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German Pages 598 [693] Year 2021
Philosophische Bibliothek
Wilhelm Windelband Präludien
W ILH ELM W I N DELBA N D
Präludien Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte
Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Jörn Bohr und Sebastian Luft
FELI X M EI N ER V ER LAG H A M BU RG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 744
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3877-1 ISBN eBook 978-3-7873-3878-8
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
1. Wilhelm Windelband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV 2. Zur Entstehungsgeschichte der Sammlung . . . . . . . . . . . . XVII 3. Überblick über die Texte und Hauptthemen . . . . . . . . . . . XLV 3.1 Theoretische Philosophie: Zwischen Erkenntnistheorie und Kulturphilosophie XLVI | 3.2 Kulturphilosophie, Wissen schafts theorie und die Straßburger Rektoratsrede L | 3.3 Zu Windelbands Fichte- und Hegelbild LXIII | 3.4 Zum deutschen Geistes leben: Goethe, Schiller, Hölderlin LXVIII | 3.5 Zur praktischen Philosophie LXXV | 3.6 Bildung und Kultur; Religionsphilosophisches LXXXIII Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XCII Zeichenerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XCIV WILHEL M WINDELB A ND PR Ä LUDIEN [ Erster Band ]
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Was ist Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Über Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Zum Gedächtnis Spinozas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie . . . . . . 103 Nach hundert Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
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Inhalt
Aus Goethes Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Goethes Faust und die Philosophie der Renaissance . . . . . . 170 Schillers transzendentaler Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Über Friedrich Hölderlin und sein Geschick . . . . . . . . . . . . 204 Fichtes Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Die Erneuerung des Hegelianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Von der Mystik unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 [ Zweiter Band ]
Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie . . 267 Über Denken und Nachdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Normen und Naturgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Kritische oder genetische Methode? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Geschichte und Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Vom Prinzip der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Über Mitleid und Mitfreude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Pessimismus und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben . . . . . . 475 Bildungsschichten und Kultureinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus . . . . . . 504 Das Heilige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Sub specie aeternitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
Vorwort
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ilhelm Windelband (1848–1915) ist – neben Heinrich Rickert, Hermann Cohen und Paul Natorp – einer der Hauptvertreter der Bewegung des Neukantianismus, die die deutschsprachige Universitätsphilosophie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs dominierte. Als Begründer eines der beiden Zentren des Neukantianismus – der »Südwestdeutschen« Schule neben der Marburger Schule, zusammen mit seinem Schüler Heinrich Rickert – war Windelband einer der bedeutendsten und institutionspolitisch gesehen mächtigsten Philosophen des deutschsprachigen Raumes. Seine Wirkung erstreckt sich aber nicht nur auf die damalige Universitätslandschaft, sondern reicht weit hinein ins Bildungsbürgertum. Diese Wirkung geht nicht zuletzt auf die hiermit erneut vorgelegte Aufsatzsammlung zurück, die zu einer der meist aufgelegten und intensiv rezipierten Schriften der neukantianischen Bewegung im Ganzen zählt. In seinen thematisch weit ausgreifenden Texten »zur Philosophie und ihrer Geschichte« entfaltet Windelband einen beeindruckenden Überblick seines Denkens zur Philosophie und ihrer Geschichte sowie zur deutschen und europäischen Geistesgeschichte im Ganzen. Hierbei begreift sich Windelband, wie er im Vorwort zur ersten Auflage von 1884 schreibt, in der Nachfolge Kants, dessen philosophisches System er in seiner eigenen Weise selbstbewusst und ehrgeizig nachzeichnet. Die Präludien sind nicht lediglich eine Kollektion versprengter Texte, sondern im systematischen Sinne und wortwörtlich als »Vorspiel« zu einem systematischen Hauptwerk gedacht. Die Anlage der Texte spiegelt diesen systematischen Anspruch. Zu bemerken ist, dass dieses von Kollegen und Schülern erwartete und mehrfach angekündigte Hauptwerk allerdings nie erschienen ist, wenn man die im Jahr vor Windelbands Tod erschienene Ein-
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Vorwort
leitung in die Philosophie einmal abrechnet, weil sie tatsächlich allenfalls als Einleitung ins System, nicht aber als dessen Exekution verstanden werden kann. Stattdessen erschienen die Präludien, immer wieder durch neue Texte angereichert, bis 1915 in insgesamt fünf Auflagen. Auch wenn Windelband gehofft haben mag, ein umfassendes systematisches Werk vorzulegen, sind die Präludien doch weitaus mehr als ein blasser Ersatz; denn es zeigt sich in ihnen – neben inhaltlich bedeutenden, systematisch anspruchsvollen Texten – eindeutig auch ein essayistisches Talent für die kurze, knappe, verdichtete Form des Schreibens. In dieser Hinsicht war der Neukantianer Windelband unter den großen Namen seiner Bewegung, die allzu gern (und nicht unbedingt publikumswirksam) die »große Form« der ausgedehnten Monographie bevorzugten, einzigartig. Neben seinen philosophiehistorischen Arbeiten bleibt Windelband insbesondere durch die Präludien in Erinnerung. Die Sammlung verdient es, erneut gelesen zu werden, und zwar nicht nur aus rein philosophiehistorischem oder ideengeschichtlichem Interesse, sondern v. a. aufgrund der wichtigen philosophischen Position ihres Autors und dessen klarsichtigen Erfassens kulturgeschichtlicher Zusammenhänge und gesellschaftlicher Bewegungen und Tendenzen seiner Zeit. Diese Sammlung von Texten, die z. T. aus Gelegenheitsarbeiten, z. T. lediglich aus »Plaudereien« zu öffentlichen Anlässen besteht, rangiert aus Sicht ihres Autors werkgeschichtlich zwar nicht an erster Stelle. Rezeptionsgeschichtlich sind die Präludien jedoch diejenige Veröffentlichung, die aus dem Werk eines der bedeutendsten Neukantianer am stärksten rezipiert worden ist, wobei vor allem ein Aufsatz bis heute besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht, nämlich die Straßburger Rektoratsrede über »Geschichte und Naturwissenschaft« von 1894. Diese Fokussierung auf einen einzigen Text ist allerdings angesichts der Fülle der übrigen behandelten Themen gegenüber Windelbands Intentionen verengend und vereinseitigend. Mit dieser kommentierten Edition kommt somit ein wichtiger Textkorpus in Gänze wieder zum Abdruck. Durch Edition und Kommentar wird ein zentrales Dokument der neukantianischen Bewegung erstmals in historisch-
Vorwort
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kritischer Ausgabe zugänglich gemacht. Wir danken Gerald Hartung für vielfältigen Rat und Anregung in Sachen Windelband sowie dem Felix Meiner Verlag für die Aufnahme von Windelbands Präludien in das Programm der Philosophischen Bibliothek. Leipzig/Milwaukee, im Winter 2020 Jörn Bohr und Sebastian Luft
Einleitung
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915 (bzw. Ende 1914) erschien die letzte von Windelband selbst verantwortete Auflage der Präludien. Woher der merkwürdige Titel einer Sammlung, die üblicherweise unter dem Genre- bzw. Buchhändlertitel »Kleine Schriften« o. ä. laufen würde? Im musikalischen Sinne bezeichnen Präludien das Vorspiel vor Publikum mit dem Ziel der Einleitung bzw. der Intonation eines Chorals für den Gemeindegesang, eines Themas, eines Konzerts – nicht zu vergessen: der Einführung der eigenen Person und ihrer Fähigkeiten, zur Bekleidung einer Organistenstelle etwa. Wer als Musiker angestellt werden will, spielt vor. Vorträge haben ein funktionales Äquivalent darin, dass sie ebenfalls vor Publikum, vor einem Auditorium stattfinden. Das englische Wort audition dient direkt der Bezeichnung dieses Vorspiels im Sinne des musikalischen Probespiels zur Bewerbung in ein Orchester u. ä. Für ein solches Präludium, nicht nur im musikalischen Sinne, werden entweder virtuose Stücke ausgewählt, die als »notierte Improvisation« anschließend zwar auch der nachvollziehenden Interpretation anderer offenstehen können, die jedoch zuallererst dem Befähigungsnachweis des Autors dienen. Das Präludium, nicht zu verwechseln mit der Ouvertüre, d. i. die thematische bzw. programmatische Exposition eines nachfolgenden Stückes oder einer Serie von Stücken (Oper, Suite, Konzert), hatte sich im 19. Jahrhundert folgerichtig als »Charakterstück« verselbständigt, wie in den Préludes Chopins. Es steht musikalisch für sich selbst bzw. folgt lediglich der Charakteristik seiner Tonart – ganz wie Windelbands Texte in seiner Sammlung verselbstständigt und auf das Generalthema einer Philosophie der Werte gestimmt sind. Die abgedruckten Texte sind tatsächlich entkontextuiert vom ursprünglichen Entstehungs- und Publikationszusammenhang und müssen fortan für sich selbst bzw. ihr Thema stehen. In der Ma-
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Einleitung
lerei heißt die Entsprechung Studien, die ebenfalls nicht nur zur Vorbereitung des eigentlichen Werks dienen, sondern als Proben der Meisterschaft selbst gesuchte Sammlungsobjekte sind. Windelbands Präludien sind zuletzt alles andere als »Etüden«, sie sind keine Fingerübungen ohne darüber hinaus gehenden Anspruch, sondern sie zeigen bereits den Meister – hier der kleinen Form, der zwar auch die große beherrscht, aber dort in erster Linie als Philosophiehistoriker auftritt. Der Titel Präludien ist dadurch einer der wenigen treffenden des von Windelband bedienten Genres. Windelbands Präludien sind somit keine Ouvertüre, der noch eine Sinfonie oder eine Oper zu folgen hätte, sondern stellen rhetorische Bravourstücke dar, die für sich selbst stehen und zur Demonstration eigener Leistungen dienen. Ihre Kennzeichen teilen sie mit ihren musikalischen Ableitungsbeispielen (Bachs Präludien und Fugen): Sie zeigen hohe formale Freiheit (»Phantasie«) und sind mit der Form des Essays verwandt, sie haben Improvisationscharakter wie Windelbands »Meditation« Sub specie aeternitatis. Eine Anekdote über Windelband aus der Zeit um 1884 liefert zuletzt einen direkten Hinweis auf musikgeschichtliche Referenzen. Paul Hensel (1860–1930), der sich in Straßburg an Windelband angeschlossen hatte, um sich bei ihm zu habilitieren, teilt in seinen Lebenserinnerungen mit: Von der Art seiner Unterhaltung möchte ich noch eine Probe geben, die zugleich einen der besten Wortwitze in deutscher Sprache fixieren soll. Bei einem Aufenthalt in Baden-Baden stiegen wir zur Yburg empor und sprachen über seine demnächstigen Publikationen. Nachdem er einiges erwähnt hatte, sagt er mit einem listigen Lächeln: »Ja, und dann muß ich noch die Fugen der Präludien verschmieren«, was einen dreifachen Doppelsinn der Worte ergab. Ich sagte ihm: »Jetzt können sie sehen, wie ich Sie nicht nur verehre, sondern auch liebe. Wenn irgend jemand sonst auf diesem entlegenen Bergpfad einen so vorzüglichen Witz gemacht hätte, läge er sicherlich zerschmettert unten, und ich würde den Witz als meinen weitererzählen.« Windelband erwiderte: »Herzlichen Dank, aber
Einleitung
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wir wollen doch Platz wechseln.« Es war sicher überflüssig, aber ich kam seiner Aufforderung nach.1
Die Motive für eine derartige Sammlung sind relativ leicht zu erkennen. Für Windelband war es ausnehmend wichtig, als systematischer Denker ernst genommen zu werden und nicht bloß als philosophiehistorischer. Windelband weist sich nachdrücklich als Kenner philosophischer Disziplinen aus, zu denen um 1880 nicht zuletzt noch die Psychologie gehörte.2 Im Hinblick auf die Textgenese lässt sich festhalten, dass jede Gattung der »kleinen Schriften«, vom einzelnen Vortrag bzw. der Einzelveröffentlichung einer Abhandlung in Zeitungen oder Zeitschriften bis zur Aufsatzsammlung, vertreten ist. Der veränderte Kontext zwingt nicht nur in der Textredaktion zu Veränderungen, sondern er verändert auch die Leseerwartungen und die Rezeption. Gelegentliche sichtbare Überarbeitungen, wie etwa das Weglassen der festlichen Anreden, gleichen die einzelnen Aufsätze einander an. Im Hinblick auf die Wirkungsabsichten Windelbands lässt sich sagen: Anhand seiner Karrierestationen zeigt sich, warum Windelbands Buch seit 1884 fast zwei Jahrzehnte brauchte, um in weiteren, dann aber schnell aufeinanderfolgenden und sich bis auf zwei Bände erweiternden Auflagen zu erscheinen. Diese Form der gesammelten Schriften hat zum Gegenstück die veränderte Rolle des Hochschulprofessors der Philosophie als öffentlichem Redner, der für Festansprachen u. ä. »gebucht« wird. Nicht zuletzt gehorchen die Präludien einer Nachfrage, die nur durch Sammlung der verstreut und z. T. abgelegen veröffentlichten Texte befriedigt werden konnte. Die Funktion der Präludien für die Vorbereitung von Karrierestationen ist wiederum evident: Sie stützen nicht zuletzt die wachsende Prominenz ihres Autors. 1 Elisabeth Hensel (Hg.): Paul Hensel. Sein Leben in seinen Briefen. Frankfurt a. M. 1937, S. 415. 2 Vgl. Horst Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Das Fach Philosophie und die Wissenschaft Psychologie im Deutschen Kaiserreich. Heidelberg 2017 (E-Book Open Access: https://doi.org/10.17885/ heiup.203.276).
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Einleitung
1 Wilhelm Windelband
Wilhelm (Heinrich) Windelband war einer der wirksamsten Universitätslehrer der Philosophie um 1900. Dass sein Name heute hinter seinen Leistungen zurücktritt, liegt nicht zuletzt daran, dass sie in den von ihm mitgeschaffenen und gestalteten Seminaren, Fachzeitschriften (Kant-Studien, Logos) und Akademiegründungen aufgegangen sind. Windelband wurde im Revolutionsjahr 1848 am 11. Mai als Sohn eines preußischen Beamten zu Potsdam geboren. Der Vorname Wilhelm ist – noch vor der eigentlichen »wilhelminischen Zeit« – nicht bloß Wiederholung des Vaternamens, sondern auch programmatische Loyalitätsbezeugung zum preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861, regierte 1840–1858). Der Vater Johann Friedrich Wilhelm Windelband (gest. 1859) war zuletzt Rechnungsrat zur Budgetkontrolle in der Abteilung »Servis und Lazareth-Wesen« des Preußischen Kriegsministeriums und Regierungssekretär beim Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg. Nach dessen Tod wurde ein Potsdamer Stadtrat namens Hiller zum Vormund Windelbands bestellt. Die Mutter Friederike, geb. Gerloff, lebte noch bis ins Jahr 1874. Vorbereitet durch Privatunterricht besuchte Windelband 1857– 66 das Königliche Gymnasium Potsdam. Im Winter 1866 begann Windelband ein Studium der Philosophie und Geschichte an der Universität Jena, u. a. bei Kuno Fischer (1824–1907). 1867–69 setzte Windelband sein Studium in Berlin fort, u. a. bei Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872), Michaelis 1869 wechselte er nach Göttingen, wo er bis Ostern 1870 immatrikuliert war. Zu seinen Göttinger Lehrern zählte Rudolf Hermann Lotze (1817–1881). Zusätzlich zu seinem Philosophiestudium betrieb Windelband im Winter 1869/70 »theoretische und practische Studien der Physik« (Abgangszeugnis Göttingen) sowie der Psychologie. Am 7. 4. 1870 promovierte er in Göttingen mit einer Arbeit über Die Lehren vom Zufall. Die Prüfungen legte er bei seinem prägenden Lehrer Lotze ab. Vom 27. 7. 1870 bis 26. 7. 1871 leistete Windelband seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger und nahm anschließend am
Wilhelm Windelband
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Deutsch-Französischen Krieg teil. Am 26. 4. 1873 habilitierte sich Windelband an der Universität Leipzig. Am 10. Oktober 1874 ehelichte Windelband in Potsdam Wilhelmine Martha Wichgraf (26. 2. 1850–1924), Tochter des August Wichgraf (1811–1901), Geheimer Regierungs-Rat in Potsdam, zuvor in Frankfurt/Oder, und der Wilhelmine Wilckens (1824–1890). Das Paar hatte vier Töchter und zwei Söhne. Windelband verfolgte eine zügige Laufbahn und nahm am 12. 2. 1876 einen Ruf als Professor in Zürich an, als Nachfolger Wilhelm Wundts, der nach Leipzig ging. Am 20. 5. 1876 hielt Windelband seine Antrittsvorlesung Über den gegenwärtigen Stand der psychologischen Forschung, ein Programm, das Windelband bereits auf der Höhe seines wissenschaftspolitischen Engagements zeigt, wenn er sich auch später sachlich von dieser früheren Position entfernte. Zum 1. 4. 1877 wurde Windelband nach Freiburg i. Br. berufen. Dort erarbeitete er 1878–80 seine zweibändige Geschichte der neueren Philosophie, von der zu seinen Lebzeiten bis 1911 fünf Auflagen erschienen und die seinen Ruf als Philosophiehistoriker begründeten. Es folgten eine Reihe von Rufen an andere Universitäten, die Windelband sämtlich ausschlug: 1878 Erlangen, 1879 Würzburg, 1880 Graz. Die Bleibeverhandlungen nutzte Windelband u. a., um an der Universität Freiburg 1880 ein philosophisches Seminar zu gründen. Den zum 1. 10. 1882 an ihn ergangenen Ruf an die Universität Straßburg als Nachfolger für Otto Liebmann begriff Windelband hingegen als Auftrag von höchster Stelle. Sein Nachfolger in Freiburg wurde Alois Riehl. In den beiden folgenden Jahrzehnten bis 1903 entfaltete Windelband in hohen universitären Ämtern und in zahlreichen Veröffentlichungen seine größte Wirksamkeit als Organisator des Fachs Philosophie als akademischer Institution. Ab 1890 erschien in Lieferungen Windelbands wohl bekanntestes Buch, das seit der 3. Auflage so benannte und bis 1993 in 18 Bearbeitungen und Wiederauflagen erscheinende Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (zu Lebzeiten sechs Auflagen bis 1912, mehrfach übersetzt), das Generationen von Philosophiestudenten
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Einleitung
zur Prüfungsvorbereitung gedient hat, ohne seither durch ein neues ersetzt worden zu sein. Einen Ruf nach Wien als Nachfolger Franz Brentanos lehnte Windelband 1894 ab. Für die Amtszeit 1894–95 wurde er zum Rektor der Universität Straßburg gewählt. Seine Antrittsrede Geschichte und Naturwissenschaft wurde mit der darin getroffenen Unterscheidung zwischen einer »nomothetischen«, d. h. Gesetzmäßigkeiten suchenden wissenschaftlichen Herangehensweise und einer »idiographischen«, d. h. einer das Einzelne hervorhebenden Methode als entscheidender Beitrag zur Frage der Klassifikation von Wissenschaften um 1900 aufgegriffen und insbesondere von seinem Schüler Heinrich Rickert (1863–1936) und von Max Weber (1864–1920) wissenschaftstheoretisch und methodologisch ausgearbeitet, wenn auch nicht in der ursprünglichen Intention ihres Autors. Von 1897–98 fungierte Windelband erneut als Rektor der Universität Straßburg. Zum 1. 4. 1903 nahm Windelband einen Ruf an die Universität Heidelberg an. Erstens stand hinter diesem Ruf der berühmte Kuno Fischer, zweitens fühlte Windelband sich an der Universität Straßburg, die mitten in den Debatten über die Einrichtung einer katholisch-theologischen Fakultät und der Berufung dezidiert katholischer Professoren stand, zunehmend wissenschaftspolitisch isoliert. Sein Nachfolger in Straßburg wurde Clemens Baeumker. Die Professur in Heidelberg versah Windelband bis zu seinem Tod 1915. Windelbands hohe Reputation im In- und Ausland trug mit dazu bei, dass die Universität Heidelberg zum Anziehungspunkt für Philosophiestudenten aus Russland, den USA und Japan wurde. Bei Windelband, der seitdem als Schulhaupt eines »südwestdeutschen Neukantianismus« gilt, studierten und promovierten bzw. habilitierten sich seit der Straßburger Zeit u. a.: Bruno Bauch (1877–1942), Eugen Herrigel (1884–1955), Bruno Jakovenko (1885–1949), Theodor Kistiakowski (1863–1920), Emil Lask (1874–1915), Georg Lukács (1885–1971, zeitweise begleitet von Ernst Bloch [1885–1977]), Georg Mehlis (1878–1942), Robert Ezra Park (1864–1944), Albert Schweitzer (1875–1965) sowie Viktor von Weizsäcker (1866–1957).
Zur Entstehungsgeschichte der Sammlung
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Zum 15. 8. 1904 weihte Windelband in Heidelberg ein neu begründetes Philosophisches Seminar als Lehr- und Wirkungsstätte ein. In den Legislaturperioden 1905/6 und 1907/8 vertrat Windelband die Interessen der Universität Heidelberg als ihr gewählter Abgeordneter in der Ersten Kammer des Badischen Landtages (Ständeversammlung). Zahlreiche Einladungen nach außerhalb zu Vorträgen unterstreichen die Bedeutung Windelbands als gefragten philosophischen und universitäts- bzw. bildungspolitischen Redner. Ein Höhepunkt der Heidelberger Zeit war der vom 1. 9.– 5. 9. 1908 abgehaltene III. Internationale Kongress für Philosophie unter dem Präsidium Windelbands, der unter reger Beteiligung britischer und US-amerikanischer Fachkollegen das erste Mal in einer breiten Öffentlichkeit europäischer Wissenschaftler den Pragmatismus als neue philosophische Bewegung jenseits des Atlantiks erörterte. Für die Amtszeit 1909–10 wurde Windelband zum Prorektor der Universität Heidelberg gewählt. In dieses Rektoratsjahr fällt die Gründung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, an der Windelband aktiv beteiligt war. Windelband stand der philosophisch-historischen Klasse bis 1915 als ihr Sekretär vor. Nach längerer Krankheit, die ihn zwischenzeitlich an der akademischen Lehre hinderte, starb Windelband am 22. Oktober 1915 in Heidelberg. Sein Nachfolger in Heidelberg wurde 1916 sein Schüler Heinrich Rickert, der, nach dem Intermezzo Alois Riehls von 1882– 96, zuvor Windelbands Nachfolger in Freiburg gewesen war.
2 Zur Entstehungsgeschichte der Sammlung
Ergänzend zu Windelbands eigenen Angaben in den Vorworten und den im Inhaltsverzeichnis selbst mitgeteilten Daten der Abfassung kann der Entstehungskontext der in die Präludien aufgenommenen Texte aus den Korrespondenzen Windelbands sowie bibliographisch rekonstruiert werden. Zur Vorgeschichte zählt Windelbands Brief an den in Leipzig gewonnenen Freund Georg Jellinek (1851–1911) vom 30. 12. 1875.
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Einleitung
Windelband, zur Zeit der Abfassung Privatdozent an der Universität Leipzig, trägt sich mit Zukunftsplänen: Meine Methodengeschichte3 soll [. . . ] mit dem neuen Jahr in den Druck; ich muß publiciren. Verschiedene berühmte Universitäten, wie Basel, Königsberg und auch wohl andere werfen schon liebäugelnde Blicke auf mich, fanden aber schließlich, daß man einen Manne ohne »Buch« ebenso wenig fest an sich binden darf, wie ein Mädchen einen Mann ohne »Geld«.4
Am 12. 2. 1876 kann Windelband bereits dem Dekan der philosophischen Fakultät Leipzig mitteilen, »daß ich als ordentlicher Professor der Philosophie an die Universität Zürich berufen worden und der Absicht bin, diesem Rufe mit dem Beginn des Sommersemesters Folge zu leisten«.5 Zürich bleibt Episode, erst in Freiburg i. Br. geht Windelband eine längerfristige Bindung als Professor der Philosophie ein, bis er sozusagen von höchster Stelle – die Bestallungsurkunden unterzeichnete der Kaiser persönlich – nach Straßburg berufen wurde. Von dort aus schreibt Windelband am 2. 3. 1883 wiederum an Jellinek:
3 Die als nächstes von Windelband publizierte Monographie war: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften. 1. Bd.: Von der Renaissance bis Kant. Leipzig 1878. Eine ausgewiesene »Methodengeschichte« ist nicht erschienen. 4 Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/56. – Den Korrespondenzen Windelbands hat sich 2015–2019 ein an der Bergischen Universität Wuppertal angesiedeltes DFG-Projekt (Geschäftszeichen HA 2643/14–1, Bearbeiter: Gerald Hartung, Jörn Bohr) gewidmet: Grundlagenforschung zur Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Beispiel Wilhelm Windelband. Die Quellenzitate nach Windelband in der vorliegenden Einleitung wurden nur möglich dank dieser Förderung. Vgl. Bohr/Hartung (Hg.): Forschungsgrundlagen Wilhelm Windelband. Ausgewählter Briefwechsel und Dokumente zu Leben und Werk. Hamburg: Meiner 2020. 5 Universitätsarchiv Leipzig, PA 1071, Bl. 16.
Zur Entstehungsgeschichte der Sammlung
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Das schöne Freiburger Idyll, das nun hinter uns liegt, ward zuletzt schon viel unterbrochen. Mit dem Vierteljahr in Paris fing’s an! [. . . ] Es galt dem französischen Kapitel meines dritten Bandes [zur Geschichte der neueren Philosophie; nicht erschienen] [. . . ]. Damals hat sich (in wochenlanger geistiger Einsamkeit) viel in mir gestaltet, was erst langsam, aber, wie ich hoffe, stetig sich von mir als fertige Arbeit ablösen soll. Zunächst in allgemeiner Lebens- und Geschichtsauffassung: dort, wo die Probleme der modernen Geschichte und heutigen Gesellschaft aus jedem Stein sprechen und mit Händen zu greifen sind, da versteht man erst sich selbst, da lernt man klar erfassen, welches die Richtung ist, in der das individuelle Bewußtsein durch dieses Chaos sich den Weg suchen muß. [. . . ] Nicht minder wichtig aber war die Zeit für meine philosophische Ueberzeugung: wie ich da die franz[ösische] Philos[ophie] des 19. Jahrhunderts durcharbeitete, – oh, da ist von mir abgefallen, was irgend von den positivistischen, empiristischen Modetendenzen, was von dem Eindruck der Tagesstichworte in mir hängen geblieben war! Und ich habe meinen Grund gefunden: ganz klar befestigt ist mir die Ueberzeugung [. . . ], daß die deutsche Philosophie als allseitige Ausführung des kantischen Gedankens den Höhepunct der modernen Denkbewegung bildet, und der ganze Sinn meines dritten Bandes (wenn er – wenn er nur bald fertig würde!) wird der sein, zu beweisen, daß die gegnerischen Tendenzen der franz[ösischen] und der engl[ischen] Philosophie, die jetzt auch bei uns nachgeahmt zu werden anfangen, Repristinationen der von Kant überwundenen Philos[ophie] des 18. Jahrhundert sind, die sich von ihren Vorbildern nur durch solche Züge unterscheiden, deren Genesis sich direct auf den Einfluß eben der von ihnen bekämpften kritischen Philosophie zurückführen läßt. Und neben diesem Historischen ging mir damals in gedankenvoller Einsamkeit ein theoretischer Gesichtspunct auf, der damit genau zusammenhängt und unter dem sich mir die Gedankenwelt des deutschen Kriticismus in einer Weise anordnet, daß mir der Gang meiner Arbeit nun für das ganze Leben fest vorgezeichnet ist. Eine Art Programm davon denke ich Dir noch im Sommer zuzuschicken.6 6
Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/32.
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Einleitung
In Jellineks Nachlass findet sich ein derartiges Programm zwar nicht, aber nicht bloß zeitlich liegt es sehr nahe, die Erstausgabe der Präludien mit ihrem eröffnenden Aufsatz als Ausführung dieses Programms zu verstehen. Bibliographisch lässt sich die Entstehung der Textsammlung wie folgt nachzeichnen (Korrespondenzen mit dem Verlag sind aus der frühen Zeit nicht überliefert): 1876 verfasst Windelband ausweislich des von ihm selbst mitgeteilten Datums den Text »Der Pessimismus und die Wissenschaft«, zuerst in: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 2 (1877), S. 814–821 u. S. 951–957, der unter dem Titel »Pessimismus und Wissenschaft« aber erst in die 4. Auflage der Präludien (1911) aufgenommen wird. Direkt in die erste Ausgabe der Präludien von 1884 gehen ein die 1877 verfasste Freiburger Antrittsvorlesung: »Ueber den Einfluss des Willens auf das Denken«, zuerst erschienen in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 2 (1878), S. 265–297 unter anders lautendem Titel »Ueber Denken und Nachdenken« sowie die Reden: »Zum Gedächtniss Spinoza’s«, zuerst in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 1 (1877), S. 419–440; »Ueber Friedrich Hölderlin und sein Geschick« (1878), »Ueber Socrates« (18817), »Immanuel Kant. Zur Säcularfeier seiner Philosophie« (1881), »Normen und Naturgesetze« (1882), »Was ist Philosophie?« (1882), »Kritische oder genetische Methode?« (1883), »Sub specie aeternitatis« (1883) sowie »Vom Prinzip der Moral« (1883), die sämtlich zuvor nicht im Druck erschienen waren. Es erscheint schließlich in einem Band: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie. Freiburg i. B./Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1884. VI, 325 S. Die Sammlung, die den Mittdreißiger bereits als erfolgreichen akademischen und öffentlichen Redner zeigt, hatte zunächst allen7 Vgl. in: Freiburger Zeitung vom 9. Februar 1881 die Ankündigung der letzten, achten Vorlesung des 1880/81er Zyklus der alljährlich im November und Dezember, sodann im Januar und Februar veranstalteten wissenschaftlichen Vorlesungen der Akademischen Gesellschaft in der Aula der Universität: »Freitag den 11. Februar, Abends 7 Uhr, Hofrath Windelband: Ueber die Bedeutung des Socrates.«
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falls verhaltenen Erfolg. Sie brachte Windelband allerdings einen heftigen literarischen Schlagabtausch mit seinem Straßburger Kollegen Ernst Laas (1837–1885) ein. Der Fakultätsvorschlag zur Besetzung der Nachfolge Otto Liebmann an der Universität Straßburg, vermutlich von Ernst Laas und Otto Liebmann vor dem 24. 5. 1882 verfasst, hatte zwar durchaus positiv über Windelband geurteilt.8 Es war jedoch nicht Windelband, sondern Alois Riehl der Favorit der beiden Gutachter. Da zu dieser Zeit Fakultätsvorschläge jedoch allenfalls Empfehlungscharakter hatten, berufen aber wurde, wer in den wissenschaftspolitischen Stellenplan der vorgesetzten Behörden passte – oft genug wurden, wie offenbar im vorliegenden Fall, schlicht Vorschlagslisten der vorgesetzten Stellen pflichtgemäß abgearbeitet –, datiert die Übereinkunft zwischen dem Kurator9 der Universität, Carl Ledderhose, und Windelband zur Berufung zum Wintersemester 1882/83 bereits vom 29. 5. 188210, während der Bericht des Kurators an den zuständigen Staatssekretär vom 30. 5. 1882 noch einen status quo ante fingiert: Windelband gehört als Lehrer der Philosophie der als conservativ und gemäßigt zu bezeichnenden Richtung an, wie sie seither 8 Archives Departementales du Bas-Rhin ( a d b r ) Strasbourg, 62 AL 3 (Dekanat Georg Gerland 1882/83), Nr. 38, Anlage 1. 9 Vgl. Friedrich Paulsen: Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium. Berlin 1902, S. 93: »Die Universitäten sind [. . . ] unmittelbar dem Ministerium unterstellt. Doch findet sich in Preussen die Einrichtung, dass an den Provinzialuniversitäten ein Kurator als ortsanwesender Vertreter der Zentralinstanz bestellt ist; seine Aufgabe ist, die allgemeine Staatsaufsicht zu üben und für das Gedeihen und die Leistungsfähigkeit der Anstalt in jeder Richtung Sorge zu tragen. Der Verkehr der Universität mit dem Ministerium geht durch seine Hand.« Für Straßburg fungierten 1872–1. 8. 1887: Carl Ledderhose (ca. 1821–1899, † 1. oder 2. 1. 1899 (78jährig)), 1880–1887 gleichzeitig Unterstaatssekretär im Ministerium für ElsaßLothringen (Meldung des Todes in Hochschul-Nachrichten (Paul von Salvisberg), Nr. 4 von Januar 1899, S. 89); 1888–1895: Heinrich Hoseus/ Hosëus (1841–28. 4. 1897), Unterstaatssekretär für Kultus und Justiz; ab Februar 1895: Julius Hamm (24. 4. 1839–27. 4. 1908), Ministerialrat (Kuratorialakten Universität Straßburg a d b r Strasbourg; w b i s ). 10 Abschrift in adbr Strasbourg, 103 AL 260 Bl. 67.
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durch den Prof. Liebmann im Gegensatz zu der nach der radicalen Seite neigenden Richtung des Professors Laas Vertretung an der hies[igen] Universität gefunden hat. Riehl ist zwar von katholischer Confession, gilt aber für emancipirt in seinem Verhältniß zur Kirche und steht in philosophischen Fragen auf der Seite der Schule, welcher Laas angehört. Vom politischen wie vom wissenschaftlichen Standpuncte erscheint es angezeigt, der letzteren Schule nicht ausschließlich das Feld an der Universität zu überlassen, sondern das bewährte Gegengewicht, welches in der Person und Lehre des Prof. Liebmann seine Stütze fand, nach dessen Abgang durch eine gleichartige Kraft wieder herzustellen.11
Die Entscheidung war längst für Windelband gefallen – gegen die Absicht von Ernst Laas. Windelband trat seine Stellung in einem vergifteten Klima an, wie eine Reihe von Eingaben zur Organisation der Arbeit am Straßburger philosophischen Seminar an vorgesetzte Stellen unterstreichen. Am 22. 3. 1882 schrieb Windelband rückblickend an Jellinek: Dann zum Frühjahr und Anfang Sommer kam der Straßburger Ruf. Es war sehr schwer für uns, die Entscheidung zu finden. Freiburg ist ein reizendes Idyll, und es ist für uns eine Stätte hoher Freuden gewesen. In der aufstrebenden Universität hatte ich einen schönen Wirkungskreis, eine vortreffliche persönliche Position [. . . ]. Und hätt’ ich dableiben wollen, eine Fülle von äußerer Anerkennung wäre mir in den Schooß gefallen. Zudem ist Strassburg leicht eine Sackgasse: und das hab’ ich sogar schon in diesem Winter erfahren; 11 Carl Ledderhose an Karl (von) Hofmann, Straßburg, 30. 5. 1882, 3 S., eigenhändiger Briefentwurf, a d b r Strasbourg, 103 AL 260 Bl. 65–66. Karl (von) Hofmann (1827–1910), geadelt 1882, 1855–1876 Politiker und Diplomat im Dienst Hessens (zuletzt als Ministerpräsident), 1876 Präsident des Reichskanzleramtes, 1879–80 Preußischer Minister für Handel u. Gewerbe, war 1880–87 Staatssekretär im Reichsamt für Elsaß-Lothringen in Straßburg, Ruhestand in Berlin (Helge Dvorak: Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft Bd. 1,2 Politiker F–H. Heidelberg 1999, S. 378–379).
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denn der Ruf nach Breslau, wo ich primo loco vorgeschlagen war, ist darum nicht an mich gekommen, weil der Kaiser resp. Manteuffel12 mich hier nicht fortlassen wollte! Andrerseits aber gilt es aber doch noch immer als eine Art von großem Loos für uns, an die Reichsuniversität berufen zu werden, und ist dieser Ruf gewissermaßen gebieterisch. Hätt’ ich ihn abgelehnt, so hätt’ ich mir in Freiburg ein Erbbegräbniß kaufen können, und danach ist doch eben Freiburg auch nicht. Endlich aber – es gilt hier eine Mission zu erfüllen. Durch traurige Verhältnisse ist hier, in unserer Westmark, in der deutschen Reichsuniversität, die Philosophie von einem Positivisten niederen Ranges, Laas, occupirt worden, eine der trübsten akademischen Geschichten, und demgegenüber ist es nun die schwere Aufgabe, der sich Liebmann nicht auf die Dauer gewachsen gefühlt hat (und darum ist er zu allgemeinstem Staunen nach Jena gegangen), hier die großen Traditionen der deutschen Philosophie zur Geltung zu bringen. [. . . ] Aus dem Idyll in den verantwortungsvollsten Kampf, in scharfe, schneidende Luft! Aber es giebt eben auch etwas zu thun, das seinen hohen Werth hat!13
Der wiedergewonnene Elan Windelbands hatte jedoch zunächst die erwähnten ernsten Prüfungen zu bestehen. Laas hatte weder vor, den Direktorenposten des Philosophischen Seminars mit Windelband zu teilen noch den jüngeren Kollegen ohne weiteres in die Prüfungskommission für das Lehramt aufzunehmen. Die sich zwischenzeitlich zerschlagenden Hoffnungen auf eine Berufung nach Breslau, mittels derer sich Windelband von den Straßburger Zwängen zu befreien gehofft hatte, taten ihr Übriges, dass Windelband sich auf verlorenem Posten fühlte, wie er am 30. 11. 1882 an den mächtigen preußischen Hochschulreferenten Friedrich Theodor Althoff (1839–1908) schrieb.14 Windelbands kluges und 12 Edwin Karl Rochus Freiherr von Manteuffel (1809–1885), seit 1879 Reichsstatthalter von Elsaß-Lothringen (World Biographical Information System). 13 Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/32. 14 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA Nl Althoff, F. T. Nr. 1020.
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wohldosiertes Nachsetzen mit nicht zuletzt für das öffentliche Ansehen von Universität und Staat relevanten Bedenken und Vorhaltungen hatte Erfolg – sein Verbleib in Straßburg lag im Interesse seiner Vorgesetzten.15 Bei aller finanziellen Verbesserung seiner Stelle aber drang Windelband für seine zentralen Interessen nicht durch.16 In diese Zeit fällt das Erscheinen der Präludien – prompt beantwortet von einer Rezension bzw. einem polemischen Angriff durch Ernst Laas, der einzigen Äußerung über ein Werk Windelbands, dem dieser eine öffentliche Entgegnung widmete. Der knapp 11 Jahre ältere Laas, »Deutschlands einziger Positivist von Rang«17, zeigt sich als starker Gegner mit dezidiert anti-neukantianischen Argumenten, die zwar eine »Abwehr« seitens Windelband erfahren, nicht zuletzt aus philosophie- und fakultätspolitischen Gründen, die aber nie dazu geführt haben, dass die neukantianische Seite ihrerseits ihre Position überdacht hätte. Ernst Laas 15 Vgl. Windelband an Althoff, Straßburg, 21. 12. 1882, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA Nl Althoff, F. T. Nr. 1020; Windelband an Althoff, Freiburg i. Br., 7. 9. 1883, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA Nl Althoff, F. T. Nr. 1020. 16 Vgl. die Vereinbarung mit Laas: Windelband an Carl Ledderhose, Straßburg, 15. 5. 1885, a d b r Strasbourg, 103 AL 887 (Acta der Kaiserlichen Universität in Straßburg, betreffend das philosophische Seminar 1873–1915), Bl. 56. 17 Klaus Christian Köhnke: Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Frankfurt a. M. 1996, S. 97. Vgl. die Würdigung von Laas durch Traugott Konstantin Oesterreich in ders.: Die deutsche Philosophie des XIX. Jahrhunderts und der Gegenwart. 12. Aufl. von Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie 4. Teil. Berlin 1923, S. 380–382. – Zur Causa Laas/Windelband (mit Otto Liebmann und Alois Riehl im Hintergrund) vgl. Köhnke: »Neukantianismus zwischen Positivismus und Idealismus?« In: Hübinger, Gangolf/vom Bruch, Rüdiger/Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 II. Idealismus und Positivismus. Stuttgart 1997, S. 41–52; sowie zum Kontext ders.: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus. Frankfurt a. M. 1986.
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vertrat einen »von Protagoras, Hume, J. St. Mill, Comte, Kant beeinflußten Positivismus und Relativismus (›Korrelativismus‹) im Gegensatz zu allem ›Platonismus‹ und Apriorismus (Absolutismus)«, wie Rudolf Eisler 1912 referierte: »Eine Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich, die Philosophie muß sich an das Gegebene, Positive, Wirkliche, sinnlich begründete halten. [. . . ] Der ›Korrelativismus‹ betont die untrennbare Zusammengehörigkeit von Objekt und Subjekt, Sein und Bewußtsein, Natur und Geist.«18 Dagegen vertritt Windelband, der »von Plato, Kant und Fichte beeinflußt ist, [. . . ] einen teleologischen Kritizismus mit voluntaristischem Gepräge.«19 Es ist bemerkenswert, dass die Debatte von 1884 es bis in die durchaus zutreffende Buchung durch Eislers gewichtiges Philosophenlexikon von 1912 geschafft hat. Nicht so zufällig, wie Windelband in seiner Entgegnung glauben machen will, war dieser kurze publizistische Schlagabtausch auf zwei programmatisch entgegengesetzte Zeitschriften verteilt. Über die Form der persönlichen Auseinandersetzung vor Ort in Straßburg ist nicht viel mehr als das bereits Zitierte bekannt. Laas eröffnete den Schlagabtausch mit seinem Artikel »Ueber teleologischen Kriticismus«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 8 (1884), S. 1–17, gleichzeitig der Eröffnungsartikel des Jahrganges 1884. Windelband reagierte mit der Replik »Ueber den teleologischen Kriticismus. Zur Abwehr«, in: Philosophische Monatshefte 20 (1884), Heft 2/3, S. 161–169.20 Während die Vierteljahrsschrift programmatisch – und gut positivistisch – für die Verabschiedung aller nicht legitimierten, der Philosophie historisch überlieferten Problemstellungen in die Psychologie bzw. »Völkerpsychologie« mit den Worten eintrat: »Jedes Problem hat einen bestimmten Inhalt, aber nicht jeder Probleminhalt ist 18 Rudolf Eisler: Philosophenlexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker. Berlin 1912, S. 371–372. 19 Ebd., S. 818. 20 Eine regelrechte Rezension lieferte innerhalb dieser Zeitschrift erst Johannes Witte (geb. 1846, seit 1876 an der Universität Bonn, 1885 Professor): Philosophische Monatshefte 20 (1884), Heft 10, S. 593–605, datiert: »Bonn, im April 1884«.
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durch die Erfahrung bestimmt und soweit für den Eintritt in die wissenschaftliche Behandlung legitimirt«, hielten sich die Monatshefte nicht weniger entschieden auf der Seite »einer Fortbildung der Philosophie«, jedoch mit der Spezifikation »als einer von der Erfahrung zwar, wie sich versteht nicht abgewendeten, aber dabei doch in sich selbständigen Vernunftwissenschaft«.21 Wenn dieser Standpunkt auch noch nicht ein »transzendentaler« genannt zu werden braucht, so wird doch deutlich, dass hier nach wie vor solche Probleme als philosophische in Geltung bleiben sollen, die sich innerhalb der Philosophie »von Generation zu Generation forterben«, wie es in der Vierteljahrschrift noch abschätzig hieß. Philosophie wird folglich, in Abwandlung eines Wortes von Friedrich Albert Lange, als Geschichte nicht ihrer populären, wohl aber ihrer fruchtbaren Irrtümer verstanden. Das ist im Prinzip bereits die Formel der problemgeschichtlichen Methode Windelbands: die Philosophien wechseln, ihre Probleme bleiben; als Fragen nach dem Sinn, dem Sein, den Werten und den Normen in Kulturphilosophie, Metaphysik, Wert-, Religions- und Rechtsphilosophie. Ernst Laas, eben im Begriff, sein Hauptwerk Idealismus und Positivismus (1879–1884) mit einem dritten Band abzuschließen, hebt für seine Auseinandersetzung mit der systematischen Exponierung seines jüngeren Kollegen hervor, dass es sich dabei um die »neueste Bemühung [handelt], in der grossen Streitfrage, die zwischen transcendentalphilosophischer (oder ,kritischer‹) und psychogenetischer Methode schwebt, für die erstere zu plaidiren«. Laas konzentriert sich auf Windelbands Erörterung »Kritische oder genetische Methode?«, weil Windelband »für diese kritischteleologische Methode eintreten« will. In Auszügen liest sich Laas Einlassung wie folgt: Der Positivist, welcher das Beweisen [. . . ] erst als ein sehr spätes Ergebniss biologischer und culturhistorischer Entwickelung hervortreten sieht [. . . ] wird immer für die historische Heranbildung 21 Beide Programmatiken zitiert nach Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 319 u. 397.
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des Allgemeingültigen den Zwang und die unbeugsame Starrheit der Thatsachen, die wir erleben müssen, wir mögen wollen oder nicht, mit in Anschlag bringen. Unser Idealist erleichtert sich, so viel ich begreife, seinen überzeugungsvollen Kampf für das teleologische Apriori ein wenig dadurch, dass er in der Discreditirung der genetischen Methode nur die psychologischen Motive und die zufälligen Coincidenzen der Resultate der inneren Entwickelungen spielen lässt [. . . ] der Idealist hat ausserdem übersehen, dass sich unsere Ansichten nicht aus blossen Gefühlsreizen und Phantasien entwickeln, sondern dass sie, soweit sie überhaupt relevant sind, dem starren Thatbestand der Empfindungen gerecht werden müssen. Und da ist es nun eine »glückliche Thatsache«, dass bei aller Variabilität der Empfindungen sich doch durch angemessene Reductionen aus ihnen ein gemeinschaftlicher Inbegriff von Objecten, die Natur oder »objective« Welt, herstellen lässt. [. . . ] Zerlegen wir die theoretischen Axiome in logische, mathematische und ontologische, so müssen wir zunächst in Beziehung auf die ersteren es bestreiten, dass teleologische Betrachtungen der angegebenen oder irgend welcher andern Art sie zu begründen vermögen, sowie dass sie irgend einer von aussen kommenden Begründung bedürftig wären. [. . . ] wer auf dieselbe Urtheilsvorlage, z. B. in Gestalt der Frage: Ist S wohl P? mit Ja und mit Nein entscheidet und nicht die Nothwendigkeit fühlt und anerkennt, dass nur entweder mit Ja oder mit Nein, mit einem von beiden aber unter Voraussetzung völliger Eindeutigkeit und Bestimmtheit der Frage geantwortet werden muss, der weiss nicht, was denken, urtheilen, folgern, schliessen, beweisen heisst und ist unfähig, irgend eine Begründung oder Theorie zu entwerfen, kann weder als Idealist noch als Positivist, weder im Verfolg genetischer noch kritischer Methode irgend eine Bedeutung oder Beachtung beanspruchen. [. . . ] Aber vielleicht liegt hier einer jener nothwendigen »Cirkel« vor, die in allen Wissenschaften vorkommen, und von denen unser Kantianer mit Lotze einschärft, dass man sie aber »reinlich begehen« solle. Wir glauben zunächst, dass daneben doch auch der Rath gut sei, sie nach Möglichkeit zu vermeiden und einzuschränken. Und da dürfte doch es zweifelhaft sein, ob es sich verlohnte, für der Art wirklich »selbstverständli-
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che« Sätze, wie: dass man in seinem Denken Quid pro quo’s und Widersprüche zu vermeiden habe, [. . . ] für sie lieber einen Cirkel zuzulassen, als zu gestehen, dass sie ihre Gewissheit in sich selbst tragen: insofern man nicht urtheilen und schliessen, überhaupt nicht »denken« kann, ohne sich an sie gebunden zu fühlen oder besser: zu wissen. Sie lassen sich natürlich nicht – wie unser Idealist bemerkt – durch Erfahrung begründen; sie haben es aber auch gar nicht nöthig; sie ruhen in sich selbst sicher genug. [. . . ] Prof. Windelband zieht es vor, sie durch den Wunsch nach Wahrheit zu begründen. Als ob nicht Wünsche auch chimärisch sein könnten! Und als ob die Logik mehr als nur die sogenannte formale, als nur eine hypothetische Wahrheit zu gewährleisten vermöchte. Für die materiale Wahrheit, für die Wahrheit der Prämissen ist natürlich erst recht etwas mehr nöthig als bequeme Wünsche. [. . . ] Ist in Beziehung auf die Giltigkeit logischer Axiome zwischen sogenannter kritischer und genetischer Methode kein wirklicher Streitfall, insofern beide sie voraussetzen müssen, aber auch als selbstverständlich voraussetzen können, so bleibt für die zweite gegenüber der ersten doch noch etwas Besonderes, nämlich ein Plus von Aufgabe, insofern sie auch in Betreff dieser selbst evidenten, weil leeren (und doch angesichts unserer Confusionen und Rabulistereien nützlichen, weil normativen) Sätze die Frage wegen ihrer psychologischen Möglichkeit stellt; wie es nämlich gekommen sei und habe kommen können, dass sich empfindende, fühlende, bewusste, erinnerungsfähige Wesen allmählich dahin entwickelt haben, sich durch die Bedingung alles Denkens, in Begriffen und Urtheilen etwas zu fixiren, bestimmt und einsinnig etwas auszusagen und festzuhalten, gebunden zu finden. Es bedarf keiner besonderen Weisheit, um zu sehen, dass für diese wie für jede andere Disciplin des Geistes die Macht der Thatsachen und der Erfolg das gewichtigste Momentum war und ist. Wären die Empfindungen noch variabler, noch rapider veränderlich, als sie sind, gingen sie schwerfälliger in Gruppen ein, widerstrebten sie stärker der Vergleichung: so hätte es wahrscheinlich noch länger gedauert und würde bei jedem Individuum selbst jetzt noch länger dauern, bis so viel Consistenz erzeugt wäre, um die logischen Momente S P M durch einen Syllogismus hin eindeu-
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tig festzuhalten und überhaupt zu urtheilen und nicht zugleich mit Einem Urtheil auch sein contradictorisches Gegentheil in sich zu beherbergen. Aber wie auch diese Zucht des Geistes entstanden sein mag, »selbstverständlich« denkt nur der richtig, der unter ihr steht.
Zu Beginn seiner Replik in der Zeitschrift Philosophische Monatshefte, die damit sogar noch das Eigenrecht von Laas’ Einwänden bestärkt, beteuert Windelband, dass er »bei Untersuchung der philosophischen Grundprobleme in meinen ›Präludien‹ [. . . ] den Empirismus ohne specielle Polemik gegen einzelne Vertreter desselben« der Kritik unterzogen habe. Er verwahrt sich gegen »Mißverständnisse«, die der Artikel seines starken Gegners Laas hervorrufen könnte bzw. von denen dieser ausgeht. Besonders verwahrt sich Windelband gegen die Zumutung, er trete als Teleologe im schlechten Sinne auf, ja, gar als Relativist und Pragmatist – -Ismen, gegen die Windelband seit den 1880er Jahren alle ihm zu Gebote stehende Rhetorik aufgeboten hat.22 Windelband reklamiert für sich und seine systematischen Interessen weiterhin den Titel des »kritischen oder transzendentalen«, in diesem Sinne »teleologischen Kritizismus«: In dieser Teleologie »soll die Geltung der Normen durch ihre Angemessenheit zu allgemeingültigen Zwecken einleuchtend gemacht werden«. Diese Selbstbezeichnung findet sich in philosophiehistorischen Handbüchern seitdem in der Formel eines »werttheoretischen Kritizismus« wieder.23 Am wichtigsten ist es Windelband, die Auffassung abzuweisen, »als hätte ich der kritisch-teleologischen Methode die Aufgabe gestellt, für die Normen, um deren Geltung es sich nach meiner 22 Vgl. zum frühen, womöglich »pragmatistischen« Windelband Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 15 u. S. 404–433, dagegen der spätere Windelband einschlägig in ders.: Die Philosophie im deutschen Geistesleben des XIX. Jahrhunderts. Fünf Vorlesungen. Tübingen 1909. 23 Vgl. Traugott Konstantin Oesterreich über Windelband in ders.: Die deutsche Philosophie des XIX. Jahrhunderts und der Gegenwart. 12. Aufl. von Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie 4. Teil. Berlin 1923, S. 449–452.
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Definition in der Philosophie handelt, einen Grund ausfindig zu machen, und als hätte ich diesen Grund in der Angemessenheit der Normen zur Erfüllung ›gewisser Wünsche‹ gesucht.« Windelband entgegnet (auszugsweise) im Weiteren: Diese Auffassung ist durchaus unrichtig und widerspricht dem Wortlaut ebenso wie dem Sinn meines Buches. Die Grundlage desselben bildet gerade die Ueberzeugung, dass es absolute Normen gibt, die man nicht ableiten noch beweisen, sondern nur aufsuchen und aufweisen kann. [. . . ] Die kritisch-teleologische Methode will daher die Normen nicht ableiten, sondern aufsuchen; nicht ihren Grund aufzeigen, sondern ihre Evidenz wirksam werden lassen: und die Aufweisung der teleologischen Bedeutung, welche die Normen für die Allgemeingültigkeit psychischer Functionen haben, ist nur ein Mittel der Verständigung, theils zur systematischen Darstellung, theils zur Ausscheidung des Falschen. Nichts weiter wird damit beabsichtigt, als das, was Kant eine transscendentale Deduction genannt hat: nicht eine objective Begründung, wohl aber eine subjective Vergewisserung. Ihr einziger Zweck ist der, dass durch die teleologische Besinnung ein Jeder sich die absolute Geltung der Normen zum Bewusstsein bringt. [. . . ] Die Absicht der kritisch-teleologischen Methode ist also die, die Ueberzeugung von der absoluten Geltung der Normen [. . . ] durch teleologische Besinnung hervorzurufen oder zu befestigen: und ich muss dagegen protestiren, dass mir die Absicht beigelegt wird, die Normen selbst durch unsere Wünsche zu begründen. [. . . ] Wenn er mich deshalb zum Schluss gefragt hat, »woraufhin« ich es wisse, dass es Zwecke gibt, die absolut gelten, so habe ich die Freude, unter den zahllosen Motiven für diese Ueberzeugung ihn nun auch an sich selbst und seine logischen Ansichten weisen zu dürfen. Solcher Zustimmung könnte ich mich freuen, wenn ich ihrer bedürfte: aber erfreulicher noch wäre mir, wenn dieselbe nicht in der Form der Polemik aufträte. Jeder Leser des Artikels aber muss den Eindruck gewinnen, als ob der Verfasser desselben, von der »beweisunbenöthigten« Würde der logischen Gesetze überzeugt, in mir die relativistische Ansicht bekämpfe, dass dieselben nur in gewissen menschlichen Wünschen
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begründet wären! [. . . ] Ausserdem aber ist jene Zustimmung mit dem Vorschlage verbunden, »den Streit über das Apriori erst bei den synthetischen Urtheilen zu beginnen«. Wenn dieser Vorschlag das Zugeständniss enthalten soll, dass die Apriorität der logischen Gesetze auch von Seiten des Empirismus anerkannt werde, so acceptire ich gerne dies Zugeständniss, an dessen Nothwendigkeit ich nie gezweifelt habe. Wenn das aber so formulirt wird, dass die Apriorität der logischen Sätze nur desshalb unbestreitbar sei, weil sie »analytisch« seien, so kann ich das letztere nicht zugeben. [. . . ] Dagegen muss ich in Betreff der erkenntnisstheoretischen Axiome (welche in dem Artikel als ontologisch bezeichnet werden) noch Einiges bemerken. Als Beispiel dafür habe ich den Causalitätssatz behandelt. Mein Kritiker fügt einige andere Sätze hinzu, gegen die ich nichts einzuwenden habe. Doch darf man nicht meinen, dass damit der Umkreis dieser Grundsätze erschöpft sei. In Lotze’s wie in Sigwart’s Logik sind eine grosse Anzahl dieser »Voraussetzungen« sehr glücklich analysirt, und vortreffliche Belehrung findet man darüber auch bei O. Liebmann, besonders neuerdings in dessen Schrift »Die Klimax der Theorien« p. 77 ff. Doch die Hauptsache ist mir für jetzt nicht sowohl die Vollständigkeit des Systems dieser Grundsätze, als vielmehr ihre principielle Behandlung. Wenn mir nun in dieser Hinsicht wieder entgegengehalten wird, dass diese Principien durchaus nicht »von vorn herein als solche wirksam gewesen« seien, so habe ich nur zu wiederholen, dass ich das nie behauptet habe; denn ich habe niemals Apriorität mit psychologischer Priorität confundirt. Ausdrücklich habe ich darauf hingewiesen, dass die »ewigen Wahrheiten« in der menschlichen Gattung wie im Individuum erst allmälig zum Bewusstsein gelangen: aber ich habe behauptet, dass dieser ihr psychogenetischer Process absolut nichts mit der philosophischen Frage nach ihrer normativen Geltung zu thun habe. Und gegen diesen »Cardinalgedanken« meines Buchs ist in dem besprochenen Artikel auch nicht der Versuch einer Widerlegung gemacht worden.
Man könnte der Ansicht sein, dass Laas »auf diese Weise sogar um seinen mindesten Lohn gebracht [wurde], denn er hätte
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erwarten dürfen, seiner Widerlegung des Apriorismus werde jedenfalls der Versuch von dessen Neubegründung folgen«24. Es muss jedoch ganz offenbleiben, wie diese Geschichte ausgegangen wäre, denn sie endet abrupt mit dem Tod von Ernst Laas am 25. 7. 1885. Die Gründe für die von Laas artikulierte Skepsis gegenüber der Vorstellung einer teleologisch vorgezeichneten Geschichte der menschlichen Erkenntnis sind nicht völlig von der Hand zu weisen. Die Behauptung einer transzendentalen »Funktionalität des Teleologischen« (Friedrich Schollmeyer) gerät an ihre Grenzen, wo eine an der Naturwissenschaft sich orientierende positive bzw. positivistische Philosophie alle Fragen, die sich weder empirisch noch analytisch stellen, als »Scheinprobleme« (im Sinne Moritz Schlicks und Rudolf Carnaps) ausscheiden kann. Es handelt sich hierbei folglich nicht so sehr um eine bloße Geschmacksfrage oder um einen Streit der Standpunkte oder gar um die Deutung der Philosophie Kants, die hier ausgefochten werden, als vielmehr um einen Hinweis auf zwei diametral entgegengesetzte implizite Anthropologien bzw. Theorien der Erkenntnis: Streben die Menschen entweder wie bei Windelband tatsächlich prinzipiell nach der Teilhabe an absolut geltenden Werten, die die subjektive Vernunft überschreiten? Oder sind die Menschen, wie Laas meint, eingelassen in einen intersubjektiv und ontologisch korrelierten genetischen Erfahrungszusammenhang, den zu überschreiten objektiv die Vernunft verbietet? Im Spätsommer 1885 wird Windelband zuletzt die volle Leitung des Straßburger Philosophischen Seminars übertragen.25 Zum Nachfolger von Laas wird Theobald Ziegler (1846–1918) bestimmt, laut Eisler Vertreter einer »Art Positivismus« ausgehend von einem Primat des Gefühls26, den nun Windelband seinerseits auf den Rang eines 2. Professors bzw. Philosophen drücken wollte, wie Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 387. Vgl. Carl Ledderhose an Windelband, Straßburg, 1. 8. 1885, Entwurf, a d br Strasbourg, 103 AL 887 (Acta der Kaiserlichen Universität in Straßburg, betreffend das philosophische Seminar 1873–1915), Bl. 55. 26 Eisler: Philosophenlexikon (1912), S. 854. 24
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aus den Korrespondenzen Windelbands z. B. mit Heinrich Rickert deutlich wird (bewahrt an der Universitätsbibliothek Heidelberg). Das aber ist eine andere Geschichte, die für das Vorliegende lediglich noch ein weiteres Licht auf Windelbands eigenes Machtbewusstsein wirft.27 Eine 2., vermehrte Auflage der Präludien erscheint erst 1903, ca. zwei Jahrzehnte nach dieser Episode. Sie enthält laut Vorwort: »die zehn Stücke der ersten in wesentlich unveränderter, nur hie und da stilistisch gefeilter Gestalt« sowie zusätzlich: »Aus Goethes Philosophie« (Rede 1899 aus Anlass des Straßburger Denkmals für den jungen Goethe) und: »Das Heilige« (Skizze zur Religionsphilosophie). Die weiteren Ausgaben bis zu Windelbands Tod 1915 erscheinen in vergleichsweise enger Folge: 3., vermehrte Auflage 1907 (Vorwort datiert auf »Heidelberg, im Mai 1907«); 4., vermehrte Auflage 1911 (Vorwort datiert auf »Heidelberg, im September 1911«), erstmals aufgeteilt in zwei Bände, mit verändertem Untertitel: »Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie«. 1915 erscheint die 5., wiederum vermehrte Auflage in zwei Bänden mit abermals verändertem Untertitel: »Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte«. Unveränderte Auflagen erscheinen noch nach Windelbands Tod 1919, 1921 und 1924. Danach wird es, sieht man von Nachdrucken einzelner Aufsätze (mit Abstand am häufigsten: »Geschichte und Naturwissenschaft«, Rektoratsrede 1894) und Reprints der Erstausgabe ab, ruhig um die Präludien. Der Aufsatz »Das Heilige« wird 1916 noch in den Rang einer Feldpostausgabe erhoben. Eine russische Übersetzung erschien 1904, als Windelband seine Lehrtätigkeit in Heidelberg, einem Mekka für Studenten aus Russland, bereits aufgenommen hatte. Eine ungarische Übersetzung erschien 1925, eine spanische 1949. Auf weitere internationale Ausstrahlung verweist eine 1915 auf Schwedisch erschienene Auswahl. 27 Vgl. dazu Bohr/Hartung: Forschungsgrundlagen Wilhelm Windelband. Ausgewählter Briefwechsel und Dokumente zu Leben und Werk. Hamburg 2020.
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1947 wird ein Teil der Präludien ins Italienische übersetzt. Es sind mehrere japanische Übersetzungen nachgewiesen. Einzelne Texte liegen seit 2002 auf Französisch und Serbisch vor. Eine englische Übersetzung der Rektoratsrede von 1894 existiert seit 1980.28 Die Aufnahme weiterer Texte in die Sammlung liest sich im Überblick wie folgt: – »Geschichte und Naturwissenschaft. Rede«. In: Das Stiftungsfest der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg am 1. Mai 1894. Strassburg: Universitätsbuchdruckerei Heitz (Heitz & Mündel) 1894, S. 15–41. – Separatdruck: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-WilhelmsUniversität Strassburg, gehalten am 1. Mai 1894. Strassburg: Heitz (Heitz & Mündel) 1894. – 2., unv. Aufl. Strassburg: Heitz (Heitz & Mündel) 1900 (Rectoratsreden der Universität Strassburg 1894). 27 S. – 3., unv. Aufl. Strassburg: Heitz (Heitz & Mündel) 1904 (Rektoratsreden der Universität Strassburg 1894). 27 S. [Mit orthographisch geändertem Titel: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rektorats der KaiserWilhelms-Universität Strassburg, gehalten am 1. Mai 1894.] – In: Präludien seit der 3. Aufl. 1907. – »Aus Goethes Philosophie«. In: Straßburger Goethevorträge. Zum Besten des für Straßburg geplanten Denkmals des jungen Goethe. Straßburg: Trübner 1899, S. 87–114. – In: Dass. 2., unv. Abdruck Straßburg: Trübner 1899, S. 87–114. – In: Präludien seit 2. Aufl. 1903. – »Das Heilige. Skizze zur Religionsphilosophie (1902)«. In: Präludien seit der 2. Aufl. 1903. – Dass. als: Feldpostausgabe aus den »Präludien«. Tübingen: Mohr/Siebeck 1916. 38 S., paginiert S. 295–332. – »Goethes Faust und die Philosophie der Renaissance (1904)«. In: Präludien seit der 3. Aufl. 1907.
28 Weitere Texte Windelbands in englischer Übersetzung finden sich in Sebastian Luft (Hg.): The Neo-Kantian Reader. New York 2015.
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– »Nach hundert Jahren«. In: Kant-Studien 9 (1904), S. 5–20. – In: Zu Kants Gedächtnis. Zwölf Festgaben zu seinem 100jährigen Todestage. Hg. v. H. Vaihinger u. B. Bauch. Berlin: Reuther & Reichard 1904, S. 5–20. – In: Präludien seit der 4. Aufl. 1911. – »Schillers transscendentaler Idealismus«. In: Kant-Studien 10 (1905), S. 398–411. – In: Schiller als Philosoph und seine Beziehungen zu Kant. Festgabe der »Kantstudien«. Hg. v. H. Vaihinger und B. Bauch. Berlin: Reuther & Reichard 1906, S. 150– 163. – In: Präludien seit der 4. Aufl. 1911. – »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«. [Vortrag 1907] – In: Präludien seit der 3. Aufl. 1907. – »Bildungsschichten und Kultureinheit«. In: Die Zeit (Wien), Nr. 2102 vom 31. 7. 1908, Morgenblatt, S. 1–3. – In: Das humanistische Gymnasium 20 (1909), Heft 1, S. 25–28. – Auszüge unter der Rubrik »Rundschau. Zur Sachlage 1«. In: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 5 (1909), Heft 7, S. 232. – In: Präludien seit der 4. Aufl. 1911. – »Fichtes Geschichtsphilosophie. Vortrag, gehalten zum Besten der Errichtung eines Fichte-Denkmals in Berlin am 16. März 1908 in der Aula der Berliner Universität«. In: Internationale Wochenschrift für Kunst, Wissenschaft und Technik vom 18. 4. 1908, Sp. 481–492. – In: Präludien seit der 5. Aufl. 1915. – »Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben«. In: Mitteilungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums. In zwanglosen Heften. Heft 7. Wien/Leipzig: Fromme 1908, S. 22–40; eingebettet in einen ausführlichen Bericht über den Vortragsabend. – Sonderdruck mit dem Titelzusatz: »Vortrag gehalten in der 2. ordentlichen Vereinsversammlung des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Wien am 29. Mai 1908«; aus: Mitteilungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Wien, 7. Heft. Wien/Leipzig: Fromme 1908. 21 S. – In: Das humanistische Gymnasium 19 (1908), S. 145–159. – In: Präludien seit der 4. Aufl. 1911. – Die Erneuerung des Hegelianismus. Festrede in der Sitzung der Gesamtakademie am 25. April 1910. Heidelberg: Winter 1910 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaf-
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ten Stiftung Heinrich Lanz. Philosophisch-historische Klasse. Jg. 1910, Abh. 10). 15 S. – In: Präludien seit der 4. Aufl. 1911. – »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«. In: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 1 (1910), Heft 2, S. 186–196. – Sonderdruck. »Nicht im Buchhandel.« – In: Präludien seit 5. Aufl. 1915. – »Über Mitleid und Mitfreude«. [Vortrag in Karlsruhe am 28. 11. 191129] – In: Präludien seit der 5. Aufl. 1915. – »Von der Mystik unserer Zeit«. In: Neue Freie Presse, Nr. 17056 v. Freitag, 16. 2. 1912, Morgenblatt, S. 1–3. – In: Präludien seit der 4. Aufl. 1911. Für die gesamte Publikationsgeschichte ist festzuhalten, dass nie ein Text ausgeschieden, sondern die Sammlung stets erweitert wurde, wie Windelband im Vorwort und einer Selbstanzeige zur 4. Auflage mitteilt: »Damit ist der Umfang so angewachsen, daß das Werk in zwei handliche Bände geteilt wurde, von denen der erste die mehr historischen, der zweite die mehr systematischen Stücke umfaßt.«30 Das Jahr 1902 sieht Windelband bereits als erfolgreichen und auflagenstarken Autor des Verlages Mohr/Siebeck, in dem auch sein regelmäßig aktualisiertes Lehrbuch der Geschichte der Philosophie pünktlich zu den jeweiligen Wintersemestern erscheint. Paul Siebeck (1855–1920) nahm persönlich Anteil an der Erweiterung der Sammlung und machte selbst Vorschläge, wie ein Schreiben Windelbands vom 4. 8. 1902 zeigt: Ihrem Wunsch, den Goethe-Vortrag in die neue Auflage der Präludien aufzunehmen, gebe ich gern Folge. [. . . ] Unter diesen Umständen würde ich allerdings dafür sein, daß der Neudruck gleich in Angriff genommen würde. [. . . ] Die Beschleunigung wäre mir 29 Vgl. Windelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 30. 11. 1911, UB Heidelberg (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA224_93). 30 Vgl. Die Philosophie der Gegenwart 3. Literatur 1911. Hg. v. A. Ruge. Heidelberg 1913, unter der Nr. 888.
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persönlich nicht unerwünscht. Denn es ist zwar durchaus unrichtig, was die Zeitungen von mir fabeln, ich hätte einen Ruf nach Heidelberg erhalten und gar schon angenommen: aber richtig ist, wie ich Ihnen vertraulich mitteilen will, daß so etwas auf dem Wege ist. Für den Fall somit, der doch nicht absolut ausgeschlossen wäre, daß nämlich zu Ostern mir eine Unterhandlung bevorstünde, würde ich gern mit den litterarischen Dingen vorher so weit wie möglich kommen; und zu diesem Zwecke nutze ich gern jetzt schon die Zeit zum Druck des Druckbaren aus. Aber dies, bitte, unter uns.31
Dahinter stand somit ein Karrierekalkül: Die Präludien dienten dazu, einmal mehr die Eignung Windelbands für einen so wichtigen philosophischen Katheder wie den Heidelberger zu untermauern. Außerdem bedeuteten die Präludien bares Geld: Das Honorar betrug 1200 Mark für eine Auflage von 1200 Exemplaren.32 Schließlich wird die »Heidelberger Angelegenheit [. . . ] Ernst«.33 Am 2. 11. 1902 bedankte sich Windelband für die erhaltenen Belegexemplare, bat um die Zahlung der letzten Rate des Honorars Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488. Das entsprach immerhin einem zusätzlichen Fünftel des Straßburger Professoren-Jahresgehaltes von Windelband (5400 Mark plus 600 Mark Familienzulage, vgl. das Protokoll der Übereinkunft zwischen dem Kurator der Universität Straßburg, Carl Ledderhose und Windelband vom 29. 5. 1882, Abschrift in: Archives Departementales Bas-Rhin Strasbourg, 103 AL 260, Bl. 67). Zum Vergleich: Windelbands letztes Jahresgehalt in Heidelberg betrug 9400 Mark (Akten der Witwenversorgung im Generallandesarchiv Karlsruhe, Abt. 466–22, Nr. 13586). Die Hörergelder waren vergleichsweise gering: im SS 1902 und Wintersemester 1902/03 betrugen sie für Windelband zusammen gerade einmal 33 Mark (vgl. die via https://gallica.bnf.fr abrufbaren reproduzierten Exemplare der Straßburger Vorlesungsverzeichnisse aus der Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg, die sich zuvor im Bestand der Kaiserlichen Universitätskasse befanden. Sie weisen mittels handschriftlicher Einträge die eingenommenen Hörergelder für die gebührenpflichtigen Vorlesungen nach), man bedenke aber die an den absoluten Zahlen zu erahnende Kaufkraft! 33 Vgl. Windelband an Paul Siebeck, Straßburg, 3. 9. 1902, Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488. 31 32
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und legte eine Adressliste für den Versand von Freiexemplaren an Kollegen, Bekannte und Familienangehörige bei. Vier Jahre später beginnen die Arbeiten an der dritten Auflage. Windelband schreibt am 5. 10. 1906: Mit bestem Danke für Ihr freundliches Schreiben spreche ich Ihnen meine Freude darüber aus, dass der Satz des Lehrbuchs schon in Angriff genommen ist, – und zweitens darüber, dass auch die Praeludien einer neuen Auflage entgegenreifen. Es ist mir bei allem sonstigen Korrekturlesen, das mir für die nächste Zeit bevorsteht, ganz recht, wenn die Praeludien bis zum Frühjahr Zeit haben. Es wird dann auch zu erwägen sein, ob wir sie vermehren. Ein paar kleine Sachen, Vorträge über Goethe – Faust, Wahlverwandtschaften – und auch Theoretisches, z. B. Psychologie in Theorie und Praxis hätte ich zur Hand. Aber der Band ist eigentlich gross genug; gerade noch eben handlich. Würde er stark vermehrt, so müsste man wohl, wie bei Sigwart’s kleinen Schriften an Zweiteilung denken.34
Bemerkenswert ist der Hinweis auf die Vorbildfunktion von Christoph Sigwart: Kleine Schriften. 2 Bde. Freiburg i. B.: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1881, obwohl Siebeck für dieses Mal noch nicht dem Wunsch Windelbands nach einer Teilung in zwei Bände entsprach. Für die vierte Auflage wirbt Siebeck seinerseits Texte Windelbands ein: »Hochverehrter Herr Geheimrat, eben lese ich, daß Sie Ende October hier [in München, dem Abfassungsort dieses Schreibens] über ›Weltanschauung‹ sprechen.35 Ich melde mich Windelband an Siebeck, Heidelberg, 5. 10. 1906, NL 488. Und zwar am 26. 10. 1909 in München, Kaimsaal (Tonhalle): Vortrag im Rahmen der Reihe Kultur in ihren Erscheinungsformen, veranstaltet vom Neuen Verein, zum Thema Weltanschauung. Vgl. z. B. die Ankündigung in: Salzburger Volksblatt, Nr. 223 vom 1. 10. 1909, S. 8: »Das Bild der ganzen Veranstaltung stellt sich folgendermaßen dar: 1. Weltanschauung (Dienstag, den 26. Oktober). Als Redner über dieses Thema wurde der Rektor der Heidelberger Universität, Geheimrat Prof. Dr. Wilhelm Windelband, gewonnen, einer der prominentesten deutschen Philosophen und Erkenntnistheoretiker, der durch seine grundlegenden Werke psychologischen und geschichtsphilosophischen Inhalts am meisten dazu berufen 34 35
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ganz gehorsamst zur Verlagsübernahme des Vortrags an, falls Sie ihn drucken lassen wollen.36 Oder soll er später in die Präludien hineinkommen?«37 Am 5. 5. 1910 meldet sich Windelband zur Vorbereitung der vierten Auflage38, die erstmals in zwei Bände aufgeteilt wird. Am 30. 5. 1911 sind die Präludien in den vorhergehenden Auflagen vergriffen39, so dass die neue Auflage in Angriff genommen werden kann. Am 2. 8. 1911 geht das Manuskript an den Verlag.40 Am 5. 10. 1911 ist der Druck abgeschlossen und Paul Siebeck übersendet den Verlagsvertrag u. a. über 2000 Mark Honorar.41 Knapp zwei Jahre später geht es Windelband erneut um die Präludien, diesmal für ihre fünfte Auflage, außerdem geht es um erste Anfragen nach Übersetzungen.42 Ab April 1914 wird es konkret: erscheint, über die religiösen und philosophischen Faktoren, aus denen in der Kulturmenschheit die Weltanschauung resultiert, zu urteilen. Als weitere Vortragende waren vorgesehen: Wilhelm Ostwald (Wissenschaften, 16. 11. 1909), Friedrich Naumann (Politik, 30. 11. 1909), Werner Sombart (Kapitalismus, 14. 12. 1909), Ernst zu Reventlov (Krieg, 4. 1. 1910), Harry Graf Kessler (Kunst, 15. 2. 1910), Georg Simmel (Gesellschaft, 1. 3. 1910).« 36 Windelbands Münchener Vortrag erschien, nach zwischenzeitlichem Arbeitstitel »Ueber Weltanschauung«, in Heft 1 der Zeitschrift Logos u. d. T. »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus« und ging in die 5. Auflage der Präludien ein. 37 Paul Siebeck an Windelband, München, 8. 10. 1909. Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488. 38 Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488. 39 Siebeck an Windelband, Tübingen, 30. 5. 1911, Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488 A 0320,5. Verkaufszahlen über die Präludien sind nur spärlich überliefert, vgl. die Aufstellung über die abgesetzten Exemplare bis 6. 8. 1906: 1902: 121; 1903: 325; 1904: 276; 1905: 219; 1906: 178. Die 3. Aufl. wurde laut des 2. Nachtrags zum Verlagsvertrag vom 5. 6. 1907 in 1200 Exemplaren gedruckt (Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488 B 1, 6, M. 1). 40 Windelband an Siebeck, Heidelberg, 2. 8. 1911, Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488 A 0320,5. 41 Siebeck an Windelband, Tübingen, 5. 10. 1911, Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488 A 0320,5. 42 Windelband an Siebeck, Villingen, 28. 8. 1913, Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488 A 0354,2.
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Eine Frage wird nur sein, ob wir nicht diesmal den Titel abkürzen: »Praeludien. Aufsätze und Reden von W. W.« Der Zusatz »zur Einleitung in die Philosophie« traf für die erste oder die ersten Auflagen zu; aber nicht mehr für die letzten und für die neue, indem allmählich allerlei aufgenommen ist, was man nicht mehr als zur Einleitung gehörig bezeichnen darf. Und nachdem ich eine eigne Einleitung in die Ph[ilosophie] geschrieben habe, ist die Aufgabe der Praeludien überhaupt nicht mehr die, als Einleitung zu dienen. Sollte Ihnen aber die Abkürzung mißfallen, so würde ich vorschlagen: »Praeludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte.« Was meinen Sie dazu?43
Der Untertitel wurde wie gewünscht verändert. Windelband hatte sich zwischenzeitlich mit seinem eigenen Versuch, eine Summa seiner systematischen Interessen zu ziehen, selbst Konkurrenz gemacht, vgl. Windelband: Einleitung in die Philosophie. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1914 (Grundriss der philosophischen Wissenschaften. Hg. v. Fritz Medicus, [Bd. 1]). Dieses Buch hat nicht nur den Titel, sondern auch die interimistische Funktion der Sammlung Präludien für Windelband abgelöst, wie das Vorwort zur Einleitung zeigt, wo es S. V–VI heißt (wobei offen bleiben muss, ob im ersten Satz ein »nicht« nach dem »soll« fehlt): Die Einleitung in die Philosophie, die ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, soll die Gesamtheit der philosophischen Probleme und der Richtungen ihrer Lösungsversuche aus einem einheitlichen Grundgedanken entwickeln: sie sieht ihre Aufgabe lediglich in der Anregung zu lebendigem Mitdenken der großen Rätsel des Lebens. Aber sie will auch nicht als Einführung in ein besonderes System der Philosophie gelten, sondern den weitesten Blick auf alle Möglichkeiten der gedanklichen Entscheidungen eröffnen. Daß dieser Darstellung eine bestimmte eigene Stellungnahme des Verfassers zugrunde liegt, versteht sich von selbst und wird von dem Kundigen 43 Windelband an Siebeck, Heidelberg, 11. 4. 1914, Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488 A 0362,3.
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leicht herausgefühlt werden: aber sie soll sich nicht vordrängen und die Gerechtigkeit in der Abwägung der verschiedenen Denkmotive nicht trüben.
