeit zur Potenzierung aktueller reflexiver und imaginativer Vermögen.
Ergebnisse
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den Interdisziplinarität, eminente Perspektiven auf die Erforschung römischen Redens über römische Literatur. 6) Nicht nur die Literaturgeschichte, schon das Unbehagen an ihr ist alt. Die Sicherheit des großen überschauenden Entwurfs ist eine 'moderne' Haltung. Römisch ist der durchgängige Pragmatismus der überlieferten literarhistorischen Entwürfe, römisch die Richtschnur des 'quid ad nos': die Literatuφädagogik des Quintilian, die egozentrische Teleologie Ciceros, die kulturhistorische Apologetik des Velleius, die parteikämpferische Leidenschaft der alten Poetiker, die politische Literatenbiographie des Nepos. Gerade der Partikularismus des scheinbar anspruchslosesten unter denen, die römische Literaturgeschichte(n) geschrieben haben, des Cornelius Nepos, ist aufschlußreich nicht nur für das Verständnis antiker Literarhistorie: Liegen im Verzicht auf die kulturhistorische Kontextualisierung, im Festhalten an der bloßen Reihung nicht zugleich stupende Möglichkeiten zur Konstruktion einer modernen, posthistoristischen Literaturgeschichtsschreibung seriell-dokumentarischen Typs^'*'? Im Noch-Nicht jenes verhängnisvollen, schon von Droysen schonungslos aufgedeckten Analogiedenkens, das pragmatische und Kunstgeschichte beflissen ins Verhältms setzt , fassen wir — damals wohl ungeahnte — Perspektiven eines iimerästhetischen Betrachtungszusammenhangs. Hier liegt auch die seit geraumer Zeit virulente Ansicht der Literarhistorie als Ereigniszusammenhang' nicht fem^^'; jedenfalls betont die parataktische Literaturgeschichte vom Typ der Varronischen Imagines und des Nepotisch-
™ Im einzelnen sidit sich eine solche Konstruktion freilich vor nicht geringe Probleme gestellt. Der Verzicht auf die kontextualisierende meta-narratio dürfte nicht um den Preis einer Reetablierung des literarlii stori sehen Biographismus erkauft sein und also die naive narratio im kleinen 'durch die Hintertür" einfuhren. Den vorsichtigen Versuch einer Rehabilitierung der biographischen Methode unternimmt E.Ribat, Leben und Werk. Vorbemerkungen zum Verhältnis von Biographik und Literaturhistorie, in: W.Haubrichs, Probleme der Literaturgeschichtsschreibung, Göttingen 1979, 65-79. Vgl. auch H.Schelle, Biographie und Literaturgeschichte: Der Fall Wieland, in: Kontroversen, alte und neue, hrsg. v. A.Schöne, Bd. 11, Tübingen 1986, 89-92. W.Braungart danke ich für den Hinweis auf C.Wiedemanns frühen Versuch über die Methodik einer weiteren Form 'radikalisierter" Geschiditsschreibung: Anrmlistik als Möglichkeit der Literaturgeschichtsschreibung, in: Jb. f Int. Germ. 2, 1970, 61-69. " " J.G.D., Historik: Vorlesung über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte (s. oben Anm. 556), 34f S. etwz H.R.Jauß, Geschichte der Kunst und Historie, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 1970, 208-51 (auch in: Geschichte - Ereignis und ErzMung [s. oben Anm. 43], 175-209).
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Suetonischen Viten-oeuvres wie mmachdrücklich auch immer die Selbständigkeit und woM auch Ereignishaftigkeit der literarischen Werke. "Historia quoque alere oratorem quodam uberi iucundoque suco potest. Verum et ipsa sic est legenda ut sciamus plerasque eius virtutes oratori esse vitandas. Est enim próxima poetis, et quodam modo carmen solutum est, et scribitur ad narrandum, non adprobandum, totumque opus non ad actum rei pugtiamque praesentem sed ad memoriam posteritatis et ingenii famam componitur". (Quintilian, inst. 10, 1, 31)
7) Quintilian selbst fällt, wie wir sahen, unter den Leitsatz, den er mit Rücksicht auf die Geschichtsschreibung formuliert. Seine weit in die Literaturgeschichte ausgreifende pragmatische Ästhetik des 'richtigen' Schreibens ist kunstmäßig disponiert und exemplifiziert so das supponierte Nahverhältnis von Dichtung und historiographischer Kunstprosa. Zwar hat Wolfram Ax zu Recht auf den okkasionellen Charakter der Quintilianischen Konstruktion verwiesen: Der Autor habe der zimehmenden Gattungsvermischung durch klare Abgrenzung der Redekunst von den zur Opposition zusammengefaßten anderen großen Gattungen entgegentreten wollen^^^. Aber es bleibt doch wohl eine imumstößliche Tatsache, daß Dichtung und Historiographie der Antike sich oft genug aus gleichen Quellen speisten^^^. Wäre Aristoteles sonst an der grundlegenden, philosophischen Distinktion der Gattungen gelegen gewesen^^"*? Hätten sonst Polybios^^^ und Lukian^^® so nachdrücklich auf der Durchsetzung des Wahrheitskriteriums bestanden? Und legt Cicero es nicht dem Antonius in den Mund?
