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German Pages [188] Year 2000
Bauwelt Fundamente 1
Herausgegeben von Ulrich Conrads und Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hildegard Barz-Malfatti Elisabeth Blum Eduard Führ Thomas Sieverts Jörn Walter
Blick zurück mit Stolz Kaum kann ich's glauben: Vor einem halben Jahrhundert, genauer: im Frühling des Jahres 1963, konnten meine Ratgeber — Gerd Albers, Adolf Arndt, Lucius Burckhardt, Werner Hebebrand, Werner Kallmorgen, Hermann Mattern, Julius Posener, Hans Scharoun und Hans Joachim Schneider — und ich dem Ullstein Buch-Verlag endlich die von ihm verlangten Titel der ersten vier Bände einer geplanten Sachbuch-Reihe nennen: die hier und heute unverändert vorliegenden Programme und Manifeste, dann als Standardwerke Le Corbusiers Ausblicke auf eine Architektur und Werner Hegemanns Steinernes Berlin, schließlich die Bündelung aktueller städtebaulicher Zeitfragen, von Gerd Albers empfohlen, Jane Jacobs' Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Mit dieser Titelwahl des Anfangs waren die inhaltlich zu begehenden Felder kommender Bände festgelegt: vergangene Highlights, soweit für gegenwärtige Entwicklungen noch oder wieder von Belang; zum anderen Gegenwartsfragen offen, aufbereitet mit wissenschaftlicher Akribie oder in Form von Streitschriften. Mir selbst ging es als Initiator und Herausgeber darum, möglichst viel von Geist und Haltung der zwanziger Jahre in das Baugeschehen und die städtebaulichen Vorsätze der Nachkriegsjahrzehnte herüberzubringen. Ein lebendiges Erbe retten — neuen Uberzeugungen Geltung verschaffen. Daß in der Folge Gestern und Morgen ähnlich ausgeglichen zu Wort gekommen seien, ist indes zuviel behauptet. Immer waren es die jeweils neuen Bauten, das aufgeregte Fachgespräch und offene Zeitfragen, die über Jahrzehnte hin Themen und Titel bestimmten. Wann etwa ließ sich voraussehen, daß mit Band 150 Dietmar Offenhuber und Carlo Ratti darlegen werden, „wie Echtzeitdaten den Urbanismus verändern"? Das aber ist längst schon Lesestoff und Handlungsrahmen für den Städtebau eines neuen Jahrhunderts. Es läuft die Zeit, wir laufen mit. So auch damals, 1963. Unversehens legte uns Helmut Lortz gleich die Umschläge aller vier Titel vor: schwarz-weiß, mit einem unverwechselbaren Signet, der Buchblock mit taubenblauem Farbschnitt, auf den allerdings der Kosten wegen bald verzichtet werden mußte. Schade! Sonst hätte Lortz' erster Entwurf die Fundamente über fünfzig Jahre hin noch eigenwilliger kenntlich gemacht. Wir danken ihm. So wie wir all jenen zu danken haben, die uns mit Rat und Tat zur Seite standen, eingeschlossen die ächzende Kette der Verlage. Nicht von ungefähr ist hier eben aus dem Ich ein Wir geworden: Seit den frühen achtziger Jahren lenkte Peter Neitzke neben mir die Bauwelt Fundamente. Und von Band 150 an verantwortet er das Programm allein. Nicht nur die beiden Jubiläen mahnen mich zum Absprung. So groß die Freude gewesen ist, in Peter Neitzke lange Zeit den Partner zu haben, so kräftig rufe ich ihm jetzt zu: Virtutis fortuna comes — Das Glück ist der Begleiter des Tüchtigen. Im Mai 2013
Ulrich Conrads
Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts Zusammengestellt und kommentiert von Ulrich Conrads
Bauverlag Gütersloh · Berlin
Birkhäuser Basel
Der Umschlag zeigt ein „ Co-op"-Interieur von Hannes Meyer, 1926 Umschlagentwurf: Helmut Lortz Die fremdsprachigen Texte wurden mit Ausnahme derjenigen, für die bereits eine deutsche Fassung vorlag, von Henni Korssakow-Schröder übersetzt.
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. 1. Auflage 1975 2. Auflage 1981 1., unveränderter Nachdruck 2001 2. Nachdruck 2013 Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschließlich über den Birkhäuser Verlag. © 2001 Birkhäuser Verlag GmbH Ein Unternehmen von De Gruyter Postfach 44, CH-4009 Basel, Schweiz В auverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin
Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF oo Printed in Germany ISBN: 978-3-7643-6353-6 987654321
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INHALT
Vorbemerkung Henry van de Velde: Programm Hans Poelzig: Gärung in der Architektur Henry van de Velde: Credo Adolf Loos: Ornament und Verbrechen Frank Lloyd Wright: Organische Architektur Hermann Muthesius: Werkbundziele Muthesius/van de Velde: Werkbund-Thesen und -Gegenthesen Paul Scheerbart: Glasarchitektur Antonio Sant'Elia/Fillipo Tomaro Marinetti: Futuristische Architektur 1918 »De Stijl«: Manifest I Bruno Taut: Ein. Architektur-Programm 1919 »Arbeitsrat für Kunst«: Unter den Flügeln einer großen Baukunst Gropius/Taut/Behne: Der neue Baugedanke Walter Gropius: Manifest und Programm des Staatlichen Bauhauses Weimar Erich Mendelsohn: Das Problem einer neuen Baukunst 1920 Gabo/Pevsner: Grundprinzipien des Konstruktivismus Bruno Taut: Nieder der Seriosismus! Hans Scharoun: Wir sind wieder wahr Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur. Leitsätze 1921 Bruno Taut: Frühlicht 1922 »De Stijl«: Schöpferische Forderungen 1923 »De Stijl«: Manifest V van Doesburg/van Eesteren: Auf dem Weg zum kollektiven Bauen (Kommentar zu Manifest V) Oskar Schlemmer: Manifest zur ersten Bauhaus-Ausstellung Werner Graeff: Es kommt der neue Ingenieur Erich Mendelsohn: Dynamik und Funktion Ludwig Mies van der Rohe: Arbeitsthesen Arthur Korn: Analytische und utopische Architektur 1924 Theo van Doesburg: Auf dem Weg zu einer plastischen Architektur Ludwig Mies van der Rohe: Industrielles Bauen
1903 1906 1907 1908 1910 1911 1914
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1924
Hermann Finsterlin: Casa Nova Kasimir Malewitsch: Suprematistisches Manifest 1925 Le Corbusier: Leitsätze des Städtebaus 1926 Walter Gropius: Grundsätze der Bauliausproduktion Fred6rick Kiesler: Raumstadtbau 1927 Le Corbusier/Pierre Jeanneret: Fünf Punkte zu einer neuen Architektur Ludwig Mies van der Rohe: Über die Form in der Architektur Hugo Häring: Formulierungen zur Neuorientierung im Kunstgewerbe 1928 Mendelsohn/Hoetger: Synthese — Weltbauen »CIAM«: Erklärung von L a Sarraz »de 8«: Programm »ABC« fordert die Diktatur der Maschine Hannes Meyer: bauen 1929 El Lissitzky: Ideologischer Oberbau 1930 Ludwig Mies van der Rohe: Die neue Zeit Frank Lloyd Wright: Junge Architektur 1932 Hugo Häring: Das Haus als organhaftes Gebilde Richard Buckminster Fuller: Universal-Architektur 1933 »CIAM«: Lehrsätze der Charta von Athen 1943 Gropius/Wagner: Ein Programm für Stadterneuerung 1947 Ein Nachkriegs-Aufruf Frederick Kiesler: Magische Architektur 1949 Henry van de Velde: Formen 1950 Ludwig Mies van der Rohe: Technik und Architektur 1954 Jacques Fillon: Neue Spiele! 1957 Konrad Wachsmann: Sieben Thesen 1958 Hundertwasser: Verschimmelungs-Manifest gegen den Rationalismus in der Architektur Constant/Debord: Situationistische Definitionen 19G0 William Katavolos: Organics Gieselmann/Ungers: Zu einer neuen Architektur »GEAM«: Programm für ein mobiles Bauen Louis I. Kahn: Ordnung ist Ruhnau/Klein: Projekt einer Luftarchitektur »Situationisten«: Internationales Manifest Eckhard Schulze-Fielitz: Die Raumstadt Constant: Neu Babylon ig6i Richard Buckminster Fuller: Für ein Welt-Planungs-Programm 1962 Pichler/Hollein: Absolute Architektur Yona Friedman: Die 10 Prinzipien des Raumstadtbaus 1963 Wir fordern Quellen Register
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VORBEMERKUNG Der Wunsch, die vielfältigen programmatischen Aussagen zur Architektur unseres Jahrhunderts einmal in übersichtlicher Form versammelt zu sehen, wurde durch das scheinbar abseitigste Architektur-Manifest der letzten Jahre geweckt. Wer 1958 das »verschimmelungs-manifest gegen den rationalismus in der architektur« von Hundertwasser zu Gesicht bekam, wird vielleicht ähnlich reagiert haben wie der Herausgeber des vorliegenden Bandes: er wunderte sich weniger über den Protest ids solchen — waren doch bereits damals die Stimmen gegen eine funktionelle Architektur unüberhörbar —, er war weit mehr betroffen von der krassen Subjektivität, mit der das Bau-Werk zweier Generationen pauschal der Destruktion und moralischen Unbewohnbarkeit geziehen wurde. Es hat in diesem Jahrhundert an kritischen und tunwälzenden Aktionen und Verlautbartingen wahrhaftig nicht gefehlt. Doch nie zuvor wurde das Bauen so unbedenklich der anarchischen Willkür des einzelnen überantwortet wie in diesem Manifest; nie zuvor wurde so laut die Forderung erhoben, Gebautes den »schöpferischen« Kräften natürlicher Abbauprozesse auszusetzen. Die Äußerungen der Lettristen und späteren Situationisten, die sich von 1954 an in den verschiedensten, meist literarischen Publikationen finden, stellen zwar ebenfalls rationelles Bauen und funktionelle Planting grundsätzlich in Frage, bieten aber als Lösung dringender Aufgaben keineswegs unverbindliche Handlungen oder unverbindliches Geschehenlassen an, sondern fordern im Gegenteil konsequente Bezugnahme auf Ort und konkrete Situation. Mit den »neuen Spielen«, zu denen sie aufrufen, ist keineswegs ein bezugloser Umgang mit Bau und Stadt gemeint, sondern vielmehr die Wiedereinsetzung der schöpferischen Imagination, die auf einer genauen Beobachtung der auf so komplexe Weise verflochtenen Stadtstrukturen gründet. Und wenn — ein anderes Beispiel — der Vater der Futuristen, Marinetti, vierzig Jahre zuvor, in den Ergänzungen zur »Botschaft« von Sant'Elia 1914, die »gesamte... moderne Architektur« bekämpft und erklärt, daß dynamisches Bauen ohne schräge oder elliptische Linien nicht existieren könne, so zielt auch er weder auf Unverbindliches noch auf Anarchie im Bauen, sondern durchaus auf das Gegenteil: auf »die Architektur der Berechnung«. Der Leser wird unschwer andere, ähnlich provozierende Zusammenhänge oder Widersprüche in den hier zusammengetragenen Manifesten, Programmen und programmatischen Aufsätzen entdecken, die gleicherweise Anstoß zu diesem Sammelband hätten geben können. Die Auswahl — und um eine Auswahl handelt es sich hier — ist bewußt auf Texte dieses Jahrhunderts beschränkt. Dasjenige, was der Entwicklung um 1900 vorangeht, wird in anderen Bänden dieser Reihe in seinen Zusammenhängen dargestellt. Für die Auswahl selbst war zweierlei bestimmend: es wurden nur jene Texte aufgenommen, die einerseits Initial oder Stufe einer bestimmten Entwicklung des Bauens bedeuteten, andererseits von bestimmendem Einfluß waren auf das Baugeschehen im mitteleuropäischen Raum. Die Texte sind sämtlich nach dem Jahr der ersten Veröffentlichung geordnet. Innerhalb der Jahrgänge ist jedoch diese chronologische Reihenfolge zugunsten bestimmter Gegenüberstellungen verlassen. Bei aufsatzartigen Beiträgen waren Kürzungen nicht immer zu vermeiden; sie sind in jedem Fall angemerkt. Für die Druckerlaubnis schuldet der Herausgeber den Autoren und den im Quellenverzeichnis genannten Verlagen seinen ausdrücklichen Dank. UC.
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HENRY VAN DE VELDE PROGRAMM
1903
Der >Aufbruch um igoo< hat in Henry van de Velde (* 1865 in Antwerpen, f 1957 in Zürich) einen bereits in Rede und Gegenrede erfahrenen Programmatiker und Wortführer. Seine ersten richtungweisenden Publikationen erschienen Mitte der neunziger Jahre in Brüssel; von 1896 an ist sein Name unlösbar mit dem Begriff »L'Art Nouveau« (gleichnamige Ausstellung bei S. Bing in Paris) verknüpft. Auf einer Deutschlandreise im Winter 1900/01 verkündet er in kunstgewerblichen Laienpredigten< seine funktionelle Ästhetik, die Ästhetik der >reinen FormLaienpredigten< fort. Die von ihm »Credo« genannten drei Abschnitte finden sich im Kapitel >Das Streben nach einem Stil, dessen Grundlagen auf vernünftiger, logischer Konzeption beruhend Man brauche diese Prinzipien — so sagt Henry van de Velde — nur auszusprechen, um sie geltend zu machen. Ihre Fruchtbarkeit sei bereits erwiesen. In der Tat erwachsen daraus nicht nur der Theorie und Kritik, sondern auch der Praxis des neuen Bauens die zwei Grundforderungen: Materialehrlichkeit, Konstruktionsehrlichkeit. Beide sind seither unbestritten.
D u sollst die F o r m und die Konstruktion aller Gegenstände nur im Sinne ihrer elementaren, strengsten Logik und Daseinsberechtigung erfassen. D u sollst diese Formen und Konstruktionen dem wesentlichen G e b r a u c h des Materials, das du anwendest, anpassen und unterordnen. U n d wenn dich der W u n s c h beseelt, diese Formen und Konstruktionen zu verschönern, so gib dich d e m V e r l a n g e n nach Raffinement, zu welchem dich deine ästhetische Sensibilität oder dein G e s c h m a c k für O r n a m e n t i k — welcher A r t sie auch sei — inspirieren wird, nur insoweit hin, als du das Recht und das wesentliche Aussehen dieser Formen und Konstruktionen achten und beibehalten kannst!
Henry van de Velde 14
A D O L F LOOS ORNAMENT UND VERBRECHEN
Adolf Loos (* 1870 in Brünn, f 1933 in Wien) bringt von seinem dreijährigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten (1893—96) ein Wort von Louis H. Sullivan mit nach Wien: »Es könnte uns nur zum Besten gereichen, wenn wir für eine Zeitlang das Ornament beiseite ließen und uns ganz und gar auf die Errichtimg von in ihrer Nüchternheit schön geformten und anmutigen Bauwerken konzentrierten.« Daraus entwickelt Loos seinen radikalen ästhetischen Purismus, der ihn zum eifernden Gegner des Jugendstils und des Deutschen Werkbundes macht: ».. . im deutschen werkbund (soll) der Stil unserer zeit gefunden werden. Das ist unnötige arbeit. Den stil unserer zeit haben wir ja.«
Der menschliche embryo macht im mutterleibe alle entwicklungsphasen des tierreiches durch. Wenn der mensch geboren wird, sind seine sinneseindrücke gleich denen eines neugeborenen hundes. Seine kindheit durchläuft alle Wandlungen, die der geschichte der menschheit entsprechen. Mit zwei jähren sieht er wie ein papua, mit vier jähren wie ein germane, mit sechs jähren wie Sokrates, mit acht jähren wie Voltaire. Wenn er acht jähre alt ist, kommt ihm das violett zum bewußtsein, die färbe, die das achtzehnte jahrhundert entdeckt hat, denn vorher waren das Veilchen blau und die purpurschnecke rot. Der physiker zeigt heute auf färben im sonnenspektrum, die bereits einen namen haben, deren erkenntnis aber dem kommenden menschen vorbehalten ist. Das kind ist amoralisch. Der papua ist es f ü r uns auch. D e r papua schlachtet
seine feinde ab und verzehrt sie. Er ist kein Verbrecher. Wenn aber der moderne mensch jemanden abschlachtet und verzehrt, so ist er ein Verbrecher oder ein degenerierter. Der papua tätowiert seine haut, sein boot,
seine ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein Verbrecher. Der moderne mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein degenerierter. Es gibt gefängnisse, in denen achtzig Prozent der häftlinge tätowierungen aufweisen. Die tätowierten, die nicht in helft sind, sind latente Verbrecher oder degenerierte aristokraten. Wenn ein tätowierter in freiheit stirbt, so ist er eben einige jähre, bevor er einen mord verübt hat, gestorben. Der drang, sein gesicht und alles, was einem erreichbar ist, zu ornamentieren, ist der uranfang der bildenden kunst. Es ist das lallen der maierei. Alle kunst ist erotisch. Das erste ornament, das geboren wurde, das kreuz, war erotischen ursprungs. Das erste kunstwerk, die erste künstlerische tat, die der erste künstler, um seine überschüssigkeiten loszuwerden, an die wand schmierte. Ein horizontaler strich: das liegende weib. Ein vertikaler strich: der sie durchdringende mann. Der mann, der es schuf, empfand denselben drang wie Beethoven, er war in demselben himmel, in dem Beethoven die neunte schuf.
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Aber der mensch unserer zeit, der aus innerem dränge die wände mit erotischen Symbolen beschmiert, ist ein Verbrecher oder ein degenerierter. Es ist selbstverständlich, daß dieser drang menschen mit solchen degenerationserscheinungen in den anstandsorten am heftigsten überfällt. Man kann die kultur eines landes an dem grade messen, in dem die abortwände beschmiert sind. Beim kinde ist es eine natürliche erscheinung: seine erste kunstäußerung ist das bekritzeln der wände mit erotischen Symbolen.Was aber beim papua und beim kinde natürlich ist, ist beim modernen menschen eine degenerationserscheinung. Ich habe folgende erkenntnis gefunden und der weit geschenkt: Evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des Ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande. Ich glaubte damit neue freude in die weit zu bringen, sie hat es mir nicht gedankt. Man war traurig und ließ die köpfe hängen. Was einen drückte, war die erkenntnis, daß man kein neues ornament hervorbringen könne. Wie, was jeder neger kann, was alle Völker und Zeiten vor uns gekonnt haben, das sollten allein wir, die menschen des neunzehnten Jahrhunderts, nicht vermögen? Was die menschheit in früheren Jahrtausenden ohne ornament geschaffen hatte, wurde achtlos v e r w o r f e n u n d d e r Vernichtung
preisgegeben. Wir besitzen keine hobelbänke aus der karolingerzeit, aber jeder Schmarren, der auch nur das kleinste ornament aufwies, wurde gesammelt, gereinigt, und prunkpaläste wurden zu seiner beherbergung gebaut. Traurig gingen die menschen dann zwischen den vitrinen umher und schämten sich ihrer impotenz. Jede zeit hatte ihren
stil, und nur unserer zeit soll ein stil versagt bleiben? Mit stil meinte man das ornament. Da sagte ich: Weinet nicht! Seht, das macht ja die große unserer zeit aus, daß sie nicht imstande ist, ein neues ornament hervorzubringen. Wir haben das ornament überwunden, wir haben uns zur ornamentlosigkeit durchgerungen. Seht, die zeit ist nahe, die erfüllung wartet unser. Bald werden die Straßen der Städte wie weiße mauern glänzen. Wie Zion, die heilige Stadt, die hauptstadt des himmels. Dann ist die erfüllung da. Aber es gibt schwarzalben, die das nicht dulden wollten. Die menschheit sollte weiter in der Sklaverei des Ornamentes keuchen. Die menschen waren weit genug, daß das ornament ihnen keine lustgefühle mehr erzeugte, weit genug, daß ein tätowiertes antlitz nicht wie bei den papuas das ästhetische empfinden erhöhte, sondern es verminderte. Weit genug, um freude an einer glatten zigarettendose zu empfinden, während eine ornamentierte, selbst bei gleichem preise, von ihnen nicht gekauft wurde. Sie waren glücklich in ihren kleidern und waren froh, daß sie nicht in roten samthosen mit goldlitzen wie die jahrmarktsaffen herumziehen mußten. Und ich sagte: Seht, Goethes Sterbezimmer ist herrlicher als aller renaissanceprunk und ein glattes möbel schöner als idle eingelegten und geschnitzten museumstücke. Die spräche Goethes ist schöner als alle Ornamente der Pegnitzschäfer. Das
hörten
die
schwarzalben
mit
m i ß v e r g n ü g e n , und der Staat, dessen aufgabe
es
kulturellen
ist,
die
Völker
entwicklung
in
ihrer
aufzuhalten,
machte die f r a g e nach der entwicklung und Wiederaufnahme des Ornamentes
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zu der seinen. Welle dem Staate, dessen revolutionen die hofräte besorgen! Bald sah man im wiener kunstgewerbemuseum ein büfett, das »der reiche fischzug« hieß, bald gab es schränke, die den namen »die verwunschene Prinzessin« oder einen ähnlichen trugen, der sich auf das ornament bezog, mit welchem diese unglücksmöbel bedeckt waren. Der österreichische Staat nimmt seine aufgabe so genau, daß er dafür sorgt, daß die fußlappen aus den grenzen der österreichisch-ungarischen monarchie nicht verschwinden. Er zwingt jeden kultivierten zwanzigjährigen mann, drei jähre lang an stelle der gewirkten fußbekleidung fußlappen zu tragen. Denn schließlich geht eben jeder Staat von der Voraussetzung aus, daß ein niedrigstehendes volk leichter zu regieren ist. Nun gut, die ornament-seuche ist staatlich anerkannt und wird mit staatsgeldern subventioniert. Ich aber erblicke darin einen rückschritt. Ich lasse den einwand nicht gelten, daß das ornament die lebensfreude eines kultivierten menschen erhöht, lasse den einwand nicht gelten, der sich in die worte kleidet: »wenn aber das ornament schön i s t . . . ! « Mir, und mit mir allen kultivierten menschen, erhöht das ornament die lebensfreude nicht. Wenn ich ein stück pfefferkuchen essen will, so wähle ich mir eines, das ganz glatt ist, und nicht ein stück, das ein herz oder ein Wickelkind oder einen reiter darstellt, der über und über mit Ornamenten bedeckt ist. Der mann aus dem fünfzehnten jahrhundert wird mich nicht verstehen. Aber alle modernen menschen werden es. Der Vertreter des Ornamentes glaubt, daß mein drang nach einfachheit einer kasteiung gleich-
kommt. Nein, verehrter herr professor aus der kunstgewerbeschule, ich kasteie mich nicht! Mir schmeckt es so besser. Die schaugerichte vergangener Jahrhunderte, die edle Ornamente aufweisen, um die pfauen, fasane und hummern schmackhafter erscheinen zu lassen, erzeugen bei mir den gegenteiligen effekt. Mit grauen gehe ich durch eine kochkunstausstellung, wenn ich daran denke, ich sollte diese ausgestopften tierleichen essen. Ich esse roastbeef. Der ungeheure schaden und die Verwüstungen, die -die neuerweckung des Ornamentes in der ästhetischen entwicklung anrichtet, könnten leicht verschmerzt werden, denn niemand, auch keine Staatsgewalt, kann die evolution der menschheit aufhalten. Man kann sie nur verzögern. Wir können warten. Aber es ist ein verbrechen an der Volkswirtschaft, daß dadurch menschliche arbeit, geld und material zugrunde gerichtet werden. Diesen schaden kann die zeit nicht ausgleichen. Das tempo der kulturellen entwicklung leidet unter den nachzüglern. Ich lebe vielleicht im jähre 1908, mein nachbar aber lebt um 1900 und der dort im jähre 1880. Es ist ein unglück f ü r einen Staat, wenn sich die kultur seiner einwohner auf einen so großen Zeitraum verteilt. Der kalser bauer lebt im zwölften jahrhundert. Und im jubiläumsfestzuge gingen Völkerschaften mit, die selbst während der Völkerwanderung als rückständig empfunden worden wären. Glücklich das land, das solche nachzügler und marodeure nicht hat. Glückliches Amerika! Bei uns gibt es selbst in den Städten unmoderne menschen, nachzügler aus dem achtzehnten jahrhundert, die sich 17
über ein bild mit violetten schatten entsetzen, weil sie das violett noch nicht sehen können. Ihnen schmeckt der fasan besser, an dem der koch tagelang arbeitet, und die zigarettendose mit renaissance-ornamenten gefällt ihnen besser als die glatte. Und wie steht's auf dem lande? Kleider und hausrat gehören durchweg früheren jahrhunderten an. Der bauer ist kein christ, er ist noch ein heide. Die nachzügler verlangsamen die kulturelle entwicklung der Völker und der menschheit, denn das ornament wird nicht nur von Verbrechern erzeugt, es begeht ein verbrechen dadurch, daß es den menschen schwer an der gesundheit, am nationalvermögen und also in seiner kulturellen entwicklung schädigt. Wenn zwei menschen nebeneinander wohnen, die bei gleichen bedürfnissen, bei denselben ansprächen an das leben und demselben einkommen verschiedenen kulturen eingehören, kann man, volkswirtschaftlich betrachtet, folgenden Vorgang wahrnehmen: der mann des zwanzigsten jahrhunderts wird immer reicher, der mann des achtzehnten jahrhunderts immer ärmer. Ich nehme an, daß beide ihren neigungen leben. Der mann des zwanzigsten jahrhunderts kann seine bedürfnisse mit einem viel geringeren kapital decken und daher ersparnisse machen. Das gemüse, das ihm mundet, ist einfach in wasser gekocht und mit etwas butter Übergossen. Dem anderen mann schmeckt es erst dann gleich gut, wenn honig und nüsse dabei sind und wenn ein mensch stundenlang daran gekocht hat. Ornamentierte teller sind sehr teuer, während das weiße geschirr, aus dem es dem modernen menschen schmeckt, billig ist. Der eine 18
macht ersparnisse, der andere schulden. So ist es mit ganzen nationen. Wehe, wenn ein volk in der kulturellen entwicklung zurückbleibt! Die engländer werden reicher und wir ä r m e r . . . Noch viel größer ist der schaden, den das produzierende volk durch das ornament erleidet. Da das ornament nicht mehr ein natürliches produkt unserer kultur ist, also entweder eine rückständigkeit oder eine degenerationserscheinung darstellt, wird die arbeit des ornamentikers nicht mehr nach gebühr bezahlt. Die Verhältnisse in den gewerben der holzbildhauer und drechsler, die verbrecherisch niedrigen preise, die den Stickerinnen und Spitzenklöpplerinnen bezahlt werden, sind bekannt. Der ornamentiker muß zwanzig stunden arbeiten, um das einkommen eines modernen arbeiters zu erreichen, der acht stunden arbeitet. Das ornament verteuert in der regel den gegenständ, trotzdem kommt es vor, daß ein ornamentierter gegenständ bei gleichem materialpreis und nachweislich dreimal längerer arbeitszeit um den halben preis angeboten wird, den ein glatter gegenständ kostet. Das fehlen des Ornamentes hat eine Verkürzung der arbeitszeit und eine erhöhung des lohnes zur folge. Der chinesische Schnitzer arbeitet sechzehn stunden, der amerikanische arbeiter acht. Wenn ich für eine glatte dose so viel zahle wie für eine ornamentierte, gehört die differenz an arbeitszeit dem arbeiter. Und gäbe es überhaupt kein ornament — ein zustand, der vielleicht in jahrtausenden eintreten wird —, brauchte der mensch statt acht stunden nur vier zu arbeiten, denn die hälfte der arbeit entfällt heute noch auf Ornamente.
Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit. So war es immer. Heute bedeutet es aber auch vergeudetes material, und beides bedeutet vergeudetes kapital. Da das ornament nicht mehr organisch mit unserer kultur zusammenhängt, ist es auch nicht mehr der ausdruck unserer kultur. Das ornament, das heute geschaffen wird, hat keinen Zusammenhang mit uns, hat überhaupt keine menschlichen zusammenhänge, keinen Zusammenhang mit der weltordnung. Es ist nicht entwicklungsfähig. Was geschah mit der Ornamentik Otto Eckmanns, was mit der van de Veldes? Stets stand der künstler voll kraft und gesundheit an der spitze der menschheit. Der moderne ornamentiker aber ist ein nachzügler oder eine pathologische erscheinung. Seine produkte werden schon nach drei jähren von ihm selbst verleugnet. Kultivierten menschen sind sie sofort unerträglich, den anderen wird diese unerträglichkeit erst nach jähren bewußt. Wo sind heute die arbeiten Otto Eckmanns? Wo werden die arbeiten Olbrichs nach zehn jähren sein? Das moderne ornament hat keine eitern und keine nachkommen, hat keine Vergangenheit und keine zukunft. Es wird von unkultivierten menschen, denen die große unserer zeit ein buch mit sieben siegeln ist, mit freuden begrüßt und nach kurzer zeit verleugnet. Die menschheit ist gesünder denn je, krank sind nur einige wenige. Diese wenigen aber tyrannisieren den arbeiter, der so gesund ist, daß er kein ornament erfinden kann. Sie zwingen ihn, die von ihnen erfundenen Ornamente in den verschiedensten materialien auszuführen.
Der Wechsel der Ornamente hat eine frühzeitige entwertung des arbeitsproduktes zur folge. Die zeit des arbeiters, das verwertete material sind kapitalien, die verschwendet werden. Ich habe den satz aufgestellt: Die form eines gegenständes halte so lange, das heißt, sie sei so lange erträglich, solange der gegenständ physisch hält. Ich will das zu erklären suchen: ein anzug wird seine form häufiger wechseln als ein wertvqller pelz. Die balltoilette der frau, nur für eine nacht bestimmt, wird ihre form rascher wechseln als ein schreibtisch. Wehe aber, wenn man den schreibtisch so rasch wechseln muß wie eine balltoilette, weil einem die alte form unerträglich geworden ist, dann hat man das für den schreibtisch verwendete geld verloren. Das ist dem ornamentiker wohlbekannt, und die österreichischen ornamentiker suchen diesem Mangel die besten seiten abzugewinnen. Sie sagen: »Ein konsument, der eine einrichtung hat, die ihm schon nacli zehn jähren unerträglich wird, und der daher gezwungen ist, sich alle zehn jähre einrichten zu lassen, ist uns lieber als einer, der sich einen gegenständ erst dann kauft, wenn der alte aufgebraucht ist. Die Industrie verlangt das. Millionen werden durch den raschen Wechsel beschäftigt.« Es scheint dies das geheimnis der österreichischen nationalökonomie zu sein; wie oft hört man beim ausbruch eines brandes die worte: »Gott sei dank, jetzt haben die leute wieder etwas zu tun.« D a weiß ich ein gutes mittel: Man zünde eine Stadt an, man zünde das reich an, und alles schwimmt in geld und Wohlstand. Man verfertige möbel, mit denen man nach drei jähren ein19
heizen kann, beschläge, die m a n nach vier jähren einschmelzen m u ß , weil m a n selbst im versteigerungsamt nicht den zehnten teil des arbeits- u n d materialpreises erzielen kann, u n d wir werden reicher und reicher. Der Verlust trifft nicht nur den konsumenten, er trifft vor allem den Produzenten. Heute bedeutet das ornament an dingen, die sich dank der entwickl u n g dem Ornamentiertwerden entzogen haben, vergeudete arbeitskraft und geschändetes material. W e n n alle gegenstände ästhetisch so l a n g e halten würden, wie sie es physisch tun, könnte der konsument einen preis d a f ü r entrichten, der es dem arbeiter ermöglichen würde, mehr geld zu verdienen und weniger l a n g arbeiten zu müssen. F ü r einen gegenständ, bei dem ich sicher bin, d a ß ich ihn voll ausnützen und aufbrauchen kann, zahle ich gern viermal soviel w i e f ü r einen in form oder material minderwertigen. Ich zahle f ü r meine Stiefel gern vierzig kronen, obwohl ich in einem anderen geschäft Stiefel u m zehn kronen bek o m m e n würde. A b e r in jenen gewerben, die unter der tyrannei der ornamentiker schmachten, wird gute oder schlechte arbeit nicht gewertet. D i e arbeit leidet, weil n i e m a n d gewillt ist, ihren w a h r e n wert zu bezahlen. U n d das ist g u t so, denn diese ornamentierten dinge wirken nur in der schäbigsten a u s f ü h r u n g erträglich. Ich k o m m e über eine feuersbrunst leichter h i n w e g , w e n n ich höre, d a ß nur wertloser tand verbrannt ist. Ich k a n n mich über den gschnas i m künstlerhaus freuen, w e i ß ich doch, d a ß er in wenig e n t a g e n aufgestellt, in einem tage abgerissen wird. A b e r das w e r f e n mit goldstücken statt m i t kieselsteinen, das 20
anzünden einer Zigarette mit einer banknote, das pulverisieren und trinken einer perle wirkt unästhetisch. W a h r h a f t unästhetisch wirken die ornamentierten dinge erst, w e n n sie im besten material, mit der höchsten Sorgfalt ausgeführt w u r d e n u n d lange arbeitszeit beansprucht haben. Ich k a n n mich nicht davon freisprechen, qualitätsarbeit zuerst gefordert zu haben, aber freilich nicht f ü r dergleichen. Der moderne mensch, der das ornament als zeichen der künstlerischen überschüssigkeit vergangener epochen heilig hält, wird das gequälte, mühselig abgerungene und krankhafte der modernen Ornamente sofort erkennen. Kein ornament k a n n h e u l e mehr geschaffen werden von einem, der auf unserer kulturstufe lebt. Anders ist es m i t den menschen und Völkern, die diese stufe noch nicht erreicht haben. Ich predige den aristokraten, ich meine den menschen, der an der spitze der menschheit steht und doch das tiefste Verständnis f ü r das drängen u n d die not der untenstehenden hat. D e n kaffer, der Ornamente nach einem bestimmten rhythmus in die gewebe einwirkt, die nur z u m Vorschein kommen, w e n n m a n sie auftrennt, den perser, der seinen teppich knüpft, die slowakische bäuerin, die ihre spitze stickt, die alte dame, die wunderbare dinge in glasperlen und seide häkelt, die versteht er sehr wohl. Der aristokrat läßt sie gewähren, er weiß, daß es ihre heiligen stunden sind, in denen sie arbeiten. Der revolutionär würde h i n g e h e n und sagen: »Es ist alles unsinn.« W i e er auch das alte weiblein v o m bildstock reißen würde und sagen w ü r d e : »Es gibt kei-
nen gott.« Der atheist unter den aristokraten aber lüftet seinen hut, wenn er bei einer kirche vorbeigeht. Meine schuhe sind über und über mit Ornamenten bedeckt, die von zacken und löchern herrühren. Arbeit, die der schuster geleistet hat, die ibm nicht bezahlt wurde. Ich gehe zum schuster und sage: »Sie verlangen für ein paar schuhe dreißig kronen. Ich werde ihnen vierzig kronen zahlen.« Damit habe ich diesen mann auf eine selige höhe gehoben, die er mir danken wird durch arbeit und materiell, die an güte in gar keinem Verhältnis zum mehrbetrag stehen. Er ist glücklich. Selten kommt das glück in sein haus. Hier steht ein mann vor ihm, der ihn versteht, der seine arbeit würdigt und nicht an seiner ehrlichkeit zweifelt. In gedanken sieht er schon die fertigen schuhe vor sich. Er weiß, wo gegenwärtig das beste leder zu finden ist, er weiß, welchem arbeiter er die schuhe anvertrauen wird, und die schuhe werden zacken und punkte aufweisen, so viele, als nur auf einem eleganten schuh platz haben. Und nun sage ich: »Aber eine bedingung stelle ich. Der schuh muß ganz glatt sein.« Da habe ich ihn aus den seligsten höhen in den tartarus gestürzt. Er hat weniger arbeit, aber ich habe ihm alle freude genommen. Ich predige den aristokraten. Ich ertrage Ornamente am eigenen körper, wenn sie die freude meiner mitmenschen ausmachen. Sie sind dann auch meine freude. Ich ertrage die Orna-
mente
des
kaffern,
slowakischen
des
bäuerin,
persers,
die
der
Ornamente
m e i n e s schusters, denn sie alle
haben
kein a n d e r e s mittel, u m z u den höhe-
punkten
ihres
daseins zu
kommen.
Wir haben die kunst, die das ornament
abgelöst
hat.
Wir
gehen
nach
des tages last und m ü h e n zu Beet-
hoven oder in den Tristem. Das kann mein schuster n i c h t . I c h darf i h m seine freude
nicht
nehmen,
da
ich
nichts
anderes an ihre stelle zu s e t z e n habe. W e r aber zur neunten Symphonie geht u n d sich d a n n hinsetzt, u m ein tapetenmuster
zu
zeichnen,
ist
entweder
ein hochstapler oder ein degenerierter.