Windelband rückt seine Einleitung in komplementäre Nähe zu seinem Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, um deutlich zu machen, »in welchem Sinne die Geschichte der Philosophie [. . . ] die Werkstätte der philosophischen Problembildung und die Vorbereitung zum System sein soll«, gerade weil sie keine Geschichte der Philosophen, sondern eben eine Geschichte der Philosophie sein will. Die Windelband’sche Philosophiegeschichtsschreibung (wie überhaupt die neukantianische im Ganzen) ist nicht naiv, sondern verschreibt sich dem Paradigma der Problemgeschichte, die bei aller Kritik seitens rezeptionsgeschichtlicher, wirkungsgeschichtlicher und anderer Methoden für die philosophische Historiographie stilbildend geblieben ist. Mit neuem Schwung, nicht zuletzt vielleicht, weil die Präludien damit von ihrem ursprünglichen Anspruch entlastet sind, schreibt Windelband am 18. 5. 1914 an Siebeck: »Von nun an bin ich mit jeder Beschleunigung des Satzes durchaus einverstanden; ich habe jetzt freie Bahn, habe keine besondre Arbeit vor mir und kann deshalb die Korrektur, zu der ja kein Nachschlagen etc. erforderlich ist und die auch fast lauter oft durchgefeilte Texte betrifft, schnell erledigen; es wird doch wohl wünschenswert sein, dass die neue Auflage noch bald nach Pfingsten hinausgeht.«44 Der Verleger bremst die Erwartungen, hat aber bereits einen Vorschlag für das Honorar: »Mit der neuen Auflage der Präludien eilt es noch nicht so sehr, dass sie schon bald nach Pfingsten erscheinen müsste. Wohl aber sollten wir über die Verlagsbedingungen der 5. Auflage uns jetzt einigen. Ich möchte eine Auflagenhöhe von 1500 Exemplaren vorschlagen. Für die 4. Auflage von 1200 Exemplaren wurde ein Pauschalhonorar von Mk. 2000.– vereinbart. Für die 5. Auflage von 1500 Exemplaren könnte ich Ihnen ein Pauschalho-
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norar von Mk. 2750.– anbieten. Darf ich Sie bitten, sich zu diesem Vorschlage zu äussern?«45 Windelband stimmt zu, doch auch die Präludien werden von den Ereignissen des Jahres überrollt. Am 13. 8. 1914 schreibt er sichtlich verunsichert an Siebeck und mit selten privaten Anklängen: Hochgeehrter Herr Doctor, In der bangen Stille, die zwischen der glänzenden Abwicklung unsres Aufmarsches und dem Beginn grösserer Aktionen eingetreten ist, darf man wohl aufatmend auch um geringere Dinge fragen, ich z. B. nach dem Schicksal meiner »Praeludien«. [. . . ] Was ist nun Ihre Absicht mit der Neuauflage der Praeludien? ich habe mir die Sistierung des Drucks des zweiten Bandes im Juli so gedacht, dass Sie das Werk im Sommer auszugeben für zu spät hielten und es erst für den Herbst in Aussicht nahmen. Was aber nun? ich möchte doch wenigstens auf Anfragen antworten und mich überhaupt damit einrichten können. Wenn Sie also Zeit fänden, mir ein kurzes Wort darüber zu schreiben, wäre ich dankbar. Vielleicht liessen Sie auch ein Wort darüber einfliessen, wie sich in dieser grossen, ernsten Zeit die Verhältnisse Ihrer Familie gestalten: auch Ihre Söhne werden ins Feld ziehen! Mein ältester46 ist Adjutant der 3. Pionier-Inspection, also vorerst nicht in der Front; er bleibt noch in Strassburg. Der jüngere47, der sich eben als Privatdozent für neure Geschichte hier habilitiert hat, ist militäruntauglich und hat hier auf dem Rathause und in der Bürgerwehr tags und nachts genug zu tun. Mögen Sie vor allem besondern Leid bewahrt bleiben und möge über unserm Vaterlande ein gnädiges Geschick walten! In treuer Gesinnung der Ihrige W Windelband.48
45 Siebeck an Windelband, Tübingen, 29. 5. 1914, Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488 A 0362,3. 46 Sigfrid Windelband (1883–1914), gefallen bei Ypern (beerdigt in Comines), vgl. die Todesanzeige vom 28. 11. 1914 (Empfangsdatum Siebecks), Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488 A 0362,3. 47 Wolfgang Windelband (1886–1945). 48 Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488 A 0362,3.
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Siebeck antwortet am 15. 8. 1914: Mit den »Präludien« steht es so. Wie ich Ihnen schon am 29. Mai schrieb, hat es sich herausgestellt, dass es mit der Herstellung der neuen Auflage nicht so sehr eilt. Es wurde zunächst berechnet, dass die Vorräte für das Sommer-Semester noch gut ausreichen, und jetzt zeigt sich, dass infolge des Krieges leider auch fürs Winter-Semester der Bedarf noch gedeckt sein dürfte. Es sind nämlich noch vorrätig von Band I 116, von Band II 112 Exemplare. Trotzdem habe ich angeordnet, dass die neue Auflage vollends ausgedruckt wird, soweit das dazu erforderliche Papier nach Leipzig49 transportiert war. Das übrige hängt davon ab, wann wieder Güterzüge fahren. An die Versendung der neuen Auflage wäre, auch wenn die alte jetzt vergriffen wäre, während der Kriegswirren nicht zu denken. Es stockt, vorerst wenigstens, aller und jeder Verkehr auf dem Gebiete des wissenschaftlichen Verlags. Ich werde also die neue Auflage, so gut es geht, zu Ende drucken lassen und es entsteht nun bloss die Frage, ob sie mit der Jahreszahl 1914 gedruckt werden kann. Ich glaube, wir werden sie mit 1915 drucken müssen. Darf ich Sie bitten, sich dazu zu äussern? Der Krieg, von dem man schon seit langer Zeit sprach, kam schließlich doch so unerwartet, dass eine ganze grosse Anzahl von Werken meines Verlages, die sich im Druck befinden, aufs schwerste davon betroffen wurde. Das ist ja aber zu tragen und muss getragen werden. Nun spielt eben die Kunst des Sicheinteilens eine Rolle, damit die Herstellung, so gut als möglich, zu Ende geführt und namentlich auch das ganz grosse Personal über Wasser gehalten werden kann. Sollte es Ihnen ungelegen sein, dass die Fälligkeit Ihres Honorars sich länger hinzieht, so bin ich in der Lage und gern bereit, Ihnen eine à Conto-Zahlung zuzusagen. Von meinen vier Söhnen50 stehen drei im Feld, auch der Heidelberger
Dem Sitz der Druckerei Oscar Brandstetter. Oskar Siebeck (1880–1936), Richard Siebeck (1883–1965), Robert Siebeck (1885–1914), Werner Siebeck (1891–1934) (Neue Deutsche Biographie NDB). 49 50
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Mediziner51 ist mit dem württembergischen Landwehr-Pionier-Bataillon als Bataillonsarzt ausgerückt. Mein ältester Sohn dürfte in der Nähe von Metz stehen und der dritte liegt zur Zeit in Neu-Breisach, wo er ein ganz interessantes Kommando bekommen hat. Mein jüngster Sohn ist infolge eines Nierenleidens, das vom Scharlach zurückgeblieben ist, nicht felddiensttauglich. Von Herzen erwidere ich Ihren Wunsch, dass wir vor besonderem Leid52 bewahrt bleiben und unserem tapferen Heer der Sieg verliehen sein möge. In alter Verehrung Ihr P. Siebeck.53
Dabei blieb es: Die 5. Auflage der Präludien erschien Ende 1914 mit der eingedruckten Jahreszahl 1915 als die letzte von Windelband selbst verantwortete Auflage. Datierung des Vorworts: »Heidelberg, im Juni 1914.« Das Erscheinen der 5. Auflage ist gemeldet in: Deutsche Literaturzeitung, Nr. 4 vom 23. 1. 1915.
51 Richard Siebeck, 1912 in Heidelberg für innere Medizin habilitiert, 1914–1918 im Lazarettdienst bei Sedan (NDB). 52 Vgl. Siebeck an Georg Mehlis vom 31. 8. 1915: »Dieser furchtbare Krieg, dessen Ende wir ja heute noch nicht absehen können, hat auch in meiner Familie ein schmerzhaftes Opfer gefordert. Mein dritter Sohn [Robert Siebeck], der Musiklehrer in Bielefeld war, ist am 2. September v. J. in den Vogesen gefallen. Mein ältester Sohn [Oskar Siebeck] wurde gerade jetzt vor einem Jahr am Kiefer verwundet und ist leider von seiner Verwundung noch nicht wieder hergestellt. Zur Zeit arbeitet er in der Presseabteilung des Grossen Generalstabs in Berlin. Mein zweiter Sohn [Richard Siebeck], der in Heidelberg Assistent und Privatdozent ist, ist zur Zeit an einem Seuchenlazarett in der Nähe von Stenay. Mein jüngster Sohn [Werner Siebeck] , der militärfrei ist, arbeitet zu meiner grossen Freude bei mir in meinem Geschäft« (zitiert nach: Briefe und Dokumente zur Geschichte der Zeitschrift Logos. Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Klaus Christian Köhnke, NL 330/3/1/5, Ausdruck vom 1. 3. 2012, S. 98– 100). 53 Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488 A 0362,3.
Überblick über die Texte und Hauptthemen
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3 Überblick über die Texte und Hauptthemen
Es ist im Rahmen einer Einleitung sicher nicht angebracht, jeden der Aufsätze einzeln zu kommentieren und zusammenzufassen. Es scheint den Herausgebern sinnvoll, die Hauptthemen zu bündeln und vorzustellen, und zwar mit Fokus auf den Haupttexten der Sammlung, die herausstechen, sowie im Kontext mit den thematisch verwandten weiteren Texten. Auf diese Weise kommen ausführlich oder implizit alle hier vereinten Texte zur Sprache. Kritisch ist festzustellen: Bedenkt man, dass Windelband mit dem Textkorpus im Ganzen einen systematischen Anspruch verfolgte und dass die Systematik derjenigen Kants folgte, dann fällt es schwer, alle Aufsätze säuberlich in die Themenkomplexe »theoretische Philosophie«, »praktische Philosophie« und »Ästhetik« einzuteilen. Eindeutig der theoretischen Philosophie fallen jeweils die ersten fünf Texte von Band I und II zu, also der Löwenanteil der Aufsätze. Der praktischen Philosophie sind allenfalls die Texte »Vom Prinzip der Moral« (1883) und »Über Mitleid und Mitfreude« (1891) direkt zuzurechnen, die auch beide im Anschluss aneinander abgedruckt sind. Der Rest der Texte (immerhin sieben verbleibende in Band I und sechs in Band II) können als weltanschaulich geleitete Studien zum deutschen Geistesleben bezeichnet werden – wenn man von Kant absieht, zu Goethe, Schiller, Hölderlin, Fichte und Hegel. Womöglich zählten diese Abhandlungen für Windelband zumindest zum Teil zur Ästhetik, die er ausdrücklich als philosophische Disziplin auffasste und nicht als empirische Betrachtung ästhetischer Werke. Im Kern ist der Gedanke des Werts, der ein Zentralbegriff des südwestdeutschen Neukantianismus ist, schließlich eine ästhetische Kategorie.54 Nicht ganz unter diese drei Komplexe fallen Aufsätze zu »Pessimismus und Wissenschaft« (1876) und »Bildungsschichten und Kultureinheit« (1908), die sich relativ klar und auch ausschließ54 Vgl. die »Meditation« Sub specie aeternitatis, die diesen Gedanken nochmals zum Abschluss des Bandes mit rhetorischer Prägnanz hervorhebt.
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lich auf den deutschen (und z. T. den österreichischen) Kontext beziehen. Schließlich finden sich in den Präludien auch Texte zur Religionsphilosophie, hierzu gehören etwa Texte wie »Die Mystik unserer Zeit« von 1910, »Das Heilige (Skizze zur Religionsphilosophie)« von 1902 und »Sub specie aeternitatis (eine Meditation)« von 1883. Es fällt schwer, diese Texte als direkt in die kantischen Rubriken passend zu verstehen; eher liegt es einer distanzierten Lektüre nahe, eine behauptete übergreifende Systematik dem Wunschdenken ihres Autors zuzuschreiben. Dies tut den Texten selbst keinen Abbruch; es heißt aber auch, dass ein heutiger Leser an die Texte unbefangener und unsystematischer herangehen kann, als es Windelband selbst intendiert haben könnte. Mag der Neukantianer den Systemzwang geradezu als eine Zwangsjacke empfunden haben (ohne dies freilich zugeben zu dürfen), ist es nicht nur erlaubt, sondern vielleicht sogar geboten, dass eine erneute Lektüre über ein Jahrhundert später diesen Zwang abwirft.55
3.1 Theoretische Philosophie: Zwischen Erkenntnistheorie und Kulturphilosophie
Zunächst fällt auf, dass die den Themen der theoretischen Philosophie zufallenden Aufsätze aus Windelbands früher Schaffenszeit stammen, also aus seiner Freiburger, dann Straßburger Zeit (der Ort seines längsten Wirkens), und zwar aus der relativ engen Zeitspanne zwischen 1877 und 1883, wenn man einmal den KantAufsatz »Nach hundert Jahren« (zum hundertsten Todestag, 1891) und die berühmte Rektoratsrede »Geschichte und Naturwissenschaft« von 1894 abzieht. Die spätesten Texte sind von 1910, aus 55 Vgl. als neueste Gesamtdarstellungen der Philosophie Windelbands neben den bereits erwähnten Forschungsgrundlagen (Bohr/Hartung) den hilfreichen Gesamtüberblick von Katarina Kinzel: »Wilhelm Windelband«. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2020 Edition), hg. v. Edward N. Zalta, https://plato.stanford.edu/archives/sum2020/entries/ wilhelm-windelband (19. 6. 2020).
Überblick über die Texte und Hauptthemen
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der Heidelberger Zeit und nicht zuletzt als stolze Manifestationen der u. a. mit Windelbands Hilfe neugegründeten Heidelberger Akademie der Wissenschaften (1909) gedacht (»Die Erneuerung des Hegelianismus«). In dieser Zeit stand der Gründungsvater des »südwestdeutschen« oder »werttheoretischen Neukantianismus« auf dem Höhepunkt seines Ruhms.56 Den Auftakt macht die grundsätzliche Abhandlung »Was ist Philosophie?« über Begriff und Geschichte der Philosophie von 1882, die auch als Manifest des Neukantianismus Windelband’scher Prägung gelesen werden kann.57 Hier zeigt Windelband die ganze Breite seines philosophiehistorischen Wissens, einen Bogen schlagend von den griechischen Anfängen bis hin zur Gegenwart. In diesem autoritativen, umfangreichen Aufsatz kommt Windelbands philosophische Position im Ganzen zum Ausdruck, anders gesagt: Hier wird Windelbands spezifische Form seines Neukantianismus explizit. Auch klingen Themen an, die im Folgenden in Variationen moduliert wieder auftauchen, so dass es sich lohnt, die Systematik dieses reichhaltigen Textes zu entfalten. Ausgangspunkt für die »allgemeinstmögliche« Frage, was Philosophie sei, ist Windelbands Feststellung der Relativität der verschiedenen philosophischen Systeme und Philosopheme in der Welt (nicht nur der westlichen), die keine allgemeine Definition der Philosophie zuzulassen scheint. Weder in der Wahl der Themen noch in der methodischen Vorgehensart ist in der Geschichte der Philosophie etwas Einheitliches nachweisbar, und dies gilt 56 Zu diesem Ruhm trug zweifellos auch der von ihm organisierte III. Internationale Kongress für Philosophie bei, der im September 1908 stattfand. Allerdings muss man im Auge behalten, dass Windelband bereits in seiner Straßburger Zeit maximalen Karriereerfolg hatte. 57 Überhaupt findet sich in den Präludien keine explizite Auseinandersetzung mit der Marburger Schule und ihren Vertretern (v. a. Hermann Cohen und Paul Natorp). Dies könnte daran liegen, dass in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts noch keine ausdrückliche Rede von »Marburger Schule« oder »Marburger Neukantianismus« war und so das entsprechende »Lagerdenken« mit der damit einhergehenden Konkurrenz (v. a. unter den Schülern) noch nicht – wie später durchaus – entwickelt war.
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auch für Windelbands Zeit. Auch die noch sehr oberflächliche Bestimmung der Philosophie als Wissenschaft mag sich zwar durch die Geschichte der westlichen Philosophie seit den Griechen ziehen, allein was der Begriff »Wissenschaft« jeweils bedeutet, ist alles andere als durchgängig identisch, auch dann nicht, wenn sich die Aufgabe der Philosophie in den Augen vieler maßgeblicher Philosophen in der Neuzeit in eine Theorie der Wissenschaften, in eine Wissenschafts-Lehre verwandelt. Die »wichtigste Wandlung« in der Geschichte der europäischen Philosophie tritt allerdings mit Kant ein, der als Erster psychologisch-genetische Erklärungen des Entstehens von Wissen von »echten« philosophischen Fragen trennt. Die Unterscheidung von »quid-facti?«-Fragen (Woher weiß ich etwas? Durch welche Prozesse?) wird von Kant als Erstem von der Frage nach dem »quid iuris?« getrennt, also der Frage nach der Legitimität von Wissen und der Rechtmäßigkeit von Wissensansprüchen. Unterschieden wird zwischen dem, was gewusst wird (was Wissen in individuellen Menschen oder sogar Völkern ist), und dem, was Wissen sein soll. Es geht demnach in der Philosophie nicht um die Erklärung der Genese von Wissen, sondern um kritische Untersuchung angeblich legitimer Wissensansprüche, also nicht nach dem, was ist, sondern was sein soll. Die Frage nach dem »Seinsollen« fragt nach der Geltung bzw. dem Wert von wahren Aussagen. Die Philosophie handelt somit von »allgemeingiltigen Werten« bzw. von »Allgemeingiltigkeit« in genere. Windelband definiert die Philosophie geradezu als die »kritische Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten« (32 f.58), also dem, was sein soll, auch wenn es bisher noch nicht so ist (und nie sein wird). Während es in den Wissenschaften um Urteile geht – als Feststellung von Erklärbarem und Beschreibbarem –, geht es in der Philosophie um die Beurteilung, folglich nicht um Urteile über Naturnotwendigkeiten, sondern um absolute Wertbestimmungen. Die Gegenüberstellung von Wissenschaften, die 58 Einfache Nachweise in Klammern verweisen im Folgenden auf die Seiten der vorliegenden Edition.
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Urteile abgeben – also erklärend oder beschreibend Natur- oder menschliche Geisteszusammenhänge untersuchen –, und der Philosophie, die Beurteilungen untersucht, also die Beziehung von Urteilsinhalten auf absolute Werte, ist eine Unterscheidung, die zum Grundbestand der Windelband’schen Position zählt und die später in seiner berühmten Taxonomie der Wissenschaften (nomothetisch/idiographisch) wieder auftaucht. Philosophie ist somit die Untersuchung dessen, was Windelband »Normalbewusstsein« nennt (nicht im Sinne eines »durchschnittlichen«, sondern eines Bewusstseins von Normen), eine Präzisierung dessen, was Kant mit dem Begriff vom »Bewusstsein überhaupt« meinte (also nicht reduzierbar auf die menschliche Psyche). Dies Normalbewusstsein ist das Bewusstsein der idealen Allgemeingültigkeit mit dem Charakter der »Notwendigkeit des Sollens«. Die Philosophie als die »Besinnung auf dies Normalbewußtsein« (46) untersucht »Inhalt und Form« dieser Normen, die allerdings nicht deduziert, sondern nur am empirischen Bewusstsein aufgewiesen werden können, also sich im individuellen Bewusstseinsstrom manifestieren oder bekunden, sich darauf aber nicht reduzieren lassen. In dieser Absicht kann die Philosophie sich der Geschichte ihrer Disziplin zuwenden und darin das fortschreitende »allmähliche Bewußtwerden der Normen als der eigentliche Sinn der Geschichte der Philosophie« (49) erhellen; die so vorgehende Philosophiehistorikerin ist als Geschichtsphilosophin damit der Teleologie verpflichtet. In dieser historischen Rekonstruktion der teleologischen Bewegung der Entdeckung des Normalbewusstseins ist die Geschichte der Philosophie selbst eine empirische Disziplin. Hiermit meint Windelband einem naiven Hegelianismus zu entgehen, der eine geheimnisvolle »Selbstrealisierung der ›Ideen‹ statuierte«59; stattdessen untersucht die Geschichte der Philosophie in Windelbands Version die Entwicklung der »empirischen Geistesbewegung« der einzelnen Menschen, worin aus einzelnen bzw. national ge59 Zu Windelbands Hegelbild vgl. seinen Text »Die Erneuerung des Hegelianismus« (1910).
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bundenen Bemühungen ein fortschreitendes Normalbewusstsein hervorbricht, was aber – sowohl das Ideal selbst wie seine Realisierung – niemals vollständig erfasst werden kann. Dies Caveat darf aber nicht davon abhalten, bei der Untersuchung menschlicher Erfahrung in allen Dimensionen der Kultur von der Existenz des Normalbewusstseins auszugehen, zumindest als das, was idealiter gesucht werden soll. In diesem Text klingen bereits die Hauptthemen an, die die »südwestdeutsche« Position des Neukantianismus durchgehend charakterisieren: Philosophie als Theorie der Werte bzw. des Normalbewusstseins, das allem Relativismus bzw. Psychologismus (auch aller »genetischen Erklärung«) entgegensteht, und Kultur als grundsätzlicher Ort, worin sich Werte realisieren, die ihrerseits durch empirische Studien von verschiedenen Kulturgebieten – auf der Suche nach dem Wahren, Guten, Schönen – erhellt werden können.60
3.2 Kulturphilosophie, Wissenschaftstheorie und die Straßburger Rektoratsrede
Was die Kerngedanken Windelbands und damit der Südwestdeutschen Schule im Allgemeinen betrifft, die zu Recht als »werttheoretische« Schule bezeichnet wird, so finden sich im zweiten Band sechs Aufsätze, die diese Gedanken bündeln, die ersten fünf Texte 60 In diesem Sinne versteht Windelband rückblickend Sokrates als den Ersten, der seinen Zeitgenossen gegenüber beweisen will, dass es »allgemeingiltige Einsichten« gibt, auch hier gegen die Relativisten seiner Zeit – die Sophisten – kämpfend. Vgl. »Über Sokrates« (1880). Windelbands Sokratesbild ist in seiner Betonung von Sokrates als des ersten Wissenschaftlers eher traditionell und tendenziell romantisierend. Vgl. hierzu die nahezu gleiche Sokrates-Auffassung etwa bei Husserl (Erste Philosophie von 1923/24, Hua. VII, S. 3–14). Ob dahinter eine Hegellektüre Windelbands steht, muss dahingestellt bleiben; vgl. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. 1. Teil, 1. Abschn., 2. Kap.: B, zuerst 1833–36 gedruckt.
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aus den Jahren 1877–190761 und der spätere Text »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus« aus dem Jahre 1910. Im Vortrag »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie« zieht Windelband Bilanz über die Gegenwartsphilosophie. Als Grundsatzrede ist sie dazu geeignet, nicht nur eine Bestandsaufnahme zu sein, sondern auch die Richtung vorzugeben, wie die Philosophie nach Maßgabe Windelbands fortzuschreiten habe. Die Vorgabe gibt die Aufgabe, die Windelband der Philosophie – gegenüber den Wissenschaften – erteilt: Man erwartet von der Philosophie »nicht die Einsicht in ein einzelnes Gebiet des Wirklichen, sondern vielmehr eine gedankliche Arbeit [. . . ], die in wissenschaftlicher Begründung eine Weltanschauung und Lebensansicht gewähren soll« (267). Dies geschieht durch eine »ideelle Selbstverständigung der tiefsten Motive des gesamten Kulturlebens, eine Besinnung auf die letzten inhaltlichen Bestimmun61 Eine etwas schwer einzuordnende Ausnahme ist der Text »Über Denken und Nachdenken«, die Freiburger Antrittsrede von 1877. Dieser Text passt nur wenig in den Kontext der werttheoretischen Texte, da es darin in erster Linie um eine psychologische Unterscheidung zwischen unwillkürlichem (also unbewusst vor sich gehenden) Denken und willkürlichem Nachdenken geht. Windelband diskutiert hier – durchaus im psychologistischen Paradigma, das für den Neukantianismus (auch Marburger Couleur) typisch war – klassische Themen der Psychologie seiner Zeit. Hier zeigt sich Windelband als adepter Schüler seines Lehrers Lotze, der Themen wie Assoziation, Erinnerung, Interesse, Phantasie und Emotionen scharf differenziert. Ein großes Thema, das Windelband hier umtreibt, sind Theorien unbewusster Seelenzustände bzw. des Unbewussten und unbewusster Triebe, was für Windelband ein Problem darstellt, da es der Herrschaft des willentlich geleiteten Denkens, v. a. des sittlichen Willens, offenbar widerspricht. Das »absichtliche Denken«, geleitet von explizit moralischen Motiven, nimmt also in der Hierarchie der psychischen Vermögen den höchsten Rang ein. Als Antrittsvorlesung hat dieser Text seine Funktion; im Kontext der anderen werttheoretischen Texte dieses Bandes ist der Aufsatz ein Außenseiter. Zu Windelbands »Psychologie« vgl., neben Gundlachs erwähnter Studie von 2017, Jörn Bohr: »Windelbands Psychologie-Projekte. Das Scheitern eines ambitionierten Programms an seinen Kontexten«. In: Thomas Kessel (Hg.): Philosophische Psychologie um 1900. Stuttgart 2019, S. 17–38.
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gen des sittlichen und sozialen, des ästhetischen und religiösen Zusammenhanges ihrer Zeit, dessen prinzipielle Einheit in einer begrifflichen Form zu erfassen das Wesen der Philosophie ausmacht« (267 f.). Die Philosophie ist also ihre Zeit in Gedanken gefasst, jedoch mit dem Zweck, eine philosophisch belastbare Weltanschauung hervorzubringen. Die Philosophie soll Halt geben in einer Zeit, in der die Religion versagt und die Wissenschaft nur eine szientistisch verkürzte und positivistisch reduktive Antwort zu geben geneigt ist. Das Verlangen nach einer Weltanschauung ist ein »metaphysisches Bedürfnis«, wie es Windelband im Anschluss an Schopenhauer betont. Die späteren Invektiven v. a. seitens der phänomenologischen Bewegung gegen die Philosophie als »Weltanschauungslehre« sind vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die Motive der Kritik sind jedoch verschieden, und auch die Art der Kritik hat sich im Laufe der Zeit geändert.62 Die Gemeinsamkeit in der Kritik ist die Ablehnung einer der fundamentalen Thesen des Neukantianismus im Ganzen: die These von der prinzipiellen Kontinuität zwischen Leben, Kultur und Philosophie dergestalt, dass die Philosophie rückwirkend festen Halt in Leben und Kultur bieten kann.63 Wichtig bei alledem ist jedoch das »kritische Verfahren«, das mit 62 So wendet sich etwa der bekannte Anthropologe Clifford Geertz in seinem programmatischen Text »Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture« von 1973 (New York: Harper Collins) auch gegen die Idee einer apriorischen Weltanschauung: »To set forth symmetrical crystals of significance, purified of the material complexity in which they were located, and then attribute their existence to autogeneous principles of order, universal properties of the human mind, or vast a priori weltanschauungen, is to pretend a science that does not exist and imagine a reality that cannot be found« (318). Geertz’ Kritik ist jedoch weniger eine philosophische Annahme einer solchen apriorischen Weltanschauung als eher die Orientierung hieran seitens der empirischen Anthropologie. 63 Vgl. etwa Husserls Programmaufsatz »Philosophie als strenge Wissenschaft« von 1911, worin er den nicht-wissenschaftlichen Formen der Philosophie (Psychologismus und Historismus) den Geist wahrer Philosophie entgegenstellt. Allerdings stellt für Windelband die Bereitstellung einer Weltanschauung Teil der »wissenschaftlichen Philosophie« dar.
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der kantischen Philosophie zugrunde gelegt wurde. Windelband geht es allerdings nicht darum, den besonderen Wissenschaften einfach nachzuspüren und ihre Lehren zu beurteilen oder zu prüfen – eine weitere Polemik gegen die Marburger –, sondern »die letzten Gründe ausfindig zu machen, worauf dieses ganze in unmittelbarer Bestätigung des Erkenntnistriebes erworbene Wissen beruht, die innere Struktur der intellektuellen Arbeit aller jener besonderen Disziplinen [der positiven Wissenschaft] zu verstehen und die sachlichen Voraussetzungen zu gewinnen, die ihren Geltungsgrad in sich enthalten«. Es muss laut Windelband darum gehen, das »vorwissenschaftliche Auffassen, Meinen und Fürwahrhalten des Menschen« als Grundlage der Arbeit der Wissenschaften zu würdigen (275). Dieses vorwissenschaftliche Denken nämlich ist es erst, was die Motivation und die Fragerichtung der Wissenschaften vorgibt. Die »letztentscheidende« Instanz hierzu ist die »innere Notwendigkeit des vernünftigen Bewusstseins«, also dasjenige, was Windelband wie erwähnt »Normalbewusstsein« nennt. Dies ist, nochmals, der Kern des südwestdeutschen Wertdenkens: Normalbewusstsein, das gleichwohl nicht frei sein kann von den Leistungen und Entdeckungen der Wissenschaften und aller übrigen Kulturleistungen, gibt der Wissenschaft Fragen vor, die eben nur deshalb erforscht werden, weil das Normalbewusstsein der Menschheit hierzu Antworten erlangen will. Diese Antworten wiederum fließen ein ins Normalbewusstsein der Menschheit, welches ihren Kulturgehalt ausmacht. Dieser hermeneutische Zirkel zwischen normaler und wissenschaftlicher Vernunft64 wird durch die Philosophie kritisch reflektiert, »auf diese Weise gestaltet sich die kritisch-philosophische Untersuchung der Wissenschaften zur 64 Der Begriff der Wissenschaft darf freilich im 20. Jahrhundert nicht auf Naturwissenschaft verengt werden, wie das noch zu Kants Zeiten der Fall war (und auch heute noch im angloamerikanischen Raum in der Rede von science ist), worauf Windelband aufmerksam macht: »Unser heutiges Denken steht in der doppelten Tradition von Naturforschung und Historik, es hat einen weiteren Begriff der Wissenschaft« (278). Dieses neue, in zwei Extreme ausgerichtete Denken wird im Text über »Geschichte und Naturwissenschaft« begründet und erläutert.
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bewussten Erfassung des Kulturinhaltes der Menschheit« (276). Auf diesen Zentralbegriff des vorwissenschaftlichen, aber wissenschaftlich wie kulturell saturierten Normalbewusstseins rekurriert Windelband mehrmals, v. a. in seiner Erweiterung ins Moralphilosophische.65 Der philosophisch ambitionierteste Text dieser Gruppe ist »Normen und Naturgesetze« von 1882. In ihm kommt Windelbands sog. »südwestdeutsche« Position wiederum präzise zum Ausdruck. In Frage steht erneut der Status von Normen, v. a. in ihrem Verhältnis zu Naturgesetzen. Normen sind normativ gewendete Werte, die in verschiedenen Kulturgebieten gelten (Logik, Ethik, Ästhetik) nach dem Ideal des Wahren, Guten, Schönen (also Wahrheitswerte, moralische Werte etc.). Werte gelten; als Normen gewendet, geben sie vor, wie sie zu verwirklichen sein sollen (also Freiheit zunächst als Wert, sodann als Norm, dass Freiheit herzustellen sei). Normen können daher nicht bloß subjektiv wahr, kulturell bedingt oder historisch kontingent sein. Es geht in dieser Debatte darum, den idealen Status von Normen gegenüber apriorischen Naturgesetzen zu definieren und zu verteidigen. Nur wenn der Status von Normen geklärt ist, kann die Philosophie ihre wahre Aufgabe erfüllen, nämlich eine Kulturphilosophie zu sein, die eine belastbare Basis für eine Weltanschauung geben kann, eine solche also, auf der die wahre Kultur in logischer, ethischer und ästhetischer Hinsicht aufbauen kann. Leben nach Normen nicht nur im Bereich des Wahren und Guten, sondern auch des Schönen – das alles zusammen ist erst wahres und »reifes Kulturleben«. Es ist – erneut gesagt – die Frage, in welchem Verhältnis Normen zu Naturgesetzen stehen, und Windelbands Antwort hierauf ist durchaus originell und v. a. unkantisch. Windelband rollt das
65 Im Gegensatz zur Marburger Schule, wo allein die Vernunft in verschiedenen Kulturgebieten, die wiederum von den ihnen eigenen Wissenschaften erfasst werden, ausschlaggebend ist, ist dieser umgekehrte Ansatz – vom wissenschaftlich-kulturell »durchtränkten« vorwissenschaftlichen Bewusstsein auszugehen – am ehesten in der Phänomenologie Husserls wirksam geworden.
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Problem vom kantischen Dualismus her auf, der doppelten Gesetzgebung des Reichs der Natur und des Reichs der Zwecke. Windelband nennt es pejorativ den »Antagonismus von natürlicher und normativer Gesetzgebung«, also der Gesetzgebung des Seins bzw. des Sollens. Was sie gemeinsam haben, ist in beiden Fällen dieses: Sie sind ideale Wesenheiten und als solche nicht reduzibel auf eine »psychologische Notwendigkeit«. Es handelt sich sowohl bei Naturgesetzen als auch bei Normen um alternativlose Denk-Notwendigkeiten, während die Psychologie eine empirische Wissenschaft ist, also erklärt, wie wir wirklich denken, fühlen, wollen und handeln (der Begriff »psychologische Notwendigkeit« ist also eine contradictio in adiecto). Ideale Normen sind dagegen »Regeln der Beurteilung« eines Sachverhalts; im Gegensatz zum Urteilen geht es bei ihnen um Beurteilung. Deswegen haben Normen ein besonderes Verhältnis zum Seelenleben. Gilt im Reich des Idealen kein Sein-Sollen, sondern nur ein »ewiges Sein«, so ist das Seinsollen als Postulat an ein empirisches Subjekt das Resultat eines Denk-Aktes. »Eine Norm ist eine bestimmte, durch die Naturgesetze [!] des Seelenlebens herbeizuführende Form der psychischen Bewegung« (328). Es gibt unter den reinen Gesetzen keine Unterschiede, lediglich die Auswahl aus ihnen für den Zweck der jeweiligen Beurteilung macht Naturgesetze zu Normen. Es gibt folglich nur Naturgesetze: als Gesetze, unter denen die Natur steht. Die Gesetze der Logik, Ethik und Ästhetik, als Weisen, wie wir Menschen uns normativ auf Kultur beziehen, machen aber aus diesen Naturgesetzen Normen: »Normen sind diejenigen Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen, welche unter Voraussetzung des Zwecks der Allgemeingültigkeit gebilligt werden sollen« (329). Kant konnte dieser Unterscheidung nur durch den kompatibilistischen Antagonismus zwischen Natur- und moralischer Gesetzlichkeit gerecht werden; bei Windelband ist dieser Dualismus aufgehoben. Es gibt nur Naturgesetze, lediglich ihre Anwendung bzw. »Auswahl« macht sie zu Normen. Wer ist es nun, der diese Auswahl vornimmt, wenn nicht ein empirisches Individuum mit seinen Launen und zufälligen Seelenregungen? An dieser Stelle kommt nun das schon mehrmals erwähn-
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te Normalbewusstsein zum Tragen: Dieses ist das Korrelat des Naturgesetzes, sofern es als aktive Instanz diese Auswahl für die Regionen des Seinsollens trifft. Das empirische Subjekt unterstellt sich damit freiwillig und in Freiheit dem idealen Normalbewusstsein. Die metaphilosophische These, die hieraus folgt, ist, dass »›Vernunft‹ nicht erzeugt [wird], sondern sie ist in der unendlichen Mannigfaltigkeit der naturnotwendigen Prozesse schon enthalten: es kommt nur darauf an, dass sie erkannt und mit Bewusstsein zum Bestimmungsgrunde gemacht wird. Das Reich der Freiheit ist mitten im Reiche der Natur diejenige Provinz, in welcher nur die Norm gilt: unsere Aufgabe und unsere Seligkeit ist, in dieser Provinz uns anzusiedeln« (350). Das Reich der Freiheit metaphorisch als Provinz innerhalb des Reiches der Natur, gleichzeitig als Überwindung des kantischen Dualismus: Hier erkennt man erste Anzeichen bzw. eine Vorwegnahme einer empiristischen Kantdeutung, wie sie später in Wilfried Sellars’ berühmter Metapher von der Vernunft als des Space of Reasons zum Ausdruck kommt.66 Windelbands Position ist eine wichtige Wegmarke hin zu einer solchen Position, die neuerdings wieder durch Philosophen im Gefolge Sellars’ diskutiert wird, etwa von John McDowell.67 Kant selbst hat hierzu nur die theoretischen Ansätze geliefert, als er das »An-sich-gelten« im Begriff des »Bewusstseins überhaupt« gefasst hat. Windelband findet eine Formulierung, die an die Sellars’sche Rede vom Space of Reasons erinnert: »Alle Inhalte der äußeren Erfahrung erlangen erst dadurch Gegenständlichkeit, d. h. allgemeine und notwendige Geltung, daß sie in den Zusammenhang desselben einen unendlichen Raums eingestellt sind, der selber kein Gegenstand der Erfahrung ist« (253). Es soll nicht behauptet werden, dass die Sellars’sche Wendung von Windelband stammt, aber Sellars’ Formulierung »placing something into the space of reasons« ist bemerkenswert nah an Windelbands Wendung. Auch wenn Windelbands Ausführungen zur Wissenschaftstheo66 Vgl. Wilfried Sellars: »Empiricism and the Philosophy of Mind«. In ders.: Science, Perception, and Reality. London 1968. 67 Vgl. John McDowell: Mind and World. Cambridge/Mass. 1994.
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rie zahl- und umfangreich sind, konzentriert sich die Rezeptionsgeschichte in erster Linie auf die bekannte Rektoratsrede von 1894 über »Geschichte und Naturwissenschaft«. Hier trifft Windelband die bekannte und einflussreiche Unterscheidung zwischen der nomothetischen und der idiographischen Methode von Wissenschaft. Diese methodische Unterscheidung setzt die zuvor schon diskutierte wichtige wissenschaftstheoretische Unterscheidung zwischen Natur- und Wertewissenschaft voraus. Zudem ist sie eine originelle, wenn auch kontroverse Weiterentwicklung der kantischen Kopernikanischen Wende.68 Zunächst ist als Kontext festzuhalten, dass Windelband als Rektor der Universität spricht, also nicht in erster Linie als Philosoph pro domo, sondern als Oberhaupt einer Forschungseinrichtung, das einen »Blick von oben« auf das Geschehen an der Institution wirft, wo »Wissenschaft« produziert wird. Dennoch spricht er auch als Philosoph, der von Amts wegen über Allgemeinheiten zu reden hat. Als Philosoph wendet er sich der Wissenschaftstheorie zu, der »Logik, insbesondere [. . . ] der Methodologie, der Theorie der Wissenschaft [. . . ] in der Meinung, daß an einem solchen [Thema] in besonders deutlicher, greifbarer Weise der innige
68 Hierzu muss denn auch festgestellt werden: Fast niemand war mit Windelband einverstanden und hat seine Methode anerkannt und noch weniger weitergeführt. Allerdings war er ein wichtiger Resonanzboden für andere, von Windelband divergierende Theoretiker der Geisteswissenschaften. Hierzu zählen etwa Husserl, der Windelbands Methode in seiner Vorlesung Natur und Geist von 1927 diskutiert (vgl. Hua. XXXII). Weiterhin Ernst Cassirer aus dem Lager der Marburger Schule, der ebenfalls mit Windelband ins Gericht geht (vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Vierter Teil: Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, hg. v. J. M. Krois. Hamburg 1996, S. 163 f.). Windelbands Anregungen wirken sehr indirekt in der berühmten Two-Cultures-These von C. P. Snow und später auch bei Gadamer nach, der bei aller Abweichung von Windelband zumindest die grundsätzliche Bemühung teilt, eine Methode für die Geisteswissenschaften zu etablieren (vgl. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 2010 [Gesammelte Werke I]).
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Zusammenhang hervortreten muß, in welchem die Arbeit der Philosophie mit derjenigen der übrigen Wissenschaften steht« (384). Als wissenschaftstheoretische Abhandlung stellt sich die Rektoratsrede in den zeitgenössischen Kontext der Wissenschaftstheorie, die v. a. um die Methodenfrage der Geisteswissenschaften kreist.69 Sie hat in dieser Absicht eine bedeutende, wenn auch zwiespältige Wirkungsgeschichte erfahren. Wurden die Naturwissenschaften durch Kant kritisch legitimiert, so gilt es nun, diese Legitimation für die neuartigen »Wissenschaften«, die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften, nachzuholen.70 In dieser Absicht sind sich – könnte man sagen – alle Neukantianer, einschließlich Windelband, einig, dass hierin ein bedeutendes Aufgabengebiet der Philosophie in der Nachfolge Kants besteht. Das Grundproblem der Geistes-»Wissenschaften« – und weshalb manche eben (bis heute) ihnen den Status von Wissenschaft aberkennen (oder gar nicht erst zuerkennen möchten) – ist, dass sie Aussagen über individuelle Dinge treffen (die Französische Revolution, das Individuum Goethe). Das Abgrenzungskriterium zu den Naturwissenschaften liegt demnach im methodischen Zugriff auf die Sache, von der man handelt. Es wäre also in den Geisteswissenschaften abwegig, etwa Genus-Spezies-Unterscheidungen zu treffen und auf höchste Gattungen emporzuleiten, wie dies die Naturwissenschaften tun. Die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften kann also nicht eine sachliche sein, auch 69 Der Kontext hier ist v. a. Diltheys Aufsatz, ebenfalls von 1894, »Ideen zu einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie«. Dass Windelband das Œuvre Diltheys zumindest bekannt ist, zeigt sich durch seine Anspielung auf Diltheys Projekt einer »Kritik der historischen Vernunft«. Vgl. hierzu Rudolf A. Makkreel: »Wilhelm Dilthey and the Neo-Kantians. On the Conceptual Distinctions between Geisteswissenschaften and Kulturwissenschaften«. In: S. Luft/R. Makkreel (Hg.): Neo-Kantianism in Contemporary Philosophy. Bloomington 2010, S. 253–271. 70 Debatten gab es um den Titel für diesen Wissenschaftstyp. Während die einen den Begriff »Geisteswissenschaften« bevorzugten (Dilthey, Windelband), hierbei bewusst an Hegel anknüpfend, optierten die anderen für den Begriff der Kulturwissenschaften (Marburger Schule, Rickert).
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wenn dies offensichtlich scheint. Als problematisches Beispiel nennt Windelband hier diejenige Wissenschaft, die im Grunde – wie auch nach dem Vorherigen – die Crux darstellt, nämlich die Psychologie. Ist sie eine individualisierende oder generalisierende Wissenschaft? Was ist der Gegenstand der Psychologie? Geht es um Psychen von individuellen Menschen oder die Spezies »Psyche«? Genau hier »zeigt sich die Inkongruenz des sachlichen und des formalen Einteilungsprinzips« (388). Die Fragwürdigkeit des Status der Psychologie leitet Windelband zu seiner originellen Idee, die Unterscheidung der Wissenschaften nicht in Sachgebieten zu suchen, sondern in der Herangehensweise an Gegenstände, gleichgültig welchen »Wesens«. Die Motivation hierfür ist durchaus im Sinne der kantischen Kopernikanischen Revolution: In der Wissenschaft geht es nicht um eine originalgetreue Abbildung der Dinge im menschlichen Geist, sondern um den menschlichen Verstand, als »bestallten Richter«, der sein jeweiliges Erkenntnisinteresse an die Dinge heranträgt, gleichgültig welchen ontologischen Status sie haben. »Das Einteilungsprinzip«, folgert Windelband, »ist der formale Charakter ihrer Erkenntnisziele« (390). Im Gegensatz zu den rationalen Wissenschaften wie der Mathematik oder Logik sind alle empirischen Wissenschaften zu unterteilen in Erkenntnis des Allgemeinen oder des Einzelnen, den beiden Extrempolen der menschlichen Erkenntnis entsprechend (also als transzendentalphilosophisch-idealistisches Kriterium). Empirisch gesehen gibt es somit entweder »Gesetzeswissenschaften« oder »Ereigniswissenschaften«. »Das wissenschaftliche Denken ist – wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf – in dem einen Fall nomothetisch, in dem anderen idiographisch«. Jene »lehren, was immer ist, diese, was einmal war« (391).71 Das heißt auch, wenn man vom sachlich-ontologischen Kriterium zugunsten des methodischen absieht, dass es »die« 71 Das Begriffspaar in dieser Form ist ein Neologismus Windelbands; der Begriff »nomothetisch« allerdings kommt bei Kant selbst bereits vor, der Bedeutung nach durchaus in Windelbands Sinne (gesetzgebend), aber im Kontext der transzendentalen Urteilskraft; vgl. KU § 69 (II 249); § 87
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Geistes- und Naturwissenschaften nicht gibt, sondern »daß dieser methodische Gegensatz nur die Behandlung, nicht den Inhalt des Wissens klassifiziert« (391). Das heißt, dass derselbe Gegenstand »zum Gegenstand einer nomothetischen und daneben auch einer idiographischen Untersuchung gemacht werden« kann. So mag sich etwa ein Anthropologe für eine Sprache interessieren und die Eigentümlichkeiten dieser spezifischen Sprache herausstellen wollen, um aus der eigentümlichen Sprachverwendung besondere Denkweisen der Sprecher etwa über Natur, Klima und Jagd zu destillieren; gleichzeitig mag sich aber ein Grammatiker (evtl. mit jenem in Personalunion) für diese spezifische Sprache im Rahmen einer Grammatik einer bestimmten Sprachenfamilie interessieren; so wäre die Sprache etwa einer Gruppe der nordamerikanischen natives in die Gruppe der Algonquin-Sprachen einzuordnen. Die eine Betrachtungsweise behandelt den Sachverhalt also als historisches Ereignis (die historische Sprache), die andere als zeitloses Gesetz (die »zeitlose« Grammatik einer Sprache). Hat man beide Forschungsrichtungen in ihrer Legitimität etabliert, dann fragt sich, welche wichtiger ist. Diese Frage kann nur »aus einer Besinnung auf die letzten Ziele der wissenschaftlichen Arbeit entschieden werden« (396). Diese Antwort ist konziliant, dennoch endet Windelband mit der wiederum relativierenden Aussage: »Das Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte, inkommensurable Größen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen« (403). Mit dieser Gleichstellung der idiographischen Wissenschaften mit den nomothetischen ist somit auch die Tätigkeit der sog. Geisteswissenschaften legitimiert; gleichzeitig ist damit ein ideales Wissenssubjekt bezeichnet, welches gebildet im Sinne der artes liberales ist, »well-rounded«, wie man sagen könnte: gleichermaßen kenntnisreich in den allgemeinen Gesetzen der Natur wie interessiert an den idiosynkratischen Verästelungen menschlicher Tätigkeit in den verschiedenen Regionen der Kultur. Eine gute Zusammenfassung von Windelbands Denken zu die(II 319). Diese ist, schreibt Kant dort, für sich allein (ohne den Verstand) nicht nomothetisch, kann also selbst keine Gesetze aufstellen.
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sem Themenkomplex gibt schließlich der kurze und vergleichsweise späte Text »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus« von 1910. Hier fasst Windelband auf knappen 15 Seiten sein Verständnis von Philosophie im Spannungsfeld von Kultur und Idealismus programmatisch zusammen. Die Mehrdeutigkeiten einer Philosophie der Kultur anerkennend, unterscheidet Windelband dennoch zwei Grundbedeutungen von Kulturphilosophie, die den »prinzipiellen Verschiedenheiten der geschichtsphilosophischen Methode« geschuldet sind. Hier kontrastiert Windelband seine Kulturphilosophie mit der anderen bekannten in dieser Zeit, der aus Marburg, so dass dieser Text (auch wenn keine Namen fallen) als eine späte und wohlreflektierte Verhältnisbestimmung zweier neukantianischer Optionen gelten kann, die zu dieser Zeit Konjunktur haben. Die erste Grundauffassung ist die Marburger Variante: Die Welt ist eine Konstruktion des kulturbildenden Menschen, und im geschichtsphilosophischen Sinne ist ihr Fortschritt damit vorgezeichnet, weil jedes Faktum (das »Gegebene«) des Kulturschaffens sich wieder verflüchtigt in eine Aufgabe für weiteres. Dagegen hält Windelband fest, dass eine Konzeption, die das Wesen historischer Entwicklung in einem nicht bestimmbaren Ablauf eines Geschehens in der Zeit findet, letztlich rückwärtsgewandt ist. Ihre Projektion der Zukunft kann nur eine Frage der Hoffnung und der Weltanschauung sein, also gewissermaßen der persönlichen Vorliebe, je nachdem, ob man optimistisch oder pessimistisch eingestellt ist. Wichtig ist Windelband eine »Philosophie der Kultur« als begriffliche Wissenschaft, die er mit seiner eigenen Konzeption identifiziert, die »die quaestio iuris nach keinen anderen Gesichtspunkten als denen der immanenten sachlichen Notwendigkeit« beantwortet. »Das aber ist und bleibt m. E. Kants kritische Methode, und die Grundauffassung, die sich daraus für das Verständnis aller Kulturfunktionen ergibt, ist der transzendentale Idealismus« (505). Wie rechtfertigt es Windelband, eine solche »Grundauffassung« transzendentalen Idealismus zu nennen? Es ist das Ergebnis von Kants Vernunftkritik, »überall de[n] Aufweis der Vernunftgründe für die großen Gebilde der Kultur« zu erbringen (506). Hiernach
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kann erst gefragt werden, »wieviel von jenen Kulturwerten aus bloßer Vernunft« in der Erkenntnis, Sittlichkeit, Kunst und ästhetischen Lebensgestaltung enthalten seien gegenüber dem bloß Zufälligen und passiv Erlebten. Windelbands Begriff von Vernunft ist nicht etwa das bloße Gegenteil des Irrationalen oder Alogischen. Sein Verständnis von der eigentlichen Leistung der Vernunft offenbart sich als durchaus originelles. Für Windelband ist Vernunft nämlich nichts anderes als das »synthetische Bewusstsein«, d. h. die Leistung unseres Bewusstseins, die Gegenstände der Erkenntnis hervorzubringen. Diese Feststellung, obwohl durchaus in Übereinstimmung mit der Kopernikanischen Wende, lässt aber doch aufmerksam werden. Denn wie kann Windelband auf der Leistung der transzendentalen Synthesis beharren, die selbstverständlich unabhängig von den »Bewegungen des empirischen Bewusstseins« sein muss, aber dennoch eine Bewusstseinsleistung, wenn auch eine transzendentale, ist, während er gleichzeitig die »Zusammengehörigkeit der Elemente« in den »Sachen selbst begründet« ansieht (507)? Um was für »Sachen« handelt es sich hier? Sind es »Sachen der Vernunft«, und was wäre das? Windelbands Spätwerk Einleitung in die Philosophie deutet darauf hin, dass es nach Windelband um Sachen »da draußen« in der Welt geht, also nicht Sachen unserer Vernunft. Das ist insofern verblüffend, als das paradigmatische Verständnis von Kultur – hier einstimmig zwischen Marburg und Südwestdeutschland – darin besteht, dass Kultur ist, was wir aus unserer eigenen Leistung hervorbringen, also nicht einfach nur das, was wir in den äußeren Gegenständen vorfinden und sachgemäß für uns abbilden sollen. Ist es somit nicht zirkulär zu fordern, dass wir einerseits das Gegebene nicht als einfach gegeben hinnehmen, sondern es als Ergebnis unserer Synthesis auffassen sollen, andererseits aber die Allgemeingültigkeit dieser Synthesis in den »Sachen selbst« begründet sehen sollen? Hier stellt sich ein sehr originelles Verständnis von Transzendentalphilosophie heraus. Das Apriori der Vernunft wird als Erstes in Normen angetroffen, die man im Erkennen, Handeln und Gestaltenwollen vorfindet. Normen werden zunächst als Regeln erlebt, die sich Individuen gegenseitig
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geben, die aber dann fortschreitend vom Empirischen »gereinigt« werden, um ihre apriorische Natur zu offenbaren. Auch wenn wir das »absolute Sein« damit erst fortschreitend offenlegen, so erkennen wir, wenn wir einmal dort angekommen sind, dass die Weltvernunft »je schon« ins endliche Bewusstsein eingetreten ist. Und so schließt sich der Kreis.
3.3 Zu Windelbands Fichte- und Hegelbild
Zu den beiden wichtigsten Vertretern des Idealismus, Fichte und Hegel, gibt es nur zwei kurze Vorträge aus den Jahren 1908 und 1910.72 Über die Geringschätzung Hegels im Neukantianismus im Allgemeinen ist schon spekuliert worden73, und auch Fichte spielt keine bedeutendere Rolle im Denken Windelbands oder Rickerts.74 Auch wenn Windelband des Lobes voll ist gegenüber diesen Denkern (im Rahmen von Galavorträgen, zu Hegel sogar vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften), lässt die Kürze dieser Beiträge doch indirekt darauf schließen, dass die Bedeutung Fichtes und Hegels für Windelband begrenzt war. Fichtes Verdienst in Windelbands Darstellung besteht in erster Linie darin – ähnlich hierin der Darstellung Schillers –, den Zusammen-
72 Der Name des dritten im Bunde der großen Idealisten, Schelling, fällt zwar mehrmals, aber mehr oder weniger im Rahmen einer Aufzählung, mit anderen Worten: Es ist nicht mehr als ein name-dropping. 73 So spricht etwa schon Gadamer von einem »uneingestandenen Hegelianismus« der Marburger Schule (vgl. H.-G. Gadamer: Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau. Frankfurt a. M. 1995, S. 60–68, bes. S. 66). Vgl. auch H.-F. Fulda/Chr. Krijnen (Hg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis. Hegel und der Neukantianismus. Würzburg 2006. 74 Das war anders beim »Meisterschüler« der Südwestdeutschen Schule, Emil Lask (1875–1915), der 1901 in Heidelberg über Fichtes Idealismus und die Geschichte (publiziert 1902) promovierte. Ebenso spielt Fichte – wenn auch subkutan – in der Marburger Schule eine prägende Rolle, so dass diese Schule aufgrund des Fokus auf selbstsetzender Aktivität auch gelegentlich als »Neufichteanismus« bezeichnet wurde.
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hang von theoretischer Philosophie und praktischem Wertdenken und politischem Engagement dargelegt zu haben. Äußerer Anlass des Fichtevortrags war das hundertjährige Jubiläum der »Reden an die deutsche Nation«, eines Werkes, das Windelband als »nationale Großtat« feiert. Historische Grundlage der Fichte’schen Bedeutung für den Deutschen Idealismus sowie das im 19. Jahrhundert aufkommende deutsche Nationalgefühl ist ein »Grundgegensatz im Denken«, der das 18. Jahrhundert dominierte, nämlich die gegenläufigen Tendenzen von Rationalismus und Irrationalismus, Aufklärung und Sturm und Drang. Hier kommt die Leistung Kants zum Tragen. Es handelt sich bei Kants von der Kopernikanischen Wende eingeleiteter Transzendentalphilosophie um eine rationale Umgrenzung dieses »irrationalen Rests der Wirklichkeit«. Dieser Rest zeigt sich im kantischen System in den empirischen Gesetzen der Natur, die aus apriorischen nicht ableitbar sind, wie im »Einzelpersönlichen« im Rahmen der Ethik, das sich dem Formalismus des Kategorischen Imperativs entzieht. In dieser Tendenz wird nun auch Fichte verortet. Seine Wissenschaftslehre wird als »kühnster Rationalismus« ausgezeichnet, angetreten in der Hoffnung, die Welt aus der Vernunft »restlos abzuleiten«. Diese Vernunft ist im »Wesen des Ich« zu sehen, was aber bekanntlich als Tathandlung gefasst wird und letztlich nur zu »erleben« ist. Hierin allerdings sieht Windelband den »Umkehrpunkt [. . . ] vom Rationalismus zum Irrationalismus – von der Aufklärung zur Romantik« (234). Das Irrationale des Individuums und der Geschichte, das von Fichte trotz aller Orientierung an die Vernunft betont wird, wird durch Windelband werttheoretisch interpretiert. Hieraus entsteht erst der angemessene Begriff der Freiheit: Frei zu sein heißt, sich frei zum Vernünftigen bestimmen zu können. Aus dem Interesse für das Individuelle, das sich historisch auslebt, ist auch Fichtes Interesse für Geschichtsphilosophie zu verstehen, wobei es stets darum geht, das Vernünftige in der Geschichte zu begreifen, also die Verwirklichung der Vernunft durch Freiheit. So zeichnet Fichte in seiner idealtypischen Geschichtsphilosophie den Weg vom »Vernunftinstinkt« zur »Vernunftkunst«,
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die aus »allgemeingültiger Einsicht und Selbstbeherrschung [des Einzelnen] das Leben zu einer geschlossenen Verwirklichung der Vernunft gestaltet« (237). Diese allgemeine Form des historischen Prozesses steht »im genauesten Zusammenhange mit seiner Wissenschaftslehre«; denn in beiden Fällen – in der Wissenschaft wie im historischen Prozess – »arbeitet sich die Vernunft aus blindem Gegebensein zu bewußter Gestaltung heraus« (237). Das Prinzip nun, dass »das Ich das Prinzip auch für die Völker, auch für die Menschheit« sei, wendet Fichte in den »Reden an die deutsche Nation« an. Von Schiller für die »Horen« zwar zu Unrecht, wie Windelband meint, abgelehnt, gehört diese Schrift doch zum »Schwersten, was Fichte geschrieben hat«: »In dieser Darstellung selbst ringt sich mühsam genug der Gedanke zur Klarheit, daß alle Werte der Menschheit – ästhetisch, ethisch, historisch – aus der ›Besonnenheit‹ erwachsen, mit der das geistige Wesen von seiner dunklen Naturanlage her sich selbst erfaßt und ins Lichte gestaltet« (237 f.). Dieser Prozess ist nichts andere als der der Kultur. Diesen Prozess haben alle »großen Kulturvölker« durchlaufen, angefangen mit den Griechen. Damit wird der geschichtliche Prozess von Fichte zu einem erzieherischen Vorgang umgedeutet. Dieser besteht idealiter in einer »bewussten Neugestaltung der Humanität von Generation zu Generation«. Dies führt bei Fichte zu einer »wenig glücklichen Hypothese« der Fiktion der Entwicklung eines »Urvolks« zum »Normalvolk«, und so »versteigt sich dann Fichtes weltbürgerlicher Patriotismus beinahe [!] zu der Identifikation des Deutschtums mit dem Normalvolk« (240). Und so ist es wohl Fichtes wie implizit Windelbands Absicht, dass die folgende Aussage in besonderem Maße für die Deutschen zutreffen soll: »Persönlichkeiten und Völker werden geschichtlich, wenn sie ihre Art, Menschen zu sein und die Vernunft in sich zu verwirklichen, mit bewußter Selbstgestaltung zu einem bleibenden Bestandteil aller zukünftigen Entwicklung ausprägen« (241). Von patriotischer Deutsch- bzw. Reichstümelei im geschichtlichen Vorfeld des Ersten Weltkriegs ist eben auch Windelband nicht frei. Der Titel »Erneuerung des Hegelianismus« enthält bereits die These, die Windelbands Text zum wohl größten der Deutschen
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Idealisten vertreten möchte. Die Rede von der »Erneuerung« des absoluten Idealismus ist zu dieser Zeit, also ein halbes Jahrhundert nach dessen angeblichem »Zusammenbruch«, en vogue, und es stellt sich nun die Frage, was dies für Windelband bedeutet (gerade angesichts einer Hegelrenaissance, wie wir sie gegenwärtig erleben75). Um Hegels Leistung zu motivieren, fasst Windelband nochmals die Leistung der kantischen Kritik zusammen. Der Entwicklungsgang ausgehend von der Kritik wissenschaftlicher Erkenntnis zur Kritik aller anderen Kulturgebiete ist nach Windelbands Einschätzung in der Erneuerung der kantischen Philosophie im 19. Jahrhundert wiederholt worden. Im Gegensatz zur dogmatischen Metaphysik der vorkantischen Zeit wird die Philosophie nunmehr zur »ernsten Begriffsarbeit an Sonderproblemen«, was auch die Stellung der akademischen Philosophie fixiert, und schließlich – um zum Anlass von Windelbands Rede zu kommen – hat sie »ihr Eigenrecht und ihre Forschungsstelle auch in einer Akademie« wie der in Heidelberg. Und im Hier und Jetzt angekommen wendet sich Windelband einer »Tatsache« zu, »die dabei überall eine gewisse Verwunderung erweckt: das ist die Erneuerung des Hegelianismus« (244). Hatte man schon längst geglaubt, dass die »Hegelei« für immer vorbei sei, kommt sie gerade neuerdings mit Macht wieder. Im Sinne der Entwicklungsgeschichte der neueren Philosophie stellt sich die Frage, ob Hegel ein Metaphysiker alten, vorkantischen Stils sei oder einer, der doch berufen sei, »wieder unser Führer [zu] werden« (245). Was motiviert diese Erneuerung? Hier hat Windelband eine nach dem Vorigen wenig überraschende Antwort: »Es ist der Hunger nach Weltanschauung, der unsere junge Generation ergriffen hat und der bei Hegel Sättigung sucht« (246). Dieser Hunger stammt aus der »positivistischen Verarmung und materialistischen 75 Die gegenwärtige Hegelrenaissance geht v. a. auf Forscher aus den USA zurück, vornehmlich aus der »Pittsburgh School of Neo-Hegelianism«, zu denen v. a. John McDowell und Robert Brandom gehören. Vgl. v. a. von Letzterem das 2019 erschienene A Spirit of Trust (Cambridge/ Mass.), das eine umfassende Auseinandersetzung mit Hegel bietet.
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Verödung« des szientistischen Zeitgeistes. Die Weiterentwicklung der kantischen Philosophie bis zu Hegel zeigt nun die notwendige Entwicklungsfolge, die bei der Beantwortung der Frage nach dem Apriori durchlaufen wird. In dem Moment, wo Kant selbst die Frage nach dem »Rechtsgrunde der synthetischen Urteile a priori« auf die Kultur im Ganzen, das »gemeinsame Geistesleben«, ausdehnte, kann sich diese Erforschung nicht mehr auf die reine Vernunft allein beschränken (247). Die apriorischen Voraussetzungen liegen allem Kulturschaffen zugrunde, aber die empirischen Formen dieses Kulturlebens müssen durchforscht werden, um zu den philosophischen Geltungsgrundlagen vorzustoßen. In diesem Sinne ist die Alternative mit zwei Namen vorgezeichnet, »die nacheinander auf dem Heidelberger Katheder gestanden haben: Fries und Hegel« (248). Während Fries aber den Irrweg des Psychologismus geht, irrt Hegel nicht, sofern die Hegel’sche Dialektik einsieht, dass Vernunftwahrheiten zwar nicht auf geschichtliche Ereignisse reduzierbar sind, sich die Vernunft gleichwohl in der Geschichte entfaltet, also darin, was Hegel den »objektiven Geist« nennt. Das ist der Grund, weshalb die Philosophie in Windelbands Gegenwart wieder zur Hegel’schen Methode zurückkehrt, »aus dem historischen Kosmos, wie ihn die Erfahrung der Kulturwissenschaften darbietet, die Prinzipien der Vernunft herauszuarbeiten« (250). Das ist das Programm, das Windelband in den zuvor besprochenen Texten ausführt. Anders gesagt, die Fülle des Wissens, die uns die Kultur- bzw. Geisteswissenschaften darbieten, verlangt nun ihrerseits (nach dem Erfolg der exakten Naturwissenschaften) nach einer philosophischen Bearbeitung, die aus dem Wirklichen das Vernünftige (mit Hegels berühmter Wendung) zu extrahieren sucht. Es geht also um die Rückgewinnung des »ganzen Kritizismus [. . . ], der die historische Grundlage verlangt« (251). Als Katalysator hierfür fungiert Windelbands Lehrer Lotze, der die platonische Ideenlehre als Legitimation des Reichs der Werte umgedeutet hatte. Die Einsicht in die »Bedeutung der Geschichte als des Organon der Philosophie« hat sich bei Hegel bereits Bahn gebrochen, und Lotze selbst bekennt sich hierin zu Hegel. Windelband deu-
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tet Hegels dialektische Methode schließlich geltungstheoretisch: »Er dachte in dieser Selbstbewegung des Gedankens zugleich die Unabhängigkeit des Geltens-an-sich von der Anerkennung durch irgendwelche empirische Bewußtseinsfunktionen und die notwendige Verknüpfung der Vernunftwerte untereinander« (254). Was »Hegelianismus« im positiven Sinn besagen kann, bleibt damit nebulös, wie auch keine weiteren Beziehungen zu Hegels Schriften gezogen werden. Aber Windelband selbst nimmt damit einen Hegel’schen Blick auf die neuere Philosophie seit Kants Tod ein, um die Philosophie seit den Deutschen Idealisten, v. a. Fries und Hegel, als Entwicklungsstufen auf dem Weg zu einem erneuten Hegelianismus zu begreifen, der nun endlich wahrhafte Kritik an der als historisch verfassten Vernunft zu betreiben sucht unter Vermeidung der beiden Gefahren des Psychologismus wie des Historismus. In jedem Fall sind damit die »metaphysischen Neigungen des Hegelianismus« in Windelbands Zeit unter Generalverdacht gestellt und es wird einer »Hegel’schen Begriffsarbeit« das Wort geredet, die zu den »eigensten Aufgaben der wissenschaftlichen Philosophie« im intimen Verhältnis steht. Damit offenbart Windelband zuletzt seinen eigenen Hegelianismus.
3.4 Zum deutschen Geistesleben: Goethe, Schiller, Hölderlin
Windelband spricht über Goethe und Schiller wie Vorläufer, die fast noch Zeitgenossen sind. Dabei muss man sich historisch vor Augen halten: Eine solche gelassene Perspektive auf die »Klassiker«, als die Goethe und Schiller heute gelten, ist fast unvorstellbar geworden; allzu sehr sind sie als der »Höhenkamm« der deutschen Kultur anerkannt. Es war aber für Windelband und seine Zeitgenossen noch möglich, eine solche Position einzunehmen und zu beobachten, wie diese Figuren erst langsam zu Klassikern wurden. Windelband kann sogar als jemand angesehen werden, der – zusammen mit anderen Denkern der Zeit (etwa Dilthey, Simmel und Cassirer) – maßgeblich, und v. a. zu einer Zeit der Vereinheitlichung des Deutschen Reiches unter Bismarck, in der
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die Deutschen Identifikationsfiguren suchten, zu dieser Klassikergenese beitrug.76 Gleichwohl erkennt Windelband an, dass es ein herausragendes Charakteristikum von Goethes Persönlichkeit und Werk ist, Kosmopolit zu sein, als Dichter der deutschen Sprache gerade weder den Deutschen noch der deutschen Sprache zu gehören, auch wenn sein Beitrag zu seiner Muttersprache unschätzbar ist, so dass die deutsche Sprache nach Goethe nicht mehr wiederzuerkennen ist. Goethe interessiert Windelband aber eher als Philosoph, auch wenn es durchaus misslich ist, wie er gleich zu Anfang betont, von »Goethes Philosophie« zu sprechen, da er sich gerade schroff von aller akademischen Philosophie absetzte, die zur gleichen Zeit in Kant, Fichte, Schelling und Hegel im Aufschwung war. Es war die persönliche (also außer-akademische) Freundschaft mit Schiller, die ihn nicht nur zu »philosophischen« Gedanken anregte; vielmehr war es auch Schiller, der Goethe auf subtile Weise Kant, v. a. dessen Moralphilosophie, nahebrachte. Dennoch ist das, was man Goethes Philosophie nennen kann, keine Philosophie im üblichen Sinne, wenn man darunter allgemeine, universale Aussagen versteht. Es ist vielmehr die völlig unorthodoxe Goethe’sche philosophie irresponsable, die sich in seiner »Welt- und Lebensanschauung« ausspricht, wozu eben nicht nur das Schrifttum, sondern auch Goethes gesamtes Leben und Schaffen gehört. So ist es folgerichtig, wenn Windelband als Zentralpunkt Goethe’schen Denkens das Prinzip der Individualität ansetzt. Goethes 76 In der von deutschen Einwanderern maßgeblich geprägten Stadt Milwaukee wurde 1908 eine Nachbildung des Goethe-Schiller-Monuments (von Ernst Rietschel) eingeweiht, also nur ein paar Jahre, nachdem Windelbands Texte zu Goethe und Schiller in den Präludien erschienen waren. Auf der Plakette steht: »Erected by the German Citizens of Wisconsin and dedicated to the city – June 14, 1908 | Rededicated September 4, 1960 | German-American Societies of Milwaukee, Wisconsin«. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass die Strahlkraft der deutschen Geistesgrößen um diese Zeit sogar noch auf deutsche Auswanderer wirkte. Ähnliche Monumente wurden allein in den USA in San Francisco (1901), Cleveland (1907) und Syracuse (1911) errichtet.
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Lebenswerk dreht sich um die Frage nach der Rolle des Individuums in der Welt bzw. der Natur. Die Figuren, die aus Goethes Werk hervorstechen, sind für Windelband Faust und Wilhelm Meister. Faust ist für ihn in erster Linie der »Renaissancemensch«, der die »Stimmung der Renaissance« verkörpert vor der Ankunft der »kalten« Aufklärung (172).77 Systematisch wichtiger und »in Rücksicht auf diese Goethe’sche Lebensweisheit vielleicht lehrreicher und ergiebiger« ist hingegen der Wilhelm Meister aus den Wanderjahren (Untertitel: »Die Entsagenden«). Die Entsagung ist hierbei, so meint Windelband, nicht der alltägliche Verzicht auf Wünsche oder Genüsse, sondern die Selbstbeschränkung des eigenen Lebens, die Anerkennung der eigenen Grenzen, die wiederum Imperativ zum Handeln innerhalb des Ermöglichten werden. Das ist Goethes »kulturphilosophischer Grundgedanke«. Ein Leben im Verband mit anderen ist eines, das sich im Kontext seiner Geschichte – der eigenen, der des eigenen Volkes – situiert und darin reflektiert. Neben Goethe ist für Windelband Schiller ein weiterer philosophischer Meister. Der Text über »Schillers transzendentalen Idealismus«, gehalten 1905 zu Schillers hundertstem Todestag, beleuchtet Schillers Position in der Philosophie seiner Zeit, mit anderen Worten seinen Beitrag zur Philosophie des Deutschen Idealismus, dem er, wie Windelband betont, innig zugehörte. Hierbei sieht Windelband Schillers Bedeutung darin, dass es ihm gelang – durch seine ästhetischen Briefe, aber auch seine populären Dramen, die von Philosophie durchdrungen waren –, die kritische 77 Dieses Thema wird v. a. im zweiten Aufsatz zu Goethe (»Goethes Faust und die Philosophie der Renaissance«) von 1908 besprochen. Hierin geht es v. a. um das Verhältnis des »Urfaust«, der erst 1887 entdeckt wurde, zum eigentlichen Faust. Windelband vertritt die These, dass der Urfaust nicht die wahren Intentionen Goethes erfasst, so dass der Vergleich zwischen beiden Versionen den Wandel in Goethes Denken dokumentiert. Windelband gehört dabei zu den Ersten, die diese Auffassung, »vom Urfaust zu Faust«, d. h. vom jugendlichen (»schwelgerischen«) zum reifen (»entsagenden«) Goethe, die in der Goetheforschung inzwischen anerkannt ist, formuliert haben.
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Philosophie in »allgemeine Vorstellungsweise zu überführen und im Bewußtsein der deutschen Bildung heimisch zu machen« (190). Obwohl Schiller kein philosophisches System anstrebte, ist er dennoch durchweg ein Kantianer geblieben, wobei sein besonderes Interesse einer »Kulturpsychologie der Kunst« galt, also einer psychologischen Deutung der Wirkung der Kunst auf die Bildung der menschlichen Psyche (etwa im Spiel). Weiterhin war es Schiller um eine Verortung der »Kunst in den Vernunftwerten der Menschheit« in Hinblick auf eine neue Bildung hin zur wahrhaften Humanität zu tun. Hierbei suchte er die gemeinsame Wurzel alles moralischen und ästhetischen Lebens; er fand sie im Urphänomen der Freiheit. Die Freiheit als Zentralbegriff des Schiller’schen Denkens ist es somit, die ins Zentrum von Schillers Interpretation der kantischen Lehre vom transzendentalen Idealismus führt. Windelband unterscheidet drei Dimensionen dieser Lehre, für Individuum, Menschheit und Bewusstsein überhaupt (die Gattung), wobei die drei in einem »Rhythmus« schwingen. Mit der Ausgestaltung der »ästhetischen Persönlichkeit« und seiner damit einhergehenden originellen These vom dem den Menschen wesentlich innewohnenden Spieltrieb geht Schiller über Kant hinaus. Damit bildet sich in Schiller die »höchste und reifste Form des transzendentalen Idealismus«, da Schiller Moralphilosophie und Ästhetik engführt (197). Schiller ist – dem gängigen Narrativ zufolge – auf dem Weg vom subjektiven zum objektiven bzw. absoluten Idealismus, was sich auch in der kritischen Interpretation der kantischen Moralphilosophie niederschlägt, die auf Hegel hindeutet. Windelbands Interesse an Hölderlin ist bemerkenswert, weil unerwartet.78 Der »wahre« Hölderlin der großen Gesänge, vaterländischen Hymnen und dichterischen Entwürfe wurde erst ab ca. 1910 bekannt, als der George-Schüler Norbert von Hellingrath Hölderlins Nachlasswerk entdeckte und schrittweise veröffentlichte. Die »eigentliche« Hölderlinrezeption, die sich teilweise (v. a. 78 Da die vorliegende Edition Windelbands im 250. Jubiläumsjahr Hölderlins erscheint, mag es angebracht sein, etwas ausführlicher auf Windelbands Sicht einzugehen.
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im Ersten Weltkrieg) zur Hysterie steigerte, begann erst um diese Zeit.79 Davor war Hölderlin eher als ein der romantischen Schule zugehöriger Dichter bekannt, der vielleicht zu Unrecht vergessen war, dessen Stern aber sicher nicht heller leuchtete als der seiner Zeitgenossen; vor allem sein »Wahnsinn« (oder wie immer man seine Situation beschreiben sollte, die ihn für die Hälfte seines Lebens an den »Hölderlinturm« in Tübingen band) war Gegenstand mannigfaltiger Faszination, die in den Geniekult und das Klischee des »von Götter geschlagenen heiligen Wahnsinns« spielte. Dies war eindeutig die Situation im Jahre 1878, als Windelband seinen Vortrag »Über Friedrich Hölderlin und sein Geschick« in der akademischen Gesellschaft zu Freiburg hielt.80 Windelbands Deutung Hölderlins ist keine entscheidend andere als die traditionelle seiner Zeitgenossen. Auch Windelband übernimmt das romantisierende Klischee des »Dichterlebens, welches im Morgenglanze klassischer Schönheit aufging und welches endete in der Nacht des Wahnsinns« (205). Windelband kann sogar als jemand gesehen werden, der für dieses Klischee selbst mitverantwortlich war, es sogar noch durch den hohen Ton seines Vortrags popularisierte. Ironischerweise hat er nicht allzu viel Positives für die Lyrik selbst übrig; im Gegenteil teilt er seinen Zuhörern gleich zu Anfang mit, dass er »für seine Dichtungen [. . . ] bei dem größten Teil von Ihnen nur das historische Interesse in
79 Die Hölderlinrezeption nach dem Tod des Dichters ist neuerdings nachgezeichnet in Stefan Metzger: »Editionen«. In: Johann Kreuzer (Hg.): Hölderlin Handbuch. Stuttgart 2011, S. 1–12. 80 Der äußere Anlass dieses Vortrags ist nicht mit Sicherheit rekonstruierbar. Möglicherweise war es das Erscheinen einer Sammlung von Gedichten, herausgegeben von Gustav Schwab im Jahre 1874, die erstmals eine Auswahl von einigen der späten Hymnen enthält sowie einige »Irrsinns-Gedichte« aus der sog. Turmzeit (vgl. Metzger, a. a. O., S. 2 f.). Schwab wird von Windelband zitiert hinsichtlich dieser biographischen Daten. Dies lässt also als möglichen Anlass für diesen Gelegenheitsvortrag das Erscheinen dieses Gedichtbandes vermuten, welches auch im breiteren Bildungsbürgertum Beachtung fand – mithin möglicherweise genau unter jenen Mitgliedern der Freiburger »Akademischen Gesellschaft«.
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Anspruch nehmen« darf (205). Lesenswert sind Windelbands Ausführungen dennoch, und zwar gerade aufgrund seines besonderen Fokus auf des Dichters Leben, für dessen tragisches Geschick Windelband eine höchst interessante soziologisch-historische These vorlegt; so ist Hölderlins Schicksal ein Symptom für eine soziale Tendenz, die zunehmend auch die Gegenwart betrifft. Hölderlin wird gar zu einem Paradebeispiel für eines der »schwersten Probleme der modernen Bildung«, völlig ungeachtet seiner Dichtung! Im biographischen Abriss wird zunächst die schwäbische Herkunft und die Freundschaft mit den anderen schwäbischen Genies Schiller, Schelling und Hegel betont, Bekanntschaften, die über Freundschaften hinausgingen und gegenseitige Anregungen betreffen.81 Die Ausbildung im Tübinger Stift, die neben Theologie auch klassische Philologie und Philosophie umfasste, trägt zur Bildung eines »edlen Gepräges seines Geistes und seiner Dichtung« bei. Nicht unerwähnt bleibt die bedeutende Wirkung der gleichzeitig stattfindenden Französischen Revolution, die einen »jubelnden Freiheitsdrang« unter den jungen Männern hervorruft. Die Philosophen, an denen man sich im Stift orientiert, sind, neben Kant, Spinoza, Lessing und Jacobi, allen voran Platon. Alles scheint für den »mir liebsten Schwaben« (Schiller über Hölderlin) ausgezeichnet zu laufen, als er durch jenen auch Goethe, Herder, Fichte und andere Geistesgrößen seiner Zeit kennen lernt. Dann jedoch geht er mit der schicksalhaften Übernahme der Hausmeisterstelle im Hause Gontard in Frankfurt »der düstern Entscheidung seines Lebens entgegen«. Hölderlin verliebt sich tragisch in die Ehefrau seines Arbeitgebers. Windelband betont, dass aus dieser Zeit jedoch die besten Produkte seiner »dichterischen Kraft [. . . ] aus 81 Die neuere Forschung hat die gemeinsame Herkunft aus der schwäbischen Oberschicht, der »Ehrbarkeit«, betont. Alle vier stammten aus ihr ab, was bedeutet, dass sie sehr wohlhabend und privilegiert waren und gemeinsame Bildung (etwa im Tübinger Stift) genossen haben. Zur Geschichte der »Ehrbarkeit« in Bezug auf die hier genannten Figuren vgl. neuerdings Klaus Vieweg: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. München 2019, bes. S. 38 ff.