™ W.Ax, Die Geschichtsschreibung bei Quintilian (s. oben Anm. 595), 152-55. Vgl. A.Cizek, Antike Rhetoren als Theoretiker der Historiographie und dichtende Historiker, in: H.-J.Drexhage u. J.Sünskes, Migratio et commutatio - Studien zur Alten Geschichte und deren Nachleben. FS T.Pekáry, St.Katharinen 1989, 286-98. Poetik, Kap. 9: "ó ... ιστορικός καΐ ό ποιητης ού τω ή εμμετρα λέγειν ή άμετρα διαφερουσιν ... ά λ λ α τούτω διαφέρει, τω τον μεν τα γενόμενα λέγειν, τον δέ ο ί α α ν γένοιτο, διό καΐ φιλοσοφώτερον και σπουδαιότερον ποίησις Ιστορίας έ σ τ ί ν ή μεν γαρ ποίησις μάλλον τα καθόλου, ή δ' Ιστορία τα καθ' εκαστον λέγει" (145Γ38-145ΐ''7). Die wichtigste Literatur zur Stelle jetzt bei A.Schmitt, Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?, in: Das Ende - Figuren einer Denkform, hrsg. V. K.Stierie u. R.Waming, München 1996, 528-63, dort 528 Anm. 1. Wertvolle Beiträge zur 'Literarizität' modemer geschichtlicher Darstellungen in dem von H.Eggert, U.Profitlich u. K.R.Scherpe hrsg. Band Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990. ' " P l b . 2, 56, l l f . Lukian. Hist.Conscr. 8.
Ergebnisse
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"... quis nescit primam esse historiae legem, ne quid falsi dicere audeat? deinde ne quid veri non audeat? ne qua suspicio gratiae sit in scribendo? ne qua simultatis?" (de orat. 2, 62f.)'". Ein Schelm, wer bei der Fortführung des Gedankengangs an seine umgehende Relativierung im Zeichen der anerkannten Konstruktionsleistung literarischer Rede dächte: "haec scilicet fimdamenta nota sunt omnibus, ipsa autem exaedißcatio posila est in rebus et verbis" (ebd. §63). Ein sprechendes Zeugnis für die Nähe auch der Literatiu-geschichtsschreibung zur Poesie sind nicht erst die artifiziellen Glanzstücke des Cicero und - in den einschlägigen Partien - des Horaz imd Tacitus; gleich die Anfänge römischer Literaturforschung kommen in Versen daher; und selbst in Varros Werken deutet manches auf dialogischen, also doch wohl in Teilen fiktionalen Zuschnitt. 8) Von der Poetizität mancher Erzeugnisse der römischen Literaturgeschichtsschreibung nicht zu trennen ist die Bedeutung, die in ihr dem Anekdotischen zukommt (Porcius, Cicero, Nepos, Seneca maior). Die Anekdote ist ein wichtiger Baustein der ars memorativa und fördert die Tradibilität auch des nicht-anekdotischen Materials. Als reine narratio versinnbildlicht sie geradezu die erzählerische Makrostruktur. Aber auch in dem Sinne, daß sie merkwürdig zwischen 'Wahrheit' und Legende schillert, erscheint sie in moderner Perspektive als Literaturgeschichte en miniature. Spätestens die Kultiu-geschichte vom Typ des New Historicism hat das Anekdotische als unvermeidliches Ingrediens der 'Darstellung' vollauf rehabilitiert. 9) Wo dem Anekdotischen Raum gegeben ist und die Legendenbildung den historisch-biographischen Kem umrankt, wo Historiographie sich der Mittel der Dichtung bedient, stellt sich zuletzt die Frage nach der Rolle, die Das Wahrheitskriterium ist auch leg. 1, 5, für die Trennung der Gattungen entscheidend (hier mit offensichtlicher Einschränkung: quamquam et apud Herodotum patrem historiae et apud Theopompum sunt innumerabiles fahulae [nach Ziegler]). Die Frage nach dem epistemologischen Status ('Wahrheit' versus Rhetorizität/Fiktionalitat) antiker Historiographie konnte im Rahmen der vorii^enden Untersuchung nicht neu verhandelt werden. Zu verweisai ist in diesem Zusammaihang auf die umfassende Erörterung des Problems durch R.Nicolai, La storiografia nell' educazione antica, Pisa 1992, bes. 32-139, u. die wichtigen Modifikationen durch M.Vielberg, Rez. GGA 246, 1994, 173-83, dort 174-79.