Das fehlen des Ornamentes hat die übrigen
künste
zu
ungeahnter
gebracht. D i e Symphonien
höhe
Beethovens
w ä r e n nie v o n einem m a n n e geschrieben worden, d e r
in seide, samt
spitzen dahergehen m u ß t e . W e r
und heute
im Samtrock herumläuft, ist kein künstler, sondern ein hanswurst oder ein anstreicher. Wir sind feiner, subtiler
geworden.
Die
herdenmenschen
mußten sich durch verschiedene färben unterscheiden, der moderne mensch braucht sein kleid als maske. So ungeheuer stark ist seine Individualität, daß sie sich nicht mehr in kleidungsstücken
ausdrücken
läßt.
Ornament-
losigkeit ist ein zeichen geistiger kraft. Der
moderne
mensch
verwendet
die
Ornamente früherer u n d fremder k u l -
turen nach seinem gutdünken. Seine eigene erfindung konzentriert er auf andere dinge.
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FRANK LLOYD WRIGHT ORGANISCHE ARCHITEKTUR (Auszug)
1910
1910 kommt Frank Lloyd Wright (* 1867 oder 186g in Richland Center/Wisconsin, f 1959 in Taliesin West/Arizona) auf Einladung des Verlegers Ernst Wasmuth nach Deutschland, um die erste Veröffentlichung seiner gesamten Arbeiten (1895—1910) zu überwachen. Kuno Francke, einige Zeit Austausch-Professor in Harvard, hatte in Berlin auf Wright aufmerksam gemacht. Mit dieser Publikation, die Wright selbst einleitet, hat der Baugedanke eines freien Raumflusses zwischen den verschiedenen Wohnbereichen, hat die organische Entwicklung eines Baus auf L-, X- und T-förmigen Grundrissen festen Fuß gefaßt in Europa.
In der organischen Architektur ist es völlig unmöglich, das Gebäude als eine Sache zu betrachten, die Einrichtung als eine andere und Standort und Umgebung als wieder eine andere. Der Geist, in dem diese Bauten konzipiert sind, sieht all dies gemeinsam als ein Ding. Alle müssen sorgsam vorhergeplant und der Natur des Gebäudes entsprechend beschafft werden. All diese Dinge sollten lediglich zu Einzelheiten des Charakters und der Vollständigkeit des Gebäudes werden. Eingebaut (oder weggelassen) werden Beleuchtung, Heizung und Ventilation. Selbst die Stühle und Tische, Schränke und sogar die Musikinstrumente — wo es sich durchführen läßt — gehören zu dem Gebäude selber, sie sind niemals Einrichtungsstücke, die nur hineingestellt w e r d e n . . . So einen menschlichen Wohnplatz zu einem vollendeten Kunstwerk zu machen, in sich selber ausdrucksvoll und schön, innig auf das moderne Leben bezogen und geeignet, bewohnt zu werden, zu einem Kunstwerk, das sich freier und angemessener den individuellen Bedürfnissen der darin Lebenden hingibt und selbst eine harmonische Wesenheit ist, das in Farbe, Bild und Natur mit den notwendigen Forderungen übereinstimmt und seinem Charakter nach wirklich ihr Ausdruck ist — das ist die große, moderne amerikanische Chance in der Architektur. Echte Grundlage einer echten Kultur. Ist das eine exaltierte Ansicht vom »Besitzinstinkt« unserer Zeit? Doch wenn dieses Ideal erst einmal begründet und zu besichtigen ist, wird es, davon bin ich überzeugt, eine neue Tradition werden: ein großer Schritt voraus und fort von der vorgeschriebenen Mode einer Zeit, als eine Wohnung ein Kompositum von Zellen war, voneinander getrennte Zimmer, die Ansammlungen von Möbelstücken, wie gut diese auch sein mochten, enthielten, während es an nützlichem Komfort fehlte: das war überwiegend Besitzinteresse. Das moderne Gebäude jedoch ist im Gegensatz zu jener früheren unvernünftigen Anhäufung von Teilen ein organisches Wesen. Bestimmt haben wir hier das höhere Ideal der Einheitlichkeit als innigere Verwirklichung des Ausdrucks des eigenen Lebens in der eigenen Umgebung. Eine einzige große Sache statt einer widersprüchlichen Kollektion so vieler kleiner Dinge.
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HERMANN MUTHESmS WERKBUNDZIELE (Auszug)
1911
Die eigentliche Geburtsstunde des Deutschen Werkbundes war die »Dritte Deutsche Kunstgewerbe-Ausstellung Dresden 1906«. Der Vorschlag einiger Gesinnungsfreunde, »die Ausstellung in die Gründung eines Bundes von Künstlern und hochqualifizierten Vertretern von Gewerbe und Industrie ausmünden zu lassen«, wird am 6. Oktober 1907 in die Tat umgesetzt. Obgleich einer der Anreger, gehört Hermann Muthesius (* 1861 in Groß-Neuhausen, f 1927 in Berlin) nicht zu den Gründungsmitgliedern. Dennoch war Muthesius der erste Programmatiker des Bundes. Für das deutsche Kunstgewerbe und Bauhandwerk aber ist er damals — auf Grund seiner Berichte über den englischen Wohnungsbau (1904/07) — bereits »Der Fall Muthesius«.
Der Form wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, m u ß die fundamentale A u f gabe unserer Zeit, m u ß der Inhalt namentlich jeder künstlerischen Reformarbeit sein, u m die es sich heute handeln kann. Der glückliche Verlauf der kunstgewerblichen Bewegung, die die innere Ausstattung unserer Räume neu gebildet, die den Spezialgewerben neues Leben eingehaucht und der Architektur fruchtreiche Anregung gegeben hat, kann nur als kleines Vorspiel dessen betrachtet werden, was noch kommen muß. Denn trotz allem, was wir erreicht haben, waten wir noch bis an die Knie in Formverwilderung. Bedarf es dafür eines Beweises, so sei auf die Tatsache hingewiesen, daß täglich und stündlich unser Land noch mit Bauerzeugnissen minderwertigsten Charakters bedeckt wird, mit Erzeugnissen, die unserer Zeit unwürdig sind und die der Nachwelt eine nur allzu beredte Sprache von der Unkultur unserer T a g e reden müssen. W a s hat es aber für einen Sinn, von Erfolgen zu sprechen, solange dies noch der Fall ist? Gibt es ein treffenderes Zeugnis für den Geschmack eines
Volkes als die Architekturgebilde, mit denen es seine Straßen und Ortschaften besetzt? W a s wollte es demgegenüber heißen, wenn wir beweisen könnten, daß heute bereits die Kräfte für eine anständige architektonische Gestaltung vorhanden seien, daß diese Kräfte nur nicht an die A u f g a b e n herangelangten? Eben daß sie nicht herangelangen, bezeichnet den Kulturstand der Zeit. Eben daß Tausende und aber Tausende unseres Volkes nicht nur an diesem Verbrechen gegen die Form empfindungslos vorübergehen, sondern daß sie als Bauherren durch die W a h l ungeeigneter Berater noch zu ihrer Vermehrung beitragen, eben das ist das untrügliche Zeugnis f ü r den Tiefstand unseres Formgefühls und damit unserer künstlerischen Kultur überhaupt. Der Deutsche Werkbund wurde in Jahren gegründet, in denen sich ein engerer Zusammenschluß aller an den guten Bestrebungen Beteiligten gegen anstürmende Widersacher notwendig machte. Seine Kampfesjahre nach dieser Richtung sind heute vorüber. Den Ideen, u m die es sich handelt, 25
wird von keiner Seite mehr widersprochen, sie erfreuen sich allgemeiner Billigung. Ist damit etwa seine Existenz überflüssig geworden? Man könnte auf solche Gedanken kommen, wenn mein das engere gewerbliche Schaffensgebiet allein in Betracht zöge. Wir können uns aber nicht damit begnügen, das Sofakissen und den Stuhl in Ordnung gebracht zu haben, wir müssen weiter denken. In Wahrheit beginnt jetzt erst, zugleich mit dem Eintritt in die Friedensära, die eigentliche Arbeit des Deutschen Werkbundes. Und wenn bisher bei der Werkhundarbeit der Qualitätsgedanke im Vordergrund stand, wir aber heute schon feststellen können, daß das Qualitätsempfinden in Deutschland, was Technik und Material betrifft, in raschem Aufstieg begriffen ist, so ist auch mit diesem Erfolg die Aufgabe des Deutschen Werkbundes noch nicht erfüllt. Weit wichtiger als das Materielle ist das Geistige, höher als Zweck, Material und Technik steht die Form. Diese drei können tadellos erledigt sein, und wir würden, wenn die Form nicht wäre, doch noch in einer Welt der Roheit leben. So stellt sich uns als Ziel immer deutlicher die weit größere und weit wichtigere Aufgabe vor die Augen: die Wiedererweckung des Verständnisses und die Neubelebung des
24
architektonischen Empfindens. Denn die architektonische Kultur ist und bleibt der eigentliche Gradmesser für die Kultur eines Volkes überhaupt. Wenn ein Volk zwar gute Möbel und gute Beleuchtungskörper erzeugt, aber täglich die schlechtesten Architekturgebilde hinsetzt, so kann es sich nur um heterogene, ungeklärte Zustände handeln, um Zustände, die eben gerade in ihrer Gemischtheit den Mangel an Disziplin und Organisation beweisen. Kultur ist ohne eine bedingungslose Schätzung der Form nicht denkbar, und Formlosigkeit ist gleichbedeutend mit Unkultur. Die Form ist in demselben Maße ein höheres geistiges Bedürfnis, wie die körperliche Reinlichkeit ein höheres leibliches Bedürfnis ist. Dem wirklich kultivierten Menschen bereiten Roheiten der Form fast körperliche Schmerzen, er hat ihnen gegenüber dasselbe Unbehagen, das ihm Schmutz und schlechter Geruch verursachen. Solange aber der Sinn für die Form bei den Gebildeten unserer Nation nicht bis zu der Dringlichkeit ihres Bedürfnisses nach reiner Wäsche entwickelt ist, solange sind wir auch noch weit von jenen Zuständen entfernt, die sich in irgendeinen Vergleich mit den Zeiten einer hohen Kulturblüte stellen könnten...
MUTHESmS / VAN DE VELDE WERKBUND-THESEN UND -GEGENTHESEN
1914
Im Juni 1914 wird die erste große Ausstellung des Deutschen Werkbundes in Köln eröffnet. Sie soll einen Uberblick über die Arbeit des Werkbundes in den sieben Jahren seit seiner Gründung geben. Schon die heterogenen Bauten der Ausstellung — vom Neoklassizismus eines Behrens bis hin zur heiter-strengen Sachlichkeit von Gropius/Meyers Bürogebäude und Fabrik — lassen die Gegensätze innerhalb des Bundes ahnen. Auf der Kölner Werkbund-Tagung Anfang Juli treffen sie in Etiler Schärfe aufeinander: Muthesius proklamiert als Ziele des Werkbundschaffens Konzentration und Typisierung, van de Velde verteidigt in Gegenthesen den Künstler als schöpferischen Individualisten.
1. Die Architektur und mit ihr das ganze Werkbundschaffensgebiet drängt nach Typisierung und kann nur durch sie diejenige allgemeine Bedeutung wiedererlangen, die ihr in Zeiten harmonischer Kultur eigen war. 2. Nur mit der Typisierung, die als Ergebnis einer heilsamen Konzentration aufzufassen ist, kann wieder ein allgemein geltender, sicherer Geschmack Eingang finden. 3. Solange eine geschmackvolle Allgemeinhöhe nicht erreicht ist, kann auf eine wirksame Ausstrahlung des deutschen Kunstgewerbes auf das Ausland nicht gerechnet werden. 4. Die Welt wird erst dann nach unseren Erzeugnissen fragen, wenn aus ihnen ein überzeugender Stilausdruck spricht. Für diese hat die bisherige deutsche Bewegung die Grundlage geschaffen. 5. Der schöpferische Weiterausbau des Errungenen ist die dringendste Aufgabe der Zeit. Von ihr wird der endgültige Erfolg der Bewegung abhängen. Jedes Zurück- und Abfallen in die Nachahmung würde heute die Verschleuderung eines wertvollen Besitzes bedeuten. 6. Von der Überzeugung ausgehend, daß es für Deutschland eine Lebensfrage ist, seine Produktion mehr und mehr zu veredeln, hat der Deutsche Werkbund als eine Vereinigung von Künstlern, Industriellen und Kaufleuten sein Augenmerk darauf zu richten, die Vorbedingungen für einen kunstindustriellen Export zu schaffen. 7. Die Fortschritte Deutschlands in Kunstgewerbe und Architektur sollten dem Auslande durch eine wirksame Propaganda bekanntgemacht werden. Als nächstliegendes Mittel hierfür empfehlen sich neben Ausstellungen periodische illustrierte Veröffentlichungen. 8. Ausstellungen des Deutschen Werkbundes haben nur dann Sinn, wenn sie sich grundsätzlich auf Bestes und Vorbildliches beschränken. Kunstgewerbliche Ausstellungen im Auslande sind als eine nationale Angelegenheit zu betrachten und bedürfen daher öffentlicher Unterstützung. 25
g. Für einen etwaigen Export ist das Vorhandensein leistungsfähiger und geschmacklich sicherer Großgeschäfte die Vorbedingung. Mit dem vom Künstler für den Einzelfall entworfenen Gegenstand würde nicht einmal der einheimische Bedarf gedeckt werden können. 10. Aus nationalen Gründen sollen sich große, nach dem Ausland arbeitende Vertriebs- und Verkehrsgesellschaften jetzt, nachdem die Bewegung ihre Früchte gezeigt hat, der neuen Bewegung anschließen und die deutsche Kunst mit Bewußtsein in der Welt vertreten. Hermann Muthesius
ι. Solange es noch Künstler im Werkbund geben wird und solange diese noch einen Einfluß auf dessen Geschicke haben werden, werden sie gegen jeden Vorschlag eines Kanons oder einer Typisierung protestieren. Der Künstler ist seiner innersten Essenz nach glühender Individualist, freier spontaner Schöpfer; aus freien Stücken wird er niemals einer Disziplin sich unterordnen, die ihm einen Typ, einen Kanon aufzwingt. Instinktiv mißtraut er allem, was seine Handlungen sterilisieren könnte, und jedem, der eine Regel predigt, die ihn verhindern könnte, seine Gedanken bis zu ihrem eigenen freien Ende durchzudenken, oder die ihn in eine allgemeingültige Form hineintreiben will, in der er doch nur eine Maske sieht, die aus einer Unfähigkeit eine Tugend machen möchte. 2. Gewiß hat der Künstler, der eine »heilsame Konzentration« treibt, immer erkannt, daß Strömungen, die stärker sind als sein einzelnes Wollen und Denken, von ihm verlangen, daß er erkenne, was wesentlich seinem Zeitgeiste entspricht. Diese Strömungen können sehr vielfältige sein, er nimmt sie unbewußt und bewußt als allgemeine Einflüsse auf, sie haben materiell und moralisch etwas für ihn Zwingendes; er ordnet sich ihnen willig unter und ist für die Idee eines neuen Stils an sich begeistert. Und seit zwanzig Jahren suchen manche unter uns die Formen und die Verzierungen, die restlos unserer Epoche entsprechen. 5. Keinem von uns ist es jedoch eingefallen, diese von uns gesuchten oder gefundenen Formen oder Verzierungen anderen nunmehr als Typen auf zwingen zu wollen. Wir wissen, daß mehrere Generationen an dem noch arbeiten müssen, was wir angefangen haben, ehe die Physiognomie des neuen Stiles fixiert sein wird, und daß erst nach Verlauf einer ganzen Periode von Anstrengungen die Rede von Typen und Typisierung sein kann. 4. Wir wissen aber auch, daß nur, solange dieses Ziel nicht erreicht ist, unsere Anstrengungen noch den Reiz des schöpferischen Schwunges haben werden. Langsam fangen die Kräfte, die Gaben aller an, ineinander überzugehen, die Gegensätze werden neutralisiert, und eben in dem Augenblick, wo die individuellen Anstrengungen anfangen zu erlahmen, wird die Physiognomie fixiert. Die Ära der Nachahmung fängt an, und es setzt der Gebrauch von Formen und von Verzierungen ein, bei deren Herstellung niemand mehr den schöpferischen Impuls aufbringt: die Zeit der Unfruchtbarkeit ist dann eingetreten. 26
5· Das Verlangen, einen Typ noch vor dem Werden eines Stiles ers tehen zu sehen, ist geradezu dem Verlangen gleichzusetzen, die Wirkung vor der Ursache sehen zu wollen. Es heißt, den Keim im E i zerstören. Sollte wirklich jemand sich durch den Schein, damit rasche Resultate erzielen zu können, blenden lassen? Diese vorzeitigen Wirkungen haben um so weniger Aussicht, eine wirksame Ausstrahlung des deutschen Kunstgewerbes auf das Ausland zu erreichen, als eben dieses Ausland einen Vorsprung vor uns voraus hat in der alten Tradition und der alten Kultur des Geschmackes. 6. Deutschland hingegen hat den großen Vorzug, noch Gaben zu haben, die anderen älteren, müderen Völkern abgehen, die Gaben der Erfindung nämlich, der persönlichen geistreichen Einfalle. Und es heißt geradezu, eine Kastration vorzunehmen, wenn man diesen reichen, vielseitigen, schöpferischen Aufschwung jetzt schon festlegen will. 7. Die Anstrengungen des Werkbundes sollten dahin abzielen, gerade diese Gaben sowie die Gaben der individuellen Handfertigkeit, die Freude und den Glauben an die Schönheit einer möglichst differenzierten Ausführung zu pflegen und nicht sie durch eine Typisierung zu hemmen, gerade in dem Moment, wo das Ausland anfängt, an deutscher Arbeit Interesse zu finden. Auf dem Gebiete dieser Förderung bleibt fast noch alles zu tun übrig. 8. Wir verkennen niemandes guten Willen und erkennen sehr wohl die Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden sind. Wir wissen, daß die Arbeiterorganisation sehr viel für das materielle Wohl des Arbeiters getan hat, aber kaum eine Entschuldigung dafür vorbringen kann, so wenig dafür getan zu haben, die Begeisterung für vollendet schöne Arbeit bei denen zu wecken, die unsere freudigsten Mitarbeiter sein müßten. Andererseits ist uns der Fluch wohlbekannt, der auf unserer Industrie lastet, exportieren zu müssen. 9. Und dennoch ist nie etwas Gutes und Herrliches geschaffen worden aus bloßer Rücksicht auf den Export. Qualität wird nicht aus dem Geiste des Exports geschaffen. Qualität wird immer nur zuerst für einen ganz beschränkten Kreis von Auftraggebern und Kennern geschaffen. Diese bekommen allmählich Zutrauen zu ihren Künstlern, langsam entwickelt sich erst eine engere, dann eine rein nationale Kundschaft, und dann erst nimmt das Ausland und die Welt langsam Notiz von dieser Qualität. Es ist ein vollkommenes Verkennen des Tatbestandes, wenn man die Industriellen glauben macht, sie vermehrten ihre Chancen auf dem Weltmarkt, wenn sie A-priori-Typen produzierten f ü r diesen Weltmarkt, ehe diese ein zu Hause ausprobiertes Gemeingut geworden sind. Die wundervollen Werke, die jetzt zu uns exportiert werden, sind niemals ursprünglich für den Export erschaffen worden, man denke an Tiffany-Gläser, Kopenhagener Porzellan, Schmuck von Jensen, die Bücher von Cobden-Sanderson und so weiter. 10. Jede Ausstellung muß das Ziel verfolgen, der Welt diese heimische Qualität zu zeigen, und die Ausstellungen des Werkbundes haben in der Tat nur dann einen Sinn, wenn sie sich, wie Herr Muthesius so trefflich sagt, grundsätzlich auf Bestes und Vorbildliches beschränken. Henry van de Velde 27
PAUL SCHEERBART GLASARCHITEKTUR (Auszug)
1914
Der Architekt Bruno Taut nennt Paul Scheerbart (* 1863 in Danzig, f 1915 in Berlin) den »einzigen Architekturdichter«. Scheerbarts utopische Phantasmagorien, die er in wunderlicher Fülle von 1893 an schreibt, beschwören von Mal zu Mal eindrücklicher die Idee einer »Glasarchitektur«, den Architektentraum von hellen, kristallklaren, farbigen, bewegten, schwingenden und schwebenden Baugebilden, die die Lebens- und Denkgewohnheiten des »Alten Europäers« verwandeln werden. 1914, im gleichen Jahr, in dem Bruno Taut, von Scheerbart angeregt, sein >Glashaus< auf der Werkbundausstellung in Köln baut, verlegt Herwarth Waiden im »Sturm« Scheerbarts in 1 1 1 Kapitel gegliederte »Glasarchitektur«.
I Das Milieu und sein Einfluß auf die Entwicklung der Kultur Wir leben zumeist in geschlossenen Räumen. Diese bilden das Milieu, aus dem unsere Kultur herauswächst. Unsere Kultur ist gewissermaßen ein Produkt unserer Architektur. Wollen wir unsere Kultur auf ein höheres Niveau bringen, so sind wir wohl oder übel gezwungen, unsere Architektur umzuwandeln. Und dieses wird uns nur dann möglich sein, wenn wir den Räumen, in denen wir leben, das Geschlossene nehmen. Das aber können wir nur durch E i n f ü h r u n g der Glasarchitektur, die das Sonnenlicht und das Licht des Mondes und der Sterne nicht nur durch ein paar Fenster in die Räume läßt, sondern gleich durch möglichst viele Wände, die ganz aus Glas sind — aus farbigen Gläsern. Das neue Milieu, das wir uns dadurch schaffen, muß uns eine neue Kultur bringen. XVIII Die Schönheit der Erde, wenn die Glasarchitektur überall da ist Die Erdoberfläche würde sich sehr verändern, wenn überall die Backstein28
architektur von der Glasarchitektur verdrängt würde. Es wäre so, als umkleidete sich die Erde mit einem Brillanten- und Emailschmuck. Die Herrlichkeit ist gar nicht auszudenken. Und wir hätten dann auf der Erde überall Köstlicheres als die Gärten aus Tausendundeiner Nacht. Wir hätten dann ein Paradies auf der Erde und brauchten nicht sehnsüchtig nach dem Paradiese im Himmel auszuschauen. XLI Die Möglichkeiten, die die Eisenkonstruktion entwicklungsfähig macht Die Eisenkonstruktion gestattet, den Wänden ganz beliebige Formen zu geben. Das Senkrechte in den Wänden ist nicht mehr eine Notwendigkeit. Die Möglichkeiten, die die Eisenkonstruktion entwicklungsfähig macht, sind darum ganz unbegrenzt. M a n kann die Kuppeleffekte oben in die Seiten verlegen, so daß man an einer T a f e l sitzend nur seitwärts nach oben zu blicken braucht, um die Kuppeleffekte zu überschauen. Die gekrümmten Flächen wirken aber
auch in den unteren Teilen der W ä n d e — besonders leicht ist diese Wirkung bei Heineren Räumen zu erzielen. Die kleineren R ä u m e sind ganz und gar nicht mehr an das Senkrechte gebunden. Die Bedeutung des Grundrisses in der Architektur wird dadurch sehr zurückgedrängt; die Profilierung des Gebäudes wird jetzt wichtiger als bisher. LXI1 Die Terrassen Die Terrassenformation ist bei höheren Glasbauten u n d bei mehreren Etagen zweifellos eine Notwendigkeit, da ja sonst die Glasflächen nicht an die freie Lichtluft gelangen können, wo sie doch hinwollen, da sie ja im Dunkeln ihren Zweck n u r des Nachts erfüllen können — u n d nicht am Tage. Diese Terrassenformation der Etagen wird natürlich die langweilige Frontarchitektur der Backsteinhäuser rasch verdrängen. LXXI Transportable Bauten Es lassen sich auch transportable Glasbauten herstellen. Sie eignen sich besonders f ü r Ausstellungszwecke. Derartige transportable Bauten sind ja nicht gerade leicht herzustellen. M a n vergesse aber nicht, daß bei einer neuen Sache manches M a l gerade das Schwierigste zuerst in Angriff genommen wird. CII DieUmwandlungder Erdoberfläche Immer wieder klingt uns manches so märchenhaft, während es gar nicht phantastisch oder utopisch ist. Vor achtzig Jahren keim die D a m p f b a h n und wandelte tatsächlich, wie niemand leugnen wird, die ganze Erdoberfläche um.
Nach dem bislang Gesagten soll also die Erdoberfläche abermals umgewandelt werden — und zwar durch die Glasarchitektur. Kommt sie, so »wandelt« sie die Erdoberfläche »um«. Dazu gehören natürlich noch andere Faktoren, die hier nicht erörtert werden soüen. Durch die D a m p f b a h n ist die heutige Backsteingroßstadtkultur erzeugt, an der wir alle leiden. Die Glasarchitektur wird erst kommen, wenn die Großstadt in unserem Sinne aufgelöst ist. Daß diese Auflösung kommen muß, ist allen denen, die eine weitere Entwicklung unserer Kultur im Auge haben, vollkommen klar. Darüber zu reden, lohnt sich nicht mehr. Wir wissen alle, was die Farbe bedeutet; sie bildet n u r einen kleinen Teil des Spektrums. Aber den wollen wir haben. Infrarot u n d Ultraviolett sind von unseren Augen nicht wahrnehmbar — wohl aber ist das Ultraviolett von den Sinnesorganen der Ameisen wahrnehmbar. Wenn wir n u n auch vorläufig nicht annehmen können, daß unsere Sinnesorgane sich von heute bis morgen weiterentwickeln, so werden wir doch berechtigt sein anzunehmen, daß wir zunächst dasjenige erreichen dürfen, was wir erreichen können — eben den Teil des Spektrums, den wir mit unseren Augen zu fassen vermögen, eben die Farbenwunder, die wir in uns aufzunehmen imstande sind. Dazu aber verhilft uns ganz allein die Glasarchitektur, die unser ganzes Leben — das Milieu, in dem wir leben — umwandeln muß. So ist zu hoffen, daß die Glasarchitektur unsere Erdoberfläche tatsächlich »umwandelt«. 29
ANTONIO SANT'ELIA / FILLIPO TOMASO MARINETTI FUTURISTISCHE
1914
ARCHITEKTUR
In Mailand stellen 1 9 1 4 zwei junge Architekten, Antonio Sant'Elia und Mario Chiattone, Zeichnungen und Pläne zu einer »Neuen Stadt« aus. Die radikalen Gedanken, die Antonio Sant'Elia (* 1888 in Como, gefallen 1 9 1 6 bei Monfalcone) im Vorwort des Katalogs äußert, deutei Marinetti, der Wortführer der italienischen Futuristen, sofort in ein »Manifest der futuristischen Architektur« um, das im Juli des gleichen Jahres erscheint, vier Monate nach Marinettis Manifest »Die Herrlichkeit von Geometrie und Mechanik und die Sensibilität der Zahlen«, und die großen futuristischen Proklamationen abschließt.
Die in Schrägschrift wiedergegebenen Stellen wurden von Marinetti und Cinti der Botschaft von Antonio Sant'Elia hinzugefügt.
Seit dem 18. Jahrhundert gibt es keine Architektur mehr. Was als moderne Architektur bezeichnet wird, ist ein Gemisch aus den verschiedensten Stilelementen, mit dem das Skelett der modernen Bauten maskiert wird. Die Schönheit von Zement und Stahl wird entweiht durch karnevalistische Dekorationen, die weder durch konstruktive Notwendigkeiten noch durch den Geschmack zu rechtfertigen sind und die entweder aus dem alten Ägypten, aus Indien und Byzanz oder aber aus der erstaunlichen Blüte des Schwachsinns und der Unfähigkeit stammen, die als Neoklassizismus bezeichnet wird. In Italien heißt man diese Erzeugnisse architektonischer Kuppelei willkommen, und eiferndes Nichtskönnen aus dem Ausland gilt als geniale Erfindung und als das Neueste auf dem Gebiet der Architektur. Die jungen italienischen Architekten (jene, die unter dem geheimen Zwang von Kunstschriften zur Selbständigkeit gelangen) stellen ihre Talente in den neuen Vierteln unserer Städte zur Schau, wo ein heiterer Mischmasch aus Spitzbogensäulchen, schwülstigem Blattwerk, gotischen Bogen, ägyptischen Pfeilern, Rokokoschnörkeln, Quattrocento-Putten, aufgeblasenen Karyatiden ernsthaft als Stil zu gelten versucht und anmaßend nach Größe strebt. Das Auftauchen und Verschwinden von Formen, die ständig wachsende Zahl der Maschinen, die auf Grund der raschen Verkehrsmittel täglich zunehmenden Bedürfnisse, die Anhäufung von Menschen, hygienische und hundert andere Probleme des modernen Lebens bringen diese angeblichen Erneuerer der Architektur keineswegs in Verwirrung. Ungehindert fahren sie — unter Anwendung der Regeln des Vitruvius, des Vignola, des Sansovino und unterstützt von Schriftchen über deutsche Architektur — fort, unseren Städten, die das unmittelbare und getreue Abbild unserer selbst sein sollten, den Stempel von Jahrhunderten der Dummheit aufzudrücken. So ist diese Kunst des Ausdrucks und der Synthese in ihren Händen zu einer leeren stilistischen Übung geworden, zu einer schlechten Mischung von Rezepten. 30
mit deren Hilfe moderne Gebäude in die steinerne Routinetorheiten der guten alten Zeit vermummt werden. Als ob wir, Akkumulatoren und Generatoren der Bewegung, mit unseren mechanischen Hilfsmitteln und mit dem Lärm und der Schnelligkeit unseres Lebens in Straßen wohnen könnten, wie sie die Menschen vor vier, fünf oder sechs Jahrhunderten für ihre damaligen Bedürfnisse gebaut haben! Dies ist die größte Torheit der modernen Architektur, an deren Wiederholung sich die Akademien, in denen sich die Intelligenz unter Hausarrest befindet, mitschuldig machen, indem sie die Studenten zwingen, selbstschänderisch klassische Modelle zu kopieren, anstatt ihren Geist für die Suche nach den letzten Grenzen und für die Lösung des neuen und dringenden Problems des futuristischen Hauses und der futuristischen Stadt zu ertüchtigen — des Hauses und der Stadt, die uns materiell und geistig ganz gehören, in denen unser drängendes Leben sich entwickeln kann, ohne als grotesker Anachronismus gelten zu müssen. Bei dem Problem der futuristischen Architektur handelt es sich nicht um lineare Umgestaltung. Es handelt sich nicht darum, neue Formen, neue Formate für Fenster und Türen zu bestimmen oder einen Ersatz für Säulen, Pfeiler, Konsolen, Karyatiden und Fassadengetier zu finden. Es handelt sich nicht darum, ob eine Fassade kahl belassen, ob sie übertüncht oder mit Steinen verkleidet wird, oder darum, formale Unterschiede zwischen dem neuen und dem alten Gebäude festzustellen. Es handelt sich darum, das futuristische Haus nach einem gesunden Plan zu errichten und dabei alle Quellen der Wissenschaft und der Technik zu nutzen und alle Forderungen unserer Sitte und unseres Geistes genauestens zu erfüllen, alles Groteske, Plumpe und uns Fremde abzulehnen (Tradition, Stil, Ästhetik, Proportion), neue Formen, neue Linien, eine neue Harmonie der Profile und des Volumens, kurz, eine Architektur zu bestimmen mit einem neuen, ganz und gar auf den besonderen Bedingungen des modernen Lebens beruhenden Verhältnis für die Existenz und den ästhetischen Wert, der von uns empfunden wird. Eine solche Architektur kann keinem Gesetz historischer Kontinuität unterworfen sein. Sie muß so neu sein wie unsere Geisteshaltung. Die Baukunst konnte sich im Lauf der Zeit entwickeln und von einem Stil zum andern übergehen — und doch dabei den allgemeinen Charakter der Architektur unverändert bewahren, da es in der Geschichte wohl häufig einen durch Mode, religiöse Überzeugungen und Aufeinanderfolge politischer Regime hervorgerufenen Wech31
sei gegeben hat, während Veränderungen infolge grundlegender Wandlung der Lebensbedingungen, durch die die alten entweder aufgehoben oder überholt wurden — wie dies zum Beispiel durch die Entdeckimg der Naturgesetze, die Vervollkommnung der mechanischen Methoden, die rationale und ökonomische Verwendung des Materials geschah —, äußerst selten waren. Im modernen Leben kommt der Prozeß der konsequenten stilistischen Entwicklung zum Stillstand. Die Architektur löst sich von der Tradition und beginnt notgedrungen von vorn. Die Berechnung der Materialfestigkeit, die Verwendung von Eisenbeton und Eisen machen eine »Architektur« im klassischen und herkömmlichen Sinn unmöglich. Die neuen Baumaterialien und unsere wissenschaftlichen Begriffe sind mit der Disziplin der historischen Stile nicht in Einklang zu bringen; dies ist der Hauptgrund für den grotesken Anblick »modischer« Gebäude, bei denen leichte, schlanke Träger und spröder Eisenbeton die schwere Wölbung des Bogens und die Wucht des Marmors nachbilden sollen. Der schroffe Gegensatz zwischen der modernen und der antiken Welt rührt daher, daß es heute Dinge gibt, die es damals nicht gab. In unserem Leben sind Elemente aufgetaucht, von denen sich die Alten nichts träumen ließen; es gibt materielle Möglichkeiten und Geistesrichtungen mit tausendfachen Auswirkungen: an erster Stelle ein neues Schönheitsideal, dunkel noch und erst im Keimen, das aber schon Einfängt, selbst die Massen zu faszinieren. Wir haben in der T a t den Sinn für das Monumentale, das Wuchtige und Statische verloren und unser Empfinden durch den Geschmack a m Leichten und Praktischen, am Vergänglichen und Raschen bereichert. Wir fühlen, das wir nicht länger die Menschen der Kathedralen, der Paläste und der Gerichtshallen sind, sondern die Menschen der großen Hotels, der Bahnhöfe, der ungeheuren Straßen, der riesigen Häfen, der Markthallen, der erleuchteten Bogengänge, des Wiederaufbaus und der Sanierung. Wir müssen die futuristische Stadt erfinden und erbauen — sie muß einer großen, lärmenden Werft gleichen und in allen ihren Teilen flink, beweglich, dynamisch sein; das futuristische Haus muß wie eine riesige Maschine sein. Der Aufzug soll sich nicht mehr wie 52
ein Bandwurm im Schacht des Treppenhauses verbergen; die überflüssig gewordenen Treppen müssen verschwinden, und die Aufzüge sollen sich wie Schlangen aus Eisen und Glas emporwinden. Das Haus aus Beton, aus Glas und Eisen, ohne Malerei und ohne Verzierung, reich allein durch die Schönheit seiner Linien und Formen, außerordentlich »häßlich« durch seine mechanische Einfachheit, in seiner Höhe und Breite nach den Vorschriften des städtischen Gesetzes bemessen, soll sich über dem Geheul eines lärmenden Abgrundes erheben: über der Straße, die sich nicht mehr wie eine Fußmatte vor der Portierloge ausbreitet, sondern sich um einige Stockwerke unter die Erdoberfläche senkt; diese Stockwerke nehmen den städtischen Verkehr auf und sind miteinander durch Met alls tege und durch Rolltreppen mit hoher Geschwindigkeit verbunden. Das Dekorative muß verschwinden. Das Problem der futuristischen Architektur wird nicht an Hand von Photos aus China, Persien und Japan gelöst oder indem wir uns an die Regeln des Vitruvius halten und uns damit lächerlich machen — es wird gelöst vielmehr durch geniale Einfalle und mit Hilfe wissenschaftlicher und technischer Erfahrung. Überall muß eine Revolution stattfinden. Man muß die Dach- und Kellergeschosse ausnutzen und die Bedeutung der Fassade verringern, man muß die Fragen des guten Geschmacks aus der Ebene des Förmchens, des Kapitellchens, des Säulengängchens auf die breitere der Massengruppierung, des großzügigen Grundrisses bringen. Es ist Zeit, die traurige »Gedächtnisarchitektur« abzuschaffen. Wir wollen Monumente, Bürgersteige, Säulengänge, breite Treppen entfernen, Straßen und Plätze in die Tiefe verlegen, das Niveau der Stadt erhöhen. Ich bekämpfe und verabscheue ι. die gesamte moderne österreichische, ungarische, deutsche und amerikanische Architektur; 2. die gesamte klassisch feierliche, hieratische, theatralische, dekorative, monumentale, einmütige, gefällige Architektur; 5. die Einbalsamierung, Rekonstruktion und Reproduktion von Monumenten und alten Palästen; 4. senkrechte und waagrechte Linien, kubische und Pyramiden-Formen, die statisch, schwer, bedrückend und unserem modernen Empfinden absolut fremd sind. 53
Und ich erkläre, ι. daß die futuristische Architektur die Architektur der Berechnung, der verwegenen Küh nheit und der Einfachheit ist, daß sie die Architektur des Eisenbetons, des Eisens, des Glases, des Kartons, der Textilfaser ist — kurz, aller jener Ersatzstoffe für Holz, Stein und Ziegel, die höchste Elastizität und Leichtigkeit ermöglichen; 2. daß die Architektur somit keine schale Kombination von Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit ist, sondern daß sie eine Kunst — das heißt Synthese und Ausdruck — bleibt; 5. daß schräge und elliptische Linien naturgemäß dynamisch sind, daß ihre emotionale Wirkung tausendmal größer ist als die vertikaler und horizontaler Linien und daß keine dynamische Architektur ohne sie existieren kann; 4. daß die Dekoration — als etwas, was zusätzlich an der Architektur angebracht oder darübergelegt wird — etwas Absurdes ist und daß allein von der ursprünglichen Anordnung des Rohmaterials, unverfälscht oder lebhaft gefärbt, der dekorative Wert der futuristischen Architektur abhängt; 5. daß — so wie die Alten die Inspiration f ü r ihre Kunst aus den Elementen der Natur nahmen — wir, die wir materiell und geistig »künstlich« sind, die unsere aus den Elementen der modernen mechanischen Welt nehmen müssen, die wir geschaffen haben und deren schönster Ausdruck, deren vollkommenste Synthese, deren wirkungsvollste Vereinheitlichung die Architektur sein muß; 6. daß die Architektur aufgehört hat, eine Kunst der Formenbestimmung eines Gebäudes nach festgelegten Gesetzen zu sein; 7. daß unter Architektur die Fähigkeit zu verstehen ist, Umwelt und Menschen frei und kühn in Übereinstimmung zu bringen — das heißt, die Welt der Dinge zu einem genauen Abbild der geistigen Welt zu machen; 8. daß aus einer solchen Architektur weder plastische noch lineare Gewohnheiten entstehen können, da es zu den fundamentalen Merkmalen der futuristischen Architektur gehört, daß sie »verbraucht« wird und vergänglich ist. Das Leben des Hauses wird nicht so lange währen wie das unsere, jede Generation wird sich ihre Stadt bauen müssen. Diese ständige Erneuerung der baulichen Umwelt wird zum Sieg des Futurismus beitragen, der sich schon in der »freien Rede«, dem »plastischen Dynamismus«, der »Musik ohne Taktstriche«, der »Kunst der Geräusche« anzeigt und der uns hilft, ohne Pause die feigen Lobredner der guten alten Zeit zu bekämpfen. 34
1918
»DE STIJL« MANIFEST I
Das berühmte und in seinen Folgen erst heute recht einschätzbare erste Manifest der Stijl-Gruppe erscheint im November 1918 und leitet den zweiten Jahrgang der gleichnamigen Zeitschrift ein. Ein Jahr zuvor hat sich in Leiden unter Führung von Theo van Doesburg (* 1883 in Utrecht, + 1931 in Davos) eine Gruppe radikaler Künstler gebildet; ihr Ziel: organische Verbindung von Architektur, Plastik und Malerei in einer klaren, elementaren, sentimentlosen Gestaltung. Die Gruppe gibt sich den Namen »De Stijl« und sagt damit ganz präzise, daß ihre Gestaltungsdoktrin auf eine neue Ästhetik zielt. Das erste Wort ist >Reinheitweiße< Welt soll die >braune< ablösen.