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dem Unglück gestählt«, stammen (211). Die Geliebte wird zur Diotima seiner Dichtungen. Hier zeigt sich eine »Meisterschaft der Zusammendrängung, welche in der modernen Literatur nicht übertroffen worden ist« (212). In der drohenden Lebenskrise deutet sich schließlich der Widerspruch an, den Windelband zum Dreh- und Angelpunkt von Hölderlins Leben und der Hölderlin zum Paradigma des Menschen in der Moderne macht: der »tiefe Gegensatz [. . . ], in welchem sich das unruhige und gespaltene Leben der Gegenwart zu seinem Ideal der klassischen Bildung befand« (212). Nach dem DiotimaErlebnis geht es in Hölderlins Leben rasch bergab. Die Berichte der Zeitgenossen zusammentragend, spekuliert Windelband über Ursachen und Natur der Geisteserkrankung des Dichters, wobei er »nur mühsam der Verlockung« widersteht, eines oder das andere der späten Gedichte zu interpretieren (216). Allerdings rechnet Windelband das Gedicht »Patmos« bereits zu den Gedichten, worin sich »Genius« und »Dämon« begegnen. An welchem Widerspruch aber ist nun das »zarte Gefüge« zerborsten? Windelband sieht ihn in der vom Dichter nicht bewältigten »Graecomanie«, der überzogenen Romantisierung der Griechen, woran auch Schiller litt, aber »durch Kant und Goethe davon geheilt worden war«. Der Widerspruch zwischen der Überhöhung der klassischen Welt und dem zeitgenössischen Deutschland, das Hölderlin verachtete (wie aus der »Deutschenschelte« im Hyperion bekannt), konnte von diesem nicht gelöst werden, anders als bei seinen Zeitgenossen Hegel und Goethe. War Hölderlin also ein Opfer des Versuches, die klassische Antike und die deutsche Gegenwart miteinander zu verschmelzen? Der Kontrast, den Windelband betont, besteht in der »Einfachheit« der antiken Welt, »daß der einzelne imstande war, mit seinen Interessen den gesamten Inhalt des gemeinsamen Kulturlebens zu umfassen«. Der Einzelne war mit dem »wesentlichen Gehalte des gemeinsamen Lebens [. . . ] verwachsen« (223). In der Neuzeit hingegen ist diese naive und harmonische Einheit unmöglich geworden; denn die »Berufstätigkeiten« des modernen Menschen haben sich so ausdifferenziert, dass »jene schöne Einheit [. . . ] unwiederbringlich
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verloren« ist (223). Die Tragik dieser Unmöglichkeit, die eine »Tatsache« des modernen Lebens ist, hat Hölderlin schließlich gebrochen. So wird Hölderlin zum Propheten einer Gegenwartskritik, die beklagt, dass es im modernen Leben keine Einheit mehr geben kann. Dies gibt Windelband schließlich die Gelegenheit, gegenwartskritisch die Fragmentierung des modernen Lebens zu beschreiben. Statt des Versuches einer Harmonisierung herrscht stattdessen nur ein »oberflächlicher Dilettantismus«, der sich über die ganze Welt als »Typus des öffentlichen Lebens« ausbreitet; in politischer Beziehung meint damit Windelband den Parlamentarismus, der »die Staatsform des Dilettantismus« ist (227). Diese Tendenz findet sich auch in der Bildungspolitik wieder, wo alles dem »Geist der Maschine« unterstellt wird und es in erster Linie um Ausbildung zu technischen (d. h. wieder einseitigen) Berufen geht. Hier spricht Windelband, wie auch in seinem Vortrag über Sokrates, aus seiner Gegenwart zu seinen Zeitgenossen, wofür Hölderlin nur den Anlass abgibt. Dennoch handelt es sich bei dieser Auseinandersetzung um eine originelle, politisch gefärbte Lesart, die – trotz der nur tangentiellen Berührung mit dem Dichter selbst – in eine ganz andere Richtung als die übrigen zeitgenössischen Interpretationen geht.
3.5 Zur praktischen Philosophie
Es gibt mindestens zwei Gründe für den Neukantianer Windelband, sich in das »verlockende Feld« der praktischen Philosophie vorzuwagen. Im Sinne der kantischen Systematik ist die Moralphilosophie genauso wichtig wie die Theorie wissenschaftlicher Erkenntnis, für Kant selbst vielleicht sogar zentral. Zweitens ist die Normen- und Werttheorie der südwestdeutschen Schule eo ipso auf moralisch-praktisches Verhalten abgestellt, da Werte alles andere, also auch so etwas wie Erkenntnis, fundieren. Schließlich ist das Ziel der Philosophie die Konstruktion einer robusten Weltanschauung, die für den »Normalmenschen« leitend sein kann. Es
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handelt sich bei diesen Reflexionen eher um gelegentliche Beiträge zur Metaethik statt um konkrete praktische Anleitungen.82 Mindestens zwei Texte zu diesem Thema finden sich in der vorliegenden Textsammlung, nämlich »Vom Prinzip der Moral« von 1883 und »Über Mitleid und Mitfreude« von 1911, die auch hintereinander abgedruckt sind. Allerdings sind die Grenzen zwischen im strengen Sinne moralphilosophischen und weltanschaulichen Themen, die im folgenden Themenblock behandelt werden, nur schwer bzw. künstlich zu ziehen. Im »Prinzip der Moral« nimmt Windelband von der vermeintlichen Allgemeingültigkeit moralischer Urteile den Ausgang; denn diese Allgemeingültigkeit steht bei kulturrelativistischen Problematisierungen, die in Windelbands Zeiten v. a. in Form von »Völkerpsychologien« auftreten83, immer in der ersten Reihe der Kritik. Denn nicht nur bei »Spitzbuben und Schurken«, auch in den Ansichten der »moralischen Menschen« gehen die Moralurteile »so weit auseinander, daß die Aufstellung eines Sittengesetzes, das sachlich für alle gälte, nicht möglich erscheint« (405). Diese Relativität im Moralischen ist freilich nicht hinnehmbar.84 Allein die Auffindung eines Prinzips aller Moral kann diesen Relativismus abwenden, wobei man bei Kants Moralphilosophie landet; denn 82 Statt zur Ethik im engeren Sinne lassen sich die moralphilosophischen Überlegungen der Neukantianer im Ganzen eher der Sozialphilosophie zurechnen, neben Windelband wäre hier der »Sozialidealismus« und die »Sozialpädagogik« Natorps zu nennen, vgl. dessen Monographien gleichen Titels. 83 Vgl. hierzu die von Heyman Steinthal und Moritz Lazarus zwischen 1860–1877 herausgegebene Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, worin der junge Hermann Cohen (wie der junge Windelband) seine ersten Schriften veröffentlichte. 84 Es ist hierbei zu erwähnen, dass der Kampf gegen den Relativismus auf den Gebieten der Logik, Erkenntnistheorie und Ethik vielen Philosophen verschiedener Couleur um 1900 gemeinsam war. Trotz aller Unterschiede sahen sie sich hierin vereint. Zu dieser Phalanx gehören neben Vertretern der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus auch die Marburger Schule sowie die frühe phänomenologische Bewegung um Husserl.
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Kants kritische Ethik, basierend auf einem formal-apriorischen Prinzip, ist das natürliche Bollwerk gegen alle Sorten von Relativismus. In Windelbands Lesart ist bei Kant das Pflichtbewusstsein das Prinzip der Moral. Windelband sieht also hierin den inhaltsleeren, jedoch deswegen apriorischen und universell applizierbaren Formalismus und nicht, wie Kant selbst es vielleicht eher betont hätte, im Formalismus des Kategorischen Imperativs oder des Faktums der Freiheit. An dieser apriorischen Gesetzmäßigkeit ändert auch alle neuere empirische Forschung zu Psychologie, Ethnographie, Völkergeschichte und Kulturgeschichte nichts, auch wenn sie in Windelbands Zeit vehement dazu beitragen, den Glauben an ein solches Prinzip zu erschüttern. Aus der Idee der Pflichterfüllung aber leiten sich teleologische Pflichten ab, solche also, die, obzwar formal, der Idee des Pflichtbewusstseins eine konkrete Leitung geben, also etwa zur »Selbstbeherrschung, Überlegtheit, Konsequenz, Energie, etc.«, ungeachtet der materialen Weisen, wie sie zu erreichen sind. Die »materialen Pflichten [. . . ] beziehen sich lediglich auf die psychologischen Verhältnisse, welche als Mittel zur Pflichterfüllung verlangt werden müssen« (412). Diese sind dann eine Frage der empirischen Psychologie und können sich sehr wohl auf konkrete Menschen wie auch Menschengruppen und Völker beziehen. Ethische Bedeutung erhalten Verhaltensweisen allerdings nur, wen sie sich dem »sittlich bestimmten Willen« unterordnen. Windelband schlägt folglich eine Zweiteilung der Ethik in formale und materiale Prinzipien vor, in Analogie zur Erkenntnis, die – auch hier Kant folgend85 – in formale Logik und materiale (d. h. psychologische) »Grundsätze der Erkenntnistheorie« unterteilt ist. Entsprechend hat letztere Disziplin in der Ethik durchaus auf die empirischen, historischen und sozialen Umstände der Menschen 85 In der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet Kant innerhalb der »allgemeinen Logik« zwischen reiner und angewandter Logik, vgl. B 77–79. Auch Husserl verfährt in seiner Ethik nach der Analogie zwischen Logik und Ethik, allerdings nach dem Vorbild der »Analogie der Vernunftarten« von Brentano, vgl. Husserliana XXVIII (Vorlesungen über Ethik und Wertlehre [1908–1914], Dordrecht 1988).
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Rücksicht zu nehmen und kann auch die Verschiedenheit der Kulturen und deren Sitten »genetisch erklären«. »Die philosophische Frage dagegen«, also die der formalen Ethik, »ist die, ob sich in der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft durch teleologische Besinnung ein allgemeingültiger Inhalt des Pflichtbewußtseins auffinden läßt« (416). Es geht also in der formalen Ethik für das Individuum genauer gesagt darum, zu fragen, wie es der Gemeinschaft, der es zugehört, dienen kann, und zwar anhand »eines empirischen Leitfadens, der in der Kenntnis der allgemeinen Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens zu suchen wäre; aber die Begründung jener einzelnen Gebote liegt natürlich wiederum nicht in dieser empirischen Vermittlung, sondern in der Evidenz, mit der sich die einzelnen Vorschriften als Mittel zur Realisierung der sozialen Gesinnung darstellen« (419 f.). Der Wert des Einzelnen für die Gesellschaft ist dann trotz Berücksichtigung der materialen Situation allgemeingültig zu erheben. Dafür muss das »material-apriorische«86 Prinzip der Sittlichkeit (neben dem formalen des Pflichtbewusstseins) »in dem Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft gesucht werden«, also in der Frage, was der oder die Einzelne mit seinen Fähigkeiten tun kann (und damit soll), um das Wohl der Gesellschaft zu befördern. Pflichten sind also nicht nur individuell, sondern als vom Individuum zu erbringen auch im Sinne der Gesellschaft wirksam. Bei »sozialen Pflichten« wiederholt sich demnach das Verhältnis von formalen und materialen Pflichten. Wie kann aber nun die Pflicht der Gesellschaft bestimmt werden? Diese »schwierigste Frage« lässt sich auch wie folgt formulieren, als »Kardinalfrage aller Ethik«: »Was ist die Aufgabe der Gesellschaft?« »Glück« für die Einzelnen lehnt Windelband wie schon Kant ab, wenn auch 86 Windelband verwendet diesen Begriff nicht; er ist durch die phänomenologische Bewegung eingeführt worden, v. a. in Schelers Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/16). Da aber Scheler den Begriff des materialen Apriori in der Kritik an Kants Formalismus entwickelt, liegt der Begriff bei Windelband jedenfalls nahe. Auch der Begriff der Evidenz, der in obigem Zitat fällt, ist eine bemerkenswerte, weiter zu verfolgende Parallele zu phänomenologischen Entwürfen der Ethik.
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mit anderer Begründung als dieser: Man dürfe nicht »allen Wertverhältnissen nur Quantitätsdifferenzen unterschieb[en]« (424). Gegenüber dieser »Lustkrämerei« sieht Windelband eher in religiösen Moralvorstellungen das Ideal einer göttlichen Weltordnung als ein Motiv, welches in die Metaphysik transponiert wurde. Aber seit Kant wissen wir, dass eine solche Metaphysik als »vollständige Erkenntnis des Weltalls« für immer unmöglich ist. Was bleibt also? Als Lösung skizziert Windelband auf den letzten fünf Seiten eine originelle Vision, die nochmals als umfassendes Statement der südwestdeutschen Werttheorie, nun ins Moralphilosophische erweitert, gelten kann. Auch hier wird das, was früher für das Individuum ausgeführt wurde, auf die Sozialität angewandt. Analog zum schon besprochenen Normalbewusstsein gibt es auf intersubjektiv-sozialer Ebene ein »Gesamtbewusstsein«, das nichts mit einem »Volksgeist« zu tun hat, sondern es handelt sich um »eine Vorstellungsweise, welche den Rahmen aller Kenntnisse und alles Nachdenkens der einzelnen bildet, – eine Gefühlsweise, aus der die Regungen individueller Gefühle als Auszweigungen sich ablösen, – eine Willensbestimmtheit, die als Grundton alle persönlichen Bestrebungen durchdringt« (429). Dieses Gesamtbewusstsein ist nichts anderes als die »Sitte«, als »das natürlich Gemeinsame, dasjenige, was mit Naturnotwendigkeit für alle Mitglieder der Gesellschaft gilt«. Historisch gewachsen, ist jede lokalisierte Sitte auch einzigartig. Der Wert einer Gesellschaft bestimmt sich demnach nach dem »klaren Bewusstsein« dieser Sittlichkeit, was sich in »äußeren Ausprägungen dessen, was für alle gilt«, zeigt (430). Diese Ausprägung im Äußeren nennt Windelband das Kultursystem: Sie ist die objektive Manifestation dieses Gesamtbewusstseins. »Und so dürfen wir sagen«, schließt er in einer Allgemeinheit, die für jede Gesellschaft gelten soll, »die Bestimmung jeder Gesellschaft ist die Schaffung ihres Kultursystems« (430). Die Philosophie ist Reflexionsorgan zur kritischen Prüfung dieses Systems und seiner Überzeugungen, denn: »Mit diesem ihrem Kultursystem steht und fällt der sittliche Wert jeder Gesellschaft: den letzten Schweiß- und Blutstropfen hat sie daran zu setzen, um es zu erzeugen und zu erhalten« (431) – mit allen blutigen Folgen,
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die Windelband sehenden Auges als Zeitgenosse der auch vom Deutschen Reich ausgehenden Kolonisation in Kauf nimmt. Auf diese Weise strebt jede individuelle Gesellschaft danach, »das absolute Allgemeingültige zur Erscheinung zu bringen« (431) – nach einer Art Recht des Stärkeren. Die Pflicht des Individuums hierin ist dann klar, nämlich »im Dienste der Gesellschaft zu stehen, aber in dem Sinne, daß diese in gemeinsamer Arbeit ihr Kultursystem erzeuge« (431). Jeder muss in diesem Sinn »das seine« tun. Hieraus leiten sich schließlich spezifische Kulturpflichten ab, die dann wiederum in die Trias von Vorstellen, Fühlen und Wollen zerfallen, die sich wiederum in den drei großen materialen Gütern »Wissenschaft, Kunst und Rechtsordnung« manifestieren. Aber an diesem Punkt endet Windelband. Es geht ihm nicht um die Ausführung einer Moralphilosophie, sondern nur um die »kurze Andeutung«, »dass die kritische Methode auf dem Wege der teleologischen Besinnung zur Begründung eines Systems der Moral fähig ist«, ein Ansatz immerhin, der sich »als System der praktischen Philosophie in einer sachlich bestimmten Geschichtsphilosophie abschließen« muss (433). Mit dieser hochgradig suggestiven Skizze deutet Windelband lediglich an, wie eine systematische Moralphilosophie im werttheoretischen Rahmen möglich ist. Auch hier kommen wiederum Kantische und Hegel’sche Motive zusammen, die zuletzt Windelbands Schüler Bruno Bauch (1877–1942) fruchtbar zu machen versucht hat. Bauch bemühte sich neben wissenschaftstheoretischen Arbeiten um eine als »kritisch« bezeichnete Ethik als »Wissenschaft vom Werte menschlichen Handelns«87, die allerdings darauf hinausläuft, die gesellschaftlichen Differenzen zwischen Individuen und ihren je eigenen Beziehungen zu überindividuellen Kulturwerten strikt bestehen zu lassen, ein jedes 87 Vgl. Bruno Bauch: Glückseligkeit und Persönlichkeit in der kritischen Ethik. Stuttgart 1902; ders.: »Ethik«. In: Windelband (Hg.): Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. 2. Aufl. Heidelberg 1907, S. 208– 268; ders.: »Ethik«. In: Paul Hinneberg (Hg.): Systematische Philosophie. 3. Aufl. Berlin 1921, S. 239–275. Bauch war nach 1933 an der Gleichschaltung der philosophischen Vereinigungen und Verbände in Deutschland beteiligt.
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an seiner Stelle, als Organ eines übergeordneten »normativen Bewußtseins«. Dieses ideologische Programm kann sich kaum mehr auf Kant berufen. Der kurze Aufsatz »Über Mitleid und Mitfreude«, auf einen Vortrag von 1911 zurückgehend, schaltet sich etwas konkreter ein in die Debatte um die Grundlage der Moral, ausgehend von Schopenhauers Willensphilosophie. Der darauffolgende Text »Pessimismus und Wissenschaft« von 1876 (und damit einer der frühesten) führt dieses Thema weiter in Bezug auf die Wissenschaft aus. Schopenhauers Ethik ist auf das angeblich irreduzible Phänomen des Mitleidens an der Kreatur gegründet, eines Gemütszustands, der nicht beim menschlichen Wesen haltmacht. Der metaphysische Rahmen hierfür ist freilich Schopenhauers Pessimismus bezüglich des Seins im Ganzen. Dass sich Pessimismus für einen Kulturphilosophen von vornherein verbietet, liegt auf der Hand. Die interessante Frage ist vielmehr, wie Windelband darauf mit einem Optimismus oder einer »Mitfreude« statt einem »Mitleid« (Schopenhauers Moralkompass) reagiert. Beim Thema des Mitleidens als altruistischer Haltung anderen gegenüber stellt sich die Frage, ob sich ihr Motiv »nicht schon in der ursprünglichen Natur des Menschen« finden lasse (437). Mitleiden und Mitfreuen sind freilich Gemütsdispositionen generell des Genus Mitfühlen, bei denen es sich fragt, ob ein solches Fühlen »selbst psychologisch begreiflich« zu machen sei und ob es ein »allgemeines Grundmotiv ist, aus dem alles sittliche Wollen und Handeln folgt« (439). Die Meinung, es könne eine psychologische Disposition sein, nährt sich auch daraus, dass manche Menschen offenbar leicht mitfühlend sind, während andere als kalt und fühllos empfunden werden. Es drängt sich der Schluss auf, dass es sich um nichts weiter als eine psychologische Beobachtung handelt. Weiterhin fragt es sich, wie eins der beiden Gefühle ein Motiv zum Handeln darstellen könne. Während die Mitfreude eher ein kontemplatives Moment hat, ist es doch das Mitleid, das eine Triebfeder des Handelns ist. Gefühle sind also keine Garanten für aus ihnen folgendes ethisches Handeln. Jedenfalls kann auch eine metaphysische Erklärung des Mitleids, welche Schopenhau-
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er, an die indische Philosophie anschließend, gibt, letztlich nicht überzeugen, da »im empirischen Bewusstsein immer noch die deutliche Vorstellung der Verschiedenheit der Individuen bestehen bleibt« (442). Ist eine Theorie allerdings auf solche empirischen Gegebenheiten wie psychologische Dispositionen oder andere Seelenzustände (etwa in der Einfühlung) gegründet (wie Windelband neuere Tendenzen seiner Zeit charakterisiert), kann man nicht darauf Anspruch erheben, ein echt ethisches Motiv im Mitleiden anzutreffen. Das Gleiche kann dann jedoch auch für die Mitfreude als ethisches Motiv gesagt werden; beide sind nichts anderes als »eine schwere Kunst der Feinfühligkeit und des höchsten sittlichen Taktes«. »Derartige Vorrichtungen gehören höchstens in das Reich der Legalität, aber mit der Moral haben sie nichts zu schaffen« (448). Der philosophisch entscheidende Beitrag Windelbands zu dieser Debatte um Mitleid und Altruismus ist also, dass es sich bei diesen Gemütszuständen allenfalls um Gegenstände der Moralpsychologie handelt, wie man heute sagen würde, d. h. für den Kantianer, dass sie nicht eigentlich moralischen Charakters sind. Im Gegenteil, an ihnen zeigt sich am ehesten die Genesis unseres moralischen Fühlens aus unserer tierischen Abstammung. Aber »die allgemeine Menschenliebe und die sympathischen Gefühle, womit wir Mitfreude und Mitleid allem zuwenden, was Menschenantlitz trägt, sind nicht etwas von der Natur Gegebenes, sondern vielmehr ein historisches Produkt der Kultur und eines der wertvollsten von allem« (449 f.). So ist auch hier wiederum die wahre Liebe zum Menschlichen und vom Menschen Geschaffenen ein Produkt der Kultur und liegt in der Beziehung derselben zu ewigen Werten, solchen also, die »jenseits von Ich und Du, jenseits von Egoismus und Altruismus« stehen (452). Eine »vernünftige Wertabschätzung« in einer Hierarchie von Abstufungen von Kulturleistungen folgt hieraus. Nur hierdurch »entgeht man auf der einen Seite der rücksichtslos drakonischen Gleichmacherei und auf der andern Seite der Verweichlichung mißverstandener Humanität« (451). Der kulturphilosophische Schluss hieraus ist dann aber eindeutig: Die »großen Kulturgüter« und »die Arbeit des
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Menschen an sich selbst, durch die er als Persönlichkeit sich dazu reif macht, haben ganz andere Wurzeln als das Mitgefühl« (452).
3.6 Bildung und Kultur; Religionsphilosophisches
Einige der in den Präludien versammelten Texte gehen zwar in ihrer Thematik aus moralphilosophischen Überlegungen hervor, sprengen aber den Rahmen des streng akademisch Philosophischen. Zu dieser Thematik gehören – neben den Texten zur Religion – v. a. die hintereinander angeordneten Texte »Pessimismus und Wissenschaft« (1876), »Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben« (1908) und »Bildungsschichten und Kultureinheit« (1910). Bei genauerem Hinblick erweisen sich Windelbands Reflexionen als erstaunlich zeitgemäß. In »Pessimismus und Wissenschaft« greift Windelband in die Pessimismusdebatte ein, die v. a. im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Rezeption der Schopenhauer’schen Philosophie die Gemüter erhitzte. In der Tat ist der Pessimismus, wie Windelband feststellt, »zweifellos eine der am weitesten, wenigstens in den Grenzen des deutschen Kulturlebens verbreiteten Moden«.88 Wie kann sich eine solche Stimmung Bahn brechen, wundert sich Windelband im Jahre 1876, »in dieser Zeit der frischen Aufrichtung, der arbeits- und gedankenvollen Erhebung des nationalen Lebens im deutschen Volke« (454)? Windelbands Text versucht hierauf eine Antwort zu finden, die vom Standpunkt der wissenschaftlichen Kulturphilosophie aus zu geben ist. Am gefährlichsten ist eine solche Stimmung, wenn sie sich aufgerufen und befugt fühlt, mit der Wissenschaft zu konkurrieren, »als ob die im Pessimismus ausgedrückte Überzeugung von der Schlechtigkeit der Welt ein beweisbares Resultat wissenschaftlicher Untersuchungen wäre« (454); das Gleiche gilt übrigens auch für den Optimismus. In einer Gegenwart, die auch Post-Truth-Zeitalter genannt wird, in 88 Vgl. die Darstellung dieser Debatte bei Frederick C. Beiser: Weltschmerz. Pessimism in German Philosophy 1860–1900. Oxford 2016.
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dem die wissenschaftliche Urteilskraft einer international vernetzten, sich gegenseitig kritisch bewertenden scientific community in den Wind geschlagen wird zugunsten einer bloßen eilfertigen, politisch motivierten Meinung, muss eine solche Analyse aufhorchen lassen. Windelbands Stoßrichtung geht denn auch dahin zu zeigen, »daß die Wissenschaft mit dem einen [Pessimismus] so wenig zu tun hat wie mit dem anderen [Optimismus]« (454), so dass so etwas wie ein »wissenschaftlich begründeter Pessimismus« eine contradictio in adiecto ist. Um diesen Kategorienfehler zu belegen, stellt sich Windelband direkt den pessimistischen Theorien seiner Gegenwart. Zunächst einmal betont er den Ursprung solcher Stimmungen in psychischen Zuständen, wo sie sich verfestigen können zu eingefahrenen Denkweisen; beide (positive wie negative) Gefühlslagen haben ihre »psychologische Berechtigung«, aber auch nicht mehr, sind mithin von kühlem wissenschaftlichen Objektivismus toto coelo entfernt. Denn der »Unterschied zwischen wissenschaftlichem und gewöhnlichem Denken [besteht] zu allererst in dem Ausschluss der Gefühle [. . . ]. Wissenschaftliche Betrachtung ist interesselose Betrachtung« (458), die auch in ihren letzten Resultaten und Konsequenzen nichts von Stimmungen an sich haben kann. Damit disqualifiziert sich von vornherein eine Aussage wie »die Welt ist schlecht« als ein bloßes Werturteil. Was demnach Optimismus und Pessimismus gemeinsam haben, ist die »Absicht, den Wert des Universums zu beurteilen« (460), sie urteilen also nicht, sondern beurteilen. Ihre Beurteilung ist eo ipso teleologisch. Der Unterschied zur Wissenschaft ist klar: Urteile beziehen sich auf wahr und falsch; Beurteilungen auf gut oder schlecht; aber für die Beurteilung von so etwas wie dem Universum fehlt es uns schlechterdings an einem Beurteilungsprinzip. Beurteilungen darüber haben daher einen unaufhebbaren Grad an Willkürlichkeit, der sich trotz aller Prätention zur Objektivität nicht eliminieren lässt. Die Frage nach dem Wert des Universums setzt die teleologische Vorentscheidung voraus, dass es einen Zweck gibt und dass wir ihn mit Sicherheit wissen können. Vom Universum aber »gibt es keinen Zweck, der objektiv nachweis-
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bar wäre« (464), und so ist jeder Versuch eines wissenschaftlichen Urteils darüber nichts anderes als eine Beurteilung und als solche folglich unwissenschaftlich. Daraus folgt sowohl für Optimismus wie Pessimismus: Sie »können in der Wissenschaft nur Platz finden als Erscheinung auf dem Gebiete der individuellen und der kulturhistorischen Psychologie« (464 f.). Systematisch zeitgemäß ist hier in erster Linie die Idee von der Unterscheidung zwischen Urteils- und Beurteilungsaussagen. An diese scharfe Trennung, die Windelband zwischen wertendem Beurteilen und objektivem Urteilen vornimmt, kann nicht genug erinnert werden, v. a. wenn es um die Kontamination wissenschaftlicher Urteile mit solchen geht, die auf politische Rechthaberei (»Beurteilungen«) aus sind und, hiervon geleitet, wissenschaftliche Wahrheiten für ihre Zwecke instrumentalisieren. Wer behauptet, es gäbe keinen Unterschied zwischen wahrer, wissenschaftlicher und weltanschaulicher Behauptung, muss sich den Vorwurf des Selbstwiderspruchs gefallen lassen, sofern die Behauptung (als Urteil) selbst mit dem Anspruch auf Wahrheit vorgebracht wird. Mit den Texten »Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben« (Vortrag in Wien) und »Bildungsschichten und Kultureinheit« (beide aus dem Jahr 1908) greift Windelband in die zeitgenössischen Debatten um die Bildungspolitik ein. Der Wiener Vortrag versucht, einen deutsch-österreichisch übergreifenden Bogen zu schlagen, mittels der Frage nach den Bildungsidealen, die an den Mittelschulen zu gelten haben, also den Schulinstitutionen, die jeweils für den Besuch der Universitäten und das akademische Studium vorbereiten sollen.89 Auch hier macht sich aus Sicht Windelbands das positivistische Zeitalter mit seiner Hochschätzung des naturwissenschaftlichen Geistes bemerkbar, der zur Abwertung der humanistischen, auf Geschichte und alten Sprachen beruhenden Erziehung führt. Nach Windelbands Einschätzung 89 Es sei am Rande erwähnt, dass auch Natorp sich in die Diskussion über das dreigeteilte Schulsystem an Sekundarschulen einschaltete; vgl. S. Luft: »Einleitung des Herausgebers«. In: P. Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Darmstadt 2013, S. XI–XXXIX.
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ist diese Tendenz eine Mischung aus naturwissenschaftlichem Positivismus, angelsächsisch geprägtem »Utilismus«, der alles am Maßstab des Nutzens und der Lustoptimierung misst, und nicht zuletzt Nietzsche mit seinem Pathos des »Abwerfens der Last der historischen Tradition« (477). Windelband nutzt die Analyse der zeitgenössischen Bildungseinrichtungen, um auf die Motive für diese Verschiebung in der Bildungspolitik zu reflektieren, denn auch diese ist letztlich beeinflusst vom maßgeblichen, hier schon mehrmals zur Sprache gekommenen Zwiespalt im Denken des 19. Jahrhunderts. Anstatt aber – wie so häufig – der naturwissenschaftlichen Seite Philosophie- und Geistesvergessenheit vorzuwerfen und sie von der Warte des Geisteswissenschaftlichen her zu verachten, will Windelband vielmehr zeigen, »wie viel Tradition in der heutigen Naturwissenschaft steckt«. Gerade die Größen der modernen Naturwissenschaft lassen erkennen, dass »unsere heutige Naturwissenschaft selbst ein Produkt der Begriffsarbeit von zwei Jahrtausenden ist« (481). Die neueren wissenschaftlichen Tendenzen, zusammen mit denjenigen in der Moralphilosophie (etwa des Utilitarismus) und des neueren Positivismus sind im Gegenteil alles andere als ein radikaler Bruch mit der Tradition, sondern vielmehr Konsequenzen des Einzugs des historischen Denkens im 19. Jahrhundert – eine Tendenz, die Windelband prinzipiell begrüßt. Die durch die neuzeitliche Tradition geprägte positivistische Denkweise ist alles andere als ahistorisch, sondern eine Tendenz zur Prägung des Menschen aus dem Naturzustand zum Kulturwesen, wie Windelband an die Marburger Formel anknüpfend sagt: »Auch für unsere Frage gilt es deshalb, dass der Kulturmensch überhaupt nicht schon mit und in dem natürlichen Menschen gegeben, sondern für den geschichtlichen Menschen aufgegeben ist und durch ihn allein verwirklicht wird. Darum besteht ja alle Erziehung, die wir leisten, alle Bildung, die wir leiten können, wesentlich darin, aus dem natürlichen Menschen den historischen zu machen« (483). Auch die in den Mittelschulen gelehrte neuere Naturwissenschaft trägt nolens volens zum »welthistorischen Recht der humanistischen Bildung« bei (486). Windelbands Befund für
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die Zukunft der Bildungsanstalten ist also durchaus positiv, sofern sie neben Wissenschaften auch Sprachen, Mathematik und weitere geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Religion und Kunst lehren. Was Windelband letztlich vorschwebt, ist eine synthetische Ausbildung, die beide Aspekte vereint. In die gleiche Richtung geht der kurze Text über »Bildungsschichten und Kultureinheit«, sofern es in der Frage nach der Kultureinheit darum geht, dass ein Kollektiv idealiter durch eine kulturelle Identität bestimmt wird, welche aber in Windelbands Zeit auf verschiedene Bildungsschichten verteilt ist bzw. aus ihnen erwächst. Windelband beklagt die Ausdifferenzierung des Wissens. Der Lösungsvorschlag ist für Windelband jedoch durchaus pragmatisch, weil er damit einer Einheitsschule den Rücken kehren möchte und in der Schulausbildung für verschiedene Bildungsschichten optiert, die »differenziert und gesondert nebeneinander stehen« sollen, was der »unabänderlichen Tatsache« des heutigen Wissensstandes Rechnung trägt. Damit legitimiert sich für ihn die Dreiteilung der deutschen Mittelschulen in Gymnasium, Realund Volksschule. Die angestrebte Kultureinheit ergibt sich durch die Synergie, die alle drei Schulformen in ihrer Gesamtheit erlangen. Kunst und Literatur treten hierbei an die Stelle, die vormals durch die in der Religion garantierte moralische Bildung erzielt wurde. Wenn es also eine Einheit bzw. Einheitlichkeit in allen Bildungsschichten geben kann, so kann dies allenfalls in der schönen Literatur erreicht werden; denn »in den Schätzen unserer Literatur besitzen wir den intimen Zusammenhang mit dem traditionellen Grundwesen, mit der historischen Struktur unserer heutigen Bildung« (503). Bei all dem gilt, dass eine Kultureinheit »nicht mehr eine substantielle, sondern nur noch eine funktionelle ist« (503). Hiermit erhält die Aufgabe, eine Kulturmenschheit zu werden, eine klare Kontur und konkrete Anleitung, angefangen bei der Schulbildung der Jugend. Diese »Kulturmenschheit« besteht jedoch aus der in sich differenzierten Masse der »verschiedenen Schichten« der Bevölkerung, wo jeder das Seinige beizutragen hat. Damit schließt sich der Kreis wiederum zum Windelband’schen Gedanken des »Normalbewusstseins« und der »Kulturmenschheit«.
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Um schließlich zur Religion zu kommen, sind drei Texte zu erwähnen, der längste – und ambitionierteste – Text »Das Heilige (Skizze zur Religionsphilosophie)« von 1902 sowie die beiden kürzeren Texte »Von der Mystik unserer Zeit« (1910) und der als »Meditation« bezeichnete »Sub specie aeternitatis« von 1883. Während der Text zur Mystik polemisch ist und die »Meditation« bewusst nicht streng wissenschaftlich vorgeht, ist der Text über das Heilige positiv und konstruktiv. Er bietet im Sinne der bisher vorgestellten Werttheorie südwestdeutscher Prägung eine konsequente Umsetzung bzw. Inkorporation des religiösen Aspekts. »Das Heilige« beansprucht, wie der Untertitel besagt, eine »Skizze zur Religionsphilosophie« zu liefern. Der Ausgangspunkt ist durchaus kantisch, also Religion im Rahmen der Vernunft, oder wie Windelband sagt, »vom kritischen Standpunkt«, allein zuzulassen. Im Rahmen einer Kulturphilosophie, die die kantische kanonische Dreiteilung übernimmt, wird Religion von vornherein thematisiert »in dem zweckvollen Zusammenhange der Funktionen des vernünftigen [!] Bewußtseins« (518). Sie steht jedoch in einem allgemeinen Verhältnis zu allen anderen Vernunftfunktionen. Es handelt sich von vornherein um eine philosophische Betrachtung der Religion, nicht aber um eine »durch die Philosophie zu schaffende Religion« (518). Die »wirkliche Religion«, von der es handeln soll, ist also die durch Vernunft gerechtfertigte, d. h. säkularisierte Form, die legitimer Weise in der modernen Gesellschaft ihr Dasein verteidigen darf neben Wissenschaft, Kunst und anderen Formen der Kultur. Religion findet ihre Legitimation in ihrer veräußerten Form als Organisation neben anderen Institutionen. Dagegen steht die mystische Schwärmerei, die eine philosophische Behandlung ablehnt. Die Philosophie muss die Religion vielmehr aus ihrem »einheitlichen Prinzip« zu verstehen suchen, wobei Religionsphilosophie aber nicht einfach nur neben den anderen »Grunddisziplinen« Logik, Ethik und Ästhetik stehen kann. Vielmehr hat die »vielleicht größte Kulturmacht« als Zweck bzw. Ideal das Heilige. Diese Fundamentalkategorie tritt nun nicht zu den kanonischen Kulturmächten einfach hinzu, sondern sie greift in sie hinein. Ihr
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Hauptmerkmal ist das »Hinausragen« über alles Weltliche. Ihr Thema bzw. ihre Bewegung ist die der Transzendenz. Diese allerdings »muss aus dem inneren Wesen der Vernunft selbst« begriffen werden, ganz im Sinne Kants, der die Vernunft als menschliche Naturanlage begreift, über die Grenzen der Sinnlichkeit hinauszugehen. Das religiöse Bewusstsein des Heiligen ist also die Weise bzw. der mentale Zustand, wie man in anderen Kulturformen diese in ihrer Tendenz begreift. Was ist also nun das Wesen des Heiligen neben dem Wahren, Schönen, Guten? Wie auch in diesen Disziplinen entspringt das Problem des Heiligen aus der »antinomistischen Koexistenz der Norm und des Normwidrigen« (524), also aus der Tatsache, dass wir zwar die Norm als Vernunftwesen (und nicht bloß als psychologische Erklärung) einsehen, an sie aber als endliche Wesen prinzipiell nicht heranreichen. In dieser Einsicht in die Zuwiderhandlung besteht jedoch auch der Fortschritt in der Erlangung des Status des Normbewusstseins (als unendliche, regulative Idee). Was also in einer bestimmten Zeit wie ein »Sündenfall« aussieht, also eine Zuwiderhandlung gegen den moralischen Status quo, ist in einer anderen eine »neue Erkenntnis, die das Gefüge der geltenden Weltvorstellung sprengt« und eine neue Perspektive für die Zukunft öffnet. Genau in diesen Tabubrüchen bricht der Blick ins Unendliche auf. Das Normalbewusstsein, das wir eben deswegen nie erreichen – weil es gelten soll –, hat eine »metaphysische Realität, und »gerade in diesem Sinne ist das Normalbewußtsein das Heilige« (526). »Das Heilige« ist somit nur ein anderer Ausdruck für das, was schon in der westlichen Tradition unter verschiedenen Begriffen benannt wurde, anfangend mit Platons Begriff des ontôs on für die »übermenschliche und überimpirische Wirklichkeit der Norm und des Ideals« (526), also des wahren Seins der Ideenwelt als Geltung. Das Heilige ist nichts anderes als der »Inbegriff der Normen, die das logische, ethische und ästhetische Leben beherrschen. [. . . ] Das Heilige ist also das Normalbewußtsein des Wahren, Guten und Schönen, erlebt als transzendente Wirklichkeit« (526). Religiöses Leben ist Leben inmitten der Kultur, aber im Bewusstsein der
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Existenz dieses Übergreifenden, Transzendenten, wovon wir uns abhängig wissen und wonach wir streben. Aus dieser metaphysischen Warte ist sodann jede »positive« geoffenbarte Religion zu beurteilen, in dem Maße also, in dem sie dazu beiträgt, Menschen zum Normalbewusstsein hinzuführen. Die weiteren Strebungen nach dem Wahren, Guten, Schönen sind alles Weisen, sich der Gottheit zu nähern. Dieser Ausgriff auf das Heilige schließlich überträgt sich auch auf die metaphysische Stellung des Menschen, die religiöse »Stellung des Menschen im Kosmos«, wie man in Anlehnung an Scheler sagen könnte. Diese Stellung spiegelt sich in verschiedenen religiösen Riten, wie dem Gebet, aber auch im Symbolischen der Kunst und schließlich im sozialen Moment, das sich im Verhalten zur Mitmenschheit ausdrückt. Damit skizziert Windelband die Idee und konkrete Lebensweise einer vernünftigen Religiosität, die konsequent aus seinem Wertdenken folgt. Sie ist zwar in vielen Punkten von der kantischen Religionsphilosophie verschieden (allein in der Verhältnisbestimmung der Religion zu anderen Kulturhandlungen), ist ihr aber insofern verpflichtet, als sie keine religiöse Schwärmerei zulässt, sondern gerade aus dieser Ablehnung jeder Mystik eine durch Philosophie legitimierte Religiosität nicht nur zulässt, sondern sogar explizit fordert. Aber darf sich, zu guter Letzt, der Philosoph nicht doch gelegentlich »mystischen« Gedanken hingeben und sich an Sonn- oder Feiertagen ihnen sogar ergeben? Dies führt Windelband kurz, aber prägnant und im poetischen Pathos einer »Meditation« Sub specie aeternitatis am Ende des Bandes aus. Die vorschnelle Antwort zur Frage nach der Versenkung im Mystischen lautet: ja, aber in Maßen. In der Tat, wenn sich der Blick in den »Hintergrund all dessen, was mir lieb ist«, erstreckt und man sich dem »Endlosen« gegenübersieht, dann kann uns die Absurdität allen Lebens und Strebens aufgehen. Angesichts dessen versagen alle Dogmen von der Unsterblichkeit der Seele und der Dauer unserer Taten. Wie steht es mit den Idealen, die wir anstreben, von denen wir aber auch wissen, dass wir sie nie werden erreichen können? Die Erkenntnis, dass es »keine Welterkenntnis sub specie aeternitatis« gibt, drängt sich auf. Wenn eine solche Erkenntnis abgewiesen
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wird, bleibt dann aber noch ein Ich übrig? Der Schluss hieraus kann nur sein: »Danach beurteile ich das, was ist, und in erster Linie das, was ich als meine eigene Tätigkeit erkenne« (557). Allein der Inhalt unserer Beurteilungen ist eine Norm, und als solche gilt sie als »Norm für alle Wirklichkeit« (557). Gegenüber dem entstehenden und werdenden Leben, inklusive des Bewusstseinslebens selbst, gibt es also »Zwecke, die absolut gelten, – Bestimmungen, die sein sollen, gleichviel ob die Wirklichkeit in ihrem zeitlichen Verlaufe sie erfüllt oder nicht« (557). Wir haben kein Wissen von einem absoluten Sein, wohl aber von dem, was sein soll. Dies Wissen ist das Gewissen. Wenn wir uns dadurch über die Welt erheben, stehen wir »mitten in der Zeit, doch im Zeitlosen und Ewigen« (558). Das Zeitlose ist eben nicht, sondern es gilt. Und hieraus, »in den Weihestunden dieser Besinnung«, fließt die Stimmung der Seligkeit; Momente, die immer nur flüchtig sein können. Das Ewige, Wandellose, dessen sich die meisten Menschen, dumpf in ihren Projekten versenkt, nie bewusst werden, kommt also »in der Gestalt des Wertbewußtseins zum Durchbruch« (559). Alle Sehnsucht nach Einssein mit dem All, nach einer unio mystica, mündet doch wieder in die Versenkung in die maßgeblichen Kulturleistungen der Erkenntnis, Sittlichkeit und Kunst, wie Windelband weihevoll schließt: »wenn all das leidenschaftliche Drängen unserer Wünsche auszittert vor dem willensstarken Bewußtsein der Sittlichkeit, – wenn, allen Wunsches bar, wir das problembekümmerte Haupt zu seliger Ruhe niederlegen in den Schoß der Kunst« (560). So mündet Windelbands freie Meditation, die sich aus dem Bathos der Kultur erhebt, doch wieder mitten dahinein, um Ruhe zu finden, als die einzige Ruhe, der wir befähigt sind als Kulturwesen mit Bewusstsein vom Reich der Werte, die wir auch wiederum nur als Kulturwesen in der Kultur anstreben können und sollen. Hier schließt sich erneut der Kreis der südwestdeutschen Kulturphilosophie als Wertphilosophie zu einem systematischen Ganzen.
Editorischer Bericht
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ruckvorlage der vorliegenden kommentierten Ausgabe von Windelbands Präludien ist die letzte von Windelband selbst verantwortete, 5., erweiterte Auflage in zwei Bänden, erschienen in Tübingen in Windelbands »Hausverlag« J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) mit dem eingedruckten Jahr 1915 (Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig). Das Manuskript und die Drucklegung waren bereits gegen Ende 1914 abgeschlossen. Zur Textherstellung wurde auf die OCR-Version der Universitätsbibliothek Heidelberg zurückgegriffen (https://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/windelband1915ga; urn:nbn:de:bsz:16-diglit192217; https://doi.org/10.11588/diglit.19221), die als unredigierte, lediglich maschinell erzeugte pdf-Datei abrufbar ist. Der Text ist neu durchgesehen und von den Herausgebern bearbeitet worden. Dabei wurden Satzfehler der Vorlage korrigiert. In einem Fall (»Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage«, 1904) war eine ganze, durch Verstellung im Drucksatz verloren gegangene Zeile aus dem Erstabdruck des Windelband’schen Textes zu ergänzen. Sämtliche Eingriffe werden in einer philologischen Anmerkung im Anhang nachgewiesen. Windelbands eigene Anmerkungen stehen unter dem Text, die Herausgeberanmerkungen und Kommentare im Anhang. Eigenheiten der Schreibung wie hervorhebende Großschreibung von in Einem Kopfe, Eine ungeteilte Wissenschaft sind beibehalten, ebenso Kleinschreibung nach Frage- und Ausrufezeichen. Offensichtliche Satzfehler werden stillschweigend berichtigt, veraltete Schreibweisen im Einzelfall mit Nachweis angeglichen. Die Schreibungen transszendental sowie giltig/allgemeingiltig sind in allen Formen und Zusammensetzungen zu transzendental bzw. (allgemein-) gültig normalisiert. Windelbands Texte folgen in diesen Fällen zwei orthographischen Konventionen: Texte vor
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Inkrafttreten der amtlichen Rechtschreiberegeln von 1902 (mit verbindlicher Geltung zum 1. 4. 190390) lauten auf giltig (der nach Stichproben von ca. 1870 bis ca. 1950 in Süddeutschland geläufigeren Form), Texte danach auf gültig, obwohl Windelband bereits für die 2., vermehrte Aufl. der Präludien (1903) die durchgehende Umsetzung der amtlichen Rechtschreibung diskutiert hatte (mit Schreiben an Paul Siebeck vom 6. 9. 190291) und für die 3. Auflage seiner Geschichte der neueren Philosophie (Verlag Breitkopf und Härtel, Leipzig) am 1. 4. 1903 sogar ausdrücklich verlangt hatte.92 Eine terminologische Entscheidung, die an den mathematischen oder logischen Sprachgebrauch angelehnt wäre, bleibt für giltig gleichwohl möglich, dagegen könnte aber wiederum sprechen, dass Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Historisch-quellenmässig bearbeitet. 1. Bd. A–K. 3., völlig neu bearb. Aufl. Berlin: E. S. Mittler u. Sohn 1910 auf S. 34 ebenfalls bucht: »Allgemeingültig«. Die Sperrung von Textstellen sowie der Wechsel von Frakturin Antiquasatz für fremdsprachige Zitate wird durch Kursivierung angezeigt. Die Sperrung einzelner Namen wird, da sie keinem erkennbaren Prinzip folgt, nicht mitgeteilt. Der Seitenwechsel der Druckvorlage wird mittels des Zeichens | signalisiert und im Kolumnentitel mitgeführt, so dass die internen Verweise Windelbands nachvollziehbar bleiben.
90 Vgl. Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis. Hg. im Auftrage des Königlichen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten. Berlin 1902. 91 Staatsbibliothek zu Berlin, NL 488. 92 Windelband an Verlag Breitkopf & Härtel, Straßburg, 1. 4. 1903, Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 21081 Breitkopf & Härtel, Leipzig, Nr. 5895.
Zeichenerklärung ] Abgrenzung des Lemmas | Seitenwechsel im Original bzw. Zeilenwechsel in den Anmerkungen der Herausgeber
WILH E LM W I N D E L BA N D P R Ä LU D I E N [ E RST E R BA N D ]
Vorwort
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iese »Präludien« sollen sich dem Leser als Vorstudien für eine systematische Behandlung der Philosophie darstellen und bilden in ihrem Zusammenhange ein Programm der Untersuchungen, die ich später auszuführen hoffe. Mit historischen Arbeiten noch für einige Jahre beschäftigt, ergriff ich mit Freude und Dank die mir von der geehrten Verlagsbuchhandlung gebotene Gelegenheit, schon jetzt mit den Grundgedanken meiner eigenen philosophischen Überzeugung vor die Öffentlichkeit zu treten. Die zehn hier vereinigten Essays – von denen nur zwei, der dritte und der sechste, bisher gedruckt waren – sind unabhängig voneinander entstanden, und jeder von ihnen ist ein für sich bestehendes Ganzes. Aber sie erfüllen eine gemeinsame Aufgabe, indem sie, einander ergänzend und erläuternd, einen bestimmten Begriff der Philosophie in allgemeinverständlicher Weise zu möglichst vielseitiger Anschauung bringen. Jeder ist ein Versuch, den Leser von seiner gewöhnlichen Vorstellungsweise her auf einem der vielen dazu offenen Wege, bald indirekt durch die Geschichte, bald direkt durch die Probleme hindurch, in das hunderttorige Theben der Philosophie zu führen. Einige dieser Wege reichen bis mitten hinein; andere enden an der Schwelle oder vor den Toren. Es war meine Absicht, den von mir entworfenen Begriff der Philosophie in seiner | Stellung zu der historischen Entwicklung und den Hauptrichtungen früherer wie jetziger Philosophie, zu den übrigen Wissenschaften und dem gegenwärtigen Bildungszustande deutlich hervortreten zu lassen. Im ganzen wird damit der Grundriß eines philosophischen Systems gezeichnet, für welches ich den Namen des Kritizismus in Anspruch nehme: denn dieser Grundriß ist, soweit ich sehen kann, völlig mit demjenigen der kantischen Philosophie identisch, so
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vielfach ich auch von der letzteren in der Formung des einzelnen begrifflichen Materials abweichen mag. Wir alle, die wir im 19. Jahrhundert philosophieren, sind die Schüler Kants. Aber unsere heutige »Rückkehr« zu ihm darf nicht die bloße Erneuerung der historisch bedingten Gestalt sein, in welcher er die Idee der kritischen Philosophie darstellte. Je tiefer man den Antagonismus erfaßt, der zwischen den verschiedenen Motiven seines Denkens besteht, um so mehr findet man darin die Mittel zur Bearbeitung der Probleme, die er durch seine Problemlösungen geschaffen hat. Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen. Straßburg i. E., im Oktober 1883. Die neue Auflage, für deren vortreffliche Ausstattung ich meinem hochgeehrten Verleger, Herrn Dr. Siebeck, ganz besonderen Dank weiß, enthält die zehn Stücke der ersten in wesentlich unveränderter, nur hie und da stilistisch gefeilter Gestalt. Hinzugekommen sind erstens die Goethe-Rede, die ich zugunsten des in Straßburg zu errichtenden Denkmals für den jungen Goethe gehalten und unter den »Straßburger Goethevorträgen« (Verlag von K. Trübner | 1899) habe erscheinen lassen, – und zweitens eine bisher nicht gedruckte Skizze zur Religionsphilosophie unter dem Titel »Das Heilige«, die in systematischem Zusammenhange und in begrifflicher Entwicklung dieselben Gedanken ausführt, welche ich vor zwanzig Jahren in der poetischen Form der »Meditation« niedergelegt habe. Doch schien es mir nicht, daß diese dadurch überflüssig geworden wäre, und ich habe ihr daher ihren Platz am Ende der Sammlung nach wie vor gelassen. Straßburg i. E., im Oktober 1902. Für die dritte Auflage sind die bisherigen Stücke einer sorgfältigen Durchsicht in stilistischer und sachlicher Hinsicht unterworfen worden: umfangreichere Änderungen und Ergänzungen haben die beiden Abhandlungen »Normen und Naturgesetze« und »Kriti-
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sche oder genetische Methode«, zum Teil auch die »Vom Prinzip der Moral« erfahren; die religionsphilosophische Skizze »das Heilige« ist durch die Ausführung der früher nur angedeuteten Teile über das transzendente Wollen und Handeln inhaltlich abgerundet und um etwa die Hälfte ihres früheren Umfangs erweitert worden. Hinzugekommen sind außer einem Vortrage über »Goethes Faust und die Philosophie der Renaissance«, der sich auf die prinzipielle Bedeutung der Renaissance für die geschichtsphilosophische Betrachtung zuspitzt, einerseits meine Straßburger Rektoratsrede »Geschichte und Naturwissenschaft«, deren Aufnahme durch Vereinbarung mit ihrem bisherigen Verleger, Herrn E. Heitz, ermöglicht wurde, und andererseits der Vortrag »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«, den ich im letzten Februar auf | Einladung Ihrer Königlichen Hoheiten des Großherzogs und der Großherzogin von Baden im Schloß zu Karlsruhe gehalten habe. Die Straßburger Rede wird hier aus prinzipiellen Gründen völlig unverändert in der Gestalt wiederholt, worin sie weit über meine Erwartung hinaus bekannt geworden ist. Was ich jetzt an ihr mehr zu ergänzen als zu ändern habe, ersieht der Leser aus dem Karlsruher Vortrage, der deshalb an die Spitze der Sammlung gestellt worden ist. Dieser erläutert vielleicht am besten, in welchem Sinne es gemeint war, wenn ich im Vorwort zu der ersten Auflage dieser »Präludien« mich des Satzes erkühnte: Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen. Heidelberg, im Mai 1907. Der Umfang der vierten Auflage ist so angewachsen, daß sich bei dem dankenswerten Entgegenkommen des Verlags die Teilung in zwei handliche Bände empfahl, von denen der erste mehr historischen, der zweite mehr systematischen Inhalts ist. Zu dem in der Hauptsache unveränderten Bestande des Ganzen sind neu hinzugenommen: 1. der bei Kants hundertjährigem Todestage in dem Gedächtnisheft der »Kantstudien« erschienene Aufsatz »Nach hundert Jahren«, der mir in seiner Zusammenstellung mit der 23 Jahre vor-
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her gehaltenen Kantrede einen Blick in die dazwischen liegende Entwicklung des Kritizismus zu gewähren scheint, 2. die aus analogem Anlaß gleichfalls für die »Kantstudien« geschriebene Abhandlung »Schillers transzendentaler Idealismus«, | 3. die Akademierede über »Die Erneuerung des Hegelianismus«, veröffentlicht in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 1910, Nr. 10, und außerdem in C. Winters Verlag in Heidelberg, 4. der seinerzeit in Leipzig gehaltene und in der Zeitschrift »Der Salon« 1877 gedruckte Vortrag über »Pessimismus und Wissenschaft«, 5. der Wiener Vortrag »Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben«, erschienen in den Veröffentlichungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums und sodann in der Zeitschrift »Das humanistische Gymnasium«, 6. der damit zusammenhängende Aufsatz »Bildungsschichten und Kultureinheit«, gedruckt in der Wiener »Zeit« und ebenfalls im »Humanistischen Gymnasium«, 7. die Abhandlung »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus« aus der Zeitschrift »Logos« (1910), eine Zusammenfassung der Grundgedanken meines im Oktober 1909 zu München gehaltenen Vortrages über »Weltanschauung«. Bei der erneuten Durchsicht des Ganzen hat es mir nicht entgehen können, daß z. T. auch im Inhalt, besonders aber in der Form mancherlei Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Stücken dieser Sammlung bestehen. Ihre Abfassung erstreckt sich über einen Zeitraum von 35 Jahren, und es wäre zu verwundern, wenn sich in ihnen nicht die Wandlungen spiegelten, die der Autor inzwischen durchgemacht hat. Ich habe mir keine Mühe gegeben, dies Verhältnis zu verdecken, und auf sachliche Zusätze und Änderungen, wie ich sie z. T. bei der dritten Auflage versuchte, ist diesmal grundsätzlich verzichtet: ich habe vielmehr, von geringfügigen stilistischen Ausbesserungen ab|gesehen, jedes Stück in seiner ursprünglichen Gestalt aufrechterhalten. Denn ich darf darauf vertrauen, daß die Verschiedenheiten, die so zutage treten, auch dem Leser nichts anderes bedeuten werden, als die Entwick-
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lungsfähigkeit des Grundgedankens, aus dem alle diese Blätter mit der Zeit hervorgewachsen sind. Heidelberg, im September 1911. Die fünfte Auflage bringt neu im ersten Bande eine 1908 in der Berliner Universitätsaula zugunsten des Fichte-Denkmals gehaltene und danach in der »Internationalen Wochenschrift« gedruckte Rede über »Fichtes Geschichtsphilosophie« und einen 1910 im Feuilleton der Wiener »Neuen freien Presse« erschienenen Aufsatz »Von der Mystik unserer Zeit«, – im zweiten Bande eine Plauderei über »Mitleid und Mitfreude«, die ich 1911 in Karlsruhe zu einem Wohltätigkeitszwecke vorgetragen habe. Heidelberg, im Juni 1914. Wilhelm Windelband. |
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Was ist Philosophie? (Über Begriff und Geschichte der Philosophie)
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amen haben ihre Geschicke, aber selten so sonderbare wie das Wort »Philosophie«. Wenden wir uns mit der Frage, was eigentlich Philosophie sei, an die Geschichte und sehen wir uns bei denjenigen, welche man Philosophen genannt hat und etwa noch nennt, nach ihrer Auffassung dessen um, was sie trieben und treiben, so erhalten wir so vielgestaltige und so weit voneinander abliegende Antworten, daß es völlig aussichtslos sein würde, diese buntschillernde Mannigfaltigkeit auf einen einfachen Ausdruck und die ganze Fülle dieser wechselnden Erscheinungen unter einen einheitlichen Begriff bringen zu wollen.1 Oft genug freilich ist der Versuch dazu, namentlich von Historikern der Philosophie, gemacht worden; da hat man von den besonderen Inhaltsbestimmungen absehen wollen, mit denen jeder Philosoph die Quintessenz der von ihm gewonnenen Ansichten und Einsichten schon in die Aufstellung seiner Aufgabe hineinzulegen gewöhnt ist, und so dachte man zu einer rein formalen Definition zu gelangen, welche von dem Wechsel der zeitlichen und der nationalen Anschauungen ebenso wie von der Einseitigkeit persönlicher Überzeugungen unabhängig und deshalb geeignet wäre, alles unter sich zu befassen, was je Philosophie genannt | worden ist. Aber mag man dabei die Philosophie als Lehre vom Absoluten oder als Selbsterkenntnis des Menschengeistes oder wie immer bezeichnen, stets wird die Definition zu weit oder zu eng erscheinen; immer namentlich wird es historische Gebilde geben, welche, mit dem Namen der Philosophie bezeichnet, doch der einen oder der anderen jener formalen Begriffsbestimmungen sich nicht unterordnen lassen. 1 Über die Definitionen der Philosophie näheres bei W. Windelband, Geschichte der Philosophie (6. Aufl. 1912), §§ 1 und 2.
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Es wäre nutzlos, oft Gesagtes zu wiederholen und die negativen Instanzen beizubringen, welche sich aus der Geschichte gegen jeden derartigen Versuch leicht hervorsuchen lassen. Dagegen empfiehlt es sich, den Gründen dieser Erscheinung etwas genauer nachzugehen. Bekanntlich verlangt die Logik für eine gültige Definition die Angabe des nächst höheren Gattungsbegriffs und des artbildenden Merkmals: beide Erfordernisse aber scheinen in diesem Falle nicht erfüllbar. Zunächst freilich wird man mit der Behauptung bei der Hand sein, der höhere Begriff, unter welchen die Philosophie gehöre, sei derjenige der Wissenschaft. Es wäre auch nur ein schwacher Einwurf, darauf hinzuweisen, daß in diesem Falle die Art zeitweise sich mit der Gattung völlig deckt, so z. B. im Anfange des griechischen Denkens, wo es eben nur noch die eine ungeteilte Wissenschaft gibt, oder später in solchen Perioden, wo die universalistische Tendenz eines Descartes oder Hegel die übrigen »Wissenschaften« als solche nur insofern anerkennt, als sie sich zu Teilen der Philosophie machen lassen. Das beweist nur, daß das Verhältnis zwischen dieser Art und der Gattung kein konstantes ist, läßt aber den Charakter der Philosophie als Wissenschaft unangefochten. Ebensowenig ließe sich die Unterordnung der Philosophie unter den Begriff der Wissenschaft durch den Nachweis widerlegen, daß in den meisten philosophischen Lehren durchaus unwissenschaftliche Elemente und Gedankengänge sich vorfinden. Auch das be|wiese nur, wie wenig die wirkliche Philosophie bisher ihre Aufgabe löste, und dafür ließen sich aus der Geschichte anderer »Wissenschaften« Parallelerscheinungen anführen, wie die Fabelzeit der Historie, das alchemistische Kindesalter der Chemie oder die astrologische Schwärmperiode der Astronomie. Trotz aller Unvollkommenheit also würde die Philosophie den Namen einer Wissenschaft verdienen, wenn sich nur feststellen ließe, daß alles dasjenige, was man Philosophie nennt, Wissenschaft sein wolle und es bei richtiger Ausführung auch sein könne. Dem ist aber nicht so. Bedenklich schon würde jene Unterordnung, wenn sich zeigen ließe – und es läßt sich zeigen und ist gezeigt worden –, daß die Aufgaben, welche die Philosophen nicht nur gelegentlich
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sich gestellt, sondern als ihr eigentliches Ziel bezeichnet haben, auf dem Wege wissenschaftlicher Erkenntnis nun und nimmer zu lösen sind. Wenn der zunächst von Kant erbrachte und seitdem in vielen Variationen wiederholte Beweis von der Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Begründung der Metaphysik richtig ist, so fallen damit aus dem Bereiche der »Wissenschaft« alle diejenigen »Philosophien« heraus, welche wesentlich metaphysischer Tendenz sind: und das trifft bekanntlich nicht etwa untergeordnete Erscheinungen, sondern jene Höhepunkte der Geschichte der Philosophie, deren Namen in aller Munde sind. Ihre »Begriffsdichtungen« können also unter den Begriff der Wissenschaft nicht objektiv, sondern nur in dem subjektiven Sinne subsumiert werden, daß sie wissenschaftlich leisten wollten und geleistet zu haben glaubten, was sich wissenschaftlich gar nicht leisten läßt. Aber nicht einmal die Allgemeinheit dieses subjektiven Anspruchs, die Philosophie solle Wissenschaft sein, läßt sich bei ihren Vertretern finden. Derer schon sind nicht wenige, welchen das wissenschaftliche Element höchstens als mehr oder minder unumgängliches Mittel für den eigentlichen Zweck der Philosophie gilt: wer in der | letzteren eine Lebenskunst sieht, wie die Philosophen der hellenistischen und römischen Zeit, der sucht in ihr nicht mehr, wie es sich für eine Wissenschaft gebührt, das Wissen um des Wissens willen: und wenn man bei dem wissenschaftlichen Denken nur eine Anleihe macht, so ist es hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit ganz das Gleiche, ob man das zu politischem, technischem, moralischem, religiösem oder sonst einem anderen Zwecke tut. Doch auch unter denjenigen, denen die Philosophie eine Erkenntnis ist, sind viele sich klar bewußt, daß sie diese Erkenntnis nicht auf dem Wege wissenschaftlicher Forschung gewinnen können: der Mystiker nicht zu gedenken, denen die ganze Philosophie als eine Erleuchtung gilt, – wie oft wiederholt sich in der Geschichte das Geständnis, die letzten Wurzeln philosophischer Überzeugung seien nicht in wissenschaftlicher Beweisführung zu finden! Da wird das Gewissen mit seinen Postulaten, da wird die Vernunft als eine Wahrnehmung unergründlicher Lebenstiefen, da wird die Kunst als Organon der Philosophie, da wird ein geniales Auffassen, eine
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ursprüngliche »Intuition«, da wird eine göttliche Offenbarung als Ankergrund bezeichnet, an dem die Philosophie sich über den Wellen der wissenschaftlichen Bewegung festzulegen habe: gesteht doch selbst der Mann, in welchem viele Zeitgenossen den Philosophen par excellence verehren, Schopenhauer, vielfach ein, daß seine Lehre, nicht durch methodische Arbeit gewonnen oder beweisbar, nur vor dem überschauenden »Blicke« sich gestalte, der das von der Wissenschaft Erkannte zusammenschauend erst deute. Es fehlt also viel daran, daß die Philosophie dem Begriffe der Wissenschaft so einfach unterstellt werden dürfte, wie man es sich wohl, verführt durch äußere Einrichtungen und gewohnheitsmäßige Bezeichnungen, vorstellt. Gewiß kann der Einzelne sich einen Begriff von der Philosophie machen, welcher diese Unterstellung er|laubt: das ist geschehen, das wird immer wieder geschehen, und wir selbst wollen es versuchen. Aber wenn man die Philosophie als ein reales historisches Gebilde betrachtet, wenn man alles dasjenige vergleicht, was in der geistigen Bewegung der europäischen Völker als Philosophie bezeichnet wird, so ist jene Subsumtion nicht gestattet. Das Bewußtsein davon zeigt sich in mancherlei Formen. In der Geschichte der Philosophie selbst nimmt es die Gestalt an, daß immer wieder von Zeit zu Zeit die Bestrebungen auftauchen, die Philosophie endlich »zur Wissenschaft zu erheben«. Damit hängt es zusammen, daß, wo auch immer philosophische Richtungen im Streit sind, jede die Neigung zeigt, den Charakter der Wissenschaftlichkeit für sich allein in Anspruch zu nehmen und ihn der feindlichen Ansicht abzusprechen. Die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Philosophie ist eine von altersher beliebte Streitphrase. Platon und Aristoteles haben zuerst ihre Philosophie als die Wissenschaft (ἐπιστήμη) der Sophistik als der unwissenschaftlich voraussetzungsvollen Meinung (δόξα) entgegengestellt, und mit einer Umkehrung, die man einen Witz der Geschichte nennen könnte, pflegen heutzutage die positivistischen und relativistischen Erneuerer der Sophistik ihre Lehre als die »wissenschaftliche« Philosophie derjenigen gegenüberzustellen,
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welche die große Errungenschaft der griechischen Wissenschaft noch aufrecht erhält. Von den außerhalb Stehenden aber werden doch diejenigen die Philosophie nicht für eine Wissenschaft halten, welche in ihrer Geschichte nichts weiter sehen, als die »Geschichte der menschlichen Irrtümer«. Wer endlich noch nicht durch die seichte Überhebung moderner Vielwisserei den Respekt vor der Geschichte verloren hat, wer noch bewunderungsvoll vor den großen Gedankengebilden der Philosophie steht, der wird sich doch klar machen müssen, daß es keineswegs immer die wissenschaftliche Bedeu|tung ist, der er dabei seinen Tribut zollt, sondern hier die Energie edelster Lebensanschauung, dort die künstlerische Harmonisierung widerstrebender Ideen, – hier die Weite weltumspannender Vorstellungen, dort die ordnende Macht kombinatorischer Gedankenarbeit. In der Tat verlangen die historischen Tatsachen, von einer so unbedingten Unterordnung der Philosophie unter den Begriff der Wissenschaft, wie sie fast überall angenommen wird, Abstand zu nehmen. Der offene Blick des Historikers wird vielmehr in ihr eine vielverzweigte, proteusartige Kulturerscheinung sehen müssen, die sich nicht einfach schematisieren oder rubrizieren läßt; er wird verstehen, daß man mit jener üblichen Subsumtion der Philosophie nicht minder als der Wissenschaft Unrecht tut, – jener, indem man ihrem weitausgreifenden Streben ein zu enges Kleid aufzwängt –, dieser, indem man sie für alles verantwortlich macht, was aus zahlreichen anderen Quellen in die Philosophie einströmt. Allein gesetzt auch, man könnte die historische Erscheinung der Philosophie unter den Begriff der Wissenschaft subsumieren und alles, was dagegen spricht, auf die Unvollkommenheit der einzelnen Philosophien schieben, so entsteht die nicht minder schwierige Frage, wodurch sich nun innerhalb dieser Gattung die Philosophie als besondere Art von den übrigen Wissenschaften unterscheiden soll. Auch auf diese zweite Frage gibt die Geschichte – und nur von dieser ist hier zunächst die Rede – keine allgemeingültige Antwort. Unterscheiden kann man die Wissenschaften teils nach ihren Gegenständen, teils nach ihren Methoden: aber in keiner von bei-
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den Hinsichten läßt sich ein für alle historischen Erscheinungen der Philosophie gleichbleibendes Merkmal feststellen. Was zunächst die Gegenstände betrifft, so stehen neben solchen Systemen der Philosophie, welche alles, was ist oder gar »was möglich ist«, zu ihrem Objekte machen, | ebenso bedeutsame andere, die ihr Untersuchungsgebiet eng begrenzen, sei es z. B. auf die »letzten Gründe« des Seins und Denkens, sei es auf die Lehre vom Geist, sei es auf die Theorie der Wissenschaft usw. Ganze Wissensgebiete, die für den einen, wenn nicht das einzige, so doch das hauptsächlichste Feld philosophischer Bearbeitung sind, werden von dem anderen ausdrücklich aus dem Bereiche der Philosophie ausgeschieden. Es gibt Systeme, welche nichts sein wollen als Ethik; es gibt andere, welche, die Philosophie auf Erkenntnistheorie beschränkend, die Untersuchung der moralischen und gar der ästhetischen Probleme der psychologischen und biologischen Entwicklungsgeschichte anheimgeben möchten. Es gibt Systeme, in denen die Philosophie ganz in Psychologie aufgelöst wird: es gibt andere, welche sich sorgfältig gegen die Psychologie als eine empirische Wissenschaft abgrenzen. Von vielen vorsokratischen »Philosophen« kennen wir kaum anderes als einige Beobachtungen und Theorien, die man heutzutage in die Physik, Astronomie, Meteorologie usw. verweisen, niemals aber als philosophisch bezeichnen würde: in den späteren Systemen erscheint bald eine eigene Naturansicht als integrierender Bestandteil, bald wird darauf prinzipiell Verzicht getan. In jeder mittelalterlichen Philosophie liegt der Schwerpunkt des Interesses auf Fragen, welche jetzt Gegenstand der Theologie sind; die Entwicklung der neueren Philosophie weist diese Fragen von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr von sich ab. Die Probleme des Rechts oder der Kunst stellen hier die wichtigsten Objekte der Philosophie dar: dort leugnet man die Möglichkeit ihrer philosophischen Behandlung. Von einer Geschichtsphilosophie hat wie das ganze Altertum, so auch die Mehrzahl der metaphysischen Systeme vor Kant nichts gewußt: heutzutage ist sie eine der wichtigsten Disziplinen geworden. Aus dieser Verschiedenheit der Gegenstände der Philo|sophie ergibt sich nun eine nicht unerhebliche, prinzipiell bisher noch
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kaum behandelte2 Schwierigkeit für den Historiker, die Frage nämlich, in welcher Ausdehnung und in welchen Grenzen er die von einem Philosophen herrührenden Ansichten und Lehren, abgesehen von der biographischen Bedeutung, die sie zur Charakteristik seiner Persönlichkeit haben können, in die Geschichte der Philosophie aufnehmen soll. Nur zwei völlig konsequente Wege scheinen hier offen zu stehen: entweder man folgt der Geschichte selbst in alle Wunderlichkeiten ihrer Namengebung und läßt die historische Darstellung ganz ebenso wie das »philosophische« Interesse von dem einen Gegenstande zum anderen wandern, oder man legt eine bestimmte Definition der Philosophie zugrunde und vollzieht nach dieser die Auswahl und die Ausscheidung der einzelnen Lehren. Im ersteren Falle erkauft man die »historische Objektivität« durch eine verwirrende Verschiedenartigkeit und Zusammenhangslosigkeit der Gegenstände; im anderen Falle beruht die Einheitlichkeit und Durchsichtigkeit, welche erreicht wird, auf der Einseitigkeit, mit der man eine persönlich bestimmte Voraussetzung als Schema in die geschichtliche Bewegung hinein verlegt. Die meisten Historiker der Philosophie haben, ohne darüber Rechenschaft zu geben oder auch wohl geben zu können, einen Mittelweg eingeschlagen, indem sie solche Theorien der Philosophen, welche in das Detail der besonderen Wissenschaften eingreifen, nur in ihrem prinzipiellen Zusammenhange mit der Gesamtlehre entwickelt und auf die Reproduktion der speziellen Durchführung, je nach der Ausdehnung ihrer Arbeit, mehr oder minder verzichtet haben. Da jedoch dafür ein bestimmtes Kriterium nicht angegeben ist und auch nicht in selbstverständlich allgemeingültiger Weise | angegeben werden kann, so hat an Stelle dessen meist die Willkürlichkeit des persönlichen Interesses oder die Zufälligkeit eines gewissen Taktgefühles treten müssen. Diese Schwierigkeit ist, wie die geschichtlichen Verhältnisse einmal liegen, prinzipiell in der Tat nicht zu heben: und sie wird hier nur als eine notwendige Folge davon erwähnt, daß sich aus 2 Vgl. des Verfassers Abhandlung über »Geschichte der Philosophie« in der Festschrift für Kuno Fischer, Heidelberg 1905, Bd. II S. 190 ff.
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historischer Vergleichung nicht in allgemeingültiger Weise der Gegenstand der Philosophie feststellen läßt. Die Geschichte zeigt vielmehr, daß im Umkreise dessen, worauf sich die Erkenntnis richten kann, nichts ist, was nicht schon irgend einmal in die Philosophie hineingezogen, und ebenso nichts, was nicht schon irgend einmal von ihr ausgeschlossen worden wäre. Um so begreiflicher erscheint die Tendenz, das artbildende Merkmal der Philosophie nicht im Gegenstande, sondern in der Methode zu suchen und zu meinen, daß die Philosophie zwar eben dieselben Gegenstände wie andere Wissenschaften, aber mit einer ihr eigenen Methode behandle, woraus sich dann ergebe, daß sie gewisse Gegenstände, die ihrer Methode unzugänglich seien, von sich ablehne, andere dagegen, welche sich für ihre Behandlung besonders eignen, stets für sich in Anspruch nehmen müsse. Ein solcher Versuch, wie ihn in großem Maßstabe Wolff gemacht hat, indem er für jede Objektgruppe der wissenschaftlichen Erkenntnis eine philosophische und eine, wie man damals sagte »historische«, wie man heute sagt »empirische« Disziplin nebeneinander stellte, – ein solcher Versuch läßt sich im theoretischen Entwurf sehr gut durchführen; aber auch er genügt nicht zu einer geschichtlichen Begriffsbestimmung der Philosophie, – aus dem einfachen Grunde, weil selbst unter denjenigen Philosophen, welche für ihre Wissenschaft eine besondere Methode in Anspruch nehmen (und das sind bei weitem nicht alle) nicht die geringste Übereinstimmung hinsichtlich dieser »philosophischen Methode« obwaltet. Weder läßt | sich daher mit historischer Allgemeingültigkeit von einer besonderen wissenschaftlichen Behandlungsweise sprechen, deren Anwendung das Wesen der Philosophie ausmache, noch läßt sich irgendwie behaupten, daß dies Wesen überall in dem, wenn auch unfertigen Streben nach einer solchen Methode zu finden sei. Denn einerseits wollen alle diejenigen, denen die Philosophie über die wissenschaftliche Arbeit hinauswächst, folgerichtig von einer philosophischen Methode überhaupt nichts wissen, andererseits verfallen gerade diejenigen, welche die Philosophie »zur Wissenschaft erheben« wollen, sehr häufig dem Bestreben, ihr die auf besonderen Gebieten bewährte Methode anderer Wissenschaften,
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z. B. der Mathematik oder der induktiven Naturforschung, aufzuzwängen. Wo endlich eine eigene Methode der Philosophie aufgestellt worden ist, wie weit ist sie von allgemeiner Anerkennung entfernt! Die dialektische Methode der deutschen Philosophie gilt den meisten als eine wunderliche und törichte Marotte, und wenn Kant für die Philosophie die »kritische« Methode festgestellt zu haben glaubte, so sind die Historiker noch heute nicht einmal darüber einig, was er damit gemeint hat. Diese Bemerkungen ließen sich durch zahlreiche Beispiele weiter ausspinnen: aber bei der logischen Bedeutung, welche einer negativen Instanz beiwohnt, auch wenn sie nur geringsten Umfanges ist, genügen schon die hier erwähnten Fälle, um zu beweisen, daß es in alle Wege unmöglich ist, durch historische Induktion einen allgemeinen Begriff der Philosophie zu finden, der alle geschichtlichen Erscheinungen, die Philosophie genannt werden, und auch nicht mehr unter sich umfaßte. Geht es nicht an, die Philosophie restlos unter den Gattungsbegriff der Wissenschaft zu subsumieren, so ist das bei anderen Gattungsbegriffen von Kulturtätigkeiten, wie etwa Kunst, Dichtung, erst recht nicht möglich: und so | muß man darauf verzichten, auf historischem Wege den nächst höheren Begriff für die Philosophie aufzufinden. Daß aber jede Philosophie ein Geistesprodukt, ein Vorstellungsgebilde ist, das wird zwar niemand bestreiten, aber auch niemand als eine irgendwie verwertbare Einsicht betrachten. Es geht, scheint es, den Philosophen so, wie etwa allen den menschlichen Individuen, welche den Namen Paul tragen, und bei denen auch niemand ein gemeinsames Merkmal aufweisen könnte, um dessenwillen sie alle diesen gemeinsamen Namen tragen. Alle Namengebung beruht auf historischer Willkürlichkeit und kann sich deshalb von dem Wesen des zu Benennenden mehr oder minder unabhängig und fern halten, und so scheint, wenn man den ganzen Verlauf der Zeiten in Betracht zieht, auch für den Namen »Philosophie« zu gelten, daß der Gemeinsamkeit des Wortes keine Einheitlichkeit des begrifflich zu bestimmenden Wesens entspricht. Beschränkt man sich auf kürzere Zeiträume oder auf einzelne Kulturkreise, so wird man vielleicht in jedem einzelnen einen konstanten Sinn mit
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dem Namen der Philosophie verbunden finden: allein dieser hört zu gelten auf, sobald man das Wort durch die ganze Geschichte hindurch in seiner Anwendung verfolgt. Dies Resultat der historischen Betrachtung sieht nun freilich äußerst bedenklich aus: denn bliebe es ohne Ergänzung, so würde dadurch eine allgemeine Geschichte der Philosophie sinnlos werden. Sie hätte dann gerade so viel Wert, wie etwa wenn es jemandem einfallen wollte (um auf den obigen Vergleich zurückzukommen), eine Geschichte aller Menschen zu schreiben, welche Paul geheißen haben. Hieraus erklärt es sich, daß gerade denjenigen »Selbstdenkern«, welche einen eigenen, scharf bestimmten Begriff der Philosophie aufgestellt haben, wie etwa Kant und Herbart, die übliche Geschichte der Philosophie, die ihnen so viel Unverwandtes bieten mußte, fern und un|sympathisch geblieben ist, während andererseits bekanntermaßen die Zeiten des Eklektizismus, der da nie recht weiß, was er eigentlich Philosophie nennen soll, stets auch diejenigen der historischen Beschäftigung mit der Philosophie gewesen sind. Soll aber diese historische Besinnung doch einen vernünftigen Sinn behalten, obwohl sie keinen allgemeinen Begriff der Philosophie aufzuweisen vermag, so setzt das voraus, daß der Wechsel, welchen der Name »Philosophie« im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat, nicht bloße Willkür und Zufälligkeit bedeutet, sondern selbst einen vernünftigen Sinn und einen eigentümlichen Wert hat. Wenn trotz aller Wunderlichkeit individueller Digressionen die Geschichte des Namens »Philosophie« der Ausdruck einer in dem Zusammenhange des Kulturlebens der europäischen Menschheit tief bedeutsamen Entwicklung ist, so behält die Geschichte dieses Namens und der darunter begriffenen besonderen Erscheinungen nicht allein trotz, sondern gerade wegen dieses Wechsels der Bedeutung einen selbständigen und wertvollen Sinn. Nicht anders aber verhält es sich damit in der Tat: und nur, wenn man sich diese Geschichte des Namens Philosophie klar gemacht hat, wird man auch bestimmen können, was in Zukunft mit dem Anspruch auf mehr als individuelle Gültigkeit berechtigt sein soll, diesen Namen zu tragen.
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Den Griechen verdanken wir, wie das Wort, so auch die erste Bedeutung der φιλοσοφία. Um die Zeit Platons, wie es scheint, zur technischen Bezeichnung geworden, bedeutet das Wort genau das, was wir heute im Deutschen mit dem Worte »Wissenschaft« bezeichnen3, und was frei|lich glücklicherweise noch viel mehr umfaßt, als das englische und französische science. Es ist der Name, welchen ein eben geborenes Kind erhält. Weisheit, die in Gestalt uralter mythischer Erzählungen von Geschlecht zu Geschlecht sich vererbt, Sittenlehren, welche den reflektierten Ausdruck der Volksseele bilden, Lebensklugheit, die, Erfahrung an Erfahrung reihend, der neuen Generation den Lebensweg erleichtert, praktische Kenntnisse, welche im Kampf ums Dasein an den einzelnen Aufgaben und ihrer Lösung gewonnen und im Laufe der Zeiten zu stattlichem Wissen und Können angehäuft werden, – das alles hat es von jeher bei jedem Volke und zu jeder Zeit gegeben. Aber die »Neugierde« des von der Not des Lebens befreiten Kulturgeistes, der in edler Muße zu forschen beginnt, um ohne jeden praktischen Zweck, ohne jedes Hinblicken auf religiöse Erbauung oder sittliche Veredelung das Wissen nur um seiner selbst willen zu haben und an ihm als einem absoluten, völlig unabhängigen Werte Genuß zu finden, – diesen reinen Wissenstrieb haben die 3 Man sollte das nie bei Übersetzungen vergessen, in denen vielfach Mißverständnisse entstehen, wenn man φιλοσοφία durch »Philosophie« wiedergibt und damit die Gefahr hervorruft, daß der moderne Leser das Wort in dem heutigen viel engeren Sinne versteht. Statt vieler Beispiele eins! Ein bekanntes platonisches Wort übersetzt man | leicht so: »Es werde der Übel der Menschheit kein Ende sein, ehe nicht entweder die Herrscher philosophieren oder die Philosophen herrschen, d. h. ehe nicht politische Macht und Philosophie zusammenfallen« [vgl. Platon, Politeia 473c]. Wie bequem zu belächeln, wenn man dabei unter »philosophieren« an metaphysische Grübeleien und unter »Philosophen« an unpraktische Professoren und einsame Gelehrte denkt! Aber man übersetze nur richtig! Und wenn man dann findet, daß Platon nichts weiter verlangt hat, als daß die Regierung in den Händen der wissenschaftlichen Bildung sein solle, so sieht man vielleicht ein, wie prophetisch er der Entwicklung des europäischen Lebens mit jenem Ausspruche vorgegriffen hat. Vgl. des Verfassers »Platon« (5. Aufl., Stuttgart 1910) S. 186 f.