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ScMuß
die Imagination in der literarhistorischen Traditionsbildung übernimmt. Eine Geschichtsschreibung, die ihres narrativ-künstlichen Charakters nicht erst überfuhrt werden muß, sondern kunstwillentlich als solche verfertigt wird, rührt mitunter an die Schwelle des Imaginären. Objektives Nichtwissen (besonders in Archäologien und in der Schilderung schlecht dokumentierter Epochen') ebenso wie die auktoriale Gebärde der Selbsterhöhung (Dichterweihe: z.B. Ennius) oder Fremdeloge (Apotheose) kann ursächlich sein für die Vermischung oder auch Ersetzung des Realen durch das Phantastische. Nicht nur wird einzelnes Nicht-Wißbare imaginativ vorgestellt^^^, sondern auch die literarhistorische Begrifflichkeit selbst wird - ihrer besseren Adaptation an die mrratio wegen - metaphorisiert: ich nerme nur die bildreiche Sprache des Velleius (z.B. clarissimum deinde Homeri inluxit ingenium, 1,5,1, der Tiervergleich 1,16,2, die Wettkampfmetaphorik 1,17, 7), den beliebten Lebensaltervergleich, die Metaphorisierung der literaturkritischen Sprache (s. oben S. 107f [mit A 426 u. 429] die Beispiele aus Cicero u. Tacitus). 10) Den - in modemer Perspektive - avanciertesten Punkt römischer Literaturforschimg erreichen wir dort, wo sie - nur scheinbar - regrediert, wo schon die Tektonik des Textes imaginativ konditioniert scheint: wenn in der mnemoneutischen Literarhistorie des älteren Seneca und Tacitus der fiktive Rahmen den Erfindungsreichtum der erinnerten Literaten und Redner noch einmal abbildet. Seneca freilich mochte sich noch täuschen über die metaphorische Potenz seiner memorialen Rekonstruktion. Ciceros phaidrisches Griechenland, Tacitus' Kammerspiel nehmen die phantasievolle Brechung der Realhistorie aber doch wohl bewußt in den Kauf Die Offenlegung der künstlerischen Quellen in der Regression auf das erinnerte Bild ist mit Naivität nicht zu verwechseln. Sie zeugt vom Selbstbewußtsein der literarhistorischen Literatur, die die letzten (bildlich-sprachlichen) Quellen ihrer Inspiration nicht verbergen muß. Es erwächst ihr sogar aus der Berufung auf eine reminiszierte Welt die Autorität, die ihr keine noch so akribisch verfolgte Realhistorie je verleihen und erst eine moderne Theorie der Literaturgeschichte neu beglaubigen könnte.
Es wird sich nie klären lassen, wie hoch der Anteil des Imaginären etwa an der malerischen Darstellung der Frühgeschichte der römischen Literatur in Horaz' Augustusepistel ist. Die Situation wird noch komplizierter dadurch, daß individuelle und kollektive bildliche Anschauung einander unentwirrbar durchdringen.- Auch die zum WillkürlichPhantasievollen neigenden 'Setzungen' der frühen Poeten-Philologen (Volcacius, Porcius) zehren gewiß von einem beträchtlichen imaginativen Potential.