ι . Es gibt ein altes und ein neues zeitbewußtsein. Das alte richtet sich auf das individuelle. Das neue richtet sich auf das universelle. Der streit des individuellen gegen das universelle zeigt sich sowohl im weitkriege wie in der heutigen kirnst. 2. Der krieg zerstört die alte weit mit ihrem inhalt: die individuelle Vorherrschaft auf jedem gebiet. 5. Die neue kunst hat das, was das neue zeitbewußtsein enthält, ans licht gebracht: gleichmäßiges Verhältnis des universellen und des individuellen. 4. Das neue zeitbewußtsein ist bereit, sich in allem, auch im äußerlichen leben, zu realisieren. 5. Tradition, dogmen und die Vorherrschaft des individuellen stehen dieser realisierung im wege. 6. Deshalb rufen die begründer der neuen bildung alle, die an die reform der kunst und der kultur glauben, auf, diese hindernisse der entwicklung zu vernichten, so wie sie in der bildenden kunst — indem sie die naturform aufhoben — dasjenige ausgeschaltet haben, das dem reinen kunstausdruck, der äußersten konsequenz jedes kunstbegriffs, im wege steht. 7. Die künstler der gegenwart in der ganzen weit haben, getrieben durch ein und dasselbe bewußtsein, auf geistigem gebiet teilgenommen am weitkrieg gegen die Vorherrschaft des Individualismus, der willkür. Sie sympathisieren deshalb mit allen, die geistig oder materiell streiten f ü r die bildung einer internationalen einheit in leben, kunst, kultur. 36
8. Das organ »De Stiji«, zu diesem zweck gegründet, trachtet, dazu beizutragen, die neue lebensauffassung in ein reines licht zu stellen. Mitwirkung aller ist möglich durch: Als beweis von Zustimmung einsendung (an die redaktion) von namen (genau), adresse, beruf. Beiträge im weitesten sinne (kritische, philosophische, architektonische, wissenschaftliche, literarische, musikalische usw. sowie reproduktive) f ü r die monatsschrift »De Stijl«. Übersetzung in andere sprachen und Verbreitung der ansichten, die in »De Stijl« veröffentlicht werden. Unterschrift der Mitarbeiter: Theo van Doesburg, Maler / Robt. van't Hoff, Architekt / Vilmos Huszar, Maler / Antony Kok, Dichter / Piet Mondrian, Maler / G. Vantongerloo, Bildhauer / Jan Wils, Architekt.
Vilmos Huszar, 1 9 1 7
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1918
BRUNO TAUT EIN ARCHITEKTUR-PROGRAMM
Bruno Tauts »Architektur-Programm« wird Weihnachten 1918 mit Zustimmung des >Arbeitsrats f ü r Kunst< als Flugblatt gedruckt. Dieser >Arbeitsrat< mit Sitz in Berlin wird gleichzeitig und in enger Verbindung mit der >November-Gruppe< gegründet, in der sich nach dem Krieg die revolutionären Künstler aus ganz Deutschland sammeln. Im Unterschied zur >November-Gruppe< aber liegt die Initiative des >Arbeitsrats< bei einem Kreis junger Architekten, die zusammen mit Bruno Taut (* 1880 in Königsberg, f 1958 in Ankara) das Bauen als eine Menschheitsaufgabe proklamieren, als eine Aufgabe, die Taut mit der Forderung umschreibt: »Die Erde eine gute Wohnung!«
IE KUNST! — das ist eine Sache!, wenn sie da ist. Heute gibt es diese Kunst nicht. Die zerrissenen Richtungen können sich nur zur Einheit zusammenfinden unter den Flügeln einer neuen Baukunst, so, daß jede einzelne Disziplin Mitbauen wird. Dann gibt es keine Grenze zwischen Kunstgewerbe und. Plastik oder Malerei, alles ist eins: Bauen. Unmittelbarer Träger der geistigen Kräfte, Gestalter der Empfindungen der Gesamtheit, die heute schlummern und morgen erwachen, ist der Bau. Erst die vollständige Revolution im Geistigen wird diesen Bau schaffen. Aber nicht von selbst kommt diese Revolution, nicht dieser Bau. Beide müssen gewollt werden — die heutigen Architekten müssen den Bau vorbereiten. Ihre Arbeit an der Zukunft muß öffentlich ermöglicht und unterstützt werden. Deshalb
:
I. Stützung und Sammlung der ideellen Kräfte unter den Architekten a)
b)
58
Unterstützung baulicher Ideen, welche über das Formale hinweg die Sammlung aller Volkskräfte im Sinnbild des Bauwerks einer besseren Zukunft anstreben und den kosmischen Charakter der Architektur, ihre religiöse Grundlage aufzeigen, sogenannte Utopien. Hergabe öffentlicher Mittel in Form von Stipendien an radikal gerichtete Architekten für solche Arbeiten. Mittel zur verlegerischen Verbreitung, zur Anfertigung von Modellen und für ein gutgelegenes Experimentiergelände (z.B. in Berlin: Tempelhofer Feld), auf welchem die Architekten große Modelle ihrer Ideen errichten können. Hier sollen auch in naturgroßen vorübergehenden Bauten oder Einzelteilen neue bauliche Wirkungen, ζ. B. des Glases als Baustoff, erprobt, vervollkommnet und der großen Masse gezeigt werden. Der Laie, die Frau und das Kind führen den Architekten weiter als der beklemmte Fachmann. Kostenausgleich durch das Material eingeschmolzener Denkmäler, abgebrochener Siegesalleen usw.
c)
sowie durch die Beteiligung der mit den Versuchsbauten zusammenhängenden Industrien. Werkstätten mit Handwerker- und Künstlerkolonien auf dem Experimentiergelände. Entscheidung über die Verteilung der Mittel durch einen kleinen, zur Hälfte aus schöpferischen Architekten, zur Hälfte aus radikal gesinnten Laien bestehenden Rat. Wird keine Einigung erzielt, so entscheidet ein aus ihm gewählter Laie.
Π. Volkshäuser
a)
b) c)
Beginn großer Volkshausbauten, nicht innerhalb der Städte, sondern auf freiem Land im Anschluß an Siedlungen, Gruppen von Bauten für Theater, Musik mit Unterkunftshäusern und dergleichen, gipfelnd im Kultusbau. Vorsehen einer langen Bauzeit, deshalb Anfang nach großartigem Plan mit geringen Mitteln. Auswahl der Architekten nicht durch Wettbewerb, sondern nach I c. Stockt der Bau, dann in den Pausen neue Anregungen durch Ausbauentwürfe, neue Ideen nach I а—c. Diese Bauten sollen der erste Versuch der Einigung zwischen den Volkskräften und den Künstlern, der Anbahnung einer Kultur sein. Sie können nicht in der Großstadt stehen, weil diese, in sich morsch, ebenso verschwinden wird wie die alte Macht. Die Zukunft liegt auf dem neu erschlossenen Lande, das sich selbst ernähren wird (nicht »auf dem Wasser«).
III. Siedlungen
a) b) c)
Einheitliche Leitung in der Weise, daß ein Architekt weitgespannte Leitsätze aufstellt und danach die sämtlichen Projekte und Bauten prüft, ohne damit im einzelnen die persönliche Freiheit zu behindern. Vetorecht dieses Architekten. — wie IIb. Zurücktreten des Formalen grundsätzlich hinter das Landwirtschaftliche und Praktische, keine Scheu vor dem Allereinfachsten, aber auch nicht vor der — Farbe.
IV. Sonstige Bauten
a) b)
Für Straßenzüge und, je nach Umständen, Stadtteile gilt dasselbe wie für III a und b. Kein Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Bauten. Solange es freie Architekten gibt, gibt es n u r freie Architekten. Bevor es keine Regierungstöpfermeister gibt, braucht es keine Regierungsbaumeister zu geben, öffentliche wie Privatbauten kann jeder bauen; Aufträge im Sinne von Ic oder durch Wettbewerbe, die nicht anonym sind, deren Bewerber durch einen Rat nach Ic eingeladen und preisgekrönt werden; keine unbezahlten Entwürfe. Unbekannte Architekten wenden sich zur Einladung an den Rat. Die Anonymität ist durch die erkennbare künstlerische Handschrift der erfolgreichen Architekten wertlos. Im Preisgericht keine Majoritätsbeschlüsse; bei Nicht 39
c) d) e) f) g)
einigung ist jeder Preisrichter für seine Stimme einzeln verantwortlich. Am besten e i n Preisrichter. Letzte Auswahl unter Umständen durch Plebiszit. Baubeamte, wie Stadtbauräte u. dgl., nur zur örtlichen Bauleitung, Bauabnahme und Rechnungskontrolle, mit nur technischen Funktionen. In den Zwischengebieten, ζ. B. des Städtebaus, Architekten- und Gärtnerbeirat. K e i n e Titel und Würden für Architekten (Doktor, Professor, Baurat, Geheimer, Wirklicher, Exzellenz usw.). In allem Bevorzugung des Schöpferischen, keine Bevormundung, wenn einmal ein Architekt beauftragt ist. Bei öffentlichem Widerspruch Entscheidung durch einen Rat nach I c, welcher durch eine Architektenkorporation gebildet werden kann. Nur solche Architektenkorporationen haben dafür und sonst Geltung und werden staatlich anerkannt, innerhalb deren das Prinzip der g e g e n s e i t i g e n H i l f e restlos durchgeführt ist. Von ihnen auch Beeinflussung der Baupolizei. Nur die gegenseitige Hilfe macht eine Gemeinschaft fruchtbar und tätig. Sie ist wichtiger als die Stimmenzahl, die nichts bedeutet ohne den sozialen Zusammenhalt. Sie scheidet den unkünstlerischen und damit unlauteren Wettbewerb aus.
V. Architektenerziehung a) Korporationen nach IVg haben die Entscheidung über Errichtung, Verfassung und Aufsicht von technischen Schulen; Wahl der Lehrer zusammen mit den Schülern. Praktische Arbeit auf dem Bau und in der Werkstatt als Lehrling in einem Handwerk. b) In den Fachschulen kein künstlerischer, sondern nur technischer Unterricht. Technische Einheitsschulen. c) Die künstlerische Erziehung in den Büros der bauenden Architekten, je nach Wahl der jungen Leute und der auch diese auswählenden Architekten. d) Allgemeine Bildung je nach Neigung und Vorkenntnissen in Volkshochschulen und Universitäten. VI. Architektur und die anderen Künste a) Ausgestaltung der Ausstellungen durch Architekten in vergnügten Formen; leichte Bauten auf öffentlichen Plätzen und Anlagen an verkehrsreichen Stellen, volkstümlich und quasi jahrmarktartig. b) Ausgiebige Hinzuziehung von Malern und Bildhauern zu allen Bauten, um sie von der Salonkunst abzubringen, gegenseitige Interesseweckung zwischen Architekt und »Künstler«. c) Demnach auch Einführung der Architekturlernenden in die schöpferische »neue Kunst«. Nur d e r Architekt hat Bedeutung, der das Gesamtgebiet der Kunst übersieht und die radikalen Bestrebungen der Malerei und Plastik versteht. Nur er wird die Einheit des Ganzen herbeiführen helfen. Die stärkere Geltung des Architekten im öffentlichen Leben bei Besetzung wichtiger Ämter u. dgl. wird sich von selbst aus der Durchführung dieses Programms ergeben. 40
»ARBEITSRAT FÜR KUNST« UNTER DEN FLÜGELN EINER GROSSEN BAUKUNST
1919
Im März 191g veröffentlicht der >Arbeitsrat f ü r Künste in Berlin ein programmatisches Zirkular, in dem Bruno Tauts »Architektur-Programm« von 1918 auf einen Leitsatz und sechs Forderungen komprimiert ist. Der >Arbeitsrat< wird jetzt geleitet von Walter Gropius, C6sar Klein und Adolf Behne. Dem Geschäftsausschuß gehören an: Otto Bartning, Hermann Hasler, Erich Heckel, Georg Kolbe, Gerhard Mareks, Ludwig Meidner, M a x Pechstein, Hermann Richter-Berlin, Karl Schmitt-Rottluff, Bruno Taut, M a x Taut, Wilhelm Valentiner. Obwohl die Architekten bereits in der Minderzahl sind, gehört nach wie vor ihnen die entscheidende Stimme und innere Führung der Gruppe.
/
n der Überzeugung, daß die politische Umwälzung benutzt werden muß zur Befreiung der Kunst von jahrzehntelanger Bevormundung, hat sich in Berlin ein Kreis einheitlich gesinnter Künstler und Kunstfreunde zusammengefunden. Er erstrebt die Sammlung aller verstreuten und sich zersplitternden Kräfte, die über die Wahrung einseitiger Berufsinteressen hinaus am Neuaufbau unseres gesamten Kunstlebens entschlossen mitwirken wollen. In enger Fühlung mit Vereinigungen ähnlicher Tendenz an andern Orten Deutschlands hofft der Arbeitsrat für Kunst seine nächsten Ziele, die in folgendem Programmauszug angedeutet sind, in nicht zu femer Zeit durchsetzen zu können. 41
A n der Spitze stellt der Leitsatz: K u n s t und V o l k m ü s s e n eine Einheit bilden. D i e K u n s t soll nicht m e h r G e n u ß W e n i g e r , s o n d e r n G l ü c k und L e b e n der M a s s e sein. Z u s a m m e n s c h l u ß d e r K ü n s t e unter d e n F l ü g e l n einer g r o ß e n B a u k u n s t ist d a s Z i e l .
ι.
A u f dieser Basis werden zunächst sechs Forderungen gestellt: A n e r k e n n u n g des öffentlichen Charakters aller Bautätigkeit, der staatlichen und privaten. A u f h e b u n g aller Beamtenprivilegien. Einheitliche L e i t u n g ganzer Stadtteile, Straßenzüge u n d Siedlungen, ohne daß die Freiheit i m einzelnen beeinträchtigt wird. Neue A u f g a b e n : Volkshäuser als Vermittlungsstätten aller Künste an das Volk. Ständige Experimentiergelände zur E r p r o b u n g u n d Verv o l l k o m m n u n g neuer baulicher W i r k u n g e n .
2.
A u f l ö s u n g der A k a d e m i e der Künste, der A k a d e m i e f ü r das Bauwesen u n d der Preußischen Landeskunstkommission in ihrer bisherigen Gestalt. Ersatz dieser Körperschaften bei neuer A b g r e n z u n g ihres Arbeitsfeldes durch solche, die aus der produktiven Künstlerschaft selbst ohne staatliche Beeinflussung geschaffen werden. U m w a n d l u n g der privilegierten Kunstausstellungen in freie.
5.
B e f r e i u n g des gesamten Unterrichts f ü r Architektur, Plastik, Malerei und H a n d w e r k von staatlicher Bevormundung. U m w a n d l u n g des künstlerischen u n d handwerklichen Unterrichts von G r u n d auf. Bereitstellung staatlicher Mittel d a f ü r und f ü r Meistererziehung in Lehrwerkstätten.
4.
Belebung der M u s e e n als Bildungsstätten f ü r das Volk. Einrichtung ständig wechselnder, durch Vorträge u n d F ü h r u n g e n dem ganzen Volke dienstbar gemachter Ausstellungen. Ausscheidung des wissenschaftlichen Materials in Zweckbauten. A b s o n d e r u n g technisch geordneter Studiensammlungen f ü r Kunsthandwerker. Gerechte Verteilung der staatlichen Mittel z u m Erwerb alter und neuer W e r k e .
5.
Beseitigung der künstlerisch wertlosen D e n k m ä l e r sowie aller Bauten, deren Kunstwert i m Mißverhältnis z u dem W e r t ihres anders brauchbaren Materials steht. Verhinderung voreilig geplanter Kriegsdenkmale u n d unverzügliche Einstellung der Arbeiten f ü r die in Berlin und im Reich vorgesehenen Kriegsmuseen.
6.
B i l d u n g einer Reichsstelle zur Sicherung der Kunstpflege i m R a h m e n der künftigen Gesetzgebung.
42
GROPIUS / TAUT / BEHNE DER NEUE BAUGEDANKE
1919
Im April 1919 veranstaltet der >Arbeitsrat für Kunst< in Berlin eine »Ausstellung für unbekannte Architekten«. Das aus Anlaß dieser ersten >ArbeitsratArbeitsrats< (* 1895 in Berlin, f 1948 in Berlin). Gropius ist zum Zeitpunkt der Ausstellung bereits als Direktor an die Vereinigten ehemals Großherzoglichen Schulen für Bildende Kunst und Kunstgewerbe in Weimar berufen worden und hat bereits deren Umbenennung in »Staatliches Bauhaus« durchgesetzt. Sein Beitrag im AusstellungsFlugblatt entspricht im wesentlichen dem Ersten Bauhaus-Manifest
as ist Baukunst? Doch der kristallene Ausdruck der edelsten Gedanken der Menschen, ihrer Inbrunst, ihrer Menschlichkeit, ihres Glaubens, ihrer Religion! Das w a r sie einmal! Aber wer von den Lebenden unserer zweckverfluchten Zeit begreift noch ihr allumfaßbares, beseligendes Wesen? Da gehen wir durch unsere Straßen und Städte und heulen nicht vor Scham über solche Wüsten der Häßlichkeit! Seien wir uns nur klar: Diese grauen, hohlen, geistlosen Attrappen, in denen wir leben und arbeiten, werden vor der Nachwelt beschämendes Zeugnis für den geistigen Höllensturz unseres Geschlechtes ablegen, das die große e i n z i g e Kunst vergaß: В a u e η . Bilden wir uns nur nicht ein, in unserer europäischen Anmaßung, die armseligen Bautaten u n s e r e s Zeitalters könnten das trostlose Gesamtbild verändern. Unser aller Werk sind nur Splitter. Gebilde, die Zweck und Notdurft schafft, stillen nicht Sehnsucht nach einer von Grund aus neu erbauten Welt der Schönheit, nach Wiedergeburt jener Geisteseinheit, die sich zur Wundertat der gotischen Kathedrale aufschwang. W i r erleben sie nicht mehr. Aber es gibt einen Trost für uns: die I d e e , der Aufbau einer glühenden, kühnen, weit vorauseilenden Bauidee, die eine glücklichere Zeit, die kommen muß, erfüllen soll. Künstler, stürzen wir endlich die Mauern um, die unsere verbildende Schulweisheit zwischen den »Künsten« errichtete, u m a l l e w i e d e r B a u e n d e z u w e r d e n ! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Baugedanken. Maler und Bildhauer, durchbrecht also die Schranken zur Architektur und werdet Mitbauende, Mitringende um das letzte Ziel der Kunst: die schöpferische Konzeption der Zukunftskathedrale, die wieder edles in e i n e r Gestalt sein wird, Architektur und Plastik und Malerei. Aber Ideen sterben, sobald sie Kompromisse werden. Darum klare Wasserscheiden zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Sternensehnsucht und Alltagsarbeit. Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine »Kunst von Beruf«. Künstler sind Handwerker im Ursinn des Wortes, und nur in seltenen, gnadenreichen Lichtmomenten, die jenseits ihres eigenen Willens stehen, kann unbewußt Kunst aus dem Werk ihrer 43
H ä n d e erblühen. Maler u n d Bildhauer, werdet auch ihr wieder Handwerker, zerschlagt die R a h m e n der Salonkunst u m eure Bilder, geht in die Bauten, segnet sie mit Farbenmärchen, meißelt Gedanken in die nackten W ä n d e u n d — b a u t i n d e r P h a n t a s i e , unbekümmert u m technische Schwierigkeiten. G n a d e der Phantasie ist wichtiger als alle Technik, die sich immer dem Gestaltungswillen der Menschen f ü g t . Es g i b t j a heute noch keinen Architekten, wir alle sind nur V o r b e r e i t e n d e dessen, der einmal wieder den N a m e n Architekt verdienen wird, denn das heißt: H e r r d e r K u n s t , der aus Wüsten Gärten bauen und Wunder in den H i m m e l türmen wird. Walter Gropius
ibt es heute Architektur? Gibt es heute Architekten? Erwin von Steinbach, Sinan, Aben Cencid, Diwakara, Pöppelmann — wagt es heute jemand, sich angesichts dieser erlauchten N a m e n »Architekt« zu nennen? Nein, es gibt heute so wenig eine Architektur wie Architekten. Sind wir, die wir heute dem Restlosen hingegeben sind, nicht Parasiten im Verb ä n d e einer Gesellschaft, die keine Architektur kennt, keine will und also auch den Architekten nicht braucht! Denn wir nennen es nicht Architektur, tausend nützliche Dinge, Wohnhäuser, Büros, Bahnhöfe, Markthallen, Schulen, Wassertürme, Gasometer, Feuerwachen, Fabriken u. dgl. in gefällige Formen zu kleiden. Unsere »Brauchbarkeit« in diesen Dingen, durch die wir unser Leben fristen, hat nichts mit unserem Beruf zu tun, so wenig wie eben irgendein heutiger B a u mit Angkor Vat, der A l h a m b r a oder dem Dresdner Zwinger. In unserem Beruf können wir heute nicht Schaffende sein, sondern sind Suchende und Rufende. Wir wollen nicht aufhören, zu suchen nach dem, was sich später einmal kristallisieren kann, und zu rufen nach Gefährten, die mit uns den harten P f a d gehen, die in tiefster Bescheidenheit wissen, daß alles Heutige nur ganz frühe Morgenröte ist, u n d die in selbstvergessener H i n g a b e sich zum A u f g a n g der neuen Sonne vorbereiten. Wir rufen nach allen Zukunftsgläubigen. Alle starke Zukunftssehnsucht ist werdende Architektur. Es wird einmal eine Weltanschauung dasein, u n d dann wird auch ihr Zeichen, ihr Kristall — die Architektur dasein. D a n n gibt es kein Ringen und Grübeln u m Kunst im Leben irgendwelcher Banalitäten, dann gibt es eine einzige Kunst, und diese Kunst leuchtet in alle Ecken und Winkel hinein. Bis dahin kann das Nützliche nur dann leidlich sein, wenn der Architekt eine Vorahnung dieser Sonne in sich trägt. Sie allein gibt das M a ß aller Dinge, unterscheidet streng das Sakrale vom Profanen, das Große vom Kleinen, gibt aber auch den alltäglichen Dingen einen Schimmer ihres Glanzes. Bruno Taut
G
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ie in dieser Ausstellung zusammengebrachten Skizzen und Entwürfe sind verkäuflich. Es besteht also für das Publikum die Möglichkeit, sein Interesse an dem weiteren Geschick einer neuen Architektur und damit einer neuen Kunst in die Tat umzusetzen, indem es durch Ankauf von Skizzen die Künstler materiell unterstützt und ihnen Mut macht, weiterzuarbeiten auf einem Wege, den Gleichgültigkeit des Publikums und Fachsimpelei der Künstler bisher versperrten. Daß der Snob architektonische Entwürfe kauft, erwarten wir ja nicht! Der Snob sucht eine Sensation, einen Effekt. Wir hoffen auf Menschen, die ihr Verhältnis zur Kunst verantwortungsvoller auffassen. Solche helfenden Käufer, der Sache helfend und dadurch zugleich dem Künstler, werden an den architektonischen Entwürfen eine tiefere und dauerhaftere Freude haben als an so manchem Blatte freier Graphik. Denn eine architektonische Skizze regt stets von neuem die Phantasie an, daß sie mitarbeitet, mitbaut, mitwill. In viel höherem Maße als die freien graphischen Werke wenden sich die architektonischen Entwürfe an den W i l l e n und erfüllen damit eine Mission. Denn aus dem willenlosen, passiven Kunstkonsumententum müssen wir unter allen Umständen herauskommen. Daß das interessierte Publikum und daß die Käufer unserer Ausstellung ganz andere sind, als bisher in den Salons als Käufer auftraten, ist wohl sicher. Es stellt nichts Kleines auf dem Spiele, wie Walter Gropius und Bruno Taut hier ausgesprochen haben. Ein erster Versuch ist diese Ausstellung. Andere sollen folgen — auch von unbekannten Malern —, neuartige Ausstellungen, die mit dem bisherigen exklusiven Ausstellungscharakter brechen. Adolf Behne
D
Bruüo Taut, 1920 45
W A L T E R GROPIUS P R O G R A M M DES S T A A T L I C H E N BAUHAUSES IN WEIMAR
1919
Gropius' Amtsantritt in Weimar als Nachfolger Henry van de Velde (der zu Kriegsbeginn 1914 seine Tätigkeit niederlegen mußte) ist zugleich Gründungsdatum des Staatlichen BauhausesNovember-GruppeArbeitsrats für Kunst< (Seite 41) wird er unter jenen Freunden genannt, die den Zielen des >Arbeitsrats< zugestimmt haben. Der unten publizierte Text ist ein Auszug aus einem programmatischen Lichtbilder-Vortrag, den Mendelsohn vor Mitgliedern des >Arbeitsrats< hält. Der Vortrag setzt bereits die Kenntnis der utopischen Entwürfe voraus, die der >Arbeitsrat< in seiner Ausstellung vom April 1919 zusammengetragen hat. Mendelsohn konfrontiert diese Entwürfe mit jenen Bauten, die damals schon als Standardbeispiele der neuen Entwicklung gelten.
Die Gleichzeitigkeit der revolutionären politischen Entscheidungen und der grundsätzlichen Veränderung der menschlichen Beziehungen in Wirtschaft und Wissenschaft, Religion und Kunst gibt von vornherein dem Glauben an die neue F o r m — Recht und Kontrolle, bezeugt die Gesetzlichkeit neuer Geburt in der Not weltgeschichtlicher Katastrophen. W e n n Formen zerbrechen, so sind sie nur ausgehoben von neuen, die längst da sind, nur jetzt erst ans Licht kommen. F ü r die besonderen Bedingungen der Architektur bedeutet die zeitgeistige Umschichtung: neue A u f g a b e n durch die veränderten Bauzwecke des Verkehrs, der Wirtschaft und des Kultes, neue Konstruktionsmöglichkeiten in den neuen Baustoffen: Glas — Eisen — Beton. Wir dürfen uns bei zunächst noch ungekannten Möglichkeiten nicht durch die Abgestumpftheit der zu nahen Distanz beirren lassen. Was heute scheinbar nur zäh abfließt., wird einst als Geschichte Schlag auf Schlag und
ungeheuer bewegt und erregend sein. Es handelt sich u m eine Schöpfung! W i r stehen am frühen Beginn, aber doch schon unter den Möglichkeiten ihrer Entwicklung. Vor solcher Z u k u n f t treten die großen Leistungen g e s c h i c h t l i c h e r Zeiten von s e l b s t zurück; da verliert die Handgreiflichkeit der G e g e n w a r t ihre wichtige Haltung. W a s geschehen wird, hat n u r Wert, wenn es i m Rausch der Vision entsteht. Kritik trägt n u r Frucht, wenn sie das ganze Problem umfassen kann. Bevorm u n d u n g versagt, weil die Zukunft f ü r sich selbst spricht. Will m a n solchen Glauben vermitteln, seine greifbaren Folgerungen einem weiteren Kreis als Selbstverständlichkeiten übergeben, so muß notwendigerweise aufgezeigt werden, daß die jungen Kräfte ihre architektonischen Erlebnisse weder aus der H i s t o r i e noch vom Himmel herholen, sondern einzig aus der Fruchtbarkeit ihrer eigenen R a u m gesichte. Hierbei sind bis heute drei Wege erkennbar, die grundverschieden, aber mit gleichem Ziel die parallelen
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Bahnen ihres Willens d o c h einmal kreuzen werden. Es kann kein Zufall sein, daß die drei erkennbaren Wege der neuen Baukunst übereinstimmen mit der gleichen Zahl und Artung der neuen Wege in Malerei und Bildhauerei. Diese Übereinstimmung ihres Willens wird auch im endgültigen Werk alle Künste zu einer Einheit wieder zusammenführen. Diese Werkeinheit wird die große Leistung — das Heiligtum einer neuen Welt — e b e n s o umfassen wie den geringsten Gegenstand unseres täglichen Hauses. Was heute P r o b l e m i s t — wird einst A u f g a b e sein, was heute Gesicht und Glauben e i n z e l n e r , wird einst Gesetz für a l l e werden. Deshalb erscheinen für das Ziel, also für die * Lösung des Problems einer neuen Baukunst a l l e Regungen notwendig: Die Apostel gläserner Welten, die Analytiker der Raumelemente, die Formsucher aus Material und Konstruktion. Freilich: Gesellschaftsklassen im Banne der Tradition werden diese Zeit nicht herauf führen.
Nur ein n e u e r Wille hat die Zukunft für sich in der Unbewußtheit seines chaotischen Auftriebs, in der Ursprünglichkeit seiner universalen Umfassung. Denn wie jede für die Entwicklung der Menschheitsgeschichte entscheidende Epoche unter ihrem geistigen Willen den g a n z e n bekannten Erdkreis einte, so wird auch, was wir ersehnen, über das e i g e n e Land, über Europa hinaus a l l e Völker beglücken müssen. Dabei rede ich durchaus nicht dem Internationalismus das Wort. Denn I n t e r n a t i o n a l i s m u s bedeutet das volklose Ästhetentum einer zerfallenden Welt. U b e r s t a a t l i c h k e i t aber umfaßt n a t i o n a l e Abgrenzung als V o r a u s s e t z u n g , ist freies Menschentum, das a l l e i n eine umfassende Kultur wieder aufrichten kann. Solch großer Wille eint alle, die am Werk sind. Es resultiert e r s t , findet adäquaten Gottesglauben e r s t aus der Verschmelzung der letzten Leistung a l l e r Völker. Da können wir nichts m e h r tun, als das bescheidene Maß unserer Arbeit beitragen, gläubig und in freiwilliger Dienstbarkeit.
Erich Mendelsohn, igao 52
NAUM GABO / ANTOINE PEVSNER GRUNDPRINZIPIEN DES KONSTRUKTIVISMUS (Auszug)
1920
Die Brüder Gabo und Pevsner, beide Bildhauer, verfassen 1920 in Moskau das >Realistische Manifest^ mit dem sie die Grundprinzipien des Konstruktivismus fixieren und vor allem das russische Bauen der ersten Nachkriegszeit kräftig beeinflussen (Tatlin, Gebr. Wesnin, Lissitzky). Gabo und Pevsner geht es um Konstruktionen im Raum, die jedoch in erster Linie nicht als Architektur, sondern als Plastik aufgefaßt werden. Eine große Rolle spielen dabei die haptischen und optischen Reize, die sich aus der Zusammenfügung verschiedenartiger Materialien in diesen räumlichen Konstruktionen ergeben. Diese Materialien sind durchweg solche der industriellen Produktion.
1.
Wir lehnen den geschlossenen körperlichen Umfang als plastischen Ausdruck für die Gestaltung des Raumes ab. Wir behaupten, daß man den Raum nur von innen nach außen in seine Tiefe, nicht von außen nach innen durch sein Volumen gestalten kann. Denn was ist der absolute Raum anderes als eine einzige zusammenhängende und unbegrenzte Tiefe?
2.
Wir lehnen die geschlossene Masse als ausschließliches Element für den Aufbau plastischer und architektonischer Körper im Räume ab. Wir stellen dagegen die Forderung, plastische Körper stereometrisch zu gestalten.
5.
Wir lehnen die dekorative Farbe als malerisches Element im plastischen Bauen ab. Wir stellen die Forderung, das konkrete Material als ein malerisches Element zu verwenden.
4.
Wir lehnen die dekorative Linie ab. Wir fordern von jeder Linie im Kunstwerk, daß sie lediglich zur Präzisierung der inneren Kraft-Richtungen im darzustellenden Körper dient.
5.
Wir begnügen uns nicht mehr mit den statischen Formelementen in der bildenden Kunst. Wir verlangen die Einbeziehung der Zeit als neues Element und behaupten, daß die reale Bewegung in der bildenden Kunst verwendet werden muß, um nicht nur illusorisch die Anwendung kinetischer Rhythmen zu ermöglichen.
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BRUNO TAUT NIEDER DER SERIOSISMUS!
1920
Der Berliner >Arbeitsrat für Kunst< geht im November 1919 in der >November-Gruppe< auf. Taut und Behne aber halten die ArchitektenFreunde zusammen. Auf Tauts Anregung hin kommt es zu einem Wechsel von Rundbriefen, Skizzen und bekenntnisartigen Aufsätzen, genannt »Die Gläserne Kette«. Von Januar 1920 an hat Taut ein neues Sprachrohr: in jeder Ausgabe der Zeitschrift »Stadtbaukunst alter und neuer Zeit« stehen ihm vier bis sechs Seiten zu freier Verfügung. Taut nennt diesen Anhang »Frühlicht« 1 . Der unten wiedergegebene Text füllt die einleitende Seite dieser Folge, das Blatt von Hans Scharoun (* 1893 in Bremen, lebt in Berlin) auf Seite 55 stammt aus der 12. Ausgabe vom Juni 1920. Hopp! Hopp! Hopp! mein süßes Pferdchen! Hopp! Hopp! Hopp! wo willst Du hin? Über jene hohe Mauer? Ei, was kommt Dir in den Sinn? Hopp! Hopp! Hopp! mein süßes Pferdchen.' Hopp! Hopp! Hopp! wo — willst — Du hin? (Scheerbart, Katerpoesie) W e g m i t den Sauertöpfen, den T r a n - u n d Trauerklößen, den Stirnrunzelnden, den e w i g Ernsten, den Säuerlichsüßen, den i m m e r W i c h t i g e n ! »Wichtig! W i c h t i g ! « Verfluchte Wichtigtuerei! Grabstein- u n d F r i e d h o f s f a s s a d e n vor vierstöckigen Trödel- u n d Schacherbuden! Zerschmeißt die Muschelkalksteinsäulen in Dorisch, Jonisch und Korinthisch, zertrümmert die Puppenwitze! R u n t e r m i t der » V o r n e h m h e i t « der Sandsteine u n d Spiegelscheiben, in Scherben der M a r m o r - u n d E d e l h o l z k r a m , auf den M ü l l h a u f e n m i t dem P l u n d e r ! » O h ! unsere B e g r i f f e : R a u m , H e i m a t , Stil —!« P f u i D e u w e l , w i e stinken die Beg r i f f e ! Zersetzt sie, löst sie a u f ! Nichts soll übrigbleiben! J a g t ihre Schulen auseinander, die Professorenperücken sollen fliegen, w i r wollen m i t ihnen F a n g b a l l spielen. Blast, blast! D i e verstaubte, verfilzte, verkleisterte W e l t der B e g r i f f e , der Ideologien, der Systeme soll unsern kalten N o r d w i n d spüren! T o d den B e g r i f f s läusen! T o d allem M u f f i g e n ! T o d allem, w a s Titel, W ü r d e , Autorität heißt! Nieder mit allem Seriösen! Nieder m i t allen K a m e l e n , die nicht durch ein N a d e l ö h r gehen, mit allen M a m m o n - u n d Molochanbetern! » D i e A n b e t e r der G e w a l t müssen vor der G e w a l t zu Kreuze kriechen!« U n s ist übel von ihrem B l u t s a u f e n — K a t z e n j a m m e r im Frühlicht. I n der F e r n e glänzt unser M o r g e n . Hoch, d r e i m a l hoch unser Reich der G e w a l t losigkeit! Hoch das Durchsichtige, Klare! Hoch die Reinheit! Hoch der Kristall! u n d hoch und i m m e r höher das Fließende, Grazile, K a n t i g e , F u n k e l n d e , Blitzende, Leichte — hoch das ewige B a u e n ! ••Taut, В.: » F r ü h l i c h t — Eine F o l g e f ü r die Verwirklichung des neuen B a u g e d a n k e n s « . Ullstein B a u weit F u n d a m e n t e , Bd. 8.