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Griechen zuerst entfaltet, und damit sind sie die Schöpfer der Wissenschaft geworden. Wie den »Spieltrieb«, so haben sie auch den Wissenstrieb aus den Umschlingungen mythischer Vorstellungen, aus dem Dienste sittlicher und alltäglicher Bedürfnisse herausgehoben, und so haben sie, wie die Kunst, auch die Wissen|schaft zu selbständigen Organen des Kulturlebens gemacht. In der phantastischen Verschwommenheit orientalischen Wesens verlaufen sich die Anfänge künstlerischen und wissenschaftlichen Triebes in das Gewebe eines ungeschiedenen Gesamtlebens: die Griechen als die Führer des Okzidentalismus beginnen damit, das Ungeschiedene zu scheiden, das embryonal Unentfaltete zu differenzieren und für die höchsten Tätigkeiten des Kulturmenschen die Arbeitsteilung zu finden. So ist die Geschichte der griechischen Philosophie die Geburtsgeschichte der Wissenschaft: das ist ihr tiefster Sinn und ihre unvergängliche Bedeutung. Langsam löst sich der Wissenstrieb von dem allgemeinen Grunde ab, in den er ursprünglich eingebettet ist; dann versteht er sich selbst, spricht sich stolz und übermütig aus und vollendet sich endlich, indem er den Begriff der Wissenschaft in voller Klarheit und in seiner ganzen Ausdehnung erzeugt. Von der Forschung des Thales nach dem Urgrund aller Dinge bis zur Logik des Aristoteles – es ist Eine große typische Entwicklung, deren Thema die Wissenschaft bildet. Diese Wissenschaft richtet sich deshalb auf alles, was überhaupt Objekt des Wissens werden kann oder werden zu können scheint: sie umspannt das All, die ganze Vorstellungswelt. Was der selbständig gewordene Wissenstrieb als Material für seine Betätigung vorfindet in den Mythologemen der Vergangenheit, in den Lebensregeln der Weisen und Dichter, in den praktischen Kenntnissen eines vielgeschäftigen Handelsvolks, – das ist doch noch so gering, daß es recht gut sich in Einem Kopfe vereinigen und mit wenigen Grundbegriffen verarbeitet werden kann. Und so ist in Griechenland Philosophie die Eine, ungeteilte Wissenschaft. Aber der so begonnene Differenzierungsprozeß schreitet notwendig fort. Das Material wächst, und vor dem erkennenden und ordnenden Geiste gliedert es sich in die ver|schiedenen Gruppen von Gegenständen, die eben deshalb auch verschieden behandelt
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sein wollen. Die Philosophie beginnt sich zu teilen: es scheiden sich die einzelnen »Philosophien« aus, von denen nun schon jede die Lebensarbeit eines Forschers für sich in Anspruch nimmt. Der griechische Geist tritt in das Zeitalter der Spezialwissenschaften. Allein, wenn jede davon den Namen ihres Gegenstandes annimmt, – wo bleibt der Name der Philosophie? Er haftet zunächst an dem Allgemeinen. Der gewaltige, systematisierende Geist des Aristoteles, in welchem sich jener Differenzierungsprozeß vollzogen hat, schuf neben den anderen auch eine »erste« Philosophie, d. h. eine grundlegende Wissenschaft, welche, später auch Metaphysik genannt, über den höchsten und letzten Zusammenhang aller Erkenntnisse handelte; hier vereinigten sich alle an den einzelnen Aufgaben der Wissenschaft erzeugten Begriffe zu einem Gesamtbilde des Universums, und für diese höchste, alles umfassende Leistung blieb deshalb der ursprüngliche Name der Gesamtwissenschaft erhalten. Allein zugleich trat ein anderes Moment hinzu, welches nicht in der rein wissenschaftlichen Bewegung, sondern in dem allgemeinen Kulturfortschritt seinen Grund hatte. Jene Teilung der wissenschaftlichen Arbeit fiel in die Zeit des Niedergangs des Griechentums. An die Stelle der nationalen Kulturen trat eine Weltkultur, in der die griechische Wissenschaft zwar ein wesentliches Bindemittel bildete, aber doch hinter den anderen Bedürfnissen zurück- oder in deren Dienst trat. Das Griechentum ging in den Hellenismus, der Hellenismus in das römische Reich auf. Ein ungeheurer sozialer Mechanismus bereitete sich vor, der das nationale Leben mit seinen Sonderinteressen verschlang, der das Individuum als ein verschwindendes Atom einem unfaßbaren und fremden Ganzen gegenüberstellte, der endlich durch die Zuspitzung des gesellschaftlichen Wettkampfes den einzelnen nötigte, so sehr als möglich sich | unabhängig zu machen und so viel als möglich von Glück und Zufriedenheit für sich aus dem großen Lärm in die Stille des Einzeldaseins zu retten. Wo die Geschicke der äußeren Welt vernichtend über ganze Völker und gewaltige Reiche dahinrollten, da schien nur noch im Innern der Persönlichkeit Glück und Genuß zu winken, und so wurde für alle Besseren die Frage nach
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der rechten Einrichtung des persönlichen Lebens die wichtigste und brennendste. Vor der Lebhaftigkeit dieses Interesses erlahmte der reine Wissenstrieb: nur so weit noch wurde die Wissenschaft geschätzt, als sie diesem Interesse dienen konnte, und jene »erste Philosophie« schien ihr wissenschaftliches Weltbild nur noch dazu darzubieten, daß man einsehe, welche Stellung in dem allgemeinen Zusammenhange dem Menschen zukomme und wie er danach sein Leben einzurichten habe. Den Typus dieser Bewegung sehen wir in der Stoa. Die Unterordnung des Wissens unter das Leben ist der allgemeine Charakter dieser Zeit, und ihr heißt deshalb die Philosophie eine Lebenskunst und eine Tugendübung. Die Wissenschaft ist kein Selbstzweck mehr: sie ist das vornehmste Mittel der Glückseligkeit. Das neue Organ des menschlichen Geistes, das die Griechen entwickelt haben, tritt in langandauernde Dienstbarkeit. Mit den Jahrhunderten wechselt es den Herrn. Während die Spezialwissenschaften in den Dienst der einzelnen sozialen Bedürfnisse, der Technik, des Unterrichts, der Heilkunst, der Gesetzgebung usw. treten, ist die Philosophie zunächst jene Gesamtwissenschaft, die da lehren soll, wie der Mensch zugleich tugendhaft und glücklich wird. Aber je länger dieser Weltzustand dauert, je wilder Genußsucht und Überzeugungslosigkeit die Gesellschaft überfluten, um so mehr wird der Tugendstolz gebrochen, um so aussichtsloser erscheint das Glückseligkeitsstreben des Individuums. Mit all ihrem Glanz und ihrer Lust verödet die äußere Welt, und das Ideal verschiebt sich immer mehr | aus der irdischen in eine jenseitige, höhere, reinere Region. Der ethische Gedanke verwandelt sich in den religiösen, und »Philosophie« heißt nun Gotteserkenntnis. Der ganze Apparat der griechischen Wissenschaft, ihr logisches Schema, ihr metaphysisches Begriffssystem scheint nur noch dazu bestimmt zu sein, um der religiösen Sehnsucht und der glaubensvollen Überzeugung einen erkenntnismäßigen Ausdruck zu geben. In der Theosophie und Theurgie, die aus den ringenden Jahrhunderten des Überganges sich in die Mystik des Mittelalters fortpflanzen, tritt dieser neue Charakter der »Philosophie« nicht minder hervor, als in der harten Gedankenarbeit, mit der drei große Religionen sich die griechische Wissenschaft zu assimilieren
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suchten. In dieser Gestalt, als die Dienerin des Glaubens, erscheint die Philosophie in den langen, schweren Lehrjahrhunderten der germanischen Völker: der Wissenstrieb ist in den religiösen Trieb eingeschmolzen und hat neben diesem kein selbständiges Recht. Philosophie ist der Versuch wissenschaftlicher Entwicklung und Begründung von religiösen Überzeugungen. In der Emanzipation von der Alleinherrschaft des religiösen Bewußtseins liegen die weit in das sogenannte Mittelalter zurückreichenden Wurzeln des modernen Denkens. Auch der Wissenstrieb wird wieder frei und erkennt und behauptet seinen selbsteigenen Wert. Während die Spezialwissenschaften mit teilweise gänzlich neuen Aufgaben und Methoden ihre eigenen Wege gehen, findet die Philosophie in den Idealen Griechenlands das reine Wissen um seiner selbst willen wieder. Sie streift die ethische und die religiöse Zweckbestimmung ab und wird wieder die Gesamtwissenschaft vom Weltall, dessen Erkenntnis sie ohne fremde Anlehnung aus sich selbst und um ihrer selbst willen gewinnen will. Die »Philosophie« wird im eigensten Sinne Metaphysik, mag sie nun die Systeme der großen Griechen reproduzieren, – | mag sie mit phantastischer Kombination die neuen Anschauungen, welche ihr die Entdeckungen der Zeit darbieten, zu Ende dichten – mag sie in die strenge Schule der altehrwürdigen und doch noch jungen Mathematik gehen – oder mag sie vorsichtig mit den Kenntnissen der neuen Naturforschung sich aufbauen wollen. Immer will sie, unabhängig von dem Streit der religiösen Meinungen, eine selbständige, auf die »natürliche Vernunft« sich gründende Welterkenntnis geben, und so stellt sie sich dem Glauben als »Weltweisheit« gegenüber. Allein neben dies metaphysische Interesse tritt von Anfang an ein anderes, das allmählich das Übergewicht gewinnt. In Opposition gegen die kirchlich bevormundete Wissenschaft entstanden, muß diese neue Philosophie zu allererst zeigen, wie sie ihr neues Wissen erzeugen will. Sie geht von Untersuchungen über das Wesen der Wissenschaft, über den Prozeß der Erkenntnis, über die Anpassung des Denkens an seine Gegenstände aus. Ist diese Tendenz anfänglich methodologisch, so nimmt sie mehr und mehr
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den Charakter der Erkenntnistheorie an. Sie fragt nicht mehr nur nach den Wegen, – sie fragt nach den Grenzen der Erkenntnis. Gerade der nun sich wiederholende und verschärfende Gegensatz der metaphysischen Systeme erzeugt die Frage, ob überhaupt Metaphysik möglich sei, – d. h. ob die Philosophie ein eigenes Objekt, ob sie neben den Spezialwissenschaften ein Existenzrecht habe. Und diese Frage wird verneint! Dasselbe Jahrhundert, das im höchsten Wissensstolze die Geschichte durch seine Philosophie zu meistern dachte – das achtzehnte –, es erkennt und bekennt, daß die Wissenskraft des Menschen nicht ausreicht, das Weltall zu umspannen und in die letzten Gründe der Dinge zu dringen. Es gibt keine Metaphysik – die Philosophie hat sich selbst zerstört. Was soll noch ihr leerer Name? Alle einzelnen Gegenstände sind | an die besonderen Wissenschaften verteilt, – die Philosophie ist wie der Dichter, der bei der Teilung der Welt zu spät kam. Denn die letzten Ergebnisse der Spezialwissenschaften zusammenzuflicken, das gibt noch lange keine Wissenschaft vom Universum: das ist eine Sache des fleißigen Sammelns oder der künstlerischen Kombination, aber nicht der Wissenschaft. Die Philosophie ist wie der König Lear, der all sein Gut unter seine Kinder verteilte und es sich nun gefallen lassen muß, als ein Bettler auf die Straße geworfen zu werden. Indessen, wo die Not am höchsten, ist die Hilfe am nächsten. Hat sich nachweisen lassen, daß die Philosophie, welche Metaphysik sein wollte, unmöglich ist, so ist eben mit diesen Untersuchungen ein neuer Wissenszweig entstanden, der eines Namens bedarf. Alle anderen Gegenstände mögen restlos unter die Spezialwissenschaften verteilt und auf eine Wissenschaft der Weltanschauung mag definitiv verzichtet sein, – jene Wissenschaften selbst sind eine Tatsache, und vielleicht eine der bedeutsamsten von allen, und sie wollen selbst Objekt einer eigenen Wissenschaft sein, die sich zu ihnen verhält wie sie selbst zu den übrigen Dingen. Neben die anderen Wissenschaften tritt als besondere, scharf bestimmte Disziplin eine Theorie der Wissenschaft. Ist sie nicht mehr eine alle übrigen Einsichten zusammenfassende Welterkenntnis, so ist sie nun die Selbsterkenntnis der Wissenschaft, die zentrale Unter-
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suchung, in der alle übrigen Wissenschaften ihre Begründung finden. Auf diese »Wissenschaftslehre« überträgt sich der gegenstandslos gewordene Name der Philosophie: sie ist nicht mehr die Lehre vom Weltall oder von der Lebensführung – sie ist die Lehre vom Wissen, – keine Metaphysik der Dinge, sondern eine »Metaphysik des Wissens«. Achtet man genau auf den Wechsel, der sich in dieser Weise durch zwei Jahrtausende hindurch mit der Bedeu|tung des Namens vollzogen hat, so zeigt sich, daß die Philosophie, obgleich sie durchaus nicht immer Wissenschaft gewesen und, wenn sie Wissenschaft sein wollte, durchaus nicht konstant auf dasselbe Objekt gerichtet war, doch stets in einer bestimmten Beziehung zur wissenschaftlichen Erkenntnis gestanden hat, und daß – was das Wichtigste ist – der Wechsel dieser Beziehung auf der Veränderung der Wertschätzung beruht, welche in der Entwicklung der europäischen Kultur der wissenschaftlichen Erkenntnis zuteil geworden ist. Die Geschichte des Namens der Philosophie ist die Geschichte der Kulturbedeutung der Wissenschaft. Sobald das wissenschaftliche Denken sich als der Trieb des Erkennens nur um des Wissens willen verselbständigt, nimmt es den Namen der Philosophie an: als dann die einheitliche Wissenschaft sich in ihre Zweige spaltet, ist die Philosophie die zusammenfassende, abschließende, allgemeine Welterkenntnis. Und sobald das wissenschaftliche Denken wieder zu einem Mittel der ethischen Besinnung oder der religiösen Kontemplation herabgesetzt wird, verwandelt sich die Philosophie in eine Lebenskunst oder in eine Formulierung religiöser Überzeugungen. Sobald dann das wissenschaftliche Leben wieder frei wird, findet auch die Philosophie den Charakter der selbständigen Welterkenntnis wieder, und als sie auf die Lösung dieser Aufgabe zu verzichten beginnt, bildet sie sich in eine Theorie der Wissenschaft selbst um. Anfänglich also die gesamte, ungeschiedene Wissenschaft überhaupt, wird die Philosophie in dem differenzierten Zustande der besonderen Wissenschaften teils dasjenige Organ, welches die Leistungen aller übrigen zu einer Gesamterkenntnis verbindet, teils ein in den Dienst sittlicher oder religiöser Lebensführung treten-
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des Glied, teils endlich das nervöse Zentralorgan, in welchem der Lebensprozeß der übrigen Organe zum Bewußtsein | kommen soll. Erst die Wissenschaft selbst und ganz, ist die Philosophie nachher entweder das Ergebnis aller einzelnen Wissenschaften oder die Lehre davon, wozu die Wissenschaft da sei, oder endlich die Theorie der Wissenschaft selbst. Immer ist die Auffassung von dem, was Philosophie genannt wird, charakteristisch für die Stellung, welche in der Schätzung der Kulturgüter jeder Zeit die wissenschaftliche Erkenntnis einnimmt. Ob man sie als ein absolutes Gut ansieht oder nur als ein Mittel zu höheren Zwecken, ob man ihr zutraut, den letzten Lebensgrund der Dinge zu erfassen oder nicht, – das prägt sich in dem Sinne aus, welchen man jedesmal mit dem Namen »Philosophie« verbindet. Die Philosophie einer Zeit ist der Gradmesser für den Wert, welchen diese der Wissenschaft beilegt: eben deshalb erscheint die Philosophie bald selbst als Wissenschaft, bald als etwas darüber Hinausgehendes, und wenn sie als Wissenschaft behandelt wird, umfaßt sie entweder das Weltall, oder sie ist die Untersuchung über das Wesen der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst. So mannigfach also die Stellung sein kann, welche im Zusammenhange des Kulturlebens die Wissenschaft einnimmt, so vieldeutig und vielgestaltig ist die Philosophie, und daraus begreift es sich, daß kein einheitlicher Begriff von ihr aus der Geschichte zu gewinnen war. – Es versteht sich, daß diese Übersicht über die Geschichte des Namens der Philosophie eine Durchschnittsbetrachtung ist, welche sich an das Hauptinteresse der verschiedenen Zeiten hält und welche nicht leugnen oder übersehen will, daß die vier besonderen Richtungen, die hier unterschieden worden sind, nebeneinander in allen den Perioden herlaufen, für deren jede hier eine spezifische Gesamtbedeutung der »Philosophie« skizziert wurde. Schon in der griechischen Philosophie machen sich die Tendenzen geltend, die Philosophie in Lebenskunst oder | in Erkenntniskritik zu verwandeln: und andererseits ist das Ideal einer Erkenntnis um ihrer selbst willen nie völlig aus dem Gesichtskreise der europäischen Menschheit verschwunden. Aber die Neigungen der einzelnen treten zurück hinter der Herrschaft des Gesamtbewußtseins. Des-
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halb allein ist es möglich, eine solche Durchschnittsbetrachtung aufzustellen. Wie sehr aber trotzdem die Individuen ihre eigenen Bahnen gehen, das zeigt sich am besten, wenn man sieht, wie in unserer Zeit alle jene vier Auffassungen der Philosophie immer noch wieder erneuert worden sind, nachdem sie durch die bedeutendste verdrängt worden waren. Denn die wichtigste Wandlung, welche die Philosophie erfahren hat, ist noch nicht erwähnt: es ist diejenige, welche sich an den Namen Kants knüpft. Sie reiht sich unmittelbar an jene vierte Phase, in der die Philosophie als Theorie der Wissenschaft erschien. Was heißt Theorie der Wissenschaft? Anderen Gegenständen gegenüber heißt Theorie die Erklärung gegebener Erscheinungen aus ihren Ursachen und die Aufstellung derjenigen Gesetze, nach denen die kausalen Prozesse der betreffenden Gruppe sich abspielen. In demselben Sinne faßte man vor Kant auch die Aufgabe der Philosophie: sie sollte die Wissenschaft begreifen. Den Ursprung der Vorstellungen sollte sie aufklären und die Gesetze nachweisen, nach denen sie sich in wissenschaftliche Einsichten, in allgemeine Begriffe und deren urteilsmäßige Verbindungen umwandeln. Es ist ganz einleuchtend, daß, wenn die Philosophie so als eine genetisch erklärende Wissenschaft für das wissenschaftliche Denken aufgefaßt wird, sie vollständig in Untersuchungen über die Entwicklungsgesetze des Geistes aufgelöst erscheint: sie ist dann halb individuelle Psychologie, halb Kulturgeschichte, – dasjenige, was die Franzosen Ideologie nennen. Sie zeigt, nach welchen allgemeinen Gesetzen auf naturnotwendigem Wege die Gewißheit des Individuums | und die Vorstellungsweise der Kulturvölker zustande kommt. Daraus begreift sich die psychologische Tendenz, welche allen bedeutenden Erscheinungen der Philosophie des Jahrhunderts vor Kant beiwohnt. Diese Philosophie ist also im wesentlichen eine Anwendung psychologischer und historischer Erkenntnisse auf den Begriff der Wissenschaft: sie will diese ebenso erklären wie die übrigen geistigen Tatsachen. Indessen findet sich leicht, daß diese in dem Verfahren der übrigen Wissenschaften begründete Behandlung den Zweck, um dessen willen jene »Theorie der Wissenschaft« gesucht wurde,
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durchaus nicht erfüllt. Denn die Aufgabe einer solchen Theorie sollte ja gerade die sein, aus der ganzen Masse der Vorstellungen und Vorstellungsverknüpfungen nicht nur diejenigen auszuscheiden und zu beschreiben, welche als wissenschaftliche bezeichnet zu werden pflegen, sondern zu zeigen, weshalb gerade diesen der Wahrheitswert in der Weise zukommt, daß sie ganz allgemein nicht etwa nur tatsächlich anerkannt werden, sondern anerkannt zu werden verdienen. Man wollte ja gerade wissen, worauf es beruht, daß die von der Wissenschaft gewonnenen Erkenntnisse einen über die zufällige Entstehung hinausgreifenden, notwendigen Wert besitzen, und wie man in der Wissenschaft zu verfahren habe, um diesen Wert für ihre Ergebnisse zu sichern. Diese Frage ist aber nicht dadurch zu lösen, daß man den naturgesetzmäßigen Prozeß aufzeigt, durch welchen in den Individuen oder in der Gattung das zustande kommt, was Wissenschaft zu sein beansprucht. Denn diese Naturnotwendigkeit psychologischer Entstehung wohnt ausnahmslos allen Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen bei, und in ihr liegt deshalb niemals ein Kriterium für die Entscheidung der Wertfrage. Wenn daher die vorkantische Philosophie das erkenntnistheoretische Problem stets in der Weise behandelte, daß sie nach dem Ur|sprunge der Vorstellungen fragte und den Streit darüber führte, ob unsere Erkenntnisse ihrer Entstehung nach auf der Erfahrung oder auf eingeborenen Begriffen oder auf beiden und in welchen Verhältnissen zwischen beiden beruhen, so konnte auf dem Boden dieser psychologischen Fragestellung das Problem niemals zur Entscheidung kommen. Für die Psychologie mag es von Interesse sein, festzustellen, ob eine Vorstellung auf dem einen oder dem anderen Wege zustande gekommen ist: für die Erkenntnistheorie handelt es sich nur darum, ob die Vorstellung gelten, d. h. ob sie als wahr anerkannt werden soll. Darin besteht nun die Größe Kants, daß er sich aus den Vorurteilen der Zeitphilosophie durch eine unsäglich schwierige und verwickelte Denkarbeit zu der Einsicht erhoben hat, wie vollkommen gleichgültig für den Wahrheitswert einer Vorstellung der naturnotwendige Prozeß ihrer Bewußtwerdung ist. Die Art und Weise, wie wir nach den psychologischen Gesetzen als In-
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dividuen, als Völker, als menschliche Gattung zur Aufstellung bestimmter Vorstellungen und zum Glauben an ihre Richtigkeit gelangen, entscheidet über ihren absoluten Wahrheitswert nichts. Der naturnotwendige Prozeß des Vorstellungsverlaufs kann bei dem einzelnen so gut wie bei allen ebensosehr zum Irrtum wie zur Wahrheit führen; er herrscht überall, und seine Aufweisung ist daher kein Beweis für die Geltung der einen Vorstellungen im Gegensatze zu den anderen. Wenn daher auch Kant zunächst mit dem Verzichte auf die frühere Metaphysik sich dahin gedrängt sah, die Philosophie als Metaphysik nicht der Dinge, sondern des Wissens zu definieren, so war für ihn diese Erkenntnistheorie keine individuelle oder kulturhistorische Entwicklungsgeschichte, auch keine genetischpsychologische Theorie, sondern eine kritische Untersuchung. Gleichviel wie, auf | welche Veranlassung und nach welchen Gesetzen sich im Individuum oder in der Gattung diejenigen Urteile zum Bewußtsein gebracht haben, für welche der Wert einer allgemeinen und notwendigen Geltung in Anspruch genommen wird, – die Philosophie fragt nicht nach ihrer Verursachung, sondern nach ihrer Begründung; sie ist keine Erklärung, sondern eine Kritik. Es ist hier nicht der Ort4, darauf einzugehen, mit welchen Mitteln und in welcher Weise Kant diese Kritik vollzogen hat, oder nachzuweisen, wie bei ihm sich das neue Prinzip überall aus den Umschlingungen der psychologistischen Betrachtungsweise mühsam hervorarbeiten muß. Nur darauf kommt es an, den ganz neuen 4 Der Verfasser verweist in dieser Hinsicht auf die von dem oben entwickelten Gesichtspunkte aus entworfene Darstellung der kantischen Lehre in seiner »Geschichte der neueren Philosophie« (II Bd. 5. Aufl. Leipzig 1911). Für diejenigen, welche jener schwierigen Frage näher stehen, sei jedoch ausdrücklich hinzugefügt, daß die Lösung des Problems, ihre Voraussetzungen und ihre Methode lediglich der »Kritik der reinen Vernunft« zu entnehmen sind, während die »Prolegomena« nur die Geschichte von Kants Entdeckung, d. h. den psychologischen Prozeß erzählen, durch welchen er selbst zur Erfassung dieser »Wahrheit« geführt worden ist. Vgl. auch des Verfassers »Lehrbuch der Geschichte der Philosophie« (6. Aufl. 1912) §§ 38–40.
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Begriff der Philosophie, den seine Kritik eröffnet hat, in voller Klarheit hervortreten zu lassen. So weit sie theoretisch ist, will sie nur eine Untersuchung darüber sein, mit welchem Rechte für gewisse Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen der Charakter einer über die Notwendigkeit der empirischen Entstehung hinausgehenden höheren Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit in Anspruch genommen wird. Die Vorstellungen kommen und gehen; wie sie das tun, mag die Psychologie erklären: die Philosophie untersucht, welcher Wert ihnen unter dem kritischen Gesichtspunkte der Wahrheit zukommt. | Allein dies zunächst für die Erkenntnistheorie und an der Bearbeitung ihrer besonderen Aufgabe entwickelte Prinzip erweitert sich bei Kant mit großer Folgerichtigkeit. Die wissenschaftliche Erkenntnis ist durchaus nicht das einzige Gebiet des psychischen Lebens, auf welchem wir unter den Erscheinungen, die hinsichtlich ihrer Verursachung sämtlich in gleichmäßig naturgesetzlicher Weise bedingt sind, solche unterscheiden, denen ein notwendiger und allgemeingültiger Wert zugeschrieben wird, und solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Auf dem moralischen Gebiete nehmen wir denselben, von der Art der psychologischen Entstehung völlig unabhängigen Wert für die Würdigungen der Handlungen, der Gesinnungen und der Charaktere als gut oder böse, auf dem ästhetischen Gebiete nehmen wir ihn für jene eigentümlichen Gefühle in Anspruch, die ohne jede Rücksicht auf irgendwelche bewußten Zwecke oder Interessen ihren Gegenstand als wohlgefällig oder mißfällig charakterisieren. Auf beiden Gebieten also wird der Philosophie die der erkenntnistheoretischen völlig parallele Aufgabe zufallen, zu untersuchen, mit welchem Rechte diese Ansprüche erhoben werden. Sie ist auch hier nicht eine quaestio facti, sondern eine quaestio juris. In dieser Verallgemeinerung erscheint nun die »kritische« Philosophie als die Wissenschaft von den notwendigen und allgemeingültigen Wertbestimmungen. Sie fragt, ob es Wissenschaft gibt, d. h. ein Denken, welches mit allgemeiner und notwendiger Geltung den Wert der Wahrheit besitzt; sie fragt, ob es Moral gibt, d. h. ein Wollen und Handeln, welches mit allgemei-
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ner und notwendiger Geltung den Wert der Güte besitzt; sie fragt, ob es Kunst gibt, d. h. ein Anschauen und Fühlen, welches mit allgemeiner und notwendiger Geltung den Wert der Schönheit besitzt. In allen diesen drei Teilen steht die Philosophie ihrem Objekte (also im ersten Teile, dem theore|tischen, auch der Wissenschaft) nicht so gegenüber, wie die übrigen Wissenschaften ihren besonderen Gegenständen, sondern kritisch, d. h. derartig, daß sie das tatsächliche Material des Denkens, Wollens, Fühlens an dem Zwecke der allgemeinen und notwendigen Geltung prüft, und daß sie das, was vor dieser Prüfung nicht standhält, ausscheidet und zurückweist. So zeigt, um nur das hervorragendste und bekannteste Beispiel zu nennen, Kant, daß Metaphysik im alten Sinne als Wissenschaft der Weltanschauung nicht mit Allgemeingültigkeit aufgestellt werden kann, so notwendig auch der psychologische Trieb des Wissens dazu führen mag. Es läßt sich leicht verfolgen, in welchem eigentümlichen, zusammenfassenden und dabei doch gänzlich umbildenden Verhältnisse diese neue Begriffsbestimmung der Philosophie zu den früheren steht. Diese Philosophie macht am allerwenigsten den Anspruch, die ganze Wissenschaft zu sein; aber indem sie in ihrem theoretischen Teile die Gründe untersucht, auf denen die Allgemeingültigkeit alles wissenschaftlichen Denkens beruht, macht sie den ganzen Umfang der Wissenschaften zu ihrem Objekte. Allein, die Entstehungsgeschichte und die Gesetzmäßigkeit dieses ihres Objektes zu begreifen, überläßt sie der besonderen Wissenschaft, der Psychologie, und untersucht ihrerseits, worauf der Wahrheitswert der Vorstellungen, welches auch immer ihr Ursprung sei, sich gründe. Indem sie aber diese ihre Kritik auf sämtliche allgemeingültige Wertbestimmungen des vernünftigen Geistes ausdehnt, erscheint sie als die allgemeine Untersuchung der höchsten Werte: und wenn die sukzessive Verwandlung des Wortsinns der »Philosophie« charakteristisch für die Bedeutung war, welche jeweilig der wissenschaftlichen Erkenntnis zugeschrieben wird, so gab Kant in der zusammenhängenden Beantwortung seiner kritischen Fragen durch die drei großen Werke auch für dieses Interesse eine
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ganz neue, | er gab die den Verhältnissen der gegenwärtigen Kultur angemessene Formulierung.5 Wie schon erwähnt, hat viel daran gefehlt, daß das Prinzip Kants seitdem verstanden worden und zur Alleinherrschaft gelangt wäre. Am meisten hat von seinen Nachfolgern Herbart formell daran festgehalten. Andere haben seine Resultate sogleich wieder in eine Metaphysik oder in eine philosophische Universalwissenschaft umgedeutet, deren letzte Bestimmungen sie dann mit ausdrücklichem Bekenntnis in ethischen Postulaten oder in ästhetischen Anschauungen suchen mußten. Viele haben die Philosophie wieder auf Erkenntnistheorie zu beschränken gedacht, und die meisten von diesen sind entweder mit selbständigen Untersuchungen oder mit Reproduktion der Theorien des 18. Jahrhunderts in die psychologische Tendenz zurückgefallen. Selbst an solchen Stimmen hat es nicht gefehlt, welche die Philosophie wieder zu einer Untersuchung nur dessen machen wollten, was für die praktischen Lebenszwecke des Menschen Bedeutung hat. Alle diese Versuche unterliegen der einen oder der anderen von zwei Gefahren: sie heben den Charakter der Philosophie entweder als Wissenschaft überhaupt oder als einer besonderen, von den übrigen bestimmt sich abgrenzenden Wissenschaft auf. In dem einen Falle machen sie die Philosophie zu einem »Roman« von Begriffen, in dem anderen Falle machen sie dieselbe zu einem aus psychologischen und kulturgeschichtlichen Abfällen zusammengesuchten Ragout. Eine selbständige Wissenschaft kann die Philosophie nur bleiben oder werden, wenn sie das kantische Prinzip voll und rein zum Austrage bringt. Ohne daher die historische Flüssigkeit der Bedeutung des Wortes Philosophie zu verkennen, ohne irgend jemand das Recht, Philosophie zu benennen, was ihm beliebt, | zu verkümmern, mache ich nur von eben diesem Rechte, das aus dem Mangel einer festen historischen Bedeutung folgt, auf Grund der entwickelten historischen Betrachtung Gebrauch, wenn ich unter Philosophie im systematischen (nicht im historischen) Sinne nichts anderes verstehe, als die kritische Wissenschaft von den 5
Vgl. unten die Rede über Kant.
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allgemeingültigen Werten. Die Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten: das bezeichnet die Gegenstände; die kritische Wissenschaft: das bezeichnet die Methode der Philosophie. Von dieser Auffassung bin ich überzeugt, daß sie nichts weiter ist, als die allseitige Ausführung des kantischen Grundgedankens: aber ich würde mir nicht gestatten können, für diese Definition den Namen der Philosophie in Anspruch zu nehmen, wenn sich nicht unabhängig von der historischen Entwicklung, ohne die Formeln der kantischen Lehre, die Notwendigkeit einer solchen besonderen Wissenschaft, an welcher der umherflatternde Name der Philosophie festen Halt gewinnen kann, überzeugend nachweisen ließe. Nachdem Kant das Kolumbus-Ei zum Stehen gebracht, ist es nicht schwer, das Kunststück nachzumachen. Alle Sätze, in denen wir unsere Einsichten zum Ausdruck bringen, unterscheiden sich trotz der scheinbaren grammatischen Gleichheit in zwei genau voneinander zu sondernde Klassen: die Urteile und die Beurteilungen. In den ersteren wird die Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungsinhalte, in den letzteren wird ein Verhältnis des beurteilenden Bewußtseins zu dem vorgestellten Gegenstande ausgesprochen. Es ist ein fundamentaler Unterschied zwischen den beiden Sätzen: »dieses Ding ist weiß« und »dieses Ding ist gut«, obwohl die grammatische Form dieser beiden Sätze ganz dieselbe ist. Einem Subjekte wird – der grammatischen Form nach – in beiden Fällen ein Prädikat zugesprochen: aber dies Prädikat | ist in dem einen Falle – als Urteilsprädikat – eine in sich fertige, dem Inhalt des objektiv Vorgestellten entnommene Bestimmung; es ist im anderen Falle – als Beurteilungsprädikat – eine auf ein zwecksetzendes Bewußtsein hinweisende Beziehung. In einem Urteil wird jedesmal ausgesprochen, daß eine bestimmte Vorstellung (das Subjekt des Urteils) in einer nach den verschiedenen Urteilsformen verschiedenen Beziehung zu einer bestimmten anderen Vorstellung (dem Prädikat des Urteils) gedacht werde. In einer Beurteilung dagegen wird einem Gegenstande, der als vollständig vorgestellt, resp. erkannt vorausgesetzt wird, (dem Subjekt des Beurteilungssatzes) das Beurteilungsprädikat hinzugefügt, durch welches die Erkenntnis des betreffenden Subjekts in
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keiner Weise erweitert, wohl aber das Gefühl der Billigung oder der Mißbilligung ausgedrückt wird, mit welchem sich das beurteilende Bewußtsein zu dem vorgestellten Gegenstande verhält. Alle Urteilsprädikate sind deshalb positive, auf die vorgestellte Welt als Gattungsbegriffe, als Eigenschaften, Tätigkeiten, Zustände, Verhältnisse usw. bezogene Vorstellungen: ein Ding ist ein Körper, ist groß, hart, süß usw., es bewegt sich, es stößt, es ruht, es bringt andere hervor usw. Alle Beurteilungsprädikate dagegen sind Äußerungen des Beifalls oder des Mißfallens vonseiten des vorstellenden Bewußtseins: ein Ding ist angenehm oder unangenehm, ein Begriff ist wahr oder falsch, eine Handlung ist gut oder schlecht, eine Landschaft ist schön oder häßlich usw. Es ist klar, daß die Beurteilung nichts mehr zur Einsicht in das Wesen des beurteilten Gegenstandes beiträgt. Das Ding muß vielmehr als bekannt, d. h. als fertig vorgestellt, vorausgesetzt werden, ehe es einen Sinn hat, von ihm zu behaupten, daß es angenehm, gut, schön usw. sei. Und alle diese Prädikationen der Beurteilung haben wieder nur insoweit Sinn, als der vorgestellte Gegenstand daraufhin geprüft wird, | ob er einem Zwecke, nach welchem ihn das beurteilende Bewußtsein auffaßt, entspricht oder nicht entspricht. Jede Beurteilung setzt als Maß ihrer selbst einen bestimmten Zweck voraus, und sie hat nur für denjenigen Sinn und Bedeutung, der diesen Zweck anerkennt. Jede Beurteilung tritt deshalb in der alternativen Form der Billigung oder der Mißbilligung auf. Das vorgestellte Subjekt des Satzes entspricht entweder dem Zweck oder es tut das nicht, und so verschieden die Grade dieses Entsprechens oder Nichtentsprechens resp. Widersprechens, so verschieden deshalb die Grade der Billigung oder der Mißbilligung sein mögen, eins von beiden, Beifall oder Mißfallen, muß eintreten, wenn überhaupt von einer erfolgreichen Beurteilung die Rede sein soll. Diese Unterscheidung von Urteilen und Beurteilungen würde in ihrer fundamentalen und weittragenden Bedeutung viel mehr verstanden werden, wenn wir nicht fortwährend eine eigentümliche Kombination zwischen beiden vollzögen. Die Urteile, d. h. die rein theoretischen, in verschiedenen Formen sich vollziehenden Vorstellungsverbindungen, werden im gewöhnlichen Vorstellungs-
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verlauf wie im wissenschaftlichen Leben nur in dem Sinne gebildet, daß ihnen ein über die naturgesetzliche Notwendigkeit der Assoziation hinausgehender Wert zugesprochen oder abgesprochen, daß sie für wahr oder falsch erklärt, daß sie bejaht oder verneint werden. Soweit unser Denken auf Erkenntnis, d. h. auf Wahrheit, gerichtet ist, unterliegen alle unsere Urteile sofort einer Beurteilung, welche entweder die Gültigkeit oder die Ungültigkeit der im Urteil vollzogenen Vorstellungsverbindung ausspricht. Das rein theoretische Urteil ist eigentlich nur in der Frage oder dem sog. problematischen Urteil gegeben, in welchem nur eine gewisse Vorstellungsverbindung vollzogen, aber über ihren Wahrheitswert nichts ausgesprochen wird. Sobald ein Urteil bejaht oder verneint wird, hat sich mit der | theoretischen Funktion auch diejenige einer Beurteilung unter dem Gesichtspunkte der Wahrheit vollzogen. Dieser dem Urteil hinzutretenden Beurteilung geben wir, weil die Beziehung auf den Wahrheitswert der Urteile in der Mitteilung als selbstverständlich vorausgesetzt wird, keinen eigenen sprachlichen Ausdruck, wenn die Beurteilung bejahend ausfällt, während die Mißbilligung sich durch die Negation ausdrückt. Jede sog. affirmative Behauptung A ist B, involviert also die Meinung: das Urteil, welches die Vorstellungen A und B in der ausgesprochenen Weise verbindet, soll als wahr gelten, und jede negative Behauptung A ist nicht B, involviert die Meinung, jenes, entweder vorher ausgesprochene oder zu befürchtende Urteil solle als falsch angesehen werden. Alle Sätze der Erkenntnis enthalten somit bereits eine Kombination des Urteils mit der Beurteilung: sie sind Vorstellungsverbindungen, über deren Wahrheitswert durch die Affirmation oder Negation entschieden worden ist.6 6 Diese für die Logik äußerst bedeutsame, ja fundamentale Unterscheidung der beiden Elemente im »Urteil« ist, von Descartes (Meditat[iones] IV) nur gestreift, ebenso von Fries (Neue Kritik I, 208 ff.) nur flüchtig berührt, erst in der neueren Logik durch die Untersuchungen über das negative Urteil von Sigwart (Logik I, § 20), Lotze (Logik, 1874, p. 61) und namentlich Bergmann (Reine Logik I, 177 ff.) einem richtigen Verständnis näher gebracht worden. Von psychologischer Seite her hat, obwohl in barocker Form, Brentano (Psychologie I, 266 ff.) darauf auf-
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Der Unterschied zwischen Urteil und Beurteilung ist aber deshalb von höchster Wichtigkeit, weil auf ihm die einzig übrig bleibende Möglichkeit beruht, die Philosophie als eine besondere, schon durch den Gegenstand scharf von den übrigen sich abgrenzende Wissenschaft zu bestimmen. Alle übrigen Wissenschaften nämlich haben theoretische | Urteile aufzustellen: das Objekt der Philosophie bilden die Beurteilungen. Die besonderen Wissenschaften müssen entweder als historische und beschreibende Disziplinen diejenigen Urteile bilden, welche bestimmten, in der Erfahrung gegebenen Gegenständen bestimmte, teils einmalige, teils konstante Prädikate von Eigenschaften, Zuständen, Tätigkeiten und Verhältnissen zu anderen Gegenständen zuschreiben, oder sie haben als erklärende Wissenschaften diejenigen allgemeinen Urteile zu suchen, von welchen sich alle besonderen Eigenschaften, Zustände, Tätigkeiten und Beziehungen der einzelnen Dinge als Spezialfälle ableiten lassen. Eine beschreibende Naturwissenschaft stellt fest, daß einem bestimmten Dinge, z. B. einer Pflanze oder einem seelischen Organismus, diese oder jene Prädikate entweder konstant oder unter gewissen Bedingungen zukommen; eine historische Wissenschaft hat zu konstatieren, daß einzelne Menschen oder Völker in diesen oder jenen Verhältnissen sich befunden, diese oder jene Taten vollbracht, diese oder jene Geschicke erlebt haben. Eine erklärende Wissenschaft stellt unter dem Namen von Gesetzen diejenigen allgemeinen Urteile fest, aus welchen sich als geltenden Obersätzen der Ablauf der Veränderungen, in denen sich die wirklichen Dinge und ihre Zustände zu einander als Ursache und Wirkung verhalten, als eine notwendige Folgerung ergibt. Die mathematischen Wissenschaften endlich stellen, unabhängig von allem zeitlichen Geschehen, die allgemeinen Urteile über die anschauliche Notwenmerksam gemacht. Vgl. hierzu des Verfassers »Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil« in den »Straßburger philosophischen Abhandlungen zu Zellers 70. Geburtstage« (Freiburg i. B. 1884) und den Aufsatz: »Vom System der Kategorien« in den »Philosophischen Abhandlungen zu Sigwarts 70. Geburtstage« (Tübingen 1900).
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digkeit auf, mit welcher die räumlichen und die zahlenmäßigen Formen miteinander in bestimmten Beziehungen stehen. Alle diese Urteile, so speziell in dem einen Falle, so allgemein in dem anderen Falle sie sein mögen und so verschieden ihre erkenntnistheoretische Bedeutung sich gestalten mag, enthalten Vorstellungsverbindungen, Ver|knüpfungen eines vorgestellten Subjekts und eines vorgestellten Prädikats, deren Wahrheitswert durch die Wissenschaft bestimmt werden soll. Unter der Voraussetzung, daß einigen unter den möglichen Urteilen die Wahrheit zukommt, anderen dagegen nicht, suchen die Wissenschaften den ganzen Umfang des zu Bejahenden festzustellen, und zu diesem Zwecke dasjenige, was in Gefahr ist, irrtümlicherweise bejaht zu werden, mit ausdrücklicher Begründung zu verneinen. Sie üben also auf dem Gebiete der Erkenntnis fortwährend Bejahung und Verneinung, Billigung und Mißbilligung aus, und in ihrer Gliederung erstrecken sie diese ihre Tätigkeit über alle Gegenstände, welche überhaupt der menschlichen Einsicht zugänglich sind. In dieser Hinsicht bleibt der Philosophie nichts zu tun übrig. Sie kann weder beschreibende noch erklärende noch mathematische Wissenschaft sein wollen: sie findet alle Gruppen von Gegenständen durch besondere Wissenschaften besetzt, welche sich zu ihnen in einer dieser drei Weisen verhalten, und sie würde aus lauter Anleihen bestehen, wenn sie etwa nur einiges davon mit willkürlicher Auswahl zusammenfassen wollte. Die Aufgabe der Philosophie kann nicht darin bestehen, in der Weise der übrigen Wissenschaften Urteile, in denen bestimmte Gegenstände erkannt, beschrieben oder erklärt werden sollen, zu bejahen oder zu verneinen. Das Objekt, das für sie übrig bleibt, sind die Beurteilungen. Aber auch diesen gegenüber hat sie sich, wenn sie selbständig sein will, ganz anders zu verhalten, als die anderen Wissenschaften zu ihren Objekten. Die Philosophie hat die Beurteilungen weder zu beschreiben noch zu erklären. Das ist Sache der Psychologie und der Kulturgeschichte. Jede Beurteilung ist die Reaktion eines wollenden und fühlenden Bewußtseins gegen einen bestimmten Vorstellungsinhalt. Sie ist ein Vorgang des Seelenlebens, der aus dem Bedürfniszustande auf der | einen Seite und dem Inhalt der
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Vorstellung auf der anderen Seite mit Notwendigkeit resultiert. Aber sowohl dieser Vorstellungsinhalt als auch jener Bedürfniszustand, beide sind ihrerseits wieder notwendige Produkte der gesamten Lebensbewegung. Sie müssen als solche begriffen werden; und da für ihre Erklärung die Individualpsychologie nicht ausreicht, da die Zwecke und Bedürfnisse, an denen das Individuum seinen Vorstellungsinhalt prüft, um ihn zu billigen oder zu mißbilligen, vielfach nur aus der Bewegung der Gesellschaft zu verstehen sind, so muß die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Kultur hinzugenommen werden, um die gesetzmäßige Entstehung der Beurteilungen in ihrer ganzen Ausdehnung begreiflich zu machen und um die Gesetze zu erkennen, nach denen diese Beurteilungen vonstatten gehen. Die psychologisch-entwicklungsgeschichtliche Behandlung der Beurteilungen und ihrer Gesetzmäßigkeit ist somit an sich ein vollständig berechtigtes Problem der erklärenden Geisteswissenschaft überhaupt. Die erklärende Wissenschaft würde ihre Aufgabe nur unvollständig erfüllen, wenn sie vor diesen Tatsachen Halt machte. Aus den psychologischen Gesetzen und aus den Bewegungen des gesellschaftlichen Geistes muß erklärt werden, wie die in unserem allgemeinen Bewußtsein anerkannten Formen der Beurteilung darin durch seine naturnotwendige Entwicklung zustande gekommen sind, wie wir gelernt haben, das Wahre, das Gute, das Schöne von ihren Gegenteilen zu unterscheiden, und wie die besondere Art und Weise, in der wir diese Beurteilungen ausführen, die spezifische Gestaltung, welche wir diesen höchsten, Maß und Wert bestimmenden Zwecken gegeben haben, durch die Notwendigkeit unserer Geschichte bedingt ist. Diese Untersuchungen entsprechen also einer nicht zu bestreitenden Aufgabe der Wissenschaft; aber sie bilden keine selbständige Disziplin, sondern sie sind aus Kapiteln der Psychologie | und der Kulturgeschichte zusammenzufassen. Wer diese höchst interessanten Zusammenstellungen Philosophie nennen will, wie das die französischen und englischen »Philosophen« seit der Aufklärungszeit tun und wie das in deren Nachahmung hier und da auch bei uns geschehen ist – habeat sibi: über Namen wollen wir nicht streiten. Protestieren aber müssen
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wir im Namen der deutschen, von Kant inaugurierten Philosophie dagegen, wenn auch bei uns mit solcher Namengebung die flache Meinung importiert werden soll, als ob es über diese psychologische und kulturhistorische Entwicklungsgeschichte hinaus keine höhere Aufgabe der Wissenschaft gäbe. Die Philosophie, wie wir sie verstehen, hat einen ganz anderen Ausgangspunkt. Alle Beurteilungen, die nur je in Individuen oder in der Gesellschaft sich vollziehen, sind gesetzlich notwendige Produkte des psychischen Lebens. Von dieser Seite her sind sie deshalb alle gleich berechtigt: sie alle haben, wie sie auch auftreten mögen, wenn sie einmal auftreten, zureichende Ursachen. Denn ohne diese träten sie nicht auf. Als empirische Tatsachen also, wie sie von der Psychologie und Entwicklungsgeschichte erklärt werden, sind sie gleichmäßig alle einfach da. Sie gehören zur empirischen Wirklichkeit und haben, wie alles andere, ihre zureichenden Ursachen der Existenz und die Gesetze ihrer Entstehung und Bewegung: sie unterliegen solchen Gesetzen ebenso wie die Objekte, auf welche sich die Beurteilungen beziehen und welche, ebenfalls als empirische Tatsachen, derselben gesetzmäßigen Naturnotwendigkeit unterworfen sind. Die Empfindungen und Vorstellungen mit den Gefühlen des Angenehmen und des Unangenehmen, die sie erregen; die Vorstellungsverbindungen samt der Gewißheit, mit der sie für wahr oder falsch erklärt werden; die Willensbestimmungen und Handlungen, wie die Beurteilungen, vermöge deren sie als gut oder böse charakterisiert werden; die Anschauungen und ebenso die Gefühle, | welche sie als schön oder häßlich bewerten, – alles dies ist als empirische Tatsache des individuellen oder des allgemeinen Menschengeistes ein naturnotwendiges Produkt gegebener Bedingungen und Gesetze. Und doch – das ist die Fundamentaltatsache der Philosophie – bei all dieser Naturnotwendigkeit ausnahmslos aller Beurteilungen und ihrer Gegenstände sind wir unerschütterlich überzeugt, daß es gewisse Beurteilungen gibt, welche absolut gelten, auch wenn sie gar nicht oder nicht allgemein tatsächlich zur Anerkennung gelangen. Gewiß, ein jeder denkt notwendig so, wie er eben denkt, und er hält seine oder fremde Vorstellungen eben für wahr, weil er sie
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notwendig dafür halten muß: dennoch sind wir überzeugt, daß gegenüber diesen Notwendigkeiten des naturgesetzlich sich vollziehenden Fürwahrhaltens es eine absolute Wertbestimmung gibt, wonach über wahr und falsch entschieden werden soll, gleichgültig ob das geschieht oder nicht. Diese Überzeugung haben wir alle: denn indem wir irgendeine Vorstellung auf Grund unseres notwendigen Vorstellungsverlaufs für wahr erklären, so hat diese Erklärung gar keinen anderen Sinn, als den Anspruch, daß sie nicht nur für uns, sondern auch für alle anderen als wahr gelten solle. Ob dieser Anspruch im einzelnen Falle erfüllt wird und selbst ob er im einzelnen Falle berechtigt war, darauf kommt es nicht an: nur so viel ist klar, daß die Beurteilung der Vorstellungen unter dem Gesichtspunkte der Wahrheit einen solchen absoluten Maßstab, der für alle gelten soll, voraussetzt. Das Gleiche gilt auf dem ethischen und dem ästhetischen Gebiete. Gewiß ist es durch den Kulturzustand und den persönlichen Lebensverlauf eines jeden gesetzlich bedingt, was er einerseits gut oder böse, und was er andererseits schön oder häßlich nennt: aber in beiden Fällen involvieren die darin ausgesprochenen Prädikationen den Anspruch, daß sie für alle gelten, von jedem | in derselben Weise notwendig anerkannt werden sollen. So relativ diese Beurteilungen in ihrer empirischen Wirklichkeit sich gestalten mögen, so erheben sie doch stets den Anspruch auf absolute Geltung und haben ihren Sinn darin, daß sie die Möglichkeit einer absoluten Beurteilung voraussetzen. Dieser Anspruch und diese Voraussetzung nun sind es, welche die drei charakterisierten Formen der Beurteilung – wir nennen sie am besten die logische, ethische und ästhetische – von allen den tausendfachen Beurteilungen unterscheiden, in denen sich nur das individuelle Gefühl der Lust oder Unlust an einem vorgestellten Gegenstande ausspricht. Wer an einer Farbe Gefallen findet, wem ein Ding angenehm7 schmeckt, wer sich an einem Gegenstande 7 Die gewöhnliche Ausdrucksweise spricht bei der Flüssigkeit ihrer Bezeichnungen auch von »gut« oder »schön« schmecken, riechen usw. Es ist zu wünschen, daß man im wissenschaftlichen Ausdruck diese Fahrlässigkeit überall vermeide.
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freut, weil er diesen oder jenen Vorteil davon hat, dem wird es bei rechter Besinnung niemals einfallen, zu verlangen, daß jeder andere die Beurteilung auch zu der seinigen mache. Die Gesetzmäßigkeit der psychologischen Funktionen bringt es freilich mit sich, daß bei gleich oder ähnlich organisierten Wesen dieselben Empfindungen mit demselben Gefühlston aufzutreten pflegen: wenn aber vermöge irgendwelcher habituellen Störung oder momentanen Disposition das eine oder das andere Individuum von dieser allgemeinen Gefühlsweise abweicht, so sehen wir darin nichts besonderer Beachtung Bedürftiges und nehmen daran nicht den geringsten Anstoß. Je mehr wir aber von diesen elementaren Gefühlstönen der Empfindungen zu den weit mannigfaltigeren und verwickelteren Lust- und Unlustgefühlen aufsteigen, welche sich an die zusammengesetzten Vorstellungen von Dingen und deren Verhältnissen anknüpfen, um so geringer wird, ohne | daß uns dies irgendwie verwunderte oder verletzte, die Übereinstimmung der Individuen. Die Mannigfaltigkeit der Kombinationen läßt bei aller gesetzmäßigen Gleichheit der Grundprozesse keine Gleichheit des Resultats zustande kommen. Niemand setzt für seine Lustund Unlustgefühle Allgemeingültigkeit voraus; niemand meint auch, daß es einen absoluten Maßstab gebe, wonach für jeglichen die Beurteilung der Annehmlichkeit der Dinge sich bestimmen lasse. Eine solche Anforderung hat keinen Sinn, und eine Hedonik, d. h. Lustlehre, kann deshalb wiederum nur ein Kapitel aus der Psychologie und der Entwicklungsgeschichte, niemals eine philosophische Disziplin sein. Wer daher der Philosophie die Entscheidung über die Streitfrage des Optimismus und des Pessimismus aufbürdet, wer von ihr verlangt, daß sie ein absolutes Urteil darüber abgebe, ob die Welt mehr geeignet sei, Lust als Unlust oder umgekehrt zu erzeugen, der arbeitet sich, wenn er überhaupt mehr als dilettantisch verfährt, an dem Phantom ab, eine absolute Bestimmung auf einem Gebiete aufzufinden, auf welchem kein vernünftiger Mensch sie je gesucht hat. Denn von einer Beurteilung des Universums unter dem hedonischen Gesichtspunkte könnte nur dann die Rede sein, wenn es den subjektiven Lust- und Unlustgefühlen gegenüber ein Maß der
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Berechtigung dafür gäbe. Da dies fehlt, so bleibt Optimisten und Pessimisten nur übrig, einen ungefähren Überschlag der einzelnen empirischen Lust- und Unlustgefühle und eine Schätzung ihrer Quantitäts- und Intensitätsverhältnisse vorzunehmen, die vollständig in der Luft schwebt. Wer das Philosophie nennen will, – habeat sibi; ich halte es für eine Entladung des Lusttriebes, welche in die Geschichte der Pathologie des menschlichen Denkens gehört8. Nach Ausschluß der Hedonik bleiben nur drei Formen | der Beurteilung übrig, in denen sich der Anspruch auf Allgemeinheit als wesentlicher Bestandteil herausstellt, – die drei, welche durch die drei Begriffspaare wahr und falsch, gut und böse, schön und häßlich charakterisiert sind. Es gibt deshalb nur diese drei im eigentlichen Sinne philosophischen Grundwissenschaften: Logik, Ethik und Ästhetik. Die Psychologie9 ist eine empirische, teils beschreibende, teils erklärende Wissenschaft; die Metaphysik in dem alten Sinne eines dogmatischen Wissens von den letzten Gründen aller Wirklichkeit ist ein Unding; Erkenntnistheorie dagegen, Naturphilosophie, Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie, Kunstphilosophie und Religionsphilosophie haben nur insofern Berechtigung, als sie nicht im metaphysischen, sondern im kritischen Sinne unter dem Gesichtspunkte jener drei philosophischen Grundwissenschaften als ihre Auszweigungen, Anwendungen oder Vollendungen behandelt werden. In allen dreien soll also der Anspruch geprüft werden, welchen die logische, die ethische und die ästhetische Beurteilung auf Allgemeingültigkeit erheben: und von vornherein ist zu bemerken, daß mit der gleichen Fragestellung zwar auch eine methodisch gleiche und systematisch parallele Untersuchung sich für diese drei Disziplinen ergibt, daß dadurch aber nicht im geringsten eine Gleichheit des Resultats und der Antwort bedingt oder präjudi8 Vgl. den Vortrag »Pessimismus und Wissenschaft« im zweiten Bande dieser Sammlung. 9 Für die vollständige Ablösung der Psychologie von der Philosophie ist der Verfasser schon in seiner Züricher Antrittsrede »Über den gegenwärtigen Stand der psychologischen Forschung« (Leipzig, 1876) eingetreten.
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ziert ist. Es wäre z. B. denkbar, daß die kritische Philosophie das Anrecht etwa der logischen Beurteilung auf Allgemeingültigkeit in ihrem Sinne bestätigte, dagegen den entsprechenden Anspruch auf einem der beiden anderen Gebiete entweder ganz zu verwerfen oder nur mit sehr erheblichen Modifikationen anzuerkennen sich genötigt sähe. In diesem | Falle würde das betreffende Gebiet wegen des nachgewiesenen Mangels eines absoluten Maßstabes der psychologischen und entwicklungsgeschichtlichen Behandlung gänzlich anheimzugeben sein. Aber da einmal darin der Anspruch auf die absolute Geltung vorliegt und da dieser Anspruch weder von der beschreibenden noch von der erklärenden Wissenschaft geprüft werden kann, so muß eben durchaus eine philosophische Untersuchung darüber stattfinden, selbst wenn diese zu lediglich negativen Resultaten führen sollte. Auch wer also etwa durch kritische Untersuchungen oder durch eine mehr oder minder klare Voreingenommenheit zu der Ansicht gekommen sein sollte, daß auf dem einen oder dem anderen dieser Gebiete – oder gar auf allen dreien – immer nur, wie auf dem hedonischen, relative, aber nie absolute Beurteilungen möglich sind, der würde doch die Tatsache des Anspruchs auf die letzteren zugeben und damit die Berechtigung der philosophischen Fragestellung einräumen müssen. Und nur darum handelt es sich hier; die Resultate der Philosophie sollen nicht vorweggenommen werden. Ist so das Objekt der Philosophie bestimmt, so fragt es sich, worin die Kritik besteht, der es unterworfen werden soll, und durch welches wissenschaftliche Verfahren sie möglich ist. Wenn zunächst hier immer von dem Anspruche der logischen, ethischen und ästhetischen Beurteilungen auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit die Rede gewesen ist, so muß genauer darauf hingewiesen werden, daß diese Allgemeingültigkeit keine faktische und diese Notwendigkeit nicht die kausale ist. Wer von der Wahrheit eines Urteils überzeugt ist, der ist gemeiniglich weit davon entfernt, zu glauben, daß dies Urteil von jedermann anerkennt worden ist oder auch nur anerkannt werden wird. Die tatsächliche Allgemeinheit der Anerkennung ist in unserem Ringen nach der Wahrheit ein völlig ausgeschlossener | Gesichtspunkt.
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Andererseits gibt es zweifellos für niedere Kulturzustände eine Tatsächlichkeit der allgemeinen Geltung von Vorstellungen und Beurteilungsweisen, welche offenbar irrig und verfehlt sind. Nicht darauf also kommt es an, daß etwa alle Exemplare der Spezies homo sapiens in der Anerkennung eines Urteils einig sind, und durch vergleichende Induktion der wirklichen Beurteilungen ist folglich die Allgemeingültigkeit im philosophischen Sinne nicht zu finden. Da gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, so ist es möglich – und tausendfach wirklich –, daß dieselben Veranlassungen überall denselben Irrtum hervorrufen. Für die Wahrheit oder Unwahrheit einer Vorstellung ist es ganz gleichgültig, wie viele Menschen sie anerkennen oder nicht anerkennen. Die Allgemeingültigkeit, um die es sich hier handelt, ist keine tatsächliche, sondern eine ideale; keine, welche wirklich ist, sondern eine, welche sein sollte. Ebenso steht es mit der Notwendigkeit dieser Beurteilungen. Kausal notwendig ist der Wahnsinn so gut wie die Weisheit, ist die Sünde so gut wie die Tugend, ist das Schönheitsgefühl so gut wie das Gegenteil. Die Sonne der Naturnotwendigkeit scheint über Gerechte und Ungerechte. Die Notwendigkeit, mit der wir die Geltung logischer, ethischer und ästhetischer Bestimmungen fühlen, ist ebenfalls eine ideale, eine Notwendigkeit nicht des Müssens und Nichtanderskönnens, sondern des Sollens und des Nichtandersdürfens. Es ist jene höhere Notwendigkeit, welche durch die naturgesetzliche Notwendigkeit, der unser Vorstellen, Wollen und Fühlen unterworfen ist, durchaus nicht stetig erfüllt wird, – die Notwendigkeit des Sollens. Kein Naturgesetz zwingt den Menschen, immer so zu denken, so zu wollen, so zu fühlen, wie er nach der logischen, der ethischen und der ästhetischen Notwendigkeit immer denken, wollen, fühlen sollte! | Wenn daher die Philosophie die Prinzipien der logischen, ethischen und ästhetischen Beurteilung festsetzen soll, so kann sie nicht dabei stehen bleiben, zu fragen, welche Bestimmungen auf diesen Gebieten etwa wirklich allgemein gelten, oder zu untersuchen, welche sich mit psychologischer und kulturgeschichtlicher
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Notwendigkeit immer geltend machen oder geltend gemacht haben. In keiner von beiden Richtungen findet man ein Kriterium dessen, was gelten soll. Die Masse oder gar die Majorität ist nicht das Tribunal, vor dem der absolute Wert entschieden wird, und der Nachweis der Ursachen ihres Verhaltens ist keine Begründung ihrer Berechtigung. Andererseits aber zeigt sich in der Energie, mit welcher der einzelne gegen den Widerspruch einer Welt an demjenigen festhält, was er für wahr, gut, schön erkannt hat, kein Eigensinn individueller Willkür, sondern ein Drang der Überzeugung, daß in ihm etwas zum Durchbruch gekommen ist, was für alle gelten sollte und wovon er nicht lassen darf. In der naturnotwendigen Bewegung der Menschengeschichte freilich kann die Verteidigung dieser Überzeugung dem persönlichen Wahne verzweifelt ähnlich sehen: der Entdecker einer neuen Wahrheit, der Reformator des sittlichen Lebens, der Schöpfer einer neuen Kunst erscheint seinen Zeitgenossen und vielleicht vielen Generationen nach ihm noch als wahnbetört. Aber so schwierig, so unmöglich es im einzelnen sein mag, zu entscheiden, welche von beiden Erscheinungen im gegebenen Momente vorliegt, wir alle glauben an die Unterscheidung, wir alle sind überzeugt, daß, auch wenn wir es nicht immer und vor allem nicht immer sofort verstehen, es ein Recht des im höheren Sinne Notwendigen gibt, welches für alle gelten sollte. Wir glauben an ein höheres Gesetz als das der naturnotwendigen Entstehung aller unserer Beurteilungen, – an ein Recht, das ihren Wert bestimmt. Ich sage: wir alle glauben daran. Vergesse ich jene | Theoretiker des Relativismus, welche in allen diesen Bestimmungen und Überzeugungen nichts weiter als naturnotwendige Produkte der menschlichen Gesellschaft sehen? Aber sie wollen doch ihre Theorie nicht nur so als Meinung hinwerfen, sondern behaupten und beweisen. Und was heißt beweisen? Es heißt voraussetzen, daß über jenen Notwendigkeiten der jedesmaligen Vorstellungsbewegung eine höhere Notwendigkeit steht, die jeder anerkennen sollte. Wer den Relativismus beweist, vernichtet ihn. Der Relativismus ist eine Theorie, an welche noch nie jemand ernstlich geglaubt hat,
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an welche eben niemand ernsthaft glauben kann, er ist eine fable convenue.10 Überall sonach, wo das empirische Bewußtsein diese ideale Notwendigkeit dessen, was allgemein gelten soll, in sich entdeckt, stößt es auf ein normales Bewußtsein, dessen Wesen für uns darin besteht, daß wir überzeugt sind, es solle wirklich sein, ohne jede Rücksicht darauf, ob es in der naturnotwendigen Entfaltung des empirischen Bewußtseins wirklich ist. So gering der Grad und der Umfang sein mag, in welchem dies normale Bewußtsein das empirische durchdringt und darin zur Geltung kommt, so sind doch alle logischen, ethischen und ästhetischen Beurteilungen auf die Überzeugung gebaut, daß es ein solches Normalbewußtsein gibt, zu welchem wir uns zu erheben haben, wenn unsere Beurteilungen auf notwendige Allgemeingültigkeit Anspruch haben sollen: ein Normalbewußtsein, welches nicht im Sinne der faktischen Anerkennung gilt, sondern gelten sollte, – keine empirische Wirklichkeit, aber ein Ideal, daran der Wert aller empirischen Wirklichkeit gemessen werden soll. Die Gesetze dieses »Bewußtseins überhaupt« – das ist Kants Ausdruck dafür – sind nicht mehr Naturgesetze, welche unter allen | Umständen gelten und wonach die einzelnen Tatsachen sich gestalten müssen, sondern Normen, welche eben gelten sollen und deren Verwirklichung den Wert des Empirischen bestimmt. Nichts anderes nun ist die Philosophie als die Besinnung auf dies Normalbewußtsein, als die wissenschaftliche Untersuchung darüber, welche von den Inhaltsbestimmungen und Formen des empirischen Bewußtseins den Wert des Normalbewußtseins haben. In dem empirischen Bewußtsein des Individuums, der Völker, der Menschheit kommen sie ebenso notwendig, wie alle Torheit, alle Verworfenheit, alle Geschmacklosigkeit zustande: und die Aufgabe der Philosophie ist es, aus diesem Chaos individueller oder tatsächlich allgemeiner Werte diejenigen herauszufinden, denen die Notwendigkeit des normalen Bewußtseins anhaftet. Diese 10 Näheres hierüber, wie über das Folgende im zweiten Bande in der Abhandlung »Kritische oder genetische Methode«.
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Notwendigkeit ist in keinem Falle irgendwoher abzuleiten, sie kann nur aufgewiesen werden; sie wird nicht erzeugt, sondern nur zum Bewußtsein gebracht. Das einzige, was die Philosophie tun kann, besteht darin, dies Normalbewußtsein aus den Bewegungen des empirischen Bewußtseins hervorspringen zu lassen und auf die unmittelbare Evidenz zu vertrauen, mit welcher seine Normalität sich, sobald sie einmal zum klaren Bewußtsein gekommen ist, in jedem Individuum ebenso wirksam und geltend erweist, wie sie gelten soll. Ein Satz, wie der logische des Widerspruchs, ein Prinzip, wie das moralische des Pflichtbewußtseins, sind nicht zu beweisen: man kann nur an dem wirklichen Vorstellungs- und Willensleben des Menschen sie zum Bewußtsein, zur klaren Formulierung bringen, und man muß dann darauf vertrauen, daß in jedem, der sich ernstlich besinnt, das normale Bewußtsein mit unmittelbarer Evidenz sich in ihrer Anerkennung geltend machen wird. Mit niemandem könnten wir mehr logisch und wissenschaftlich verhandeln, der die Geltung der Denkgesetze leugnete: mit niemandem könnten | wir uns sittlich verständigen, der jegliche Pflicht ablehnte. Die Anerkennung des normalen Bewußtseins ist die Voraussetzung der Philosophie: es ist in abstracto dieselbe Voraussetzung, welche in concreto allem wissenschaftlichen, allem sittlichen, allem ästhetischen Leben zugrunde liegt. Jede Verständigung über irgend etwas, was die Individuen als geltende Norm über sich anerkennen sollen, setzt dies Normalbewußtsein voraus. Philosophie also ist die Wissenschaft vom Normalbewußtsein. Sie durchforscht das empirische Bewußtsein, um festzustellen, an welchen Punkten darin jene normative Allgemeingültigkeit hervorspringt. Sie ist selbst ein Erzeugnis des empirischen Bewußtseins, sie tritt ihm nicht als eine fremde Eingebung gegenüber: aber sie fußt auf der allen Wert des Menschenlebens ausmachenden Überzeugung, daß mitten in den naturnotwendigen Bewegungen des empirischen Bewußtseins eine höhere Notwendigkeit erscheint, und sie forscht nach den Punkten, an denen diese durchbricht. Dies »Bewußtsein überhaupt« ist also ein System von Normen, welche, wie sie objektiv gelten, so auch subjektiv gelten sollen, aber in der empirischen Wirklichkeit des menschlichen Geistesle-
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bens nur teilweise gelten. Nach ihnen erst bestimmt sich der Wert des Wirklichen. Diese Normen somit machen erst die allgemeingültigen Beurteilungen möglich für die Gesamtheit der Objekte, welche in den Urteilen der übrigen Wissenschaften erkannt, beschrieben und erklärt werden. Die Philosophie ist die Wissenschaft von den Prinzipien der absoluten Beurteilung. Man würde vielleicht kaum auf Widerspruch stoßen, wenn man behauptete, dies Normalbewußtsein sei dasjenige, was die populäre Sprache unter dem Worte »Vernunft« recht eigentlich verstehe und bezeichnet haben wolle, das überindividuell Geltensollende, und man dürfe deshalb auch die Philosophie die Wissenschaft von der Vernunft | nennen. Allein ich verzichte auf diese Bezeichnung, weil das Wort »Vernunft« von den deutschen Philosophen in so verschiedenen Bedeutungen gebraucht worden ist, daß seine Verwendung in einer Definition vieldeutig und mannigfachen Mißverständnissen ausgesetzt sein würde. Die Philosophie als Wissenschaft vom Normalbewußtsein ist nun selbst ein Idealbegriff, der nicht realisiert ist und dessen Realisierung überhaupt, wie sich weiterhin zeigen wird, immer nur in gewissen Grenzen möglich ist: die Fundamente für ihren Aufbau hat die kantische Philosophie gelegt. Aber von diesem Begriffe aus gesehen, erhält nun auch sogleich dasjenige, was man Geschichte der Philosophie nennt und als solche zu behandeln hat, ein anderes, genau bestimmtes Ansehen. Die Geltung des Normalbewußtseins als des absoluten Maßes der logischen, ethischen und ästhetischen Beurteilung liegt zwar als eine unumgängliche Voraussetzung allen höheren Funktionen des Menschen und vor allem denjenigen zugrunde, welche als Produkte der gesellschaftlichen Kultur die Erzeugung und Erhaltung des über der Willkür der Individuen Stehenden zu ihrem Inhalte haben: aber sie zeigt sich zunächst als unbefangene und selbstverständliche Unterordnung unter ein durch die Entwicklung der Volksseele erzeugtes Gesamtbewußtsein. Erst nach dessen Erschütterung tritt die Besinnung auf ein ideales Maß, dem alle sich beugen sollten, ein, und aus dieser Besinnung erwächst das Bestreben, sich zu diesem Normalbewußtsein zu erheben
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und es im empirischen Bewußtsein zur Geltung zu bringen. Aber der menschliche Geist ist mit diesem idealen Bewußtsein nicht identisch, er unterliegt den Gesetzen seiner naturnotwendigen Bewegung, und nur hier und da führt sie zu einem Resultate, in welchem die unmittelbare Evidenz der normativen Geltung zustande kommt. Der historische Prozeß des menschlichen Geistes läßt | sich daher unter dem Gesichtspunkte betrachten, daß in ihm allmählich mitten in der Arbeit an den einzelnen Problemen, in dem Wechsel seiner Interessen, in der Verschiebung seiner einzelnen Fäden das Bewußtsein der Normen zum Durchbruch gekommen ist, daß er in seiner fortschreitenden Bewegung ein immer tieferes und umfassenderes Ergreifen des Normalbewußtseins darstellt. Es wird nichts im Wege stehen, wenn von dieser Begriffsbestimmung der Philosophie aus dies allmähliche Bewußtwerden der Normen als der eigentliche Sinn der Geschichte der Philosophie aufgefaßt wird. Es ist das eben eine der Linien, welche man, von einem festen Begriffe der Philosophie ausgehend, in die Geschichte hineinkonstruieren kann, ohne damit ihren ganzen vielverzweigten Inhalt zu umfassen. Diese Linie liefe an den Spitzen entlang, welche aus dem breiten Untergrunde der übrigen Vorstellungen in den Äther des Normalbewußtseins aufragen, und sie bezeichnete damit auch die höchsten Auszackungen der kulturhistorischen Entwicklung; denn die Besinnung auf absolute Normen ist schließlich das Produkt jeder Kulturtätigkeit, und der Philosophie weisen wir nur die Aufgabe zu, sie im Zusammenhange, in der notwendigen Gliederung auf dem Wege wissenschaftlicher Untersuchung zum Bewußtsein zu bringen. Eine solche Geschichte der Philosophie wäre also eine Auswahl, die den allmählichen Fortschritt zu zeigen hätte, in welchem der wissenschaftliche Geist an der Lösung der hier formulierten Aufgabe gearbeitet hat. Damit hörte sie keineswegs auf, eine empirische Wissenschaft zu sein, wie es jede historische Disziplin eben sein muß. Betrachtet man die Geschichte von dem Gesichtspunkte einer zu lösenden Aufgabe, so hat man erst recht die Pflicht, den kausalen Prozeß aufzuweisen, durch welchen die Bewältigung der-
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selben sukzessive fortgeschritten ist. Die Aufgaben realisieren sich nicht, sie werden realisiert. Auch die Be|stimmungen des Normalbewußtseins, zu denen das philosophische Denken sich aufringt, sind in dem naturnotwendigen Prozeß der geschichtlichen Denkbewegung als Inhaltsbestimmungen des empirischen Bewußtseins zustande gekommen. Diese ihre empirische Genesis hat die Geschichte der Philosophie zu begreifen, unbeschadet des Wertes, der ihnen, wenn sie in das empirische Bewußtsein eingetreten sind, vermöge ihrer normativen Evidenz zukommt.11 Nicht in dem Sinne also möchte diese Auffassung gedeutet sein, als ob sie – etwa nach hegel’schem Rezepte – eine geheimnisvolle Selbstrealisierung der »Ideen« statuierte, vermöge deren die empirischen Vermittlungen als unnötiges Beiwerk erschienen. Wir haben in der empirischen Erkenntnis keinen anderen Ort, wohin wir die Ideen versetzen sollten, als die Köpfe denkender Menschen, und in diesen sind sie erst dann bestimmende und wirkende Mächte, wenn sie zum Bewußtsein gekommen sind. Die Geschichte der Philosophie hat mit ihnen nicht als Faktoren zu rechnen, sondern sie als Produkte zu erklären. Das »Prinzip«, das der Philosoph findet, wird eine in der empirischen Geistesbewegung wirksame Macht erst dadurch, daß er es als Resultat seiner Arbeit zum Bewußtsein bringt. Oder ist etwa der Philosoph etwas anderes, als ein Mensch unter Menschen? Es ist ihm doch keine andersartige Denkkraft gegeben als allen anderen, und er beweist dies am besten selbst, wenn er durch die Veröffentlichung seiner Werke den Wunsch ausdrückt, andere so wie sich | selbst denken zu machen, und dabei – trotz intellektualer Anschauung und ähnlicher mystischer Begabungen – von der Annahme ausgeht, daß die anderen unter seiner Anleitung 11 Die Behandlung der Geschichte der Philosophie unter diesem im Jahre 1883 entworfenen Gesichtspunkte hat der Verfasser in seinem Lehrbuch der »Geschichte der Philosophie« durchzuführen gesucht. Vgl. in der sechsten Auflage (Tübingen 1912) die Einleitung und den Schlußparagraphen, dazu des Verfassers Abhandlung über »Geschichte der Philosophie« in der Festschrift für Kuno Fischer, Bd. II, Heidelberg 1905, 2. Aufl. 1907, S. 529 ff.