Ausblick
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Man täte gut daran, den Begriff der Literaturgeschichte möglichst weit zu fassen und seine Tauglichkeit in der Anwendung auf antike Texte nicht so sehr nach den Momentaufiiahmen, jedenfalls situationistischen Bestimmungen modemer Literaturgeschichtsschreibung zu ermessen. Was mit großer Hartnäckigkeit als Defizienz mißdeutet wurde, könnte sich gerade in den aktuellen Debatten zur (überfälligen) Kritik der Post- und Zweiten Modeme^^^ als bereicherndes momentum erweisen. So wenig sinnvoll, ja töricht es zimächst erscheinen mochte, den Nachweis römischer Literaturhistoriographie just zu einer Zeit führen zu wollen, da man an Sinn und Möglichkeit der Literaturgeschichtsschreibung zu zweifeln begonnen hat, ja am Phänomen der Literaturgeschichte selbst irre geworden ist, so erhellend könnte nun ein Blick auf das Archiv der alten Texte sein, das eine Schicht literarhistorischen Bemühens dokumentiert, die noch nicht überformt ist von den vielerlei ideologischen Zurüstungen, deren endliche Offenlegung Literaturgeschichte als ganze lange Zeit diskreditiert hat. Die genaueste Observation der Fragmente römischer Literaturgeschichtsschreibung ist deshalb so reizvoll, weil sie ungeschützte, ganz überwiegend radikalpragmatische Kunstgeschichtskunst vor aller Geschichtsphilosophie ist. Wer sie durch das vielfach getrübte Glas 'moderner' Denk- und Verfahrensweisen ansieht (und sich Geschichte ohne Geschichtsphilosophie noch immer nicht wieder vorstellen kann, lächelnd über Steinbrüche, endlose Reihen und Biographismen), verfehlt ihre eigentümliche Zwischenstellung zwischen Poesie und wissenschaftlichem Gestus. Es wird immer einer beträchtlichen dekompositorischen Anstrengung bedürfen, bis man sie in der Anschauung ihres materialen und literarisch-ästhetischen Kerns wieder als das erblickt, was sie - seltsam immobil - über zwei Millennien geblieben ist: Entwurf, Poiesis. Der Stolz der Postmoderne: die Entmächtigung der Ideologien hat seine Komik darin, daß er als sich fortschrittlich dünkender zurückschreitet zu den Anfängen. Man möchte wünschen, daß künftige Reflexion auf (Literatur)Geschichte und das (Literatur)Geschichtliche an ihr häufiger von der Θεωρία des "anfänglich" Scheinenden: der griechisch-römischen "Prae-Modeme" ihren Ausgang nehme.
Ich verweise nur auf die soeben durch A.Sokals u. J.Bricmont entlarvende Studie Impostures Intellectuelles, Paris 1997, in Gang gekommene umfängliche Kritik postmodem(istisch)er Epistemologie sowie die Beiträge des Sonderhefts des Merkur. «Postmoderne. Eine Bilanz» (52, 1998, Heft 594/95).
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* Aufgaioitmien sind eine Auswahl neuerer Literatur- und Philologiegeschichtai sowie die wichtigsten Primärtexte nebst neuerer Facliliteratur zu den Kapiteln П-УШ. Ältere und neuere Literatur zu Theorie und Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung ist jeweils am Ort (bes. in Einleitung u. Schluß) verzeichnet.
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Index locomm Aufgenommen sind antike Autoren und Werke sowie Persönlichkeiten des literarischen Lebens. Bei im Wortlaut zitierten Stellen erscheint die entsprechende Seitenzahl in Fettdruck. Aischines —AAccius 37; 52; 54; 55; 58; 61; 63; 70; 79; 84; 160; 182; 207; 208; 214; cf. Quintilian/И5/. 10,1,97 annales 56 didascalica 52; 53; 54; 56; 57; 58 didascalica I 55 didascalica Π 55 didascalica Ш-УП 55 didascalica VIH 55 didascalica IX 55 frg. 6 M/B/Bl 58 frgg. 7 / 8 55 frg. 9 55 frg. 9 M 53 frgg.\Q+n 55 frg. 12 55 frg. 13 53; 55 frg. 14 54; 55 frg. 15 55 frg. 16 56 frgg. 16-18 55; 58 frg. 17 56 frg. 18 56 frg 23 57 frg 24 57 frg. 25 57 parerga 56 pragmatica 52; 56; 57; 58 pragmatica I 56 pragmaticus [sic] 56 sotadica 53; 56
202
Aischylos 161 ; cf. Horaz ars 275-84; cf. Quintihan/mí. 10,1,67 Antigonos Antimachos
96 cf. Catull c a m . 95,10
Antonius
96; 111; 115
Aper 197; 198; 199; 200; 201; 202; 203; 205; 206 Apollodor
58; 122; 141
Apollonios
167
^ p i u s Claudius Caecus
104
Apuleius
20
Ari starch
51; 55; 58; 141; 166
Aristophanes Frösche
51; 161 48
50; 54; 57; 80; 96; 161 Aristoteles Διδασκαλίαι 49 επιτομή ρητόρων cf. συναγωγή τεχνών Metaphysik 49 Metaphysik A 983b-988a 49 Περί μουσικής 49 Περί ποιητών 49 Περί τραγωδιών 49 Περί φιλοσοφίας 49 Philosophiegeschichte 49 Poetik 48; 49 ЯоейА:1448Ь28-1449а31 49 Poetik I449al4f 145 Poetik 1451a38-1451b7 218
' Für zuverlässige Arbeit bei der Einrichtung des Stellenverzeichnisses danke ich herzlich Herrn Marc Steinmann.