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1920
L E CORBUSIER AUSBLICK AUF EINE ARCHITEKTUR · LEITSÄTZE
L e Corbusier (* 1887 in L a Chaux-de-Fonds, lebt in Paris) ist in Deutschland schon längst kein Unbekannter mehr, als 1920/21 in der Zeitschrift »L'Esprit Nouveau« jene programmatischen Aufsätze erscheinen, die er 1923 unter dem Titel »Vers une Architecture« in Buchform herausgibt 1 . L e Corbusier hat 1 9 1 0 einige Monate hei Peter Behrens in Berlin gearbeitet, kennt die Arbeit des Deutschen Werkbundes (der sich entgegen van de Veldes Protest — siehe Seite 25 — eben doch bereits mit Standardisierung und Problemen der Industrieform befaßte), hat bis 1 9 1 7 Europa in allen Richtungen bereist und entwickelt nun von 1920 an die Grundlagen einer Ästhetik des industriellen Bauens.
Ingenieur-Ästhetik, Baukunst Ingenieur-Ästhetik, Baukunst: beide im tiefsten Grunde dasselbe, eins aus dem anderen folgend, das eine in voller Entfaltung, das andere in peinlicher Rückentwicklung. Der Ingenieur, beraten durch das Gesetz der Sparsamkeit und geleitet durch Berechnungen, versetzt uns in Einklang mit den Gesetzen des Universums. Er erreicht die Harmonie. Der Architekt verwirklicht durch seine Handhabung der Formen eine Ordnung, die reine Schöpfung seines Geistes ist: mittels der Formen rührt er intensiv an unsere Sinne und erweckt unser Gefühl für die Gestaltung; die Zusammenhänge, die er herstellt, rufen in uns tiefen Widerhall hervor, er zeigt uns den Maßstab für eine Ordnung, die man als im Einklang mit der Weltordnung empfindet, er bestimmt mannigfache Bewegungen unseres Geistes und unseres Herzens: so wird die Schönheit uns Erlebnis.
Drei Mahnungen an die Herren Architekten I. Der Baukörper Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter dem Licht zu sehen. Die primären Formen sind die schönen Formen, denn sie sind klar zu lesen. Die Architekten von heute verwirklichen keine einfachen Formen mehr. Die Ingenieure verwenden, da sie auf dem Wege der Berechnung vorgehen, geometrische Formen und befriedigen unsere Augen durch die Geometrie und unseren Geist durch die Mathematik. Ihre Werke sind auf dem Wege zur großen Kunst. II. Die Außenhaut Ein Baukörper wird von der Außenhaut umhüllt, einer Außenhaut, die sich den formbestimmenden und formerzeugenden Elementen des Baukörpers entsprechend gliedert und die Individualität dieses Baukörpers festlegt. 1
L e Corbusier: »Ausblick auf eine Architektur«. Ullstein Bauwelt Fundamente, Bd. 2.
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Die Architekten haben heutzutage Angst, die Außenhaut dem Gesetz der Geometrie zu unterwerfen. Die großen Probleme der modernen Konstruktionen werden auf der Grundlage der Geometrie verwirklicht werden. Die Ingenieure gehorchen den strengen Forderungen eines unausweichlichen Programms und verwenden die formerzeugenden und formanzeigenden Elemente. Sie schaffen klare und eindrucksvolle Tatsachen der Formgestaltung. III. Der Grundriß Aus dem Grundriß entsteht alles. Ohne Grundriß ist Unordnung, Willkür. Der Grundriß bedingt bereits die Wirkung auf die Sinne. Die großen Probleme von morgen, die von den Bedürfnissen der Gesamtheit diktiert werden, werfen die Frage des Grundrisses erneut auf. Das moderne Leben verlangt, ja erwartet für das Haus und die Stadt einen neuen Grundriß.
Die Maß-Regler Die naturgegebene Geburt der Baukunst. Die Verpflichtung zur Ordnung. Die Maß-Regler sind Selbstversicherung gegen die Willkür. Sie befriedigen den Geist. Die Maß-Regler sind Hilfsmittel und kein Rezept. Ihre Wahl und ihre Ausdrucksformen sind integraler Teil der schöpferischen Gestaltung der Architektur.
Augen, die nicht sehen . . . I. Die Ozeandampfer Ein großes Zeitalter ist angebrochen. Ein neuer Geist ist in der Welt. Es gibt eine Fülle von Werken des neuen Geistes; man begegnet ihnen vor allem in der industriellen Produktion. Die Architektur erstickt am alten Zopf. »Stile« sind Lüge. Der Stil ist eine Wesens-Einheit, die alle Werke einer Epoche durchdringt und aus einer fest umrissenen Geisteshaltung hervorgeht. Unsere Zeit prägt täglich ihren Stil. Leider sind unsere Augen noch nicht fähig, ihn zu erkennen. II. Die Flugzeuge Das Flugzeug ist ein Ausleseprodukt hoher Qualität. Die Lehre, die uns das Flugzeug erteilt, liegt in der Logik, welche Problemstellung und Verwirklichung diktierte. Das Problem des Hauses ist noch nicht gestellt worden. Die gegenwärtige Handhabung der Architektur entspricht nicht mehr unseren Bedürfnissen. 57
Trotzdem gibt es Standardlösungcn für die Wohnungsfrage. Die Mechanik trägt in sich den Auslese fördernden Faktor der Sparsamkeit. Das Haus ist eine Wohnmaschine. III. Die Autos Um an das Problem der Perfektion heranzugehen, müssen Typen entwickelt werden. Der Parthenontempel ist ein an einem Typ entwickeltes Ausleseprodukt. Baukunst ist Typenbildung. Typen sind Sache der Logik, der Analyse, gewissenhaften Studiums; sie entstehen auf Grund eines richtig gestellten Problems. Die Erfahrung legt den Typ dann endgültig fest.
Baukunst I. Die Lehre Roms Baukunst heißt mit rohen Stoffen Beziehungen herstellen, die uns anrühren. Baukunst steht jenseits von Nützlichkeitsfragen. Baukunst ist eine Frage des Gestaltens. Geist der Ordnung, Einheit des Gestaltungswillens. Sinn für Zusammenhänge; die Baukunst schaltet mit Größen. Aus trägen Steinen baut die Leidenschaft ein Drama. II. Das Blendwerk der Grundrisse Der Gmndriß wirkt vom Innen auf das Außen; das Äußere ist Resultat des Inneren. Die Elemente der Architektur sind Licht und Schatten, Mauer und Raum. Anordnung heißt Hierarchie der Ziele, Klassifizierung der Gestaltungsabsichten. Der Mensch sieht die Dinge der Architektur mit seinen Augen, die 1,70 Meter über dem Boden sind. Man kann nur Absichten verwirklichen wollen, die dem Auge erreichbar sind, nur Absichten verfolgen, die den Elementen der Baukunst Rechnung tragen. Verfolgt man Absichten, die nicht der Sprache der Architektur zugehören, dann verfällt man dem Blendwerk der Grundrisse, dann übertritt man aus Mangel an Vorstellungskraft oder aus Neigung zu eitlen Nichtigkeiten die Gesetze der Grundrißbildung. III. Reine Schöpfung des Geistes Die Durchbildung der Form ist der Prüfstein für den Architekten. Dieser erweist sich an ihr als Künstler oder als einfacher Ingenieur. Die Durchbildung der Form ist frei von jedem Zwang. Es handelt sich dabei nicht mehr um Herkommen oder Überlieferung noch um konstruktive Verfahren noch um Anpassimg an die Bedürfnisse des Gebrauchs. Die Durchbildung der Form ist reine Schöpfung des Geistes; sie ruft den gestaltenden Künstler auf den Plan.
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Häuser im Serienbau Ein großes Zeitalter ist angebrochen. Ein neuer Geist ist in der Welt. Die Industrie, ungestüm wie ein Fluß, der seiner Bestimmung zustrebt, bringt uns die neuen Hilfsmittel, die unserer von dem neuen Geist erfüllten Epoche entsprechen. Das Gesetz der Sparsamkeit lenkt gebieterisch unser Tun und Denken. Das Problem des Hauses ist ein Problem unserer Zeit. Das Gleichgewicht der Gesellschaftsordnung hängt heute von seiner Lösung ab. Erste Pflicht der Architektur in einer Zeit der Erneuerung ist die Revision der geltenden Werte, die Revision der wesentlichen Elemente des Hauses. Der Serienbau beruht auf Analyse und experimenteller Forschung. Die Großindustrie muß sich des Bauens annehmen und die einzelnen Bauelemente serienmäßig herstellen. Es gilt, die geistigen Voraussetzungen für den Serienbau zu schaffen. Die geistige Voraussetzung für die Herstellung von Häusern im Serienbau. Die geistige Voraussetzung für das Bewohnen von Serienhäusern. Die geistige Voraussetzung für den Entwurf von Serienhäusern. Wenn man aus seinem Herzen und Geist die starr gewordenen Vorstellungen vom Haus reißt und die Frage von einem kritischen und sachlichen Standpunkt aus ins Auge faßt, kommt man zwangsläufig zum Haus als Werkzeug, zum Typenhaus, das gesund ist (auch sittlich gesund) und ebenso schön wie die Werkzeuge der Arbeit, die unser Dasein begleiten. Schön außerdem dank der Beseelung, die künstlerischer Sinn strengen und reinen Werkzeugen vermitteln kann.
Baukunst oder Revolution (Auszug) . . . Im Bereich des Bauens hat man begonnen, Einzelteile serienmäßig herzustellen, man hat unter dem Druck neuer wirtschaftlicher Notwendigkeiten Einzel- und Großelemente geschaffen; es sind in Hinsicht auf die Einzelteile wie auf den Zusammenbau überzeugende Leistungen erreicht worden. In bezug auf die Vergangenheit ist das eine Revolution in den Methoden und der Größe der Bauvorhaben... . . . Bewußt oder unbewußt hat man diese Tatsachen zur Kenntnis genommen; bewußt oder unbewußt haben sich neue Bedürfnisse herausgebildet. Das Räderwerk der Gesellschaft ist ernstlich gestört, es schwankt zwischen einem Aufschwung von historischer Bedeutung und einer Katastrophe. Der Urinstinkt eines jeden Lebewesens ist darauf ausgerichtet, sich eine Ruhestätte zu schaffen. Die verschiedenen arbeitenden Klassen der Gesellschaft haben heute keine angemessene Ruhestätte mehr, weder der Arbeiter der Hand noch der des Geistes. So ist der Schlüssel für die Wiederherstellung des heute gestörten Gleichgewichts ein Bauproblem: Baukunst oder Revolution. 59
B R U N O TAUT FRÜHLICHT
1921
Die erste Folge seiner »Frühlicht«-Veröffentlichungen muß Bruno Taut im Juli 1920 einstellen. Dem Herausgeber der >Stadtbaukunst l e h n e n w i r ab. und jeden Formalismus J Baukunst ist raumgefaßter Zeitwille. Lebendig. Wechselnd. Neu. Nicht das Gestern, nicht das Morgen, nur das Heute ist formbar. N u r dieses Bauen gestaltet. Gestaltet die Form aus dem Wesen der Aufgabe mit den Mitteln unserer Zeit. D a s ist u n s e r e A r b e i t B
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Das Bürohaus ist ein Haus der A r b e i t der Organisation der Klarheit der Ökonomie. Helle weite Arbeitsräume, übersichtlich, ungeteilt, nur gegliedert wie der Organismus des Betriebes. Größter Effekt mit geringstem Aufwand an Mitteln. D i e Materialien sind Beton Eisen Glas. Eisenbetonbauten sind ihrem Wesen nach Skelettbauten. Keine Teigwaren noch Panzertürme. Bei tragender Binderkonstruktion eine nichttragende W a n d . Also Haut- und Knochenbauten. 70
ARTHUR KORN ANALYTISCHE UND UTOPISCHE ARCHITEKTUR
1923
Der programmatische Aufsatz erscheint Dezember 1923 in Paul Westheims »Kunstblatt«. Arthur Korn (* 1891 in Breslau, lebt in London) ist 1919 Teilhaber von Mendelsohn und gründet 1922 ein Büro mit Sigfried Weitzmann. Korn arbeitet und plant — von Inneneinrichtungen und Wohnhäusern in Berlin und Schlesien abgesehen — viel für Jerusalem und Haifa. 1925 entwirft er ein Geschäftszentrum für Haifa, das mit dem zweiten Preis des Wettbewerbs ausgezeichnet wird und das Gropius in den ersten Band der Bauhausbücher (»Internationale Architektur«, München 1925) aufnimmt. 1924 wird Arthur Korn Sekretär der >November-GruppeUnowis< anhängt: »Gründung neuer Formen der Kunst.« Bereits im Winter 1915/16 hing in der »letzten futuristischen Ausstellung >o,ioNull-Form< oder >nackte ungerahmte Ikone meiner Zeit< (Malewitsch). Seine »Gegenstandslose Welt« — 1927 Titel seines Bauhaus-Buches — wächst in den Wirren der russischen Kriegs- und Revolutionsjahre. Gabo und Pevsner, Kandinsky, Lissitzky und Moholy-Nagy tragen den Suprematismus als Wirkstoff in die europäischen Begegnungen hinein.
Die Kunst der Gegenwart, und insbesondere die Malerei, hat auf der ganzen Front gesiegt. Das Bewußtsein hat die Fläche überwunden und ist zur Kunst räumlicher Gestaltung vorgestoßen. Das Bildermalen bleibt fortan denen überlassen, die nicht vermocht haben, trotz unermüdlicher Arbeit ihr Bewußtsein von der Fläche zu befreien, deren Bewußtsein flach geblieben ist, weil sie die Fläche nicht überwinden konnten. Durch das räumliche Bewußtsein ist die Malerei zur konstruktiven Gestaltung entwickelt worden. Um für die räumlichen Ordnungen ein System zu finden, ist es notwendig, alle absterbenden Systeme der Vergangenheit mit allen ihren Anlagerungen durch unaufhaltsames Vorwärtsdrängen auf dem neuen Wege zu beseitigen... Schwer wird unser Weg sein, sehr schwer! Schier unerschütterlich ist das Beharrungsvermögen ökonomischer und ästhetischer Begriffe. Darum hat auch der Futurismus mit seiner Dynamik gegen jedes Verharren im Gestern gekämpft. Dieser Kampf war allein das Unterpfand für die rechtzeitige Ablösung der Dinge. Aber auch der Ästhetik, diesem verlogenen Gefühlsbegriff, hat die Neue Kunst unerbittlichen Kampf angesagt. Seit dem Jahre 1 9 1 3 wird dieser Kampf verstärkt geführt unter der Devise des Suprematismus als der »ungegenständlichen Weltanschauung!« Das Leben muß gereinigt werden von dem Gerümpel der Vergangenheit, vom parasitären Eklektizismus, damit es zu seiner normalen Entfaltung gebracht werden kann. Der Sieg des Heute über die liebgewordenen Gewohnheiten setzt die Absage an das Gestern voraus, die Entrümpelung des Bewußtseins . . . Alles, was noch dem Gestern angehört, ist eklektisch: der Karren, der primitive Pflug, das Pferd, die Heimarbeit, die Landschaftsmalerei, die Freiheitsstatuen, Triumphbogen, Fabrikessen und vor allem — die Gebäude im antiken Stil. Alles das ist Elektizismus, wenn man es vom Zeitalter des Aeroplans und des Funks her betrachtet. Selbst das Automobil gehört eigentlich schon in die 82
Rumpelkammer, auf den Friedhof des Eklektizismus, wie der Telegraf und das Telefon auch Die neuen Behausungen der Menschen liegen im Weltraum. Die Erde wird für sie zu einer Zwischenstation, und dementsprechend müssen Flugplätze angelegt werden, die sich den Aeroplanen anpassen, also ohne säulenartige Architektur. Die provisorischen Behausungen der neuen Menschen müssen sowohl im Weltraum als auch auf der Erde den Aeroplanen angepaßt sein. Ein so beschaffenes Haus wird sich auch morgen bewähren. Wir Suprematisten schlagen daher die gegenstandslosen Planiten als Grundlage für die gemeinsame Gestaltung unseres Seins vor. Wir Suprematisten werden uns Bundesgenossen für den Kampf gegen die veralteten Formen der Architektur suchen... Würde man das künftige Leningrad im Stile amerikanischer Wolkenkratzerslädte aufbauen, dann würden auch der Lebensstil und das Denken seiner Bewohner dem der Amerikaner entsprechen. Dennoch bemüht man sich bei uns in immer steigendem Maße, das heutige Sein in eine antike Form zu pressen... Die antiken Formen, behauptet man, seien wichtig, und nur Dummköpfe könnten ihren Wert für das Proletariat nicht erkennen. Wo aber soll man dami den Aeroplan oder auch nur das Automobil unterbringen? Wie kann die moderne Technik in antiken Formen ausgedrückt werden? Wir Suprematisten nehmen es daher auf uns, für Dummköpfe gehalten zu werden, und bestreiten die Notwendigkeit antiker Formen für unsere Zeit. Wir lehnen es ganz entschieden ab, uns in antike Formen pressen zu lassen. Wir wollen keine Feuerwehrmänner sein, deren Beine in modernen Hosen stecken, deren Köpfe aber Helme römischer Legionäre zieren, wir wollen nicht sein wie jene Neger, denen die englische Kultur den Regenschirm und den Zylinder bescherte, und wir wollen nicht, daß unsere Frauen im Gewände der Venus nackt herumlaufen wie die Wilden! Die Größe der antiken Kunst erkennen wir voll an. Wir bestreiten nicht, daß sie groß war für ihre Zeit. Wir bestreiten auch nicht, daß das Proletariat die klassische Antike kennen und ein richtiges Verhältnis zu ihr gewinnen muß. Wir bestreiten aber ganz entschieden, daß die Antike auch heute noch zu uns paßt. Jede neue Idee verlangt die ihr gemäße neue Form. Darum lehnen wir es ab, antike Tempel, die sowohl den Heiden als auch den Christen genügten, nun auch als Klubhaus oder als »Haus der Kultur« für das Proletariat anzuerkennen, auch dann, wenn diese Tempel nach den Führern der Revolution benannt und mit deren Bildern geschmückt werden sollten! Wir wollen neue Beziehungen zum heutigen Inhalt schaffen, Beziehungen, die sich nicht auf der Ebene der Antike bewegen, sondern auf der Ebene der Gegenwart, des Heute! Wir betrachten die Form ästhetisierender malerischer Darstellungen als erledigt. Der Suprematismus verlegt den Schwerpunkt seines Wirkens an die Front der Architektur und ruft alle revolutionären Architekten auf, sich ihm anzuschließen. 83
L E CORBUSIER LEITSÄTZE DES STÄDTEBAUS
1925
In der >Collection de l'Esprit Nouveau< erscheint 1925 Le Corbusiers grundlegende Schrift zum Städtebau (»Urbanisme«). Wiederum — wie in »Ausblick auf eine Architektur« — ist eine programmatische Ankündigung, wiederum sind den einzelnen Kapiteln Leitsätze vorangestellt. Der Aufsehen erregende >Plan Voisin< für Paris, für >eine Stadt der Gegenwart von drei Millionen Einwohnernunsachlich< sind, wir wollen sie vielmehr hineinbeziehen in den großen freudigen Rhythmus unseres Hauses. Wir wollen Plastik sehen wie wir Bücher lesen wollen, wir wollen Teppiche nicht bannen, weil sie >Staubfänger< sind. Wir wollen den ganzen Reichtum des Möglichen und Berechtigten, weil er als notwendiger Faktor zu unserer Persönlichkeit gehört. Gerade Plastik und Malerei werden trotz dieser eitlen Verdrängung leben, weil sie sich zeitgemäß von der Architektur zu einem starken Eigen-Leben und Eigen-Inhalt gelöst haben. Die Städte werden sich wandeln in eine Form, die dem Stadtbewohner die Sonne und die Bewegung wiederschenkt. Das wird der Anfang neuen Weltbauens sein. Nicht die Breite der Straßenzüge, noch die Höhe der sie umrandenden Häuser, noch ihre Flächen und Profile, noch ihre Balkone und Dachformen werden hierbei maßgebend sein, sondern ganz allein die gestaltende Sehnsucht der Städter. Es wird keine Korridore und Häuserflächen mehr geben, weder im alten noch im neuen Sinne, es werden Gebilde sein, die sich aus den Gewohnheiten der Bewohner vordrängen und zurückschieben, um die Sonne wieder sehen und fühlen zu können. Dächer werden keine Fluchtlinien bilden, sondern werden bald tiefer liegen, bald sich hochrecken, wie das Verlangen nach Dachgärten es fordert. Die Sehnsucht der Menschen wird bestimmend sein, nicht die Frage der Rentabilität. Wir wollen den individuellen Raum, nicht das Fabrikat, wir wollen Persönlichkeit, nicht Norm, nicht Schema, nicht Serie, nicht Typ. Wir wollen keine Vergewaltigung unseres gestaltenden Gefühls, auch nicht von der Architektur, wir wollen unser Leben leben. Glühen soll der Reichtum des Geistes, blühen sollen alle produktiven Möglichkeiten, unbekümmert um >Sachlichkeit^ Gestalte die innere Kraft, damit die kalten Seelen warm werden. 102
»CIAM« ERKLÄRUNG VON LA SARRAZ
1928
Ein Jahr nach der Weißenhof-Ausstellung in Stuttgart versammelt sich vom 26. his 28. Juni 1928 eine Gruppe von Architekten — Delegierte verschiedener nationaler Gruppen — auf Schloß Sarraz in der Schweiz. Gegenstand des Treffens ist ein in Paris erarbeitetes Programm dei Problemstellungen des neuen Bauens. Man einigt sich, wenn auch nicht ohne Widerspruch, auf die von Le Gorbusier und Giedion vorgeschlagenen Standpunkte und Arbeitsmethoden. Mit einer abschließenden offiziellen Erklärung gelten die C I A M (Congres Internationaux d'Architecture Moderne) als gegründet. Über dreißig Jahre hin bleiben sie Träger eines weltweiten Ideenaustauschs. Sie sind es, die die Aufgabe »Städtebau« ins Blickfeld bringen.
Die unterzeichneten Architekten stellen unter sich eine grundlegende Übereins t i m m u n g ihrer A u f f a s s u n g e n v o m B a u e n sowie ihrer beruflichen Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft fest u n d betonen hierbei i m einzelnen, daß sie unter B a u e n eine g a n z elementare T ä t i g k e i t des Menschen verstehen, die in ihrem g a n z e n U m f a n g u n d in ihrer g a n z e n T i e f e an der gestalterischen E n t f a l t u n g unseres Lebens beteiligt ist. Die A u f g a b e der Architekten ist es deshalb, sich in Übereinstimmung zu bringen mit den großen Tatsachen der Zeit und den großen Zielen der Gesellschaft, der sie angehören, und ihre W e r k e danach zu gestalten. Sie lehnen es infolgedessen ab, gestalterische Prinzipien früherer Epochen und vergangener Gesellschaftsstrukturen auf ihre W e r k e zu übertragen, sondern fordern eine jeweils neue Erfassung einer B a u a u f g a b e u n d eine schöpferische Erf ü l l u n g aller sachlichen und geistigen Ansprüche an sie. Sie sind sich bewußt, d a ß die Strukturveränderungen, die sich in der Gesellschaft vollziehen, sich auch i m B a u e n vollziehen und daß die V e r ä n d e r u n g der konstitutiven Ordnungsbegriffe unseres gesamten geistigen Lebens sich auch auf die konstitutiven Begriffe des Bauens bezieht. So wird es ihnen eine Selbstverständlichkeit, d a ß sie ihre besondere A u f m e r k s a m k e i t auf neue Baustoffe, neue Konstruktionen und neue Produktionsmethoden richten und d a ß sie ihre Sorgen allen F r a g e n i m Bereich ihres Berufes zuwenden, die eine Förderung ihrer Arbeit in Aussicht stellen. Sie h a b e n deshalb beschlossen, sich in Z u k u n f t über die G r e n z e n ihrer L ä n d e r hinaus gegenseitig in ihren Arbeiten zu unterstützen. A u f G r u n d dieser Erk l ä r u n g wurden die wichtigsten P u n k t e eingehender diskutiert u n d die Resultate dieser Diskussion in den nachfolgenden Artikeln festgelegt: I. Allgemeine Wirtschaftlichkeit 1. Das Problem der Architektur i m modernen Sinne fordert in erster Linie die intensive V e r b i n d u n g ihrer A u f g a b e mit den A u f g a b e n der allgemeinen Wirtschaft. 105
2. Wirtschaftlichkeit ist im technisch-produktiven Sinne zu verstehen und bedeutet den möglichst rationellen Arbeitsaufwand und nicht den möglichst großen Ertrag im geschäftlich-spekulativen Sinne. 5. Die Notwendigkeit der ökonomisch wirksamsten Produktion ergibt sich zwangsläufig daraus, daß wir heute und in der nächsten Zukunft mit allgemein verschärften Lebensbedingungen zu rechnen haben: a) Wirtschaftliche Selbständigkeit der einzelnen Länder und der Kolonien; b) Einschränkung der Weltwirtschaft — verstärkte Binnenwirtschaft. 4. Die Konsequenzen der ökonomisch wirksamsten Produktion sind Rationalisierung und Standardisierung. Sie sind von entscheidendem Einfluß auf die Arbeit des heutigen Bauens. 5. Rationalisierung und Standardisierung äußern sich in dreifacher Hinsicht: a) sie fordern vom Architekten eine intensive Reduktion und Vereinfachung der beim B a u notwendigen Arbeitsvorgänge; b) sie bedeuten f ü r das Bauhandwerk eine einschneidende Reduktion der heutigen Vielzahl der Berufe zugunsten weniger, auch f ü r den ungelernten Arbeiter leicht anzulernender Fertigkeiten; c) sie fordern vom Verbraucher, dem Besteller und Bewohner des Hauses, eine Klärung seiner Ansprüche im Sinne einer weitgehenden Vereinfachung und Verallgemeinerung der Wohnsitten. Dies bedeutet einen Abbau der heute überschätzten und durch gewisse Industrien emporgetriebenen Einzelansprüche zugunsten einer möglichst allgemeinen und breiten E r f ü l l u n g der heute zurückgesetzten Ansprüche der großen Masse. 6. Die Anforderungen an die Produktion haben sich aber nicht nur verschärft — sie hat sich selbst auch insofern verschoben, als wir im Gegensatz zur handwerklich organisierten Produktion der Vergangenheit mit der industriell organisierten Produktion der Gegenwart zu rechnen haben. 7. Die Untergrabung des Handwerks durch die Aufhebung der Zünfte hatte eine tiefgehende Desorganisation des Bauhandwerks zur Folge. Diese Desorganisation machte die Überwachung des Bauens durch die Baugesetze notwendig. Die heute einsetzende industrielle Entwicklung fordert eine Neuorientierung dieser Baugesetze mit Rücksicht darauf, daß die Industrie auf der einen Seite die nötige Bewegungsfreiheit in der technischen Entwicklung verlangt und auf der anderen Seite f ü r die nötige Kontrolle ihrer Erzeugnisse selbst sorgt (Qualitätsnormen, Fabrikmarken).
II. Stadt- und Landesplanung 1. Stadtbau ist die Organisation sämtlicher Funktionen des kollektiven Lebens in der Stadt und auf dem Lande. Stadtbau kann niemals durch ästhetische Überlegungen bestimmt werden, sondern ausschließlich durch funktionelle Folgerungen. 104
2. A n erster Stelle steht im Stadtbau das Ordnen der Funktionen: a) Das Wohnen; b) das Arbeiten; c) die Erholung (Sport, Vergnügen). Mittel zur E r f ü l l u n g dieser Funktionen sind: a) Bodenaufteilung; b) Verkehrsregelung; c) Gesetzgebung. 3. Auf der Basis der nach sozialen und ökonomischen Grundsätzen durch die Landesplanung festgesetzten Bevölkerungsdichte wird das Verhältnis zwischen Wohnflächen, Sport- und Grundflächen und Verkehrsflächen bestimmt. Der jetzt durch K a u f , Spekulation und Erbschaft chaotischen Zerstückelung der Bodenflächen ist durch eine planmäßig betriebene kollektive Bodenwirtschaft zu begegnen. Diese Entwicklung kann heute schon durch die Überführung des ungerechtfertigten Mehrwertgewinnes an die Allgemeinheit und durch den Ausbau des Erbbaurechtes eingeleitet werden. 4. Die Verkehrsregelung hat die zeitliche und örtliche Folge aller Funktionen des Gemeinschaftslebens zu umfassen. Die wachsende Intensität dieser Lebensfunktionen, fortwährend nachgeprüft durch die Mittel der Statistik, zieht die wachsende Diktatur des Verkehrs unumgänglich nach sich. 5. Die sich stets fortentwickelnden technischen Mittel der Neuzeit erzwingen eine totale Veränderung der Gesetzgebung und eine dem technischen Fortschritt fortwährend folgende Umwandlung.
III. Architektur und öffentliche Meinung 1. Die Notwendigkeit, im Sinne der Prinzipien des neuen Bauens auf die Allgemeinheit einzuwirken, bildet eine wichtige A u f g a b e der Architektenschaft. Die A u f g a b e n der Architekten sind dieser Allgemeinheit gegenüber schlecht definiert. Die Wohnprobleme sind nicht klar gefaßt. Die Anforderungen der Konsumenten — Besteller und Bewohner des Hauses — werden heute bestimmt durch eine Reihe von Faktoren, die mit der Wohnungsfrage nichts zu tun haben und eine klare Formulierung der berechtigten Ansprüche verhindern. Infolgedessen kann der Architekt die wirklichen A u f g a b e n des Wohnens nur unvollkommen erfüllen. Diese mangelhafte Erfüllung bedingt f ü r die Gesamtheit eine ungeheure unproduktive Ausgabe. Die weitere Folge ist, daß ein zu hoher Standard des Wohnens, eine Tradition der zu teuren Wohnung, die gesunden Wohnungsmöglichkeiten f ü r einen großen Teil der Bevölkerung notwendigerweise einschränkt. 2. Die elementaren Grundsätze des Wohnens könnten in wirksamer Weise durch den Unterricht an den Erziehungsstätten verbreitet werden: Forderung der Reinlichkeit, Einfluß von Licht, L u f t und Sonne, Grundsätze der Hygiene, praktische Anwendimg des Hausgeräts. 5. E i n solcher Unterricht hätte zur Folge, daß die heranwachsende Generation einen klaren und rationellen Begriff von den A u f g a b e n des Hauses erhielte und damit in der L a g e wäre, als zukünftige Konsumenten die vernünftigen Anforderungen an das Haus selbst aufzustellen. 105
IV. Architektur und Beziehung zum Staat ι. Für die moderne Architektur, die den Willen hat, das Bauen von der rationellen, wirtschaftlichen Seite her zu betreiben, bedeuten die heutigen staatlichen Akademien und Hochschulen mit ihren ästhetisch und formalistisch gerichteten Methoden eine dauernde Hemmung. 2. Die Akademien sind notwendigerweise die Hüter der Vergangenheit. Sie haben aus den praktischen und ästhetischen Methoden der historischen Epochen Dogmen der Architektur gemacht und verleugnen damit die Grundlagen des Bauens. Ihre Anschauungen sind falsch, und die Resultate sind ebenso falsch. 5. Der Akademismus verleitet die Staaten zu großen Aufwendungen für monumentale Bauaufgaben und fördert damit einen überlebten Luxus, der mit der Vernachlässigung der dringendsten städtebaulichen und wirtschaftlichen Aufgaben erkauft wird. 4. Es ist deshalb notwendig, daß die Staaten eine gründliche Revision der Erziehungsmethoden in der Architektur vornehmen und auf diesem Gebiet dieselben Grundsätze annehmen, die auf allen anderen Gebieten zu einer Versorgung ihrer Länder mit den produktivsten und fortschrittlichsten Organismen geführt haben. 5. Eine parallele Hemmung der Entwicklung des Bauens in rationeller, wirtschaftlicher Richtung bedeuten diejenigen staatlichen Vorschriften, die in irgendeiner Form auf eine ästhetische formale Beeinflussung des Bauens hinauslaufen und deshalb nachdrücklich zu bekämpfen sind. 6. Die neue Einstellung des Architekten, seine notwendige und gewollte Einordnung in den Produktionsprozeß machen den besonderen Titelschutz von Seiten des Staates überflüssig. 7. Die Änderung der Haltung der Staaten in diesen Fragen bedeutet die wichtigste Förderung, die das neue Bauen heute von dieser Seite verlangt, und liegt in einer Linie mit den allgemeinen wirtschaftlichen und kulturellen Aufgaben der Gesellschaft. 28. Juni 1928. Die offizielle Erklärung wurde von folgenden Architekten unterzeichnet: IL P. Berlage, den Haag V. Bourgeois, Brüssel P. Chareau, Paris J. Frank, Wien G. Guevrekian, Paris Μ. E. Haefeli, Zürich H. Höring, Berlin A. Hüchel, Genf H. Hoste, St. Michiels P. Jeanneret, Paris Le Corbusier, Paris A. Lurgat, Paris 106
E. May, Frankfurt A. G. Mercadal, Madrid Hannes Meyer, Bauhaus Dessau W. M. Moser, Zürich С. E. Rava, Mailand G. Rietveld, Utrecht A. Sartoris, Turin Hans Sdimidt, Basel Mart Stam, Rotterdam M. Steiger, Zürich H. R. Von der Mühll, Lausanne Juan de Zavala, Madrid
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107
A В С FORDERT DIE DIKTATUR DER MASCHINE
1928
Hans Schmidt, Basel, und Mart Stam, Piotterdam, redigieren die Zeitschrift »ABC — Beiträge zum Bauen«, die in Basel erscheint. Die Forderung nach der Diktatur der Maschine, die dem vierten Heft der zweiten Serie entnommen ist, steht in engem Zusammenhang mit der Ideenwelt von Hannes Meyer, der 1928 die Nachfolge von Walter Gropius als Direktor des Dessauer Bauhauses antritt.
Die Maschine
ist weder das kommende Paradies der technischen E r f ü l l u n g aller unserer W ü n s c h e — noch die nahende Hölle der Vernichtung aller menschlichen Entwicklung —
Die Maschine ist nichts weiter als der unerbittliche Diktator unserer gemeinsamen Lebensmöglichkeiten und Lebensaufgaben.