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dieselben Denkbewegungen durchmachen sollen wie er selbst. Aber seine Gedanken sind auch auf keine andere Weise entstanden, als die der übrigen. Er wächst wie alle aus gedankenloser Kindheit zu langsamem Erwachen heran; er saugt aus dem Lebenskreise, worin er geboren und erzogen wird, Kenntnisse und Ansichten ein, welche als ein Schatz ursprünglichster »Wahrheiten« in ihm sich festsetzen, er bereichert beide durch eigene Forschung und eigenes Urteil: aber immer bleibt ihm der Gesichtskreis des Denkens und die Richtung des Interesses, welches ihm die Fragen stellt, durch die ganze Summe dessen, was er bisher gedacht und erlebt, unausweichlich vorgezeichnet. So bildet sich von den verschiedensten Seiten, von den entlegensten Ansatzpunkten, wie bei jedem Menschen, eine oft recht heterogene, aber doch nach allen Richtungen hin miteinander verschmolzene Vorstellungsmasse, ein psychisches System, welches wie überall nach Vereinheitlichung hinstrebt. Statt aber, wie es bei den meisten Menschen der Fall ist, sich mit dem oberflächlichen Ausgleich der gerade am auffallendsten einander widerstrebenden Vorstellungen zu begnügen und statt sich die allgemeinsten Linien der Weltauffassung, den Rahmen der einzelnen Ansichten, von einer der herrschenden Meinungen geben zu lassen, ist derjenige, dessen Tätigkeit wir als philosophisch bezeichnen, durch persönliche Verhältnisse, geistige Begabung und Energie des Charakters in der Lage, den einheitlichen Zusammenhang seiner Vorstellungen durch eigene Bemühung des Nachdenkens aufzusuchen. Allein man darf nie vergessen, daß eben diese Tätigkeit des Suchens in ihrer ganzen Richtung und in der ganzen Ausdehnung des in Frage kommenden Vorstellungsinhalts, also schließlich auch in ihrem Resultate, | vollkommen bedingt ist durch die ganze Masse des schon vorher vorhandenen Denkstoffes. Kein philosophisches Prinzip fällt vom Himmel oder regnet dem Philosophen in den Schoß, sondern jedes ist das Ergebnis seiner mannigfachen Gedankentätigkeit. Daß dabei in der endlichen Herbeiführung eines Gleichgewichtszustandes gewisse Vorstellungen sich anderen gegenüber als die mächtigeren und bedeutsameren erweisen, ist selbstverständlich: aber diese Macht und diese Bedeutsamkeit gebührt ihnen zunächst
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auch nur in den statischen Verhältnissen dieses individuellen Vorstellungssystems. Ist es dem Philosophen nun mit größerer oder geringerer Mühe gelungen, ein einheitliches Prinzip für die Anordnung seines ganzen Gedankenstoffes aufzufinden, so werden sich die einzelnen Teile des letzteren offenbar sehr verschieden dazu verhalten. Manche, und hauptsächlich diejenigen, welche bei der Erfassung des Prinzips bestimmend waren, fügen sich leicht und wie von selbst in das so sich gestaltende Weltbild ein; andere aber erweisen sich mehr oder weniger spröde. Da müssen sich denn manchmal zugunsten jenes Grundgedankens andere Meinungen, die aus ganz anderen Regionen stammen und ein ganz anderes Gesicht zeigen, es gefallen lassen, verschoben und umgegossen zu werden; der Grundgedanke öffnet nun auch neue Vorstellungskreise und Erkenntnisse; gegen diese treten wohl alte Gedanken in den Hintergrund und werden, wenn nicht gänzlich verdrängt, so doch teilweise verändert: aber stets bilden sie doch das Material, in welchem sich die assimilierende und umgestaltende Tätigkeit der neuen Kraft allein geltend machen kann. Selten aber werden wir einen Philosophen in der glücklichen Lage sehen, daß sich sein ganzer Vorstellungsstoff zu dem gefundenen Prinzip in gleichmäßig innige Beziehung setzen läßt: und unter den widerstrebenden Gedanken werden dann doch immer einige sein, welche dem neuen Prinzip nicht weichen, sondern mit ihrer ur|sprünglichen Gewalt der Seele so tief eingewurzelt sind, daß sie – ungeachtet ihrer Beziehungslosigkeit oder gar ihres Widerspruchs zu jenem Prinzip – sich daneben behaupten und ihren oft sehr bedeutsamen Platz in der Weltanschauung des Mannes mit nicht geringerer Gewalt in Anspruch nehmen. Da gibt’s dann Risse und Klüfte im System, aber sie überbrücken und verdecken sich in der subjektiven Gewißheit des Philosophen, und je energischer er seine verschiedenen Überzeugungen nebeneinander aufrecht zu erhalten sucht, um so geneigter werden wir ihn sich der Täuschung hingeben sehen, sie als übereinstimmend zu betrachten, wo sie es in Wahrheit nicht sind und nie werden können, oder einen Zusammenhang zwischen ihnen anzunehmen, in welchen sie ihrem Wesen nach nie treten können. So erklären sich die heterogenen Bestandteile,
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welche in sonst unbegreiflichem Gegensatze zu dem sogenannten Grundprinzip sich in größerer oder geringerer Anzahl bei jedem philosophischen Systeme vorfinden: und auch der eigentümliche Umstand, daß gerade an diesen Punkten die Philosophen am hartnäckigsten auf der notwendigen Zusammengehörigkeit disparater Auffassungen zu bestehen pflegen, wird uns verständlich werden, wenn wir bedenken, daß sich unabhängig von dem neu gefundenen Prinzip nur die mit der Persönlichkeit des Philosophen am allerinnigsten verflochtenen Überzeugungen zu erhalten vermögen und daß das Gefühl gleich hoher Gewißheit nun auch die sonst verschiedenartigen Vorstellungen zusammenschmilzt, so daß unter diesem Interesse die Fähigkeit, scheinbare Übergänge und Zusammenhänge zu erdenken, ganz außerordentlich gesteigert wird. Alle solche Zusammenhangslosigkeiten aber und Widersprüche mit ihren künstlichen Verhüllungen könnten nicht auftreten, wenn ein philosophisches System wirklich von vornherein so ganz unabhängig für sich aus der treibenden Kraft seines Grundgedankens organisch emporwüchse: sie | sind dagegen durchaus begreiflich, wenn man sich klar macht, daß alle die mannigfachen Gedankenstoffe, von den verschiedenen Seiten her erzeugt und befördert, sich lange vorher im Kopfe des Philosophen ansammeln und befestigen, ehe er auch nur an die Aufsuchung seines Prinzips gedacht hat, und daß daher später dies Prinzip in der Bewältigung des von ihm vorgefundenen Materials eine Arbeit von sehr verschiedener Schwierigkeit und teilweise von völliger Unlösbarkeit zu leisten hat. Die teleologische Auffassung der Geschichte der Philosophie unter dem Gesichtspunkte der sukzessiven Lösung einer in einem festen Begriff der Philosophie ausgesprochenen Aufgabe ist daher eine Betrachtung, welche als solche gerechtfertigt und im Interesse der so bestimmten Philosophie vielleicht nötig und wünschenswert ist. Aber sie ist für sich allein nicht schon die ganze Geschichte der Philosophie. Geschichte ist empirische Konstatierung und empirische Erklärung. Diese Aufgabe muß auch diesem Gegenstande gegenüber rein erhalten werden, sie verlangt eine durchaus psychologische und kulturhistorische Behandlung.
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Auf der anderen Seite jedoch – und diese muß freilich gegenwärtigen Neigungen und Richtungen gegenüber noch mehr hervorgehoben werden – hat die Philosophie das lebhafteste Interesse daran, erkannt und anerkannt zu wissen, daß dieser naturnotwendige Prozeß durch die Besinnung auf das normale Bewußtsein zu Überzeugungen geführt hat, welche nicht bloß so einfach da sind, wie andere eben auch, welche auch nicht etwa nur gerade, weil es der Lauf der Vorstellungen so mit sich gebracht hat, vielfach Geltung erlangt haben, sondern welche den absoluten Wert haben, gelten zu sollen. Es darf nicht vergessen werden, daß dies Produkt der Naturnotwendigkeit identisch ist mit einer höheren, mit der normativen Notwendigkeit. | Die empirische Bewegung des menschlichen Denkens ringt dem normalen Bewußtsein eine seiner Bestimmungen nach der andern ab. Wir wissen nicht, ob sie damit je an ein Ende gelangen wird: wir wissen noch weniger, ob die historische Reihenfolge, in der wir uns einzelner dieser Bestimmungen bemächtigen, irgendeine auf deren inneren Zusammenhang hinweisende Bedeutung hat. Für unsere Erkenntnis bleibt das normale Bewußtsein ein Ideal, dessen Saum wir nur erfassen. Menschliches Denken kann nur entweder als empirische Wissenschaft das gegebene Einzelne in seinem kausalen Zusammenhang und in seiner werthaften Bestimmtheit verstehen oder als Philosophie sich auf die selbstverständlichen Prinzipien absoluter Beurteilung an der Hand der Erfahrung selbst besinnen. Eine vollständige Erfassung des Ganzen des Normalbewußtseins durch wissenschaftliche Einsicht ist uns versagt. In dem Umkreis unserer Erfahrung leuchtet das Ideal an der einen oder der anderen Stelle durch, und sollen wir von der Wirklichkeit eines absoluten Normalbewußtseins überzeugt sein, so ist dies Sache des persönlichen Glaubens, aber nicht mehr der wissenschaftlichen Erkenntnis. |
Über Sokrates (Ein Vortrag)
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okrates! – Es scheint seltsam, daß sich jemand herausnimmt, noch einmal wieder über ihn zu reden. Unter allen Gestalten der menschlichen Bildungsgeschichte ist vielleicht keine so populär wie diese, – keine, welche wie diese, von den Wellen der Weltliteratur getragen, bis in die entlegensten Winkel des geistigen Daseins hinein bekannt geworden wäre. Sokrates hieß das Weisheitsideal aller griechischen Philosophenschulen, und nicht nur in der römischen, nicht nur in der Literatur aller europäischen Völker, auch bei den Juden und Mohammedanern, überall, wohin auch nur ein Tropfen hellenischen Geistes geflossen ist, begegnen wir ihm als einer allbewunderten Persönlichkeit. Auch die oberflächlichste Darstellung der sogenannten allgemeinen Weltgeschichte hält bei ihm einen Moment an, auch die flüchtigste Übersicht gönnt ihm einen kurzen Blick. Keiner ist unter uns, der nicht oft von ihm gehört, der nicht mancherlei über ihn gelesen hätte; jeder weiß, wie er gelebt, was er gelehrt, wie er gestorben: – ist es nicht unhöflich, über Sokrates zu sprechen? Denn wie will man hoffen, über ihn etwas Neues zu sagen? Der liebevollen Begeisterung seiner Schüler verdanken wir ein Bild seines ganzen Wesens, welches für uns eine Art von stereoskopischer Lebendigkeit da|durch gewinnt, daß die beiden von so ganz verschiedenen Standpunkten her aufgenommenen Ansichten eines Xenophon und eines Platon sich leicht verschmelzen lassen. Und seitdem haben zwei Jahrtausende daran gearbeitet, dies Bild in immer festeren Umrissen, in immer klarerer Zeichnung auszuführen: philologischer Scharfsinn, kulturhistorische Betrachtung und philosophische Kongenialität haben gewetteifert, das volle Licht der Erkenntnis darüber auszugießen. Von den verschiedensten Seiten her hat man ihn aufgefaßt, mit den mannigfaltigsten Fragen ihn in mehr oder minder natürliche, mehr oder minder
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künstliche Beziehung gebracht; sein Leben, seine Lehre, sein Tod, sie sind nach allen Richtungen durchforscht, ihre Bedeutung ist hundertfach neu formuliert worden, und kein Winkel darin ist unbeleuchtet geblieben. Eine kaum übersehbare Literatur hat sich über ihn angehäuft, ein Heer von gelegentlichen Betrachtungen, von Broschüren, Programmen, Dissertationen, Vorträgen schart sich um bedeutende Gesamtdarstellungen und umfangreiche Werke: – ist es nicht anmaßend, über Sokrates zu sprechen? Wenn ich hoffe, daß solche Einwürfe nicht zu Vorwürfen werden sollen, so berufe ich mich auf eins. Die großen Gestalten der menschlichen Geschichte teilen mit den großen Gebilden der menschlichen Kunst den höchsten Vorzug: sie sind unerschöpflich. Es ist immer von neuem Genuß und Erhebung, sich in ihre Anschauung zu versenken, so oft es auch schon geschehen sein mag, und es würde mir schon genügen, wenn wir nur in irgendeiner Weise uns wieder zum Bewußtsein brächten, worin doch der Zauber bestanden hat, den die, wie es scheint, so nüchterne, so prosaische Persönlichkeit des Sokrates auf Mitwelt und Nachwelt ausgeübt hat und den sie für alle Zeiten ausüben wird. Allein jene Unerschöpflichkeit gilt noch in anderem Sinne, so nämlich, daß es oft nur der geringsten Verschiebung des Gesichtspunktes, einer kleinen Verände|rung der Beleuchtung bedarf, um jenen Gestalten bedeutsame Konturen abzugewinnen, die in dieser Weise bisher noch nicht hervorgetreten waren. Und so ist auch die Hoffnung nicht völlig ausgeschlossen, daß es erneuter Betrachtung gelingen könnte, in der vieldeutigen Erscheinung des Sokrates einen Zug zu entdecken, durch welchen er tiefen Problemen des gegenwärtigen Lebens unerwartet nahe gerückt wird, und damit zugleich eine bedeutende Linie sichtbar zu machen, mit der er sich von dem Hintergrunde seiner Zeit abhebt. Von dem Hintergrunde seiner Zeit! Denn mehr, als es bei manchem anderen Philosophen notwendig ist, muß man das Bild des Sokrates auf seinen historischen Hintergrund projizieren, um es richtig zu sehen. Wir müssen uns zurückdenken in das Athen des peloponnesischen Krieges, in die Zeit, wo die perikleische Blüte des Griechentums sich leise zum ersten Welken neigt, während sie
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noch ihren berauschendsten Duft ausströmt. Noch steht Athen, umgarnt schon von seinen Dämonen, auf der Höhe selbstgeschaffenen, schwer errungenen Glücks, – die Führerin Griechenlands, eine Weltmacht des Handels und die absolute Macht des Geistes. Aus der Peripherie drängt sich nach dem attischen Mittelpunkte die reiche Fülle des hellenischen Kulturlebens. Die Akropolis schmückt sich mit den Werken aller bildenden Kunst zum Tempel des Menschentums, – über die weltbedeutenden Bretter schreiten die Gestalten des Sophokles, des Euripides, des Aristophanes, – und in den offenen Hallen der Stadt ertönen die Lehren der Wissenschaft. Es ist jene goldene Zeit edelster Menschenblüte, die dahingegangen und nicht wiedergekommen ist und nicht wiederkommen wird, so lange Tag und Nacht, Regen und Sonnenschein über diesem Planeten wechseln. Zu dieser Zeit vollzieht sich in dem Volke Athens ein lang vorbereiteter Umschwung, eine soziale Wandlung ersten Ranges, die für alle folgende Kultur entscheidend | wird. Die Wissenschaft, entstanden in der Zurückgezogenheit einsamer Denker, gepflegt in dem geschlossenen Heiligtum enger Schulverbände, sie tritt auf den Markt, sie erhebt ihre Stimme in dem Gewirr des öffentlichen Lebens, und sie leiht ihre Waffen den Leidenschaften des Tages. Jetzt fängt die Menge an, ihren Worten zu lauschen; erstaunt, geblendet, überwältigt, gibt man sich dem neuen Eindrucke hin, und widerstandslos beugt man sich vor der neu entstandenen Kraft. Erst eine Neugier, dann ein Genuß, endlich ein leidenschaftliches Interesse, – so bemächtigt sich ganz Athens, ganz Griechenlands ein immenses Bedürfnis nach Kenntnis und Wissen, – ein Bildungsfieber ergreift die Nation. Und nun öffnen sich die bisher so engen Pforten der Wissenschaft: an die Stelle der stillen Grübler treten die öffentlichen Lehrer des Wissens. Begierig drängt sich um sie alles, was auf der Höhe der Zeit stehen, was einen Einfluß auf die Gemüter der Zeitgenossen gewinnen will. Jetzt kleidet sich die politische Rede in das Gewand wissenschaftlicher Beweisführung, jetzt werden die Lehren der Wissenschaft zu Gegenständen das alltäglichen Gesprächs, jetzt führt man sie ein in die Mannigfaltigkeit des praktischen Lebens. Freilich ist es ein Irrtum, wenn man meint, damals habe in Athen
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Gevatter Schuster und Schneider über Kunst und Wissenschaft so weise reden können, wie heute jeder Rezensent; aber das bleibt wahr: zum erstenmal in der Geschichte tritt uns hier ein Volk entgegen, dessen gesamte Lebensverhältnisse von geistiger Bildung durchdrungen werden, ein Volk, das die Leitung seiner öffentlichen Angelegenheiten in die Hand der überlegenen Geistesgewalt legt, – ein Volk, mit einem Wort, welches die Bildung zu einem wesentlichen Element des nationalen Seins erhebt. Das ist der ewige Ruhm Athens: kein Volk vor diesen Athenern, bei dem die geistige Bildung eine Macht im öffentlichen Leben gewesen wäre, kein Volk nach diesen | Athenern, bei dem die geistige Bildung je wieder aufhören könnte, eine Macht im öffentlichen Leben zu sein. Die nächste Wirkung dieser Ausbreitung der Bildung in alle Schichten des griechischen Volkes war die Lösung aller der Bande, welche das individuelle an das allgemeine Bewußtsein ketten. Aber dieser Vorgang ist in der Masse ein ganz anderer, als in dem einzelnen Denker. Er, der den Mut und die Kraft gewann, auf eigenem Wege nach Wahrheit zu streben, hat in der Forschung selbst, wenn ihm auch altgewohnte Vorstellungen dabei verloren gingen, dafür die Erfahrung gemacht, daß es ein Maß für das individuelle Denken gibt, ein allwaltendes Gesetz, dem sich zu fügen den einzigen Wert alles Wissens ausmacht. Wer aber am Baume der Erkenntnis nur schüttelt, damit ihm die von anderen gezeitigten Früchte in den Schoß fallen, der kommt leicht dahin, nur eine nach der anderen zu kosten und sie wieder fortzuwerfen, wie es ihm beliebt. Das gilt schon von dem Popularisator, der diese geistige Nahrung aufliest und zurechtlegt – wie viel mehr gilt es vom gemeinen Manne, der aus dessen Hand lebt! Und so greift nun in Griechenland das Laster der schöngeistigen Näscherei um sich, eine lächerliche Wissensgourmandise, eine lüsterne Bildungsschleckerei. Für die Masse bleibt die Wissensneugier nur eine äußerliche Modesache: an die Stelle der Bildung tritt hier das Halbwissen, das gedankenlose Nachschwatzen, das dünkelhafte Absprechen – der Bildungsschwindel. Es wird zum guten Ton, daß der junge Athener auf einige Zeit bei einem Sophisten – so nennen sich diese Aufklärer Griechenlands – in die Schule geht;
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da lernt er, sich gebildet, sich gewählt auszudrücken, und da lernt er auch, wovon er nachher in der Unterhaltung und in der Rede so reichlich Gebrauch machen wird, am schicklichen Ort mit ein paar wissenschaftlichen Phrasen um sich zu werfen und mit seiner Kenntnis der neuesten Entdeckungen zu koket|tieren. Es gehört zum Sport, im Bade, in der Palästra, beim Symposion über die Theorien und Hypothesen der Philosophie zu disputieren, und eine der liebsten Volksbelustigungen Athens ist es, ein paar solche Professoren wie Kampfhähne aneinander zu hetzen, wo dann unbändiges Gelächter den schlagfertigsten Witz und die glücklichste Wortverdreherei belohnt. Allein unter diesem lustigen Treiben verdeckt sich die ernsteste Gefahr: es sind Blumen über einem Abgrunde. Denn durch solches Hin- und Hergerede wird die Substanz des Volksgeistes zerfressen, und das scharfe Scheidewasser der Kritik, das nun jeder anwenden lernt, zersetzt den Kitt des gesellschaftlichen Baues, – die gemeinsamen Überzeugungen. Da wandern sie nun alle in die Rumpelkammer, die Götter des heiligen Glaubens, nicht nur jene großen, schönheitsstrahlenden Gestalten des Olymp, denen die homerischen Gesänge den lebendigen Odem der Kunst eingehaucht, nein, auch die stillen, uralten Holzbilder des Lokal- und des Familienkultes, an deren wundertätiger Kraft sich die religiöse Inbrunst der Väter entzündet hat: sie gehen dahin, und mit sich nehmen sie Sitte und Ordnung. Denn nur eine schnell überwundene Etappe auf diesem Wege ist es, wenn der eine oder der andere von den Sophisten versucht, die verblassenden Bilder durch sittlich-allegorische Bemalung neu zu beleben: auch die Ideale der Sittlichkeit sind verblichen. Das selbstherrlich gewordene Individuum entdeckt, daß auch diese Wahrheiten bestritten sind, und daß es nur dem Naturgesetze folgt, wenn es seine Lust und seine Willkür zur Richtschnur seines Handelns nimmt. Ein äußerer Umstand tritt hinzu. Die Sophisten, die Träger dieser Aufklärung, sind zugleich die Lehrer der politischen Beredsamkeit; das ist sogar ihr eigentlicher Beruf, für den sie bezahlt werden. Dabei kommt es natürlich nur auf die Ausbildung formaler Geschicklichkeit | an: sattelfest und schlagfertig will der Schüler
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werden, daß er jeden Augenblick, was dem Interesse der Partei oder der Person frommt, verteidigen, daß er zu Boden reden kann, was ihm entgegensteht. Nicht um Überzeugung handelt es sich, sondern um Überredung. Alle menschlichen Ansichten sind ja nur relativ; jeder legt sich die Sachen zurecht, wie es ihm eben paßt. Nur keinen doktrinären Eigensinn! Die Dinge wechseln und wir mit ihnen. So endet das Jahrhundert, das mit der gewaltigsten Entfaltung des Hellenentums begann, das auf die Bühne der Weltgeschichte das erste gebildete Volk führte, es endet als das Zeitalter der Überzeugungslosigkeit. Aus dem Schlürfen des Bildungsschaums wird eine Orgie der Verneinung: auf die Demokratisierung des Wissens folgt die Demoralisierung der Bildung: denn demoralisiert ist jede Gesellschaft, welche die Einheit ihrer sittlichen Überzeugungen verloren hat und nun nach diesem oder jenem greift, um nach diesem Sündenfall ihre Blöße mit den Flittern ihres Wissens zu bedecken. So etwa, abgesehen vom Stadtklatsch und vom täglichen Wechsel innerer und äußerer Politik, so etwa sieht es in den Köpfen der Athener aus: da erscheint in den Straßen der Weltstadt eine originelle Figur. Mitten unter den schönen, vollgelockten Jünglingen, die auf dem Markte einen reichgekleideten Sophisten umstehen, taucht eine gewaltige Glatze auf. Sie gehört zu einer ungefügen Gestalt, die sich, während alle lächelnd zur Seite weichen, bis zu dem Redner drängt, ihn mit forschenden Blicken eine Weile mustert und ihm endlich ins Wort fällt. Nun folgt in raschem Wechsel Rede und Gegenrede. Den heftigen Perorationen des Sophisten setzt der mit der Glatze unerschütterliche Ruhe entgegen. Da plötzlich erbraust homerisches Lachen, ein faunisches Grinsen läuft über die Züge des Störenfrieds und kehrt die breite Nase noch mehr als sonst nach aufwärts; es scheint, daß | die Lacher auf seiner Seite sind. Er aber wendet sich kurz ab, zieht den mächtigen Kopf noch enger zwischen die dicken Schultern und schiebt mit tänzelnder Grandezza seinen stattlichen Hängebauch durch die gaffende Menge. Wer ist der Mann? – Sokrates heißt er, und alle Welt kennt ihn. Denn seit er den Meißel, den er früher geführt, an den Nagel ge-
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hängt, ist er stets zu finden, wo nur in Athen etwas los ist. Tags flaniert er durch die Straßen, und abends ist er überall dabei, wo eine fröhliche Gesellschaft zusammenbleibt. Da tut er mit, und niemand tut’s ihm über. Besonders aber wo es einen Disput gibt, da ist er gleich bei der Hand, der Schrecken der Sophisten; denn keiner kommt gegen ihn auf. Allein das genügt ihm noch lange nicht: mit jedem schwatzt er, der ihm in den Wurf kommt. – Worüber denn? – Was ihm eben einfällt. Er packt die Leute an, Fremde wie Freunde, und läßt sie nicht los, bis sie seinen Fragen Rede gestanden haben. Den Perikles hat er nicht verschont, und nicht den Kleon, und dem Alkibiades hat er’s angetan, der ist wie vernarrt in ihn. – Da ist er wohl einer von den neuen Weisheitskrämern, welche die reiche Jugend an sich locken, ihr alles Wissen und alle Redekunst versprechen und ihr das Gold aus dem Beutel ziehen? – Keineswegs: er hat noch nie auch nur einen Obolos genommen. – So ist er also reich und unabhängig? – Mit nichten, es geht ihm knapp. Daheim sitzen ihm Weib und Kind, die haben nur so gerad zu leben, und Frau Xantippe mag nicht so ganz unrecht haben, wenn sie ihn manchmal recht unwirsch empfängt. Doch auch für sich selbst hat und braucht er in allem nur das Allernotwendigste. – Aber was will denn der Mann? Ist er etwa einer von den sinnlosen Schwatznarren? – Nein, alle bewundern ihn, wie er so klar und sicher und verständig zu reden weiß. – Oder ist er so begierig nach der neuen Weisheit, daß er sich keines ihrer Worte | entgehen lassen mag und überall nach ihr herumhorcht? – Im Gegenteil, er läßt kein gutes Haar daran und will nichts davon wissen. – Und was hat er Besseres zu sagen? – Nichts: er wiederholt nur immer von einem zum anderen, er wisse nur eins: dies nämlich, daß er nichts wisse. Ein sonderbarer Gesell! Dem sollte man folgen! Richtig, da haben wir ihn gleich wieder: schon in der ersten Seitengasse steht er, bedächtig mit dem Kopfe nickend, vor einem braven Handwerksmann, der dort, wie es im Süden ist, halb im Haus, halb auf der Straße bei der Arbeit sitzt und eben nur innehält, um dem Sokrates zu antworten. Der hat ihn nach irgend etwas gefragt, was er nicht wisse und worüber er sich bei einem so gebildeten Manne Rats erholen wolle, und der wackere Meister kramt nun mit fröh-
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licher Lehrhaftigkeit die Weisheit aus, die er gestern, vorgestern bei dem einen und dem anderen Sophisten erlauscht hat. Demütig hört Sokrates zu und dankt dann für die freundliche Belehrung: aber, sei es nun, daß er zu schwerfällig ist, über schwierige Dinge zu denken, sei es, daß er nicht ordentlich aufgemerkt hat, es ist ihm doch noch nicht alles klar geworden, und der Meister muß schon erlauben, daß er über einiges noch einmal fragt. Prompt und sicher folgt wieder die Antwort: allein dieser Sokrates scheint sehr schwer von Begriffen zu sein; er fragt immer weiter, und – merkwürdig! immer zögernder, immer unsicherer kommen die Antworten. Aber Sokrates läßt nicht nach, und schließlich hapert es ganz: unser guter Meister ist völlig verwirrt geworden. »Nein, da hast du recht,« sagt er, »das paßt nicht zusammen, so kann es nicht sein.« – »Aber wie ist es dann?« beharrt Sokrates. – »Dann, – ja dann – weiß ich’s nicht.« – »Siehst du,« ruft Sokrates, »so geht mir’s ja gerade: wir wissen’s alle beide nicht.« Und damit trollt er sich weiter. | Halt! Ist das der Sinn deines Refrains: »ich weiß, daß ich nichts weiß«? Jetzt fangen wir an, dich zu verstehen, du wunderlicher Kauz! Du weißt recht gut, wozu du dich in den Straßen herumtreibst und die Leute mit deinen querköpfigen Fragen festhältst: du bekämpfst den Bildungsschwindel! Ja, dieser seltsame Mann hat seiner Zeit ins Herz geschaut. Er weiß, wie hohl es bei den meisten hinter diesem aufgelesenen Phrasenkram aussieht, und er hat eingesehen, welchen Unfug diese Halbbildung mit sich bringt, deren gefährlichste Seite darin besteht, daß sie zugleich die Einbildung ist, eine volle und ganze Bildung zu sein. Deshalb hat er es sich zur Aufgabe gemacht, bei seinen Mitbürgern den Schein des Wissens zu zerstören, mit dem sie sich selbst und einander blenden. Diese ganze »gebildete« Welt ist ja längst hinaus über alle althergebrachten Vorstellungen und Überzeugungen; sie hat die Autorität des Volksbewußtseins über Bord geworfen: aber statt dessen folgt der einzelne jetzt in jeder besonderen Frage der Autorität seines Weisheitslehrers, dem er nicht minder unselbständig und mit noch viel größerer Unklarheit nachspricht. Darum kommt es dem Sokrates vor allem darauf an,
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den Leuten zum Bewußtsein zu bringen, wie wenig sie mit diesem Tausch gewonnen haben; darum macht er, wo er kann, die Sophisten vor allem Volke lächerlich, indem er sie mit überlegener Dialektik in Widersprüche verwickelt, mit kaustischem Witz ihrem Wortschwall entgegentritt und die Unzulänglichkeit ihrer Lehren aufdeckt: darum kommt er, der dies ganze Treiben weit übersieht, zu dem einzelnen Mitbürger als der Unwissende, als der Dumme und Lernbegierige, um mit seinen bis in das letzte Detail dringenden Fragen den Mann aus dem Volke zu zwingen, daß er die aufgeschnappten Wissensbrocken mit eigenem Nachdenken durchkaut, um ihn schließlich zu dem Eingeständnis | zu nötigen, daß er im Grunde genommen ebensowenig wisse, wie es Sokrates im Anfange von sich selbst bekannt hat. Dies berühmte, halb ironische, halb paradoxe, – halb pädagogische, halb dogmatische Bekenntnis der Unwissenheit von seiten des weisesten der Griechen ist seine Kriegserklärung gegen den Hochmut der Scheinbildung. Dies Bekenntnis ist aber bei Sokrates nicht etwa der Ausdruck eines verzweifelnden Skeptizismus, auch nicht derjenige einer mißverstandenen Bescheidenheit, sondern es ist der unmittelbare Ausfluß seines reinen und ernsten Wahrheitstriebes. Der Ernst dieses Wahrheitstriebes richtet sich gegen die spielerische Beschäftigung mit den Ergebnissen des Forschens, die er bei den Zeitgenossen findet, gegen den Bildungssport, der an dieser neuesten und modischen Unterhaltung sein Gefallen findet: und die Reinheit dieses Wahrheitstriebes richtet sich gegen die Frivolität der Sophisten, deren große Masse nicht Männer der Wissenschaft, sondern solche sind, die sich mit der Wissenschaft nur befassen, die sich unter gegebenen Umständen in die Wissenschaft oder in einen ihrer Zweige, wie sonst wohl in irgendeine andere »Branche«, hineinarbeiten, denen es nicht um die Wahrheit, sondern um ihren Schein und vor allem um die Wirkung auf ihr Publikum, mag es noch so banausisch, noch so oberflächlich sein, zu tun ist. Ihre Schmeichelrede erweckt dem gemeinen Manne die Vorstellung, als ob er aller Weisheit Fülle und Tiefe durch behagliches Zuhören gewinnen könne: Sokrates bereitet ihm den Schmerz des Selbstdenkens und nötigt ihn, sich selbst zu bekennen, wie wenig
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er eingesehen hat, was ihm ganz klar zu sein schien. Er besitzt und erweckt in den anderen die Überzeugung, daß die Wahrheit nicht als gebratene Taube in das staunend geöffnete Maul fliegt, sondern daß um sie gerungen werden muß wie um alle höchsten Güter. | Dies Wahrheitsbedürfnis ist der Wirkungstrieb des Sokrates: aber es ist nicht nur ein Charakterzug des Mannes, sondern es wurzelt in einer klaren Überzeugung. Und hierin besteht seine positive Bedeutung. Gegenüber dem Relativismus der sophistischen Theorie, wonach für jeden in jedem Momente wahr ist, was ihm scheint, gegenüber der Überzeugungslosigkeit, welche keinen Beweis, sondern nur Überredung für möglich hält, ist er mit der ganzen Lebendigkeit seines genialen Wesens davon durchdrungen, daß es ein Allwaltendes gibt, das über allen individuellen Meinungen gilt, ein Maß, darnach eines jeden Ansicht geprüft und gerichtet werden soll. Er glaubt an die Wahrheit und ihr kritisches Recht. Diese Überzeugung ist nicht zu beweisen; denn sie ist die Voraussetzung allen Beweisens. Wer sie nicht hat, in dem kann sie nur geweckt werden, indem er lernt, sich auf sich selbst zu besinnen. Nichts weiter als diese Selbstbesinnung verlangt Sokrates von seinen Mitbürgern, und nicht umsonst nannte ihn den Weisesten der Gott, an dessen Tempel das »Erkenne dich selbst« leuchtete. Die Aufklärung der Hellenen hatte schnell genug zur Maßlosigkeit individueller Selbstbestimmung geführt: was Sokrates suchte, war die Wahrheit als ein Maß, dem sich die Individuen zu beugen hätten. In dieser Forderung des Maßes ist er der echte Grieche, und mit ihm findet in vollem Selbstbewußtsein die griechische Wissenschaft dasselbe Prinzip, auf dem die griechische Kunst ruht. Aber dies Maß muß für das allgemeine Bewußtsein neu gefunden werden. Der alte Glaube, die hergebrachten Vorstellungen, in denen es einst bestand, sind zerstört, und so weit steht auch Sokrates auf dem Boden der sophistischen Aufklärung, daß er es darin nicht wiederfinden kann und diese Meinungen nicht in ihrer früheren Gestalt erneuern will. Nur darin ist er allen Zeitgenossen voraus, daß er überzeugt ist, es gebe ein solches Maß, | und es gelte nur, dies redlich zu suchen. Seine ganze Originalität besteht darin, wie er die Wahrheit sucht. Er lehrt nicht, denn er hat die Wahrheit
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nicht. Er schwatzt nicht, denn er will die Wahrheit. Er fragt und prüft, denn er hofft die Wahrheit zu finden. Sein Suchen nach Wahrheit aber steht im innigsten Zusammenhange mit dem geistigen Zustande seines Volkes. Die Zersetzung, die er vorfindet, beruht auf der Auflösung des allgemeinen Bewußtseins, an welches sich einst alle gebunden fühlten. Wahrheit gibt es nur, wenn über den Individuen ein Allgemeines steht, dem sie sich zu unterwerfen haben. Wahrheit kann deshalb nur gesucht werden, indem die einzelnen über alle Verschiedenheit ihrer Meinungen hinaus miteinander sich auf dasjenige besinnen, was sie alle anerkennen. Wahrheit ist gemeinsames Denken. Darum ist die Philosophie des Sokrates kein einsames Forschen und Grübeln, sie ist auch kein Belehren und Lernen: sondern sie ist ein gemeinsames Suchen, eine ernste Unterhaltung. Ihre notwendige Form ist der Dialog. Wo zwei miteinander, ernstlich nach Wahrheit trachtend, ihre Ansichten austauschen, da entdeckt sich zwischen ihnen als ein Zwang der Anerkennung eine höhere, eine andersartige Notwendigkeit, als diejenige war, mit welcher der Lauf des Lebens einen jeden von ihnen zu seiner Meinung getrieben hatte. Vorher konnten sie nicht anders, als jeder die Vorstellung bilden, die in ihm das notwendige Produkt seiner ganzen Lebensbetätigung war; jetzt, wo sie verlangen, daß eine und dieselbe Vorstellung für beide gelten solle, entdecken sie, daß es, jenem unwillkürlichen Verlaufe der Vorstellungen gegenüber, eine für alle geltende Regel gibt, der sie sich fügen müssen, wenn sie Wahrheit finden wollen. In dieser dialogischen Philosophie kommt eine normative Gesetzgebung zum Bewußtsein, nach deren Befolgung oder Nichtbefolgung der Wahrheitswert der unwillkürlich zu|stande gekommenen Vorstellungen beurteilt werden soll. Wer einem anderen etwas beweisen will oder wer sich einem Beweise fügt, der erkennt eine Norm an, welche über den Individuen und ihren naturnotwendigen Vorstellungsläufen als das Prinzip ihrer Kritik waltet. In dem gemeinsamen Suchen besinnt man sich auf das, was jeder anerkennt, dem es redlich um die Wahrheit zu tun ist. Ohne diese Norm gibt es keine Wahrheit und kein Wissen. Darum spielt bei Sokrates und bei seinen großen Nachfolgern, die
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diesen Gedanken ausgeführt haben, der Gegensatz der Meinung und des Wissens eine so große Rolle: darum hat man sagen können, die Bedeutung des Sokrates sei die, daß er die Idee des Wissens aufgestellt hat. Für die Sophisten gibt es nur das Naturprodukt, das in einem jeden als seine unumgänglich notwendige Meinung auftritt: für Sokrates gibt es eine Norm, nach der diesen Naturprodukten ihr Wert bestimmt wird. Diese höhere Notwendigkeit, welche in dem dialogischen Streben nach der Wahrheit zutage tritt, nennen wir die Gesetzgebung der Vernunft: und in diesem Sinne gilt es, daß Sokrates der Entdecker der Vernunft ist. Er zum erstenmal verkündet mit vollem Bewußtsein, daß es ein über allen Individuen Geltendes geben müsse und daß nur da Wissen sei, wo dieses erkannt ist. Aber diese Entdeckung ist bei Sokrates nicht eine in das einzelne durchgeführte Theorie, sondern vielmehr eine lebendige Überzeugung: es ist der Glaube an die Vernunft, der ihn beseelt. Er forscht deshalb nicht nach, welches dieser Zwang der Anerkennung sei, mit dem die Vernunft über die Meinungen der Individuen entscheidet, er entwickelt keine Logik – das hat erst Aristoteles getan –; sondern er begnügt sich damit, diesen Zwang in jedem einzelnen Falle an dem besonderen Problem zutage treten zu lassen und aus ihm die Anerkennung | des Resultats der Unterhaltung zu erzeugen. Durch die gemeinsame Untersuchung will er zu Vorstellungen gelangen, die jeder anerkennen muß, so verschieden die Meinungen gewesen sein mögen, mit denen die einzelnen an die Sache herantraten. Zu diesem Zwecke dringt er in erster Linie auf die Fixierung der Wortbedeutungen. In der Unsicherheit des natürlichen Sprachgebrauchs, in der Vieldeutigkeit der Wörter und der Wortverbindungen liegt die Gefahr unwillkürlicher nicht minder als künstlicher Täuschungen und Irrungen. Vieles, vielleicht das meiste von den Paradoxien, mit denen die Sophisten ihre Zeitgenossen verblüfften und verwirrten, beruhte auf Wortspielen, und viele ihrer ernstgemeinten Theorien waren nichts anderes als die Versuche, der in dieser Hinsicht noch ungelenken Sprache den richtigen Gedanken abzuringen. Wenn es eine über den Individuen stehende Wahrheit geben soll, so bedarf sie eines Ausdrucks, über
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welchen die einzelnen sich nicht mißverstehen können: darum ist das Ziel der sokratischen Untersuchung überall das in Definitionen sich aussprechende Wissen. Soll aber in dieser fixierten Wortbedeutung diejenige Vorstellung enthalten sein, über welche sich alle einigen können, so muß sie für alle Gegenstände gelten, welche darunter begriffen werden sollen: die subjektive Allgemeinheit ist nur durch die objektive möglich. Die Einseitigkeit und Falschheit der individuellen Meinungen beruht im wesentlichen darauf, daß jeder seine unzulänglichen Erfahrungen zu verallgemeinern durch die psychologische Notwendigkeit des Assoziationsprozesses genötigt wird. Um so den individuellen und wechselnden Vorstellungen den normalen Begriff gegenüberzustellen, schlägt Sokrates in der Unterredung den Weg der vergleichenden Induktion ein. Alle diese Anfänge des bewußten Forschens nach einer festen, über den zufälligen Ansichten stehenden Wahrheit sind erst später abstrakt formuliert und verfeinert worden: | bei Sokrates treten sie nur in unmittelbarer Anwendung als ein einfaches Schema der suchenden Unterhaltung auf. Aber sie gehen mit einer Art von genialem Taktgefühl aus jenem Glauben an eine gemeinsam zu findende Wahrheit hervor, und ihre gesamte Anwendung ergibt sich aus dem Sinne, in welchem Sokrates sich jenen Glauben deutet. Für jedes einfache und kritisch unentwickelte Denken gilt die Vorstellung als das Abbild irgendeines Dinges. Soll deshalb als Norm über den individuellen Meinungen die Allgemeingültigkeit der Vernunfterkenntnis stehen, so muß ihr erst recht eine Realität entsprechen, und so setzt das voraus, daß in dem Zusammenhange der Dinge eine solche Vernunft, und zwar eine der menschlichen Erkenntnis zugängliche und verwandte Vernunft herrsche. Die oberste Voraussetzung der erkennenden Vernunft ist die Realität einer für sie kommensurablen Weltvernunft, welche die Macht und das Gesetz der Wirklichkeit sei. Auch die Vorstellung von dieser die Welt beherrschenden Vernunft ist für Sokrates keine in das Besondere gehende Einsicht, sondern ein voller, tiefer Glaube an die Gottheit. Und damit hängt ein anderes zusammen, das die Überzeugung von Sokrates beherrscht. Gesucht und gefunden kann nur werden,
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was in irgendeiner Gestalt schon da ist. Nicht auf uns und unsere Weisheit hat die allwaltende Vernunft gewartet, um da zu sein: sie ist, und unser Bestes ist, sie zu erfassen. Mit unseren Fragen und Antworten, unseren Beweisen und Widerlegungen, unseren Abstraktionen und Folgerungen erzeugen wir nichts Neues; wir »besinnen« uns nur, wie später Platon es formuliert hat, auf das, was allen unseren Vorstellungen Wert und Bedeutung gibt. All unser Erkennen ist ein Aufstreben zu der Norm, die über uns schwebt, ein Bewußtwerden des Gesetzes, dem wir alle uns zu beugen haben. In der wissenschaftlichen | Untersuchung und Unterhaltung kommt jene Wahrheit zutage, welche unerkannt in einem jeden schlummert. Sie braucht nicht erst gebildet zu werden; sie will nur an das Tageslicht des sich selbst erkennenden Bewußtseins gezogen sein. Das Götterkind der Wahrheit soll aus dem Geiste, der es in sich trägt, »entbunden« werden, und die Methode des Sokrates ist eben die »mäeutische«, in welcher der ursprüngliche Inhalt des Geistes zum klaren Bewußtsein gebracht wird. Darum ist das sokratische Denken ein suchendes. Das Bekenntnis des Nichtwissens ist ernster gemeint, als es dem Wissensstolz gegenüber erschien, den Sokrates mit souveräner Ironie zu vernichten suchte: nur hie und da, bei redlichem Bemühen, gelingt es uns, über die Irrungen der Meinung hinweg uns zu einer der Inhaltsbestimmungen der höchsten Vernunft zu erheben. Das Ganze erfassen wir nicht; und wir müssen uns bescheiden, wenn der letzte Zusammenhang der Dinge uns dunkel bleibt und wir nur hie und da ein Festes zu ergreifen vermögen, in welchem unsere Besinnung Ruhe findet. Hieraus erklärt sich auch Richtung und Gegenstand des sokratischen Philosophierens. Wenn die früheren Denker Griechenlands in unbefangenem Glauben an die Kraft des Denkens, der Welt auf den Grund zu dringen, die letzten Ursachen aller Dinge auffinden und aus ihnen die ganze Welt der Erfahrung erklären wollten, so verzichtet Sokrates auf die naturphilosophischen Spekulationen: nicht, als hätte er mit den Sophisten gemeint, daß darin niemals Wahrheit erreicht werden könnte; sondern er hat nur den Zweck,
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den Zeitgenossen zu beweisen, daß es allgemeingültige Einsichten gebe, wenn man sie nur recht suchen wolle, und für diesen Zweck wäre das von vielen phantastischen Hypothesen übersäete Gebiet der Naturphilosophie das allerungünstigste gewesen. Es konnte ihm nicht frommen, sich in diesen Streit zu | mischen; mit dem Instinkt seines Wahrheitsbedürfnisses fühlte er, daß diese Saat noch lange nicht reif war. Dazu kam, daß weder die künstlichen Theorien der Physiker noch die abstrakten Spitzfindigkeiten der Metaphysiker seinem Wissenstriebe entgegenkamen. Sie alle erzeugten in mühsamer Konstruktion neue Vorstellungsverbindungen, von denen in der Besinnung des natürlichen Menschen aus die Tätigkeit seiner eigenen Vernunft, wie es dem Sokrates schien, nichts zu finden war. Sie machten die Wahrheit; er aber meinte, sie sei schon da vor allem Nachdenken, und man habe sie nur zu suchen. Sie schweiften in die Ferne, und er wußte doch, daß das Gute so nahe sei im Innern des Menschen, wenn er nur sich selbst verstehen wolle. Der Vielwisserei seiner Tage gegenüber sucht er die Wahrheit im engsten Kerne und erneuert das Wort des alten Weisen: πολυμαθίη νόον οὐ διδάσκει. Überzeugt, daß die Vernunft da zu suchen sei, wo alle Menschen in gemeinsamer Anerkennung zusammentreffen, wandte er sich mit Vorliebe an das alltägliche Leben und seinen Vorstellungskreis, und in der ganzen hausbackenen Trockenheit seines Wesens suchte er mit seinen Mitbürgern die Wahrheit, welche sich darin entwickelte. Und damit traf er zugleich den Kern der Tagesfrage. An keinem Punkte war die Überzeugungslosigkeit, welche die Aufklärung mit sich brachte, brennender und gefährlicher, als an dem der sittlichen Beurteilung. Hier war das Vaterland in Gefahr, waren die höchsten Güter in Frage gestellt: hier, wenn irgendwo, galt es zu zeigen, daß durch vernünftige Besinnung das Verlorene in höherer Gestalt wiedergewonnen werden könne. Darum wendete Sokrates sich nicht an die Gelehrten, sondern an das Volk, nicht an einige, sondern an jedermann; darum sprach er nicht von hohen und fernen Dingen, von Sonne, Mond und Sternen, von ihrer Entstehung und Bewegung, sondern er suchte in | der stets wiederholten Diskussion der Fragen des bürgerlichen, gesellschaftlichen und
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staatlichen Lebens die festen Begriffe der sittlichen Beurteilung klarzulegen, welche bei aller Verschiedenheit der individuellen Interessen, Neigungen und Lebensläufe, unentwickelt und nicht zu vollem Bewußtsein gebracht, in allen schlummerten. Wohl sollte, wie es die Aufklärung verlangte, jeder nur dem eigenen Urteil folgen: aber das eben war die gewaltige Überzeugung des Sokrates, daß, wenn alle im ernsten Austausch ihrer Gedanken und der ihnen geläufigen Vorstellungen hinter ihre Selbsttäuschungen und oberflächlichen Gewöhnungen drängten, sie alle auf den nämlichen Kern stoßen müßten: die sittliche Vernunft. Nicht mehr mit unbefangener Hingabe – deren Zeit ist vorüber –, sondern aus eigenem Urteil soll ein jeder das Sittengesetz über sich als Norm anerkennen, und nicht mehr um gewohnheitsmäßige, – es handelt sich um wissende Tugend. Dem Objekte nach ist deshalb die sokratische Philosophie ethische Reflexion: die Begriffe, die sie sucht, sind die sittlichen. Am allernächsten, an dem, was jeden Menschen am meisten angeht, soll sich die Energie der gemeinsamen Besinnung entwickeln. Darum ist dem Weisen von Athen kein Gegenstand zu gering oder zu niedrig: an jeden lassen sich diese Untersuchungen anknüpfen, deren einziger Zweck es ist, den Mitbürgern zu zeigen, daß sie, ohne es zu wissen, trotz allen sophistischen Geredes über die höchsten Wertbestimmungen des Lebens eine allgemein geltende Vernunft anerkennen, daß in dem Chaos ihrer in der Auflösung begriffenen Vorstellungen doch, wenn man es nur sehen will, ein höchstes Gesetz unangefochten besteht, – dasjenige der sittlichen Vernunft. Diese Beschränkung auf die Fragen des täglichen Menschenlebens hat dem Schwung der weltendichtenden Systeme gegenüber etwas Prosaisches und Nüchternes: | aber andererseits erscheint mitten in dem Bildungsfieber seiner Zeit Sokrates als die einzige gesunde Natur. Er predigt das Eine, was not tut: Besinnung auf das Bleibende, das Allgemeine, das Gesetzgebende, das Normale. Er errichtet über dem Rausch und Taumel der selbstherrlich gewordenen Individuen den neuen Glauben an eine überindividuelle Vernunft. In ihr findet er wieder, was der Zeit verloren gegangen ist: die bindende Autorität. Die sophistische Aufklärung hat die
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mythische Gestalt des Göttlichen zersetzt, der Unglaube herrscht, und die Meinungen der Individuen fallen auseinander: da erneuert Sokrates die Herrschaft der Autorität, aber er findet sie in der Vernunft, die über allen waltet und der jeder sich mit eigenem Urteil unterwirft. Dieser Prozeß ist typisch. Ursprünglich ist jede Gesellschaft von einem System von Überzeugungen beherrscht, die ihrem allgemeinen Bewußtsein angehören, welche sich von Generation auf Generation, wenn auch mit leisen, äußerst langsamen und unmerklichen Variationen vererben, und denen das Individuum sich in selbstverständlicher Unterwerfung fügt. Die Auflehnungen dagegen sind im Naturzustande nur praktisch, es sind Willensentscheidungen und Handlungen, bei denen das persönliche, egoistische Motiv über jene soziale Triebbestimmung das Übergewicht erringt. Aber in der Entwicklung jedes Kulturvolkes kommt ein Moment, wo diese Auflehnung theoretisch wird, wo die fortschreitende Zivilisation durch die Ausbildung der individuellen Selbständigkeit, durch die Erziehung persönlicher Kritik, durch die Ausbreitung vergleichender Erfahrung die Autorität des allgemeinen Bewußtseins, der Sitte und Gewohnheit untergräbt und zersetzt. Dann beginnt jener Zustand, den Fichte in seiner Geschichtsphilosophie als den der »vollendeten Sündhaftigkeit« bezeichnet hat – die Anarchie der Individuen, die nichts mehr über sich anerkennen. Das starke Individuum | folgt nun der eigenen Meinung, das schwache klammert sich bald an diese, bald an jene, die es hie und da von dem starken hat aussprechen hören: jeder aber glaubt, daß, wie physisch im Gesichtsraum, so auch sittlich er selbst das Zentrum der Welt sei! Nur das eigene Urteil soll noch sein Kompaß auf der Lebensfahrt sein. Von dieser notwendigen Emanzipation der Individuen her gibt es zu einem besseren Zustande nur den einen Weg, auf welchen die Selbständigkeit des Urteils, sobald sie ernst genommen wird, von selbst führt: je tiefer das Individuum das eigene Nachdenken verfolgt, um so mehr fühlt es sich unter das Gesetz der Vernunft gebunden, das über allen Individuen herrscht, und um so lieber erkennt es nun kraft seiner eigenen Machtvollkommenheit die in ihm selbst ruhende Autorität der Vernunft an.
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Aus der Gebundenheit des allgemeinen Bewußtseins durch das selbständige Urteil der Individuen zur Erfassung der Vernunft – das ist die vorgeschriebene Bahn des menschlichen Geistes. Dieses Gesetz der Geschichte ist bei dem Kulturvolk par excellence, bei den Griechen, mit großartiger Einfachheit dargestellt durch den Fortschritt von den Sophisten zu Sokrates. Jedes andere Volk und der gesamte Völkerkomplex der europäischen Zivilisation hat diese Entwicklung in seiner Weise und in aufsteigender Mächtigkeit wiederholt. Und wenn die denkende Beobachtung der Gegenwart heute wieder ein Chaos durcheinanderwirbelnder Meinungen, eine Auflösung heiligster Überzeugungen und den Übermut mißverstandener Halbbildung vor sich sieht, – – das sokratische Wort unserer Tage ist entweder noch nicht gesprochen, oder die Zeit hat es nicht gehört. Die wahre Autorität, diejenige, der sich der einzelne nur aus eigenem Urteil unterwerfen kann, der er sich aber bei rechter Besinnung unterwerfen soll – diese wahre Autorität ist die Vernunft. Das ist der Gedanke des | Sokrates, welcher ihm in der Geschichte nicht nur der Wissenschaft, sondern der gesamten Kultur einen ehrwürdigen Platz bereitet. Gegen den Individualismus und Relativismus proklamiert er das Recht der Vernunft. Er tut es, weil er überzeugt ist, daß in dem Universum selbst, welches den Gegenstand unserer Erkenntnis bildet, diese Vernunft allgestaltend walte. Und so tritt zwischen den Sophisten und ihm zum erstenmal jener große Gegensatz zutage, der seitdem in tausendfachen Variationen durch das Denken der Menschen sich hindurchzieht. Es gibt in Rücksicht der Vernunft nur zwei Arten der Weltauffassung: für die eine löst sich aus einem dunklen, gedankenlosen Grunde mit derselben Notwendigkeit, die das Element zum Elemente treibt, auch des Menschen Denken und Wollen ab; als ein letztes Dekokt des Atomgebräus, als ein feinstes Endprodukt des Kräfteablaufs ist es nur eben da, als eine brutale Tatsache wie die übrigen auch: für die andere Weltauffassung gibt es, in seinem letzten Zusammenhange für uns unergreifbar, einen höchsten Sinn der Welt, zu dem unser Denken und Wollen mit aller seiner Bewegung aufstrebt, um an ihm teilzuhaben. Der Führer dieser zweiten
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Weltbetrachtung ist Sokrates: ihm ist die Vernunft das Prinzip der Wissenschaft, weil sie dasjenige der Welt ist. Platons Ideenlehre und die im Gottesbegriff gipfelnde Metaphysik des Aristoteles sind nur die begrifflichen Ausführungen desjenigen, was Sokrates in ahnungsvollem Glauben besaß: und was gilt die Verschiedenheit des platonischen und des aristotelischen Systems gegen diese ihre Gemeinsamkeit der sokratischen Erbschaft, welche sie zu Fahnenträgern aller folgenden Kultur gemacht hat? Diese Vernunftüberzeugung der durch Sokrates bedingten Philosophie ist die reife Frucht des griechischen Denkens, welche das Samenkorn der Zukunft enthält. Aber auch darüber kann kein Zweifel obwalten, daß sie|auf dem mütterlichen Boden der griechischen Kultur, dem sie entwachsen war, wie ein Fremdes erscheint. Das neue Prinzip treibt seine Wurzeln in eine neue Welt. Wie von Sokrates selbst die Eigentümlichkeit berichtet wird, daß er stundenlang stehen konnte, unberührt von den Erscheinungen der Außenwelt und nur seinem Nachdenken überlassen, so flieht die von ihm begründete Wissenschaft aus dem Äußeren in das Innere. Der Gedanke hat sich selbst erfaßt und sich über die schöne Sinnenwelt emporgehoben, zu welcher sich das Griechentum gestaltet hatte. Die immaterielle Welt ist entdeckt, und das Auge des Geistes hat sich nach innen aufgeschlagen. Die Harmonie des hellenischen Wesens ist gesprengt. Wie in der mächtigen Stirn des Sokrates der Gedanke über die breite Sinnlichkeit der unteren Gesichtspartien triumphiert, so kämpft in der neuen Lehre – ein Verhältnis, das vor allem Platon begriff – die Idee des Übersinnlichen mit der Schönheit der Erscheinung. Die Silenenhülle muß gesprengt werden, damit das reine Götterbild hervortrete. Die irdische, die sinnliche, die menschliche Welt ist als das Unzulängliche erkannt, und ein Antagonismus zweier Welten ist statuiert, der nie wieder aufhören wird, das menschliche Grübeln zu beschäftigen. Wenn vorher das Menschentum rein in sich geschlossen erschien, so ist seine wertvollste Aufgabe jetzt, sich zu dem Höheren zu erheben. Aber mit aller Selbstbesinnung kann es diese Ausgabe nicht ganz erfüllen; es muß der göttlichen Stimme vertrauen, die über alles verstandesmäßige Nachdenken hinaus in ihm sich regt. Sokrates
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selbst erkannte die Grenze der »wissenden Tugend« an, wenn er, bei wichtigen und unwichtigen Dingen, sich warnen und führen ließ durch eine göttliche Mahnung, die er sein Daimonion nannte, und Platon deutete dieses Wirken des Göttlichen in uns mit feinerem Geiste zu der schönsten seiner Lehren um, zu dem Gedanken, daß all unsere Liebe, von der | niedersten Form der Leidenschaft bis empor zu der begeisterten Erfassung der übersinnlichen Welt, nichts anderes sei, als die Sehnsucht des Sterblichen nach dem Unsterblichen, des Zeitlichen nach dem Ewigen, des Menschlichen nach dem Göttlichen, nichts anderes sei, als das Heimweh des Geistes nach seinem ewigen Urgrunde, – der ἔρως. Dürfen wir so von einem Gegensatze zwischen Sokrates und dem hellenischen Wesen sprechen, dürfen wir sagen, daß in der geistigen Zersetzung des Griechentums der Sokratismus ein wesentliches Ferment bildete, so wäre es ein Trost, wenn wir in diesem Antagonismus die Ursache für das beklagenswerte Ende des Sokrates, das einem jeden bekannt ist, wenn wir in dem sterbenden Weisen den Märtyrer seiner Idee sehen könnten. Es hat nicht an solchen gefehlt, denen dieser Wunsch erfüllt schien. Man hat in der Verurteilung des Sokrates eine instinktive Reaktion des im Untergange begriffenen Griechentums gegen die höhere Kulturmacht, der es weichen mußte, gesehen: man hat zu zeigen gesucht, daß hier, wie in ähnlichen Fällen, der Held das Prinzip der Zukunft und damit das höhere, weltgeschichtliche Recht vertrat, daß er aber, um es zu vertreten, den ethischen Zusammenhang seines Volkslebens durchbrechen, vor dem bestehenden Rechte in ethischer wie juridischer Beziehung schuldig werden und so dem Gesetze anheimfallen mußte. Der Prozeß des Sokrates schien eine Tragödie nach Art der Antigone zu sein. Auf Verletzung der Staatsreligion, auf Einführung neuer Götter lautete die Anklage; als der Gegner der alten Überzeugungen schien er verurteilt worden zu sein. Und das de jure! Denn er war der gefährlichste Gegner dieser alten Überzeugungen. Er zerstörte sie nicht mehr – das war vor ihm geschehen –, aber er setzte an ihre Stelle das Neue, die Religion der Zukunft, – den Geist und die Vernunft. |
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Diese Gegensätze lassen sich, wie sich von selbst versteht, in den Prozeß des Sokrates hineindeuten; aber die entscheidenden, den Ausschlag gebenden psychologischen Mächte in dem geschichtlichen Vorgange sind sie nicht gewesen. Zunächst: nicht darum ist er angeklagt worden. Nicht eine sittliche Überzeugung von der Gefährlichkeit seines Wirkens, sondern die kleinlichsten persönlichen Motive haben die Anklage diktiert. Seine Gegner waren niedrige, unbedeutende Menschen, die an ihm die Verletzung ihrer persönlichen Eitelkeit zu rächen hatten. Bei seinen Anklägern wenigstens stand ihm nicht ein ethisches Prinzip, sondern alltägliche Gemeinheit gegenüber. Aber die Form, welche sie für ihre Anklage fanden, und der Erfolg, den sie damit hatten, scheint dafür zu sprechen, daß hier wirklich sittliche Gegensätze, große psychologische Geschichtsmächte aufeinander platzten: die ihn verurteilten, scheinen ihn in sittlicher Entrüstung über seine Lehre verdammt zu haben. Allein in dieser Hinsicht ist der Verlauf des Prozesses ganz außerordentlich verwickelt, und vieles davon wird uns immer unverstanden bleiben, weil vielleicht eine Menge von persönlichen Beziehungen hineingespielt haben, von denen wir nichts wissen. In gewissem Sinne bieten die »Wolken« des Aristophanes einen Schlüssel für das Geheimnis, aber freilich einen Schlüssel, der selbst ein Rätsel ist. Wer den großen Dichter beschuldigen wollte, er habe den Philosophen, der ihm zudem in politischer Hinsicht als Gegner der Demokratie so nahe wie nur möglich stand, verunglimpfen wollen, der würde durch die Art, wie Platon den Aristophanes behandelt hat, widerlegt sein. Aber um so unbegreiflicher scheint es, daß ein Mann von der Bedeutung des Aristophanes den Sokrates als einen weltfremden Sterngucker darstellen, daß er ihn zu einem gewissenlosen Rabulisten stempeln konnte, der jede schwarze Tat weiß | zu waschen sich anheischig mache. Die Oberflächlichkeit der Bildung des Durchschnittsatheners mag es uns möglich erscheinen lassen, daß man den Sokrates mit den Sophisten verwechselte, daß er für den populärsten Raisonneur galt, den man für alles verantwortlich machte, was er selbst am meisten bekämpfte. Aber wie soll man sich erklären, daß ein Aristophanes dem Sokrates alle die erbärmlichen Theorien der Sophisten
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in den Mund legte? Hier findet man nur einen Ausweg, wenn man das Wesen des komischen Dichters mit in Betracht zieht. Ein bedingungsloser Anhänger des Alten, ist er überzeugt, daß die Emanzipation des Individuums, die Anerkennung des Rechts für einen jeden, sich selbst das Gesetz des Wollens zu geben, auf alle Fälle zur Verderbnis führt: von diesem Standpunkte gesehen, erscheint in der Tat Sokrates auf der gleichen Linie mit den Sophisten, und der Umstand, daß er durch die Selbständigkeit des Individuums hindurch zu einer neuen, wertvolleren Autorität zu gelangen hofft, ist irrelevant. Für Aristophanes, der ganz auf dem Boden des Alten steht, ist auch Sokrates, so sehr er den Sophisten entgegentreten mag, ein Mann, der an der Auflösung des allgemeinen Bewußtseins arbeitet. Sokrates hat sich – eben darin besteht seine Größe – auf den Boden der Sophistik begeben, um sie zu bekämpfen: denn nur der siegt, der auf dem neu eröffneten Felde die stärkere Waffe findet. Aristophanes aber sieht schon in dem Betreten dieses Bodens, in der Mündigkeitserklärung des individuellen Urteils überhaupt, die Verderbnis; er meint, daß, wer sich auf die moderne Bildung überhaupt einläßt, zu ihren schlimmsten Extravaganzen konsequenterweise kommen muß; er glaubt nicht daran, daß durch das Eingehen auf das Neue ein Höheres und Besseres gefunden werden kann, und mit der phantastischen Lizenz der antiken Komödie legt er dem Sokrates die letzten Frivolitäten der Sophistik in den Mund. Er | tut es lediglich als sachlicher, nicht als persönlicher Gegner und Warner. So wenig es somit in der Absicht des Aristophanes gelegen haben mag, seine Mitbürger gegen Sokrates aufzureizen, geschadet hat er ihm sicher. Das beweist die platonische Apologie, in der sich der Philosoph ausdrücklich gegen das Zerrbild des Komikers verwahrt. Man erzählt, Sokrates sei bei der Aufführung der Wolken in gutem Humor aufgestanden, damit man die Maske mit ihrem Original vergleichen könnte. Aber die Menge sah nur, ob Stirne, Bart und Nase die gleichen seien: sie wußte nicht, ob die geistigen Züge stimmten. Sonst hätte sie gepfiffen! Sie wurde nur darin bestärkt, in Sokrates den ausgesprochensten Vertreter der neuen Denkbewegung zu sehen. Die anderen kamen und gingen;
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er war Athener, er lebte unter ihnen, und er sorgte selbst dafür, daß jeder ihn kannte. Die anderen stritten ja auch untereinander: was verstand die Masse davon, in welchem ganz verschiedenen Sinne er sie alle bekämpfte! Er galt, weil er der populärste war, für den ärgsten der öffentlichen Wortverdreher, für den gefährlichsten Widersacher der autoritativen Vorstellungen, und als man ein Opfer verlangte für den Untergang des alten Athenertums, da büßte er für die Oberflächlichkeiten der Naturphilosophen und für die Paradoxien der Sophisten. Die Ironie des Schicksals wollte, daß der Mann, der die ernste Bildung predigte, daran zugrunde ging, daß man ihm aufbürdete, was die Männer der fadenscheinigen Halbbildung gesündigt hatten: er wurde verurteilt, weil man ihn für den Erzsophisten hielt. So kam es, daß eine sinnlose Anklage zu sinnlosem Erfolge führte. Bei der ersten Verurteilung hat neben mancherlei persönlichen Verhältnissen zweifellos der Umstand den Ausschlag gegeben, daß die neu zur Herrschaft gelangte Demokratie ihrer Entrüstung über die ethische, | politische und soziale Verwilderung des athenischen Wesens einen Ausdruck geben wollte, indem sie den populärsten der Philosophen, denen diese Verwilderung zugeschrieben wurde, verurteilte: und daß dieser gerade als Gegner des demokratischen Wesens, als Freund der eben überwundenen Aristokraten bekannt war, das mochte sehr bedeutsam in einem Augenblick mitsprechen, wo man in Athen meinte, den ungeheuren Mißerfolg des peloponnesischen Krieges der Aristokratie in die Schuhe schieben zu dürfen. Es waren also wohl politische und soziale Interessen, welche neben den persönlichen, die wir nur zum allergeringsten Teile kennen, bei der Verurteilung des Sokrates entscheidend mitgespielt haben. Aber ist denn das die Ursache des Todesurteils? Jedenfalls nicht die zureichende. Bekanntlich wurde nach der attischen Gerichtsverfassung zuerst nur – ähnlich wie bei den Geschworenengerichten von heute – die Schuldfrage bejaht oder verneint, und erst ein zweiter Urteilsspruch, den freilich nicht eine sachverständige, sondern dieselbe durch das Los zusammengeblasene Jury fällte, setzte gegebenenfalls die Strafe fest. Zwischen beiden
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Sprüchen hatte der Verurteilte sich selbst abzuschätzen; er machte gewissermaßen ein Sühn- und Bußangebot, und das war der Moment, durch reuige Klage Mitleid zu erwecken und mit wohl berechneter Schmeichelei dem vielköpfigen Richter einen milderen Spruch abzubetteln. Man kennt den paradoxen Gebrauch, den Sokrates von dieser Chance machte. Nehmen wir alle Nachrichten zusammen, so kann man nicht darüber zweifelhaft sein, daß der noch dazu ganz geringen Majorität, welche das »Schuldig« aussprach, nichts ferner lag, als die Absicht eines Todesurteils. Wenn auch die Ankläger darauf angetragen haben, sie selbst mochten kaum an diesen Erfolg denken. Verbannung war das Höchste, was nach Maßgabe früherer Fälle zu erwarten war, und aus den Anerbietungen der Freunde des Sokrates | geht hervor, daß sie alle bestimmt voraussetzten, es werde mit einer mehr oder minder leichten Geldbuße sein Bewenden haben. Allein Sokrates täuschte alle Erwartungen. Der Weise verschmähte die Klugheit. Die Wahrhaftigkeit, die sein Leben ausgemacht hatte, führte ihn zum Tode. Er war sich keiner Schuld bewußt; er durfte mit Recht sich sagen und es aussprechen, daß er, ohne jede Rücksicht auf persönlichen Vorteil, selbst mit Vernachlässigung seines Hauswesens, unablässig daran gearbeitet hatte, seine Mitbürger aus der Verwirrung ihrer Vorstellungen zu sittlicher Reife emporzuführen. Er wußte, daß seine Arbeit nicht umsonst gewesen war, daß er in den besten seiner Zeitgenossen den Samen edelster Lebensauffassung ausgestreut hatte, der in vielen herangewachsen war. Und da er nicht lügen konnte noch mochte, da Gerechtigkeit das höchste Prinzip seiner Überzeugung war, so erklärte er, daß er nicht Strafe, sondern die höchste Bürgerehre, die öffentliche Speisung im Prytaneion, verdiene. Nur um der Form zu genügen, – und schon das war ein Abfall von seinem Selbst – verstand er sich am Schluß, dem Drängen der Freunde nachgebend, dazu, eine kleine Geldbuße, für die sie Bürgschaft leisten würden, zu beantragen. Es ist nicht leicht, dies Vorgehen des Sokrates zu beurteilen. Über die Wirkung auf seine Richter konnte er nicht im Zweifel sein. Er, der feine Psychologe, mußte wissen, daß er sie damit zum
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äußersten reizte. Wollte er sie reizen, und wollte er das Äußerste? Wollte er sich zum Märtyrer machen? Und wozu? Dachte er seiner Sache damit zu dienen? Er hätte seine Athener schlecht gekannt! Trieb ihn die Eitelkeit des Nachruhms? Keinem Menschen lag sie ferner als ihm. War der Siebenzigjährige des Lebens überdrüssig, und wollte er, der den Selbstmord verschmähte, sich der Hand des Richters bedienen? Er wäre der schlimmste der Sophisten gewesen, | wenn er (wie man wohl, um etwas Neues zu sagen, behauptet hat) zu diesem Zwecke das Todesurteil sichtlich und absichtlich provozierte. Nichts von alledem. Man stellt die Frage schief, wenn man untersucht, was Sokrates mit dieser verhängnisvollen Erklärung gewollt habe. Sie war ihm nicht, was sie vielleicht jedem anderen in seiner Lage gewesen wäre, ein Mittel, durch das er irgend etwas erreichen wollte: sie war der notwendige Ausdruck seines Wesens. Unbekümmert um alle Folgen tat er einfach, was er seiner Natur nach tun mußte: er sagte die Wahrheit, er sprach seine Überzeugung aus. Er glaubte, die Bürgerkrone verdient zu haben, und er verlangte sie. Gewiß, etwas ist darin von dem Starrsinn griechischen Doktrinarismus, der das Prinzip vertritt, gleichgültig ob die Welt darüber zugrunde geht, und ein klein wenig ist auch schon darin von jenem Tugendstolze, den spätere Philosophen bis zur Karikatur ausgebildet haben: aber großartig und bewunderungswürdig bleibt die Unerschrockenheit, mit der er im entscheidenden Moment es seiner selbst für unwürdig hielt, der Wahrheit untreu zu werden. Allein von dem, was da Großes und Erhabenes in der Seele des greisen Angeklagten vor sich ging, ahnten seine Richter nichts: sie fühlten nur, daß der alte Gegner der Demokratie ihnen – vielleicht mehr als er es wollte – seine Verachtung bezeugte. Die Leidenschaft war entfesselt, von einer gerechten Prüfung der Sache war keine Rede mehr; ein großer Teil der Stimmen, die ihn unschuldig befunden hatten, fiel mit leichter Mühe den Gegnern zu, und ergrimmt über den Mannesmut der Wahrhaftigkeit, verurteilte die »rechtserzeugende« Plebs von Athen den Schuldlosesten, der unter ihr wandelte, zum Tode.
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Man hat von einer Tragikomödie der Weltgeschichte gesprochen: ich kenne wenige Ereignisse, auf welche dieser | Ausdruck so gut paßte, wie auf den Prozeß des Sokrates. Von dem großen geistigen Gegensatze zwischen ihm und seinen Richtern ist darin keine Rede. Eine Anzahl von persönlichen Intrigen vereinigen sich auf einen politischen Tendenz-Prozeß, der sich mit der gegen Männer der Wissenschaft üblichen Anklage auf Atheismus einführt. Mit der Mehrheit von ein paar Stimmen wird das »Schuldig« über einen Mann gesprochen, den man gerade für das verantwortlich macht, was er allein mit Erfolg bekämpft. Aber alle Wahrscheinlichkeit ist für eine geringe, nur formelle Strafe. Da beleidigt der Angeklagte durch sein freimütiges Unschuldsbewußtsein den Pöbel, der über ihn zu Gericht sitzt, und so kommt es zu einem Ausgange, den wohl niemand vermutet hatte, – eine eindringliche Warnung, wie töricht es ist, der gedankenlosen Menge und dem Spiel des Zufalls das Richtschwert in die Hand zu geben. Erscheint so der ganze Verlauf des sokratischen Prozesses als eine ungeheure Torheit, so hat Sokrates dafür gesorgt, daß zum Schluß das Skurrile abgefallen und nur ein erhabenes Schauspiel übrig geblieben ist. Auch darüber ist jeder Zweifel ausgeschlossen, daß dem verurteilten Philosophen, wenn er gewollt hätte, der Weg aus dem Kerker offen gestanden hätte. Die Freunde des Sokrates waren bereit, ihm die Pforten zu öffnen, der Zufall gab eine reichliche Zeit als Gelegenheit dazu, und die öffentliche Meinung Athens bestand offenbar auf der Ausführung des übereilten Todesurteils nicht so heftig, daß besondere Vorsichtsmaßregeln zur Verhinderung eines Fluchtversuchs getroffen worden wären. Sokrates wäre in der Lage gewesen, mit Hilfe seiner Freunde die Ungerechtigkeit der athenischen Volksjustiz zu rektifizieren, und wer weiß, ob die Athener selbst ihm darüber gezürnt hätten! Auch darauf hat Sokrates verzichtet. Er achtete das Leben nicht hoch genug, um wegen dieses niederen | Gutes zum erstenmal ein bewußtes Unrecht zu begehen. Er, der die Anarchie bekämpft, der das Gesetz der Vernunft gesucht hatte, er durfte das Gesetz nicht übertreten, auch wo ihm das Unvernünftigste geschah. Er harrte aus bis zum letzten Tage.
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Dieser Tag ist eine der erhabensten Erinnerungen der Menschheit: die Bewunderung zweier Jahrtausende hat ihn verherrlicht. Was ist an diesem Ende so Besonderes? Sokrates war weder der erste noch der letzte, der, unschuldig, seiner Überzeugung getreu, seines Rechts bewußt, in den Tod gegangen ist, und tausend andere haben ebenso unerschrocken wie er die dunkle Schwelle überschritten. Warum bewegt uns sein Ende so viel gewaltiger? Ich glaube, das Ergreifende darin ist der Mangel an allem Pathos. Da ist kein tragisches Märtyrergefühl und kein siegreicher Untergangsjubel. Da ist kein leidenschaftliches Sterbenwollen und kein schmerzzuckendes Sichlosreißen. Da ist kein Bangen und Leiden, kein Hangen und Scheiden. Da ist nur Ruhe und Klarheit und das stolze Bewußtsein der Notwendigkeit: »Es muß sein – es sei!« Viel trägt zu diesem eigenartigen Eindruck die leichtere Art bei, wie überhaupt der antike Mensch, dem modernen gegenüber, von der freundlichen Gewohnheit des Daseins und Wirkens Abschied nahm, – viel gewiß auch die geschmackvollere Gewohnheit, mit der das athenische Staatswesen einer solchen traurigen Notwendigkeit ohne blutigen Schreckens- und Schmerzensapparat sich entledigte: aber die Hauptsache bleibt doch der Mann selbst, der, weil er des Ewigen gewiß ist, sich zum Tode wie zu jeder Handlung des Lebens mit stiller Besonnenheit anschickt. Voll gläubigen Vertrauens in die göttliche Führung, begreift er nicht, wie den anderen der Tod eine so gefürchtete Änderung sein kann. Er lebt in der Vernunft, und die Unvernunft schreckt ihn nicht. So verbringt er den Tag des Todes mit seinen | Freunden in freundlichem Gespräch, das nur um eine Schattierung ernster, feierlicher sich von selbst gestaltet; er ordnet seine Angelegenheiten, und da die Sonne sinkt, trinkt er wie in festlicher Heiterkeit den Todesbecher. Es ist das Ende des Menschen, der die Zeit und ihren Wechsel besiegt hat, weil sein Blick auf dem Ewigen ruht; und wäre nicht in den Versen, mit denen Schiller das Ende des vollgebildeten Menschen verherrlicht hat, doch noch ein wenig von der tragischen Pose, die dem Wesen des deutschen Dramatikers so nahe und dem des attischen Weisen so fern lag, – so paßten ganz auf den Tod des Sokrates die schönen Worte:
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»Mit dem Geschick in hoher Einigkeit, Gelassen hingestützt auf Grazien und Musen, Empfängt er das Geschoß, das ihn bedräut, Mit freundlich dargebot’nem Busen Vom sanften Bogen der Notwendigkeit.« |
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n zahlreichen Orten, hier in engeren, dort in weiteren Kreisen, sind heut andächtige Gemeinden zusammengetreten, um in weihevollem Ernst einen Heiligentag der Wissenschaft zu begehen und das Andenken eines Mannes zu ehren, der mit dem wunderbaren Zauber seiner Ideen so vielen Geist und Herz gefangen genommen hat: es ist Baruch Spinoza, der einsame Denker, der Märtyrer der Wissenschaft. Zwei Jahrhunderte sind heute verflossen, seit in stiller Kammer, fast freundlos und unbeweint, sein edler Geist zur Ruhe ging, – kaum mehr als ein Jahrhundert ist es her, daß aus dem Grabe verständnisloser Verachtung seine Gedankenwelt auferstand zur vollen Glorie staunender Bewunderung: und heute treten nahe der Stätte, wo der Geächtete seine größten Schmerzen litt, Männer aller Nationen und der verschiedensten Denkrichtungen zusammen, um den Grundstein für ein Denkmal zu legen, welches ihn den Blicken der gerechteren Nachwelt zeigen soll. Zwar mag es manchem wider das Gefühl sein, daß man gerade diesen Mann, dessen ganzes Wesen aufging in zarte, scheue Zurückgezogenheit, nun auf den offenen Markt der volksbelebten Hauptstadt und mitten in das vielbewegte Treiben der Tagesinteressen stellen will, das er verachtete, weil er es durchschaute: aber willkommen muß einem jeden der Anlaß dieses Tages | sein, um sich die mächtigen Züge dieses Antlitzes neu zu beleben, welches näher oder ferner einmal vor jedem aufgetaucht ist, der das Ringen des Menschengeistes nach voller und höchster Erkenntnis betrachtet hat. So gut wie nur irgendeiner der Heroen der menschlichen Denkarbeit ist Spinoza der leuchtende Beweis dafür, daß es keine wahre Genialität und keine höchste Entfaltung geistiger Kräfte gibt ohne die Größe des Charakters. Wenn die Geschichte der Philosophie
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immer mit einer gewissen Feierlichkeit bei dem Namen Spinoza anhält und über seine Bedeutung mit besonderer Vorliebe sich ergeht, so rührt das vor allem daher, daß bei ihm ebenso sehr der Mensch unser Herz gewinnt, wie der Philosoph unsern Geist fesselt; und es ist weniger der Reiz des Tragischen in seinem Geschick, welches er mit manchem teilt, als vielmehr der ergreifende Eindruck wahrer innerer Größe, worauf dies allgemeine Interesse an seiner Persönlichkeit beruht. Wenn die lautere Klarheit seiner Gedanken noch durch etwas übertroffen werden kann, so ist es durch die fleckenlose Reinheit seines Charakters; in ihm ist kein Winkel, in den sich die Lüge verkriechen kann, und alles, was er tut, was er lebt, was er lehrt, trägt an sich den Stempel reinster Wahrhaftigkeit und vollster Überzeugtheit. Jene innere Sicherheit, welche sich in der »mathematischen Gewißheit« seiner philosophischen Überzeugung ausprägt, stammt zugleich aus dem Charakter, der, fest in sich gegründet, mit ruhiger Milde durch das Leben geht. Diese innerliche Festigkeit aber erwächst nur daraus, daß sich alle Kräfte seiner ganzen Lebensentfaltung mit klarem Bewußtsein auf ein großes Ziel hinrichten, und jene nach allen Seiten strahlende Wahrhaftigkeit wurzelt eben darin, daß es Spinoza von Jugend auf voller und heiliger Ernst war um die Wahrheit. Die Arbeit des Denkens war ihm Pflicht und Seligkeit zugleich, die Wissenschaft war ihm Religion. Aber | noch in anderer Bedeutung gilt das letztere: religiös im eigensten Sinne des Wortes sind alle Motive seines Nachdenkens; ein tief religiöses Bedürfnis, in den Glaubenslehren der positiven Religionen unbefriedigt, ist der psychologische Untergrund all seines wissenschaftlichen Strebens; und wie sein ganzes Denken ein Suchen nach Gott ist, so stellt sich seine Philosophie in ihrer abgeschlossenen Gestalt dar als eine großartige Anschauung der Gottheit: er ist ein »gottrunkener Mann«. Dies ist der wahre Mittelpunkt von Spinozas Wesen, und hierher liefen alle Fäden seiner Entwicklung zusammen, hier einigten sich die mannigfaltigen Elemente seiner Bildung: hierin bewährt er auch die Abstammung von einer Nation, welche die leidenschaftliche Intensität ihres Gottbewußtseins durch die Jahrhunderte als den wertvollsten ihrer Schätze gehütet hatte. Allein die theolo-
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gische Bildung seines Volkes, welche der junge Spinoza auf der von den portugiesischen Juden in Amsterdam gegründeten Rabbinenschule in sich aufnahm, war durch eine Reihe historischer Einflüsse mit mannigfachen fremden Elementen versetzt. Wenn er neben dem Studium des Pentateuch, der Propheten und des Talmud sich in die labyrinthischen Gänge der kabbalistischen Weisheit begab, so trat ihm jene mystisch-ekstatische Erhebung zur unendlichen Gottheit entgegen, welche von den Neuplatonikern her sich in die Geheimlehren der drei monotheistischen Religionen des Mittelalters ergossen hatte; wenn er andererseits sich mit den großen Scholastikern des jüdischen Mittelalters, einem Maimonides, Gersonides, Chasdai Creskas beschäftigte, so begegnete er teilweise denselben Einflüssen, noch mehr aber den klareren Gedankengängen des Aristoteles; und so mannigfach diese Lehren sonst auseinander gehen mochten, so waren sie doch alle von dem Grundgedanken beherrscht, daß die Einheit mit Gott, welche das Ziel der Gottesliebe ist, nur gewonnen | werden könne durch die Erkenntnis der Gottheit, durch die gedankenvolle Vertiefung in die Geheimnisse ihres Wesens. Diese kontemplative Gottesliebe ist der Grundzug in Spinozas Charakter geworden; sie bildet den mystischen Hintergrund seines Philosophierens. Sie war es, deren ungestillte Sehnsucht ihn der formalen Äußerlichkeit des religiösen Kultus entfremdete und über den engen Kreis traditioneller Vorstellungen hinausführte. Und für den, der aus den vier Wänden heimischer Gedanken in die weite Welt hinausschauen wollte, bot die Zeit des Lockenden genug. Der europäische Völkerfrühling, den man die Renaissance nennt, hatte allüberall frische, lebenskräftige Keime getrieben, und vor allem in den Niederlanden selbst, der Heimat des Philosophen, herrschte auf allen Gebieten fruchtbare Regsamkeit; hier löste der freie Kontakt der Gegensätze die gebundenen Kräfte gewaltig aus, und alle Bewegungen der Zeit fanden hier einen mächtigen Wiederhall. Die neue Naturwissenschaft, welche das ganze Zeitalter mit Begeisterung ergriff, wurde hier eifrig betrieben. Der glänzende Scharfsinn mathematischer Untersuchungen, wie der stille Ernst beobachtender und experimentierender Forschung fanden hier gleich lebhafte Förderung,
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und die zusammenfassende und phantastisch zum Höchsten greifende Kühnheit philosophischer Betrachtungen hatte auch hier die besten Geister ergriffen. Der Wahrheitsdurst des Zeitalters klopfte an die Felsen der Natur, und frische Quellen sprudelten ihm überall entgegen: Naturerkenntnis in neuen Linien und großen Zügen, – das war das gemeinsame Ideal, welchem, wenn auch auf ganz verschiedenen Wegen, die drei großen Denker nachrangen, von denen die neuere Philosophie anhebt: Bruno, Bacon, Descartes. Wenn darum Spinoza, von seinem Wahrheitsdrange getrieben, in diese reiche Welt des Forschens eintrat und ihr innerstes Wesen ergriff, so konnte bei ihm diese Richtung auf die Naturerkenntnis | nur einschmelzen in den religiösen Gedanken der Gotteserkenntnis, und indem sich beides durchdrang, mußte sich immer tiefer in ihm die pantheistische Idee der Alleinheit befestigen, welche Gott und die Natur mit Einem Blick seelenvoller Begeisterung zu umspannen hofft. Der Pantheismus, in mancherlei theologischen Spekulationen ihm schon früh nahegetreten, war für ihn die Versöhnung zwischen seinem persönlichen Gottesbedürfnis und der Liebe zur Naturerkenntnis, die seine Zeit beherrschte. Wir können nicht mehr mit bestimmten chronologischen Daten die Reihenfolge und die Zeitpunkte bestimmen, in welchen die Elemente der zeitgenössischen Bildung in den ungewöhnlich schnellen Entwicklungsgang Spinozas eingriffen: sicher nachweisbar ist es aus der erst in unserem Jahrhundert zutage gekommenen frühesten Schrift des Philosophen, dem sog. kurzen Traktat, und besonders aus den darin aufgenommenen Dialogfragmenten, daß die Einwirkung Giordano Brunos mit am weitesten zurückgreift, wie sie denn auch der jugendlichen Begeisterung seines stürmischen Wahrheitsdranges innerlich am nächsten stehen mochte. Wenn aber andererseits feststeht, daß er die lateinische Bildung schon in Amsterdam und zwar in dem humanistischen Kreise des Arztes Franz van den Enden erhielt, so können auch die philosophischen Anschauungen dieses Kreises, dessen Freisinnigkeit später berüchtigt wurde, nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben sein. Hier lebte man nun vor allem ganz in der von Descartes ausgegangenen und bekanntlich in den Niederlanden am lebhaftesten
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sich ausbreitenden Bewegung; der Arzt Ludwig Meyer, ein eifriger Cartesianer, vielleicht auch Oldenburg, welche wir später im persönlichen und brieflichen Verkehr mit Spinoza finden, standen diesem Kreise nahe, und namentlich durch den ersteren wurde er in naturwissenschaftliche, speziell in mechanische, optische und physiologische Studien eingeführt, deren Spuren, obwohl | er niemals mit diesen Kenntnissen geprunkt hat, uns überall in seinen Schriften entgegentreten; wir müssen annehmen, daß Männern solcher Richtung auch Bacons Lehren nicht fremd waren und daß – was für Spinozas Entwicklung nicht weniger wichtig war – die um das Jahr 1650 herum erscheinenden Werke von Hobbes in diesen Kreisen lebhaft besprochen wurden. Welches nun aber auch diese Einflüsse gewesen sein und wie weit sich unter ihnen die eigenen Überzeugungen Spinozas befestigt haben mögen, so viel steht fest, daß er, so genährt, das enge Kleid des nationalen Glaubens schnell auswuchs und jene Konflikte heraufbeschwor, die zu seiner Ausstoßung aus der Synagoge führten. Aus der neidischen Mißgunst der Genossen, welcher geistige Überlegenheit niemals entgeht, und aus der argwöhnischen Gereiztheit der Lehrer ballten sich die ersten Wolken des Gewitters zusammen, welches dann, nachdem er alle entehrenden Anträge von sich gewiesen, von Haß und Fanatismus geschwängert, den Bannstrahl auf ihn schleudern sollte. Aus dem Protest, den der Vierundzwanzigjährige dagegen schrieb, ist, wie es scheint, bei späterer Gelegenheit der theologisch-politische Traktat hervorgewachsen, worin er mit den beiden Mächten seines inneren Lebens, der Religion und der Wissenschaft, abrechnet und ihre Grenzen gegeneinander bestimmt. Zwar ist es gewiß nicht zu verkennen, daß darin zahlreiche Gedanken der großen jüdischen Theologen verwertet sind und als Studien dem Werke direkt zugrunde liegen, und auch das ist nicht zu leugnen, daß Spinoza in begreiflicher Erregtheit gegen die Feinde seiner Ruhe die leise Abhängigkeit von der jüdischen Theologie, worin er sich noch immer befand, weiter, als er berechtigt war, von sich zu weisen suchte: aber mit dem Grundgedanken dieses Buches steht er doch völlig frei und selbständig in origineller Größe da, und der radikale Einschnitt, den er zwischen Religion und Wissenschaft
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macht, | indem er dem religiösen Dogma allen Erkenntniswert abspricht, um ihm desto ungehemmter die moralische Wirksamkeit zu eröffnen – der ist seine eigenste Tat. Für jenes Evangelium einer Religion, welche keine Erkenntnis geben, sondern nur sittliche Menschen erziehen will, jenes Evangelium einer Religion der Moralität, welches Lessing und Kant verkündet haben, ist Spinoza der Johannes – der Prediger in der Wüste. Allein es war nur die positive Religion mit ihrem Dogma, welche er so der Wissenschaft gegenüber in ihre Schranken zurückwies: das wahrhaft und tief religiöse Bedürfnis der reinen, gewissen Gotteserkenntnis blieb nach wie vor der treibende Grund seines eigenen wissenschaftlichen Lebens, und der Mann, der Glauben und Wissen so weit wie nur je einer voneinander geschieden, blieb doch selbst ein lebendiges Zeugnis davon, wie beide in der wahren und lauteren Religiosität eine gemeinsame Wurzel haben können. Den besten Beweis davon bildet die unvollendet gebliebene Abhandlung über die richtige Ausbildung des Denkens, welche, als Einleitung in seine Philosophie gedacht und in der Darstellungsweise durchaus den Meditationen Descartes’ verwandt, in der Form eines Selbstbekenntnisses die letzten Triebfedern seines Denkens bloßlegt. Von den einzelnen Gütern des Lebens, die schon in ihrem Wechsel ihre Wertlosigkeit zeigen, steigt die Betrachtung empor zu dem höchsten, dem einzig wahren Gut, der ewigen AllEinheit Gottes, und sie zeigt, wie der Mensch dies höchste Gut nur erreichen kann durch die richtige Methode der Erkenntnis. »Denke richtig: und du wirst selig sein in der Erkenntnis Gottes« – das ist die Weisheit Spinozas. Darum durfte er sein fertiges System, das schon in seinem dreißigsten Jahre als handschriftlicher Entwurf unter den Mitgliedern jenes Amsterdamer Kreises bekannt war, seine »Ethik« nennen, obschon es mit den moralisierenden Betrachtungen, denen | man sonst durch diesen Namen wissenschaftlichen Wert zu geben suchte, gar wenig Ähnlichkeit besitzt: denn die wahre Erkenntnis der Gottheit, die er in diesem Werke niederlegen wollte, war für ihn die Lösung der höchsten sittlich-religiösen Aufgabe. Seine Philosophie ist, wie sich später die fichtesche genannt hat, eine Anweisung zum seligen Leben.