Index locorum
Poetik Kap. 9 Politik 1448b28f. Politik 1449aì4f. Πραγματεΐαι τέχνης Rhetorik συναγωγή τεχνών Asconius Com. 60
ποιητικής
29 109 96 49 49 49 105
Atticus 33; 93; 97; 109; 110; 111; 112; 113; 114; 124; 126; 127 de consulatu Ciceronis 125; 134 imagines 80; 125 liberannalis 113; 114; 125; 131; 132; 208 Augustin civ. 7,9
71
Aurelius Victor
137
Ausoni us Mosella 505fF. protrepticus p. 23 GT.
81 74
Brutus 97; 100; 101; 113; 114; 117; 119; 120; 121 —C— Caecilius
60
Caesar 20; 73; 74; 117 de analogia 117 de ratione Latine loquendi cf. de analogia 73 frg. 1 С Caesar L.f. Vopiscus carmen didascaUcum Calidus
72 125
Cal vus
189
Cassi us Severus
202
C a t o C a i s o n u s 96; 102; 103; 106; 107; 108; 109; 110; 112; 122; 130; 135; 171; 189; cf. Seneca d.Ä. controv. l,praef.,9 origines 106; ПО; 133; 134; 136 Catull carm. 36 carm. 95,10
122; 125; 130; 175 175 175
Catulus
241
58; 59; 64; 111; 169
Celsus
23; 145
Certamen Homeri et Hesiodi Cethegus Chamaeleon von Herakleia Charisius GIA; 95,18 GLK 129 GZ,A:142 GLK 189,25
47 103 50
78 78 65; cf. P o r a u s frg. 5 cf. Accius>g. 13 85
Cicero 34; 46; 64; 73; 74; 75; 90; 91; 93; 94; 96; 97; 99; 100; 101; 103; 105; 106; 108; 109; 115; 117; 118; 120; 121; 122; 123; 124; 126; 145; 159; 160; 163; 169; 170; 187; 189; 198, 205; 208; 213; 214; 217; 220; cf. Quintilian inst. 10,1,105-9; cf. Quintilian inst. 10,1,105-12 acad. 1,8 92 acad. 1,9 91; 92; 208 acad 1,20 208 acad. 1,52 209 acad. 1,56 209 acad. 1,74 209 acad. 1,122 209 acad. 1,232 209 acad. 1,332 209 Arch. 19 132 Att. 1,5,2 126 Att. 1,6,2 126 Att. 1,17,3 126 Att.l,\,\ 133 ^«.5,1,3 126 /(«.6,3,8 126 Att. 12,23,2 131 Att. 13,52,2 72 Att. 14,20,5 126 Att. 15,4,2 126 Att 16,2,5 122 Att. 16,5,5 122 Л«. 16,11,3 79 Brutus 32; 33; 38; 46; 54; 96; 97; 98; 101; 102; 110; 112; 113; 114; 118; 131; 133; 135; 156; 175; 197; 207; 208; 214 Brutus, de oratoribus Claris 113 Brutus Ъ 113 Brutus 4 114
242
Brutus Brutus Brutus Brutus Brutus Brutus Brutus Brutus Brutus Brutus Brutus Brutus Brutus Brutus Bn/iMi
6 И 11-13 13 16+ 19 17 19 19 + 44 20 21 24 25 26-52 52 53-57 55 Brutus 56 BrMíuí 57 Brutus 58 Brutus 61 Brutus 62 Brutus 63 Brutus 64 Brutus 65 Brutus 66 ßn^ftts 67f. S/Kto 68 69 Brutus 70f. Brutus 1\ Brutus 72 ßn