A b e r wir stehen noch i m Werden, i m Ü b e r g a n g . D i e Maschine ist der Diener einer aus der Renaissance geborenen bürgerlich - individualistischen Kultur geworden. W i e der Diener v o m selben Herrn bezahlt u n d verachtet wird, so wird die Maschine v o m Bürger zur selben Zeit gebraucht u n d von seinem geistigen Hofstaat, seinen Künstlern, Gelehrten und Philosophen verdammt. A b e r die Maschine ist nicht Diener, sondern Diktator — sie diktiert, wie wir zu denken u n d w a s w i r zu begreif e n haben. Sie fordert als Führer der mit ihr unerbittlich verbundenen Massen von Jahr zu Jahr dringender die U m s t e l l u n g unserer Wirtschaft, unserer Kultur. Sie kennt keine A t e m p a u s e auf der philosophischen R u h e b a n k , keinen Kompromiß m i t pazifistischen Phrasen. Sie gönnt uns keinen Ausblick auf einen Verständigungsfrieden, keine ästhetische Distanz z u m fordernden 108
Leben. Die Wirklichkeit zeigt uns, wie weit wir heute schon d e m D i k t a t der Maschine g e f o l g t sind: wir h a b e n ihr das H a n d w e r k geopfert, w i r sind daran, ihr den Bauernstand auszuliefern. W i r h a b e n ihr die Z u s a m m e n l e g u n g unserer wichtigsten Verkehrsmittel u n d unserer großen Industrien zugestehen müssen. W i r h a b e n unter ihrem Druck eine neue Produktionsweise entwickelt, die Produktion der Serie, des Standards, der Masse. W i r h a b e n ihretwillen dem Staat immer größere Machtmittel der Organisation in die H ä n d e geben müssen u n d sogar unsere heiligsten nationalen Güter internationalisieren lassen. Wir haben den ersten Schritt getan: den Ü b e r g a n g aus einer individualistisch produzierenden, durch die Begriffe des nationalen Staates u n d der rassenmäßig begrenzten Religions-
anschauung i d e e l l zusammengehaltenen Gesellschaft in eine kapitalistisch produzierende, durch die Notwendigkeit der Industrialisierung und des internationalen Austausches m a t e r i e l l organisierte Gesellschaft. Aber unser Denken, das Denken unserer Berufsromantiker und Lebensfriseure ist noch nicht einmal diesem Schritt gefolgt. Denn sie haben den Begriff f ü r das Elementare und Lebendige verloren, weil sie nur Moral und Ästhetik kennen. Und da sie f ü r den weiteren Bestand unserer ideellen Güter das Schlimmste, nämlich ihre Arbeitslosigkeit, befürchten, so werden sie aus lauter Idealismus zur Leibgarde der Reaktion oder flüchten sich ins Sektierertum. Wir haben den zweiten Schritt zu tun: den Übergang aus einer z w a n g s l ä u f i g kollektiv produzierenden, in ihren herrschenden Idealen aber stets noch individualistisch gerichteten Gesellschaft in eine b e w u В t kollektiv denkende und arbeitende Gesellschaft. Phrasen? Phrasen f ü r die Ohren der bürgerlichen Klubsesselskeptiker — unerbittliche Notwendigkeit f ü r die Massen, die heute materiell und geistig an den Rand der Lebensmöglichkeit hinausgedrängt sind. Phrasen sind es, wenn wir glauben, wir könnten ein bürgerlich idealistisches Denken zur Grundlage f ü r den A u f b a u einer klaren, rationellen Produktion machen — wenn wir glauben, unsere Sonntagnachmittagsausgehkultur braucht nur ein bißchen billiger abgesetzt zu werden — wenn wir glauben, wir könnten den wichtigsten Entscheidungskampf der nächsten Zukunft mit einem bil-
ligen Frieden umgehen. Was von uns gefordert wird, ist in erster Linie die Befreiung und Umstellung unseres Denkens. Überall drängen sich die Notwendigkeiten zum Handeln — aber es fehlt das Denken der zum Handeln und Führen bestimmten Menschen — denn die Phrasen und Illusionen der Reaktion haben das elementare Denken erstickt.
Ingenieure
Die Apparaten
und
Maschinen
begannen beim Bauen von mit der Grössenanordnung:
AESTHETIK - Technik - Wirtschaftlichkeit d. h. das ästhetische Aussehen stand an erster Stelle. die gesteigerten technischen Anforderungen führten zur F o l g e : TECHNIK - Aesthetik - Wirtschaftlichkeit d. h. das technische Funktionieren rückte an die erste Stelle. der zunehmende Erwerbskampf fordert heute unerbittlich: WIRTSCHAFTLICHKEIT - Technik - Aesthetik d . h . d a s wirtschaftliche Arbeiten übernimmt die Führung. i,Schwciz. T e c h n i s c h e Zeitschrift.,)
Die
Architekten
arbeiten immer noch nach
dem Grundsatz:
AESTHETIK - (Technik) -
? ? ?
Aus »ABC«, 1927/28, Nr. 4 10g
HANNES MEYER RAUEN
1928
1927 wird Hannes Meyer (* 1889 in Basel, + 1954 in Crocifisso di Savosa/Schweiz) als Meister an das Bauhaus in Dessau berufen. Walter Gropius tritt Anfang Februar 1928 zurück und empfiehlt ihn als seinen Nachfolger. Noch im Februar entwickelt Meyer vor Vertretern der Studierenden sein pädagogisches Programm, das im wesentlichen auf eine engere Verbindung von Bauhauslehre und -arbeit mit dem Leben zielt: »Wollen wir uns nach den Bedürfnissen der Außenwelt richten . . . oder wollen wir eine Insel sein, die zwar die Persönlichkeitswerte fördert, deren positive Produktivität jedoch in Frage gestellt ist?« Seine Thesen »bauen« veröffentlicht Meyer in »bauhaus«, 2. Jg., Nr. 4.
bauen alle dinge dieser weit sind ein p r o d u k t d e r f o r m e l : (funktion mal Ökonomie) alle diese dinge sind daher k e i n e k u n s t w e r k e : alle k u n s t ist komposition und mithin zweckwidrig, alles l e b e n ist funktion und d a h e r unkünstlerisch. die i d e e d e r „ k o m p ö s i t i o n eines s e e h a f e n s " scheint zwerchfellerschütternd! jedoch wie ersteht d e r entwurf eines s t a d t p l a n e s ? o d e r eines w o h n p l a n e s ? komposition o d e r f u n k t i o n ? kunst oder leben? ? ? ? ? bauen ist ein biologischer Vorgang, bauen ist kein aesthetischer prozeß. e l e m e n t a r gestaltet wird das n e u e w o h n h a u s nicht n u r eine wohnmaschinerie, sondern ein biologischer apparat f ü r seelische und körperliche b e d ü r f n i s s e . — die n e u e zeit stellt d e m neuen h a u s b a u ihre neuen b a u s t o f f e z u r Verfügung: Stahlbeton drahtglas aluminium si-stahl ripolin asbest kunstgummi preQkork euböolith kaltleim viscose azeton kunstleder kunstharz Sperrholz gasbeton eternit casein zell-beton kunsthorn kautschuk rollglas goudron trolit woodmetail kunstholz torfoleum xelotekt kanevas tombak diese b a u e l e m e n t e organisieren wir nach ökonomischen grundsätzen z u einer k o n s t r u k t i v e n einheit. so erstehen selbsttätig und v o m leben bedingt die einzelform, d e r g e b ä u d e k o r p e r , die materialfarbe und die Oberflächenstruktur, (gemütlichkeit und repräsentation sind k e i n e leitmotive d e s Wohnungsbaues.) (die erste hängt am menschenherzen und nicht an d e r z i m m e r w a n d . . . .) (die zweite prägt die haltung d e s gastgebers und nicht sein perserteppich!) architektur als „affektleistung des künstlers" ist ohne daseinsberechtigung. architektur als „fortführung der bautradition" ist baugeschichtlich treiben. diese funktionell-biologische a u f f a s s u n g d e s b a u e n s als e i n e r gestaltung d e s l e b e n s p r o z e s s e s f ü h r t mit Folgerichtigkeit z u r reinen k o n s t r u k t i o n : diese k o n s t r u k t i v e f o r m e n w e i t k e n n t k e i n Vaterland, sie ist d e r ausdruck internationaler baugesinnung. internationalität ist ein Vorzug d e r epoche. die reine konstruktion ist grundlage und kennzeichen der neuen formenweit. 1. geschlechtsieben 2 . schlafgewohnheit 3. kleintierhaltung
4 . gartenkultur 5 . körperpflege 6 . Wetterschutz
7 . wohnhygiene 8. autowartung 9. k o c h b e t r i e b
1 0 . erwärmung 11. besonnung 1 2 . bedienung
solche f o r d e r u n g e n sind die ausschließlichen motive d e s Wohnungsbaues, wir untersuchen d e n ablauf des t a g e s l e b e n s j e d e s h a u s b e w o h n ers, und d i e s e s ergibt das f u n k t i o n s d i a g r a m m f ü r v a t e r , mutter, k i n d , k l e i n k i n d und mitmenschen, wir erforschen die b e z i e h u n g e n des h a u s e s und seiner insassen z u m f r e m d e n : postbote, passant, besucher, nachbar, einbrecher, k a m i n f e g e r , Wäscherin, polizist, arzt, aufwartefrau, Spielk a m e r a d , gaseinzüger, h a n d w e r k e r , k r a n k e n p f l e g e r , b o t e , wir erforschen die menschlichen und die tierischen b e z i e h u n g e n z u m garten, und die Wechselwirkungen zwischen menschen, haustieren u n d h a u s i n s e k t e n . wir ermitteln die j a h r e s s c h w a n k u n g e n d e r b o d e n t e m p e r a t u r , und wir berechnen danach d e n Wärmeverlust d e r fußböden und die t i e f e d e r f u n d a m e n t s o h l e n . — d e r geologische b e f u n d d e s h a u s -
110
gartenuntergrundes bestimmt die kaplllarfählgkeit und entscheidet, ob untergrundberieselung oder schwemmkanalisatlon. wir errechnen die sonnenelnfallswlnkel Im jahreslauf und bezogen auf den breitengrad des baugeländes, und wir konstruieren danach den Schattenfächer des hauses im garten und den sonnenliditfächer des fensters Im Schlafzimmer, wir errechnen die tagesbeleuchtung der arbeitsfläche im innenraum, und wir vergleichen die Wärmeleitfähigkeit der außenwände mit dem feuchügkeitsgehalt der aufienluft. die luftbewegung im erwärmten räum ist uns nicht mehr fremd, die optischen und die akustischen bezlehungen zum nachbarhaus werden sorgfältigst gestaltet, wir kennen die atavistischen neigungen der künftigen bewohner zu unsern bauhölzern und wählen je nachdem als innenverkleidung des genormten montagehauses die flammige kiefer, die straffe pappel, das fremde okume oder den seidigen ahorn. — die färbe ist uns nur mittel der bewußten seelischen einwirkung oder ein Orientierungsmittel. die färbe ist niemals mimikri für allerlei baustoffe. buntheit ist uns ein greuel. anstrich ist uns ein Schutzmittel, wo uns färbe psychisch unentbehrlich erscheint, mitberechnen wir deren lichtreflexionswert. wir vermeiden reinweißen hausanstrich: der hauskörper ist bei uns ein akkumulator der sonnenwärme.. . . das neue haus ist als trockenmontagebau ein industrieprodukt, und als solches ist es ein werk der Spezialisten: Volkswirte, Statistiker, hygieniker, klimatologen, betriebswissenschafter, normengelehrte, wärmetechniker. . . . der architekt? . . . war künstler und wird ein speziallst der organisation! das neue haus ist ein soziales werk, es erlöst das baugewerbe von der partiellen arbeitslosigkeit eines saisonberufes, und es bewahrt vor dem odium der notstandsarbeit. durch eine rationelle hauswirtschaft schützt e s die hausfrau v o r Versklavung im haushält, und durch eine rationelle gartenwirtschaft schützt es den Siedler vor dem dilettantismus des kleingärtners. es ist vornehmlich ein soziales werk, weil es (wie jede DINnorm) das industrie-normen-produkt einer ungenannten erfindergemeinschaft ist. die neue Siedlung vollends ist als ein endziel der volkswohlfahrt ein bewußt organisiertes gemeinkräftiges werk, in welchem auf einer integral-genossenschaftlichen grundlage die kooperativkräfte und individualkräfte zum gemeinkräftigen ausgleich kommen, die modernität dieser Siedlung besteht nicht aus flachdach und vertikal-horizontaler fassadenaufteilung, — sondern in ihrer direkten beziehung zum menschlichen dasein. in ihr sind die Spannungen des Individuums, der geschlechter, der nachbarschaft und der gemeinschaft und die geopsydiischen bezlehungen überlegen gestaltet. bauen bauen
heißt die überlegte organisation von lebensvorgängen. als technischer Vorgang ist daher nur ein teilprozeß. das funktionelle diagramm und das ökonomische Programm sind die ausschlaggebenden richtlinien des bauvorhabens. bauen ist keine einzelaufgabe des ardiitekten-ehrgeizes mehr. bauen ist gemeinschaftsarbeit von werktätigen mit erfindern. nur wer als meister in der arbeitsgemeinschaft anderer den lebensprozeß selbst meistert, . . . ist baumeister. bauen wird so aus einer einzelangelegenheit von einzelnen (gefördert durch arbeitslosigkeit und Wohnungsnot), zu einer kollektiven angelegenheit der Volksgenossen, bauen Ist nur organisation: soziale, technische, Skonomische, psychische organisation. hannes mever
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EL LISSITZKY IDEOLOGISCHER Ü B E R B A U
1929
Nach längerem Aufenthalt in Deutschland und in der Schweiz kehrt El (Eliezer) Lissitzky (* 1890 im Gouv. Smolensk, f 1941 oder 1947) nach Rußland zurück. Er hat mit einiger Sicherheit als erster die konstruktivistischen Ideen von 1920 in Deutschland bekanntgemacht. Auf dem Düsseldorfer Kongreß fortschrittlicher Künstler 1922 trifft er mit Kunstrevolutionären aus ganz Europa zusammen. Er arbeitet mit Mies van der Rohe in Berlin und mit van Doesburg in Paris und zeigt an vielen Orten seine »Proun«-Ausstellungen. Bereichert um die Summe dieser Begegnungen, geht Lissitzky 1928 wieder nach Moskau, um dort gegen die bereits erwachten Widerstände eine »Rekonstruktion« in seinem Sinne durchzusetzen.
Wir führen hier einige Abschnitte eines Lebensprozesses auf, der, erst durch die Revolution zur Welt gebracht, noch keine fünf Jahre zählt. In dieser Zeit haben sich die hohen Forderungen, die die Kulturrevolution stellt, im Gefühl und im Bewußtsein unserer neuen Architektengeneration verwurzelt. Unserem Baukünstler ist klargeworden, daß er durch seine Arbeit als aktiver Mitarbeiter an dem Aufbau der neuen Welt teilnimmt. Für uns hat das Werk eines Künstlers keinen Wert »an und für sich«, keinen Selbstzweck, keine eigene Schönheit, alles dies erhält es nur durch seine Beziehung zur Gemeinschaft. In der Schöpfung eines jeden großen Werkes ist der Anteil des Architekten ersichtlich und der Anteil der Gemeinschaft latent. Der Künstler, der Schaffende, erfindet nichts, was ihm vom Himmel in den Schoß fällt. Darum verstehen wir unter »Rekonstruktion« die Überwindung des Ungeklärten, des »Geheimnisvollen« und Chaotischen. Wir sind in unserer Architektur, wie in unserem gesamten Leben, bestrebt, eine soziale Ordnung zu schaffen, d. h. 112
das Instinktive ins Bewußtsein zu heben. Der ideologische Überbau schützt und sichert die Arbeit. Als Unterbau für die Erneuerung, die wir an der Architektur vorzunehmen haben, nannten wir zu Anfang die sozialwirtschaftliche Rekonstruktion. Sie ist der eindeutige Ausgangspunkt, aber es wäre ein Fehler, die Zusammenhänge so simpel zu erklären. Das Leben, das organische Wachstum, ist ein dialektischer Prozeß, der gleichzeitig ja (plus) und nein (minus) behauptet. Alles Entstehende ist ein Teil des gesellschaftlichen Lebensprozesses, ist die Folge bestimmter Tatsachen und wirkt sich weiter auf die entstehenden Absichten aus. Auf der Basis des Entstandenen bildet sich eine Ideologie, eine Betrachtungsart, bilden sich Deutung und Beziehung, die weiter auf das Entstehende ausstrahlen. Diesen dialektischen Prozeß können wir hier an dem Werdegang unserer Architekten verfolgen. 1. Vernichtung des Überlieferten. Die materielle Produktion wird im Lande lahmgelegt. Das Lechzen nach einer Superproduktion. Erste Atelierträume.
Es bildet sich eine Ideologie mit zwei für die gesamte weitere Entwicklung grundlegenden Forderungen: Element und Erfindung. Ein Werk, das unserer Zeit entsprechen soll, muß eine Erfindung in sich schließen. Unsere Zeit verlangt Gestaltungen, die aus elementaren Formen (Geometrie) erstehen. Der Kampf mit der Ästhetik des Chaotischen nimmt seinen Verlauf. Nach einer zur Bewußtheit gewordenen Ordnung wird verlangt. 2. A n f a n g des Aufbaues. Zuerst in der Industrie und Produktion. Die konkreten Gegebenheiten beanspruchen eine Auseinandersetzung. Doch die neue Generation ist in einer architekturlosen Zeit aufgewachsen, hat ungenügende praktische Erfahrung, wenig Autorität und ist noch nicht Akademie geworden. Im Kampf um den Bauauftrag hat sich ihre Ideologie dem Primärutilitären, dem Nacktzweckmäßigen zugewendet. Das Schlagwort heißt: »Konstruktivismus«, »Funktionalismus«. Zwischen Ingenieur und Architekt wird ein Gleichungszeichen gesetzt... 3. Die erste Aufbauperiode verlangt die Konzentration der Kräfte aus der Sphäre der sozialökonomischen Revolution zur Vertiefung der Kulturrevolution. In dem Gesamtkomplex einer Kultur sind physische, psychologische und emotionelle Faktoren unzertrennbar. Die Kunst wird in ihrer Eigenschaft, durch emotionelle Energieladungen das Bewußtsein zu ordnen, zu organisieren und zu aktivieren, anerkannt. Die Architektur gilt als führende Kunst, und die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit wendet sich ihr zu. Architekturfragen werden Massenfragen. Die Atelierträume des Anfangs
verlieren ihren individuellen Charakter und erhalten ein festes soziales Fundament. Gegen die »Utilitaristen« treten wiederum die »Formalisten« auf. Die letzteren behaupten, daß die Architektur sich nicht mit dem Begriff »Ingenieurarbeit« deckt. Das Utilitärzweckmäßige zu lösen, ein für den Zweck richtig funktionierendes Volumen aufzubauen, ist nur ein Teil des Problems. Der zweite ist, die Materialien richtig zu organisieren, das Konstruktive zu lösen. Ein Architekturwerk entsteht aber nur dann, wenn das Ganze als Raumidee, als Gestaltung, die eine bestimmte Einwirkung auf unsere Psyche ausübt, lebendig wird. Es genügt dazu nicht nur, ein moderner Mensch zu sein, vielmehr ist es notwendig, daß der Baukünstler die Ausdrucksmittel der Baukunst voll beherrscht. So kann man diese drei Perioden noch knapper zusammenfassen: a) Verneinung der Kunst als nur emotionelle, individuelle romantisch - isolierte Angelegenheit. b) »Sachliches« Schaffen in der stillen Hoffnung, daß das entstandene Produkt schließlich später doch als Kunstwerk betrachtet wird. c) Bewußt zielstrebiges Schaffen einer Architektur, die auf einer vorgearbeiteten, objektiv-wissenschaftlichen Basis eine geschlossene künstlerische Wirkung ausübt. Diese Architektur wird den allgemeinen Lebensstandard aktiv erhöhen. Dies ist die Dialektik unseres Werdeganges, der durch die Verneinung zur Bejahung kommt, er hat das alte Liisen geschmolzen und den neuen Stahl ausgeglüht. 115
LUDWIG MIES VAN DER ROHE DIE NEUE ZEIT
1930
In den Schlußworten seines Referats auf der Tagung des Deutschen Werkbundes in Wien 1950 macht sich Mies van der Rohe zum entschlossenen Anwalt des »Geistigen in der Architektur«. E r sieht den Weg des industriellen Bauens, zu dem er 1924 aufgerufen hatte, verstellt mit Mißverständnissen. Aus dem R u f e r ist der Warnende geworden. In prophetischem Vorgriff sieht er voraus, daß mit dem technischen Fortschritt ein Sinnverlust des Bauens einhergehen wird. Mies van der Rohe spricht vom >wertblinden< Gang der Dinge, der zur Sinnentleerung führt und damit zu Maßstabslosigkeit und Chaos der Wertsetzimgen.
Die neue Zeit ist eine Tatsache; sie existiert ganz unabhängig davon, ob wir » j a « oder »nein« zu ihr sagen. Aber sie ist weder besser noch schlechter als irgendeine andere Zeit. Sie ist eine pure Gegebenheit und ein sich wertindifferent. Deshalb werde ich mich nicht lange bei dem Versuch aufhalten, die neue Zeit deutlich zu machen, ihre Beziehungen aufzuzeigen und die tragende Struktur bloßzulegen. Auch die Frage der Mechanisierung, der Typisierung und Normung wollen wir nicht überschätzen. Und wir wollen die veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse als eine Tatsache hinnehmen. Alle diese Dinge gehen ihren schicksalhaften und wertblinden Gang. Entscheidend wird allein sein, wie wir uns in diesen Gegebenheiten zur Geltung bringen. Hier erst beginnen die geistigen Probleme. Nicht auf das »Was«, sondern einzig und allein auf das »Wie« kommt es an. Daß wir Güter produzieren und mit welchen Mitteln wir fabrizieren, besagt geistig nichts. Ob wir hoch oder flach bauen, mit Stahl und Glas bauen, besagt nichts über den Wert dieses Bauens. Ob im Städtebau Zentralisation oder Dezentralisation angestrebt wird, ist eine praktische, aber keine Wertfrage. Aber gerade die Frage nach dem Wert ist entscheidend. Wir haben neue Werte zu setzen, letzte Zwecke aufzuzeigen, um Maßstäbe zu gewinnen. Denn Sinn und Recht jeder Zeit, also auch der neuen, Hegt einzig und allein darin, daß sie dem Geist die Voraussetzung, die Existenzmöglichkeit bietet.
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FRANK LLOYD WRIGHT JUNGE ARCHITEKTUR (Auszug)
1930
Die hier unter der Oberschrift > Junge Architektur wiedergegebenen Absätze stammen aus einer der Vorlesungen, die Wright 1930 in Princeton hält. Sie wendet sich »An den jungen Mann in der Architektur« und schließt mit 14 Ratschlägen für angehende Baumeister: Vergessen Sie die Architekturen der Welt — hüten Sie sich vor der Architekturschule — gehen Sie auf die Bauplätze — gewöhnen Sie sich daran, zu fragen und zu analysieren — denken Sie in einfachen Dingen — meiden Sie die amerikanische Idee vom >raschen Umsatz< wie Gift — nehmen Sie sich Zeit und gehen Sie möglichst weit von zu Hause weg — nehmen Sie unter keinen Umständen an einem Architekturwettbewerb teil, — das sind einige Sätze dieser Wegweisung.
. . . Jawohl, moderne Architektur ist junge Architektur — die Freude der Jugend muß sie hervorbringen. Die Liebe der Jugend, der ewigen Jugend, muß sie entwickeln und bewahren. Sie müssen diese Architektur als klug erkennen, aber nicht so sehr klug als vielmehr vernünftig und sehnsuchtsvoll — weniger wissenschaftlich als fühlend, nicht so sehr einem Flugzeug ähnelnd als einem Meisterwerk der Phantasie. О ja, junger Mann, beachten Sie durchaus, daß ein Haus eine Maschine zum Darinleben ist — doch im gleichen Sinn ist ein Herz eine Saugpumpe. Der fühlende Mensch beginnt dort, wo diese Vorstellung vom Herzen aufhört.
Maschine aus auch das Leben. Warum wollen Sie nicht, vom Leben ausgehend, über die Maschinen nachdenken? Das Utensil, die Waffe, der Automat — sie alle sind Angewandtes. Das Lied, das Meisterwerk, das Gebäude sind ein warmer Erguß aus dem Herzen eines Menschen — menschliches Entzücken im Leben triumphierend: wir erhäschen einen Blick ins Unendliche.
Beachten Sie wohl, daß ein Haus eine Maschine ist, in der man lebt, aber die Architektur beginnt, wo diese Vorstellung vom Haus aufhört. Alles Leben ist in rudimentärem Sinn Maschinerie, und trotzdem ist Maschinerie das Leben von gar nichts. Maschinen sind nur wegen des Lebens Maschinen. Es ist besser für Sie, vom Allgemeinen zum Besonderen voranzuschreiten. Deshalb rationalisieren Sie nicht von der
Der Mangel an Urteilsfähigkeit, zwischen dem Angewandten — dem Aufgetragenen — und dem Leben zu unterscheiden, trägt die Schuld an den erlesensten pseudoklassizistischen Greueln in Amerika. Und dennoch sind unsere erfolgreicheren »modernen« Architekten noch immer eifrig damit beschäftigt, in den großen amerikanischen Städten Hüllen aus Ziegeln oder Stein auf Stahlrahmen aufzutra-
Dieser Blick, die Vision, ist es, der die Kunst zu einer Angelegenheit des inneren Erlebens macht — deshalb ist sie heilig und in unserem Zeitalter nicht weniger, sondern mehr eine individuelle Sache als je z u v o r . . .
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gen. Wird, statt daß wir diesen Fehler von Grund auf korrigieren, nun irgendeine oberflächliche, als neu maskierte Ästhetik den gleichen Mangel an Urteilsfähigkeit im Hinblick auf die Prinzipien der Architektur in die Lage versetzen, uns abermals zu strafen, diesmal mit einer abstrakten Maschinerie, die — wiederum für eine Generation — als Auftragung auf das Aufgetragene benutzt wird? Wenn es so wäre . . . , müßte die organische Architektur in einer kleinen Welt für sich fortexistieren. In dieser, ihrer eigenen Welt hat sowohl die harte Linie als auch die kahle senkrechte Fläche mit den phantasielosen Konturen der Schachtel einen Platz — genau wie der Teppich einen Platz auf dem Boden hat —, aber das Credo der nackten Stelze als Stelze hat keinen Platz. Die horizontale Fläche, die alles an die Erde klammert, tritt in der organischen Architektur hinzu, um den Sinn der Formen zu erfüllen, die nicht Inhalte »einkästeln«, sondern den Raum phantasievoll ausdrücken. Das ist modern. In der organischen Architektur löst sich die harte gerade Linie zur punktierten Linie auf, wo die unbedingte Notwendigkeit aufhört und damit das Eintreten eines anderen Rhythmus es erlaubt, um auch der Andeutung die ihr zukommenden Werte zu geben. Das ist modern. In der organischen Architektur beginnt jede Konzeption eines Gebäudes als Gebäude am Anfang und schreitet zum nebensächlichen Ausdruck als Bild vorwärts; sie beginnt nicht mit irgendeinem nebensächlichen Ausdruck als Bild und tastet dann rückwärts. Das ist modern. 116
Da das Auge der wiederholten kahlen Gemeinplätze müde ist, wo das Licht von blanken Oberflächen zurückgeworfen wird oder düster in eingeschnittene Löcher fällt, bringt die organische Architektur den Menschen wieder mit dem Spiel von Schatten und der Tiefe der Schatten der Natur von Angesicht zu Angesicht gegenüber; sie sieht frische Perspektiven des dem Menschen angeborenen schöpferischen Denkens und des ihm innewohnenden Fühlens, die sich seiner Phantasie zum Nachsinnen darbieten. Das ist modern. Das Gefühl für den inneren Raum als Realität in der organischen Architektur wird mit den weiteren Möglichkeiten der modernen Baustoffe koordiniert. Das Gebäude wird jetzt in diesem Gefühl für den inneren Raum gefunden; die Umhüllung wird nicht mehr nur in Dach und Wänden gesucht, sondern als »abgeschirmter« — Raum. Diese Realität ist modern. In der wahrhaft modernen Architektur verschwindet deshalb das Gefühl von Oberfläche und Masse in Licht oder in Werkstoffen, die Licht mit Stärke verbinden. Und solche Werkstoffe sind nicht weniger Ausdruck des Prinzips wie die »auf den Zweck gerichtete Kraft«, wie man sie an jedem modernen Gerät oder jeder modernen Werkzeugmaschine sehen kann. Doch die moderne Architektur bejaht die höhere menschliche Empfänglichkeit für den sonnenerhellten Raum. Organische Gebäude sind von der Stärke und Leichtigkeit der Spinnenweben, Gebäude, von Licht bestimmt, durch den ihnen innewohnenden Charakter für die Umgebung geschaffen — mit dem Boden vermählt. Das ist modern!
HUGO HÄRING DAS HAUS ALS ORGANHAFTES GEBILDE (Auszug)
1932
Hugo Häring nimmt 1928 als Vertreter der Berliner Architekten-Vereinigung »Der Ring«, deren Sekretär er ist, an der Gründung der CIAM auf Schloß Sarraz teil. Es erweist sich dort, daß die Initiatoren der Kongresse, Le Corbusier und Siegfried Giedion, den von Häring vorgetragenen Begriff »neues bauen« nicht akzeptieren können. Es gibt kein sinngemäßes französisches Wort für Bauen. Für Häring aber sind Architektur und Bauen durchaus wesensverschieden. Bauen bedeutet für ihn: die Wesenheit einer Aufgabe Gestalt werden zu lassen. Die Form ist in diesem Sinn Ergebnis, nicht aber Ausgangspunkt. Es gilt, das Haus als Organ zu sehen, das erst durch das Gestaltwerk des Hauses Wesenheit gewinnt.
Es erscheint vielen noch unvorstellbar, auch ein Haus ganz als ein »organhaftes Gebilde« zu entwickeln, es aus der »Form der Leistungs-Erfüllung« heraus zu züchten, das Haus als die »weitere Haut des Menschen« und also als Organ zu sehen. Und doch scheint diese Entwicklung unabwendbar zu sein. Eine neue Technik, die mit leichten Konstruktionen, elastischen und schmiegsamen Baustoffen arbeitet, wird das Haus nicht mehr rechteckig und kubisch fordern, sondern alle Gestaltungen zulassen oder verwirklichen, die das Haus als »Organ des Hausens« ausbildet. Es ist die allmähliche Strukturverschiebung vom Geometrischen zum Organhaften, die sich in unserem ganzen Geistesleben vollzieht und zum Teil schon vollzogen hat, die die Form der Leistungserfüllung mobil gemacht hat gegen die Geometrie. Das Bedürfnis, Form zu schaffen, verleitet den Künstler immer wieder zu Stilversuchen, verleitet ihn immer wieder dazu, im Interesse eines Ausdrucks Formen über die Objekte auszubreiten — während die Form der Leistungserfüllung dazu führt, daß jedes Ding seine
eigene wesenhafte Gestalt erhalte und behalte. Der Künstler steht in innerstem Widerspruch zur Form der Leistungserfüllung, solange er seine Individualität nicht aufgibt; denn es handelt sich bei der Arbeit an der Form der Leistungserfüllung nicht um die Verwirklichung der Individualität des Künstlers, sondern um die Verwirklichung der Wesenheit eines möglichst vollkommenen gebrauchstechnischen Gegenstandes. Alle »einzelnen« — und je stärker sie als Persönlichkeit sind, und manchmal auch je lauter, um so mehr — stehen der Entwicklung hindernd im Wege, und die Fortschritte entstehen in der Tat gegen sie. Aber die Fortschritte entstehen auch nicht ohne sie, ohne die einzelnen, die Künstler und starken Persönlichkeiten. — Zwischen Architekt und Ingenieur bleibt immer noch ein wesenhafter Unterschied. Die Ingenieurarbeit hat lediglich das Ziel materieller Leistungserfüllung in den Grenzen oder im Bereich ökonomischer Effekte. Daß das Ergebnis auch häufig noch andere Ausdruckswerte enthält, ist eine Nebenwirkung, eine Nebenerscheinung 117
seiner Arbeit. — Der Architekt hingegen schafft eine »Gestalt«, ein Werk von geistiger Lebendigkeit und Erfülltheit, ein Objekt, das einer Idee, einer höheren Kultur angehört und dient. Diese Arbeit beginnt da, wo der Ingenieur, der Techniker aufhört, sie
beginnt mit der Verlebendigung des Werkes. Diese Verlebendigung ist nicht dadurch zu erreichen, daß man den Gegenstand, das Bauwerk, unter einem ihm fremden Gesichtspunkt umformt, sondern dadurch, daß m a n die in ihm selbst verschlossene wesentliche Gestalt erweckt, pflegt und züchtet.
Hugo Häriiig, 1925 118
RICHARD BUCKMINSTER FULLER UNIVERSAL-ARCHITEKTUR
1932
Richard Buckminster Fuller (* 1895 in Milton, Massachusetts) entwikkelt 1927 sein >Dymaxion HouseDymaxion Auto< — macht den Außenseiter auch in Europa bekannt. Seine theoretischen Schriften aus dieser Zeit sind nur wenigen verständlich. Mit den > Structural Study Associates< (SSA), deren Mitglieder anonym bleiben, entwickelt Fuller die Idee einer Universal-Architektur. Sie gründet auf einer eigenwilligen Interpretation des Lebens: Ideales kann bildhaft vervielfältigt werden.
D I E S T R U C T U R A L S T U D Y A S S O C I A T E S ( S S A ) : EINE P L U S - U N I O N
Offizielle oder halboffizielle A u s w e r t u n g s - und Schutzgemeinschaften auf den G e bieten der Architektur, des Grundbesitzes, des Handels usw. verkörpern m i t i h r e r professionellen opportunistischen V e r w a l t u n g u n d ihrer kraftlosen Imitation des Arbeitgebers oder Vize-Schiebers nicht die überragenden Ideale oder den fortschrittlichen Standard der von i h n e n organisierten G r u p p e n , sondern v i e l m e h r die n e g a t i v e n Restbestände an Furcht, M i ß t r a u e n , Neid, Habsucht, Faulheit u n d M a n g e l an Selbstvertrauen. Sie halten i h r Prestige u n d ihre Stellung, solange sie irgend können. Sie bestärken erstens ihre Mitglieder i n der F u r c h t vor den Notlagen, die durch die ständig sich steigernde industrielle B e d r o h u n g der statischen W i r t s c h a f t s f ü h r u n g h e r v o r g e r u f e n w e r d e n , u n d setzen zweitens der vorwärtsd r ä n g e n d e n Produktivität ständig einen ästhetischen oder ethischen Widerstand e n t g e g e n . D e r a r t i g e G e m e i n s c h a f t e n bildeten ein Haupthindernis f ü r die Universal-Architektur — u n d auf der anderen Seite das hohe Potential der g e g e n w ä r t i g e n wirtschaftlichen A n s p a n n u n g . Es ist e r w ä h n e n s w e r t , daß die SSA eine G r u p p e ist, die auf G r u n d ihrer positiven u n d fortschrittlichen Ziele automatisch z u s a m m e n h ä l t ; in V e r b i n d u n g m i t der A r b e i t w e r d e n keine N a m e n g e n a n n t , da die Mitglieder n u r durch N u m m e r n gekennzeichnet sind — anders, als es bei G e m e i n s c h a f t e n üblich ist, die m i t f r ü h e r e n Mitgliedslisten prahlen. U n e i g e n n ü t z i g u n d ganz i n i h r e m W e r k a u f g e h e n d , befassen sie sich — etwa in der A r t der Ronstruktionsabteilung v o n Ford — nicht n u r m i t der e n d g ü l t i g e n u n d m e n g e n m ä ß i g z u reproduzierenden Konstruktion, sondern auch m i t allen d a m i t z u s a m m e n h ä n g e n d e n Z w e i g e n der Industrie — von A n b e g i n n bis zur A u f s t e l l u n g a m O r t ; i m Z u s a m m e n h a n g d a m i t w e r d e n später — auch w ä h rend der Zeit des Kundendienstes u n d der Ersatz- oder A u s t a u s c h l i e f e r u n g e n — sogar Forschungs- u n d Planungsarbeiten auf d e m a n g r e n z e n d e n G e b i e t der soziologischen E n t w i c k l u n g und ihres Potentials f ü r w e i t e r e n Fortschritt notwendig. D i e G r u p p e , die eine ganz separate G e m e i n s c h a f t bildet u n d allein durch » g u t e n G l a u b e n « und die Einhelligkeit der Absicht z u s a m m e n g e h a l t e n wird, fördert 119
lediglich einen Ideenaustausch, kann aber weder kaufen noch verkaufen. (Der Verfasser hat seine 62 patentierten Ideen der Treuhandverwaltung der SSA Übermacht.) Alle von der Gruppe entwickelten Ideen werden geschützt, u m einem Industriemonopol vorzubeugen — nicht aber zum Zweck eigennütziger Vorteile oder einer Beeinflussung des Fortschritts.