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Allein aus diesem Bedürfnis, welches Spinoza zu seiner Philosophie führte, erklärt sich noch nicht im geringsten die eigentümliche und gewissermaßen fremdartige Gestalt, welche seine Lehre schließlich angenommen hat: und die geschichtliche Forschung muß deshalb dem Ursprung dieser Eigentümlichkeit genauer nachgehen. In der verschiedensten Weise hat sie diese Frage zu lösen gesucht.1 Daß die Liebe zur Gottheit alle seine Gedanken trägt, ist für die Erklärung seiner Ethik ebenso unzureichend, wie es richtig ist; und es ist gleichgültig, ob man die Abstammung dieses Grundgedankens bei den Juden oder bei den Christen sucht, oder ob man – an sich durchaus richtig – darauf hinweist, daß dieser Gedanke beiden Religionen gemeinsam ist. Derjenigen philosophiegeschichtlichen Auffassung, welche die Entwicklung am Leitfaden der Idee zu konstruieren oder zu rekonstruieren suchte, lag die Ableitung aus dem cartesianischen Systeme am nächsten, und die Substanzenlehre beider Philosophen bot dazu willkommene Handhabe. Descartes hatte neben der absoluten Substanz denkende und ausgedehnte Einzelsubstanzen anerkannt: Spinoza löste die letzteren in Modi der all-einen Substanz auf und verwandelte|Denken und Ausdehnung in deren Attribute; das Zwischenglied schien der Occasionalismus zu bilden, welcher den Einzelsubstanzen bereits eine der wesentlichsten Eigenschaften der Substantialität, die kausale Wirksamkeit, raubte, um sie allein in die Gottheit zu verlegen. Allein der Entwurf der »Ethik« ist älter als die ältesten Schriften der Occasionalisten, und so war der Übergang aus dem cartesianischen Theismus in den Pantheismus Spinozas wiederum unvermittelt. Und der Pantheismus schien doch das Wesen der spinozistischen Lehre so sehr auszumachen, daß vielen noch heute Spinozismus und Pantheismus für gleichbedeutend gilt. So sah man sich denn nach pantheistischen Einflüssen um, und die einen 1 Es sei hier ein für allemal bemerkt, daß der Bestimmung dieser Rede gemäß die Verweisung auf die zahlreiche Literatur, auf welche sie sich in einzelnen Punkten stützt oder bezieht, natürlich unterbleiben, resp. ihre Kenntnis vorausgesetzt werden mußte. Vgl. übrigens den Paragraphen über Spinoza in des Verfassers Geschichte der neueren Philosophie Bd. I (5. Aufl. Leipzig 1911).
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meinten Spinoza aus der Kabbala, die anderen aus Bruno erklären zu sollen. Auch das genügt nicht: denn »Pantheismus« ist nicht sowohl eine Problemlösung als ein Problem. Wenn dem gewöhnlichen Bewußtsein der Gedanke, daß Gott und Welt eins seien, als eine Antwort erscheint, – dem Philosophen ist er nur eine Frage, und zwar diejenige, wie nun diese Einheit gedacht werden solle, und Pantheismus ist deshalb gar keine Kategorie zur Klassifikation metaphysischer Systeme, sondern wird dazu erst durch ein Beiwort, in welchem die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis der Welteinheit zur Vielheit der Dinge ausgedrückt wird. Nun hat aber die Lehre Spinozas mit jenem emanatistischen Pantheismus, der, von den Neuplatonikern stammend, das Wesen der kabbalistischen Phantasmen ausmacht, auch nicht das geringste zu tun, und der Umstand, daß beide Lehren eben Pantheismus sind, ist so gleichgültig, daß man von allen Bildungselementen Spinozas dies wohl als das wertloseste bezeichnen darf. Auch die Verschmelzung des Pantheismus mit dem Naturalismus, die Verknüpfung der Gottesidee mit dem Gedanken der all-einen wirkenden Naturkraft ist zwar sicher ein bedeutender Faktor in der | Entstehung seines Systems, aber sie erschöpft dessen Charakteristik nicht: denn dieselbe Verschmelzung ist eben bei Bruno vorhanden, ja sie ist für Spinoza vielleicht hauptsächlich durch ihn vermittelt, und doch besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen beiden Systemen. So lassen sich denn wohl die mannigfachsten Beziehungen Spinozas zu anderen Gedankenkreisen nachweisen oder wahrscheinlich machen: aber aus allen diesen Elementen, selbst aus der so stolz verkündeten Synthese von Okzidentalismus und Orientalismus, ist die spezifische Eigentümlichkeit seiner Lehre nicht zu begreifen. Die kontemplative Gottesliebe, die mystische Alleinheitslehre, Giordano Brunos naturtrunkene Gottesanschauung und die Substanzenlehre Descartes’ – alles das sind zweifellos Stoffe gewesen, die in dem empfänglichen Geiste des suchenden Spinoza verarbeitet worden sind, und sie haben sich in ihm viel zu früh gedrängt, als daß man glauben dürfte, er sei jemals einer dieser Richtungen ganz als Schüler zugetan gewesen, wenn auch gewiß von diesen Elementen zeitweise das eine oder das andere
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überwogen hat: aber der Spinozismus ist mehr als die Summe dieser Elemente, und es bedurfte, um ihn zu erzeugen, noch eines Ferments, unter dessen Einwirkung alle diese gährenden Stoffe zu dem klaren Gebilde der »Ethik« zusammenkristallisieren konnten. Dies Ferment wird man nur begreifen, wenn man auf das unterscheidende Merkmal seines Pantheismus aufmerksam ist: und dieser feinste Duft des Spinozismus, dieser Charakter, der seinem Pantheismus den Stempel der Einzigkeit aufdrückt, ist, um es mit Einem Worte zu sagen, derjenige der Mathematik. Die Frage des Pantheismus: »wie verhält sich die all-eine Gottheit zu den einzelnen Dingen?« – wird von Spinoza beantwortet nach der Analogie eines mathematischen Verhältnisses, und daraus erklären sich alle Grundzüge seines Systems; diese Antwort ist es, welche | seine Lehre von jeder anderen Form des Pantheismus unterscheidet. Spinozismus ist mathematischer Pantheismus. Indem man nun aber weiter dem Ursprunge dieses mathematischen Elementes nachgeht, scheint wiederum Descartes der wesentliche Ausgangspunkt der spinozistischen Lehre zu sein: denn das allerdings kann keine Frage sein, daß von allen philosophischen Einflüssen, die Spinoza erfahren konnte, der des Cartesianismus der einzige war, vermöge dessen er in die mathematische Richtung hineingezogen wurde. Bestand doch die gänzliche Reform der Philosophie, welche Descartes anstrebte, nur darin, daß er sie in eine Universalmathematik verwandeln wollte, und wenn somit das Entscheidende in der Charakteristik des spinozistischen Pantheismus seine mathematische Richtung ist, so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Spinoza auf den Wert der Mathematik für die Philosophie durch den Einfluß Descartes’ aufmerksam geworden sein muß. Ob sich aber dieser Einfluß sehr viel weiter erstreckt hat, muß um so zweifelhafter werden, je mehr man bedenkt, wie weit die Weltanschauungen beider Männer gerade in bezug auf die wesentlichsten Punkte auseinander gehen, und je mehr man sich klar macht, welch eine verschiedene Rolle in beiden Systemen das mathematische Denken spielt. In der Tat hat es für den Spinozismus nicht nur einen viel ausgebreiteteren, sondern auch einen ganz andersartigen Wert, und wenn deshalb auch
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die Anregung zu einer mathematischen Behandlung der gesamten Philosophie für Spinoza sicher nur von seiten des Cartesianismus gekommen ist, so besteht doch die schöpferische Originalität Spinozas in der völlig neuen und durchaus einzig dastehenden Art und Weise, in welcher er aus dem mathematischen Prinzip heraus das tiefste Problem seines Denkens zu lösen unternahm. Descartes hatte weniger eine unmittelbare Anwen|dung der mathematischen Methode auf die Philosophie geplant, als in dem wissenschaftlichen Charakter der Mathematik ein Ideal gesehen, welchem alle übrigen Wissenschaften, voran die Philosophie, nachzustreben hätten: die Klarheit und Deutlichkeit ihrer Erkenntnisse, die Zweifellosigkeit ihrer Beweise sollten als Vorbilder für alles Denken gelten. Der schematischen Kopie der geometrischen Methode dagegen, wie sie Spinoza später anwendete, war jener durchaus abhold und unterzog er sich nur einmal gelegentlich und versuchsweise auf Ansuchen seiner Freunde: einerseits blieb er sich des Unterschiedes zwischen abstrakter Begriffstätigkeit und mathematischer Entwicklung und der Gefährlichkeit seiner Verwischung immer bewußt, andererseits war sowohl sein Denken als auch seine Darstellung – analog der Bedeutung, welche er in der Geschichte der Mathematik selbst einnimmt – wesentlich analytisch und hätte deshalb nur gezwungen sich in die Form der synthetischen Beweismethode umsetzen lassen. Wie anders Spinoza in dieser Beziehung dachte, geht schon äußerlich daraus hervor, daß er diese Umsetzung nicht nur in seiner Darstellung der cartesianischen Philosophie vollzog, sondern auch seine eigenen Gedanken in diese schwerfällige Form preßte. Denn darüber kann natürlich kein Zweifel bestehen, daß die ganze schwere Rüstung von Definitionen, Axiomen, Lemmaten, Propositionen, Demonstrationen, Korollarien und Scholien auch bei Spinoza nicht die ursprüngliche Form des Forschens und Findens, sondern erst die nachgeschaffene des Darstellens und Beweisens ist, wie dies schon Descartes von den Geometern richtig erkannt hat. Aber dieser übermäßige Wert, den Spinoza auf die äußere Form der geometrischen Methode legte, hatte seinen tieferen Grund in dem viel innigeren Verhältnis, in welchem für ihn die mathematische An-
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schauung mit dem metaphysischen Denken stand. Und das ist der eigentliche | Kernpunkt seiner Originalität, der Springpunkt seines Systems. Vielleicht gelingt es, in kurzen Worten das Wesentliche dieses merkwürdigen Gedankenganges zu skizzieren. Das höchste Gut, das Spinoza sucht, ist die wahre Erkenntnis Gottes: aber Gott ist die All-Einheit, welche die ganze Natur mit allen Einzeldingen in sich befaßt. Diesen pantheistischen Grundgedanken hat er aus all den vielen Elementen seiner Bildung eingesogen. Das System der Einzeldinge jedoch liegt in Gott nach einer bestimmten Ordnung, in den ewigen Verhältnissen des Naturgeschehens. Wenn es deshalb von Gott – in diesem pantheistischen Sinne – eine wahre, ihn völlig abbildende Idee geben soll, so muß diese Idee in derselben Weise, wie Gott selbst die Dinge in sich trägt, auch die Ideen aller Dinge in sich enthalten, und es müssen diese Ideen in derselben Ordnung aus der Gottesidee hervorgehen, in welcher die wirklichen Dinge aus der Gottheit quellen. Dies Ideal der Erkenntnis – die schärfste Fassung der pantheistischen Frage, die je aufgestellt worden ist – entwickelt Spinoza in dem Traktat über die richtige Ausbildung des Denkens. Seine pantheistische Sehnsucht nach Gotteserkenntnis verlangt eine Form des Denkens, nach welcher sich aus der Gottesidee allein alle anderen Erkenntnisse ebenso entwickeln sollen, wie in der Wirklichkeit alle Dinge aus der Gottheit hervorgehen. Es ist das letzte Problem der platonischen Philosophie, welches klar und deutlich auch vor Spinoza schwebt: das Ideal eines Systems der Ideen, welches seinen Ursprung allein in der höchsten Idee, derjenigen der Gottheit hat. Zugleich ist jene Aufgabe, welche sich Spinoza stellt, der absolute Ausdruck aller deduktiven Philosophie, welche in einem allenthaltenden Grundgedanken und in den formalen Operationen des Denkens die ausreichenden Mittel zur Erzeugung alles Wissens zu besitzen glaubt. Das | Problem des Pantheismus verdichtet sich deshalb für Spinoza zu der Frage, welches diese Operation des Denkens sei, durch die aus der Idee der Gottheit alle Erkenntnis erzeugt werden sollte: und an dieser Stelle seiner Entwicklung war es, wo Spinoza den cartesianischen Gedanken, die Philosophie durch die Mathematik zu reformieren, in einer durchaus originel-
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len und großartigen Weise aufnahm. Eine bedeutsame Parallele bietet sich für diesen Prozeß in der letzten Phase des platonischen Denkens dar; so dunkel unsere Nachrichten darüber sind, so ist uns von ihrer allgemeinen Tendenz doch soviel klar, daß Platon, um das System der Ideen deduktiv zu entwickeln, auf die rein begrifflichen Operationen verzichtete und an ihrer Stelle den Schematismus der pythagoreischen Zahlentheorie ergriff und mit seinen Ideen zu durchdringen suchte. Auch Spinoza konnte nicht hoffen, sein Problem durch die syllogistische Methode zu lösen: seit Bruno, seit Sanchez, seit Bacon, seit Descartes war man von ihrer Unfruchtbarkeit völlig überzeugt. Und so blieb ihm nur die synthetische Methode der Mathematik übrig, wenn die Aufgabe des Pantheismus auf dem deduktiven Wege zu lösen gelingen sollte. In der Mathematik des Raumes fand er die Analogie, nach der sich sein Pantheismus gestaltete. Das ist das Geheimnis seiner Philosophie, und die »geometrische Methode« ist für ihn mehr als ein Name, mehr auch als ein äußerer Apparat des Beweises, sie ist der innerste Charakter des ihm und ihm allein eigentümlichen Pantheismus. Denn da er – der echteste der Dogmatiker im kantischen Sinne – von der Meinung ausging, daß die Ordnung und der Zusammenhang der Ideen identisch sei mit demjenigen der Dinge, so verwandelte sich ihm, indem er aus der Idee der Gottheit nach mathematischer Synthesis diejenigen aller Dinge entwickeln zu können meinte, auch die reale Beziehung der all-einen Gottheit zu den einzelnen | Dingen in ein geometrisches Verhältnis, und die mathematische Methode setzte sich ihm in eine metaphysische Weltauffassung um. Die »mathematische Folge« ist das Stichwort des Spinozismus, und der Zusammenhang mathematischer Sätze gilt ihm eo ipso für die reale Beziehung der Dinge. Hierin besteht der spezifische Charakter der spinozistischen Philosophie; dies ist der eigentümliche und befremdende Hauch, der uns aus seiner Ethik anweht. Ebenso schattenhaft wie dem Aristoteles jene letzte Phase des platonischen Denkens erschien, berührt uns dieser geometrische Pantheismus Spinozas. Er wirkt um so wunderbarer, in je grellerem Gegensatz er zu der mystischen Sehnsucht steht, welche die psychologische Triebfeder von
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Spinozas Denken bildet. Die tiefe Bewegung eines gotterfüllten Gemütes spricht sich in der trockensten Form aus, die zarte Religiosität erscheint im starrenden Panzer festgeketteter Schlußreihen, und die warme Gottesliebe projiziert sich in eine Anschauung, für welche die Welt Blut und Saft verloren hat und nur noch ein Reich nebelhafter Schemen bildet. Darin eben besteht das Einzige in Spinozas Entwicklung, daß das Eigentümliche seiner Weltauffassung aus einer Methode hervorgegangen ist. Auf dem Boden der pantheistischen Gott-Natur-Lehre, den er mit zahlreichen Denkern, vor allem seines Jahrhunderts, teilt, ergreift er die geometrische Methode, die ihm in Descartes entgegentritt, und indem er sie mit rücksichtsloser Konsequenz zu Ende denkt, entwirft er aus ihr seine Metaphysik. Aus dieser eigentümlichen Verschmelzung der Gedanken begreifen sich alle diejenigen Züge seiner Lehre, welche ihn von sämtlichen übrigen Denkern vor und nach ihm so scharf unterscheiden. Alle seine anderen Lehren finden sich vorher oder nachher wieder: der geometrische Gesamtcharakter der Weltanschauung gehört ihm allein. | Zunächst bedingt diese Methode die eigenartige Ausgestaltung des Begriffs, mit dem sein Denken anhebt. Seine Gottheit ist für die Welt nichts anderes, als der Raum für die geometrischen Figuren und Verhältnisse. Wie deshalb der Geometer von der Anschauung des Raumes ausgeht und aus ihr alle seine Erkenntnisse ableitet, so beginnt Spinoza mit der Anschauung Gottes: die Intuition, welche ihr Objekt unmittelbar ergreift, ist ihm die höchste, der Gottbetrachtung allein angemessene Erkenntnisart. Wie ferner alle geometrischen Formen durch den einen Raum bedingt und nur in ihm möglich sind, so erscheinen bei Spinoza alle einzelnen Dinge nur als Gestalten in der einzigen göttlichen Substanz. Sie ist deshalb nichts als die abstrakte Kategorie der Dinghaftigkeit: sie gilt als das einzige Wesen und trägt die Möglichkeit aller Existenzen in sich, und wie die räumlichen Formen und Gesetze nichts sind ohne den Raum, der sie trägt, so die Dinge nichts ohne die Gottheit, in der sie sind und durch die sie begriffen werden. Und gerade wie beim geometrischen Raum die Einheit identisch ist mit seiner
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Einzigkeit, so schließt auch für Spinoza die Substantialität Gottes diejenige aller anderen Dinge aus. Die spinozistische Substanz ist der metaphysische Raum für die Dinge. Aber der geometrische Raum, als solcher und für sich allein angeschaut, ist der leere, und so ist auch die spinozistische Gottsubstanz die absolute Leere; sie ist inhaltslos, qualitätslos, die bloße Hypostasierung einer logischen Kategorie – das metaphysische Nichts. Das ist die Kritik des Spinozismus, welche dem dialektischen Spiel in dem weltbekannten Anfang der Hegelschen Logik zugrunde liegt. Das Urbild für die Gottheit Spinozas ist der Raum; nach Abzug der sinnlichen Bestimmungen bleiben die leeren Formen seiner Substanz übrig, und so wenig als der Raum die materielle Wirk|lichkeit, so wenig ist die spinozistische Substanz die metaphysische.2 Und aus diesem inhaltslosen Gott soll nun »nach mathematischer Folge« die Fülle der Qualitäten und der Dinge hervorgehen; hierin ist Spinoza der Typus und zugleich die Rechenprobe der bloßen Deduktion, und mit vollem Rechte ist mit Anspielung auf eine biographische Notiz diese Absicht seines Denkens mit dem Weben der Spinnen verglichen worden. Sobald man aber näher zusieht, zeigt sich sehr bald, daß das »lediglich aus sich selbst herausspinnen« auch hier nur scheinbar ist. Denn nachdem in der Lehre von den unendlichen Attributen nur die Forderung aufgestellt worden ist, daß die unendliche Gottheit alle Qualitäten in sich trage, werden die beiden der menschlichen Erkenntnis zugänglichen Attribute, Denken und Ausdehnung, nicht sowohl aus dem Wesen der Substanz abgeleitet – weil dies eben durchaus unmöglich wäre –, sondern vielmehr empirisch und mit historischer Anknüpfung aufgenommen. Hier schon rächt sich die verschmäh2 In der Auffassung, daß die Gottheit, weil sie alles ist, nichts im besonderen ist, steht somit Spinoza der alten mystischen Lehre, die man als »negative Theologie« bezeichnet, nahe genug, und auch deren formal logischer Charakter ist bei ihm wiederzuerkennen, wenn man die Attribute als höchste Abstraktionen auffaßt und ihr Verhältnis zur Substanz im Auge hat (vgl. des Verfassers Lehrbuch der »Geschichte der Philosophie« § 31, 6. Aufl. S. 342 ff.). Allein das Neue und Auszeichnende für den Spinozismus bleibt die geometrische Analogie.
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te Erfahrung an diesem wie an jedem Vertreter einer rein deduktiven Philosophie; denn stillschweigend nimmt Spinoza, wie es jeder tun muß, in den scheinbar so stolz einherschreitenden Prozeß der Synthesis dieses empirische Element auf: die Deduktion ist unterbrochen. Nachdem aber einmal diese beiden Attribute konstatiert worden sind, geht Spinoza folgerichtig aus dem Gedanken der Allgegenwart der absoluten Substanz zu jener Lehre von dem Parallelismus der Attribute | über, welche historisch so überaus wirksam sein sollte. Derselbe Gedanke kehrt bei Leibniz wieder, nachdem der spinozistische Allgott in die unendliche Menge der Monaden gesplittert ist, und ein merkwürdig ähnliches Verhältnis wie zwischen Spinoza und Leibniz wiederholt sich gerade in dieser Beziehung zwischen der Grundanschauung der Identitätsphilosophie, welche Reales und Ideales als die beiden parallelen Reihen aus dem Absoluten herleiten wollte, und der modernsten naturphilosophischen Spekulation, welcher an jedem Punkte des Universums Bewegung und Empfindung als Parallelprozesse gelten. Übrigens bot dieser Parallelismus schon für Spinoza, namentlich in psychologischer Beziehung (z. B. in der Erklärung des Selbstbewußtseins), eine Reihe von Schwierigkeiten dar, welche ihn, wie man aus seiner Korrespondenz wahrscheinlich gemacht hat, in seinen letzten Jahren zu einer höchst interessanten Umbildung seiner Attributenlehre zu führen begann: der Kernpunkt davon scheint der gewesen zu sein, daß er die Ausdehnung als das ursprüngliche Attribut der Gottheit auffassen und auf ihr die unendliche Reihe der übrigen derartig aufbauen wollte, daß in jedem folgenden sich der Prozeß des vorhergehenden in anderer Weise gewissermaßen spiegeln und potenzieren und auf diese Weise der absolute Parallelismus sämtlicher Attribute sich begreifen lassen sollte. Doch die Attribute sind bei Spinoza nur das Mittelglied zwischen der Substanz und ihren Modis, den einzelnen Dingen, und in deren Verhältnis zur Gottheit liegt nun das Hauptinteresse an dem geometrischen Charakter des spinozistischen Pantheismus. Denn wenn die einzelnen Dinge nicht wahrhaft sind, so können sie nur werden, und von Platon bis zu Hegel ist das Hauptproblem jeder monistischen und deduktiven Philosophie die Erklärung
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des Werdens, des Hervorgehens der Dinge aus Gott. Und hier tritt für Spinoza an die Stelle | des metaphysischen Geschehens die »mathematische Folge«. Wie aus dem Wesen des Raumes alle geometrischen Formen und Verhältnisse, so folgt aus dem Wesen Gottes die gesamte Welt der Dinge und ihrer Gesetze; sie folgt mit absoluter, unvermeidlicher, willenloser Notwendigkeit, und damit fallen Freiheit, Zufall, Zwecktätigkeit für den Spinozismus zu leeren Wahngebilden dahin; sie folgt nicht als zeitliche Sukzession, sondern als ewige Bedingtheit, und damit verlangt Spinoza, daß die wahre Erkenntnis die Dinge begreifen soll als eine ewige Folge aus dem Wesen Gottes, daß sie ein Denken sein soll sub specie aeternitatis. Aber so wenig wie der Raum die wirkende Ursache des Dreiecks oder der Gleichheit der drei Dreieckswinkel mit zwei Rechten, so wenig ist die spinozistische Gottsubstanz die reale, wirkende Ursache der Dinge. Auch hier ist aus dem Gedanken Spinozas das lebendige Wesen der Kausalität herausgefallen und nur ihr leeres Schema übrig geblieben; seine natura naturans ist nicht mehr die wirkende Naturkraft Brunos, sondern nur noch der leere Raum, in welchem sich – man weiß nicht wie – Linien, Flächen und Körper konstruieren und wieder verwischen. An dieser Stelle setzte Leibniz in voller Opposition seinen Begriff der Substanz als der wirkenden Kraft dem toten Schematismus Spinozas entgegen. Allein wenn wir nun Spinozas Ethik fragen, wie denn aus dem Wesen der Gottheit die einzelnen Dinge folgen, so läßt sie uns völlig im Stich; sie behauptet fortwährend, daß alle Dinge die notwendige und ewige Folge aus dem Wesen Gottes sind; aber sie vermag den Prozeß dieses »Folgens« selbst nicht aufzuzeigen. Die Analogie der Geometrie sagt uns, weshalb nicht: so wenig aus der bloßen Anschauung des leeren Raumes ohne die in jedem Menschen lebendige empirische Kenntnis räumlicher Formen jemals eine Geometrie geworden wäre, ebensowenig ist aus dem leeren Alleinheitsbegriff die indi|viduell gestaltete Welt zu entwickeln. Das ist der tiefste Sinn der metaphysischen Weltvernichtung, des Akosmismus, den man Spinoza vorgeworfen hat: in dem leeren Raum seiner Substanz sind die individuellen Dinge, welche die wirkliche Welt ausmachen, spurlos untergegangen.
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Statt deshalb das Hervorgehen der Gesamtheit der Dinge aus dem Wesen Gottes wirklich aufzuweisen, begnügt sich Spinoza damit, die strikte Notwendigkeit zu zeigen, mit welcher innerhalb der Welt die einzelnen Dinge sich gegenseitig bedingen, und hierin verfährt er dann mit Ausschluß aller Teleologie in konsequenter Durchführung der mathematischen Folge; von diesem Gesichtspunkte aus entwirft er seine Physik der Affekte und der Leidenschaften ebenso wie seine Physik des Staates, erstere unter dem Einfluß Descartes’, letztere in noch viel höherem Grade unter demjenigen von Hobbes. Allein auch die Art und Weise, wie er sich diese gegenseitige Bedingtheit der einzelnen Dinge vorstellt, hat einen stark mathematischen Beigeschmack: in dem Begriffe der »Determination«, welcher hierbei immer die Hauptrolle spielt, gehen die Vorstellung der kausalen Bestimmung und Einwirkung und diejenige der geometrischen Begrenzung unmerklich ineinander über, und wie die geometrische Figur das, was sie ist, eben den Grenzen verdankt, welche sie von den anderen Figuren trennen, so bedeutet für Spinoza diese gegenseitige Bedingtheit der einzelnen Dinge wesentlich dies, daß jedes einzelne Ding das, was es ist, durch die Summe der übrigen, d. h. durch dasjenige ist, was es nicht selber ist. So hat auch der metaphysische Satz: »omnis determinatio negatio«und überhaupt die gesamte, so höchst eigentümliche Negationstheorie des Spinozismus, welche übrigens noch bei Leibniz in der Theodicee ihre Blüten trieb und erst von Kant in seiner Schrift über die negativen Größen überwunden wurde, – sie hat ihre Wurzeln in einer geometrischen Analogie. | Von dieser Lehre aus nimmt dann der Spinozismus die ethischreligiöse Schlußwendung, welche allen mystischen Systemen gemeinsam ist. Alle Endlichkeit ist Mangel und Unvollkommenheit, denn sie ist Negation: jedes endliche Ding ist positiv, insofern es die Substanz in sich trägt; es ist negativ, insofern es nicht selbst die Substanz, insofern es durch andere Dinge »determiniert« ist. Diese Begriffe der Positivität und Negativität übernimmt Spinoza aus den auf vielen Linien fortgepflanzten Lehren des Aristotelismus in der Verschmelzung mit denjenigen der Aktivität und Passi-
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vität, und entwickelt aus ihnen in der psychologisch-ethischen Anwendung seine schöne Theorie von der Überwindung der Leidenschaften durch das Denken. Da aber alle Vervollkommnung des Endlichen nur in dem Überwinden der Negation und in der Entwicklung des Positiven besteht, und da Gott die einzige und die ganze Positivität ist, so bedeutet dieses Ideal der Vervollkommnung für Spinoza nichts anderes als das Aufgehen des Geistes in Gott. So entspringt jene Lehre von dem amor intellectualis quo deus se ipsum amat, von der Hingabe des denkenden Geistes an Gott, worin der Mensch seine Freiheit und seine Seligkeit findet, und welche doch nichts weiter ist als das Wirken Gottes in ihm. Es ist ein wundersam ergreifendes Gefühl, zu sehen, wie sich Spinoza aus den grauen, nebelhaften Abstraktionen seines mathematischen Systems wieder in diese volle Sonnenglut seines Gottgefühls emporringt, wie er mit der letzten »Folge« seiner geometrischen Methode das Geheimnis seines eigenen Herzens ergreift und jenem Denktriebe, der ihn im Innersten bewegt, einen systematischen Ausdruck gibt. Wenn dieser Gedanke, daß der Trieb, Gott zu schauen, die Gotteskraft in uns ist, seiner »Weisheit letzten Schluß« bildet, so sehen wir ihn – den sonst so einzig und fremd Dastehenden – einig mit dem philosophischen und religiösen Denken eines Jahrtausends, | an dessen Ende er steht; und gehen wir dem philosophischen Ursprung dieses Gedankens nach, so finden wir in zahllosen Wandlungen immer wieder den platonischen ἔρως. Hatte den Trieb feuriger Jugendbegeisterung, mit dem Platon diesen Gedanken erfaßte, Aristoteles in die ruhige Betrachtung des νοῦς ποιητικός zu verklären gesucht, so gaben ihm die Zeiten religiöser Sehnsucht und vor allem die Spekulationen der Neuplatoniker den taumelnden Schwung religiöser Ekstase, und von da an mischen sich diese drei Formen in mannigfacher Weise durch alle Philosophien des Mittelalters hindurch, bis dieser Gedanke, neu belebt und von tiefem Gefühle beseelt, in allen mystischen Anfängen des neueren Denkens hervorbricht; er begegnet uns in dem »Funken« des Meister Eckhart, in der Gottebenbildlichkeit Jakob Böhmes – er ist jener eroico furore, welcher Giordano Brunos unstetes Leben durchpulst –
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er ist zu klarer Anschauung abgeklärt in dem amor intellectualis Spinozas. So vollendet sich die Philosophie des Mannes in der tiefen und weihevollen Erfassung desselben Gedankens, der als eine ungelöste Sehnsucht im Anfang seines Denkens stand und ihm sein Geschick bereitete. Die Symphonie seiner Gedankenentwicklung klingt in ihren Grundton aus, in den religiösen; die denktätige Liebe zum Weltgott ist das reifste Produkt seiner Philosophie, ebenso wie sie deren Grund und Anfang war. Und damit stehen auch wir wieder am Anfang unserer Betrachtung, welche von der Identität seines Geistes und seines Charakters ausging und nun diejenige seines Lebens und seiner Philosophie begriffen hat. Von keinem Philosophen hat es je in höherem Grade gegolten, daß er lebte, was er lehrte; jene gottrunkene Liebe, die seine Gedanken trägt, weht auch durch sein Leben. Er denkt Gott – und die Welt schwindet ihm in wesenlosen Schein; er will Gott – und die Dinge der Welt verschwinden aus seiner Begierde. | Es erfüllt ihn nur die eine Leidenschaft des Denkens; er will nur Gott erkennen, und die Welt ist ihm nichts. Er will nichts von ihr als das eine: »noli turbare circulos meos!« Wohl liegt darin ein Egoismus des Denkens, ein Mangel realer Lebenskraft; aber er wächst bei Spinoza hervor aus der Tiefe der Erkenntnis, daß die Begierden und Leidenschaften der Welt den Blick des Auges, das den Glanz der Gottheit erfassen will, nur trüben können, und daß die Seele, welche Raum haben soll für die reine Gottesliebe, frei sein muß von jedem anderen Wunsche. »Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen«: das ist das Thema für das Leben dieses »Atheisten«, und die Ausführung davon sind jene Eigenschaften stiller Bedürfnislosigkeit, sorgloser Unabhängigkeit, lauterster Uneigennützigkeit, welche wie die reinliche Poesie niederländischen Stillebens über seinem inneren und äußeren Dasein weben. Darum finden wir bei ihm keine andere als die notdürftigste praktische Tätigkeit; scheu zieht er sich von der großen Welt zurück; er lehnt es ab, seine Philosophie auf dem Katheder zu dozieren, und nach der ersten trüben Erfahrung, welche ihm den Wankelmut auch derer, die sich seine Freunde zu nennen wünschten, deutlich genug zeigte, verschiebt
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er selbst die Wirksamkeit seiner Schriften auf die Nachwelt. Es ist in dieser reinen Selbstgenügsamkeit keine Spur von der unruhigen und leidenschaftlichen Hast des Reformatorentums, denn es mangelt ihm die Einbildung, »er könne was lehren, die Welt zu bessern und zu bekehren«: er, der auf dem festen Boden der Religion den Religionen frei gegenüberstand, besaß nichts von dem unreifen Proselytentum des Unglaubens, das spätere Geschlechter gesehen haben; denn es fehlte ihm vor allem jenes Pharisäertum des Unglaubens, das in unseren Tagen grassiert und das da im knabenhaften Dünkel an seine Brust schlägt und ausruft: »Ich danke dir, Materialismus, daß | ich nicht bin wie dieser Frommen einer!« Nichts von alledem ist in Spinoza zu finden, und das ist bei ihm kein Stolz und keine Menschenverachtung, sondern nur das tiefe Gefühl vollkommener Einsamkeit. Geschieden von seiner Familie und seinem Volke, ohne Freunde, keines Staates Bürger und Mitglied keiner Konfession – so ist er ein echtes Bild jener Heimatlosigkeit, welche den Genius in dieser Welt kennzeichnet. Sein Reich ist nicht von dieser Welt – es ist die Welt der Wissenschaft; sie ist ihm das Göttliche, das Befreiende, das Erlösende, und so ist sein Leben wie seine Lehre nichts als eine Apotheose der Wissenschaft, und er selbst ein Heros der Wissenschaftlichkeit. Daher stammt auch der tiefe Ernst, den seine Züge tragen. Kaum dürfen wir ihn Schwermut nennen; denn ihm ist die Resignation kein Schmerz mehr. Das sind nicht die lustmüden, verzerrten Züge des modernen Pessimismus, das ist der wahre Ausdruck antiker Ataraxie; das ist auch nicht die großartige Tragik des Märtyrertums, denn nie vielleicht, mit Ausnahme des Sokrates, hat ein Mensch das trübe Geschick des Nichtverstandenseins und der Verfolgung mit weniger Pathos getragen, als Spinoza. Von Milde und Sanftmut ist dies Leben übergossen bis zum Tode, und jener Zug des Ernstes stammt nur aus der tiefen Wahrhaftigkeit, vor der das Spiel des Lebens vergeht: denn die Wahrheit ist der Ernst. Und daneben mischt sich in diesen Ausdruck ernster Ruhe noch ein anderer – es ist der der Arbeit, zwar nicht derjenigen, welche die Hände schwielig macht, aber doch der schwersten und zerreibendsten von allen – der Arbeit des Denkens. So steht es vor
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uns, dies Denkerleben, ganz der Wahrheit geweiht, und darin eben beruht die Erhabenheit seiner stillen Größe. Denn zu sterben für die Wahrheit, sagt man, sei schwer – schwerer ist es, für sie zu leben. |
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Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie (Ein Vortrag. 1881)
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ie altehrwürdige Gewohnheit, große Abschnitte unserer Zeitrechnung zur Veranlassung für eine festliche Erinnerung an bedeutende Männer, Taten und Ereignisse zu nehmen, legt den Jahrzehnten, in denen wir leben, viele Verpflichtungen auf. Nicht als wären wir ein sonderlich dankbares, mit dem geistigen Blick nach rückwärts gewendetes Geschlecht: aber es trennt uns eben ein Jahrhundert von der Zeit höchster Lebendigkeit deutscher Kultur, von der Zeit, wo bei uns Dichtung und Philosophie sich in ungeahnter Kraft erhoben und einander die Hände reichten, um aus Kampf und Gegensatz eine ganz neue Bildung zu erzeugen, – jener Zeit, wo Schlag auf Schlag Großes getan, Größeres gewollt, Größtes geahnt wurde. Wer solche Feier ernst begeht, der tut es mit geteiltem Gefühle. Die Freude erwärmt ihn, daß doch noch nicht ganz verloren ist der dankbare Aufblick zu jenen Höhen unseres nationalen Bildungslebens, von denen uns die sittlichen und intellektuellen Kräfte herabgeflossen sind, welche, zu mächtigem tatkräftigen Strome vereinigt, befruchtend und gestaltend sich über den Boden unseres Volkslebens ergossen haben. Doch daneben tritt gewissenhafte Einkehr in uns selbst und damit der Über|schlag des Verlustes, den wir neben gewaltigstem Gewinn doch seitdem an der Energie jener höchsten Kulturtätigkeiten erlitten haben. So feiert nun, nachdem schon mancherlei Geburts- und andere Erinnerungstage festlich begangen worden sind, in diesem Jahre Deutschland, wenn auch nur still durch eine kleine Gemeinde vertreten, die Vollendung des ersten Jahrhunderts nach dem Erscheinen eines Buchs – der Kritik der reinen Vernunft von Kant. Wir feiern das Buch, und wir feiern den Mann. In Königsberg, der Stät-
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te seiner Arbeit, hat man seinen sterblichen Resten eine neue Grabstätte bereitet und dabei, der Mode des Tages gemäß, den stummen Schädel gemessen, in welchem der größte Gedankenkampf einst sich abgespielt. Dort wie anderwärts sind zu würdiger Feier Reden gesprochen, die nun im Druck vorliegen, zahlreiche Schriften sind dieser edelsten Erinnerung der deutschen Philosophie gewidmet worden, die einen schon fertig, die anderen, auf lange Arbeit angelegt, erst im Entstehen: dicke Bücher und kurze Broschüren, gelehrte Werke und populäre Darstellungen sind in Masse erschienen, und wer nicht selbst dazu Bedürfnis empfand, der mochte durch Preisausschriften sich dazu anregen lassen. Nicht nur die philosophischen Zeitschriften, auch die allgemeinen Revüen haben dem Momente Rechnung getragen, und bis in die Unterhaltungsblätter und Zeitungsfeuilletons hat sich die Wirkung erstreckt, wo denn zwischen Novelle und Rösselsprung sich überall auch ein Plätzchen gefunden hat, um einige Anekdoten von dem »großen Königsberger« aufzuwärmen und einige Notizen über seine Lehre mitzuteilen. So gering dabei oft der absolute Wert, so groß ist der relative Nutzen, wenn neben der Erfindungssucht, dem Politikfieber und dem literarisch-musikalischen Dilettantismus auch nur flüchtig wieder an die wahren Schätze unseres geistigen Lebens erinnert wird. Und weit über Deutsch|lands Grenzen hinaus hat diese Festbewegung sich ausgebreitet: die Zeitschriften und Revüen fast aller anderen europäischen Völker geben deß Zeugnis, und drüben, jenseits des Ozeans, haben sie eigens einen Philosophenkongreß nach Concord zusammengerufen, um mit Reden und feierlichen Akten sich an unserer Erinnerung zu beteiligen. Was ist das für ein Buch, dem – einem Buche wohl zum erstenmal – die Ehre einer solchen Säkularfeier angetan wird? Jeder weiß es: es ist das Grundbuch der deutschen Philosophie. Mit ihm feiern wir den Triumph des deutschen Geistes. Dieses Buch ist eine Tat, eine große Tat: es ist der Bruch mit aller früheren, es ist die Begründung einer ganz neuen Philosophie. Wer Kants Kritik der reinen Vernunft liest oder eines seiner späteren Werke, die auf ihr sich aufbauen und, wie sie nur durch jene möglich sind, zugleich auch die von ihr notwendig verlangte Ergänzung bilden, der empfindet
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sofort die absolute Originalität der neuen Lehre, die anfangs unverstanden blieb und nachher mit glühender Begeisterung ergriffen wurde. Es sind ganz neue Probleme, es ist behufs ihrer Lösung ein ganz neues Begriffsmaterial, es sind ganz neue Resultate, die uns hier entgegentreten. Diese Originalität muß zuerst betont werden, ohne zu vergessen, daß ihr mannigfach vorgearbeitet, daß die Zersetzung des Alten, der schüchterne Anfang des Neuen schon lange vor Kant sichtbar war. Aber wie bei allen großen Taten, so genügt es auch hier zur Erklärung nicht, alle Anregungen sich kaleidoskopisch durcheinandergewürfelt zu denken. Das Neue begreift sich nur aus einem schöpferischen Prinzip, welches die Elemente zu sinnvoller Gestaltung anordnet. Und deshalb sollen auch hier nicht die einzelnen Fäden der Vorbereitung verfolgt, sondern der Meistergriff gezeigt werden, mit dem Kant sie zusammenfaßte. | Geht man dem Wesen dieser Originalität nach, so ist sie zunächst negativ: es ist die Emanzipation von den begrifflichen Formen, in denen bei aller Verschiedenheit der Ansichten und der Interessen die gesamten Diskussionen der früheren Philosophie geführt worden waren. Kants Gedankengänge erscheinen als ein ganz Neues gegenüber dem Begriffsapparat, mit welchem alle vorhergehende Philosophie arbeitete: so verschieden die früheren Lehren unter sich sind, Kant gegenüber haben sie eine gewisse Gleichartigkeit, von der sein ganzes Denken sich scharf abhebt. Diese Gleichartigkeit aller vorkantischen Philosophie beruht auf dem gemeinsamen Ursprunge, den sie in der griechischen Wissenschaft hat. Die großen Systeme, der Platonismus, der Aristotelismus, der Stoizismus, hatten sich in dem römischen Reiche über die gesamte Kulturwelt des Mittelalters als die bestimmenden Mächte der Erkenntnis ausgebreitet, und von da aus haben sie mehr als einen Weg genommen, um sich die Herrschaft über das Denken der germanischen Völker zu gewinnen und zu sichern. Zuerst übernahm die von der griechischen Begriffswelt völlig durchdrungene, in ihrem philosophischen Ausdruck durchaus davon abhängige Kirchenlehre die Erziehung der Germanen, die sie mit geringen, meist formalen Resten der antiken Bildung durchführte. Dann trat als wesentliche inhaltvolle Ergänzung der europäischen
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Gedankenwelt das Begriffssystem hinzu, in welches die Araber und die Juden des Mittelalters mit jahrhundertelanger Arbeit die griechische Philosophie verwandelt hatten: bereichert durch diesen zweiten Zufluß gelangte die christliche Wissenschaft zu ihrer größten Ausbreitung und zu ihrer vollkommensten begrifflichen Gestaltung. Und wenn dieser Ausbreitung endlich eine neue Bewegung entgegentrat, welche teils von Sizilien, teils von Byzanz her ihre Wellen zuerst nach Italien und dann immer | weiter und weiter schlug – die Wellen der Renaissance –, so war auch deren Triebkraft zuletzt in Athen zu suchen. Auch die Opposition stammte aus derselben Quelle: der originale Platon und der originale Aristoteles kämpften gegen ihre mittelalterlichen Verwandlungen. In der Mystik, in Giordano Bruno, in dem protestantischen Peripatetizismus, in der Formenlehre Bacons, in den eingeborenen Ideen bei Descartes und weiterhin bei Spinoza und Leibniz – allüberall sind es griechische Begriffe, die gegen griechische Begriffe mit neuer Gestaltung und Begründung ins Feld geführt werden, und selbst die Fragestellungen eines Locke, Condillac und Hume sind in das griechische Begriffssystem eingeschlossen. So weit alle diese Lehren auseinandergehen, eine Gleichartigkeit der Grundbegriffe, wie sie Platon und Aristoteles formuliert haben, geht durch sie alle hindurch; und nur Eine Erscheinung ist seit dem Beginn der neueren Zeit als ein Fremdartiges und Neues hinzugetreten: das ist die mathematische Naturwissenschaft, die, in der pythagoreisch-platonischen Schule nur erst gestreift, durch den Aristotelismus beiseite geschoben, in der Renaissance nicht ohne Anknüpfung an ihre antiken Vorbilder neu begründet und mit gewaltigem Siegeslauf zu höchsten Zielen geführt wird. Sie ist das erste, spezifisch ungriechische Element in dem modernen Denken, und es ist deshalb höchst bedeutsam, daß Kant von ihr die tiefste und nachhaltigste Einwirkung erfahren hat. So sehr sie jedoch auch schon vor Kant die Philosophie zu bestimmen und ihre Begriffe darin einzuflechten begann, die Herrschaft des platonisch-aristotelischen Begriffssystems vermochte sie nicht zu erschüttern: sie stand in deren Rahmen wohl als ein Fremdes, das die Harmonie störte, aber sie sprengte ihn nicht.
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Darum blieb die systematische Grundlage des wissenschaftlichen Lebens dieselbe, die durch die Griechen bestimmte, bis Kant auf-| trat. In ihm eröffnet sich ein neues Gedankenreich. Wenn andere vorher sich gegen das traditionelle Begriffssystem erhoben, so geschah es hie und da an einzelnen Punkten. Er gab eine gänzlich neue Welt; bei ihm erschien alles in ganz neuem Lichte; er war, wie Jean Paul gesagt hat, ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal. Mit Recht hat man behaupten dürfen: es gibt, wenn man von allem Nebensächlichen absieht, bisher nur zwei philosophische Systeme: das griechische und das deutsche – Sokrates und Kant! Welches ist nun der Unterschied zwischen diesen beiden Systemen? Ich will versuchen, aus den Begriffsformeln den letzten Kern herauszuholen, und gehe dabei von einer Reflexion auf die Verschiedenheit des Kulturhintergrundes aus, dem beide entsprossen sind. Die griechische Philosophie ist das Produkt einer einfachen, in sich geschlossenen Nationalkultur, und sie trägt deren Züge an sich. Das Bildungsleben der Hellenen entfaltete sich in einem harmonischen Zusammenhange. Die Mannigfaltigkeit der mythischen Vorstellungen war früh durch die Poesie zu ästhetischen Gestalten abgeklärt, in denen die Ideale des Volkes ein unsterbliches Leben führten: so bildeten die homerischen Gesänge die Grundlage aller Erziehung in Griechenland. Die sozialen Verhältnisse befreiten den Vollbürger von der Notwendigkeit alltäglicher Arbeit, und in freiem Genusse politischer Unabhängigkeit durfte das Individuum der edleren Arbeit an den Gütern der Kultur sich hingeben. Dazu kam die Einfachheit des wirklichen Wissens, dessen Vereinigung in Einem Kopfe noch keine Mühe machte, dazu kam vor allem der naive Glaube an eine Begrenztheit der Wirklichkeit, in deren schön geschlossener Runde das Land und das Leben der Griechen den Mittelpunkt bilde. So ist es zu verstehen, wie in diesem Volke das wissenschaftliche Denken, das hier zuerst sich frei machte, das sich an einzelnen | Hypothesen, an Sammlung und Beobachtung geübt und gestaltet hatte und das in Sokrates sich selbst und seine normale Gesetzmäßigkeit entdeckte, nun auch verlangte, von sich aus mit seinen Gesetzen und seinen notwen-
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digen Formbestimmtheiten bis in die Tiefe der Dinge wühlen zu können und das Universum in sich abzuspiegeln. Griechentum ist Intellektualismus. Die Erkenntnistätigkeit, welche hier zum erstenmal um ihrer selbst willen geübt wird, wirft sich zur beherrschenden Seelentätigkeit auf: sie soll das Handeln bestimmen, in ihr wird auch das Prinzip der Sittlichkeit gesucht, und von ihr wird angenommen, daß sie die ganze Weltwirklichkeit in idealer Form wiederhole. Alle griechische und alle von dieser abhängige Philosophie lebt in der Voraussetzung und arbeitet sich darin ab, daß mit dem menschlichen Wissen ein abschließendes, restlos die Wirklichkeit wiedergebendes Weltbild zu gewinnen sei. Sie will nichts anerkennen, als was erkannt ist, was im begründbaren Urteile sich formulieren läßt. In diesem Sinne ist der Aristotelismus, wie er die größte Kraft der historischen Wirkung entfaltet hat, in der Tat auch der reinste Typus des griechischen Intellektualismus. Sein höchster metaphysischer Begriff ist derjenige der Gottheit als des sich selbst denkenden Denkens, und seine höchste Tugend ist die Kontemplation, die wissenschaftliche Betrachtung. Aber eben deshalb, weil die Tragweite der Erkenntniskraft als unbegrenzt angesehen, weil die in der Auffassung menschlicher Lebensverhältnisse ausgebildeten Begriffsformen ungeprüft auf die Deutung aller Erscheinungen übertragen werden, eben deshalb enthält dieser ganze Metaphysizismus eine geistige Ausstrahlung spezifisch menschlicher Vorstellungsformen: wie in der Weltbetrachtung der Mensch noch als Mittelpunkt des Universums, sein Geschick noch als Weltgeschick, so | wird die begriffliche Ausmalung menschlicher Verhältnisse noch naiv als Welterkenntnis angesehen. Hiergegen stellen wir die Kulturwelt der Gegenwart. So sehr in ihr die Verschiedenheit der einzelnen Nationen verfolgbar ist, im allgemeinen leben wir in einer abgeschliffenen Gesamtkultur. Uns umgeben viel verschlungene, äußerst problemreiche Verhältnisse des äußeren, des politischen und sozialen Lebens, uns umwogt mit stürmischen Wellen der tägliche Kampf um das Dasein. Unser Blick hat sich in das Unendliche erweitert, er kennt keine Grenze des Seins: aus tausend und abertausend Quellen auf dem ganzen
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Erdball rinnt uns ein Wissen zusammen, daß nie mehr in Einem Kopfe vereinigt und nie mehr auf eine einfache Gesamtformel gebracht werden wird. Längst vor allem müssen wir uns an die Vorstellung gewöhnen, daß wir nicht im Mittelpunkte des Weltlebens sitzen, sondern irgendwo in einem entlegenen Winkel ein bescheidenes Dasein abspinnen. Und als wenn es mit dieser Demütigung des Wissens durch sich selbst, als wenn es mit dieser Vielgespaltenheit unseres Kulturlebens noch nicht genug wäre, so geht durch unser ganzes Leben ein tiefer Riß hindurch. Seitdem die griechische Philosophie ihren heimatlichen Boden verlassen und sich in die wissenschaftliche Grundlage der Weltkultur verwandelt hat, fand sie sich ein Fremdes, Übermächtiges gegenüber: die Religion, welche vom Orient her den europäischen Kontinent erobert hat. Mit rastloser Zähigkeit hat der Geist der griechischen Wissenschaft die Jahrhunderte hindurch daran gearbeitet, diesen Inhalt ganz zu durchdringen und zu bewältigen: es ist ihm nicht gelungen. Alle Systeme der mittelalterlichen Philosophie sind die verlorene Liebesmüh des Wissens, den Glauben aus sich zu reproduzieren. Wenn die Wissenschaft nach wie vor danach rang, den letzten Zusammenhang der Dinge zu verstehen, wenn es ihr sogar gelang, erst in geringer, | dann in immer größerer Ausdehnung das religiöse Bewußtsein in sich hineinzuziehen, – zuletzt blieb doch eben dies religiöse Bewußtsein mit logisch unvereinbarer Selbständigkeit daneben bestehen. Neben dem auf die griechischen Begriffe gebauten Rationalismus läuft der Mystizismus des Glaubens einher, hier mehr, dort weniger Raum für sich in Anspruch nehmend, aber niemals vollständig überwunden. Alle Stufen des Antagonismus zeigt die Geschichte dieser Gegensätze von der erstrebten Versöhnung bis zum erbitterten Kampf, bis zur Vernichtung des Denkens durch die starre Orthodoxie und bis zur Vernichtung des religiösen Bewußtseins durch die Aufklärung; das Charakteristischste aber ist jene Lehre von der zwiefachen Wahrheit, der theologischen und der philosophischen, welche im Ausgang des Mittelalters aufkam und seither in Männern wie Bayle und Jacobi und in vielen anderen Erscheinungen einen den
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neueren Begriffen sich mehr anpassenden Ausdruck gefunden hat. So ist das moderne, um mit Hegel zu reden, das »zerrissene Bewußtsein«. Es hat die Harmonie der unbefangenen Einfachheit verloren und müht sich an seinen inneren Widersprüchen ab. Die griechische Wissenschaft ist mit ihrem gesamten Begriffssystem ein unentbehrlicher Bestandteil unserer Kultur geworden, ein Besitztum der Menschheit in saecula saeculorum, und an einer Reihe von Grundbegriffen auch der modernen Naturforschung, die sich ihr noch am selbständigsten gegenüberstellt, läßt sich zeigen, wie stark sie uns allen, manchem vielleicht ohne daß er davon weiß, im Blute steckt: aber sie hat aufgehört, für sich allein den abschließenden Rahmen unserer Weltbetrachtung zu bilden, sie kann in dem ganzen Zusammenhange unseres Geisteslebens nicht mehr das Höchste und Letzte sein. Das ist nun die große Bedeutung der kantischen Philosophie, daß sie diesem veränderten Verhältnisse der | Kulturtätigkeiten zum erstenmal einen völlig adäquaten Ausdruck gibt, daß sie in großen Zügen diesen unseren geistigen Gesamtzustand ausprägt, und das ist die Epoche machende Tat der »Kritik der reinen Vernunft«, daß sie diesen Tatbestand mit strengster wissenschaftlicher Beweisführung zum unumstößlichen Bewußtsein bringt. Die Mittel der wissenschaftlichen Erkenntnis, zeigt sie, reichen nicht aus und werden niemals ausreichen, um ein Weltbild in dem Sinne, wie der jugendlich unbefangene Wissenstrieb es sich als Aufgabe gestellt hatte und wohl noch jetzt und immer stellen mag, mit notwendiger und allgemeiner Geltung hervorzubringen. Die Wissenschaft ist allein nicht imstande, jenes alle unsere Bedürfnisse umfassende Bewußtsein zu gewähren, welches wir als die Krönung unseres selbstbewußten Lebens erstreben müssen. Auf diesem Aussprechen eines durch das ganze moderne Leben hin sich erstreckenden Geheimnisses beruhte zunächst bei uns in Deutschland die zündende Wirkung der kantischen Lehre. Sie fiel in eine Zeit literarischer Gärung, in der sich gegen eine alles wissende Aufklärung und eine alles beweisende Philosophie die Ursprünglichkeit genialer Naturen mit »Sturm und Drang«
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auflehnte, wo aus dem grauen Einerlei formalistischer Bildung die Phantasie ihre Feuergarben emporsteigen ließ und das leidenschaftliche Gefühl sein Zauberlicht über die Wirklichkeit warf. Diese Zeit sehnte sich nach Unerforschlichem; sie freute sich jeder rätselhaften Regung, die sie im Menschengemüt entdeckte, jedes geheimnisvollen Schleiers, der sich über die Zusammenhänge der Wirklichkeit breitete. Des Wissens und des Beweisens satt, lebte sie in der Ahnung, im Gefühl, in der Einbildung. Und nun auf einmal bewies ihr der nüchternste und strengste aller Denker ihr Recht: er wies die Wissenschaft in ihre Schranken und proklamierte die Selbständigkeit des mora|lischen und des ästhetischen Urteils. Er wirkte deshalb auf die junge Generation ganz in derselben Weise wie schon vor ihm Rousseau: jubelnd empfand man die Befreiung von den Formeln des Wissens und die Verkündigung einer Religion des allgemeinen Menschengefühls. So wurde vor allem Schiller von der kantischen Philosophie gepackt, Schiller, der dann die hohe Aufgabe erfüllte, ihr Prophet in der allgemeinen Literatur zu werden; und so haben später die Romantiker durch alle Phasen ihrer Entwicklung hindurch und in allen Richtungen ihrer vielverzweigten Tätigkeit sich an Kant emporzuranken versucht. Aber was war es denn so Besonderes an diesem Nachweis von der Unzulänglichkeit des menschlichen Wissens? War denn nicht Ähnliches oft und mit vielen Gründen behauptet worden? Hatten denn nicht von diesen Grenzen der menschlichen Erkenntnis schon viele in vielen Absichten gesprochen? – die Skeptiker und die Mystiker, die Orthodoxen und die Positivisten? Gewiß! aber mit ihnen allen hat Kant prinzipiell nichts zu tun! Nichts zunächst mit dem gewöhnlichen Skeptizismus, der von irgendwelchen methodologischen Voraussetzungen her die Möglichkeit einer vollkommenen Einsicht in die gesetzmäßigen Zusammenhänge der unserer Erfahrung zugänglichen Welt bestreitet. Gerade gegen diesen kehrt sich der kantische Nachweis mit voller Energie, und es gibt wenige Menschen, welche von der Erkenntniskraft der Wissenschaft und von ihrem Rechte, den gesamten Umfang unserer Erfahrungswelt zu bewältigen und zu durchdringen, so felsenfest überzeugt sind wie Kant. Seine ganze theoretische
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Philosophie ist nichts weiter als die systematische Besinnung auf die unumstößlichen und unumgänglichen, jedem normal denkenden Menschen von selbst einleuchtenden Voraussetzungen und Grundsätze, ohne welche es überhaupt keine Verständigung der Denkenden | untereinander und keinen Versuch wissenschaftlicher Konstatierung irgendwelcher Tatsachen, keine Verarbeitung dieses Stoffes zu Erkenntnissen gibt. In der Begründung der wissenschaftlichen Arbeit auf ihre unmittelbar evidenten Prinzipien besteht die Aufgabe und die Leistung der kantischen Erkenntnistheorie. Darum darf seine Lehre am allerwenigsten mit jenem aus dem 18. Jahrhundert stammenden und für die »Jetztzeit« nur frisch aufgeputzten Positivismus verwechselt werden, der sich heutzutage an die Rockschöße Kants zu hängen liebt, jenem Positivismus, welcher die menschliche Wissenschaft darauf beschränken will, einzelne Tatsachen festzustellen und, wiederum nur als Tatsache, einen gewissen Rhythmus ihrer zeitlichen Reihenfolge zu beobachten. Der glänzendste vielleicht und sicherste Nachweis, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft gegeben hat, läuft darauf hinaus, zu zeigen, daß jede sogenannte Konstatierung von Tatsachen bereits nur durch eine Anzahl von allgemeinen Voraussetzungen zu begründen ist, welche zwar erst mit der allmählichen Entwicklung der menschlichen Erkenntnistätigkeit zum Bewußtsein kommen, welche aber durch alle die einzelnen Fälle, deren Begründung in ihnen zu suchen ist, nicht selbst erst begründet werden können. Kein Zeitpunkt ist zu bestimmen, keine Messung auszuführen, keine Wägung vorzunehmen, ohne daß man als Grund für ihre Anerkennung über die zeitlichen und räumlichen Verhältnisse und über das Verhalten der Dinge in dem Ablauf des Geschehens eine Reihe von Grundsätzen stillschweigend voraussetzt, welche durch den Zusammenhang unserer Erfahrungen fortwährend bestätigt werden, welche darum erst durch die abstrahierende Aufmerksamkeit auf unsere Erfahrung von uns haben aufgefunden werden müssen, welche aber, weit entfernt, durch die Bestätigungen, an denen sie zum Bewußtsein kamen, etwa auf induktivem Wege begründbar zu sein, selbst | erst die Gründe für die notwendige
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Geltung jeder, wie man zu sagen pflegt, erfahrungsmäßig konstatierten Tatsache enthalten. Niemals sind bloße Empfindungen und ihre Addition eine Erfahrung, welche auf wissenschaftliche Geltung Anspruch erheben kann, sondern jedesmal liegt eine Deutung der Wahrnehmung durch Grundsätze und Voraussetzungen vor, die als unmittelbar gewiß und selbstverständlich gelten. Dies Selbstverständliche nicht zu sehen, ist die Kurzsichtigkeit des Positivismus: Philosophie im kantischen Sinne ist die Lehre von eben diesem Selbstverständlichen. Wenn aber andererseits Kant für die Geltung dieser selbstverständlichen Grundsätze bestimmte Grenzen setzt, so hat diese Wendung seiner Argumentationen doch gar nichts mit allen den zahlreichen Versuchen zu tun, welche in der Geschichte der europäischen Völker gemacht worden sind, um jenseits solcher willkürlich bestimmten Grenzen entweder die Naturgewalt des individuellen Gefühls zu entfesseln oder die Autorität einer historischen Erscheinung einzusetzen. Der Glaube, für den Kant durch die Grenzbestimmung der wissenschaftlichen Erkenntnis Platz machen will, ist ganz anderer Art, und die Gründe, welche diese Grenzbestimmung erzeugen, sind nicht in einem Hinschielen auf eine schon anderswie feststehende Überzeugung und in dem Bedürfnis, diese um jeden Preis zu retten, sondern in der Untersuchung über das Wesen der wissenschaftlichen Gewißheit selbst zu suchen. Von allen diesen Formen der früheren Skepsis unterscheidet sich die kantische Kritik prinzipiell, und zwar deshalb, weil sie die gemeinsame Voraussetzung überwunden hat, auf der jene sämtlich beruhen. Diese gemeinsame Voraussetzung aber ist dieselbe, welche durch den Vorstellungsmechanismus überall entsteht, welche deshalb in dem gewöhnlichen Bewußtsein zu jeder Zeit die herrschende gewesen ist und es voraussichtlich auch bleiben wird, | welche endlich von der griechischen Wissenschaft in naivem und nie bezweifeltem Vertrauen übernommen und unwillkürlich zur Grundlage ihres gesamten Begriffssystems gemacht worden war. Diese von Kant überwundene Meinung ist die Vorstellung, als sei die menschliche Wissenschaft bestimmt und als habe sie darin
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ihr Regulativ, eine unabhängig von ihr bestehende Welt abzubilden. Die nach den Gesetzen der Assoziation und der Reproduktion im historischen Fortschritt der Gattung entstandene, in der Sprache niedergelegte und in jedem Individuum sich wiederholende Vorstellungsweise betrachtet den vorstellenden Organismus als ein Glied der in räumlichen Beziehungen stehenden Welt von Dingen. Sie ist deshalb geneigt, auch den Erkenntnisprozeß entweder direkt als einen räumlichen Vorgang oder doch nach Analogie eines solchen zu betrachten, und selbst wenn man sich von dieser Nötigung der Vorstellungsweise soviel als möglich frei zu machen sucht, unterliegt man noch dem Zwange der davon beherrschten Sprache, welche als Bezeichnung für die Verhältnisse des Denkens zu seinen »Gegenständen« kaum etwas anderes als sinnliche Tropen darbietet. Der Geist »steht« den Dingen »gegenüber«; wenn er empfindet und vorstellt, so tut er das, weil sie auf ihn einwirken oder weil er sich ihnen nähert; er »ergreift«, er »erfaßt«, er »begreift«, er »erklärt« sie; und sie »drücken sich in ihm ab«, »spiegeln sich in ihm«; er »gibt sie wieder«, er »reproduziert« sie, er »nimmt sie in sich auf«, er »wiederholt sie in sich« usf. Alle Theorien, welche die griechische und die von der griechischen abhängige Wissenschaft über die Entstehung der Vorstellungen aufgestellt hat, laufen darauf hinaus, eine Wechselwirkung zwischen dem Ding und der Seele zu statuieren und als das Produkt dieser Wechselwirkung ein Abbild des Dinges anzunehmen, welches dann den Inhalt der Empfindung oder Vor|stellung ausmache. Wenn man auf diesem Wege den Anteil festzusetzen suchte, der an dem gemeinsamen Produkt einerseits dem Subjekt, andererseits dem Objekt zukomme, so ging man doch immer von der Grundannahme aus, daß in der Vorstellung sich der Gegenstand abbilde oder abbilden solle. Der gesamte antike Skeptizismus zielt darauf hin, zu zeigen, daß diese Abbildung infolge der Trübung durch mancherlei Medien immer nur unvollkommen von statten gehen könne. Die platonische Metaphysik beruht auf der Voraussetzung, daß, wie den sinnlichen Empfindungen die Körperwelt, so auch den Vernunftbegriffen eine unkörperliche Welt als das Original
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entspreche, dessen Abbild sie sein solle. Die Erkenntnistheorie des Aristoteles involviert durchgängig die Ansicht, daß die im Begriff, im Urteil und im Schluß ausgesprochenen Denkbeziehungen Abbilder der realen Beziehungen zwischen den Gegenständen seien, deren Abbilder wiederum in den einzelnen Elementen des Denkens zu suchen seien. Hieraus ergaben sich die Probleme der theoretischen Philosophie nach Aristoteles. Daß die einzelnen Vorstellungen, die einer unmittelbaren Einwirkung der Dinge auf uns ihren Ursprung zu verdanken scheinen, deren mehr oder minder vollkommene Abbildungen seien, mochte als selbstverständlich erscheinen; wie aber die Vorstellungsverbindungen und ihre Produkte, die Urteile und Begriffe, die doch offenbar einem rein subjektiven, in der Seele sich abspielenden Prozesse entstammen, – wie diese auch noch Abbilder der Wirklichkeit sein sollten, das bildet das Thema aller der Streitigkeiten zwischen Sensualismus und Rationalismus, zwischen Nominalismus und Realismus, welche, von den Stoikern begonnen, sich durch das ganze Mittelalter hindurchziehen und erst kurz vor Kant in resultatloser Antithese endigen. Die beiden einzig konsequenten Antworten, die unter dieser Fragestellung möglich sind, stehen sich zum Schlusse scharf gegenüber: | entweder muß mit Hume angenommen werden, daß für keine dieser subjektiven Vorstellungsverbindungen behauptet werden darf, sie sei Erkenntnis in jenem Sinne einer Abbildung der Wirklichkeit, oder es muß mit Leibniz angenommen werden, daß eine »vorherbestimmte Harmonie« den notwendigen Ablauf der Vorstellungen als den Doppelgänger des gleich notwendigen Ablaufs der Wirklichkeit eingerichtet hat. Die »Wirklichkeit« auf der einen Seite, die Vorstellung auf der anderen, und diese, wenn sie Erkenntnis sein soll, das Abbild jener: das ist die Grundvoraussetzung der vorkantischen Philosophie wie der ganzen gewöhnlichen Denkweise. Ob sie es sein kann, wie sie es sein kann — das sind die Probleme der vorkantischen Erkenntnistheorie. Überall liegt, ausgesprochen oder unausgesprochen, der Auffassung von dem Verhältnis des Denkens zu seinem Inhalt ein optischer Vergleich zugrunde. Die Seele soll, wenn sie erkennt, das sein, als was sie nach Nikolaus Cusanus und Giordano Bruno
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besonders Leibniz mit einem oft zitierten Wort bezeichnet hat, ein »Spiegel der Welt«.1 Dann läßt sich, scheint es, die Vergleichung ganz hübsch weiter führen: manche Spiegel sind trübe oder fleckig, andere verzerren die Bilder, welche sie wiedergeben, wenige sind so korrekt, daß das Bild völlig dem Gegenstande entspricht. Alle diese Unterschiede scheinen sich in der Erkenntnis und den Stufen ihrer Vollkommenheit wiederzufinden. Also die Seele ein Spiegel der Welt! Es gibt vielleicht wenig Gleichnisse, welche so hinken wie dieses, und wenig Ausdrücke, welche das, was sie sagen wollen, so | schief bezeichnen. Selbst die Voraussetzung zugegeben, ist der Vergleich höchst unglücklich. Unter einem Spiegel versteht man sonst gewöhnlich einen Körper (A), dessen Oberfläche die von irgendeinem anderen Körper (B) ausgehenden Lichtstrahlen in der Weise reflektiert, daß vermöge ihrer wirklichen oder scheinbaren Wiedervereinigung sich in einem den Spiegel beobachtenden Auge (C) genau derselbe oder ein ähnlicher, nach bestimmten mathematischen Verhältnissen modifizierter Eindruck erzeugt, wie er von dem wirklichen Gegenstande B hervorgerufen wird; jede Spiegelung also involviert insofern eine Täuschung, als das Spiegelbild an einem anderen, als dem von dem wirklichen Gegenstande B eingenommenen Orte erscheint. Nichts von alledem ist in dem Verhältnis des Denkens zu seinen Gegenständen aufzufinden. Wenn das Spiegeln eine Täuschung mit sich bringt, – das Erkennen soll es gewiß nicht tun. Vor allem aber, der Prozeß des Spiegelns setzt außer dem Spiegel A und dem Gegenstande B noch einen Beobachter C voraus, welcher das durch B in A erzeugte Bild sehen soll. Niemand aber meint, daß die Dinge sich in der erkennenden Seele so abspiegeln sollen, daß ein Dritter sie darin wahrnehmen könne; sondern in diesem Falle ist der Spiegel A zugleich der Beobachter C. Ein kurioser Spiegel, diese erkennende Seele! ein Spiegel, der selber die erzeugten Bilder 1 In der Leibnizschen Metaphysik freilich hat das Wort noch einen objektiven, tieferen Sinn, von dem hier nicht die Rede ist; gewöhnlich aber denkt man bei der Erwähnung dieses Ausdrucks nur an das oben behandelte Bild.