S S A D E F I N I T I O N E N — V O R A U S S E T Z U N G E N UND E R G Ä N Z U N G E N
I. W I S S E N S C H A F T Die Erklärung, die Eddington f ü r das Wort »Wissenschaft« gibt und die generell von den Wissenschaftlern der Pasadena-Gruppe anerkannt wird, ist außerordentlich einfach, nämlich: »Wissenschaft ist der Versuch (Kontinuitäts- oder Zeit-Wort), die Erfahrungstatsache in eine Ordnung zu bringen.« W i r fügen hinzu: Wissenschaft ist die Resultante intellektueller Tätigkeit; wesentliche Faktoren: »Auswahl« einzelner Phänomene, Zeitkontrolle und — einziges Hilfsmittel f ü r die Fortdauer der menschlichen Phänomene — Intellekt; einziger W e g zur UniversalArchitektur, die den äußersten Ausdruck des Willens der Menschheit zum Fortbestehen darstellt. Universal-Architektur: wissenschaftliches Gegenmittel gegen den Krieg. STRUKTUR - W I S S E N S C H A F T L I C H E G L I E D E R U N G Die allgemeinen Voraussetzungen f ü r die Struktur berücksichtigen — auf wissenschaftlicher Grundlage — die Fortdauer und die Entwicklung der menschlichen Erscheinungswelt in nachstehender Reihenfolge: 1. B E K Ä M P F U N G VON AUSSEN WIRKENDER ZERSTÖRUNGSKRÄFTE durch Kontrolle des R a u m e s : Erdbeben Überschwemmung Sturm Tornado Pestilenz Mordbrenner Feuer Gas Selbstsucht (Politik, Handel, Materialismus) 120
2. BEKÄMPFUNG VON INNEN WIRKENDER ZERSTÖRUNGSKRÄFTE Angestrebt wird (durch Kontrolle des Raumes): a) Schutz des Nervensystems 1 ) der Sehnerven 2) der Geschmacksnerven 3) der Tastnerven 4) der Geruchsnerven b) Schutz gegen Ermüdungserscheinungen (Robot, Sklavenarbeit) c) Schutz vor Verdrängung (Hemmungen, durch Unfälle verursachte Furcht vor der Unzulänglichkeit von Maschinen, willkürliche zellulare Begrenzung der Tätigkeit) (negative Teilung) 3. MASSNAHMEN ZUR UNABHÄNGIGEN AUSFÜHRUNG U N V E R M E I D L I C H E R M E C H A N I S C H E R ROUTINETÄTIGKEIT a) Ernähren (essen), Stoffwechsel b) Schlafen (Erholung der Muskeln, Nerven und Zellen) c) Reinigen (innerlich: intestinal usw.; äußerlich: durch Baden oder Reinigen der Poren; geistig: Ausschaltung durch auf E r f a h r u n g gegründete Übungen; Kreislauf: durch Kontrolle der Atmosphäre) 4. DIE ENTWICKLUNG DER FORTSCHRITTSPHÄNOMENE macht mechanische Maßnahmen auf folgenden Gebieten erforderlich: a) Selektive Kenntnisnahme universeller Fortschritte 1 ) Geschichte — Nachrichten — Voraussagen (Bibliothek — Radio — Television usw.) 2) Angebot und Nachfrage 3) Dynamik b) Angemessene Mittel zur Verdeutlichung (in ungebundener Form oder harmonisch) Konversation, d.h. Kommunikation, direkt oder indirekt, mündlich, visuell oder textural (dies schließt die Notwendigkeit des Transports ein und bezieht sich ausnahmslos auf alle Mittel, die zur Kristallisierung des universellen Fortschritts dienen)
II. KUNST K U N S T = reine Resultante der flüchtigen (festgesetzte Zeit) Artikulationsfähigkeit des kosmischen Ichgefühls. i. Zeit Die wissenschaftliche Vorstellung kennt nur eine Dimension, d. h. D I E D I M E N S I O N D E R Z E I T , die die » E n t f e r n u n g « vom Mittelpunkt angibt. Diese Dimension 121
kann geometrisch von jedem der unendlich vielen Radien eines Kreises angegeben werden. (Hieraus folgt die Übereinstimmung der »Unendlichkeit der Einheit« m i t der »Unendlichkeit der Vielheit«.) Potenziert m a n — beliebig — eine abstrakte Zahl oder zieht m a n die W u r z e l aus ihr, so kann dies n u n anschaulich gemacht werden durch Vergrößerung oder Verkleinerung des Sphäroidalvolumens bzw. durch entsprechende Radienverlängerung oder -Verkürzung; es gibt eine unendliche Anzahl von Senkrechten auf die Oberfläche der Kugel, die den Radien gleich sind, wodurch Euklids System ergänzt wird, und zwar mittels Dimensionen, die in Euklids hypothetischem kubistischem Weltall nicht m e h r darstellbar sind, die aber sphäroidal an Hand einfacher Mathematik dargestellt werden können. Hieraus folgt: Grundlegend f ü r den Entwurf = Zeitkontrolle. Grundlegend f ü r die Universalrede sollte die Zeit-Sprache oder die Kontinuitäts-Sprache sein (Wörter wie » f u n d a m e n t a l « sollten vermieden werden). 2.
Raum
Das Universalproblem der Architektur ist die Umfassung des R a u m s (der R a u m kann mathematisch auf dem W e g über die Abstraktion der Angularität in Zeit umgewandelt werden). Das Problem besteht dann also i n der Kontrolle des u m faßten R a u m s ; folglich m u ß eine genaue Kontrolle des u m f a ß t e n R a u m s erreicht werden, durch die gewährleistet wird, daß jede W a h r n e h m u n g variabler ergänzender Harmonie durch alle Sinnesorgane innerhalb des u m f a ß t e n R a u m e s berücksichtigt wird. ^.
Harmonie
W i r können die Struktur allein durch ihre harmonische D a u e r w i r k u n g (Dur oder Moll, Gefallen oder M i ß f a l l e n ) auf vier unserer Sinne w a h r n e h m e n . So sollte also jede Struktureinheit auf ihren neutralen Aspekt in bezug auf diese vier Sinne überprüft w e r d e n ; sodann sollte automatisch die Fähigkeit in Erscheinung treten, auf dem Vorhandenen eine unendliche Anzahl veränderlicher, selektiver, durch die Sinne begrenzter harmonischer Folgen aufzubauen, vereinbar mit dem das Selbst auflösenden Streben der Harmonie, das von der direkten Grenze der Persönlichkeit in die abstrakte Unendlichkeit geht. III. INDUSTRIE Unter » I d e a l « verstehen wir die zuletzt empfundene Verfeinerung hin zur Vervollkommnung i m Verlauf irgendeiner Zeitstrecke — unter »Standard« verstehen wir das Gruppenideal. Der »Standard« liegt innerhalb des weitesten Kreises unserer Erkenntnisse, der die äußerste Bewußtheitsgrenze aller unserer ausstrahlenden Erfahrungs-Zeitstrecken bildet. Unter »Industrie« verstehen wir das Phänomen wissenschaftlicher MenschenArbeit-Koordinierung dreier oder mehrerer Personen, die, bei festgelegter Tätigkeit von zwei oder m e h r Personen, durch die dritte Person ermöglicht wird, von der die zwei oder mehr die aufgeteilte Arbeit ausführenden Personen überzeugt о ö 122
sind, dafl sie, diese dritte Person, die A r b e i t g e r e c h t v e r t e i l t h a t u n d sie so l e i t e n w i r d , d a ß i n n e r h a l b v e r n ü n f t i g e r Z e i t g r e n z e n eine a l l g e m e i n v o r t e i l h a f t e S y n t h e s e e r r e i c h t w i r d , die v o n k e i n e r P e r s o n b z w . v o n k e i n e r P e r s o n e n g r u p p e allein j e m a l s innerhalb unbegrenzt zur V e r f ü g u n g stehender Zeit erreicht w e r d e n kann. D i e I n d u s t r i e k a n n sich n u r m i t d e r R e p r o d u k t i o n solcher K o n s t r u k t i o n e n befassen, die d e m »Standard« angepaßt und in einer ihrer » Z e i t g e m ä ß h e i t « proportionalen M e n g e r e p r o d u z i e r b a r sind. I m V e r h ä l t n i s z u dieser Z u f r i e d e n s t e l l u n g d e r I n dustrie v e r b e s s e r t ( u n d v e r f e i n e r t ) sich d e r » S t a n d a r d « ; o h n e diese B e f r i e d i g u n g k a n n sich d e r S t a n d a r d n i c h t verbessern. So basiert also die m e n s c h l i c h e V e r a n t w o r t u n g f ü r die E n t w i c k l u n g der r e p r o d u k t i v e n K o n s t r u k t i o n auf u n s e r e r philosophischen I n t e r p r e t a t i o n des L E B E N S : D a s , was w i r k l i c h ideal ist, k a n n b i l d h a f t v e r v i e l f ä l t i g t w e r d e n — sei es ein K i n d , eine Rose oder ein F a h r r a d . Wissenschaft
-(- Kunst
+ Industrie
=
Universal-Architektur
KERNPHILOSOPHIE DER UNIVERSAL-ARCHITEKTUR D a s Ideal d e r m o d e r n e n A r c h i t e k t u r ist eine a r t i k u l i e r t e m e c h a n i s c h e A n p a s s u n g , die n i c h t n u r d e n M e n s c h e n aus d e r S k l a v e r e i u n v e r m e i d l i c h e r L e b e n s f u n k t i o n e n b e f r e i t , sondern d a r ü b e r h i n a u s w a c h s e n d e m a t e r i e l l e U n a b h ä n g i g k e i t d e r K o n trolle u n d a n g e m e s s e n e M i t t e l der a l l g e m e i n e n K o m m u n i k a t i o n anstrebt u n d somit a u c h eine B e f r e i u n g der r e s t l i c h e n » g e i s t i g e n « oder » z e i t l i c h e n « B e w u ß t h e i t f ü r die e w i g e n ex-statischen, h a r m o n i s c h e n P h ä n o m e n e . D a s h e i ß t : a u f d e m W e g ü b e r die z u r Z e i t i m K e i m g e p l a n t e U n i v e r s a l - A r c h i t e k t u r ( R a u m - Z e i t - E n t w i c k l u n g - S y n t h e s e , m e h r u n d m e h r ü b e r e i n s t i m m e n d m i t e i n e m u m f a s s e n d e n wissens c h a f t l i c h f e s t g e l e g t e n u n d h a r m o n i s c h g e s t ü t z t e n L e b e n s b e g r i f f u n d i h n erg ä n z e n d ) w i r d eine m ö g l i c h e E l i m i n i e r u n g d e r » Z e i t « - B e g r i f f e a n g e s t r e b t ( » V e r g a n g e n h e i t « u n d » Z u k u n f t « , die a u f d e r a u t o s u g g e s t i v e n V e r z ö g e r u n g s - I d e e d e r » V e r s c h a n z u n g des selbstischen Ichs« basieren), die das I c h b l i n d m a c h e n f ü r die u n e n d l i c h e S e l i g k e i t des e w i g e n »Jetzt«, die e r k e n n b a r ist n u r d u r c h das w e l t bezogene intellektuelle Fenster der Einheit. V E R B A L D A R S T E L L U N G D E R PHILOSOPHIE D E R KOSMISCHEN D R E I H E I T D E R S T A B I L I T Ä T —
( k e i n e ausschließliche B e d i n g u n g ) (im Sinn von Richtung, nicht von Gleichgewicht). ι. I N D U S T R I E = ewige Lebenskraft = D y n a m i k = Zeit relative Beweglichkeit innerhalb b e w u ß t e r G r e n z e n der kosmischen Sphäre zwischen den relativ kürzesten und längsten geistigen Tätigkeitsradien. 2. W I S S E N S C H A F T = R a d i a l r i c h t u n g d e r L e b e n s a u f n a h m e - P h i l o s o p h i e = Funktionalismus, grundlegende Extraktion, Verfeinerung zwecks selektiver Vereinfachung der Unendlichkeit der Einheit. Zergliederung Einzigartigkeit — männlich — Verdichtung — Druck — innerlich — Intellekt — Abstraktion — Ewigkeit — u n t e r b e w u ß t . 123
3- KUNST = Radialrichtung der Lebensabgabe — Wissen = Harmonie — Zeitsynchronisierung — Verfeinerung zwecks selektiver Vervielfältigung der Unendlichkeit der Vollständigkeit. Synthese Vielheit — weiblich — Spannung — Vakuum — äußerlich — Gefühl — Verbindung — Zeit — bewußt. PHILOSOPHIE DER ENTWICKLUNG (Übereinstimmung des Entwurfs mit der wissenschaftlichen Kosmologie ausstrahlender wachsender Sphären — Entropie — stärkere kosmische Strahlung — Lebenszellenfortdauer). Die Gesamtkomposition sollte unabhängig sein vom relativen Erfolg irgendeiner einzelnen Größe; und nachdrücklich soll bemerkt werden, daß alle Einzelgrößen unabhängig (bewegungsfrei) nach der Gesamtstruktur ausgerichtet werden und daher nach und nach gegen immer bessere Einzelelemente auswechselbar sein müssen, so daß eine Entwicklung zu einer intellektuell (selektiv) veredelten Gesamtheit hin ermöglicht wird, und zwar innerhalb einer Zeitspanne, die äußerst gering ist im Vergleich zu der Trägheit, mit der die »natürliche« Ausmerzung destruktiver Statizismen erfolgt und die die Ursache revolutionärer und ikonoklastischer Verdrängung »ganzer veralteter Kompositionen« ist, sobald die statische Ideologie auf Grund einer Überzahl entkräfteter Zellen untauglich geworden ist. Bei der relativ radianten Kontrolle unseres Seins dürfen wir zweifellos richtunggebend (d.h. radial, aber nicht zeitspezifisch) sein. Daher sollten wir unser »Ideal« festlegen und danach streben. Ungeachtet unseres Konzepts eines empirisch ermittelten materiellen »Ziels« — auf Grund der wissenschaftlichen Forderung nach positiver Entwicklung (Entropie, d.h. Gesetz der Erweiterung des Zufalls, Zunahme der kosmischen Strahlung usw.) — ist das eigentliche Ziel zur Zeit der Ausführung so »klein«, daß der stärkste Impuls uneigennützigen Strebens nichts ist im Vergleich zu unvorhergesehenen, unerwarteten, unbewußten Eroberungen, die auf dem Weg zu unserem Fata-Morgana-ähnlichen, historisch aufgebauten Ideal gemacht werden, wenn es uneingeschränkt angestrebt wird. TYPISCHE KONSTRUKTIÖNS-TERMINOLOGIE DER GRUNDLEGENDEN PHILOSOPHIE DER UNIVERS AL-ARCHITEKTUR Angularmodul der Vereinheitlichung. Metrisches Maß für Radial- oder Zeitdistanzen. Biegsame Gelenke für Kraftaustausch. Einheitlichkeit des Gesellschaftskontaktes = »Anschluß«. Aufspaltung der Funktion, spezifische Lösung in Form von Dynamik, mit schließlicher materieller Auslese auf der Basis spezifischer Wirtschaftlichkeit, d.h. Mittelwert der Lebensdauer, Transportfähigkeit, Verfügbarkeit, Brauchbarkeit ι 24
Zentralisation d e r g e i s t i g e n T ä t i g k e i t — D e z e n t r a l i s a t i o n der physischen T ä t i g k e i t ( i n d i v i d u e l l oder g e m e i n s c h a f t l i c h oder industriell). E m p o r u n d h e r a u s ( w i e eine F o n t ä n e = Z e r f l i e ß b a r k e i t ) . Maximale Leichtigkeit — entsprechende Wirtschaftlichkeit. D i e K r ä f t e sollen g e n u t z t u n d n i c h t b e k ä m p f t w e r d e n . M a t e r i e l l e S t r u k t u r i m w e s e n t l i c h e n f u n k t i o n a l — H a r m o n i e n b e w e g l i c h u n d abstrakt v o n N u l l bis z u s e l e k t i v e n G e f ü h l s g r e n z e n . Fortschritt d u r c h S c h ö p f u n g — d u r c h E r w e i t e r u n g des V o l u m e n s . Vollständige U n a b h ä n g i g k e i t v o n L e b e n s f o r t d a u e r u n d N a h r u n g . G e m e i n s c h a f t e n nach Wahl, ohne Zwang. Keine Geheimnisse. Spezifische L e b e n s d a u e r , da B i e g s a m k e i t u n d T r a g f ä h i g k e i t i n S p a n n u n g e n f l i e ß e n E i n e r f ü r alle u n d alle f ü r e i n e n . Spezifische L e b e n s d a u e r ü b e r e i n s t i m m e n d m i t ö k o n o m i s c h e r A n g e m e s s e n h e i t u n d industrieller Kontinuität, und zwar i m Hinblick auf jede einzelne G r ö ß e der Komposition. R e l a t i v u n m i t t e l b a r e V e r f ü g b a r k e i t i n Z e i t oder R a u m — V e r ä n d e r l i c h k e i t u n d B e w e g l i c h k e i t . G a n z e K o m p o s i t i o n oder E i n z e l g r ö ß e . A l l g e m e i n e d y n a m i s c h e E r k e n n t n i s , d a ß alle E l e m e n t e ein festes, ein flüssiges u n d e i n g a s f ö r m i g e s S t a d i u m d u r c h l a u f e n , u n d z w a r m i t a u t o m a t i s c h e r sphäroi d a l e r V o l u m e n v e r g r ö ß e r u n g , plus M ö g l i c h k e i t d e r V e r t e i l u n g d e r S t o ß b e l a s t u n g ; d e m n a c h sollten w i r AUFLÖSEN 1) s t r u k t u r a u s g e g l i c h e n e
Spannungsfunktionen durch E l e m e n t e in festem
Ge-
webezustand, 2) s t r u k t u r a u s g e g l i c h e n e D r u c k f u n k t i o n e n d u r c h E l e m e n t e i n sphäroidal-flüssig e m Zustand, 3) e x z e n t r i s c h e B e l a s t u n g e n i n n e r h a l b d e r S t r u k t u r u s w . d u r c h F r e i m a c h e n fester belastungsgeladener S p a n n u n g s e l e m e n t e ; hierdurch erhält m a n belastungsg e l a d e n e flüssige D r u c k e l e m e n t e u n d sodann s c h l i e ß l i c h s t o ß d ä m p f e n d e E l e m e n t e , u n d z w a r b e f i n d e n sich diese E l e m e n t e i n i h r e m elastischen gasförm i g e n Z u s t a n d ( B e i s p i e l : biologische Z e l l e — oder ein F u ß b a l l , der 90 % Wasser und 1 0 % L u f t enthält). U n i v e r s a l - A r c h i t e k t u r : Stadtplan = Kosmos = W e l t . T r o c k e n e s L a n d a u f der E r d o b e r f l ä c h e — o h n e B e r ü c k s i c h t i g u n g v o n N a t i o n a l i t ä t e n — = 5 4 A c r e s je P e r s o n i m Jahr 2000. ( I n E n g l a n d u n d R . I . jetzt d u r c h schnittlich 4 P e r s o n e n pro A c r e . ) S e c h s u n d z w a n z i g P r o z e n t d e r E r d o b e r f l ä c h e sind trockenes L a n d , d a v o n b e w o h n b a r 5 0 % . G a n z e m e n s c h l i c h e F a m i l i e , 2 M i l l i a r d e n i m Jahr 2000, k a n n sich a u f d e r B e r m u d a - I n s e l a u f h a l t e n . R e i c h l i c h P l a t z . Stadtp l a n basiert a u f d e n h a u p t s ä c h l i c h e n L u f t w e g e n , u n t e r B e n u t z u n g g ü n s t i g e r Winde und großer Kreisbahnen. 125
LEBENSFORTDAUER VIA
UNIVERSAL-ARCHITEKTUR
U n t e r B e z u g n a h m e auf die weiter oben über die Universal-Architektur g e m a c h t e n A u s f ü h r u n g e n u n d u n t e r A b l e h n u n g der traditionellen dogmatischen R e g e l n der A r c h i - T e k t u r — v o n der Steinzeit bis zur Internationalen (incl.) — halte ich die folgenden Zeitungsartikel — in Chicago auf der ersten Seite, i n N e w Y o r k C i t y auf der Rückseite abgedruckt (industrielles G e o g r a p h i e - P h ä n o m e n ) — f ü r außerordentlich bedeutungsvoll u n d geeignet, i m A n s c h l u ß an diesen Aufsatz bekanntg e g e b e n zu w e r d e n . W e n n m a n sie ergänzt durch Hinweis auf die Tatsache, daß sich auf d e m G e b i e t der Biologie zeigt, daß — m i t i n n e r e n und ä u ß e r e n Hilfsmitteln — die Zellengruppe der B a u m s t r u k t u r m i t i h r e r geometrisch fortschreitenden V o l u m e n v e r g r ö ß e r u n g und i h r e m beständigen A n g u l a r - Z e l l e n - W a c h s t u m Unendlichkeit erlangen k a n n ; durch H i n w e i s auf die Tatsache, daß die menschliche Zelle m i t der des Baumes identisch ist u n d daß sie — m i t U n t e r s t ü t z u n g der Wissenschaft — eine lebensfähigere mechanische Struktur h a t ; durch H i n w e i s auf das kürzlich g e w o n n e n e Wissen u m die D r ü s e n p h ä n o m e n e , aus denen hervorgeht, daß durch Z e l l e n g r u p p i e r u n g die menschliche S t r u k t u r u n d der menschliche M e c h a n i s m u s so aufgefrischt w e r d e n können, daß sie unendliche L e b e n s d a u e r erhalten (und z w a r m i t H i l f e der Kolloidal-Chemie = katalytische V o r b e u g u n g s m a ß n a h m e n g e g e n Drüsenzellenparalyse durch Gerinnen), dann m ö g e n die Schlußabsätze nicht übertrieben erscheinen. New York Times, 24. Januar 1932 (Auszug) D r . R o b e r t A. M i l l i k a n f ü h r t e gestern abend ausschlaggebende Beweise an f ü r seine Theorie, daß kosmische Strahlen das Zeichen f ü r ständige W i e d e r g e b u r t und nicht f ü r die Zerstörung der M a t e r i e sind. E i n h u n d e r t Wissenschaftler — darunter D r . A l b e r t Einstein —, die d e m Vortrag i m California Institute of T e c h n o l o g y folgten, w a r e n e i n s t i m m i g der Ansicht, daß D r . M i l l i k a n endlich die T h e o r i e von Sir James Jeans, daß die geheimnisvollen Strahlen ein »Todesstöhnen» und nicht ein »Geburtsschrei« seien, w i d e r l e g t hat. Chicago Sunday (Auszug)
Tribune,
5. Januar 1932
WISSENSCHAFT FINDET KOSMISCHEN SCHLÜSSEL Z U M E N S C H L I C H E M S C H I C K S A L , erklärt D r . C o m p t o n W e n n w i r an e i n e m e x a k t e n Verhältnis zwischen Ursache u n d W i r k u n g festhalten wollen, dann müssen w i r uns eine W e l t vorstellen, die zwar in B e z i e h u n g steht zur physischen W e l t , über die w i r aber nicht durch E x p e r i m e n t e A u f s c h l u ß erhalten, sondern in der die Ereignisse bestimmt w e r d e n können. In einer solchen nicht126
physischen Welt ist es möglich, daß Motive und Gedanken eine ausschlaggebende Rolle spielen, während in der physischen Welt, in der solche Kräfte unbemerkt bleiben, die Ereignisse den Gesetzen des Zufalls zu gehorchen scheinen. Die moderne Physik hat keine Lösung f ü r die alte Frage, in welcher Weise der Geist auf die Materie einwirkt; sie läßt jedoch ausdrücklich die Möglichkeit einer solchen Einwirkung zu und deutet an, wo diese Einwirkung erfolgen könnte. New York Times, 2. Februar 1 9 3 2 Dr. Michael Pupin, der vor einigen Tagen die John-Fritz-Gold-Medaille, die höchste Auszeichnung, die von der Ingenieurgenossenschaft in den USA verliehen wird, erhielt, sagte gestern voraus, daß unsere ständig zunehmende elektrische Energie eine vollständige Umwandlung der Zivilisation zur Folge haben werde. Dr. Pupin sagte: »Die Elektrizität ist eine Gabe des Himmels f ü r den Menschen. Sie hat die Macht, das Leben des Menschen auf eine Ebene zu bringen, die so hoch ist, wie wir es uns niemals zu erträumen gewagt hätten. Sobald der Mensch diese Kraft unter seiner Kontrolle hat, werden die Wunder unserer heutigen Zeit im Vergleich mit den neuen unbedeutend erscheinen, und das Leben des Menschen wird endlich mit dem der olympischen Götter verglichen werden können.« Dr. Pupin behauptete, daß, während die Wissenschaft rasende Fortschritte macht, u m das materielle All zu erobern, der geistige Fortschritt des Menschen sich verzögert hat. Düster sprach er von dem «tragischen Fehlen einer Entwicklung menschlicher L i e b e « . »Haß, Dummheit, niedriger Neid und Vorurteile sind verantwortlich f ü r Kriege, Handelsfehlschläge und das übrige Leid in der Welt.« E r fügte hinzu: »Solange das geistige Leben des Menschen in seinem Wachstum behindert ist, wird es uns unmöglich sein, die Früchte des materiellen Fortschritts wirklich zu genießen.« Die Architektur der Vergangenheit hat solche »Neuigkeiten« nicht direkt auf sich bezogen. Die Universal-Architektur hingegen berücksichtigt sie als direkt betreffend. TRAUMSCHLÖSSER Galsworthy schrieb 1 9 2 2 in seinem Essay »Castles in Spain« in der jährlich erscheinenden Yale Review, daß »am 8. Juli 1 4 0 1 der Vorsteher des Domkapitels und die Kapitelherren von Sevilla sich auf dem Ulmenhof versammelten und feierlich beschlossen: >Wir wollen eine Kirche bauen, die so groß ist, daß die, die nach uns kommen, uns f ü r verrückt halten werden, weil wir einen solchen Versuch gewagt habenc Und f ü n f Generationen brauchten 1 5 0 Jahre, u m die Kirche zu bauen.« Galsworthy zitierte dann Bauwerke des 20.Jahrhunderts — z.B. das Woolworth Building, den Panama-Kanal — und verglich die Menschen damals in Sevilla mit denen des 20. Jahrhunderts: während jene ausschließlich f ü r ihre geistigen Bedürfnisse bauten und an die praktischen Bedürfnisse der Bauenden selbst gar nicht 127
dachten, bauten die Menschen des 20. Jahrhunderts offensichtlich nur f u r ihre augenblicklichen Bedürfnisse, ohne die geistigen zu berücksichtigen; Galsworthy schloß, indem er der Hoffnung Ausdruck gab, daß eine Mitte gefunden werden möge, die das Leben ins Gleichgewicht bringt. Dieser sehr schön geschriebene Essay wirkte so anregend auf den Verfasser, daß er beschloß — gleichgültig, wie verrückt das auch erscheinen könnte —, als s e i n Ideal eine Universal-Architektur aufzustellen, so gewaltig, daß sie nicht nur das erwähnte Resultat haben, sondern auch als Ursache und als Mittel zur Durchf ü h r u n g der Absicht wirken würde: die schüchterne Stimme der Wissenschaft sollte hörbar gemacht werden. Sie sagt: Die Tatsache der Fortdauer des Lebens in seiner jetzigen Struktur — ohne die Phänomene von Tod und Austausch — ist theoretisch erkennbar. Es war immer die Überzeugung des Verfassers, daß effektive Resultate f ü r jedes der Vernunft zugängliche Problem nur durch äußere Zusammenfügung erlangt werden können (Wünsche sind vernünftig, denn wir können nur innerhalb unserer Denkgrenzen wünschen, und alle Gedanken existieren in Form von Erfahrungszusammensetzungen, in denen — oft kaum wahrnehmbar — dynamische Prinzipien enthalten sind, die durch vom Selbst sich lösendes Denken faßbar sind). Als der Mensch zuerst vom Fliegen träumte, sah er sich selbst mit Flügeln — er dachte von seiner persönlichen Basis aus. E r brachte es fertig, zu fliegen (d.h. er überwand die Schwerkraft) durch eine äußere intellektuelle Zusammensetzung, d.h. durch eine Maschine, die den Menschen physisch nicht belastet, wenn er nicht gerade fliegt (wie Flügel das tun würden). Genauso wird, wenn Lebenselixier und Jungbrunnen als eine zu persönlich gedachte Entwicklung versagt haben, die neue Universal-Architektur — die physisch-intellektuell-wissenschaftliche Maschine — das Versprechen, Leben in Gleichgewicht zu bringen, halten. Die E r f ü l l u n g dieses ekstatischen Lebenstraumes kann 1 go Lichtjahre oder 15oWeltjahre dauern — so genau können wir es mit der Zeit nicht n e h m e n ; aber diejenigen, die — wie z.B. M r . Wells in seinen laufenden Beiträgen — die relative Beschleunigung physischer Phänomene im R a h m e n der menschlichen Phänomene erkennen (auf einer geometrischen Fortschrittsbasis, verglichen mit dem Ausmaß früherer Errungenschaften, im Verhältnis zu Weltzeitzyklen, die auf den R h y t h m e n natürlicher Zyklen innerhalb astronomischer Zusammenhänge beruhen), werden fest an einen vernünftigen unmittelbaren Beginn der Synchronisierung glauben. Diejenigen, die wissenschaftlich denken, wissen, daß — wie in einer mathematischen Gleichung — ein Problem, das richtig gestellt wird, ein gelöstes Problem ist. Der Verfasser kann in seiner persönlichen »Humpty-Dumpty«-Gleichnis-Sprache nichts weiter sagen, als daß er Unterstützung erhofft von dem Zusammenfluß von Wissenschaft, Industrie, Kunst und Leben. Glaubt an die fortschreitenden intellektuellen Offenbarungen der Einheit der Wahrheit, der Wahrheit der Einheit — und der Einheit und Wahrheit des ewigen Jetzt!
128
»CIAM« CHARTA VON ATHEN -
1933
LEHRSÄTZE
CIAM II in Frankfurt 1929, der sich mit der >Wohnung für das Existenzminimum< beschäftigt, und CIAM III in Brüssel 1930 ^Rationelle BebauungsweisenPatris< zwischen Marseille und Athen stattfinden kann. Die Ergebnisse der Beratungen über »Die funktionelle Stadt« werden später von Le Corbusier in der »Charta von Athen« niedergelegt (1941), deren Nr. 71—95 Lehrsätze darstellen.
7-Γ. Die Mehrzahl der analysierten Städte bietet heutzutage das Bild des Chaos. Diese Städte entsprechen in gar keiner Weise ihrer Bestimmung, die vordringlichen biologischen und psychologischen Bedürfnisse ihrer Einwohner zu befriedigen. Die Zahl der Städte, die beim Kongreß von Athen durch die sorgfältige Arbeit nationaler Gruppen der »Congres Internationaux d'Architecture Moderne« analysiert worden waren, belief sich auf 35: Amsterdam, Athen, Brüssel, Baltimore, Bandung, Budapest, Berlin, Barcelona, Charleroi (Hennegau), Köln, Como, Dalat (Vietnam), Detroit, Dessau, Frankfurt, Genf, Genua, Den Haag, Los Angeles, Littoria, London, Madrid, Oslo, Paris, Prag, Rom, Rotterdam, Stockholm, Utrecht. Verona, Warschau, Zagreb, Zürich. Sie illustrieren die Geschichte der weißen Rasse unter den verschiedensten klimatischen Bedingungen und Breitengraden. Alle legen Zeugnis ab für das gleiche Phänomen: Ordnungslosigkeit, durch die Maschine in einen Zustand gebracht, der bis dahin eine relative Harmonie zuließ; ebenso fehlt jeder ernsthafte Versuch zur Anpassung. In all diesen Städten ist der Mensch Bedrängnissen ausgesetzt. Alles, was ihn umgibt, erstickt und erdrückt ihn. Nichts, was notwendig ist für seine physische oder moralische Gesundheit, ist erhalten oder eingerichtet worden. Eine Krise der Menschheit macht sich in den großen Städten verheerend bemerkbar und wirkt sich auf die ganze Weite des Landes aus. Die Stadt entspricht nicht mehr ihrer Funktion, nämlich die Menschen zu schützen und sie gut zu schützen. 72. Diese Situation enthüllt die unaufhörliche Vermehrung essen seit dem Beginn des Maschinenzeitalters.
der privaten
Inter129
Der Vorrang der privaten Initiative, durch persönliches Interesse und den Köder des Gewinns erregt, liegt dieser bedauerlichen Sachlage zugrunde. Keine Behörde, die sich der Natur und der Wichtigkeit des technischen Fortschritts bewußt wäre, hat bis jetzt interveniert, u m die Verheerungen zu verhindern, für die niemand wirklich verantwortlich gemacht werden kann. Die Unternehmen waren hundert Jahre hindurch dem Z u f a l l ausgeliefert. Wohnungs- oder Fabrikbau, Straßen-, Kanal- oder Eisenbahnbau, alles hat sich in einer Hast und mit einer persönlichen Heftigkeit vervielfacht, die jeden bedachten Plan und jede vorherige Überlegung ausschlossen. Heute ist das Unheil geschehen. Die Städte sind unmenschlich, und aus der rücksichtslosen Brutalität einiger Privatinteressen ist das Unglück zahlloser Personen entstanden. j). Die Rücksichtslosigkeit der privaten Interessen ruft eine verheerende Zerstörung des Gleichgewichts hervor zwischen den ökonomischen Kräften, die ständig wachsen, einerseits und der administrativen Kontrolle und der sozialen Solidarität, die immer schwächer und machtloser werden, andererseits. Das Gefühl für administrative Verantwortlichkeit und das der sozialen Solidarität sind den täglichen Angriffen der schnellen und sich beständig erneuernden Kraft des Privatinteresses ausgesetzt. Diese drei Kraftquellen befinden sich in andauerndem Widerspruch zueinander, und wenn die eine angreift, verteidigt sich die andere. In diesem unglücklicherweise ungleichen Kampf triumphiert meistens das Privatinteresse, indem es, zum Schaden der Schwachen, den Erfolg der Stärkeren sicherstellt. Aber aus dem Übermaß des Übels erwächst manchmal das Gute, und die ungeheuerliche materielle und moralische Unordnung der modernen Großstadt hat vielleicht zur Folge, endlich ein Statut über die Stadt ins Leben zu rufen, das, gestützt auf eine starke administrative Verantwortlichkeit, die zum Schutz der Gesundheit und der menschlichen Würde unerläßlichen Gesetze einführt. 74. Obgleich sich die Städte im Zustand der permanenten Umwandlung befinden, vollzieht sich ihre Entwicklung ohne Präzision und Kontrolle und ohne daß den Grundsätzen des zeitgenössischen Städtebaus, die in qualifizierten technischen Kreisen ausgearbeitet worden sind, Rechnung getragen würde. Die Grundsätze des modernen Städtebaus sind durch die mühevolle Arbeit unzähliger Fachkräfte entwickelt worden: Fachkräfte für Baukunst, Gesundheitswesen, soziale Organisation. Die Grundsätze sind Gegenstand von Artikeln, Büchern, Kongressen, öffentlichen oder privaten Debatten gewesen. Aber es m u ß gelingen, ihnen Gültigkeit zu verschaffen bei den Verwaltungsorganen, die damit beauftragt sind, über das Schicksal der Städte zu wachen, und die den großen Umwälzungen, die sich durch diese neuen Gegebenheiten anbieten, oft feindlich gegenüberstehen. Die Obrigkeit m u ß zuerst aufgeklärt werden, und dann m u ß sie handeln. Es kann gelingen, durch Scharfsichtigkeit und Energie die gefährdete Situation wieder in Ordnung zu bringen. 130
7/. Die Stadt muß auf geistiger und materieller Ebene die individuelle und den Nutzen kollektiven Handelns sicherstellen.
Freiheit
Individuelle Freiheit und kollektives Handeln, das sind die beiden Pole, zwischen denen sich das Leben abspielt. Jedes Unternehmen, dessen Ziel die Verbesserung des menschlichen Schicksals ist, muß diesen beiden Faktoren Rechnung tragen. Wenn es ihm nicht gelingt, diese beiden oft entgegengesetzten Forderungen zu befriedigen, ist es unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Es ist auf alle Fälle unmöglich, sie in harmonischer Weise zu koordinieren, wenn man nicht im voraus ein Programm ausarbeitet, das sorgfältig geprüft ist und das nichts dem Zufall überläßt. 76. Alle Größenbestimmungen Maßstab haben.
im Plan der Stadt müssen den Menschen
zum
Das natürliche M a ß des Menschen muß als Basis für alle Maßstäbe dienen, die eine Beziehung zum Leben und zu den verschiedenen Funktionen des Daseins haben sollen. Die Skala der Maße, die auf Flächen oder Entfernungen anzuwenden sind, die Skala der Entfernungen, die in ihrer Beziehung zum natürlichen Verhalten des Menschen geprüft werden müssen, Maßstäbe für StundenPläne, die bestimmt werden müssen, indem man den Tageslauf der Sonne berücksichtigt. 77. Die Schlüssel zum Städtebau liegen in folgenden vier Funktionen: arbeiten, sich erholen (in der Freizeit), sich bewegen.
wohnen,
Der Städtebau drückt die Daseinsform einer Epoche aus. Er hat sich bisher nur an ein einziges Problem gewagt, an das Verkehrsproblem. Er hat sich damit begnügt, Ausfallstraßen zu bahnen oder Straßen zu ziehen, und hat damit Häuserinseln geschaffen, deren Bestimmung auf gut Glück der privaten Initiative überlassen worden ist. Das ist eine beschränkte und unzulängliche Ansicht von der Aufgabe, die ihm zugefallen ist. Der Städtebau hat vier Hauptfunktionen, und das sind: erstens, den Menschen gesunde Unterkünfte zu sichern, d. h. Orte, wo Raum, frische Luft und Sonne, diese drei wesentlichen Gegebenheiten der Natur, weitestgehend sichergestellt sind; zweitens, solche Arbeitsstätten zu schaffen, daß die Arbeit, anstatt ein drückender Zwang zu sein, wieder den Charakter einer natürlichen menschlichen Tätigkeit annimmt; drittens, die notwendigen Einrichtungen zu einer guten Nutzung der Freizeit vorzusehen, so daß diese wohltuend und fruchtbar wird; viertens, die Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Einrichtungen herzustellen durch ein Verkehrsnetz, das den Austausch sichert und die Vorrechte einer jeden Einrichtung respektiert. Diese vier Funktionen, die vier Schlüssel des Städtebaus, umfassen ein immenses Gebiet, denn der Städtebau ist die Folge einer Denkart, die durch eine Technik des Handelns ins öffentliche Leben dringt. 151
γ8. Die Planungen werden die Struktur jedes den vier Schlüsselfunktionen zugewiesenen Viertels bestimmen, und sie werden deren entsprechende Lokalisierung innerhalb des Ganzen fixieren. Seit dem Kongreß der C I A M in Atben fordern die vier Schlüsselfunktionen des Städtebaus besondere Vorkehrungen, um sich in ihrer ganzen Fülle zu manifestieren, um Regel und Rangordnung in die Lebensgewohnheiten, die Arbeitsund Kulturbedingungen zu bringen, Dispositionen, die jeder Schlüsselfunktion die günstigsten Voraussetzungen zur Entfaltung ihrer eigenen Aktivität bieten.. Der Städtebau wird, indem er dieser Notwendigkeit Rechnung trägt, das Gesicht der Städte umwandeln, wird mit dem erdrückenden Zwang von Gewohnheiten brechen, die ihre Daseinsberechtigung verloren haben, und wird schöpferischen Menschen ein unbegrenztes Tätigkeitsfeld öffnen. Jede der Schlüsselfunktionen wird autonom sein, gestützt auf die Gegebenheiten von Klima, Topographie und Gewohnheiten; sie werden als Wesenheiten betrachtet werden, denen Gelände und Räumlichkeiten zuzuteilen, für deren Ausstattung und Einrichtung alle großzügigen Hilfsmittel der modernen Technik aufzubringen sind. Bei dieser Verteilung werden die lebenswichtigen Bedürfnisse des Individuums berücksichtigt werden und nicht das Interesse oder der Profit einer einzelnen Gruppe. Der Städtebau muß die individuelle Freiheit ebenso sicherstellen, wie er aus dem kollektiven Handeln Nutzen ziehen soll. 79. Der Zyklus der täglichen Funktionen: wohnen, arbeiten, sich erholen, wird durch den Städtebau unter Berücksichtigung größter Zeiteinsparung geregelt, indem die Wohnung als das eigentliche Zentrum der städtebaulichen Bestrebungen und als der Angelpunkt aller Maßnahmen betrachtet wird. Der Wunsch, die »natürlichen Bedingungen« wieder ins tägliche Leben einzuführen, scheint auf den ersten Blick eine größere horizontale Ausdehnung der Stadt ratsam zu machen; aber die Notwendigkeit, die verschiedenen Tätigkeiten nach dem Tageslauf der Sonne auszurichten, widersetzt sich dieser Auffassimg, deren Nachteil darin besteht, Entfernungen aufzuzwingen, die in keinem Verhältnis zur verfügbaren Zeit stehen. Die Wohnung ist das Zentrum aller dringlichen Anliegen des Städtebauers, und das Spiel der Entfernungen wird in Zukunft entsprechend ihrer Lage im Stadtplan geregelt, in Übereinstimmung mit dem 24-Stunden-Lauf der Sonne, der den Rhythmus der menschlichen Tätigkeit bestimmt und allen Unternehmungen das richtige Maß zuerteilt. 80. Die neuen mechanischen Geschwindigkeiten haben das städtische Milieu in Unordnung gestürzt, indem sie eine ständige Gefährdung mit sich bringen, Verkehrsengpässe und -lähmungen hervorrufen und die Hygiene bedrohen. Die Kraftfahrzeuge hätten von befreiender Wirkung sein sollen und durch ihre Geschwindigkeit einen beachtlichen Gewinn an Zeit herbeiführen müssen. Aber ihre Anhäufung und Konzentration an gewissen Stellen sind gleichzeitig ein 132
Hindernis für den Verkehr und der Anlaß ständiger Gefahr geworden. Darüber hinaus haben sie zahlreiche gesundheitsschädigende Faktoren in das Großstadtleben gebracht. Ihre Abgase, die sich in der Luft verbreiten, sind schädlich für die Lunge, und ihr Lärm bewirkt beim Menschen den Zustand permanenter Nervosität. Die schon jetzt erreichbaren Geschwindigkeiten sind eine Versuchung zur täglichen Flucht in die Ferne, in die Natur, verbreiten den Geschmack an einer hemmungs- und maßlosen Beweglichkeit und begünstigen eine Art zu leben, die, indem sie die Familie auseinanderreißt, den Zustand der Gesellschaft zutiefst verwirrt. Sie verdammen den Menschen dazu, ermüdende Stunden in Fahrzeugen aller Art zu verbringen und nach und nach die Ausübung der Tätigkeit zu vergessen, die gesund und natürlich ist wie keine andere: des Gehens. 81. Das Prinzip des Verkehrs in Stadt und Vorstadt muß revidiert werden. Eine Einteilung der möglichen Geschwindigkeiten muß vorgenommen werden. Die Reform der Bezirkseinteilung wird — indem sie die Schlüsselfunktionen der Stadt untereinander in Einklang bringt — natürliche Verbindungen zwischen diesen herstellen, zu deren Festigung ein rationelles Netz großer Verkehrsadern vorgesehen sein wird. Die Bezirkseinteilung wird Ordnung in das städtische Territorium bringen, indem sie auf die Schlüsselfunktionen den allergrößten Wert legt: wohnen, arbeiten, sich erholen. Der Verkehr, die vierte Funktion, darf nur ein Ziel haben: die drei anderen nutzbringend zu verbinden. Große Umwälzungen sind unvermeidlich. Die Stadt und ihr Gebiet müssen mit einem Verkehrsnetz ausgestattet werden, dem Gebrauch und den Zwecken exakt angeglichen, das die moderne Technik des Verkehrs begründen wird. Man muß die Verkehrsmittel klassifizieren und unterscheiden und für jede Art eine Fahrbahn schaffen, die der Natur des benutzten Fahrzeuges entspricht. Der so geregelte Verkehr wird eine geordnete Funktion, die der Struktur der Wohnung oder derjenigen der Arbeitsstätten keinerlei Gewalt antut. 82. Der Städtebau ist eine dreidimensionale Wissenschaft und keine zweidimensionale. Indem man das Element der Höhe einführt, wird eine Lösung gefunden für den modernen Verkehr und gleichzeitig für die Freizeitgestaltung, da die so gewonnenen freien Flächen dafür ausgenutzt werden können. Die Schlüsselfunktionen: wohnen, arbeiten, sich erholen, entfalten sich im Innern der Baumassen, die drei gebieterischen Notwendigkeiten unterworfen sind: genügend Raum, Sonne, Luft. Die Baumasse hängt nicht nur vom Boden und seinen beiden Dimensionen ab, sondern vor allem von einer dritten, der Höhe. Indem er die Höhe miteinbezieht, wird der Städtebau die für den Verkehr notwendigen Terrains und die der Freizeit dienenden Flächen gewinnen. Man muß die raumgebundenen Funktionen — die sich im Innern der Bauten entfalten, wo die dritte Dimension die allerwichtigste Rolle spielt — unterscheiden von den 133
Verkehrsfunktionen, die ihrerseits, da sie nur zwei Dimensionen benutzen, an den Boden gebunden sind und für die die Höhe nur ausnahmsweise und in geringf ü g i g e m Ausmaß eine Rolle spielt, z . B . in den Fällen des Niveauwechsels, der dazu bestimmt ist, gewisse intensive Verkehrsleistungen zu regeln. 83. Die Stadt muß im größeren Rahmen ihres Einflußbereichs untersucht werden. Eine Gebietsplanung hat die einfache Gemeindeplanung zu ersetzen. Die Grenze einer Ansiedlung wird dem Radius ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit entsprechen. Die Einzelheiten eines städtebaulichen Problems ergeben sich aus den gesamten Tätigkeiten, die sich nicht nur in der Stadt entfalten, sondern in dem ganzen Gebiet, dessen Zentrum sie ist. Die Strukturelemente der Stadt müssen untersucht und in Zahlen ausgedrückt werden, die es gestatten, die Etappen einer wahrscheinlichen künftigen Entwicklung vorauszusehen. Eine entsprechende Untersuchung sekundärer Siedlungen wird die Kenntnis der allgemeinen Situation vermitteln. Befugnisse, Beschränkungen, Kompensationen können dann beschlossen werden, die jeder von ihrem Gebiet umgebenen Stadt einen eignen Charakter und ein eignes Schicksal verleihen. So wird jede Stadt ihren Platz und ihren R a n g in der allgemeinen Wirtschaft des Landes einnehmen. Eine klare Bestimm u n g der Gebietsgrenzen wird daraus resultieren. Das ist totaler Städtebau, und er ist imstande, das Gleichgewicht in der Provinz und im Lande herzustellen. 84. Die Stadt, künftig als funktionelle Einheit definiert, muß dann harmonisch in jedem ihrer Teile wachsen, da sie über Räume und Verbindungen verfügt, in denen sich die Entwicklungsetappen im Gleichgewicht vollziehen können. Die Stadt wird den Charakter eines im voraus durchdachten Unternehmens annehmen, das den strengen Regeln eines allgemeinen Planes unterworfen ist. Kluge Voraussicht wird ihre Zukunft skizziert, ihren Charakter beschrieben, das Ausmaß ihrer Entwicklung vorhergesehen und deren Exzesse im voraus eingeschränkt haben. Den Erfordernissen des Gebietes unterworfen, dazu bestimmt, den Rahmen für die vier Schlüsselfunktionen abzugeben, wird die Stadt nicht mehr das ordnungslose Resultat zufälliger Initiativen sein. Ihre Entwicklung wird — anstatt in eine Katastrophe zu führen — die Vollendung bedeuten. Und das Anwachsen der Bevölkerung wird nicht mehr zu diesem unmenschlichen Gedränge führen, das eine der Plagen der großen Städte ist. 8j. Es ist von dringlicher Notwendigkeit, daß jede Stadt ihr Programm und die Gesetze erläßt, die seine Verwirklichung gestatten.
aufstellt
Der Zufall wird der Voraussicht weichen, das Programm der Improvisation folgen. Jeder mögliche Fall wird dann im Gebietsplan vorgesehen sein; die Grundstücke werden vermessen und den verschiedenen Tätigkeitsbereichen zugeteilt werden: klare Vorschriften für das Unternehmen, das sofort in Angriff genom134
men und nach und nach, in allmählichen Etappen ausgeführt wird. Das Gesetz wird die »Bauland-Verordnung« verewigen, indem es jede Schlüsselfunktion mit den Mitteln versieht, durch die sie sich am besten zu realisieren und sich auf den Terrains anzusiedeln vermag, die am besten geeignet sind und in der zweckmäßigsten Entfernimg liegen. Das Gesetz muß auch den Schutz und die Aufsicht über Gebiete vorsehen, die erst künftig besiedelt sein werden. Es wird das Recht haben, zu genehmigen und abzulehnen, wird jede richtig bemessene Initiative fördern, aber achtgeben, daß sie sich in den allgemeinen Plan einfügt und stets den allgemeinen Interessen, die das öffentliche Wohl ausmachen, untergeordnet bleibt. 86. Das Programm muß auf Grund, genauer, von Fachleuten durchgeführter Analysen aufgestellt werden. Es hat die Etappen in Zeit und Raum vorauszusehen. Es muß die natürlichen Hilfsmittel der Lage zu einem fruchtbaren Einklang vereinigen: die Topographie des Ganzen, die wirtschaftlichen Gegebenheiten, die soziologischen Notwendigkeiten, die geistigen Werte. Das Werk ist nicht mehr eingeengt durch den unsicheren Plan des Geometers, der, auf Kosten der Vorstädte, die Mietskasernen und das Elend der Siedlungskolonie entwirft. Es wird eine wirkliche biologische Schöpfung sein, die klar definierte, organische Bestandteile umfaßt, die imstande sind, ihre wesentlichen Funktionen vollendet zu erfüllen. Die Hilfsquellen des Bodens werden analysiert und die Einschränkungen, die er auferlegt, anerkannt, das allgemeine Milieu und die natürlichen Rangwerte sorgfältig bedacht werden. Die großen Verkehrsadern sind auszubauen, an die richtige Stelle zu legen und ihre Ausgestaltung nach dem ihnen zugedachten Verwendungszweck zu bestimmen. Eine Wachstumskurve wird die f ü r die Stadt vorausgesehene wirtschaftliche Zukunft zum Ausdruck bringen. Unumstößliche Verordnungen werden den Einwohnern die Behaglichkeit der Wohnung, eine möglichst weitgehende Erleichterung der Arbeit und den beglückenden Gebrauch der freien Stunden sichern. Die Seele der Stadt wird aufleben durch die Klarheit der Planung. 8η. Für den Architekten, der mit städtebaulichen der Mensch das Maß zu sein.
Aufgaben
beschäftigt ist, hat
Die Architektur m u ß nach ihren Abwegen während der letzten hundert Jahre wieder in den Dienst des Menschen gestellt werden. Sie muß sich trennen von dem sterilen Pomp, sich dem Individuum zuwenden und f ü r dessen Glück die Einrichtungen schaffen, die den Rahmen aller seiner Lebensäußerungen bilden und diese gleichzeitig erleichtern werden. Wer könnte die notwendigen Maßnahmen treffen, u m diese Aufgabe zum Gelingen zu führen, wenn nicht der Architekt, der die vollkommenste Kenntnis vom Menschen besitzt, der das illusorische Planen fallengelassen hat und durch richtige Anpassung der Mittel an ihre beabsichtigten Zwecke eine Ordnung schaffen wird, die ihre besondere Poesie in sich selbst trägt? ' Vi
88. Kernfrage und Ausgangspunkt des Städtebaus ist eine Wohnzelle (eine Unterkunft) und ihre Einfügung in eine Gruppe, die eine Wohneinheit zweckentsprechender Größe bildet. W e n n die Zelle das biologische Element erster Ordnung ist, so ist das Heim, d. h. das Obdach einer Familie, die soziale Zelle, Die Konstruktion dieses Heims, das seit mehr als einem Jahrhundert dem brutalen Spiel der Spekulation ausgeliefert ist, muß ein humanes Unternehmen werden. Das Heim ist Kernproblem und Ausgangspunkt des Städtebaus. Es beschützt die Entwicklung des Menschen, hütet die Freuden und Leiden seines täglichen Daseins. So wie es in seinem Inneren Sonne und frische Luft haben muß, so m u ß es darüber hinaus im Draußen erweitert werden durch verschiedene Gemeinschaftseinrichtungen. Damit es leichter werde, die Wohnungen mit den gemeinsamen Vorteilen auszustatten, die dazu bestimmt sind, Versorgung, Erziehung, ärztliche Hilfe oder Nutzung der Freizeit bequem zu verwirklichen, wird man sie in Wohneinheiten von zweckentsprechender Größe zusammenfassen müssen. 89. Erst mit diesen Wohneinheiten werden im Raum der Stadt hergestellt zwischen Wohnung, Arbeitsstätten und den der Freizeit Einrichtungen.
Beziehungen zugedachten
Die erste aller Funktionen, die die Aufmerksamkeit des Städtebauers zu beanspruchen hat, ist wohnen und . . . gut wohnen. M a n m u ß aber auch arbeiten und muß es unter Bedingungen tun können, die eine ernsthafte Revision der augenblicklich gültigen Gewohnheiten erfordert. Die Büros, die Werkstätten, die Fabriken müssen mit Einrichtungen ausgestattet werden, die imstande sind, das Wohlbefinden sicherzustellen, das zur Verwirklichung dieser zweiten Funktion notwendig ist. Und endlich darf man die dritte Funktion nicht vernachlässigen: sich erholen, Geist und Körper bilden. Und der Städtebauer hat die nötigen Räumlichkeiten und ihre L a g e vorzusehen. 90. Um diese große Aufgabe zu lösen, ist es unerläßlich, die Hilfsmittel der modernen Technik zu nutzen. Diese wird die Baukunst durch das Zusammenwirken ihrer Fachleute mit allen Sicherheiten der Wissenschaft unterstützen und sie bereichern um die Erfindungen und Hilfsmittel der Epoche. Das Maschinenzeitalter hat technische Neuerungen eingeführt, die einer der Gründe sind für die Ordnungslosigkeit und die Umwälzungen in den Städten. Dennoch muß man der Technik die Lösung des Problems abverlangen. Die modernen Konstruktionstechniken haben neue Methoden aufgestellt, . . . neue Dimensionen gestattet. In der Geschichte der Architektur eröffnen sie tatsächlich eine neue Periode. Die neuen Konstruktionen werden nicht nur von einer Größe, sondern auch von einer Vielschichtigkeit sein, die bis dahin unbekannt war. Um die vielseitige Aufgabe, die ihm gestellt ist, zu lösen, wird der Architekt in allen Phasen seines Unternehmens zahlreiche Spezialisten zuziehen müssen. 136
9-Г. Oer Gang der Ereignisse wird von Grund politische, soziale und ökonomische Faktoren ...
auf
beeinflußt
werden
durch
Es genügt nicht, daß die Notwendigkeit der »Bauland-Verordnung« und einiger Konstruktionsprinzipien anerkannt wird. Um von der Theorie zur Praxis zu kommen, ist das Zusammenwirken folgender Faktoren notwendig: einer politischen Macht, die so ist, wie man sie sich wünscht — klarblickend, sicher und entschlossen, die besten Lebensmöglichkeiten zu verwirklichen, die auf dem Papier ausgearbeitet und eingezeichnet worden sind; eine aufgeklärte Bevölkerung, die versteht, wünscht und fordert, was die Fachleute für sie ins Auge gefaßt haben; eine wirtschaftliche Situation, die erlaubt, Arbeiten, von denen einige beachtlich sind, in Angriff zu nehmen und auszuführen. Es kann jedoch vorkommen, daß selbst in einer Epoche, in der alles einen Tiefstand erreicht hat, in der die politischen, moralischen und ökonomischen Bedingungen die denkbar ungünstigsten sind, die Notwendigkeit, sich anständige Behausungen zu schaffen, sich plötzlich als gebieterische Verpflichtimg erweist, die der Politik, dem Sozialwesen und der Wirtschaft das Ziel und das geschlossene Programm gibt, die ihnen gerade gefehlt haben. 92. Und hier wird die Architektur
nicht als letzte Kraft
intervenieren.
Die Architektur waltet über dem Geschick der Stadt. Sie ordnet die Struktur der Wohnung an, dieser wesentlichen Zelle im Stadtgefüge, deren Gesundheit, Annehmlichkeit, Harmonie ihren Entscheidungen unterworfen sind. Sie gruppiert die Unterkünfte zu Wohneinheiten, deren Gelingen von der Richtigkeit ihrer Planungen abhängen wird. Sie reserviert im voraus die freien Flächen,in deren Mitte sich die Baumasse in harmonischen Proportionen erheben wird. Sie richtet die Erweiterungen der Wohnung ein, die Arbeitsstätten und die der Entspannung zugedachten Gelände. Sie legt das Verkehrsnetz an, das die verschiedenen Bezirke in Kontakt miteinander bringt. Die Architektur ist für das Wohlbefinden und die Schönheit der Stadt verantwortlich. Sie hat die Aufgabe, die Stadt zu schaffen oder zu verbessern, und ihr fallen die Wahl und die Verteilung der verschiedenen Elemente zu, deren geglückte Proportion ein harmonisches und dauerndes Werk begründen wird. Die Architektur hat den Schlüssel zu alldem in der Hand. 95. Die Skala der Arbeiten, die dringlich zur Einrichtung der Städte in Angriff zu nehmen sind, und andererseits der grenzenlos zerstückelte Zustand des Grundbesitzes sind zwei einander feindliche Realitäten. . . . Keine Teilarbeit darf unternommen werden, wenn sie sich nicht dem Rahmen der Stadt und dem des Gebietes, wie sie durch eine vielseitige Untersuchung und einen umfassenden Gesamtplan vorgesehen sein werden, einfügt. Dieser Plan wird notwendigerweise Teile umfassen, deren Realisation unverzüglich in Angriff genommen werden kann, und andere, deren Ausführung auf un157
bestimmte Zeit verschoben werden muß. Zahlreiche Bodenparzellen werden enteignet werden müssen u n d der Gegenstand von Transaktionen sein. Und d a n n ist das schmutzige Spiel der Spekulation zu befürchten, das so oft große Bauvorhaben, die angeregt sind durch die Sorge u m das öffentliche Wohl, im Keime erstickt. Das Problem des Grundbesitzes u n d der möglichen Einforderang des Bodens stellt sich in den Städten, an ihrer Peripherie, u n d erstreckt sich auf das mehr oder weniger weite Gebiet, das zu ihnen gehört. Der hier festgestellte gefährliche Widerspruch wirft eine der gefährlichsten Fragen der Epoche auf: die Dringlichkeit, mit legalen Mitteln die Verteilung allen nutzbaren Bodens zu regeln, um die lebenswichtigen Bedürfnisse des Individuums in voller Harmonie mit den Kollektivbedürfnissen zu befriedigen. Seit Jahren schon scheitern überall auf der Welt große Bauvorhaben an dem erstarrten Statut des Privateigentums. Der Boden, das Territorium des Leindes, m u ß in jedem Augenblick zur Verfügung gestellt werden können, u n d zwar zu einem angemessenen Preis, der vor der P l a n u n g des Projektes geschätzt worden ist. Der Boden m u ß aufzubringen sein, wenn es u m das allgemeine Interesse geht. Zahllose Unannehmlichkeiten haben die Völker heimgesucht, die es nicht verstanden haben, mit Genauigkeit den U m f a n g der technischen Umwälzungen u n d ihre fürchterlichen Rückwirkungen auf das öffentliche und private Leben abzuschätzen. Das Fehlen einer Stadtplanung ist die Ursache der Anarchie, die in der Organisation der Städte, in der Ausrüstung der Industrien herrscht. Weil m a n die Grundregeln verkannt hat, ist das Land leer geworden, sind die Städte — jenseits von aller Vernunft — gestopft voll, die industriellen Knotenpunkte auf gut Glück entstanden, die Arbeiterwohnungen zu Elendsquartieren geworden. Nichts ist vorgesehen worden zum Schutz des Menschen. Das Resultat ist katastrophal und fast in allen Ländern das gleiche. Es ist die bittere Frucht von hundert Jahren richtungloser Technik. ?/. Das Privatinteresse stellt sein.
wird in Zukunft
dem Interesse der Gemeinschaft
unter-
Sich selbst überlassen, wird der Mensch rasch erdrückt von den Schwierigkeiten aller Art, die er zu überwinden hat. Andererseits wird seine Persönlichkeit, wenn sie zu vielen kollektiven Zwangsmaßnahmen unterworfen ist, dadurch erstickt. Das individuelle Recht u n d das kollektive Recht müssen sich unterstützen, gegenseitig stärken u n d alles zusammenlegen, was sie an unendlich Konstruktivem mitbringen. Das individuelle Recht h a t nichts zu t u n mit dem gewöhnlichen Privatinteresse, das eine Minderheit mit Gütern überschüttet, indem es die übrige Gesellschaft zu einem mittelmäßigen Leben verdammt; es bedarf der strengsten Einschränkungen. Es m u ß allenthalben dem Interesse der Gemeinschaft unterworfen werden, u n d jedem Individuum müssen die f u n damentalen Freuden zugänglich sein: die Behaglichkeit des Heims, die Schönheit der Stadt.
WALTER GROPIUS / MARTIN WAGNER EIN PROGRAMM FÜR STADTERNEUERUNG
1943
CIAM V tagt 1957 in Paris (>Wohnung und FreizeitBestätigung der Ziele der CIAMVitalbauRaumstadtdie funktionelle Stadturbanen< Lebens bemerken.
Die großen Städte sind günstig für die Zerstreuung, die wir derive nennen. Die dörive ist die Technik einer Ortsveränderung ohne Ziel. Sie beruht auf dem Einfluß der äußeren Umwelt. Alle Häuser sind schön. Die Architektur muß dahin kommen, Leidenschaft zu erregen. Wir wüßten keine beschränkteren Konstruktionsunternehmen in Betracht zu ziehen. Der neue Urbanismus ist von den glücklicherweise unvermeidlichen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen nicht zu trennen. Man darf annehmen, daß die revolutionären Forderungen einer Epoche Funktion der Idee sind, die diese Epoche von Glück und Wohlstand hegt. Die Wertschätzung der Mußestunden ist etwas durchaus Ernsthaftes. Wir erinnern daran, daß es gilt, neue Spiele zu erfinden.
Asger Jörn, 1954 147
1957
KONRAD WACHSMANN SIEBEN THESEN
Konrad Wachsmann (* 1901 in Frankfurt/Oder, lebt in Genua) ist, als er 1954 zum erstenmal seit seiner Emigration 1933 wieder nach Deutschland kommt, ein ebenso erstaunter wie erstaunlicher Einzelgänger. Er ist erstaunt, daß an den deutschen Technischen Hochschulen den Standards für eine Massenproduktion industriell hergestellter Bauteile so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt wird; Wachsmann ist erstaunlich, weil er in kurzer Zeit mit seinen Methoden und Konstruktionen Unruhe in eine mit technischen Konventionen beschäftigte Studentenschaft zu bringen versteht. Wird der >Maschinenbauer< den Architekten ablösen? Wachsmanns Thesen werden zu einem Initial industriellen Bauens.
Wissenschaft und Technik ermöglichen Aufgaben, deren Lösung genaue Studien erfordert, bevor Endresultate formuliert werden können. Die Maschine ist das Werkzeug unserer Zeit. Sie ist Ursache jener Wirkungen, durch die sich die Gesellschaftsordnung manifestiert. Neue Materialien, Methoden, Prozesse, statische und dynamische Erkenntnisse, Planungen, soziologische Verhältnisse müssen akzeptiert werden. Den Bedingungen der Industrialisierung folgend, durch Multiplikation von Zelle und Element, soll sich das Bauwerk indirekt entwickeln. Modulare Koordinationssysteme, wissenschaftliche Versuchsmethoden, mationsgesetze, Präzision beeinflussen das schöpferische Denken.
Auto-
Sehr komplexe statische und mechanische Probleme fordern engste Zusammenarbeit mit Industrie und Spezialisten in idealen Meisterteams. Humane und ästhetische Vorstellungen werden neue Impulse erhalten durch kompromißlose Anwendung zeitgenössischen Wissens und Könnens.
Konrad Wachsmann, 1957 148
HUNDERTWASSER VERSCHIMMELUNGS-MANIFEST GEGEN DEN RATIONALISMUS IN DER ARCHITEKTUR
1958
Am 4. Juli 1958 verliest der Wiener Maler Hundertwasser (* 1928 in Wien) sein Verschimmelungs-Manifest in der Abtei Seckau. In einem Ausstellungs-Pamphlet hat er schon ein Jahr zuvor Protest gegen die >gogrädigen Ecken von Wien< angemeldet: »Daß man 1920 dasTrottoir und die Hauswände glatt macht, war notwendig, doch 1957 ist es Wahnsinn, den ich nicht begreife. Die Bombenwürfe von 1943 waren perfekte automatistische Formenlehre, die gerade Linie und deren leere Gebilde sollten zertepscht und zermörsert werden, wurden es auch. Im Anschluß daran hätte normalerweise ein Transautomatismus einsetzen sollen . . . Doch man baut Würfel, Würfel! Wo bleibt das Gewissen . ..«
Die Malerei und die Skulptur sind jetzt frei, denn jedermann darf heute allerlei Gebilde produzieren und nachher ausstellen. In der Architektur besteht jedoch diese grundsätzliche Freiheit, die als Bedingung jeder Kunst anzusehen ist, noch immer nicht, denn man muß erst ein Diplom haben, um bauen zu können. Warum? Jeder soll bauen können, und solange diese Baufreiheit nicht existiert, kann man die gegenwärtige, geplante Architektur überhaupt nicht zur Kunst rechnen. Die Architektur unterliegt bei uns derselben Zensur wie die Malerei in der Sowjetunion. Was realisiert ist, sind einzeln dastehende erbärmliche Kompromisse von Linealmenschen mit schlechtem Gewissen! Man soll den Baugelüsten des einzelnen keine Hemmungen auferlegen! Jeder soll bauen können und bauen müssen und so die wirkliche Verantwortung tragen für die vier Wände, in denen er wohnt. Und man muß das Risiko mit in Kauf nehmen, daß so ein tolles Gebilde nachher zusammenfällt, und man soll und darf sich vor Menschenopfern nicht scheuen, die diese neue Bauweise erfordert, vielleicht erfordert. Es muß endlich aufhören, daß Menschen ihr Quartier beziehen wie die Hendeln und die Kaninchen ihren Stall. Wenn so ein von den Bewohnern selbstgebautes, tolles Gebilde zusammenfällt, so kracht es ja meistens ohnehin vorher, so daß man flüchten kann. Der Mieter wird jedoch von da an kritischer und schöpferischer den Gehäusen gegenüberstehen, die er bewohnt, und wird mit den eigenen Händen die Wände und Pfeiler verdicken, falls sie ihm zu zerbrechlich scheinen. + Die materielle Unbewohnbarkeit der Elendsviertel ist der moralischen Unbewohnbarkeit der funktionellen, nützlichen Architektur vorzuziehen. In den sogenannten Elendsvierteln kann nur der Körper des Menschen zugrunde gehen, doch in der angeblich für den Menschen geplanten Architektur geht seine Seele zugrunde. Daher ist das Prinzip der Elendsviertel, d. h. der wild wuchernden Architektur zu verbessern und als Ausgangsbasis zu nehmen und nicht die funktionelle Architektur. + 149
Die funktionelle Ardiitektur hat sich als Irrweg erwiesen, genauso wie die Malerei mit dem Lineal. Wir nähern uns mit Riesenschritten der unpraktischen, der unnützbaren und schließlich der unbewohnbaren Architektur. Die große Wende, für die Malerei der absolute tachistische Automatismus, ist für die Architektur die absolute Unbewohnbarkeit. die uns noch bevorsteht, da die Architektur um dreißig Jahre nachhinkt. So wie wir heute schon, nach Überschreitung des totalen tachistischen Automatismus, die Wunder des Transautomatismus erleben, so werden wir erst nach Überwindung der totalen Unbewohnbarkeit und der schöpferischen Verschimmelung die Wunder einer neuen, wahren und freien Architektur erleben. Da wir jedoch die totale Unbewohnbarkeit noch nicht hinter uns haben, da wir uns leider noch nicht im Transautomatismus der Architektur befinden, müssen wir vorerst einmal die totale Unbewohnbarkeit, die schöpferische Verschimmelung in der Architektur so rasch wie möglich anstreben. Ein Mann in einem Mietshaus muß die Möglichkeit haben, sich aus seinem Fenster zu beugen und — so weit seine Hände reichen — das Mauerwerk abzukratzen. Und es muß ihm gestattet sein, mit einem langen Pinsel — so weit er reichen kann — alles rosa zu bemalen, so daß man von weitem, von der Straße, sehen kann: dort wohnt ein Mensch, der sich von seinen Nachbarn unterscheidet; dem zugewiesenen Kleinvieh! Auch muß er die Mauern zersägen und allerlei Veränderungen vornehmen können, auch wenn dadurch das architektonisch-harmonische Bild eines sogenannten Meisterwerkes der Architektur gestört wird, und er muß sein Zimmer mit Schlamm oder Plastilin anfüllen können. Doch im Mietvertrag ist dies verboten! Es ist an der Zeit, daß die Leute selbst dagegen revoltieren, daß mein sie in Schachtelkonstruktionen setzt, so wie die Hendeln und die Hasen in Käfigkonstruktionen, die ihnen wesensfremd sind. + Eine Käfigkonstruktion oder Nützlichkeitskonstruktion ist ein Gebäude, das allen drei Kategorien von Menschen wesensfremd bleibt, die damit zu tun haben! ι. Der Architekt hat keinerlei Beziehung zum Gebilde. Selbst wenn er das größte Architekturgenie ist, so kann er doch nicht voraussehen, welcher Art der Mensch ist, der darin wohnen wird. Das sogenannte menschliche Maß in der Architektur ist ein verbrecherischer Betrug. Besonders dann, wenn dieses Maß als Mittelwert aus einem Galuppsystem hervorgegangen ist. + 2. Der Maurer hat keinerlei Beziehimg zum Gebilde. Wenn er beispielsweise eine Mauer nur etwas anders, nach seinen persönlichen Auffassungen, falls er welche hat, gestalten will, so verliert er seine Arbeit. Und außerdem ist es ihm ja ganz egal, da er ja nicht in dem Gebilde wohnen wird. + 3. Der Bewohner hat keinerlei Beziehung zum Gebilde. Weil er es ja nicht gebaut hat und er nur eingezogen ist. Seine menschlichen Notwendigkeiten, sein menschlicher Raum ist sicherlich ein ganz anderer. Und 150
dies bleibt aufrecht, selbst wenn sich Architekt und Maurer bemühen, genau nach den Angaben des Bewohners und Bestellers zu bauen. + + Nur wenn Architekt, Maurer und Bewohner eine Einheit sind, d. h. eine und dieselbe Person, kann man von Architektur sprechen. Alles andere ist keine Architektur, sondern eine verbrecherische, gestaltgewordene Tat. Arcbitekt-Maurer-Bewohner sind eine Dreieinigkeit genau wie Gottvater-Sohn Heiliger Geist. Man beachte die Ähnlichkeit, quasi Identität der Dreieinigkeiten. Geht die Einheit Architekt-Maurer-Bewohner verloren, so gibt es keine Architektur, so wie die jetzt fabrizierten Gebilde nicht als Architektur anzusehen sind. Der Mensch muß seine kritisch-schöpferische Funktion wiedereinnehmen, die er verloren hat und ohne die er aufhört, als Mensch zu existieren! + + Verbrecherisch ist ferner die Benutzung des Lineals in der Architektur, das, wie leicht zu beweisen ist, als Instrument des Zerfalls der architektonischen Dreieinigkeit Einzusehen ist. + Schon das Bei-sich-Tragen einer geraden Linie müßte, zumindest moralisch, verboten werden. Das Lineal ist das Symbol des neuen Analphabetentums. Das Lineal ist das Symptom der neuen Krankheit des Zerfalls. Wir leben heute in einem Chaos der geraden Linien, in einem Dschungel der geraden Linien. Wer dies nicht glaubt, der gebe sich einmal die Mühe und zähle die geraden Linien, die ihn umgeben, und er wird begreifen; denn er wird niemals ans Ende gelangen. Auf einer Rasierklinge habe ich 546 gerade Linien gezählt. Durch die lineare und imaginäre Verbindung zu einer zweiten Rasierklinge derselben Produktion, die sicher haargenau so aussieht, ergeben sich 1090 gerade Linien und, wenn man die Verpackung dazuzählt, an die 5000 geraden Linien derselben Rasierklinge. Vor nicht allzulanger Zeit war der Besitz der geraden Linien ein Privileg der Könige, der Begüterten und der Gescheiten. Heute besitzt jeder Tepp Millionen von geraden Linien in der Hosentasche. Dieser Urwald der geraden Linien, der uns immer mehr wie Gefangene in einem Gefängnis umstrickt, muß gerodet werden. Der Mensch hat bisher immer noch die Dschungel gerodet, in denen er sich befand, und sich befreit. Allerdings muß er sich erst dessen bewußt werden, daß er sich in einem Dschungel befindet, denn dieser Dschungel hat sich schleicherisch gebildet, ohne daß die Bevölkerung davon etwas weiß. Und diesmal ist es ein Dschungel der geraden Linien. Jede moderne Architektur, bei der das Lineal oder der Zirkel auch nur eine Sekunde lang — und wenn auch nur in Gedanken — eine Rolle gespielt hat, ist zu verwerfen. Gar nicht zu reden von der Entwurf-, Reißbrett- und Modellarbeit, die nicht nur krankhaft steril, sondern wahrhaft widersinnig geworden ist. Die gerade Linie ist gottlos und unmoralisch. Die gerade Linie ist keine schöpferische, sondern eine reproduktive Linie. In ihr wohnt weniger Gott und menschlicher Geist als vielmehr die bequemheitslüsterne, gehirnlose Massenameise. Die Gebilde der geraden Linie, auch wenn sie sich noch so krümmen, biegen,
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überhängen und sogar durchlöchern, sind somit hinfällig. Das ist alles Anschlußpanik, ist die Angst der konstruktiven Architekten, nur ja rechtzeitig umzuwechseln zum Tachismus, d. h. zur Unbewohnbarkeit. Wenn sich an einer Rasierklinge der Rost festsetzt, wenn eine Wand zu schimmeln beginnt, wenn in einer Zimmerecke das Moos wächst und die geometrischen Winkel abrundet, so soll man sich doch freuen, daß mit den Mikroben und Schwämmen das Leben in das Haus einzieht und wir so mehr bewußt als jemals zuvor Zeugen von architektonischen Veränderungen werden, von denen wir viel zu lernen haben. Die verantwortungslose Zerstörungswut der konstruktiven funktionellen Architekten ist bekannt. Sie wollten die schönen Häuser mit Stuckfassaden der neunziger Jahre und des Jugendstils einfach abreißen und ihre leeren Gebilde hinpflanzen. Ich weise auf Le Corbusier, der Paris dem Erdboden gleichmachen wollte, um geradlinige Monsterkonstruktionen hinzusetzen. Um Gerechtigkeit zu üben, müßte man jetzt die Gebilde von Mies van der Rohe, Neutra, Bauhaus, Gropius, Johnson, Le Corbusier usw. auch abreißen, da sie seit einer Generation veraltet und moralisch unerträglich geworden sind. Die Transautomatisten und alle, die sich jenseits der unbewohnbaren Architektur befinden, verfahren jedoch humaner mit ihren Vorgängern. Sie wollen nicht mehr zerstören. Um die funktionelle Architektur vor dem moralischen Ruin zu retten, soll man auf die sauberen Glaswände und Betonglätten ein Zersetzungsprodukt gießen, damit sich dort der Schimmelpilz festsetzen kann. + Es ist an der Zeit, daß die Industrie ihre fundamentale Mission erkennt, und die ist: schöpferische Verschimmelung betreiben! Es ist jetzt Aufgabe der Industrie, bei ihren Spezialisten, Ingenieuren und Doktoren ein moralisches Verantwortungsgefühl gegenüber der Verschimmelung hervorzubringen. Dieses moralische Verantwortungsgefühl gegenüber der schöpferischen Verschimmelung und der kritischen Verwitterung muß schon im Erziehungsgesetz verankert sein. + + Nur die Techniker und Wissenschaftler, die imstande sind, im Schimmel zu leben und Schimmel schöpferisch zu erzeugen, werden die Herren von morgen sein. + Und erst nach der schöpferischen Verschimmelung, von der wir viel zu lernen haben, wird eine neue und wunderbare Architektur entstehen.