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sieht, und der sogar manchmal – Wunder des Wunders! – den Einfall hat, sich selbst zu sehen! Die Verfehltheit des Vergleichs ist bezeichnend für die Unklarheit der Vorstellungsweise, welche durch ihn anschaulich gemacht werden soll. Wenn man gewöhnlich meint, die Wahrheit einer Vorstellung müsse darin bestehen, daß sie mit ihrem »Gegenstande« in derselben Weise übereinstimme, wie ein Spiegelbild mit seinem Original, so ist dies Gleichnis in keiner Richtung ernstlich und klar zu Ende zu denken. Zwei Sinneseindrücke, der eine durch | das Original, der andere durch die Spiegeloberfläche und ihre Reflexion des Lichts hervorgerufen, sind zwei vergleichbare Objekte, zwei Vorstellungen nämlich, welche in demselben Bewußtsein vereinigt sein und hinsichtlich der Identität ihrer Elemente und deren Verbindungsweise aufeinander bezogen werden können. Vergleichen ist eben eine Tätigkeit des beziehenden Bewußtseins und tritt nur zwischen verschiedenen Inhaltsbestimmungen desselben Bewußtseins auf. Von einer Vergleichung eines Dinges mit einer Vorstellung kann deshalb niemals die Rede sein, wenn nicht das »Ding« selbst auch eine Vorstellung ist. Was eine durch Vergleichung zu gewinnende Ähnlichkeit oder Übereinstimmung zwischen einem nicht vorgestellten Dinge und einer Vorstellung sein sollte, das kann niemand sagen oder ernstlich denken. Jene Auffassung, als ob Wahrheit Übereinstimmung der Vorstellungen mit Dingen wäre, kommt auch nur durch die gewöhnliche Ansicht zustande, als hätte man in gewissen Vorstellungen, nämlich in den sinnlichen Wahrnehmungen, die Dinge selbst. Dieser naive Sensualismus ist die Ursache eines Irrtums, dem, wie das gewöhnliche Bewußtsein, so auch die Wissenschaft bis Kant unterlegen ist. Wer sein Erinnerungsbild von einem Freunde »mit dem Freunde selbst vergleicht«, um über die Richtigkeit des ersteren zu entscheiden, der führt doch nichts anderes aus, als eine Vergleichung zwischen seiner erinnerten und der nun durch die Sinne hervorgerufenen Vorstellung. Wer nach einer Hypothese sich eine Vorstellung von den Bestimmungen eines herbeizuführenden Ereignisses gemacht hat und nun zur Verifikation der Hypothese das Resultat seiner Berechnung »mit der Sache selbst« vergleicht, der konfrontiert
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doch nun und nimmermehr seine Vorstellung mit einem Dinge, sondern zwei Vorstellungen, von denen die erste durch Nachdenken, die zweite durch Sinneswahrnehmung gewonnen war. Die Übereinstimmung, in | der man die Wahrheit sucht, findet also in der Tat nur zwischen Vorstellungen verschiedenartigen Ursprungs statt, und die Täuschung, als würden Vorstellungen mit Dingen verglichen, entsteht lediglich dadurch, daß für das gemeine Bewußtsein stets die jedesmaligen Sinneseindrücke unmittelbar als Dinge gelten. Wollte man nun aber doch, der alten Täuschung folgend, daran festhalten, es sei die Aufgabe unseres Denkens und sein Erkenntniswert bestehe darin, die absolute Wirklichkeit abzubilden, so muß durchaus zugestanden werden, daß für uns niemals eine Entscheidung darüber zustande kommen könnte, in welchem Maße diese Aufgabe erfüllt wäre. Denn da Ding und Vorstellung inkommensurabel sind, da wir niemals anderes als Vorstellungen mit Vorstellungen vergleichen können, so ist für uns auch nicht die geringste Möglichkeit vorhanden, zu entscheiden, ob irgendeine Vorstellung mit etwas anderem als wieder mit Vorstellungen übereinstimmt. Wenn dem so ist, so hat es keinen Sinn, von der Wissenschaft zu verlangen, daß sie ein Abbild der Wirklichkeit sein solle; der Begriff der Wahrheit kann nicht mehr eine Übereinstimmung der Vorstellungen mit Dingen involvieren; er reduziert sich auf die Übereinstimmung der Vorstellungen untereinander, der sekundären mit den primären, der abstrakten mit den konkreten, der hypothetischen mit den sensualen, der »Theorie« mit den »Tatsachen«. Zu diesem Resultat gelangte man vor Kant durch die Untersuchungen über den Ursprung der sinnlichen Wahrnehmungen. Die Physiologie leistete der Philosophie den wesentlichen Dienst, sie von der populären Ansicht zu befreien, als ob die Sinneswahrnehmung eo ipso das Abbild des wirklichen Gegenstandes in der vorstellenden Seele sei. Schon in der antiken Skepsis angeregt, wurden diese Gedanken von den terministischen Logikern des | Mittelalters wie Occam, und von den Skeptikern der Renaissance,
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besonders von Sanchez, vertieft, von Descartes aufgenommen und von Hobbes zu der Lehre verarbeitet, daß das gesamte sinnliche Weltbild als subjektives Gebilde zu seinem hypothetischen Originale nicht in dem Verhältnisse der Abbildlichkeit stehen könne. Später hat Locke dies im ersten Anlauf gewonnene Resultat modifiziert und die »Subjektivität« auf die sinnlichen Qualitäten beschränkt, während er für Raum- und Zeitformen darauf zurückkam, sie als Abbilder der absoluten Wirklichkeit zu betrachten. Er inaugurierte dadurch die Weltvorstellung der modernen Naturforschung, welche von ihren heutigen Vertretern nur durch ein großes Mißverständnis mit dem Namen Kants in Verbindung gesetzt zu werden pflegt. Allein die auf solchem Wege gewonnene Ansicht, daß Wahrheit nicht in der »Übereinstimmung« der Vorstellungen mit Gegenständen, sondern nur in derjenigen von Vorstellungen untereinander zu suchen sei – man ist geneigt, sie den immanenten Wahrheitsbegriff zu nennen – ist weit davon entfernt, in dem Sinne, wie es merkwürdigerweise meistens auch in philosophischen Untersuchungen angesehen wird, von metaphysischen Voraussetzungen und von der Annahme einer bestimmten Beziehung zwischen Dingen und Vorstellungen frei zu sein; sie involviert durchaus nicht, wie es auf den ersten Blick erscheint, ein rein immanentes Verhältnis der Vorstellungen untereinander. Denn daß zwei Vorstellungen verschieden sind, daß sie nicht miteinander übereinstimmen, ist an sich so wenig ein Mangel oder etwas zu Vermeidendes oder zu Verwerfendes, daß vielmehr auf der Unterscheidung der Vorstellungen der gesamte Denkprozeß beruht: die Forderung, daß zwei Vorstellungen in irgendeiner Weise miteinander übereinstimmen sollen, ist nur unter der Voraussetzung gestellt und nur in dem Falle | berechtigt, daß sie sich beide auf einen und denselben Gegenstand »beziehen«. Mag man dabei auch von jener populären Meinung absehen, sie seien beide dazu bestimmt, diesen Gegenstand abzubilden und deshalb auch einander zu gleichen, so hat doch das Verlangen der Übereinstimmung nur so lange Sinn, als sie beide auf ein gemeinsames x bezogen werden, das sie beide in der Vorstellungstätigkeit, wenn auch nicht als seine Abbilder,
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repräsentieren sollen. Ohne diese Beziehung auf eine und dieselbe Realität wüßte man ja gar nicht, welche unter den zahllosen Vorstellungen miteinander verglichen und zur Herbeiführung der immanenten Wahrheit übereinstimmend gefunden werden sollen. So mannigfach deshalb auch diese Auffassung gewendet und umgeprägt worden ist, immer wird doch die Wahrheit in einer Beziehung der Vorstellung zu einer absoluten Wirklichkeit gesucht, für welche sie das »Zeichen«, die »Repräsentation«, von der sie die notwendige und konstante Folge sein soll. An die Stelle des sinnlichen ist ein begriffliches, an die Stelle des anschaulichen ein abstraktes Verhältnis getreten; statt des »Abbildens« spricht man von Kausalität. Unsere Vorstellungen sind nicht mehr die Bilder der Dinge, sondern deren notwendige Wirkungen auf uns, und so wenig wie in anderen Fällen scheint es auch hier erforderlich, zu meinen, daß die Wirkung ein Abbild ihrer Ursache sein müsse. Diese Ansicht ist sehr plausibel. Sie bedarf jener unmöglichen Vergleichung zwischen Dingen und Vorstellungen nicht, und sie fügt sich dem Rahmen der kausalen Weltbetrachtung scheinbar leicht, einfach und abschließend ein. Zu dem System der Dinge gehört auch das vorstellende Bewußtsein, und zu den Zustandsveränderungen, welche in dem System der naturgesetzmäßigen Funktionen sich ergeben, gehört auch die Erzeugung der Vorstellungen im Bewußtsein durch die Einwirkung der anderen Dinge. | Man wird nicht fehl gehen, wenn man bei der großen Mehrzahl der Männer der heutigen Wissenschaft diese Vorstellungsweise voraussetzt. Nur soll man sie nicht kantisch nennen, denn sie ist nur eine von Kant überwundene Vorstufe seiner Kritik. Nur soll man sie nicht Erkenntnistheorie nennen, denn sie enthält eine vollständige Metaphysik als ihre Voraussetzung. Nur soll man sie nicht eine erklärende Theorie nennen, denn sie ist eine Hypothese, und zwar eine von denjenigen, die niemals verifiziert werden können. Denn wenn wir von den Dingen nichts weiter kennen als die Wirkungen, die sie auf unsere Vorstellungstätigkeit ausüben, nach welchem Wahrheitsbegriff soll denn diese Annahme selbst als wahr beurteilt werden? Wo ist die wahrnehmbare Tatsache, mit der diese Theorie übereinstimmen soll? Jene in der Hypothese
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angenommene Einwirkung der Dinge auf die Vorstellungstätigkeit kann selbst niemals wahrgenommen werden, da, der Hypothese selbst zufolge, jede Wahrnehmung nur eine Vorstellungskombination ist und niemals die Dinge selbst enthält. Oder soll etwa diese Ansicht in dem Sinne »wahr« sein, daß das darin ausgesprochene Kausalverhältnis zwischen den Dingen und unseren Vorstellungen der gedankliche Ausdruck, d. h. das Abbild des zwischen beiden realiter, in natura rerum bestehenden Verhältnisses ist? Aber dann sind wir ja wieder bei der alten Vorstellung von der Übereinstimmung zwischen Denken und Sein! In der Tat liegt jenes ursprüngliche Vorurteil auch noch dieser Hypothese heimlich zugrunde. Alle die Theorien der englischen und französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, welche dem Menschen die Fähigkeit absprechen, die »Dinge an sich« zu erkennen, vollziehen damit einen Akt der Resignation und haben deshalb einen skeptischen Anflug. Es kommt immer dabei so heraus, daß unser Wissen eigentlich ein Abbild des Universums | sein sollte, daß das aber nun einmal leider nicht der Fall sei, daß vielmehr das Höchste, was wir erreichen können, darin bestehe, den wirklichen Zusammenhang soweit im Bewußtsein zu reproduzieren, als wir unsere Vorstellungen für Wirkungen unbekannter Dinge erklären. Die Lehre von der immanenten Wahrheit ist nur ein partieller Verzicht auf die Erreichung der transzendenten Wahrheit, die dabei als Richtschnur geltend bleibt. Es war nötig, diese Umrisse der verwickelten Geschichte des Wahrheitsbegriffes anzudeuten, um die völlige Originalität von Kants Erkenntnistheorie verständlich zu machen. Denn der Springpunkt seiner kritischen Philosophie liegt, wie sich biographisch festlegen läßt, in seinen Untersuchungen darüber, »worauf die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand beruhe«: und das vollkommen Neue in seiner Behandlung dieses Problems besteht darin, daß er seiner Fragestellung nicht mehr jenen populären Gegensatz von Sein und Vorstellen zugrunde legt und deshalb für die Beantwortung weder die sinnlichen Schemata noch die Reflexionsbegriffe anwendet, unter denen bis dahin die erkenntnistheoretischen Probleme bearbeitet worden
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waren. Keines dieser Schemata und keine dieser Reflexionsformen reicht aus, um das Verhältnis von Denken und Sein in der Weise vorzustellen, daß daraus der Unterschied wahrer und falscher Vorstellungen abgeleitet werden könnte. Die geheimnisvolle »Beziehung« der Vorstellungen auf Gegenstände muß also auf ein anderes Verhältnis zurückgeführt werden, welches von jenen metaphysischen Voraussetzungen und allen den daraus entstehenden Schwierigkeiten frei ist. Dies Verhältnis findet Kant in dem Begriffe der Regel.2 Wenn nach der populären Auffassung der | »Gegenstand« das Original ist, mit welchem die für wahr geltende Vorstellung übereinstimmen muß, so ist er, bloß von der Seite der Vorstellungstätigkeit her gesehen, eine Regel, nach der sich bestimmte Vorstellungselemente anordnen sollen, damit sie in dieser Anordnung als allgemeingültig anerkannt werden. Die Elemente der Vorstellungstätigkeit, die sogenannten Empfindungen, können in jedem Individuum nach der psychologischen Notwendigkeit der Assoziation in beliebige Verbindungen und Reihenfolgen gebracht werden: von einem »gegenständlichen« Denken ist nur insofern die Rede, als sich in der unendlichen Menge von Kombinationen, die auf diese Weise möglich sind, nur gewisse Anordnungen als solche herausstellen, die gedacht werden sollen. Jedes Individuum ist imstande, die Elemente der Vorstellungstätigkeit in seiner Weise zu verbinden: aber nur Eine Anordnung derselben ist im einzelnen Fall richtig, d. h. nur eine hat den Wert, daß sie für alle Vorstellenden gelten sollte. Alles Denken, welches den Anspruch erhebt, Erkenntnis zu sein, enthält eine Vorstellungsverbindung, die nicht nur das Produkt individueller Assoziation, sondern eine Regel für alle diejenigen sein will, denen es um Wahrheit ihres Denkens zu tun ist. Was also nach der gewöhnlichen Voraussetzung ein »Gegenstand« ist, der im Denken abgebildet werden soll, das ist in voraussetzungsloser Betrachtung eine Regel der Vorstellungsverknüpfung.
2 Diese Untersuchung, die schwierigste von allen, bildet die »transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe«.
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Ob es mehr ist, – das wissen wir nicht, und das brauchen wir nicht zu wissen. Wenn diese Regel auf einer absoluten, von allem Vorstellen unabhängigen Realität beruht, in einem »Dingan-sich« begründet ist, – wenn sie einem »höheren« Vorstellen, einer »transzendentalen Apperzeption« oder einem »absoluten Ich« angehört, – wir können es niemals wissen. Uns genügt es, zu konstatieren, daß es in unseren Vorstellungsassoziationen einen Unterschied der Wahrheit und der Falschheit gibt, | welcher darauf beruht, daß nur die als wahr anzuerkennenden Vorstellungsverbindungen nach einer Regel geschehen, die für alle gelten soll. Auf den ersten Blick kann es erscheinen, als ob dieser neue, auf dem Begriff der Regel und der Allgemeingültigkeit beruhende Wahrheitsbegriff der voraussetzungsvollste von allen wäre, als ob er die metaphysische Annahme einer Vielheit von denkenden Subjekten notwendig involviere und als ob er deshalb die allgemeine Hypothese von einer dem Vorstellen entsprechenden Wirklichkeit durch eine sehr viel speziellere und bestreitbarere ersetze. In Wahrheit ist das aber nicht der Fall. Denn wenn wir die »Regel« als dasjenige bestimmen, was für alle gelten soll, so bedienen wir uns dabei eines abgeleiteten Merkmals, wodurch dasjenige, was wir meinen, unter den Verhältnissen unserer gewöhnlichen Vorstellungsweise am anschaulichsten gemacht zu werden scheint. Aber schon das individuelle Bewußtsein macht – ohne jede Rücksicht auf die anderen – in sich die Erfahrung davon, daß einige seiner Vorstellungen nach einer Regel geschehen, die sein soll, andere dagegen nur sich in ihm vollziehen, ohne den Wert der Normalität in Anspruch nehmen zu dürfen. Die Allgemeingültigkeit ist nur die für die empirische Welt der vorstellenden Subjekte gezogene Konsequenz der Normalität. Schon das einzelne Bewußtsein unterscheidet für sich allein ganz sicher zwischen dem, was nach der Regel gedacht wird, und dem, was mit ihr in keiner Beziehung steht; und erst, wenn man die Annahme einer Vielheit denkender und um der Wahrheit willen denkender Individuen hinzunimmt, erweist es sich, daß die »Regel« für alle dieselbe sein muß. Die kantische Philosophie hebt also nicht, wie man ihr nachgesagt hat, die Gegenstände auf: ihr »Idealismus« besteht keineswegs
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darin, zu behaupten, daß in der weiten Welt nichts existiere, als die Vorstellungsmassen der Indi|viduen. Aber sie behauptet, indem sie jede Metaphysik abschneidet, daß Gegenstände für uns nichts weiter sind, als bestimmte Regeln der Vorstellungsverbindung, welche wir vollziehen sollen, wenn wir wahr denken wollen. Was diese Regeln sonst sein mögen, geht uns nichts an, da wir davon nicht das geringste im Ernste vorzustellen imstande sind: Kant lehnt jede metaphysische Deutung dieser Regeln ab; seine Nachfolger haben sich darin desto üppiger ergangen, indem sie meinten, aus der schöpferischen Tätigkeit des Geistes auch die Inhalte seiner regelgebenden Funktion ableiten und damit in ihrer Notwendigkeit begreifen zu können. Gesetzt also, ich mache die Wahrnehmung, daß jetzt in einer bestimmten Entfernung von mir sich eine rote Kugel von bestimmter Größe befinde, so meint das naive Bewußtsein, die Richtigkeit dieser Wahrnehmung beruhe darauf, daß das alles in derselben Weise unabhängig von mir wirklich so sei: Kant dagegen zeigt, die »Wahrheit« dieser Behauptung bestehe darin, daß die Vorstellungen dieses Zeitpunkts, dieser Raumlage, dieser Gestalt und Größe, dieser Farbe usw. nach einer Regel verknüpft werden, welche, unabhängig von jeder individuellen Assoziation, gelten und damit für jeden Denkenden maßgebend sein soll. Man sieht, diese Auffassung ändert an den Verhältnissen der gewöhnlichen Vorstellungstätigkeit nichts; sie rektifiziert nur die Deutung, welche man ihnen unter dem Einfluß eines gewissen Vorurteils, das sich in den Reflexionsbegriffen von Sein und Vorstellen und dem sinnlichen Schema ihres Verhältnisses ausdrückte, von altersher zu geben gewohnt war. Was man, ohne es in Wahrheit denken zu können, Gegenstand nannte, ist bei Kant eine Regel der Vorstellungsverbindung. Weder für die Elemente, die dabei verbunden werden sollen, noch für die Formen dieser Verbindung hat es irgendeinen Sinn, zu fragen, ob sie Abbilder einer abso|luten Wirklichkeit sind, oder sonst in irgendeiner Beziehung zu einer solchen stehen: es handelt sich nur darum, daß in dem Gewoge der Vorstellungen gewisse Verknüpfungen sich nach einer Regel vollziehen, welche gelten, für
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alle gelten soll. In der unendlichen Mannigfaltigkeit der Vorstellungsverbindungen gibt es solche, welche einer allgemeingültigen Regel, einer Norm entsprechen. Wahrheit ist Normalität des Denkens. Jede besondere Regel aber, welche die Normalität einer einzelnen Vorstellungsverbindung und damit ihre »Gegenständlichkeit« ausmacht, erweist sich bei näherer Untersuchung als abhängig von einer allgemeineren Form der Vorstellungsverknüpfung: jene ist nur dann begründet, wenn sie eine besondere Anwendung von dieser ist. Daß zwei Empfindungen a und b als die gleichzeitigen Eigenschaften eines und desselben Dinges vorgestellt werden sollen, ist nur möglich durch die Anwendung einer allgemeinen Regel, wonach überhaupt verschiedene Vorstellungsinhalte in der Form der Substantialität und Inhärenz miteinander verknüpft werden sollen. Alle besonderen normalen Vorstellungsverknüpfungen stehen also in letzter Instanz unter einer Anzahl von allgemeinsten Regeln der Verknüpfung, welche die Voraussetzungen des normalen Denkens überhaupt bilden. Es gibt ohne diese Voraussetzungen kein Denken, welches über die Naturnotwendigkeit der Assoziation hinaus den Wert der Wahrheit in Anspruch nehmen dürfte. Alles wissenschaftliche, d. h. normale und allgemeingültige Denken beruht auf der stetigen Anwendung dieser allgemeinen Regeln: die Aufgabe der Philosophie ist es, diese höchsten Normen des nach Wahrheit trachtenden Denkens zum Bewußtsein zu bringen. Indem die Philosophie sich auf die Regeln des normalen Denkens besinnt, ist sie damit beschäftigt, die Tätigkeit zu begründen, welche die übrigen Wissenschaften an | ihren einzelnen »Gegenständen« fortwährend ausüben. Sie sucht die allgemeinen Voraussetzungen, die als normative Bestimmtheit des richtigen Denkens aller wissenschaftlichen Arbeit zugrunde liegen. Sie sucht die »Vorurteile« auf, ohne welche alle einzelnen alltäglichen Urteile des Wissens wie des szientifischen Fortschritts haltlos in der Luft schweben würden. Sie entwirft das theoretische Normalbewußtsein des Menschen und weist die Regeln nach, unter welche sich alles Denken zu beugen hat. –
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Das ist in großen Zügen der Inhalt jenes wundersamen Buches, dessen Säkularfeier wir begehen, – der Kritik der reinen Vernunft. Die Philosophie soll kein Abbild der Welt mehr sein, ihre Aufgabe ist, die Normen zum Bewußtsein zu bringen, welche allem Denken erst Wert und Geltung verleihen. Aber eben deshalb weist dieses Buch, welches nur eine Kritik der Erkenntnis sein will, über sich selbst hinaus. Die Aufgabe der Wissenschaft, zeigt es, ist nicht, die Welt abzubilden, sondern dem Spiel der Vorstellungen das normale Denken gegenüberzustellen, und seine philosophische Spitze besteht darin, die letzten, alles übrige begründenden Prinzipien des normalen Denkens zu formulieren. An die Stelle des Weltbildes, das die griechische Philosophie sucht, tritt die Selbstbesinnung, vermöge deren der Geist sein eigenes Normalgesetz sich zum Bewußtsein bringt. Und wenn die Aufgabe der Philosophie so gefaßt ist, so zeigt sich von selbst, daß sie mit der Aufstellung der Normen des erkennenden Denkens erst zum geringsten Teil gelöst ist. Denn es gibt andere Tätigkeiten des menschlichen Geistes, in denen, unabhängig von allem Wissen, sich ebenso eine Normalgesetzgebung, ein Bewußtsein davon offenbart, daß aller Wert der einzelnen Funktionen durch gewisse Regeln bedingt ist, denen die individuelle Lebensbewegung sich unterordnen soll. Neben dem normalen Denken steht das normale Wollen und das | normale Fühlen: sie haben alle drei das gleiche Recht. Nachdem Kant die Meinung abgestreift hat, daß das richtige Denken ein Abbild des Seins geben soll, verschwindet der Anspruch des Denkens, alle Wahrheit in sich zu haben und aus sich zu schöpfen, von selbst: die Besinnung auf die Normen erstreckt sich auf den ganzen Umfang des Seelenlebens. So lange man die Wahrheit als Übereinstimmung von Vorstellung und Ding betrachtete, da war sie freilich nur im Denken zu suchen: denn von solchen Übereinstimmungen ist weder im sittlichen Handeln noch im ästhetischen Fühlen etwas zu finden. Wenn man aber unter Wahrheit mit Kant die Norm des Geistes versteht, so gibt es ethische und ästhetische Wahrheit so gut wie theoretische. Darum schrieb Kant nach der Kritik der theoretischen Vernunft diejenigen der praktischen und der ästhetischen, und erst
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alle die drei großen Werke zusammen geben seine ganze Philosophie. Man darf eigentlich nicht mehr sagen: seine Weltanschauung; denn er kann, er will kein Weltbild liefern. Statt dessen gibt er uns eine den ganzen Umfang der menschlichen Lebensbetätigung umspannende Besinnung auf die Normalgesetze des Geistes. Er grenzt die Geltung der einzelnen, indem er sie subjektiv begründet, genau gegeneinander ab; er weist jedem den Wert zu, der ihm in dem Ganzen unseres Normalbewußtseins zukommt, und er zeigt, wie sie sich streitlos zu einem Systeme vereinigen, dessen letzte Spitze wir nur zu ahnen vermögen. Wenn deshalb von einer Ergänzung die Rede gewesen ist, welche Kant für die Unzulänglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis in dem ethischen und dem ästhetischen Bewußtsein gesucht habe, so darf das nicht in einer falschen Analogie zu den Versuchen aufgefaßt werden, welche die frühere Skepsis wohl gemacht hat, das Wissen durch Überzeugungen und Gefühle zu »ergänzen«. Man|mißversteht Kants ganze Absicht und man deutet seine Lehre so schief wie nur irgend möglich, wenn man meint, er habe gezeigt, daß die Wissenschaft nur von der Welt der »Erscheinungen« ein Bild gewinnen, von den Dingen an sich dagegen nichts »erkennen« könne, und daß man, um zu einer Weltanschauung zu gelangen, zu den denknotwendigen Voraussetzungen des sittlichen Bewußtseins und zu den genialen Intuitionen der Kunst greifen müsse. Die Wahrheit ist, daß Kant den Begriff der »Weltanschauung« im alten Sinne überhaupt zersetzt hat, daß für ihn ein Abbild der Wirklichkeit keinen Sinn hat, und daß er deshalb auch nichts darüber gelehrt hat, wie sich etwa in der Erzeugung dieses Weltbildes Wissen, Glauben und Anschauen einander »ergänzen« könnten. Die Wahrheit ist, daß Kant als die Aufgabe der Philosophie die Besinnung auf die »Prinzipien der Vernunft«, d. h. auf die absoluten Normen, bestimmt hat und daß diese Besinnung, weit entfernt, durch die Regeln des Denkens erschöpft zu sein, erst durch die Regeln des Wollens und des Fühlens ihren Abschluß findet. In der Besinnung auf die höchsten Wertbestimmungen sind die Normen der Wissenschaft nur ein Teil: neben ihnen gelten, selbständig und völlig unabhängig davon, die Normen des sittlichen Bewußtseins
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und des ästhetischen Gefühls. Gleich tief wie die Wurzeln unseres Denkens liegen in der Vernunft diejenigen unserer Sitte und unserer Kunst; erst aus allen dreien zusammen bildet sich – nicht ein Weltbild – sondern das normale Bewußtsein, welches mit »Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit« über den zufälligen Ablauf individueller Lebensbetätigung als deren Maß und Ziel stehen soll. So erkennt in dem größten Philosophen die Wissenschaft neben sich als die bestimmenden Mächte der höchsten Wahrheit das ethische und das ästhetische Bewußtsein an. Sie begrüßt zu hoher Verbindung das Pflichtbewußtsein | der Gesellschaft und den Genius der Kunst. Sie spricht eben damit das Gesamtbewußtsein der modernen Kultur aus, und durch die Umbildung, welche sie mit dem Begriffe der Erkenntnis selbst vornimmt, gewinnt sie die Möglichkeit, die Widersprüche zu versöhnen, die in den Grundlagen des modernen Bewußtseins enthalten waren. Das ist das neue System der Philosophie, welches Kant geschaffen, welches die Kritik der reinen Vernunft begründet hat. Die einzelnen Lehren, mit denen Kant, gerade in dem Grundwerke, diese völlig neue Aufgabe aus den Voraussetzungen des früheren Denkens herausentwickelte, lassen vielfach die Spuren ihres sehr verwickelten Ursprungs sehen. Einige davon sind schon zerbröckelt, andere werden zerbröckeln; der neue Begriffsapparat, in welchem die »Norm« oder die »Regel«, wie Kant sagte, den Mittelpunkt bilden wird, ist erst im Entstehen; von der neuen Aufgabe, die damit für die Philosophie geschaffen ist, haben nur wenige bisher eine klare Vorstellung; wie der Sinnenschein trotz der Einsicht des Kopernikus immer den Aufgang und den Untergang der Sonne lehren wird, so bleibt auch im populären Bewußtsein immer die Erkenntnis ein Bild von Dingen und ihren Verhältnissen – – für die Philosophie aber wird niemals wieder das Ideal verschwinden, daß sie bestimmt ist, das Gesamtbewußtsein von den höchsten Werten des Menschenlebens zu sein. In diesem Sinne ist die kantische Philosophie nicht nur theoretischer Idealismus als die Lehre, daß alle Erkenntnis in der normativen Gesetzmäßigkeit der Vorstellungen besteht, sondern auch praktischer Idealismus: sie ist die Lehre von den Idealen der Menschheit. In diesem Sinne hat sie auf ihre
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großen Zeitgenossen gewirkt, in diesem Sinne wird sie bestehen bleiben: – dies ist der »Geist« der kantischen Philosophie. Langsam, oft unbemerkt hat dieser Geist das euro|päische Denken durchdrungen; an manchen Stellen ist er zur vollen Erscheinung gekommen, an anderen arbeitet er mühsam gegen die alten Vorurteile, an anderen erweist er sich als die siegreiche Kraft gerade durch die Umgestaltung, welche unter ihm die ihn bekämpfenden Richtungen erfahren. Wenn man auch den wahren Sinn der durch Kant gewonnenen Umgestaltung des Denkens nicht überall verstanden hat, – seine tiefgreifenden Wirkungen liegen am Tage. Sie zeigen sich vor allem in der Gestaltung des wissenschaftlichen Lebens. Wo nach ihm, sei es in dem unbewußten Dilettantismus, der aus einzelnen Wissenschaften »philosophische« Konsequenzen zu ziehen glaubt, sei es in der Energie hochstrebenden Nachdenkens das Phantom wieder aufgetaucht ist, als ließe sich ein fertiges Weltbild, hier materialistischen dort idealistischen Kolorits, durch die wissenschaftliche Erkenntnis gewinnen, da sehen wir darin den Mißverstand alten Wissensübermutes und wundern uns nicht mehr über das Fehlschlagen von Versuchen, die auf falsche Fragen falsche Antworten geben. Das wissenschaftliche Bewußtsein der Gegenwart – dafür haben die Berufensten vollgültiges Zeugnis abgelegt – arbeitet in dem Geiste der kantischen Philosophie. In sicherer Ruhe steht es den Phantasmen des Aberglaubens, der sich unter uns von neuem als verfeinerte Form uralten Zauberwesens auszubreiten droht, – mit dem ganzen Ernst der Kritik steht es den Ausprägungen gegenüber, welche das metaphysische Bedürfnis einzelner Gruppen der menschlichen Gesellschaft in bindenden Dogmen gefunden hat: aber nun und nimmermehr meint es, die Welt in sich zu reproduzieren oder aller Weisheit Anfang und Ende aus sich allein gewinnen und bestimmen zu können. Die Wissenschaft weiß sich Herrin, unumschränkte Herrin auf ihrem Gebiet; aber sie selbst verlangt, daß die höchsten Werte des Menschenlebens nicht in ihr allein, sondern im sittlichen und ästhetischen | Bewußtsein gesucht werden. Gewiß und sicher aus ihrem Gebiete, in voller Anerkennung der anderen Werte des Normalbewußtseins, so steht sie da: der Stolz,
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der nicht möglich ist ohne die Bescheidenheit, das ist die Tugend der kantischen Philosophie. Nachdem wir sie so verstanden haben, vergleichen wir die kantische, die deutsche Philosophie noch einmal mit der griechischen. War diese denn wirklich so ganz auf die wissenschaftliche Einsicht beschränkt, wie sie es zu sein glaubte? Spielte in ihr wirklich das ethische und das ästhetische Bewußtsein gar keine Rolle? Es ist nicht schwer, auf diese Fragen die Antwort zu geben; denn es liegt auf der Hand, wie lebhaft sittliche und künstlerische Neigungen das Denken aller griechischen Philosophen beeinflußt haben. Auf dem ethisch-religiösen Ideal beruht die Schöpfung der immateriellen Welt in Platons Lehre, beruht der teleologische Grundriß der Weltbetrachtung in seinem, wie in dem aristotelischen System. Ästhetisch, wie in der kristallenen Bildung ihrer sprachlichen Form, ist die griechische Philosophie in der Harmonie der Linien ihres Weltbildes, in der maßvollen Geschlossenheit ihrer Lebensanschauung, in der schönen Abrundung ihres gesamten Vorstellungssystems. Während sie nur mit den Mitteln wissenschaftlicher Erkenntnis eine Weltanschauung zu schaffen glaubt, färbt sie diese mit dem Lebenssafte griechischer Sittlichkeit und griechischer Kunst. Unwillkürlich flicht sie in das Gewebe der Vorstellungen den Einschlag ihrer ethischen und ästhetischen Ideale hinein. Auch sie findet den Abschluß ihrer Welterkenntnis, die ihr als Weltbild im Kopfe des Menschen erscheint, nur dadurch, daß sie die Einsicht der Wissenschaft mit der Sehnsucht des sittlichen und des künstlerischen Triebes befruchtet. Aber das alles sind in ihr unbewußte Denkmotive, unwillkürliche Assoziationen, die mit wissenschaftlichen Grün|den verwechselt werden. Wenn nun jedoch Kant, mit Verzicht auf das von den Griechen gesuchte »Weltbild«, das Wissen von den Idealen gleichmäßig auf das theoretische, das ethische und das ästhetische Bewußtsein ausdehnte, wenn er die Normalität, die das Objekt der Philosophie ist, ebenso sehr in Sitte und Kunst wie im wissenschaftlichen Denken suchte, was tat er anders, als auf dem reiferen Standpunkte, im Zusammenhange seines neuen Begriffssystems dasjenige bewußt zu verlangen, was die griechische Philosophie
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unbewußt mit ihren Begriffen getan hatte? So ist also die deutsche Philosophie das fertige Bewußtsein dessen, was als unwillkürlicher Denktrieb in der griechischen Philosophie sich entfaltet hatte; jene besitzt in der Reflexion und deshalb in ganz neuer Form dasjenige, was diese unbewußt ausübte. Die Philosophien verhalten sich wie die Kultursysteme, denen sie entstammen: die kantische Philosophie steht der griechischen gegenüber wie dem Jünglinge der Mann. Der Blick der Jugend haftet schönheitstrunken an der Blüte; des Mannes Sorge hängt an der reifenden Frucht. Drum mag der fertige Sinn des Mannes Freude haben an jener Klarheit, mit der sich in der Reflexion die Gestalten des früheren Lebens darstellen: aber auch sein Blick wird mit dem Genuß der Erinnerung an der Zeit der Unbefangenheit haften, in der die Blüte selbst ihre duftige Schönheit entfaltete. Dürfen wir so den Gegensatz griechischer und deutscher Philosophie bestimmen, so liegt darin allein noch keine Beurteilung, sondern nur eine Konstatierung der Tatsache. Möglich, daß diese Reflexion das Höhere, das Wertvollere ist, – möglich auch, daß sie nur ein Zeichen des alternden Menschengeistes ist. Wir aber dürfen nicht darüber klagen, daß jene harmonische Einfachheit, jene naive Schönheit, jene unbefangene Harmonie des Denkens, mit der die griechische Philosophie erkennend in das Weltall hinaus|stürmte, uns nicht mehr möglich ist. Wir haben nicht mehr zu wählen, sondern nur zu begreifen: wir müssen uns klar darüber sein, daß jene Unbefangenheit dahin ist, und daß wir in der Reflexion den Ersatz für dasjenige haben, was den Griechen in schöner Täuschung sich darstellte. Denn fürwahr töricht wäre es, zu verlangen, daß derselbe Baum zur selben Stunde Blüte und Frucht bringen solle. |
Nach hundert Jahren (Zu Kants hundertjährigem Todestage. 1904)
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enn man auf die Bewegungen der Philosophie in den letzten Jahrzehnten zurückblickt und in der Gegenwart Umschau hält, so ist man wohl versucht, sich staunend zu fragen, ob denn wirklich schon ein Jahrhundert dahingegangen ist, seit der große Denker in Königsberg die müden Augen schloß: so unmittelbar lebendig sind uns seine Probleme und Begriffe, so unablässig arbeiten wir noch heute an der Ausspinnung der Gedanken, die er angelegt hat. Und diese historische Macht der kritischen Philosophie zeigt sich gerade darin, daß sie nicht etwa in der Gestalt eines geschlossenen Schulverbandes weiter gewirkt, sondern die ganze Breite des wissenschaftlichen Lebens befruchtend durchdrungen hat. Zahlreiche eindrucksvolle und gedankenmächtige Systeme der Philosophie sind in der direkten Weiterentwickelung aus dem Kritizismus erwachsen; aber keines von ihnen hat dauernd die Allgemeinheit und Tiefe der Wirkung auszuüben vermocht wie das kantische. Dabei erleben wir den eigenartigen Vorgang – ein leuchtendes Beispiel von den sachlichen Notwendigkeiten, die in der Geschichte der Philosophie walten –, daß, nachdem Kants Lehre ihren zweiten Siegeszug gehalten hat, abermals aus ihr kräftige Triebe hervorzubrechen beginnen, die jenen der ersten Entwickelung verwandt und ähnlich sind. So stehen wir heute, nach hundert Jahren, wiederum vor der Frage: was soll aus dem Kritizismus|werden? Ein unvergleichlicher Reichtum von bedeutsamen Prinzipien ist in Kants Denken vereinigt, ohne seine völlige und entschiedene Ausgleichung gefunden zu haben: je energischer sich die neue Entwickelung darin vertieft hat, um so unabweisbarer ist auch für sie die Forderung geworden, zu dem Ganzen neu Stellung zu nehmen. Wiederum stehen wir vor der Frage: wie müssen wir Kant recht verstehen, um über ihn hinauszugehen?
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Der Durchbruch dieser Einsicht, den wir gegenwärtig feststellen können, hängt mit allgemeinen Wandlungen des wissenschaftlichen Geistes zusammen, die sich auch in dem Wechsel der Auffassung des Kritizismus gespiegelt haben. Der neue Aufschwung der kantischen Lehre, der um das Jahr 1860 herum begann, fiel in die Zeit des Tiefstands der philosophischen Interessen, der fast leidenschaftlichen Ablehnung metaphysischer Fragen und der Beschränkung auf die Arbeiten der Spezialwissenschaften. Aus dieser Stimmung heraus ergriff man begierig, namentlich von seiten der Naturforscher, eine philosophische Lehre, welche die Unerkennbarkeit der Dinge-an-sich festzulegen und zugleich das Recht einer mathematischen Theorie der Erfahrungswelt zu begründen versprach. So wirkte Kant zunächst, gerade wie bei seinen Lebzeiten, wieder mit den negativen Ergebnissen seiner Erkenntnislehre. Damals war es eine Kontrastwirkung gewesen gegen die Alleswisserei des Rationalismus und des Popularphilosophentums, die der Alles Zermalmende ein für allemal abtat: jetzt war es eine Erscheinung der Sympathie, mit der man sich an der philosophischen Rechtfertigung des eigenen Empirismus freuen zu dürfen glaubte. Dieser Sachlage entsprach es, daß die ersten Auffassungen und Umwandlungen, die der »Neukantianismus« erfuhr, den »Antimetaphysizismus« besonders betonten und sich selbst zum Teil relativistischen und positivistischen Neigungen zuwandten. | Allein diese »agnostische« Stimmung hielt nicht stand. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wuchs auch in den besonderen Wissenschaften wieder das Bewußtsein von der Aufgabe und dem Bedürfnis, die Fülle des tatsächlichen Materials und die Formen seines wissenschaftlichen Zusammenhanges in letzter Instanz unter allgemeinere Gesichtspunkte zu ordnen, und unter der Einwirkung so bedeutsamer Prinzipien wie der Erhaltung der Energie oder der Entwickelung mehrten sich die Versuche, das Ganze der gewonnenen Einsichten wieder in großen Linien zusammenzuschauen. Je kräftiger dabei die erneuerte Erkenntnistheorie des Kritizismus behilflich gewesen war, den Materialismus zu überwinden, der halb bewußt, halb unbewußt die naive Grundmeinung während jener Ebbe des philosophischen Denkens ausgemacht hatte, um so mehr
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erstarkten im Gegensatz dazu alle Denkmotive, welche auf die Erfassung eines geistigen Lebensgrundes der Dinge, im Gedanken, in der Phantasie, im Willen gerichtet sind. Mit diesen Wandlungen aber vereinigten sich heftigere Strömungen in weiteren Kreisen. Durch gewaltige Geschicke und mächtige Umwälzungen des öffentlichen Lebens im Tiefsten aufgeregt, von fieberhaftem Bedürfnis nach neuer Selbstgestaltung ergriffen, verlangte die Volksseele nach dem bestimmten und bestimmenden Ausdruck dessen, was sie bewegt: in Kunst und Literatur hastet und tastet sie nach dem Ungewöhnlichsten, um sich daran und darin zu formen, und in der Bedrängnis ihrer sozialen und religiösen Erregungen erheischt sie gebieterisch von der Philosophie das, ohne das noch keine Zeit zu schöpferischer Gestaltung gelangt ist: eine Weltanschauung. So haben wir es erfahren, wie am Ende des neunzehnten Jahrhunderts Wissenschaft und Leben den »Mut der Wahrheit« wiedergefunden haben, den Hegel an seinem Anfange verlangt und den es verloren hatte. Diese Entwickelung hat der »Neukantianismus« mit|gemacht: ihr gemäß sind in der Auffassung und Darstellung, wie in der selbständigen Weiterbildung der kantischen Lehre Schritt für Schritt mehr die positiven Elemente zur Geltung gekommen, und das allgemeine Interesse am Kritizismus geht heute, wie vor hundert Jahren, wieder auf die Frage, ob er uns in seinem Grundriß und in seiner Ausführung als philosophische Weltanschauung genügen kann, ob er die Tragkraft und die Erweiterungsfähigkeit besitzt, um den Reichtum des neuen Lebens in sich aufzunehmen und sich einzugliedern. Daß diese positiven Momente und ihre Zusammenfassung zu einer Weltanschauung bei Kant vorhanden sind, steht außer Frage. Die geschichtliche Wucht seiner Erscheinung wäre ohne dies unbegreiflich. Und seine ersten großen »metaphysischen« Nachfolger, die ganze Generation von Fichte bis zu Herbart und Schopenhauer, haben diese Momente sich nicht entgehen lassen: sie haben daraus die Bausteine gemacht, mit denen sie die kühnen Gebäude ihrer metaphysischen Systeme aufrichteten; jedes darunter hat seine Grundlage in der Weltanschauung des »kritischen« Philosophen.
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Darum ist der Streit, ob Kant ein Metaphysiker war, ein Wortstreit gewesen. Es ist offenkundig, daß Kant das, was er Wissenschaft nannte, mit zwingenden Gründen als unfähig zur Überschreitung der Grenzen der Erfahrung, zur Erkenntnis der Dingean-sich, zum Aufbau einer Metaphysik im Sinne der »Wissenschaft vom Übersinnlichen« erwiesen hat. Aber es ist ebenso offenkundig, daß er von der Realität der »intelligiblen Welt« unerschütterlich überzeugt war, und daß er von ihrem Inhalt und Leben, wie von ihren Beziehungen zur Erscheinungswelt sehr bestimmte und wohldurchdachte Vorstellungen hatte. Der ganze Bestand seiner philosophischen Lebensarbeit enthält eine streng geschlossene und völlig ausgebildete Weltanschauung: und sie liegt nicht etwa nur | keimartig zugrunde oder andeutungsweise im Hintergrunde, sondern offen ausgesprochen zutage. Wer das gewaltigste seiner Werke, die Kritik der Urteilskraft, begriffen hat, kann darüber nicht im Zweifel sein, ebensowenig aber auch über die Bedeutung, die der Philosoph dafür in Anspruch nimmt. Diese Weltanschauung gilt ihm nicht als eine bloß persönliche Meinung, sie ist nicht seine Privatmetaphysik, die ebenso wie vielleicht andere neben der Erfahrungswissenschaft nur so herlaufen wollte oder dürfte, – sondern er verlangt für sie die »notwendige und allgemeine Geltung« in nicht geringerem Maße als für die mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis der Erscheinungen. Die Postulate der praktischen Vernunft beziehen sich auf ihre intelligiblen »Gegenstände« gerade so notwendig wie die Anschauungen und die Kategorien auf die Sinnenwelt, und die heuristischen Prinzipien der teleologischen Urteilskraft erfassen das Ganze der Natur und des Lebens gerade so allgemeingültig, wie die »Grundsätze« auf die Erfahrung angewendet werden. Die Aufdeckung ihrer transzendentalen Geltung gehört zu den Aufgaben der kritischen Philosophie mindestens in demselben Grade wie die Untersuchung über die Bedingungen der Erfahrung. Was man in den Anfängen des Neukantianismus vielfach nach schopenhauerschem Rezept als Beiwerk angesehen hat, erweist sich als integrierender, vielleicht als der inhaltlich bedeutsamere Teil der kritischen Philosophie, die eben deshalb der systematischen Gliederung und des architektoni-
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schen Aufbaues, den ihr Kant gegeben hat und geben mußte, auch in ihrer weiteren Entwickelung nicht entraten kann. Nur so bleibt die Einheit und die gegenseitige Ergänzung der negativen und der positiven Ergebnisse gewahrt, welche das eigenartige Wesen des Kritizismus ausmacht. Denn eben darin besteht dessen Größe und Originalität, daß Kant uns gelehrt hat, Gründe und Inhalte | der Weltanschauung, welche die Philosophie bieten soll, nicht bloß in der wissenschaftlichen Theorie, sondern im gesamten Umfange des Vernunftlebens zu suchen. Der Einschlag, den früher die »Metaphysiker« aus naiven Antrieben des ethischen, ästhetischen oder religiösen Bewußtseins in das wissenschaftliche Begriffsgewebe eingewirkt haben, um ihre philosophische Gesamtanschauung zu gestalten, wird von Kant mit vollem kritischen Bewußtsein in seiner Unentbehrlichkeit erkannt, in seiner Begründung gerechtfertigt, in seinen Anforderungen geregelt: eben damit aber wird das Maß der Ansprüche beschränkt, welche die wissenschaftliche Theorie für sich allein im Rahmen der philosophischen Weltanschauung zu erheben befugt ist. Das ist im letzten Grunde das Wesen der Epoche, welche Kant in der Geschichte des menschlichen Denkens gemacht hat: und darin besteht die aktuelle Bedeutung seiner Lehre für ein Zeitalter, das, wie das gegenwärtige, wieder einmal die Urrechte der Gefühle und der Triebe in der Gestaltung seines gesamten Lebens und damit auch seiner intellektuellen Überzeugungen anerkannt sehen möchte. Diese Bedeutung steht um so höher, als für den leidenschaftlichen Überschwang und die naturalistische Ungezügeltheit solcher Bestrebungen, wie sie sich ja sattsam in der popularphilosophischen Literatur unserer Tage breit machen, kein besseres Heilmittel ist als die kritische Philosophie selber. Denn die Bedeutsamkeit ethischer und ästhetischer Bedürfnisse für die philosophische Weltanschauung erkennt Kant nun und nimmermehr in ihrer unmittelbaren, einzelnen, historisch bedingten individuellen Erscheinungsweise, sondern nur in der Gestalt an, welche sie für die Vernunft, d. h. in allgemeingültiger und notwendiger Weise besitzen. Die Elemente der »Metaphysik«, wie er sie verlangt, sind
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sehr verschieden, aber gemeinsam ist ihnen allen die notwendige und allgemeine Geltung für die »Vernunft«, für das »Bewußtsein überhaupt«. | Allein eben deshalb sind in der kritischen Philosophie die Gründe der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit in den verschiedenen Bereichen des Wirklichen verschieden: für die Metaphysik der Erscheinungen liegen sie im Wissen, für die Metaphysik des Übersinnlichen und seiner Beziehungen zur Erfahrungswelt liegen sie im »vernunftnotwendigen« Glauben und im vernunftnotwendigen »Betrachten«. Nicht jedes Glauben oder jedes Betrachten hat dies metaphysische Recht, sondern nur das notwendige und allgemeingültige, das vernünftige. Dies aber, das allein berechtigte, aus der Fülle der individuellen und historischen Ansprüche herauszuschälen, bleibt auch bei Kant die Sache der Philosophie, der »wissenschaftlichen« Klärung: – ja, es ist ihre vornehmste Aufgabe. Damit stehen wir an dem Punkte, wo die von Kant gegebene Form des Kritizismus über sich selbst hinausweist. Das »Wissen«, das er forträumen mußte, um dem Glauben Platz zu machen, die »Wissenschaft«, deren Anrecht an die Metaphysik in der Kritik der reinen Vernunft gewogen und zu leicht gefunden wird, – sie umspannen nicht den ganzen Umfang der theoretischen Erkenntnisarbeit. Kants Begriff der »Wissenschaft« ist – historisch sehr begreiflich – eingeengt auf den methodischen Charakter der theoretischen Naturforschung, bestimmt durch das newtonsche Prinzip. Das kommt am deutlichsten und schroffsten bekanntlich in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« zutage, wo es heißt, daß »in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist«, und wo deshalb Chemie und Psychologie von der »eigentlichen« Wissenschaft ausgeschlossen werden. Aber auf denselben Begriff der »Wissenschaft« sind die Kritik und die Prolegomena gestimmt: es ist lediglich der der Gesetzeswissenschaft. Heutzutage ist dieser Begriff der Wissenschaft zu eng. | Auf die Chemie fände Kant ihn jetzt vielleicht anwendbar, auf die Psychologie – trotz aller psychophysischen Gesetze – im ganzen
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wohl kaum: und doch zählen wir auch sie zu den eigentlichen Wissenschaften. In noch ganz anderem Sinne aber gilt das von den historischen Disziplinen, die von Kant erst recht aus der Sphäre der Wissenschaft ausgeschlossen werden. Wir können ihm daraus keinen Vorwurf machen: denn bis zu seiner Zeit gab es in der Tat wesentlich nur eine Kunst der Geschichtsschreibung und große Künstler darin; aber die Geschichte zählte eben zu den belles lettres, sie war noch keine Wissenschaft. Dazu ist sie erst nach Kant geworden. Es gehört zu den eigentümlichsten Erscheinungen im geistigen Leben des neunzehnten Jahrhunderts, daß neben der imposanten, namentlich nach außen eindrucksvollen Entfaltung der Naturwissenschaft als ein stillerer, aber stetiger und zielsicherer Vorgang die Erhebung der Historie »zum Range einer Wissenschaft« einhergegangen ist. Wir haben jetzt die Geschichte als Wissenschaft, die Kant noch nicht gekannt hat. Und das ist nicht etwa daher gekommen, daß ein paar universalistische Methodologen und ein paar theoretisierende Historiker – niemals die großen – gelegentlich das Verlangen gestellt haben, auch auf geschichtliche Vorgänge das Prinzip induktiver Aufsuchung von »Gesetzen« anzuwenden. Nein, diese Szientifikation der Historie verdanken wir einzig und allein dem kritischen Geiste, der sich von der phantasievollen Betrachtung der Vergangenheit her allmählich und mühsam zu streng methodischer Forschung erzogen und die dazu erforderlichen Verfahrungsweisen und Hilfsmittel mit vorsichtiger Anpassung an die eigenartige Natur der Gegenstände bis in das Einzelne hinein systematisch ausgebildet hat. Das schließt nicht aus, daß in den abschließenden Gesamtdarstellungen des wissenschaftlich Erworbenen und Gesicherten die künstlerische Genialität des großen Forschers | ihr Recht behält: gilt doch dasselbe auch für die überschauenden Leistungen des großen Naturforschers und für den Abschluß alles Wissens in dem Sinne, wie es Schiller in den »Künstlern« als höchstes Ziel geschildert hat. Diese große neue Tatsache der Existenz einer historischen Wissenschaft verlangt nun von der kritischen Philosophie in erster Linie eine Erweiterung des kantischen Begriffs vom Wissen: die Historie fordert neben der Naturforschung ihr Recht in der theo-
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retischen Lehre. Auch ihr Wesen und ihr Erkenntniswert will, ihrer wirklichen Arbeit gemäß, verstanden und beurteilt werden. Damit verschieben sich Inhalt und Form der Wissenschaftslehre um ein beträchtliches gegenüber der Behandlung, die sie von Kant erfahren hat und unter den Voraussetzungen seiner Zeit erfahren mußte. In der reinen Logik und in der Methodologie kann man schon seit langem, seit Lotze und Sigwart, die prinzipielle Berücksichtigung der Formen und Aufgaben des historischen Denkens neben dem naturwissenschaftlichen beobachten: in der Erkenntnistheorie ringt das gleiche Bestreben mit steigendem Erfolge nach Anerkennung. Dabei aber stoßen wir von neuem, wenn auch in veränderten Begriffsformen, auf denselben Gegensatz, den Kant für die philosophische Weltanschauung in seiner Weise zwischen dem Wissen einerseits und dem vernunftnotwendigen Glauben und Betrachten andererseits gemacht hat. Wir finden die eine Art des wissenschaftlichen Denkens, die der Naturforschung, durchgängig und wesentlich durch das Bedürfnis bestimmt, aus den Tatsachen der Erfahrung dasjenige herauszuheben, was im Sein und Geschehen sich immer gleich bleibt: an der logischen Funktion des Gattungsbegriffs entwickelt sich die Forschung nach dem, was im Wechsel der Tatsachen beharrt einerseits als bleibendes Sein, andererseits als stetige Reihenfolge der Ereignisse – nach den Substanzen und | den Gesetzen ihrer Tätigkeit. Das »Herauspräparieren« dieser Ordnung aus dem Gewirr der Eindrücke gilt mit Recht als bewunderungswürdige Leistung des wissenschaftlichen Intellekts: aber eben damit ist schon gesagt, daß das so gewonnene Bild des Wirklichen nur einen Ausschnitt aus der »unübersehbaren Mannigfaltigkeit« des Tatsächlichen bedeuten kann. Wenn dies Bild auch – um die Terminologie von Heinrich Hertz anzuwenden – so adäquat wie möglich ist, so gibt es doch gerade dann nur diejenigen Momente der Wirklichkeit wieder, welche sich zu der Subsumtion unter die Gattungsbegriffe des Seins und des Geschehens eignen. Die lebendige Wirklichkeit des einzelnen geht in diese allgemeinen Begriffe nicht ein: sie lassen sich darauf anwenden, aber sie erschöpfen sie nicht. Die so gewonnene »Erkenntnis« ist also nach
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der Auswahl, die unter den Tatsachen getroffen wird, und nach der Beziehung, die zwischen ihnen gesucht wird, eine Konstruktion der Vernunft, die ihre eigene logische (und mathematische) Gesetzmäßigkeit in den Tatsachen entdeckt und daraus herauspräpariert hat. Die »Natur« als Objekt der Wissenschaft ist ein Kosmos, dessen Zusammenhang wir nur aus den Formen unserer Vernunft in Anschauungen und Begriffen vorzustellen vermögen: – genau wie es Kant gelehrt hat. Aber ganz dasselbe gilt auch für die Geschichte – mutatis mutandis. Auch der Historiker geht nicht darauf aus, das einzelne zeitliche Sein und Geschehen in seiner ganzen individuellen Mannigfaltigkeit zu beschreiben; er denkt um so weniger daran, als er das gar nicht auszuführen vermöchte. Auch er trifft vielmehr aus der unendlichen Masse des geschichtlich Gegebenen eine Auswahl, welche keineswegs nur durch das Schicksal der Überlieferung, sondern vielmehr wesentlich durch das Interesse bestimmt ist, das die einzelnen Momente der Vergangenheit zu erwecken geeignet sind. Unsäglich vieles | »geschieht«, was niemals zur »Geschichte« gehören wird. Das Interesse aber, das die Überlieferung wie die Auswahl des Historikers leitet, hängt in diesem Falle an den Wertbestimmungen des Menschenlebens; nur das ist historische Tatsache, was irgendwie für die Erinnerung der Gattung, für ihre wertbestimmte Selbsterkenntnis bedeutsam werden kann. Ebenso aber sind die Beziehungen, in die der Historiker die Tatsachen zu bringen hat, wesentlich durch dasselbe Interesse bestimmt: er sucht nicht Gattungsbegriffe, sondern Gestalten und Gestaltenkomplexe, die durch solche Wertbeziehungen bedingt sind. Nur als Mittel im Verständnis solcher Zusammenhänge benutzt auch die historische Forschung das Wissen von generellen Verhältnissen, das sie zum Teil den Gesetzeswissenschaften entlehnen kann, zum andern Teil aber selbst erst zu diesen Zwecken gewinnen muß. Auch die »Geschichte« also als Objekt der Wissenschaft ist ein geordneter Zusammenhang, den wir uns auf dem Grundriß allgemeingültiger und notwendiger Vernunftinteressen aus dem Gegebenen herauszupräparieren vermögen: denn nur dadurch unterscheidet sich dabei die Wissenschaft von der individuellen
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Erzählung, daß sie an Stelle der persönlichen Interessen des einzelnen die allgemein und notwendig geltenden Werte zum Prinzip der Auswahl und der Beziehung zwischen den Tatsachen macht. Diese Erweiterung der erkenntnistheoretischen Untersuchung von den naturwissenschaftlichen auf die historischen Disziplinen, wie sie am besten von Rickert entwickelt und formuliert worden ist, führt nun unmittelbar darauf, für das »systematische Geschäft« der kritischen Philosophie die Allgemeinheit und Notwendigkeit der Werte, denen die Geschichte den Charakter als Wissenschaft verdankt, als das vollkommen ebenbürtige und parallele Problem zu der Apriorität der intellektuellen Formen erscheinen zu lassen, auf denen sich die Natur|wissenschaft aufbaut. Die »Kritik der historischen Vernunft« leitet mit sachlicher Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit zu den Aufgaben der Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie hinüber: sie leistet als Bindeglied dasselbe, was Kant durch die Konstruktion der transzendentalen Dialektik und durch die Beziehungen zwischen Ideen und Postulaten erreichen wollte. Sie zeigt aber dabei, daß nicht nur für eine sogenannte Metaphysik des Übersinnlichen, sondern schon für die unerläßliche Grundlage der historischen Wissenschaften die notwendige und allgemeine Geltung der Werte erforderlich ist. Daher wird die Begründung dessen, was Kant den vernunftnotwendigen Glauben der praktischen Vernunft und die vernunftnotwendige Betrachtung der reflektierenden Urteilskraft genannt hat, d. h. die philosophische Theorie der Werte zum Mittelpunkt der Aufgaben, die der Fortentwickelung und systematischen Ausbildung des Kritizismus aus der gegenwärtigen Lage der Wissenschaften ebenso wie aus den allgemeinen Zuständen des geistigen Lebens erwachsen. Denn gerade in letzterer Hinsicht hat sich aus leidenschaftlichen Impulsen, aus Gefühlen des Kraftüberschusses und der Expansionsbedürftigkeit, wie aus den unausbleiblichen Kontraststimmungen dekadenter Impotenz in dem allgemeinen Bewußtsein unserer Tage ein Individualismus und Relativismus entwickelt, der, nachdem er sich eine Zeitlang ausgetobt, bereits nach seiner Erlösung von sich selbst zu seufzen und zu drängen begonnen hat.
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Solche Strömungen verdienen um so mehr Beachtung, als sie in gewissem Maße gegenüber den formalen Bestimmungen der kritischen Moralphilosophie im Rechte sind. Diese Bestimmungen sind eben in der Tat rein formal. Alle Werte, die Kants Ethik anerkennt, hängen an der Übereinstimmung des Besonderen mit allgemeinen Normen. In genauem Parallelismus zu dem Aprioris|mus seiner Erkenntniskritik gesteht Kant auch im Felde der Sittlichkeit die allgemeine und notwendige Geltung nur dem Generellen zu: dem Sittengesetz als einer Maxime, die als Naturgesetz gewollt werden kann. Und aus diesem Prinzip, das keinen andern Inhalt mehr haben soll als die Gesetzmäßigkeit selbst, ist geflissentlich jede sachliche Bestimmung ausgeschlossen. Auch die Persönlichkeit, auf deren Autonomie so starkes Gewicht gelegt wird, empfängt ihre »Würde« nur von ihrer selbstgewollten Identifikation mit dem Vernunftgesetz, ihren Wert nur von der durch sie vollzogenen Verwirklichung des allgemeinen Pflichtgebots: ihre »Freiheit« besteht, dem positiven Begriffe nach, nur in der Fähigkeit, sich durch nichts anderes als durch das Gesetz bestimmen zu lassen. Diese Maximenmoral Kants ist schon in der ersten Zeit einem ästhetisch bewegten und stürmisch aufgeregten Geschlecht unbequem gewesen und unzulänglich erschienen: Jacobi, die Romantiker, auch Fichte haben diese Fesseln der Gesetzmäßigkeit zu sprengen gesucht, und Schiller ist, so nahe er dem Prinzip der Pflichtmäßigkeit bleiben wollte, doch dem Zauber der Unmittelbarkeit in der »sittlichen Natur« des Individuums nachgegangen. Allein alle diese Versuche, die generellen Wertformen, auf die Kant die allgemeingültigen Gründe des moralischen Urteils ausschließlich zurückzuführen für nötig befunden hatte, durch den Hinweis auf den gesicherten Bestand individueller Werterscheinungen zu ergänzen, – sie blieben entweder im Halben hangen oder sie stellten die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Wertbewußtseins in Frage. Erst in dem großen Sinne, womit Schleiermacher die Ethik lehrte, den ganzen Umfang des historischen Lebens zu umspannen und begrifflich zu bemeistern, fand sie auf diesem unermeßlich erweiterten Arbeitsfelde auch das Verständnis der lebendigen Inhalte, welche als einmalige, individuelle
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Verknüpfungspunkte der generellen | Norm-Beziehungen neben diesen selbst in ihrer Eigenart den Gegenstand allgemeiner und notwendiger Wertung ausmachen. In dieser Richtung allein kann die wesenhafte Entwickelung der kritischen Ethik gesucht werden: nur im unmittelbaren und methodischen Zusammenhange mit der Geschichtsphilosophie kann sie daran arbeiten, das formale Gerippe genereller Maximen mit dem Fleisch und Blut lebendiger Wertinhalte zu umkleiden. So vermag sie auch den gesättigten Reichtum der hegelschen Lehre vom objektiven Geiste in sich aufzunehmen und die Verwirklichung der »Ideale« als das Wesen alles historischen Geschehens zu verstehen. Eben dadurch wird sie zu einer Philosophie der Gesellschaft, zu einer kritischen Theorie des Gattungslebens: denn der Eigenwert der individuellen Gebilde der Geschichte besteht in ihrer eigenartigen, nur an ihnen in dieser Weise möglichen Beziehung zum Ganzen, zu der durch die Jahrtausende hin auseinandergelegten Entfaltung der Humanität. Darauf allein beruht die allgemeine und notwendige Geltung ihres Wertes. Sie zum Bewußtsein zu bringen und den Rechtsgrund der historischen Wissenschaft darin bloßzulegen, ist die wesentliche Aufgabe der Ethik als allgemeiner kritischer Werttheorie und zugleich der unentbehrliche Ertrag, den sie für die philosophische Weltanschauung zu liefern berufen ist. Denn nichts anderes kann doch schließlich die Aufgabe der philosophischen Weltanschauungslehre – sagen wir doch ruhig der Metaphysik – sein, als uns darüber zu verständigen, welches Recht wir haben, dem objektiven Weltbilde, das uns die Wissenschaften als das notwendige und allgemeingültige Denken der Menschheit darbieten, die Kraft zur Erfassung der Realität, der absoluten Wirklichkeit zuzutrauen. Das ist die Frage der Erkenntnistheorie und – der »Metaphysik«. Denn von dem Verhältnis des objektiven Denkens zum Realen kann man | nicht reden, ohne vom Realen zu reden – selbst wenn man es das unerkennbare Ding-an-sich nennt. Die »Metaphysik des Wissens« – so hat Kant mit Hume die kritische Philosophie genannt – ist auch eine Metaphysik der Dinge. Aber freilich keine solche, welche aus ontologischen Prinzipien ein eigenes Begriffssystem in der »freien Luft der Einbildungs-
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kraft« ausführt, sondern eine solche, welche aus den Argumenten der Sonderwissenschaften, die sie in ihrem Bestande als objektives, allgemein und notwendig geltendes Denken unangetastet und unerschüttert bestehen läßt, die kritische Frage entscheidet, in welchem Sinne sie selbst eine »Erkenntnis der Wirklichkeit« zu sein beanspruchen dürfen. Das ist das Fundament, welches Kants Kritiken ein für allemal für alle weitere Philosophie, für »eine jede künftige Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«, in unverrückbarer Sicherheit gelegt haben. In diesem Sinne steht die kritische Philosophie, wenn es sich um die letzten Fragen handelt, vor dem großen Gegensatze der Gesetzeswissenschaften und der Wertwissenschaften, – der Naturforschung und der Historie. Jede von ihnen enthält in der Auswahl und in den Beziehungen der Tatsachen ein Produkt des objektiven Denkens, das in seiner gesamten Struktur durch die verschiedenen Zwecke dieses allgemeingültigen und notwendigen Denkens bestimmt ist: auf der einen Seite eine Ordnung von Gattungsbegriffen, auf der andern ein System von Werten. Jeder einzelne Bestandteil unseres Erfahrungsmaterials kann unter jede der beiden wissenschaftlichen Bearbeitungsweisen fallen, und ein großer Teil der besonderen Disziplinen wendet sie in einer Verbindung an, über die man sich durchaus nicht immer und überall prinzipiell klar ist und bei der einzelnen praktischen Forschungsarbeit auch nicht klar zu sein braucht. Diese Verhältnisse festzustellen ist Sache der Methodologie, deren Geschäft ja | kein anderes ist und sein kann, als die Wissenschaften über den logischen Sinn und Wert dessen zu verständigen, was sie in unmittelbarer Bewältigung ihrer Aufgaben eigentlich tun. Aber wenn so die beiden Grundformen der Auswahl und Beziehung von Tatsachen, am Einzelnen angewendet, sehr verschiedene und scheinbar weit auseinanderliegende Systeme der Erkenntnis des Wirklichen ergeben, so erwächst für die Philosophie eben damit durch die Anwendung derselben Dualität der Behandlungsweisen auf das Ganze die höchste ihrer Fragen: wie verhält sich das Reich der Gesetze zu dem Reich der Werte? Das ist, wie man sieht, genau das Problem der Kritik der Urteilskraft, das in den kantischen Formeln auf die Vereinbarkeit
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von Natur und Zweckmäßigkeit, von Notwendigkeit und Freiheit hinauslief. Unter den Denkern des neunzehnten Jahrhunderts hat dies Problem keiner so klar gesehen und so deutlich formuliert wie Lotze: seine ganze Lehre des »teleologischen Idealismus« läuft – genau wiederum im Sinne der Kritik der Urteilskraft – darauf hinaus, in der Gesamtheit der Gesetze das System der Formen zu sehen, durch welche sich eine inhaltliche Welt der Werte verwirklicht. Das beruht – wiederum wie in Kants »Metaphysik« – auf der tiefen Einsicht, daß aus den allgemeinen Formen des Geschehens, den ewig sich gleich bleibenden Gesetzen, niemals der lebendige Inhalt herstammen oder begriffen werden kann, den unser Wertbewußtsein in der Wirklichkeit sucht – und findet. Aber der übergreifende Begriff, der in dieser Weise das Reich der Gesetze mit dem der Werte verbindet, ist der der Verwirklichung, die höchste Kategorie der Weltbetrachtung ist das Verhältnis des Mittels zum Zweck: es ist das Prinzip der Entwickelung. Seine beherrschende Stellung tritt in der Kritik der Urteilskraft deutlich genug hervor: es ist das heuristische Prinzip für die vernunft|notwendige Betrachtung des »Lebens«: es ist der leitende Gedanke in jenen gewaltigen Paragraphen am Ende des Werkes, wo alle Linien der kantischen Philosophie zusammenlaufen, wo der zweckvolle Zusammenhang der Natur als der gesetzmäßigen Ordnung der Erfahrungsinhalte und der wertbestimmte Ablauf der ganzen Menschengeschichte miteinander als die fortschreitende Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden »vernunftnotwendig« betrachtet werden. An dieser Stelle setzt mit Schelling in erster Linie Hegels Gedankenarbeit in der Weiterbildung des Kritizismus ein: hier gelangt der historische Charakter der neuen Weltanschauung zum entscheidenden Durchbruch. Damit freilich kommt der kantischen Erkenntnislehre gegenüber eins der schwierigsten Probleme zum Vorschein, das hier nur angedeutet werden mag. Wenn die Entwicklung als das reale Wesen des Lebens und des Universums vernunftnotwendig betrachtet werden soll, – wie ist damit die Phänomenalität der Zeit vereinbar? Wenn die Werte in der Verwirklichung begriffen, nur in ihr zu verstehen sind, so muß das Gesche-
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hen, das ohne Zeit nicht denkbar ist, eine wesentliche Bestimmung des Wirklichen selber sein, so darf es nicht bloß als Form der Anschauung gelten. So stellt die Lehre von der Entwicklung – das ließe sich auch an Kants Ethik und Religionsphilosophie aufweisen – die parallele Behandlung von Raum und Zeit, wie sie die transzendentale Ästhetik eingeführt hat, unausweichlich in Frage. Die Bedeutung des Prinzips der Entwicklung für die moderne Naturwissenschaft ist allgemein bekannt: weniger verbreitet und anerkannt ist die Einsicht, daß es ein Wertprinzip ist. Und doch ist das kaum deutlicher zu machen, als es schon Kant in der Kritik der Urteilskraft eben da getan hat, wo er die bedeutsamsten Anwendungen dieses Prinzips auf die Gesamtauffassung des organischen | Lebens und seines geschichtlichen Zusammenhanges voraussehend in großen Linien gezeichnet hat. Wer sich darüber keine Gedanken macht, der mag wohl naiv von höheren und niederen Formen, von der Herausbildung der ersteren aus den letzteren, von normalen und abnormen Bildungen usw. reden: wollte er sich darauf besinnen, nach welchen Kriterien und mit welchem Rechte er solche ihm geläufigen Unterscheidungen anwendet, so würde er auf die Wertbestimmungen stoßen, deren er beim Verständnis des Lebens nun und nimmermehr entraten kann. Gerade da, wo man gemeint hat, nun endlich das Wunder aus der Welt des Mechanismus verjagt zu haben, dem Geheimnis der Zweckmäßigkeit auf der Spur zu sein, – gerade da hat man dem Gast aus der Welt der Werte das Bürgerrecht im Reiche der Gesetzeswissenschaften gegeben. In der fruchtbaren Anwendung dieses Prinzips auf die Erkenntnis der Körperwelt besteht offenbar der wesentliche Beitrag, den die Naturforschung des neunzehnten Jahrhunderts für die philosophische Weltanschauung geliefert hat. Mit der Formulierung des Prinzips von der Erhaltung der Energie hat sie fast gleichzeitig die allgemein und notwendig gültige Grundvoraussetzung aller Gesetzeswissenschaft auf den glücklichsten Ausdruck gebracht. Das Prinzip, daß es in der Welt nichts Neues geben könne, daß alles Sein und Geschehen jedes Moments nicht mehr und nicht weniger enthalten könne als das des vorhergehenden, ist darin auf die universell brauchbarste Weise niedergelegt. Aber dieser Vorstellung
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von der quantitativ gleichbedeutenden Reihe der Umwandlungen fügt nun auch im Umkreis des körperlichen Geschehens der Entwicklungsgedanke das Verständnis hinzu, daß der qualitative Inhalt dieser Umwandlungen nach den Werten zu beurteilen ist, die sich darin verwirklichen. Diese gegenseitige Ergänzung der beiden großen Prinzipien der Naturforschung | scheint das Thema der heutigen Naturphilosophie zu werden, welche in Energetik und Neovitalismus den lang geschmähten Namen wieder zu Ehren bringt. Je mehr sie mit der Erneuerung einer dynamischen Auffassung von unorganischer und organischer Welt zu dem Bestreben zurückkehrt, hinter den quantitativ bestimmten Formen des Geschehens den Inhalt zu suchen, der sich darin verwirklicht, um so mehr nähert sie sich auf ihrem Gebiete der von Lotze formulierten Aufgabe, den Weltlauf zu verstehen und ihn nicht bloß zu berechnen. So drängt alles darauf hin, daß die kritische Philosophie, wenn sie die Lebenskraft, die sie ein Jahrhundert lang bewahrt hat, auch in der Bewältigung der intellektuellen Bedürfnisse der Gegenwart bewähren soll, sich fähig erweisen muß, mit ihrem Begriffssystem eine Weltanschauung zu tragen, welche den geistigen Wertinhalt der Wirklichkeit in sicherem Bewußtsein zu erfassen vermag. Sie hat dazu das Recht und den Beruf, weil sie, den kantischen Grundlagen gemäß, die Gründe allgemein gültiger und notwendiger Überzeugungen in dem ganzen Umfange menschlicher Kulturtätigkeit, im sittlichen und geschichtlichen Leben, in Kunst und Religion ebenso wie in der Wissenschaft zu suchen angewiesen ist. Und diese Aufgabe zu erfüllen, dazu stehen die Zeichen der Zeit nicht ungünstig. Schon erleben wir – fast von Tage zu Tage – einen rapiden Niedergang der naturalistischen Weltanschauung, die nur noch gelegentlich einmal von einem der Alten, die nichts mehr gelernt haben, mit glücklicher Ahnungslosigkeit aufgetischt wird. Unsere Jugend, die die Macht des historischen Lebens in sich fühlt, – sie brennt darauf, ihre gährenden Wertgefühle in klare Begriffe umgesetzt zu finden. Es ist alle Hoffnung, daß der gute Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, wie ihn z. B. Eucken mit edler Leidenschaft kämpft, zum Siege führe. |
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Wenn wir die Werte des geistigen Lebens, welches das geschichtliche ist, für den letzten Inhalt aller Wirklichkeit ansehen, dessen Verwirklichung herbeizuführen auch den Sinn alles natürlichen Geschehens mit dem ganzen Apparat seiner gesetzmäßigen Kausalität bilde, so wird wohl erwidert: das sei und bleibe Anthropologismus und Anthropomorphismus. Ob man denn immer noch nicht gelernt habe, daß unser gesamtes Geschlecht mit seinem Leid und seiner Lust, mit seinem Meinen, Wünschen und Wollen in einem entlegenen Winkel des Universums eine beschränkte, auf kurze Frist gespannte Existenz abspielt! Woher das Recht, das, was uns bewegt, als Werte zu betrachten, die in den letzten Tiefen aller Wirklichkeit wurzeln sollen? Das klingt sehr einsichtig und ist doch sehr kurzsichtig. Gewiß, der hegelsche »Weltgeist« als der Inbegriff der Kategorien der Wirklichkeit, er ist in Wahrheit der Menschengeist in der historischen Entwickelung seiner inneren Wertbestimmungen. Aber gehört nicht zu eben diesen Errungenschaften des historischen Geistes auch jenes Wissen von den gesetzmäßigen Zusammenhängen eines in Raum und Zeit unendlich ausgebreiteten Weltalls, wozu sich Schritt für Schritt die sinnlich beschränkte Vorstellung unserer physischen Existenz erweitert und umgebildet hat? Verdanken wir dieser unserer eigenen geistigen Arbeit den Einblick in die physische Ordnung der Dinge, der wir anzugehören überzeugt sind, fühlen wir uns damit in einen Zusammenhang gerückt, der weit über uns selbst hinausreicht, so erhebt uns das geschichtliche Leben in eine geistige Ordnung, die an allen Ecken und Enden über sich selbst hinaus, über alles menschliche Drängen und Treiben in eine höhere weltumspannende Wirklichkeit weist. Wenn irgendeine, so ist es die Aufgabe der Religionsphilosophie, dies zur deutlichen Besinnung zu bringen. Wir kennen die Werte der geistigen Wirklichkeit nicht anders als durch unsere Geschichte, in der sie sich zur | Geltung herausgerungen haben, gerade wie wir die Gesetze des physischen Daseins nicht anders kennen, als durch die Formen unseres Intellekts, die wir darin walten gefunden haben: und eben deshalb haben wir das Recht überzeugt zu sein, daß auch die Werte des geistigen Lebens, zu denen unsere geschichtliche
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Entwickelung aufringt, ebenso lebendige Wirklichkeit sind wie die Sonnensysteme. Mit dem Reiche der Gesetze, die wir denken, und mit dem Reiche der Werte, die wir erleben, wissen wir uns gleichermaßen in den großen Ordnungen eines Weltzusammenhanges, die mit gleichem Rechte unsere Ehrfurcht verlangen: »der bestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir.« |
Aus Goethes Philosophie (Rede 1899 aus Anlaß des Straßburger Denkmals für den jungen Goethe) . . . Vom »ewig jungen Goethe« will ich reden, von dem Manne, der die mächtige Eigenart seines Wesens durch ein langes Leben schöpferisch bewahrt und bewährt hat – von dem Dichter, der diese seine ewige Jugend den leuchtenden Gestalten eingehaucht hat, mit welchen er in uns lebt und immerdar leben wird. Während der beiden Generationen, die seit seinem Tode dahingegangen sind, ist das Verständnis seiner Bedeutung für unser geistiges Leben nur immer mehr gestiegen, – nicht vielleicht in der populären Schätzung breiterer Kreise, in denen man sich von den Strömungen des Tages treiben läßt, aber desto mehr im Urteil derjenigen, die sich den Sinn für das dauernd Wertvolle im Wechsel der Zeiten zu bewahren wissen. Für diese ist Goethe immer größer geworden. Wer aus den Toren Roms hinauspilgert in die Campagna, den Bergen zu, der sieht alle die Mauern und Türme, die Kuppeln und Spitzen mehr und mehr verschwimmen und verschwinden: und schließlich, wenn die ewige Stadt nur noch wie eine einzige Masse daliegt, da wölbt sich über ihr, allbeherrschend, die eine gewaltige Kuppel von St. Peter. So geht es uns mit der zeitlichen Entfernung von Goethe. Je weiter wir von jener größten Zeit der deutschen Kulturgeschichte abkommen, in der um | die Wende des 18. und des 19. Jahrhunderts unser Volk seine verlorene Nationalität sich geistig neu geschaffen hat, um so beherrschender erhebt sich daraus für unseren Rückblick in unvergleichlicher Mächtigkeit die Gestalt Goethes – eine Welt für sich, die alles umfaßt und alles überragt. Diese Riesengestalt sprengt den Rahmen jeder besonderen Betrachtungsweise, jeder einzelnen wissenschaftlichen Disziplin. Goethe gehört nicht bloß der literarhistorischen Forschung, er
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gehört jedem einzelnen, der sich in ihn hineinzuarbeiten vermag und dem er dadurch zum Lebensdichter wird – zu dem Lebensdichter, dessen Werke man immer von neuem zur Hand nimmt, um am veränderten, am gereiften Verständnis zu bemessen, ob man selbst inzwischen gewachsen ist. Goethe gehört aber eben deshalb, vermöge dieser Breite seines Wesens und Wirkens, der allgemeinen Geistesgeschichte an. Hieraus nehme ich das Recht, der freundlichen Aufforderung zufolge, Sie heute davon zu unterhalten, was Goethe für die Philosophie bedeutet. Das ist vielleicht manchem von Ihnen unerwartet gewesen, und Sie haben gefragt: gibt es denn so etwas wie Goethes Philosophie? Er, der konkrete, der anschauliche Geist, für den das Schlagwort des »gegenständlichen Denkens« im Umlauf ist – hat er nicht oft und deutlich genug seine Abneigung gegen das abstrakte Begriffswesen der Philosophie zu erkennen gegeben? Er, der große Naive, wehrt er sich nicht mit aller Kraft gegen die Reflektiertheit, gegen das Grübeln über sich selbst? Durch Wald und Feld zu schweifen, Mein Liedchen hinzupfeifen, So geht’s den ganzen Tag –
– klingt das nach Philosophie? Denken wir nur an die Zeit, in der ihm die Philosophie am nächsten gerückt | war, an sein Verhältnis zu Schiller, an ihren Briefwechsel – da, wo sie miteinander darangehen, »das Verhältnis ihrer Naturen« festzustellen, und wo Schiller dazu die Begriffe der kantischen Ästhetik ausmünzt. Wie verschieden sind da die Rollen! Schiller steht dies Reflektieren natürlich, es gehört zu seinem Wesen, er bedarf seiner, um zu werden, was er ist, und für ihn war Kants Philosophie das Stahlbad, in das er aus verworrener Jugend niedertauchte, um sich in männlicher Klarheit daraus zu erheben. Vorher ein stürmisches Talent, ist er nachher der große Dichter. Für Goethe dagegen ist jene Reflexion ein fremder Tropfen in seinem Blute. Er läßt sich darauf ein, zögernd, mehr dem neugewonnenen Freunde zu Gefallen als sich selbst. Er mit seiner harmonischen Anlage und Entwicklung ist immer und von jeher er selbst, und nicht erst von der Philosophie
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braucht er sich sagen zu lassen, was er ist. Er hat vielmehr gegen sie jene Abneigung, die zumeist der große Künstler gegen die Ästhetik, die das wissenschaftliche Genie gegen die Logik, die der große Staatsmann gegen die politische Theorie hat: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, Und grün des Lebens goldner Baum.