Die Zusätze mit dem + -Zeichen sind erst nach dem Vortrag auf der Seckauer Tagung dem Verschimmelungsmanifest hinzugefügt worden. 152
CONSTANT / DEBORD SITUATIONISTISCHE DEFINITIONEN
1958
Aus dem Zusammenschluß der >Lettristischen International und der internationalen Vereinigung für ein Bild-Bauhaus< bildet sich 1957 die internationale Situationniste Internationale Vereinigung für ein Bild-Bauhaus< wiederum ist eine Protestaktion gegen das von Max Bill formulierte erste Programm der Hochschule für Gestaltung in Ulm. (Gropius hatte Bill legitimiert, den Namen >Bauhaus< in Verbindung mit der Neugründung weiterzuführen. Bill verzichtete schließlich darauf.) Der Maler Asger Jörn hat die Einwände gegen Ulm in seinem Buch »Bild und Form« (Mailand 1954) formuliert.
Die elf nachstehend aufgeführten Punkte, die eine kurzgefaßte Definition der Situationisten-Aktion vermitteln, sind als vorbereitendes Thema für die dritte Konferenz der Internationalen Situationisten (I. S.) zu erörtern.
1 . D i e Situationisten müssen bei jeder Gelegenheit rückschrittliche Ideologien und Kräfte bekämpfen, und zwar sowohl auf dem Gebiet der Kultur als auch insbesondere überall dort, wo es um die Frage nach dem Sinn des Lebens geht. 2. Niemand darf seine Zugehörigkeit zur I. S. nur als Ausdruck prinzipieller Zustimmung betrachten; es ist erforderlich, daß die Tätigkeit aller Mitglieder im wesentlichen den gemeinsam ausgearbeiteten Zielen und den Notwendigkeiten einer disziplinierten Aktion entspricht, und dies sowohl in der Praxis als auch bei öffentlichen Stellungnahmen. 3. Die Möglichkeit einheitlichen und kollektiven Schaffens kündigt sich bereits durch die Zersetzung der einzelnen Künste an. Die I. S. kann einen Versuch zur Erneuerung dieser Künste nicht unterstützen. 4. Das Mindestprogramm der I. S. umfaßt den Versuch einer vollkommenen Raumkunst, der sich auf einen einheitlichen Städtebau ausdehnen muß, sowie die Suche nach neuen Verhaltensweisen in Verbindung mit dieser Raumkunst. 5. Der einheitliche Städtebau wird bestimmt durch die ununterbrochene komplexe Aktivität, durch die die Umwelt des Menschen nach fortschrittlichsten Plänen auf allen Gebieten bewußt neu erschaffen wird. 155
6. Die Probleme des Wohnens, des Verkehrs und der Erholung können nur im Zusammenhang mit sozialen, psychologischen und künstlerischen Aspekten gelöst werden, was mit der Hypothese über die Ganzheit des Lebensstils übereinstimmt. 7. Der einheitliche Städtebau ist — unabhängig von jeder ästhetischen Betrachtung — das Ergebnis einer neuen Art kollektiven Schaffens; und die Entwicklung dieses schöpferischen Geistes ist die Voraussetzung für einen einheitlichen Städtebau. 8. Es ist die unmittelbare Aufgabe der schöpferisch Tätigen von heute, die f ü r diese Entwicklung günstigen Verhältnisse zu schaffen. 9. Alle Mittel dürfen angewandt werden — unter der Bedingung, daß sie einer einheitlichen Aktion dienen. Die Koordinierung künstlerischer und wissenschaftlicher Mittel muß zur vollständigen Fusion führen. 10. Die Schaffung einer Situation bedeutet die Schaffung einer transitorischen Mikro-Welt und — für einen einzigen Augenblick im Leben einiger — eines Spiels von Ereignissen. Sie ist nicht zu trennen von der Schaffung einer allgemeinen, verhältnismäßig dauerhafteren Umwelt durch einheitlichen Städtebau. 1 1 . Eine geschaffene Situation ist ein Mittel zur Annäherung an den einheitlichen Städtebau, und der einheitliche Städtebau ist die unerläßliche Grundlage für die — als Spiel und ernsthafte Aufgabe anzusehende — Schaffung der Situation einer freieren Gesellschaft. Constant, Debord, Amsterdam, 10. November 1958
Constant, 1959
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WILLIAM KATAVOLOS ORGANICS
1960
Der >informellen< Malerei und Skulptur der fünfziger Jahre folgen Ideen zu einer >informellen Architektur«. Wieder ergeht wie in den zwanziger Jahren — damals mit dem Ziel eines >industriellen Bauens< — der Ruf nach neuen Baustoffen. Man kann noch weiter zurücksehen: so präzise, wie ein Paul Scheerbart 1914 die Eigenschaften unserer heutigen Kunststoffe beschreibt und fordert, so genau entwirft der Amerikaner William Katavolos i960 die Eigenschaften eines Baustoffs, mit dem eine > Chemische Architektur« realisiert werden kann. In diesem Sinn reiht sich Katavolos — Philosoph, Conferencier, Industrial Designer — ein in die Reihe der Architekten-Visionäre des Jahrhunderts.
Die Chemie eröffnet uns neue Wege in der Architektur. Man soll nicht mehr mühsam konstruieren, sondern die Architektur als Geschehnis ermöglichen. Es gibt einen Weg außerhalb des Bauens, gerade so, wie das Prinzip der Wellen, Parabelwürfe und Lotlinien außerhalb des Mediums liegt, in welchem sie sich bilden. So muß sieb die Architektur von althergebrachten Vorbildern lösen und organisch werden. Dank neuen Erfindungen in der Chemie können pulverförmige und flüssige Stoffe hergestellt werden, die sich durch entsprechende Behandlung mit bestimmten aktivierenden Agenzien gewaltig ausdehnen, dann katalysieren und erhärten. Wir gewinnen immer mehr Kenntnisse der Modularstruktur dieser Chemikalien sowie der nötigen Verfahren zur Herstellung von Stoffen mit einem bereits im submikroskopischen Stadium bestimmbaren Verhalten. Es wird also möglich sein, sehr kleine Mengen Pulver so zu verarbeiten, daß sie sich zu vorbestimmten Formen wie Schalen, Röhren und Wülsten ausdehnen.
Stellen Sie sich vor, wie die neue Stadt auf dem Meer wächst aus großen Kreisen einer öligen Substanz. Es entstehen daraus Muster, in die eine Kunststoffmasse gegossen wird, aus welcher sich dann ein Netz von Streifen und Scheiben entwickelt, die sich zu Wülsten und Schalen erweitern und schließlich für verschiedene Zwecke Hohlräume bilden. Chemikalien in Hohlwänden, die die Luft heizen, kühlen und reinigen, ersetzen Fenster; die Struktur der Decken erinnert an die der Kristalle; die Fußböden formen sich nach Art der Kor edlen; das ornamentale Muster der Oberflächen zeichnet die Linien der Zugspannungen nach; diese Strukturen ziehen sich gewichtslos über uns hin. Die festgefügten Böden enthalten alles, was man zum Leben braucht: eine Vielfalt von Geräten steckt in diesem fixierten Zellgitter. Untersuchen wir einmal die Auswirkungen von organischen Stoffen auf ein so einfaches und doch kompliziertes Gebilde wie einen Stuhl. Ein bequemer Stuhl soll vibrieren, leicht nachgeben, massieren und so hoch über dem 155
Boden sein, daß man sich bequem hinsetzen und wieder aufstehen kann. Gleichzeitig soll er so niedrig sein, daß sich der Körper, wenn m a n sich hinsetzt, dort entspannt, wo er sich oft verkrampft. Er soll darüber hinaus den sitzenden Menschen bilden, er soll Töne stereophonisch zum Ohr dringen lassen und soll korrekte Ionenfelder bilden; und wenn er nicht benutzt wird, soll er verschwinden; und schließlich soll er schön sein. Solch ein Stuhl existiert nicht. Ich habe immer wieder Forschungen angestellt, u m alle diese Anforderungen zu erfüllen. W i r könnten zum Beispiel eine mechanische Vorrichtung konstruieren, die alle diese Eigenschaften aufweist; aber auf Grund meiner Erfahrungen mit solchen Sitzmaschinen glaube ich, daß sie weder den Benutzer noch den Betrachter ganz zu befriedigen vermögen. Jetzt aber wird dies möglich sein dank einem doppelwandig geblasenen und mit Chemikalien verschiedener Dichte gefüllten Kunstharz, dessen Außenfläche in einem schönen Muster gerippt ist und dessen Innenseite etwas nachgibt und den Körper auffängt: ein Stuhl, der sich durch Druck hebt, u m den Sitzenden aufzunehmen, und der sich dann leicht senkt, um den Sitzenden in nähere Verbindung zum Fußboden zu bringen; ein Stuhl, der durch chemische Reaktionen kühlt, vibriert und federt und der elektronische Apparate für Ton und Ionenfeldbildung enthält; ein Stuhl, der alle früheren und alle heutigen Anforderungen erfüllt. W i r können das nun auf organischem W e g und ohne Mechanismen erreichen, auf ähnliche Art, wie sich Atmung, Peristaltik und Pulsrhythmen in vielen natürlichen Formen abspielen. 156
Übertragen wir dieses System der außen gerippten und innen glatten Doppelwand auf Behälter für Speisen und Flüssigkeiten, die auf chemischem W e g e gekühlt werden. Ebenso könnte man durch Aktivierung — was etwa durch einfaches ö f f n e n geschieht — mittels dieses Behälters Suppe kochen; oder man könnte auf diese Weise ein Trinkgefäß produzieren, das man nach Gebrauch wegwirft; und somit also auch Kochherde, Waschbecken und Vorratskammern, wie sie uns heute bekannt sind, ersetzen. Der organische Prozeß ermöglicht sodann eine Vereinfachimg und größere Freiheit der A u f t e i l u n g unserer U m gebung in bestimmte Zonen. Badewannen und Duschen würden zum Beispiel den Benutzer bis zum Hals einschließen und ihn nach dem chemischen D a m p f b a d auch noch reinigen und trocknen. W e n n wir diese Idee weiterführen, könnte schließlich jedermann seine eigenen Gewebe und Textilien aus Kunstharz herstellen, indem er sie auf einen gefällig gemusterten Grund gießt und sie dort katalysieren und erhärten läßt zu nahtlosen Hüllen, die dann auf eine neue A r t getragen werden können. Untersuchen wir weiter Toiletten, die aus einem mit Chemikalien gefüllten doppelwandigen Behälter bestehen. Dieser würde sich zuerst zu einer für den Benutzer angenehmen Absitzhöhe heben und sich dann so weit senken, wie wir es für die vollständige Darmentleerung als optimal erachten. Danach würde sich der Apparat durch Druck wieder heben, damit ihn der Benutzer bequem verlassen kann, während die Abfallstoffe chemisch neutra-
lisiert und aufgelöst werden, was sämtliche Abflußinstallationen überflüssig macht. Damit ist es möglich, ein neues Haus an beliebiger Stelle zu bauen; als chemisch vollständiger Organismus enthält es in seinen peripheren Partien alle zum Leben notwendigen Einrichtungen. Solche Häuser würden zu einer bestimmten Größe anwachsen, sich unterteilen oder zu großen Komplexen verschmelzen. Riesige Gewölbe würden durch Parabelwürfe aus Kunstharz her-
gestellt, die an der Luft sofort katalysieren und erhärten. Explosionsartig entstehende Formen einer unmittelbaren Architektur, die immerfort wandlungsfähig ist im Hinblick auf gewünschte Festigkeiten, vorbestimmte Richtungen und vorausberechnete Zeiträume. Am Morgen könnten sich Vororte zu Städten vereinigen; nachts sieht man sie sich wie Musik nach anderen Orten verlagern, etwa zur Befriedigung kultureller Erfordernisse oder um politische oder soziale Gefüge zu bilden, die das neue Leben verlangt.
William Katavolos, 19G0 •57
REINHARD GIESELMANN / OSWALD MATHIAS UNGERS ZU EINER NEUEN ARCHITEKTUR
I960
Der Aufruf von Gieselmann (* 1925 in Münster) und Ungers (* 1926 in Kaisersesch) zeigt: Das Berufsbild des Architekten ist unscharf geworden. Bereits spricht man vom Architekten als vom Erfüllungsgehilfen des Technikers. Wirtschaftlichkeit, Rationalisierung des Bauvorgangs, hindernde Bauvorschriften, technische Neuerungen lenken immer mehr von gestalterischen Problemen ab. Ein nackter Funktionalismus verhängt sich mit Rasterfassaden. Man erwartet das Heil von der Rechenmaschine. Bauen droht zu einem mechanischen Vorgang simplifiziert zu werden. Programme, die in Zahlen und Ziffern umsetzbar sind, garantieren saubere Ergebnisse. Als menschliche Hauptfunktionen erscheinen: Schützen, Umformen, Tragen, Regeln = Haut, Organe, Knochen, Gehirn. Dagegen erheben sich erste Proteste.
Schöpferische Kunst ist ohne geistige Auseinandersetzung mit der Tradition nicht denkbar. Sie muß die bestehende Form zertrümmern, um reinen Ausdruck ihrer eigenen Zeit finden zu können. Auch Bauen dient wie jede Kunst dem Genius, um seine Zeit durch diese auszudrücken und um eine lebendige Entwicklung in Fluß zu halten. Architektur ist partielle Schöpfung. Jeder schöpferische Vorgang aber ist Kunst. Ihm gebührt der höchste geistige Rang. Technik ist Anwendung von Wissen und Erfahrung. Technik und Konstruktion sind Hilfsmittel der Verwirklichung. Technik ist nicht Kunst. F o r m ist A u s d r u c k des g e i s t i g e n
Gehaltes.
Folgt man den Methoden der technisch-funktionellen »Architektur«, so ergibt sich Uniformität, Einförmigkeit. Architektur verliert ihren Ausdruck bei Anwendung technisch-funktioneller Methoden. Die Folge ist, daß Wohnblocks wie Schulen, Schulen wie Verwaltungsgebäude und Verwaltungsgebäude wie Fabriken aussehen. Ein leeres Gerüst wird vorgehängt. Form wird durch die Anwendimg von mathematischem, also unkünstlerischem Schematismus auswechselbar. Die so entstehende »Architektur« ist Ausdruck einer materialistischen Gesellschaftsordnung, deren Prinzipien Primat der Technik und Gleichmachung sind. Das Verhältnis zur Umwelt wird programmatisch festgelegt und dadurch spannungslos. Durch diesen Mangel an Vitalität entsteht ein geistiges Vakuum. An Stelle der lebendigen Auseinandersetzung des aktiven einzelnen mit seiner Umwelt tritt die geistige Versklavimg durch die Diktatur der Methodik. F r e i h e i t lebt nur in der s t ä n d i g e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g des e i n z e l n e n mit der R e a l i t ä t und im E r k e n n e n der persönlichen inneren V e r a n t w o r t u n g g e g e n ü b e r Ort, Zeit und Mensch. 158
Diese Freiheit existiert heute nur in einer lebendigen demokratischen Ordnung. Innerhalb dieser freiheitlichen Ordnung materialistische Methoden anzuwenden, ist gewissenlos und zeugt von Verantwortungslosigkeit oder Dummheit. Beide bedeuten zu jeder Zeit eine ernste Bedrohung und Gefahr für die persönliche Entwicklung des Menschen. Die Aufgabe ist, die Freiheit für die Entfaltung des schöpferischen Geistes zu hüten. Das Allliegen der Architektur ist die Suche nach vollkommenem Ausdruck des Inhalts. Architektur ist vitales Eindringen in eine vielschichtige, geheimnisvolle, gewachsene und geprägte Umwelt. Ihr schöpferischer Auftrag ist Sichtbarmachung der Aufgabe, Einordnung in das Vorhandene, Akzentsetzung und Überhöhung des Ortes. Sie ist immer wieder Erkennen des Genius loci, aus dem sie erwächst. Architektur ist nicht mehr zweidimensionaler Eindruck, sondern wird Erlebnis des Körperhaften und Räumlichen durch Umschreiten und Eindringen. An die Stelle der Starre tritt die Bewegung, der Symmetrie die Asymmetrie, der Statik die Dynamik. An die Stelle der monotonen Übersichtlichkeit tritt die Überraschung. An die Stelle des Gegenüber-Seins das Darin-Sein. Das Verhältnis Subjekt—Objekt ist aufgehoben. A r c h i t e k t u r ist E i n h ü l l u n g und B e r g u n g und d a m i t eine E r f ü l l u n g und V e r t i e f u n g des I n d i v i d u u m s . Mit diesem Manifest wenden wir uns an alle, die auf dieser Grundlage eine Erneuerung der europäischen Architektur anstreben.
Oswald Mathias Ungers, 1959
159
»GEAM« PROGRAMM FÜR EIN MOBILES BAUEN
1960
Ende 1957 finden sich in Paris junge Architekten aus Frankreich, Holland, Polen und Israel zu einer »groupe d'etudes d'architecture mobile« (GEAM) zusammen. Die letzte Zusammenkunft der CIAM vor ihrer endgültigen Auflösung, CIAM X in Dubrownik 1956, hatte unter anderem Fragen der Mobilität, der Verflechtung, der Kommunikation aufgeworfen, Fragen, die sich von der explosiven Entwicklung der großen Städte und der Ballungsräume her immer dringender stellen. Die GEAM setzt sich zum Ziel, Vorschläge zur Lösung dieser Fragen zu erarbeiten. Im März 1958 kommt man in Rotterdam zu einem ersten Arbeitsgespräch zusammen. Es beteiligen sich nun auch Architekten aus Deutschland.
A. Die katastrophalen Schwierigkeiten des modernen Städtebaues werden durch eine Reihe von Umständen ausgelöst, die wie folgt gekennzeichnet werden: 1. Die vorhandenen und die heute noch verwendeten Konstruktionen sind zu starr und lassen sich an das lebendige Leben schwer anpassen. 2. Das Wachstum der Bevölkerung ist nicht voraussehbar und einplanbar. 3. Der Verkehr wächst ins Maßlose. 4. Die Eigentumsrechte sind veraltet und die Eigentumsverhältnisse teilweise eingefroren. 5. Die Preise für Wohneinheiten sind zu hoch. 6. Eine ständig größer werdende Diskrepanz zwischen Stadt und Stadtplanung einerseits und dem rapiden Fortschritt von Wissenschaft und Technik andererseits. B. Auf Grund dieser Umstände leidet das tägliche Leben der Bevölkerung. Das wird an folgenden Ersdieinungen erkennbar: 1. Der Verkehr ist verstopft und kommt zu bestimmten Tageszeiten fast zum Erliegen. 2. Die Wohnungen sind teilweise zu steinernen Gefängnissen für die Familien geworden. 5. Die Wochenendflucht ins Freie nimmt immer größere Ausmaße an. 4. Der Lebensrhythmus ist aufgezwungen, und es ist so gut wie unmöglich, seine Umwelt persönlich zu formen. 5. Eine große Anzahl von Stadtbewohnern fühlt sich einsam und isoliert. 6. Die Nachbarschaften sind völlig zufällig zustande gekommen und bleiben schwer beeinflußbar. C. Zur allgemeinen Verbesserung dieser Zustände werden von G E A M Leitsätze aufgestellt und folgende Vorschläge gemacht: 160
1 . E i n e Reform der Eigentumsrechte des Baugrundes und des Luftraumes mit dem Ziel, eine leichtere Austauschbarkeit zu erreichen. Einführung der geschichteten Luftraumbenutzung durch die Bewohner. 2. Die Konstruktionen sollen variabel und austauschbar sein. 5. Die mit diesen Konstruktionen hergestellten Raumeinheiten sollen ebenfalls veränderlich und in ihrer Verwendung austauschbar werden. 4. Den Bewohnern muß die Möglichkeit gegeben werden, sich ihre Wohnungen persönlich den jeweiligen Lebensbedürfnissen anpassen zu können. 5. Die Industrie und die Vorfabrikation muß zur Herstellung der Konstruktionen als Mittel zur Preisverminderung voll eingesetzt werden. 6. Stadt und Stadtplanung müssen an die Entwicklungen des Verkehrs anpassungsfähig sein. 7. Die einzelnen Stadtteile müssen sowohl mit Wohnungen und Arbeitsplätzen als auch mit Stätten der körperlichen und geistigen Bildung durchmischt werden. D. Zur Verwirklichung der ausgeführten Prinzipien schlägt G E A M vor, folgende Techniken zu erarbeiten: ι. Entwicklung von variablen und austauschbaren Konstruktionselementen, wie zum Beispiel: a) Außenwände, b) Innenwände, c) bewegliche Fußböden und Decken. 2. Entwicklung von leicht veränderlichen Möglichkeiten der Versorgung mit Energie, Wasser, der Beseitigung von Abfällen. 5. Entwicklung von größeren stadtbildenden Raumeinheiten, wie: a) austauschbaren Behältern (fahrend, fliegend, schwimmend), b) Floßbauten, c) überbrückenden Bauten, d) klimatisierten Freiräumen. Paris, den 5. April i960 David George Emmerich, Camille Frieden, Yona Friedman, Günter Günschel, Jean Pierre Pecquet, Werner Ruhnau
In Ergänzung zum Programm i960, Formulierung März 1 9 6 1 : Eine optimale Durchmischung im Städtebau wird durch die Mobilität der Anordnungen möglich. Die Reintegration der auseinandergefallenen Funktionen wird dadurch wiedergewonnen. Durch eine Multifunktionalität des Stadtorganismus werden Kommunikationsprobleme entspannt. Durch dies Prinzip überlebt sich das Problem der statischen Form. Geplant werden sollen Strukturen und Anwendungsregeln. 161
LOUIS I. KAHN ORDNUNG IST
1960
Ende der fünfziger Jahre beginnt in den Vereinigten Staaten ein langsamer Ablöseprozeß. Die großen deutschen Architekten der Jahre zwischen den Kriegen, die einflußreichen Architekturlehrer Amerikas in den dreißiger und vierziger Jahren — Breuer, Gropius, Hilberseimer, Mies van der Rohe, Moholy-Nagy, Wachsmann, Wagner — treten, soweit sie noch leben, nach und nach von ihren Lehrämtern zurück. Jüngere Kräfte drängen nach. Die Architekturabteilungen an den weniger bekannten Universitäten machen auf sich aufmerksam. In Yale und an der Universität von Pennsylvania liest Louis I. Kahn (* 1901 auf Ösel/Estland). Er sagt seinen Studenten: »Eine gute Frage ist größer als die brillanteste Antwort.«
Der Entwurf bedeutet Formgestaltung innerhalb der Ordnung Die Form entsteht aus einem System der Konstruktion, Entwicklung ist Konstruktion In der Ordnung ist schöpferische Kraft Im Entwurf ist das Mittel — womit was wann mit wieviel Das Wesen des Raums spiegelt wider, was dieser sein will Ist das Auditorium eine Stradivari oder ist es ein Ohr Ist das Auditorium ein schöpferisches Instrument gestimmt auf Bach oder Bartok gespielt vom Dirigenten oder ist es ein Versammlungsort Im Wesen des Raums lebt der Geist und der Wille zu einer bestimmten Art des Seins Der Entwurf mui3 diesem Willen genau folgen Aus diesem Grunde ist ein mit Streifen angemaltes Pferd kein Zebra Ehe eine Eisenbahnstation zum Gebäude wird, will sie eine Straße sein Sie wächst aus dem Bedürfnis nach der Straße aus der Ordnung der Bewegung Eine Begegnung ineinander verschmolzener Konturen Durch das Wesen — warum Durch die Ordnung — was Durch den Entwurf — wie Eine Form entsteht aus den der Form innewohnenden Strukturelementen Ein Dom wird nicht ausgedacht, sobald Fragen auftauchen, wie er gebaut werden soll Nervi entwickelt einen Bogen Fuller entwickelt einen Dom 162
Louis I. Kahn, 1956/57 Mozarts Kompositionen sind E n t w ü r f e Sie sind Übungen der Ordnung — intuitiv Der Entwurf ermutigt zu weiteren E n t w ü r f e n E n t w ü r f e gewinnen ihre Vorstellung aus der Ordnung Vorstellung ist Erinnerung — Form Stil ist eine angenommene Ordnung Die gleiche Ordnung erschuf den Elefanten und den Menschen Sie stellen verschiedene E n t w ü r f e dar Begonnen auf Grund unterschiedlicher Bestrebungen Ordnung bedeutet nicht unbedingt Schönheit Geformt auf Grund unterschiedlicher Verhältnisse Die gleiche Ordnung erschuf den Zwerg und Adonis Entwurf bewirkt nicht Schönheit Schönheit entsteht durch Auslese Affinität Integration Liebe Kunst ist eine formschaffende K r a f t innerhalb der Ordnung — psychisch Die Ordnung ist unantastbar Sie ist ein Niveau schöpferischer Bewußtheit ewig ansteigend J e höher die Ordnung, desto vielseitiger der Entwurf Die Ordnung fördert die Integration Aus dem Seinswunsch des Raums kann sich das Unbekannte dem Architekten enthüllen Aus der Ordnung wird er die schöpferische Kraft und die Stärke der Selbstkritik nehmen, u m diesem Unbekannten Form zu geben Schönheit wird sich entfalten
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WERNER RUHNAU / YVES KLEIN PROJEKT EINER LUFTARCHITEKTUR
1960
»G« forderte 1923: »Ökonomie. Reines Verhältnis von Kraft und Material.« Die Forderung hat vierzig Jahre hindurch nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Bruno Tauts Paraphrase vom »Leichtpunkt«, den es zu finden gelte, ist aktuell wie nie zuvor. Buckminster Fuller fragt: Was wiegt ein Gebäude? Die Leichtbau-Konstruktionen erobern sich ein noch grenzenloses Feld. Flüssige und gasförmige Stoffe werden konstruktiv verwendet. Es wächst eine neue Sensibilität. Der Architekt Werner Ruhnau (* ig22 in Königsberg) und der Maler Yves Klein (Le Monochrome) wollen eine > Schule der Sensibilität< gründen. ZERO proklamiert: wir leben, wir sind für alles. Ruhnau und Klein sind für ein Leben in Luftarchitektur.
»Die Luftarchitektur war stets in unserem Geiste nur eine Etappe, die beute für die Klimatisierung privilegierter geographischer Räume vorgeschlagen wird.« Wir schlagen vor, eine Stadt durch ein Dach aus bewegter Luft zu schützen. Eine zentrale Autostraße führt zum Flughafen, wodurch die Stadt geteilt wird: ein Wohnviertel und ein Viertel für Arbeit, Industrie und maschinelle Einrichtungen. Das Luftdach klimatisiert und schützt zugleich den privilegierten Raum. Boden aus durchsichtigem Glas. »Stockage« im Untergrund (Küchen, Badezimmer, Aufbewahrungs- und Betriebsräume). Der Begriff des Heimlichen, den wir immer noch kennen, ist in dieser mit Licht überschwemmten und vollständig nach außen offenen Stadt verschwunden. Es besteht ein neuer Zustand von menschlicher Intimität. Die Einwohner leben nackt. Das ehemalige Patriarchen-System in der Familie besteht nicht mehr. Die Gemeinschaft ist vollkommen, frei, individuell, unpersönlich. Hauptbeschäftigung der Einwohner: die Muße. Die früher in der Architektur als lästige Notwendigkeiten hingenommenen Hindernisse sind Luxus-Objekte geworden: Feuermauern, Wassermauern, von Luft getragene Formen, Feuer-Fontänen, Wasser-Fontänen, Schwimm-Bäder, Luftbetten, Luftsitze . . . Das wirkliche Ziel der immateriellen Architektur: die Klimatisierung großer geographischer Wohnräume. Diese Klimatisierung wird sich nicht so sehr durch technische Wunder vollziehen, sondern wesentlich durch eine Umwandlung der menschlichen Sensibilität in eine Funktion des Weltalls. Die Theorie der »Immaterialisierung« verneint den Geist der Fiktions-Wissenschaft. Durch die entwickelte Sensibilität, »neue menschliche Dimension, vom Geist geführt«, werden in Zukunft Klima und geistige Umstände in der Natur an den Oberflächen unserer Erde umgewandelt werden. »Wollen heißt Ersinnen.« Zu diesem Wollen fügt sich ein Wille, das zu leben, was man ersinnt, und das Wunder vollendet sich in allen Bereichen der Natur. Ben Gurion: »Derjenige, der nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.«
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»SITUATIONISTEN« INTERNATIONALES MANIFEST
i960
Debord, einer der Wortführer der >Situationistenmobilen< Städtebaus, der in und mit dem Raumgitter je nach den Bedürfnissen der Bevölkerung wachsen oder schwinden kann. Yona Friedman (* 1923 in Budapest) projiziert solche Raumstädte in den Luftraum über den alten, nicht mehr funktionierenden Ansiedlungen (siehe Seite 176).
Durch die multiplikative Fähigkeit der Maschine und rapide steigende Bevölkerungszahlen hat unsere Zeit einen dynamischen Trend zur Massenproduktion, das Bedürfnis ist Quantität und Qualität mit geringstem Aufwand. Doch Lebensstandard durch Standardisierung scheint teuer erkauft mit wachsender Monotonie unserer industriell fabrizierten Umwelt und Einengung der Freiheit der Entscheidung. Das immer größer werdende Heer der Maschinen und Automaten wird dem Menschen einen immer größer werdenden Teil der manuellen Arbeit abnehmen, Elektronengehirne übernehmen die geistige Kärrnerarbeit. Doch Maschinen fabrizieren Serienprodukte, Elemente, und man wird ihnen sagen müssen, welche, man wird ihre kombinatorischen Fähigkeiten untersuchen müssen. Neue Materialien werden neue kombinatorische Systeme verlangen. Die Systematisierung des Raumes ist Bedingung für die räumliche Zusammensetzung genormter Teile und damit Grundlehre der Vorfabrikation. Räumlich-modulare Koordination bietet trotz strengster Systematik große Freiheit der Auswahl und Anordnung und damit die Synthese der sich nur scheinbar ausschließenden Tendenzen wirtschaftlicher Massenfertigung und individueller Vielfalt. Auswechselbarkeit der räumlich koordinierten Quanten erreicht Flexibilität und Anpassung in dynamische Entwicklungen. Geometrie, Topologie, Gruppentheorie, Kombinatorik werden das serielle Bauen beeinflussen. Die Raumstruktur ist eine modulationsfähige Makromaterie, in Analogie zu einem Denkmodell der Physik, wonach die Fülle der Erscheinungen sich auf wenige Elementarteilchen zurückführen läßt. Das physikalische Material ist ein Diskontinuum aus ganzzahligen Einheiten, Molekülen, Atomen, Elementarteilchen. Ihre kombinatorischen Möglichkeiten bestimmen die Eigenschaften des Materials. Erst die Modulation der Raumstruktur nach Art, Größe, Material und Position erlaubt das Wagnis, sie als umfassendes städtebauliches Ordnungsmittel anzubieten. Die Raumstadt ist ein diskontinuierliches Kontinuum, diskontinuierlich durch die Markierung zwischen Teil und Ganzem, kontinuierlich durch die un168
veränderlichen Möglichkeiten der Veränderung. Die perfekte Planung der Stadt ist in einer freien Gesellschaft weder möglich noch wünschenswert, sie bedeutet Festlegung auf Entwicklungen, die nicht vorhersehbar sind. Die Raumstadt dagegen ist eine der Entwicklung folgende Agglomeration von verschiedenen Raumstrukturen, der Duktus der Struktur lenkt die unvermeidliche Wucherung in geordnete Hahnen, die Freiheit hegt in den unendlichen Möglichkeiten der Kombination. Bei geeigneter Detailausbildung erlaubt die Maßkoordination die Auswechslung aller Teile untereinander. Möglichkeiten der Lösung des grundsätzlichen Dilemmas zwischen der Dynamik des städtischen Lebens und der Statik des Gebauten zeichnen sich ab. Elektronische Rechenzentren untersuchen die statischen und organisatorischen Bedingungen der Veränderung, automatische Fabriken produzieren die materielle Substanz der Stadt. Vielgeschossige bewohnte Raum tragwerke überbrücken große Spannweiten durch ihre große statische Höhe. In den Zentren der Verdichtimg löst sich die Stadt vom Boden, ihn dem mechanischen Verkehr überlassend. Durch die Möglichkeit der größeren Verdichtung, durch die Überbauung von Verkehrsflächen und Wasserläufen, durch die Freihaltung ganzer Ebenen für den fließenden oder ruhenden Verkehr, durch die rigorose Trennung der Verkehrsarten ist eine Lösung der Zirkulationsprobleme in den Ballungszentren möglich. Dem Verkehr und seiner unabsehbaren Entwicklung stellen sich möglichst wenig Hindernisse in den Weg, damit die Mehrzahl der heutigen Probleme von vornherein vermeidend. Andererseits schafft die Raumstadt einen kontinuierlichen, dreidimensionalen, vom Verkehr befreiten öffentlichen Raum, der verlorenging, als das Automobil Straßen und Plätze zu Rollbahnen und Parkflächen pervertierte. Ein mit Raumraster identisches dreidimensionales Koordinatensystem erleichtert Organisation und Orientierung in der Raumstadt, dennoch läßt die Vielfalt ihrer Materialisation Raum für Individualität und Anarchie. Dank der Ordnung des Raumes paßt sich die bauliche Substanz jeder topografischen Gegebenheit an, sie aufnehmend, verändernd, nivellierend oder erhöhend. Die Raumstadt begleitet das Profil der Landschaft als eine kristallinische Schicht, sie ist selbst eine Landschaft, vergleichbar geologischen Formationen mit Gipfeln und Tälern, Schluchten und Hochebenen, vergleichbar der Blattzone des Waldes mit seinem Zweigwerk. Zur Regeneration der vorhandenen Städte spannen sich Strukturen über deren degenerierte Teile und provozieren ihren Abbruch. Die Konsequenz dieser Gedanken fordert, daß Eigentums- oder Nutzungsrechte nicht mehr — der agrikulturellen Tradition folgend — auf die Bodenfläche (als landwirtschaftlichem Produktionsmittel) bezogen werden, sondern auf den Nutzraum. Die kompakte Stadt bietet Möglichkeiten eines besseren Wärmehaushaltes, einer Autoklimatisation, sie erlaubt sogar in Zukunft ein kontrolliertes Binnenklima der Stadt, das die Kosten für die Isolierung des Einzelbaues radikal vermindern könnte. Die Raumstadt ist das strukturelle, systematisierte, präfabrizierte, montierbare und demontierbare, wachsende oder schrumpfende, anpassungsfähige, klimatisierte, multifunktionale Raumlabyrinth. 169
CONSTANT NEU BABYLON (Auszug)
1960
Constant (Nieuwenhuys, * 1920 in Amsterdam) ist bis 1953 Maler. Zu diesem Zeitpunkt stellt er fest: »Das Bild der Welt veränderte sich, es entstanden mechanisierte, tecbnoide Umwelten. Aber der Künstler stand abseits, war offenbar unfähig, sich daran zu beteiligen.« Constant durchstreift Paris und London, beobachtet die Stadt, ihre Konstruktion. Er erkennt die Agglomeration als künstlerisches Medium. »Demain la po6sie logera la vie« ist hinfort sein Thema. 1956 trifft er mit Asger Jörn und Debord zusammen und entwickelt mit ihnen die ersten Pläne zu einem >unitären Urbanismus