Und doch gehört Goethe der Philosophie und ihrer Geschichte an. Zuerst und zumeist durch das, was er gewesen ist. Er war ein Problem, eine gewaltige Wirklichkeit, die erfaßt, verstanden, formuliert sein wollte. Die deutsche Philosophie ging damals der kühnen Aufgabe nach, das »System der Vernunft« zu finden, d. h. den zweckvollen Zusammenhang aller Lebenstätigkeiten des Kulturmenschen zu begreifen: für sie erwuchs aus der Realität des dichterischen Genius, die sie in Goethe erlebte und verehrte, die höchste Aufgabe, sein Wesen und Schaffen und damit das aller Kunst mit ihren Begriffen zu erfassen, | ihn in das System einzufügen und zu formulieren. Seit Schiller damit begonnen, haben sie alle daran gearbeitet, die Fichte und Schlegel, die Schelling und Hegel, die Schopenhauer und Lotze. Aber nicht davon will ich sprechen: nicht nur durch das, was er war, ist Goethe für die Philosophie bedeutsam, sondern auch durch das, was er tat. Freilich tat er es nicht in der Form zünftiger Begriffsarbeit oder methodischer Untersuchung: der wissenschaftlichen Philosophie ward er um so mehr abhold, als sie eigensinnig ihre Fremdsprache ausbildete. Allein wie hätte es ausbleiben können, daß ein Mann von der Tiefe und Weite seines Wesens, er, dem nichts Menschliches fremd war, der mit allen Künsten und Wissenschaften, mit allen Lebenssphären in tätige Berührung trat – wie hätte es sein können, daß er nicht nachgedacht, nicht gesprochen und geschrieben hätte über jene höchsten Fragen des Menschenlebens, jene letzten Rätsel des Daseins, mit denen sich die Philosophie beschäftigt? Mochte er auch nichts wissen wollen von der Wissenschaft, die in diesen Dingen mit Begriffen beweisen zu können meint – er brauchte sie nicht; ihm genügte die unmittelbare und ursprüngliche Anschauung, seine Privatmetaphysik, seine
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»philosophie irresponsable«. Diese seine eigene Welt- und Lebensansicht entsprang, ebenso wie jene historische Wirkung auf die deutsche Philosophie, aus seiner Persönlichkeit. Deshalb gehört er wie alle gewaltigen Erscheinungen der Geschichte, in deren Leben und Schaffen sich eigenartig Welt und Menschen spiegeln, zu den lebendigen Quellen, aus denen die Philosophie zu schöpfen hat. Wenn ich von dieser Welt- und Lebensanschauung Goethes sprechen will, so kann ich freilich nicht meinen, dem Thema in dieser kurzen Stunde auch nur annähernd gerecht zu werden. In dem fast unübersehbaren Reichtum seiner Werke, seiner Sammlungen und | Aufzeichnungen, seiner Briefe und Gespräche ist ein riesiges Material dafür aufgespeichert, und für die Fragen aller philosophischen Disziplinen, für Erkenntnistheorie und Sittenlehre, für Rechts- und Kunstlehre, für Religionsphilosophie und Metaphysik lassen sich die Äußerungen beibringen, in denen er dazu Stellung genommen hat. Fürchten Sie nicht, daß ich dies schier endlose Material hier vor Ihnen ausstülpe: nur auswählen möchte ich, was mir zweckmäßig für die Aufgabe dieser Vorträge erscheint – von möglichst vielen Seiten her die Gestalt des Mannes zu beleuchten, dessen Jugendbild wir errichten wollen. Als Mittelpunkt für diese Auswahl gestatten Sie mir, ein Problem zu nehmen, an dessen Hand wir hoffen können, dem eigensten Wesen des Dichters einigermaßen nahe zu kommen. Auf den ersten Blick leuchtet es jedem ein, daß wir es in ihm mit einer gewaltigen Natur, einer unvergleichlichen Individualität, einer unwiederholbaren Realität, einem in sich begrenzten und gefestigten Eigenwesen zu tun haben; andererseits aber finden wir diese Eigenart in der universellsten Betätigung, in der breitesten Berührung mit dem geistigen Weltall; er lebt und schafft im Ganzen, er weitet sich ins Unendliche aus. Was hat, fragen wir, dieser Mann gedacht über das Verhältnis des einzelnen zum Ganzen, über die Stellung des Menschen im Universum – über die alte Rätselfrage, wie tief im letzten Grunde der Dinge die Wurzeln der Individualität liegen? Aus dem Leben des Ganzen sehen wir jedes besondere Wesen hervorquellen, um darin wieder zurückgenommen zu werden: – und doch fühlen wir uns ein jeder als eine einzelne, in sich bestimmte,
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diese ihre flüchtige Erscheinung überragende Wirklichkeit. Was ist, fragen wir, der einzelne im Weltall – welche Bedeutung hat das Individuum im Ganzen? Was hat Goethe darüber gedacht? In der herrlichen Rhapsodie | »Natur«, die Goethe selbst später um das Jahr 1780 datiert hat, sagt er von der »Natur«: »Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen.« Wie hat sich ihm dies Rätsel geformt – wie gelöst? Nahe genug lag ihm das uralte Problem. Der junge Goethe wuchs geistig und literarisch aus einer Zeit heraus, die, wenn je eine, in der Überzeugung lebte: Höchstes Glück der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit.
Es war die Zeit von »Sturm und Drang«, die Periode der Genies, wo sich die Individualität gegen Regel- und Formelzwang urgewaltig auflehnte, die Zeit der Ursprünglichkeit, der Rousseauschen Natürlichkeit, der Selbstherrlichkeit der Genies, der Selbstbekenntnisse, der Tagebücher und der Briefe. Damals galt nur, wer »Einer« war, eine »Natur«, ein »Kerl«. »Bist’s«, rief Lavater, als er aus dem Wagen sprang und Goethe umhalste, den er nie zuvor gesehen. Das ist die Zeit, wo der junge Dichter mit »Schwager Kronos« durch alle Höhen und Tiefen des Lebens stürmen will, um endlich, noch trunken vom goldenen Licht, blasenden Horns in den Orkus einzufahren, daß »drunten von ihren Sitzen sich die Gewaltigen lüften«1 – das die Zeit, wo der Titan mit dem gehaltenen Stile Pindars die schäumende Leidenschaft in freien Rhythmen dahinrauschen läßt und stolz auftrotzt gegen alle Mächte des Himmels und der Erde. »Bedecke«, so heißt es im Prometheus, Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst Und übe, dem Knaben gleich, Der Disteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöh’n: | Mußt mir meine Erde 1
Erste Fassung des Gedichtschlusses.
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Doch lassen steh’n, Und meine Hütte, die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut Du mich beneidest! oder: Hat mich nicht zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal, Meine Herrn und deine? und weiter: Hier sitz’ ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu genießen und zu freu’n sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich!
Solchem im Temperament begründeten, von der Mitwelt genährten Individualismus verband sich aber in Goethe eine tiefe und mächtige Gegenströmung: das war sein religiöses Gefühl. Man versteht ihn nicht, wenn man dies wesentliche Moment seines Charakters übersieht. Das, was Schleiermacher als den Kern aller Religiosität erkannt hat, das fromme Gefühl, vom Ewigen, Unendlichen und Unerkennbaren umschlossen und beschlossen zu sein, das war in Goethe mit seltener Kraft und Innigkeit lebendig. Wenn wir in der Marienbader Elegie lesen: In unsres Busens Reine wogt ein Streben, Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, Enträtselnd sich den ewig Ungenannten – Wir heißen’s fromm sein –
so klingt das fast wie eine poetische Paraphrase dessen, was der große Theologe als das Wesen aller Religion bestimmt hat; aber es kommt dem Dichter aus eigenster Seele. Hat er nicht schon als Knabe in seiner Mansarde | für sich allein einen stillen Kultus der
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Gott-Natur ausgedacht und geübt? Schon damals wollte er »das Unerforschliche still verehren«. In dem kerngesunden Patrizierhause, darin Frau Aja waltete, war gewiß nichts von voreiliger Freigeisterei, aber ebensowenig auch enge und ängstliche Rechtgläubigkeit heimisch, die ja überhaupt in dem geistigen Bilde des 18. Jahrhunderts zwar nicht ganz fehlt, aber doch nur dunkel im Hintergrunde steht. Gerade jenem individualistischen Zuge entspricht es, daß Goethes religiöses Fühlen sich immerdar gegen jede traditionelle Begrenzung und gegen jede geschichtliche Vermittlung zwischen Gott und Mensch gesträubt hat. Das führte ihn zur Mystik, und von hier aus gewann und behielt er Fühlung mit jener pietistischen Richtung, die als feiner Nachklang der mystischen Bewegung das Jahrhundert der Aufklärung durchzitterte. Es ist bekannt, wie sie in Fräulein von Klettenberg ihm persönlich nahe trat und wie er sein tiefes, mitfühlendes Verständnis dieser sublimen Religiosität in den »Bekenntnissen einer schönen Seele« zum Ausdruck gebracht hat. Sie bilden ein wesentliches Glied in dem Aufbau seines »Wilhelm Meister« – so wenig, charakteristischerweise, gerade damit Schiller sich hat befreunden können. Zu dem wahrhaft großen Individuum gehört es eben, daß es klarer und deutlicher als andere der »Grenzen der Menschheit« sich bewußt ist. Deshalb ist Goethes Innerlichkeit erfüllt von jener Ehrfurcht vor den Geheimnissen, die uns alle umgeben, vor den dunklen Mächten, die alles Menschenleben umfangen – von der Ehrfurcht, die er als den sittlichen Kern aller Erziehung dargestellt hat, der Ehrfurcht vor dem, was über uns ist – vor dem, was unter uns ist – vor dem, was neben uns ist. Er findet dies Dämonische in dem unbegreiflichen Alleben der Natur, in jenem Makrokosmus, dessen geheimnisvolle Anschauung den sehnsüchtigen Sinn seines | »Faust« entzückt und berauscht; aber nicht minder in den höheren Mächten, die in der Geschichte walten. »Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jeder große Gedanke, der Frucht bringt und Folge hat, steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben; dergleichen hat der Mensch als unverhofftes Geschenk von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu ver-
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ehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es beliebt. . . . In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten.« Und gerade von den großen Individuen gilt ihm dies; er findet es in Raphael, in Mozart, in Shakespeare, in Napoleon. Umgekehrt sagt Goethe einmal von einer verfehlten Volksbewegung: »Gott war nicht darin.« In dies Allwaltende sich zu versenken, daß die Seele ausklingt in die göttliche Harmonie des unendlichen Weltlebens – darin besteht auch Goethes Frömmigkeit. Es ist nichts Gewaltsames in ihr, nichts Gequältes und Geängstigtes, nichts mühsam Abgerungenes: diese Hingabe des Menschen an Gott ist volles gesundes Leben, selbstverständliche Entfaltung und heitere Reinheit: Im Grenzenlosen sich zu finden, Wird gern der einzelne verschwinden: Da löst sich aller Überdruß. Statt heißem Wünschen, wildem Wollen, Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen Sich aufzugeben ist Genuß.
So ist es Kühlung der Leidenschaft, Erlösung von den Widersprüchen des endlichen Lebens und Wollens, was Goethe im Anschauen der »Gott-Natur« sucht. »Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?« Hierin lag die persönliche Verwandtschaft, welche den | Dichter früh und immer wieder zu Spinoza führte. Bei ihm fand er in großartig einfacher Darstellung das sittliche Ideal der Selbstbefreiung durch Erkenntnis. Nur der, lehrte der Philosoph, vermag über seiner Leidenschaft zu stehen, der sie begreift, der die Notwendigkeit versteht, womit auch des Menschen Tun und Treiben aus dem göttlichen Urwesen hervorgeht. Die Leiden und Gebrechen des Lebens verlieren ihren Stachel in der Einsicht des Denkers, der sie nicht anders betrachtet, als ob er es mit Linien, Flächen und Körpern zu tun hätte, und der sie nicht belachen noch begeifern will, sondern nur begreifen. Diese »grenzenlose Uneigennützigkeit«, diese Absichtslosigkeit bewunderte Goethe
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an Spinoza; diese Reinheit und Höhe der Weltbetrachtung, die das Urteil zurückhält, diese Milde der Gesinnung, die im Anschauen des Ganzen die Maßstäbe begrenzter Lebensgebiete hinter sich läßt. Tout comprendre c’est tout pardonner. Aber Goethe wußte recht gut, daß dieses »Jenseits von gut und böse« nur für die begreifende und erklärende Wissenschaft und für die anschauende und gestaltende Kunst gilt, aber nicht für das wollende und handelnde Leben. Hier verwandelt sich jenes milde Lächeln der Betrachtung in entfesselte Wildheit oder in rücksichtslose Selbstsucht. »Alles Spinozistische«, sagt Goethe einmal, »in der poetischen Produktion wird in der Reflexion Macchiavellismus.« Auf solche Fragen würde der Dichter die Unterhaltung Spinozas mit dem »ewigen Juden« gelenkt haben, die leider nicht zur Ausführung gekommen ist. Seine Gedanken darüber treten uns als dichterisches Selbstbekenntnis in den »Wahlverwandtschaften« entgegen. Nirgends sonst hat er mit so feiner und vor keiner Konsequenz zurückschreckender Analyse die Naturnotwendigkeit in der Entstehung und der Entwicklung der Leidenschaften gezeichnet – aber auch nirgends so energisch und so ernst das Bewußtsein der Verantwort|lichkeit geltend gemacht, das neben jener Naturnotwendigkeit mit seiner ganzen Wucht bestehen bleibt. Die »Wahlverwandtschaften« sind eine Art poetischer Darstellung von Kants tiefsinniger Lehre über den »empirischen« und den »intelligiblen Charakter«. Jene Freiheit aber, die Spinoza im Denken fand, erlebte und erwarb Goethe durch seine Dichtung. Er erhob sich über den eigenen Zustand, indem er ihn anschaute und gestaltete. Er fühlte es als die göttliche Kraft der Dichtung, daß, ohne Absicht, ungesucht und ungewollt, sein eigenes Leben sich ihm zum Bilde verklärte und eben damit von ihm selbst sich ablöste. Sein Dichten ist Selbstbefreiung durch Selbstgestaltung. Der Philosoph überwindet die Leidenschaft, indem er sie begreift – der Künstler, indem er sie darstellt. So hat Goethe Stücke des eigenen Lebens und Wesens von sich abgelöst: so die Irrungen von Wetzlar im Werther, so die Schuld von Sesenheim in der Gretchentragödie des Faust, so die Verwirrungen des Hoflebens von Weimar im Tasso. Auch an dem
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eigenen Irrtum und der eigenen Sünde hat er damit sein schönes Wort bewährt: 114
Unsterbliche heben verlorene Kinder Mit feurigen Armen zum Himmel empor.
Das ist das Geheimnis von Goethes »Gelegenheitsdichtung« – das absichtslose Herausquellen des eigenen Lebens. Er will nichts mit dem Dichten – er will nicht dichten, er muß; es dichtet in ihm. Eben deshalb aber leben die Gestalten, die er geschaffen hat; sie haben sein eigen Fleisch und Blut – abgelöst vom Vater wie Kinder, die ein Eigenleben gewonnen haben. Sie besitzen damit eine höhere, ästhetische Wirklichkeit: das Historische an ihnen ist in die reine Form erhoben. Sie sind für sich verständlich – was brauchen wir von Goethe zu wissen, um uns an Iphigenie zu erbauen? Zu diesen Gestalten, | die er so aus sich und seinem Leben heraus zu idealer Wirklichkeit geboren hat, gehört im gewissen Sinne auch der »junge Goethe«, den er in »Dichtung und Wahrheit« geschaffen hat und dessen poetische Realität himmelhoch erhaben ist über jeden Versuch tatsächlicher Berichtigung. Wenn Goethe in dieser Selbstdichtung (es ist im 14. und 16. Buch) das Wesen seines künstlerischen Schaffens mit Beziehung auf Spinozas Philosophie darlegt, da spricht er von der »Entsagung« – nicht von der alltäglichen, bei der der Mensch auf den einen Wunsch nur verzichtet, um einem anderen anheimzufallen, sondern von der des Philosophen, der ein für allemal verzichtet, der sicher und klar über dem Getriebe der eigenen Wünsche steht. Hierin erkennt er sein eigenes Lebensideal: über sich selbst zu stehen, Herr zu bleiben im eigenen Hause, was auch von Leidenschaft, von Lust und Leid darin sich bewegen möge. 115
Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, Befreit der Mensch sich, der sich überwindet –
so wird in den »Geheimnissen« der letzte Sinn aller Religion ausgesprochen. Diese »Entsagung« ist die Kraft, in keine der Beziehungen ganz aufzugehen, mit denen der wechselnde Wille das Selbst zu umschlingen geschäftig ist – niemals dies Selbst in einen
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seiner Wünsche gänzlich aufgehen zu lassen – niemals das Leben auf Eine Karte zu setzen. So sehen wir Goethe selber das reichbewegte Leben hindurch in zahllosen Verhältnissen, die ihn wohl leidenschaftlich ergreifen und stürmisch bewegen: aber niemals schlagen die Fluten ganz über ihm zusammen. Er selbst bleibt immer noch mehr als die Leidenschaft; nichts bewältigt ihn ganz. Es ist ein Rest in ihm, in den auch die Nächsten nicht zu dringen vermögen: eine Festung, die nie gewonnen wird und von der er schließlich jeden Sturm abschlägt. Das ist es, was – denken wir nur | z. B. an Frau von Stein – nach außen als Egoismus, als Kälte und Unnahbarkeit, als »Olympiertum« erschien. Nur einer ist ihm ganz nahe gekommen: das war Schiller; nur eines hat ihn ganz gepackt: das war Schillers Verlust. Und eben deshalb versagt an diesem Punkte die erlösende Kraft der Dichtung: diesmal gibt ihm kein Gott, »zu sagen, was er leide«. Hilflos bricht er zusammen, er, der Starke. Dann versucht er sich zum Dichten aufzuraffen. Er will den Demetrius vollenden: es geht nicht. Auch die Achilleis, die, vorher begonnen, wohl berufen gewesen wäre, des zu früh hingerafften Freundes Denkmal zu werden, bleibt Fragment. Dies ist stärker als er. Monate vergehen, bis ihm der »Epilog zur Glocke« möglich wird. Dabei ist es geblieben: das größte Erlebnis aller seiner Tage hat keine poetische Verkörperung gefunden, wie sonst alle die kleineren Geschicke seines Lebens. Aber noch mehr bedeutet diese Entsagung, und das führt uns auf unser Problem zurück. Wenn wir fragen, worauf denn dabei verzichtet werden soll, so ist es nichts anderes als jener gerade das bedeutende Individuum kennzeichnende Drang, die Grenzen des eigenen Wesens zu sprengen und sich zum Ganzen zu erweitern, jener faustische Trieb, der da ausruft: Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, Will ich mit meinem eignen Selbst genießen, Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen, Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen, Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern, Und wie sie selbst am End’ auch ich zerscheitern.
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Die Heilung von diesem Drange, alles zu wissen und alles zu genießen, alles in sich hineinzuschlingen – die Heilung davon ist die Lebensweisheit, welche Goethe am eindringlichsten gepredigt hat. Sie bildet den Inhalt der beiden Werke, deren Dichtung sich durch sein ganzes reifes | Alter hindurchgezogen hat und die man gleichmäßig als seine beiden Lebenswerke bezeichnen darf: Faust und Wilhelm Meister. Dabei ist der »Meister« als Dichtwerk nicht entfernt so glänzend, blendend und zündend, deshalb auch nicht so bekannt und populär wie der »Faust«, doch gerade in Rücksicht auf diese Goethesche Lebensweisheit vielleicht lehrreicher und ergiebiger. Auf ihn möchte ich deshalb Ihre Aufmerksamkeit lenken. Nicht von dem Roman als solchem will ich sprechen, oder von der Stellung, die er in der Weltliteratur für die Geschichte des Romans überhaupt einnimmt, sondern von dem kulturphilosophischen Grundgedanken, der in ihm niedergelegt ist. Freilich hat der Dichter, wie im zweiten Teil des Faust, so auch in den »Wanderjahren« den einfachen Plan so sehr von Zufällen und Einfällen, von wunderlicher Geheimnistuerei überwuchern lassen, daß dadurch nicht nur der ästhetische Genuß des Ganzen bei aller Schönheit des Einzelnen fraglich geworden, sondern auch das Verständnis des Planes in bedauerlichem Maße verdunkelt ist. Aber gerade in dieser Hinsicht erleuchten und erklären sich beide Lebenswerke gegenseitig zu solcher Deutlichkeit, daß über »der Weisheit letzten Schluß«, der sich in ihnen darstellen will, kein Zweifel bleiben kann. Die »Wanderjahre« führen den Nebentitel »oder die Entsagenden«. Was bedeutet hier die Entsagung? Durch die »Lehrjahre« haben wir Wilhelm von Abenteuer zu Abenteuer begleitet. Er sucht sich selbst, seine Bildung, seine Bestimmung. Aber auch von ihm gilt, was Faust von sich sagt: Ich bin nur durch die Welt gerannt, – Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren.
Die Ratschläge Werners, der den Antonio für diesen Tasso bedeutet, hat er verschmäht: im bunten Wechsel hat er Personen, Verhältnisse und Zustände auf sich einwirken | lassen, um in sich
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selbst nur immer schwankender und verworrener zu werden. Die Fülle der Anregungen, die er in sich aufgenommen, hat sich nicht zur Einheit gestalten können, und während er die Welt im Bilde genießen will, taumelt er selbst in ihr von Irrtum zu Irrtum. So gerät er in den Wirkungskreis jener geheimnisvollen Gesellschaft »bedeutender« Männer, die in diesem Roman die Rolle der Vorsehung spielt. Hier tönt ihm das harte Wort Jarnos entgegen: »Narrenspossen eure allgemeine Bildung!« Hier erfährt er, daß der »Meister« nur gebildet wird in der Beschränkung, daß die Bestimmung des Menschen nur im Beruf zu suchen ist. Entsagen soll er jenem Schwelgen im allgemeinen, im Fühlen und Sehnen – die Welt soll er kennen lernen, die wirkliche Welt, und darin seinen Platz sich suchen durch Arbeit und nützliche Tätigkeit. Wandern soll er, bis er dies gefunden hat – nicht rasten, wo es ihm wohl ist, – nicht genießen: er soll schaffen. Aus der Selbstbespiegelung, aus der weichen Pflege individueller Beziehungen heraus soll er in die harte Wirklichkeit gestellt werden und in tätigen Zusammenhängen seinen Mann stellen. Nichts anderes lehrt Goethe in der »pädagogischen Provinz«, in die wir mit dem Wanderer geführt werden. Die Phantasie des Romans entwirft das Bild einer Erziehungsanstalt in den größten Dimensionen. Aber die pädagogischen Theorien des 18. Jahrhunderts erfahren hier eine eigene Umgestaltung. Nicht der »Mensch« im Sinne Rousseaus und der Philanthropisten soll hier gebildet werden, nicht der Pietist, der zugleich der Bürger dieser Welt und der anderen ist, sondern der Mann, der vollkommen ist durch Beschränkung und durch Unterordnung. Jeder soll nach seiner Anlage zum besonderen Berufe ausgebildet werden, um dadurch in dem planvollen Zusammenhange der gemeinsamen Arbeit das Größte zu leisten. | So erscheint die Berufstätigkeit, in der jeder einzelne seine wahre Bestimmung findet, von einer zweckvollen Gemeinschaft abhängig. Nicht nur die Heranbildung der Jugend, sondern auch die Verwendung der Gereiften wird durch das »Band« bestimmt. Das in seinem Berufe zur vollen Entfaltung gelangte Individuum steht eben damit im Dienste des Ganzen. Es ist eine Organisation
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der Arbeit, welche die Wanderjahre entwerfen. Sie erinnern dadurch in ihrer romanhaften Form an anspruchsvollere Utopien der gleichzeitigen Literatur. Einzelne andeutende Züge entnehmen sie offenbar dem Leben der »Brüdergemeine«. Auch Goethes »Band« spinnt seine Beziehungen weithin über Länder und Völker, es hat seine Wirksamkeit jenseits wie diesseits des Ozeans. Aus den Wanderern werden Auswanderer, und es eröffnen sich weite soziale und wirtschaftliche Perspektiven. Charakteristisch ist dabei für Goethe und für das deutsche Denken seiner Zeit das völlige Zurücktreten der staatlichen Mächte. Die soziale Organisation seines »Bandes« ist eine freie Vereinigung, welche sich über den Planeten spannt, ohne irgendwie innerlich oder auch nur äußerlich an das Staatsleben sich anzuknüpfen: sie kennt weder politische Grenzen noch politische Zusammenhänge. So ist, wenn wir von den Lehrjahren zu den Wanderjahren fortschreiten, das ästhetische Ideal mit dem praktischen vertauscht. Derselbe Umschwung vollzieht sich bekanntlich im zweiten Teil des Faust. Aus dem Sturm und Drang, aus dem Weltgenuß des ersten Teils rettet der Dichter hier seinen Helden zuerst in die Ruhe ästhetischer Anschauung: »Am farb’gen Abglanz haben wir das Leben.« Faust fährt zu den »Müttern«, in das Reich der Ideen, der reinen Formen, und die Ideale der Menschheit, wie die Kunst sie gestaltet hat, steigen empor. In der klassischen Walpurgisnacht, in der »Helena«, die sich dem germanischen Faust vermählt, ziehen die Gestalten | der Geschichte an uns vorüber, geisterhafte Schatten von reiner innerlicher Lebenskraft – eine »Phänomenologie des Geistes«, geheimnisvoll und andeutungsreich wie die des Philosophen. Aber aus diesem Schattenreich des Anschauens stürzt sich Faust in den heißen Kampf der geschichtlichen Mächte um die Weltherrschaft, und wir sehen ihn enden im gewaltigen Ringen des Menschen gegen die Macht der Natur: dem Meere zwingt er den Boden ab, »auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen«. So bleibt Faust bis zum Schluß der Herrscher, das eigenmächtige, gewalttätige Individuum, das die magischen Kräfte der Hölle und des Himmels in Bewegung setzt, um zur freien, erlösenden Tätigkeit zu gelangen: in Wilhelm Meisters Wanderjahren ist es
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das »Band«, die Gemeinschaft, der sich der einzelne einordnet, der Zusammenhang praktischer Arbeit, worin die Probleme des Lebens sich lösen. Der Roman stellt das so dar, daß die individuellen Verhältnisse, die in den Lehrjahren angeknüpft worden sind, sich hier in die allgemeine Organisation einflechten; aber das ist nicht nur technisch durch den ästhetischen Zusammenhang beider Teile des Werkes bedingt, sondern es hat den tieferen Sinn, daß diese Gemeinschaft jene persönlichen Beziehungen nicht aufhebt oder zerstört, sondern vielmehr sie verklärt und reinigt, vertieft und befestigt. Wilhelm Meister ist wie Faust das Werk des Mannes, dem es das Schicksal gönnte, die gewaltigste Wandlung des deutschen Volksgeistes in achtzigjährigem Leben an sich selbst zu erfahren und künstlerisch zu gestalten. Sein »Meister« ist der Typus des Deutschen, der vom 18. in das 19. Jahrhundert herüberschreitet. Vom Puppenspiel zu dem Chirurgen, dem es zuteil wird, den Sohn zu neuem Leben zu erwecken – von den Brettern, die die Welt bedeuten, mitten hinein in die bewegte Welt selbst – aus dem Reich der Gedanken und der Gestalten | in das der Arbeit und der Tat – das ist der Gang, mit dem das »Volk der Dichter und Denker« fortgeschritten ist zur Gründung seiner nationalen Macht. Und was Goethe vorahnend in seinen beiden Lebenswerken gezeichnet hat, ist dasselbe, was Kant und Fichte gefordert haben, wenn sie den Standpunkt der philosophischen Weltansicht aus der theoretischen Vernunft in die praktische verlegen wollten. Jene Entsagung also, mit der nach Goethe das Individuum sich selbst befreit, ist in ihrem positiven Sinne Tätigkeit. »Im Anfang war die Tat« – so deutet schon im ersten Teil Faust den Sinn des Evangeliums, und des Titanen Scheidewort in der »Pandora« ist: »Des echten Mannes wahre Feier ist die Tat.« Deshalb ist auch im Faust die tiefste Lösung des Problems mit den Worten beschlossen: Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen.
Kein edleres Beispiel solcher rastlosen Tätigkeit haben wir als Goethes eigenes Leben; und gerade das ist das Wohltuende und
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Sympathische dabei, daß diese rastlose Tätigkeit bei ihm keiner von außen aufgezwungenen Nötigung, sondern dem innersten Triebe seiner Natur entspringt. Er ist in unermüdlicher Beschäftigung; schon der riesige Umfang seiner Korrespondenz, sein »Dilettieren« in allen Künsten und Wissenschaften, sein unaufhörliches Sammeln und Aufzeichnen gibt den Beweis davon – von seinen Werken gar nicht zu reden. Man lese z. B. seine Briefe an Schiller von der süddeutschen Reise im Jahre 1797. Überall ist er im »Einhamstern« begriffen, er sammelt für sein Archiv. Er weiß nicht, wozu er’s brauchen wird, nicht, ob er’s brauchen wird; aber er sammelt; er muß tätig sein, arbeiten, assimilieren. Auch seine Stellung als Minister hat er in diesem Geiste ausgefüllt. Nicht nur als Kurator der Universität Jena, | sondern in allen administrativen Dingen hat er stets im eigensten Sinne »gearbeitet«. Jene feine, bis ins Kleinste dringende Darstellung der Weberei, welche in die »Wanderjahre« eingeflochten ist, weist auf solche Anlässe hin. Auf ihn selbst trifft Faust’s Wort: 127
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Werd’ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, So sei es gleich um mich getan.
Fichte hat einmal die Faulheit die Ursünde des Menschen genannt: von dieser Ursünde ist vielleicht kein Mensch je so frei gewesen wie Goethe. In seinem Leben ist kein Raum für Träumen und Müßigsein. Ein bezeichnender Ausdruck dafür ist ein Verschen, zu dem ihn ein Satz Jean Pauls veranlaßte. Bei diesem war irgendwo zu lesen: »Der Mensch hat dritthalb Minuten; eine, zu lächeln, eine, zu seufzen und eine halbe, zu lieben: denn mitten in dieser Minute stirbt er.« Unter diesen sentimentalen Unfug schrieb Goethe für seinen Enkel: Ihrer sechzig hat die Stunde, Über tausend hat der Tag, Söhnlein, werde dir die Kunde, Was man alles leisten mag.
Auf diese Tätigkeit, und nur auf sie, gründet nun Goethe endlich auch das Recht und das Maß der Eigenexistenz des Individuums
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im Weltall. Schon sein Prometheus antwortete auf die Frage »Wie vieles ist denn dein?« mit den stolzen Worten: Der Kreis, den meine Tätigkeit erfüllt – Nichts drunter und nichts drüber.
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Dieser Eigenwert des tätigen Individuums ist in der Welt- und Lebensauffassung Goethes immer höher gestiegen. Von jener spinozistischen Alleinheitslehre, die er in dem Hymnus »Natur« sich zu eigen machte, ist er, wie er es selbst nennt, zu einem »Komparativ« fortgeschritten, worin er den wahren Lebensinhalt des Uni|versums bei den in der Entwicklung ihrer ursprünglichen Anlage tätigen Einzelwesen sucht. Diese nennt er in späterer Zeit gern mit Leibniz »Monaden« oder mit Aristoteles »Entelechien«. Diese Bezeichnungen deuten darauf hin, daß die Gründe für jene Umwandlung seiner Weltansicht nicht nur in der eigenen gereiften Lebenserfahrung, sondern vor allem in den Studien über die organische Welt lagen, denen er ein so lebhaftes Interesse zugewendet hat. Die Idee seiner morphologischen Untersuchungen, seiner Metamorphose der Pflanzen und der Tiere war doch die, in jedem organischen Wesen die Urform ausfindig zu machen, welche der ganzen Mannigfaltigkeit seiner Bildungen als tätige, die Umgebung sich assimilierende Kraft zugrunde liegt: Alle Glieder bilden sich aus nach ew’gen Gesetzen, Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild . . . Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres, Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung, Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen.
Diese »reine Gestalt« nennt er »die Entelechie, die nichts aufnimmt, ohne sich’s durch eigene Zutat anzueignen«. Auf solchen beruht alles Leben, und in ihrem Zusammenhange deuten sie selbst wieder auf eine letzte, einfachste Urform hin. Vor allem aber ist der Mensch in der Eigenart seines Charakters ein solches ursprüngliches, sich selber stets neu gestaltendes Wesen: »Die Hartnäckigkeit des Individuums und daß der Mensch abschüttelt, was ihm nicht
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gemäß ist, ist mir ein Beweis, daß so etwas existiere« (wie die Entelechie). Auf das Bewußtsein dieser selbsteigenen Tätigkeit gründet nun Goethe auch den Glauben an die Unsterblichkeit; er ist für ihn, wie für Kant, ein Postulat und kein Gegenstand der Erkenntnis. »Der Mensch«, sagt Goethe, »soll an Unsterblichkeit glauben; er hat dazu ein | Recht, es ist seiner Natur gemäß. Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriffe der Tätigkeit. Denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag.« Im Munde des Achtzigjährigen welch ein Zeugnis unverwüstlicher, unerschöpflicher Lebenskraft! Er kann deshalb die Fortdauer auch nur als ein Fortwirken denken: »Ich wüßte auch nichts mit der ewigen Seligkeit anzufangen, wenn sie mir nicht neue Aufgaben und neue Schwierigkeiten zu besiegen böte.« Gerade darum aber gilt ihm die Unsterblichkeit nicht als ein jedem von selbst zufallendes Gut, sondern sie hängt am Werte der Tätigkeit. »Wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muß man auch eine sein.« Dementsprechend finden wir bei Goethe im Alter eine ähnliche Vorstellung von einer Rangordnung der Lebewesen wie bei Leibniz; er spricht von Weltseelen und Planetenseelen über dem Menschen, wie unter ihm von Hundeseelen und dergleichen. »Das niedere Weltgesindel«, ruft er einmal humorvoll aus, »pflegt sich über die Maßen breit zu machen; es ist ein wahres Monadenpack, womit wir in diesem Planetenwinkel zusammengeraten sind.« Und daß der Dichter in gleicher Weise auch Wert und Geschick der Menschenseelen unterscheiden wollte, beweist das Wort der Chorführerin, die den Mägden der Helena zuruft: Wer keinen Namen sich erwarb noch Edles will, Gehört den Elementen an: – so fahret hin!
Bezeichnend für Goethes sittliche Auffassung ist es dabei, daß die Erhaltung jenes höchsten Gutes, der Persönlichkeit, nicht nur vom
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Erfolg der Tätigkeit, sondern auch von ihrer Gesinnung abhängig gedacht wird: Nicht nur Verdienst, auch Treue wahrt uns die Person. |
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Fassen wir alles zusammen, so ist das Prinzip, von dem aus Goethe Welt und Menschenleben betrachtet, nichts anderes als das Bewußtsein des tätigen Einzelwesens im gesetzmäßigen Zusammenhange der Dinge, wie es in dem oft zitierten »orphischen Urwort« vom »Dämon« ausgesprochen ist: Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen: So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Wenn aber so das Individuum, seines Rechts und seines Wertes sich bewußt, mit seiner Eigenart von der Welt um sich nur das aufzunehmen vermag, was es durch seine Tätigkeit in sein eigenes Wesen verwandelt, so sehen wir es doch in seinen höchsten, in den schöpferischen Tätigkeiten sich über sich selber hinaus steigern; auf den Höhepunkten des Lebens wird das Individuum zur Gattung, wird die Monade zur Welt. Alle wahrhaft erzeugenden Tätigkeiten des menschlichen Geistes, jeder neue Lichtblick des erkennenden Gedankens, jedes ursprüngliche Erlebnis im Fühlen und Anschauen, jede schöpferische Kraft des Gestaltens, enthalten ein Abstreifen des Persönlichen, des Individuellen; in ihnen allen ist der einzelne mehr als er selbst, lebt in ihm, übergreifend, das Ganze. Die höchste Steigerung der Persönlichkeit ist ihr Ende. »Dein Wesen stampfe nieder« – so wird dem Faust zugerufen, der die dunkle Fahrt zu der Welt der reinen Formen unternehmen will. Hier gilt es noch einmal, im höheren Sinne: »Sich aufzugeben ist Genuß.« Und ebenso ist im organischen Leben der höchste Moment des Einzeldaseins jene schöpferische Steigerung, durch
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die es sich | zur Gattung erhebt. Diese Unsterblichkeit des Individuums durch seine Verwandlung in die Idee hat Platon in der herrlichsten seiner Dichtungen, im »Symposion«, gelehrt: Goethe hat denselben Gedanken mit weihevoller Symbolik zum Ausdruck gebracht in dem tiefsinnigen Gedichte an den Nachtschmetterling, das im westöstlichen Diwan steht unter dem Titel »Selige Sehnsucht«: Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet: Das Lebend’ge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. – In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest, Überfällt dich fremde Fühlung, Wenn die stille Kerze leuchtet. Nicht mehr bleibest du umfangen In der Finsternis Beschattung, Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung. Keine Ferne macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt, Und zuletzt, des Lichts begierig, Bist du, Schmetterling, verbrannt. –
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Und solang’ du das nicht hast, Dieses »Stirb und werde!« – Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. |
Goethes Faust und die Philosophie der Renaissance
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ir sind längst gewohnt, in dem größten Werke unserer deutschen Literatur den allgemein menschlichen Sinn in erster Linie aufzufassen. Wir sehen in Faust und seinem Geschick den strebenden, ringenden, irrenden, sündigenden und zuletzt erlösten Menschen. Aber dies Typische in seinem Wesen und Erleben ist nun vom Dichter mit der wunderbarsten Kunst der Individualisierung und anschaulichen Gestaltung dargestellt. Schon in den Charakteren ist es leicht, die individuellen Züge wiederzuerkennen, wenn man nur nicht beim Dichter sucht, was er niemals bringt: Photographien, direkte Abklatsche des Wirklichen. Wer eine Ahnung von dem Walten der dichterischen Phantasie hat, der weiß, wie wenig das Einzelne darin standhält, wie sich das Mannigfaltige des Erlebten ineinanderwebt, wie das Mögliche verwirklicht, das Wirkliche zu Ende gedacht wird. So mischen sich in den Menschen des Faust, vor allem im Gegensatze von Faust und Mephisto, Goethe selbst, Merck, Herder, so mag es manchen Typus des Wagner unter Goethes Freunden gegeben haben, so schwimmen die Frankfurter Jugendliebe und Friederike in der Gestalt Gretchens zusammen. Ähnlich ist es mit der landschaftlichen Szenerie. Auch hier hat man an dem Spaziergang des Ostertages | leicht die Gegend der Frankfurter Heimat erkannt, durchsetzt mit Hindeutungen auf die Gelehrtenstadt Wittenberg und mit einzelnen Zügen des Thüringer Berglandes; Auerbachs Keller in Leipzig ist mit Namen aufgeführt. Merkwürdig aber ist es, wie wenig die Erklärer die erste tragische Stätte erkannt zu haben scheinen, an welche Fausts Weltfahrt führt. Gretchens Heimat, die enge Stadt dicht um den alten Dom gedrängt, der rinnende Brunnen auf der Straße, die Soldatenbesatzung, die Gärten und Häuschen vor dem Tor, wo auch der kleine Bürger seine Erholung auf eigenem Boden findet, – das alles ist unverkennbar Straßburg.
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Von besonderer Bedeutsamkeit aber zeigt sich diese individualisierende Anschaulichkeit in dem historischen Kolorit der Dichtung, das freilich in ihrer schließlichen Gesamtgestaltung einigermaßen verwischt erscheinen kann, dafür aber dem ursprünglichen Entwurf um so lebhafter aufgeprägt ist. Auch hierin verfolgt der Dichter nicht etwa einen geschichtlichen Zweck, er will nicht das Historische als solches darstellen, sondern es handelt sich mehr um die unwillkürliche Übernahme einer geschichtlichen Stimmung, der Stimmung der Renaissance. Denn mögen auch die Wurzeln der Faustsage teilweise weiter zurückreichen, so stammen doch ihre wesentlichen Züge, die uns alle im tiefsten ergreifen, erst aus der Renaissance; aus ihrem innersten Drang ist die Sage geboren, sie gibt ihrem ganzen Wesen den schärfsten und deutlichsten Ausdruck. So ist ihre Weltanschauung auch der Grundton des Goetheschen Faust geworden. Der Dichter hat ohne große und kleine Sonderkenntnisse aus seinem kongenialen Erleben heraus diesen Ton wunderbar getroffen. Er ist als Dichter der rückwärts schauende Prophet. Daher steckt vor allem in dem Urfaust eine Fülle von Beziehungen zu der Philosophie der Renaissance; für ihre einzelnen Richtungen und Bestrebungen sind hier geradezu die glück|lichsten Formeln geprägt, und man darf sagen, daß, wenn man die Philosophie dieser Zeit in großen Zügen charakterisieren will, man geradezu nichts Besseres dafür finden kann, als die Schlagworte aus Goethes Faust. Die Renaissance, ihr Wesen und ihr Wert sind heute wieder einmal ein umstrittenes Problem geworden. Ihre kunstgeschichtliche und vor allem ihre kulturgeschichtliche Bedeutung wird in unseren Tagen von den verschiedensten Seiten her neu diskutiert. Die seit der Zeit des deutschen Neuhumanismus üblich gewordene Auffassung scheint zum Teil in Frage gestellt, und diese Probleme werden um so akuter, als es sich um das Zeitalter handelt, welches religionsgeschichtlich den Ursprung der konfessionellen Scheidung enthält, unter der wir alle leiden und die den Jammer unserer nationalen Geschichte ausmacht – gerade am meisten vielleicht über den Höhepunkt der Gründung des Reiches hinaus. Wollen wir dieser Zeit unparteiisch und rein historisch gerecht
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werden, so müssen wir sie universalhistorisch betrachten, und gerade dann erweist sie sich als eines der bedeutsamsten Zeitalter, worauf menschliche Erinnerung bisher zurückblickt. Es ist eine große Gesamterfahrung, welche die Menschheit gemacht hat und worin die charakteristischen Bestimmungen, mit denen wir das Wesen der historischen Entwicklung überhaupt philosophisch verstehen müssen, gewissermaßen handgreiflich zutage liegen. Wenn wir von einer Geschichte der Menschheit reden, so dürfen wir nicht verkennen, daß ihre Anfänge und Ansatzpunkte zerstreut in dem Eigenleben der einzelnen Völker zu suchen sind, und daß der Zug des Weltgeschichtlichen in den großen Vorgängen besteht, womit diese Völker erst in engeren, dann in immer weiteren Kreisen sich zu einheitlichen Gebilden des geistigen Gesamtlebens miteinander verbinden. Die Vereinheitlichung der Völker zu einer gemeinsamen menschlichen Kultur, das ist die | Geschichte der Gattung. Darum bildet die große Epoche in der Weltgeschichte die Mittelmeerkultur, die innerlich durch griechische Kunst und Wissenschaft beherrscht, äußerlich durch die mächtige Gestaltung des Römerreichs zusammengehalten, im Christentum ihr reifes Ergebnis für alle Folgezeit hervorgebracht hat. Wir sind heute gewohnt, uns bewußt zu sein, daß diese Mittelmeerkultur bereits in den größeren Zusammenhang einer atlantischen Kultur eingetreten ist, und wir ahnen gerade in den Bewegungen unserer Tage den Fortschritt zu einer noch allgemeineren, den ganzen Planeten umspannenden Lebensgemeinschaft der Völker, so sehr die Erfahrung uns lehrt, welche Schwierigkeiten der Erfüllung dieses Ideals in der hartnäckigen Eigenart und der gewollten Verständnislosigkeit der Rassen füreinander entgegenstehen. Dieser ganze weltgeschichtliche Vorgang der kulturellen Vereinheitlichung vollzieht sich durch die Macht der Tradition, durch das Hineinwachsen neuer Volkskräfte in die schon bestehende Gemeinschaft des geistigen Lebens. Die Ergebnisse der geschichtlichen Bewegung setzen sich so in der Gattung, wie es die Apperzeptionsprozesse in der individuellen Psyche zeigen, zu festen Gebilden an und bestimmen die Arbeit auch derjenigen Stämme, welche mit der ungebrochenen Kraft ihres Naturells in diesen gemeinsa-
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men Entwicklungsgang eintreten. Aber die Tradition erzieht nicht nur, – sie erstickt auch die Eigenart und die Besonderheit derjenigen, die ihre geistige Gewalt erleiden: und unausbleiblich kommen Zeiten, in denen die so gehemmte und gar unterdrückte Natur sich gegen die Last der erzieherischen Tradition mit leidenschaftlicher Urgewalt auflehnt und im Kampfe dagegen hervorbricht. Diesen Vorgang zeigt das Zeitalter der Renaissance in typischer und großartiger Konzentration: es stellt ein Gesamterlebnis der historischen Menschheit dar, eine Erfahrung im größten Stil. Was in kleineren Wendungen | und Wandlungen auf den einzelnen Gebieten und in der Entwicklung einzelner Völker oder Individuen sich an solchen Auflehnungen der Natur gegen die Tradition einstellt und schließlich auch da den Nerv der kleinen Fortschritte bildet, die das Gesamtleben ruckweise erfährt, das kommt hier in größten Dimensionen als das Ringen einer ganzen Zeit im gesamten Umkreise des europäischen Kulturlebens zutage. Denn der Eintritt in die Mittelmeerkultur hat in der Tat von den germanischen und romanischen Völkern jene Opfer an innerer Eigenart verlangt, ohne die eben die Segnungen der erzieherischen Tradition nicht möglich sind. Bedenken wir nur, daß die Germanen diese Übernahme der Trägerschaft für die welthistorische Tradition durch nichts Geringeres erkaufen mußten, als durch das Opfer ihrer Religion! Durch die ganze lange Zeit, während der diese jungen Völker in die Lehre der Kirche gingen, um von ihr aus den tieferen Gehalt der antiken Kultur Schritt für Schritt zu erwerben, sehen wir mit diesen Lehrformeln das innere Wesen der Völker ringen; hie und da kommt es schüchtern zum Durchbruch, hie und da tönt es uns in zart elegischem Ton entgegen, – und nun auf einmal, da die Zeit erfüllt ist, bricht es mit leidenschaftlicher Energie im Kampfe gegen die einengenden Formen der Schulweisheit siegreich hervor. Die wahre Wiedergeburt, die diese Zeit erlebt, ist die des Genius der Völker selbst, der, in langer und oft öder Lehre reif geworden, nun die Fesseln der Schule sprengt und in freier Eigentätigkeit sich selbst auszuleben den Mut hat. Der Mensch der Renaissance macht den Eindruck dessen, was man in der Sprache des akademischen Lebens den Mulus nennt, des der Schule entronnenen, ihrer
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Fesseln fröhlich entledigten Jünglings, der nun, des bisherigen Lernens satt, in die Welt hinausstürmt auf freien Pfaden, an deren Ende ihm die Phantasie das Land der Verheißung vorzaubert. | Deshalb ist der Überdruß an der Schule und an ihrer Buchweisheit das erste charakteristische Merkmal in der Stimmung der Renaissance: Habe nun, ach, Philosophie, Juristerei und Medizin Und leider auch Theologie Durchaus studiert mit heißem Bemüh’n. Da steh’ ich nun, ich armer Tor, Und bin so klug als wie zuvor.
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Dies Gefühl der Ergebnislosigkeit, eine bekannte Täuschung, mit der die meisten Schüler die Lehre verlassen, dieser Ekel an den immer wiedergekäuten Früchten der Schulweisheit, diese Verzweiflung an einem inhaltlich befriedigenden Ertrage aller dieser Mühe war in der Renaissance die Grundstimmung gegen die scholastische Wissenschaft, in der man aufgewachsen war. Ihre Methode bestand ja gerade darin, irgendeine überlieferte Lehre in ihre Teile, in die einzelnen Sätze zu zerlegen, die Frage nach deren Richtigkeit durch Aufzählung der Autoritäten dafür und dawider in Fluß zu bringen und in der Wiederholung und formalen Prüfung der Beweise und Widerlegungen den Scharfsinn zu üben. Das Gefühl, daß dabei nichts Neues herauskomme, daß man mit diesen Methoden des Syllogismus immer nur wieder das Alte neu darstellen und durcheinander schieben, vielleicht klarer und deutlicher machen, niemals aber um wahrhaft neuen Gehalt bereichern könne, dieses tiefe Gefühl der Unbefriedigung tritt uns mit gleicher Heftigkeit bei allen bedeutenden Begründern der neueren Philosophie entgegen: bei dem Spanier Vives, bei dem Italiener Bruno, bei dem Engländer Bacon, bei dem Franzosen Descartes. Und so breitet sich eine skeptische Stimmung aus, jenes verzweifelnde Gefühl: Und sehe, daß wir nichts wissen können, – Das will mir schier das Herz verbrennen. |
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In zahlreichen Formen, zum Teil bestimmt durch verwandte Erzeugnisse der antiken Literatur, tritt uns dieser Skeptizismus der Renaissance entgegen: am geistreichsten in der spielenden Feinheit der Kritik und mit der liebenswürdigen Freiheit des überlegenen Geistes bei Michel de Montaigne, – am eindrucksvollsten vielleicht in dem kleinen Büchlein des Provençalen François Sanchez »Über die erste wichtigste und allgemeinste Wissenschaft davon, daß wir nichts wissen«. Hier werden alle brennenden Fragen der Zeit in dialogischer Form zwischen Lehrer und Schüler verhandelt, und jedes Kapitel endet wie das ganze Buch mit einem großen Fragezeichen: »Also du weißt es nicht?« »Nein«. »Nun, ich auch nicht. Was?« Der überlebten Gelehrsamkeit gegenüber ist der Drang nach freier, ursprünglicher und natürlicher Entfaltung die positive Leidenschaft der Renaissance. Schauen und Leben, das ist die Parole, und der Unmittelbarkeit im inneren und äußeren Dasein gilt die Sehnsucht der Zeit. Der Gegenstand aber, auf den sich beides gleichmäßig richtet, ist die Natur: sie soll im Schauen ergründet und im Mitgenießen erlebt werden. Daher wendet sich in der Renaissance der Überdruß an dem scholastischen Wissen überall gegen dessen begriffliche Form, gegen die Wortweisheit und die Spitzfindigkeit des Grübelns. »Zu den Sachen« lautet der Ruf, der an allen Ecken und Enden erschallt, und wenn man die Geheimnisse der Natur mit den Begriffen und Schlüssen nicht ergründet hat, so soll nun ein andächtiges und sehnsüchtiges Schauen dem heißen Drange Genüge tun: O säh’st du, voller Mondenschein, Zum letzten Mal auf meine Pein, Den ich so manche Mitternacht An meinem Pult herangewacht! | Dann über Büchern und Papier Trübsel’ger Freund, erschienst du mir Ach, könnt’ ich doch auf Bergeshöh’n In deinem lieben Lichte geh’n, Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
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Auf Wiesen in deinem Dämmer weben, Von allem Wissensqualm entladen, In deinem Tau gesund mich baden!
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Aus der Enge des begrifflichen Schülerlebens strebt die Philosophie auf den Flügeln der Phantasie in die Natur hinaus, um sie als Ganzes unmittelbar zu erfassen. Nicht mehr aus den Büchern, aus den überlieferten Gedankenformen soll die neue Erkenntnis wachsen, aber auch noch nicht aus der mühsamen Arbeit am Einzelnen: weder die abstrakten Begriffe genügen ihr noch die kleinen Hilfsmittel der einzelnen Forschung: Ihr Instrumente freilich spottet mein Mit Rad und Kämmen, Walz und Bügel. Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein: Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.
Die Phantasie, mit der das Geheimnis der Natur lebendig ergriffen werden soll, schwelgt im Ganzen. Sie umspannt mit mächtigem Zuge die Unendlichkeit des Weltalls. Aus dieser ästhetischen Stimmung heraus sind die wertvollsten Ergebnisse der Naturerkenntnis in der Renaissance erwachsen. Die altgriechische Vorstellung, daß die Schönheit des Universums in der Einfachheit und Geschlossenheit seiner mathematischen Ordnung und Bewegung bestehe, hat die Grundlage für die Lehre des Kopernikus gebildet, und die gewaltige Umwälzung, die unsere ganze Weltvorstellung durch deren siegreiche Ausbreitung gefunden hat, besitzt ihren wertvollsten Sinn in dieser Erweiterung des Anschauens in die Unendlichkeit der Welten. | Vor allem sind es die italienischen Naturphilosophen, ein Patrizzi, ein Giordano Bruno, die jenen Gedanken des deutschen Astronomen mit Hilfe neuplatonischer Vorstellungen zu Ende gedichtet und damit die neue Weltvorstellung begründet haben. In dieser aber steckt namentlich ein neues Moment, das über die antike und die mittelalterliche Weltanschauung gleichmäßig hinausgeführt hat: es ist die Vorstellung von der wesenhaften Gleichartigkeit des Universums in allen seinen Teilen. Jener große Wertunterschied von Himmel und Erde,
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die Herabwürdigung des Irdischen als des Wechselvollen und Unvollkommenen gegenüber der ewig-gleichen Vollkommenheit der Gestirnbewegungen, die Meinung, daß ebenso diese Welt unter dem Monde aus schlechterem Stoff bestehen müsse als die ätherischen Sphären des Himmels, – alles dies stürzte mit einem Male zusammen, und die Beschränktheit der Weltvorstellung, die unsere Erde als den Mittelpunkt einer geschlossenen Kugel dachte, fiel dahin mit allen ihren Folgerungen in bezug auf die Stellung des Menschen. Ein schönheitstrunkener Pantheismus ergriff die Geister des 16. Jahrhunderts: er ist die Vorform, aus der sich die moderne Naturforschung mit ihrer vollkommen neuen mathematischen Begriffsarbeit erst seit Galilei herausgearbeitet hat. Die Nüchternheit der mechanischen Theorie hat erst später die ästhetische Phantasie abgelöst, in der die schöpferischen Geister der Renaissance das Ganze der Welt mit Einem Blicke zu erschauen hofften. Sie alle standen unter dem Zeichen des Makrokosmus:
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Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem Andern wirkt und lebt, Wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen Und sich die goldenen Eimer reichen, Mit segenduftenden Schwingen Vom Himmel durch die Erde dringen, Harmonisch all das All durchklingen! Welch Schauspiel! |
Doch der Goethe’sche Faust fährt unmittelbar aus diesem Entzücken heraus schmerzlich fort: 154
Aber ach, ein Schauspiel nur! Wo fass’ ich dich, unendliche Natur?
Dem Renaissancemenschen genügt dies trunkene Schauen nicht: er will leben, genießen, herrschen, schaffen. Er fühlt eine mächtige Expansionskraft in sich, eine ebenfalls von der Phantasie getragene Sehnsucht nach großer und weiter Betätigung. Das hängt geschichtlich mit der rapiden Erweiterung zusammen, die das Dasein der europäischen Völker seit den Zeiten der Kreuzzüge
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erfahren hatte, und zugleich mit jenen bedeutsamen geographischen Entdeckungen, die den europäischen Kulturmenschen weit über die bisherige Bühne seiner Geschichte in völlig neue Zonen führten und ihn auf der ganzen Oberfläche des Planeten heimisch zu machen begannen. Die neuen und gesteigerten Beziehungen zum Orient, die Entdeckung Amerikas und die Öffnung des Stillen Ozeans, das alles wirkte als ein exotischer Zauber auf die Phantasie, von dem wir uns nur noch eine schwache Vorstellung machen können und vielleicht einen geringen Nachklang in dem Reiz der kolonialen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte erlebt haben. Für die Menschen des 15. und 16. Jahrhunderts kam diese Ausweitung ihrer Lebenslinien wie eine plötzliche Offenbarung, die sie von neuen und unerhörten Gestaltungen des Lebens, von einer wunderbaren Ausbreitung der Menschenherrschaft auf der Erde träumen ließ. Goethes »Erdgeist« glaubten sie unmittelbar am sausenden Webstuhl der Zeit schaffen zu sehen, und heißer Drang ergriff sie, in großen Verhältnissen daran mitzuwirken. Und schon waren der bedeutsamen Erfindungen genug, die solche Herrschaft des Menschen zu fördern sich anschickten. Die Uhr, der Kompaß waren da und halfen den kühnen Seefahrern auf ihren abenteuerlichen Wegen, | das Schießpulver war die mächtige Waffe, die nicht nur daheim mit den militärischen Verhältnissen auch die politischen und sozialen Zustände umzugestalten begann, sondern auch in den fernen Ländern die Besiegung und Unterwerfung der eingeborenen Völker leicht machte. Die Buchdruckerkunst endlich gewährte eine ungeahnte Beschleunigung und Ausbreitung des Gedankenaustausches, eine rapide Vereinheitlichung und gewaltige Ausdehnung des geistigen Lebens. So verstehen wir, wie in den Menschen jener Zeit Riesenpläne emporschossen, exotischen Pflanzen gleich, kühne und wunderliche Gedanken von der Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft und aller ihrer Lebensverhältnisse, – auf schlanken, gebrechlichen Stielen seltsame Blumen. Mehr als eine der wissenschaftlichen Taten jener Zeit bezeichnet sich selbst als die große Erneuerung. Instauratio magna ist der Titel, den Campanella ebenso wie Bacon seinem Werke gege-
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ben hat, und gemeinsam ist ihr Sinn darauf gerichtet, durch ein Wissen, das alle diese neuen Hilfsmittel methodisch verwenden möchte, nun erst mit vollem Bewußtsein die Herrschaft des Menschen über die Natur zu stärken, zu befestigen, auszubreiten. Das Regnum hominis ist das Ziel aller dieser sehnsüchtigen Bestrebungen. Selbst ein so nüchterner Mann wie Bacon hat uns das Fragment einer Utopie hinterlassen, seine Nova Atlantis, worin er Luftschlösser von all den unerhörten Erfindungen aufführt, die dort in einem eigenen Laboratorium, im Hause Salomonis, systematisch gemacht werden. In Mikroskop und Teleskop, in Mikrophon und Telephon, in Dampfschiffen und Flugmaschinen entwirft er sozusagen das Programm für unsere heutige Technik; er traut der Chemie zu, durch zweckmäßige Verarbeitung der Stoffe die Ernährung des Menschen zu vereinfachen, Krankheiten zu verhüten und zu vertreiben, das Leben zu verlängern. Er hofft selbst in den verschiedenen Formen des Per|petuum mobile, die sein kluges Inselvölkchen erfunden hat, mühelos der Natur unerschöpfliche Kraftquellen abzugewinnen. Ähnlich dem englischen Kanzler hat der italienische Dominikanermönch Campanella in seinem Sonnenstaat das Idealbild menschlicher Kultur entworfen, die durch geschickte Ausnutzung der Naturkräfte und durch eine von der Wissenschaft geleitete Ordnung der sozialen Verhältnisse den Menschen in weitester Ausdehnung bei geringer Mühe ein behagliches Leben mit dem Genuß geistiger Freuden gewähren wird: ein vierstündiger Arbeitstag soll einem jeden den Genuß aller materiellen und geistigen Güter des gemeinsamen Lebens möglich machen. Wo solche Hoffnungen den Menschen erfüllen, wo er aus den engen Schranken seines Lebens in eine so weite, großartige Gesamttätigkeit hinaussieht und hinausringt, da können wir uns nicht wundern, wenn diese Neuerungssucht sich in großsprecherischen Verheißungen äußert und in abenteuerlichen Lebensgängen ihren Ausdruck findet. Wie den Menschen der Renaissance, selbst ihren ernsten Philosophen, gerade eben z. B. Bacon und Campanella, etwas Großsprecherisches, man möchte beinahe sagen, etwas Renommistisches beiwohnt, so neigen sie auch alle zu ungewöhn-
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licher, von der Phantasie gehetzter, unsteter Lebensführung. In Faust’s Weltfahrt sind diese Motive, wie schon in der Sage, auch von Goethe glücklich zur Darstellung gebracht; wie Mephisto den Gelehrten, den seine Bücherwelt wie die Enge des Kerkers drückt, in die Freiheit des Lebens, in den Genuß der weiten Welt hinauslockt und als der Diener des Erdgeistes, den er anfangs darstellt, seinen Zaubermantel ausbreitet, um Faust in die Weite des Genusses und der Betätigung hinauszuführen, so sehen wir gerade die bevorzugten Geister der Renaissance häufig in abenteuerndem Leben ihre beste Kraft zersplittern und zerwühlen. Wer dächte dabei nicht | an den unglücklichen Giordano Bruno, der so durch Europa geirrt ist, gehetzt von seinen Verfolgern, aber ebenso von innerer Unruhe und unstetem Triebe. Nachdem er früh das Ordensgewand des Dominikaners abgeworfen hat, wandert er durch Italien und Südfrankreich, sucht vergebens in dem calvinistischen Genf eine Unterkunft, lehrt dann zeitweilig an der Pariser Universität, erntet am Londoner Hofe und in den gelehrten Kreisen von Oxford Ruhm und Bewunderung, sucht in Marburg, in Wittenberg, in Prag, in Helmstedt eine Stätte an deutschen Universitäten, zieht den Verlegern nach, die kühn genug sind, seine des Verbots sicheren Schriften zu drucken, folgt endlich den Lockrufen eines Edelmanns, der von ihm in die Geheimnisse der schwarzen Kunst eingeweiht zu werden hofft, und wird von diesem der Inquisition ausgeliefert, die ihn schließlich in Rom verbrennen läßt. – Und neben ihm sein Ordensbruder, der vorhin genannte Campanella! Auch er wird früh verfolgt, weil er die Theologie kenne, noch ohne sie gelernt zu haben. Auch er flüchtet, aber auf ihm liegt wesentlich der Verdacht, welchen er durch seine renommistischen Verkündigungen von den hohen Aufgaben und den unerhörten Neuerungen, die von der Wissenschaft ausgehen sollen, auf sich gelenkt hat. So ist es erklärlich, daß dieser Verteidiger der päpstlichen Universalherrschaft und des Primates der spanischen Monarchie von der spanischen Inquisition verfolgt, gefoltert, mehr als ein Vierteljahrhundert in Kerker und Haft gehalten wird. Endlich befreit, sieht er sich bald neuen Verfolgungen ausgesetzt und entrinnt ihnen mühsam, indem er auf dem Boden Frankreichs bei Gassen-
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di, dem geistvoll skeptischen Priester, der den Bestrebungen der neuen Wissenschaft zugetan war, ein Asyl und unter dem Schutze Richelieus endlich die Muße zur Herausgabe seiner Werke findet, bei der ihn der Tod überrascht. Noch abenteuerlicher und charakteristischer für seine | Zeit ist die Weltfahrt eines Deutschen, dessen Geschicke vielleicht den einzelnen Zügen der Faustsage nicht fern stehen: Agrippa von Nettesheim. Ein Kölner von Geburt, studierte er Juristerei und Medizin und fiel in Paris unter eine Gesellschaft junger lebenshungriger Leute, mit denen er an der abenteuerlichen Einnahme eines Schlosses in Katalonien sich beteiligte. Bald aber trennte er sich von diesen Gesellen und hielt in Dole Vorlesungen über Reuchlin und seine Kunst des wundertätigen Wortes, wanderte dann nach London und Köln, nahm seine Studien in Würzburg wieder auf. Plötzlich taucht er in Trient und Verona als Offizier bei einem Geleitzuge zum Konzil von Pisa auf. Nach einem längeren Aufenthalte in Pavia bewarb er sich im Jahre 1517 in Metz um die Stelle als Syndikus und Orator der Stadt und hat in ihr bei Gelegenheit eines Rechtsfalls mutig und erfolgreich gegen Hexenverfolgung und Tortur gewirkt. In derselben Stadt verlor er seine erste Frau, die getreulich seine Wanderungen mitgemacht hatte. Dann zog er nach Köln, wo er mit Ulrich von Hutten zusammentraf, weiter nach Lyon, nach Antwerpen, wo ihm eine zweite Frau starb, nach Bonn und schließlich nach Grenoble, wo er im Jahre 1535 gestorben ist. Diesen Streifzügen seines Lebens, die ihn unruhig durch die Länder geführt haben, entspricht auch sein geistiges Suchen nach einer festen Stätte wissenschaftlicher Einsicht. Aber auch hierin ist er ruhelos umhergeirrt, und während er in bewunderungswürdiger Weise bei all diesem vielbewegten Wanderleben sich eine Gelehrsamkeit auf allen Gebieten des Wissens aneignete, über die schon seine Zeitgenossen gestaunt haben, war er doch im tiefsten Sinne unbefriedigt; er durchschaute die Lückenhaftigkeit und Unsicherheit dieses zusammengelesenen Wissens so gut wie nur irgendeiner, und in seiner Schrift »über die Ungewißheit und Eitelkeit der Wissenschaften« hat er mit rücksichtsloser Schärfe die skeptische Zersetzung | dieses seines
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eigenen geistigen Schatzes vollzogen. Es kommt hinzu, daß die Not, mit der er sein Leben lang für sich und die Seinen zu ringen hatte, doch die Stimmung seines mutigen und lebensdurstigen Herzens gedrückt und getrübt hat; und was er in seinem Wanderleben von menschlichen Dingen, von öffentlichen und persönlichen Verhältnissen gesehen hatte, das entsprach seinen idealen Anforderungen so wenig, daß sich die Züge der Zeit bei ihm in düsteren Farben malten. Von diesem selben ringenden und leidenschaftlichen Geschlecht, aus dem Hutten jenes berühmte »Es ist eine Lust zu leben« jubelte, gibt Agrippa die pessimistische Seite zu erkennen, das Unglück der Unfertigkeit, der Geteiltheit und der Zerrissenheit. Am schmerzlichsten ist diese Verzweiflung für ihn da, wo er sich sogar von der Unzulänglichkeit desjenigen überzeugen muß, worin er mit immer erneuten Versuchen die Lösung seiner Zweifel und die Erlösung von der Not des Lebens zu finden hoffte, der magischen Kunst. Denn auf ihn trifft völlig der Schluß der Klage zu, mit der Goethes Faust den großen Monolog eröffnet: Auch hab’ ich weder Gut noch Geld Noch Ehr’ und Herrlichkeit der Welt. Es möchte kein Hund so länger leben: D’rum hab’ ich mich der Magie ergeben.
Agrippas Schrift über die Geheimwissenschaft (De occulta philosophia) ist nur eines von den vielen, aber wohl das bezeichnendste und lehrreichste unter den Büchern, die sich in dieser wunderlichen Zeit mit der Magie beschäftigt haben. Diese Bestrebungen bilden ein eigenes Gegenstück zu der Entfaltung verstandesmäßiger Klarheit und scharfer Kritik, womit sich das Denken der Renaissance der kirchlichen Tradition gegenüberstellte, und man ist leicht verwundert, wie dieselben Männer, die dem Glauben so kühne Skepsis entgegenbringen, gegen all den Aberglauben ge|heimer Überlieferung so wenig Widerstandsfähigkeit zeigen. Allein diese Herrschaft der Magie wurzelt nicht nur in der langen, aus der Stoa und dem Neuplatonismus stammenden Tradition, sondern in der phantasievollen Betrachtung des Universallebens.
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Aus der alten Weltvorstellung war der Glaube an die bestimmende Macht der Gestirne über das irdische Leben bestehen geblieben: sie galten als die leitenden Intelligenzen, als die Herren des Geisterlebens, worin der magische Idealismus der Neuplatoniker den allwaltenden Weltzusammenhang sich umgedeutet hatte. Dem Menschen aber, der von der ungezügelten Ahnung erfüllt war, daß er zur Herrschaft über die Natur berufen sei, ihm sollte die Macht gegeben sein, durch geheimnisvolle Formeln, durch die Wunder des Wortes Herr und Meister selbst über die höheren und mächtigeren Geister zu werden. Eine verborgene Gesetzmäßigkeit sollte hinter der tageshellen Wirklichkeit stecken, Ordnungen der Herrschaft zwischen den waltenden Geistern, göttlicher und teuflischer Art, und die Beschwörungen mystischer Formeln galten als die geistige Kraft, mit deren Kenntnis der Mensch die geheimnisvollen Mächte in seinen Dienst zu stellen vermöchte. Wie Goethe in der Gestalt und der Rolle des Mephistopheles diese Motive verwendet hat, ist einem jeden bekannt: gerade hierin tritt uns das geteilte und mit sich selber ringende Wesen der Renaissance bei ihm besonders deutlich entgegen. »Die Hölle auch hat ihre Rechte«. Auch die greifbarste Auszweigung, welche die Magie zu Faust’s Zeiten in ihren medizinischen Konsequenzen erfahren hat, fehlt bei Goethe nicht. Die Magie im kleinen, die mit geheimnisvollen Mitteln die Schäden des menschlichen Leibes heilen will, nahm in den Bestrebungen der Zeit einen breiten Raum ein: Paracelsus ist ihr bekannter Prophet. Der Stein der Weisen, dessen Besitz alle Geister in den Bann des Menschen zwingen, | der die andern Metalle in Gold verwandeln lehren soll, der den Menschen reicher und mächtig macht in der offenbaren, wie in der geheimen Welt, – er soll auch die Kraft verleihen, alle Krankheiten zu heilen, die schädlichen Geister, die der gesunden Entfaltung des individuellen Lebensgeistes entgegenwirken, zu vertreiben und fernzuhalten. So erscheint auch der Goethesche Faust mit seinem Vater als einer der Quacksalber, die mit allerlei Tinkturen und Salben, »mit höllischen Latwergen« die Pest zum Unsegen des Volkes zu bekämpfen gesucht hatten:
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Da ward ein roter Leu, ein kühner Freier, Im lauen Bad der Lilie vermählt Und beide dann mit offnem Flammenfeuer Aus einem Brautgemach ins andere gequält. Erschien darauf mit bunten Farben Die junge Königin im Glas, – Hier war die Arzenei; die Patienten starben, Und niemand fragte, wer genas.
So bunt und mannigfaltig spiegelt sich die Weltanschauung der Renaissance in dem Goetheschen Faust: was die Philosophen gedacht und gewollt, tritt uns in anschaulichen Bildern entgegen, und fast vollständig sind alle bedeutsamen Züge der Zeit in der Dichtung lebendig vertreten. Was wir vermissen, ist merkwürdigerweise wesentlich nur Eines: das ist die religiöse Inbrunst der Reformation. Was Faust bei der Katechisation als seine gefühlstiefe Überzeugung ausspricht, kann doch gerade in dieser Hinsicht nicht als Wiedergabe der historischen Stimmung angesehen werden. Es entspricht zwar dem Grundzuge der Mystik, der schließlich auch die Reformation aus sich herausgetrieben hat; aber deren eigene religiöse Gefühlsart kommt darin keineswegs zum Ausdruck. Wir brauchen uns darüber nicht zu wundern; denn gerade diese Gefühlsart lag Goethe zu der Zeit, da er den Urfaust entwarf, | verhältnismäßig fern. Wir sehen das vielleicht am deutlichsten an seinem Götz. Auch hier lebt ja dieselbe Renaissance, und wie lebt sie! Da sind Fürsten und Bischöfe, der Kaiser, Ritter und Landsknechte, Bürger, Bauern, Zigeuner: und dazu der ganze Apparat von Mord und Totschlag, Kampf und Intrige, List und roher Gewalt, Brand und Schlacht, Gefängnis und Erlösung. Alle Töne der Zeit rauschen vielstimmig ineinander – es fehlt nur der Orgelton der Reformation. Denn das Glöcklein des Eremiten, des Bruder Martin, dem wir bei den Bauern begegnen, klingt doch nur schwach und unbedeutend. Hier legt Goethe in dem Gesamtbilde der Zeit den Schwerpunkt in die nationale Bewegung; im Faust ist es die mystisch-philosophische Seite, die er vor den Fragen des kirchlichen Glaubens heraushebt.
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Noch eins vielleicht wird das durch die heutigen Probleme geschärfte Auge vermissen: das soziale Moment, das in den utopistischen Entwürfen der Renaissance sich bereits deutlich bemerkbar macht, und das in der Faustdichtung vollständig zurücktritt. Denn in ihr ist gerade im Gegensatz dazu der leidenschaftliche und kraftgewaltige Individualismus der Renaissance auf den höchsten Ausdruck gebracht. Für ihn besaß die schöngeistige Kultur des 18. Jahrhunderts und zumal jene Epoche der »erregten Trotznatur« mit ihrem Sturm und Drang ein kongeniales Verständnis. Auch hier ein Abwerfen der Fesseln und Regeln, ein Zurückdrängen zur Natur, eine Leidenschaft der Unmittelbarkeit, der gefühlsstarken Selbstentfaltung. Auch hier überall die große Frage: Grübeln oder Genießen? Das sentimentale und das heraustobende Individuum teilen sich in die Züge der Zeit, die Werther und die Götz stehen sich gegenüber. Und wie viele Fauste gibt es in Goethes jungen Tagen, die alle dieses Thema des Übermenschentums variieren! Warum hat Goethe allein das Problem des Faust | geklärt und gelöst? Weil er allein diese Abklärung an sich erlebt hat. Wir erfahren sie in den Wandlungen des Gedichtes selbst, mit der Einstellung des Urfaust in den Gesamtplan, welcher das Fragment von 1790 bereits bestimmt und, schon damals feststehend, in der Ausführung des zweiten Teiles zur vollen Geltung gekommen ist. In der reinen Schönheit antiker Kunst ist der stürmische und leidenschaftliche Drang des Welterfassens und Weltbezwingens zur Ruhe gekommen. Das hat Goethe in sich durch die italienische Reise erfahren. Mit ihr sinkt die stürmische Jugend für ihn dahin, und die Abgeklärtheit der Reife breitet sich über das neubegonnene Leben. So wird auch für Faust die Erhebung der Welt in die Anschauung der Kunst zur Rettung: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.« Mit dieser Stimmung erwacht Faust wie neugeboren im Beginne des zweiten Teils und die erschütternde Tragödie des ersten ist verschwunden. Von dem ganzen Gretchenleid ist in allen den Wandlungen, die Faust im zweiten Teil durchmacht, kaum mit einem Wort die Rede. Nur im letzten Moment der mystischen Schlußszene wird der Faden fast wie im Traum wieder hereingesponnen, und die Frühgeliebte erscheint als Una poenitentium in
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den seligen Chören. So grausam es klingt, es hat sich bewahrheitet, was Gretchen am ersten Abend zu Faust gesagt hat: Denkt Ihr an mich ein Augenblickchen nur, Ich werde Zeit genug an Euch zu denken haben.
Die Leidenschaft, die für das Weib das Geschick ihres Lebens war, ist für den Mann nur eine Episode, von der in seiner Entwicklung keine andere Spur zurückbleibt, als eben ihr Vergessen. Der kastalische Quell ästhetischer Anschauung ist für Faust, wie für Goethe selbst, auch die Lethe, die den Jugendsturm aus dem Leben hinwegspült. | Eben damit aber kommt in Goethe seine tiefste Wesensverwandtschaft mit dem Geiste der Renaissance zutage. Denn auch dieser hat seinen leidenschaftlichen Drang, seine stürmische Empörung gegen die Fesseln der Tradition in der Klarheit und Reinheit der griechischen Kunst gekühlt. Das ist, so weit ich sehe, die wahre Bedeutung der Antike für die Renaissance. Die Aufnahme der klassischen Literatur und Kunst ist ja welthistorisch doch nur der krönende Abschluß jener Erziehung, welche die modernen Völker Schritt für Schritt während des Mittelalters durch die Zufuhr des antiken Bildungsstoffes erfahren haben, und das Aufringen ihrer innerlichen Individualität aus den engen Formen dieser Schule ist zu klarer Selbsterfassung und zu leuchtender Selbstgestaltung erst dadurch gelangt, daß nun in der Renaissance das Reifste und Höchste aus der Tradition entdeckt, erfaßt und in das eigene Leben aufgenommen wurde. Gewiß ist es unrecht zu meinen, daß die großen geistigen Leistungen der Renaissance lediglich aus der sogenannten Wiedergeburt des klassischen Altertums hervorgegangen seien. Diese Auffassung verkennt die tiefen Impulse, mit denen das Eigenleben der Völker sich darin herausgerungen hat. In Wahrheit ist die Renaissance eine Wiedergeburt dieser Völker selbst, die sich von den engen Schranken ihrer ersten durch spärliche Reste der Tradition geleiteten Erziehung mit der ganzen Gewalt ihrer zum Selbstbewußtsein gelangenden Ursprünglichkeit befreien und in eigene schöpferische Tätigkeit eintreten. Aber diese ihre eigene Tätigkeit wird nun aus ihrer leidenschaftlichen Unruhe zu
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gestaltender Kraft erst durch eine neue Erziehung gebildet, die sie dem Wertvollsten, jetzt erst Entdeckten, aber auch jetzt erst Begreifbaren aus jener Tradition verdankt. Die Künstler, die Denker, die Forscher der Renaissance würden ihre großen Schöpfungen niemals erzeugt haben, wenn sie nicht ihr freigewordenes und leidenschaftlich erlebtes Eigenwesen | darin niedergelegt hätten. Aber sie würden auch diesen neuen Inhalt niemals zu so vollendeten Gestalten ausgelebt und geformt haben, wenn sie nicht in dem schönen Maß antiker Kunst und Wissenschaft die Bändigung und Selbstgestaltung ihres genialen Dranges gefunden hätten. Deshalb laufen in der Renaissance wohl die abenteuerlichen Leidenschaftlichkeiten der um ihre Selbstbefreiung ringenden Übermenschen neben den glatten und seelenlosen Nachahmungen antiker Formen einher: aber die großen Leistungen der Zeit erwachsen überall aus jener Durchdringung der erwachten Selbständigkeit des neuen Geistes mit der Zucht der klassischen Überlieferung. Je stärker die Leidenschaft ist, mit der die Renaissance sich gegen die Fesseln der Tradition aufbäumt, um so wunderbarer ist die geheime Macht, die eben diese Tradition über sie ausübt. Die äußeren, die rauhen und eckigen Formen der ersten Erziehung fallen ab, und mit tieferer innerer Gewalt leitet der Geist der Überlieferung die freigewordene Seele zur vollkommenen Gestaltung ihres Lebens über. Darin bleibt uns die Renaissance der Typus im Fortschritt der Menschengeschichte. Niemals ist es die Tradition, die ihn allein macht: die Ursprünglichkeit des neu in den historischen Zusammenhang eintretenden Geschlechtes, die Seele der neuen Zeit muß hinzukommen. Sehr glücklich ist gezeigt worden, wie die Unfruchtbarkeit der byzantinischen Kultur der größte und bedeutsamste Beweis für dieses Verhältnis ist. Aber die Ursprünglichkeit tut’s auch nicht allein – das eben beweist wiederum unsere Renaissance –: ihre leidenschaftliche Urkraft will durch die Tradition gebändigt sein, um Gestalt zu bekommen. So kommt es in der Entwicklung der menschlichen Geschichte zuletzt immer darauf an, daß man die Tradition nicht nur als Schüler erleidet, sondern sie mit kräftiger Eigenart bemeistert. Das ist das wahre Ver|hältnis, worin sich moderne Kunst und Wis-
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senschaft zur alten befinden. Aus den natürlichen Begabungen der Völker, aus ihrer seelischen Eigenart strömen die neuen vorwärtsdrängenden Kräfte in das geschichtliche Gesamtleben der Menschheit ein: aber ihre wahre und schöpferische Entfaltung erfahren sie erst dadurch, daß sie selbst historisch werden, daß sie sich mit der Überlieferung tränken, sie in sich aufnehmen und zu ihrem eigenen Wesen machen. Erst mit dieser Bemeisterung der Tradition wird der natürliche Mensch zum wahren, zum historischen Menschen, zum Träger der Kultur. |
Schillers transzendentaler Idealismus (Zu Schillers hundertjährigem Todestage. 1905)
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as die Philosophie für Schiller bedeutet hat, ist im allgemeinen leicht erkennbar und fraglos festzustellen: was aber Schiller für die Philosophie bedeutet hat, ist eine nicht ganz so einfach und selbstverständlich zu beantwortende Frage. Auch darüber allerdings besteht kein Zweifel, daß der Dichter mehr als irgendein anderer von Kants Schülern dafür gewirkt hat, den Geist und die Gesinnung der kritischen Philosophie in die allgemeine Vorstellungsweise überzuführen und im Bewußtsein der deutschen Bildung heimisch zu machen, und daß diese seine Wirkung mit ununterbrochener Mächtigkeit noch bis auf den heutigen Tag von seinen philosophischen Dichtungen und ästhetischen Abhandlungen ausgeht. Allein damit ist noch nicht entschieden, welchen Anteil Schillers eigenes Denken an der Fortentwickelung der kantischen Lehre, an der Ausgestaltung und Umgestaltung des kritischen Idealismus gehabt hat. In dieser Hinsicht sind die Ansichten wohl noch nicht völlig geklärt. Es ist nicht zu leugnen, daß Schiller selbst sehr deutlich die Punkte gekennzeichnet hat, an denen er, wenn nicht vom Geist, so jedenfalls vom Buchstaben der kantischen Philosophie abwich, und daß er dabei zwar nicht über die Prinzipien, aber um so mehr über einige Ausführungen der kritischen Lehre hinauszugehen sich bewußt war. Ob man von diesem letzteren Bewußtsein sagen darf, der Dichter habe damit sich selber mißverstanden, weil er mit seiner ver|meintlichen Neuerung wesentlich doch im Bannkreise der kantischen Philosophie bleibt – das wird schließlich darauf hinauskommen, wie hoch man die Notwendigkeit des Zusammenhanges jener Prinzipien mit diesen besonderen Anwendungen einschätzt. Diese Schwierigkeit gilt nicht nur für Schillers Verhältnis zu Kant. Die kritische Gedankenwelt war kein starres, unverrückbar festgelegtes System; sie war es weniger als die irgendeiner anderen Philosophie. Sie
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stellte vielmehr eine in sich bewegte Mannigfaltigkeit dar, deren unerschöpflicher Reichtum eine Fülle lebendiger Beziehungen und Verwickelungen enthielt und zur Entfaltung bringen mußte. Da war es und bleibt es denn schwer, das Maß der Verschiebung eindeutig zu bestimmen. Fichte konnte seine Lehre noch für die recht verstandene kantische halten, als er – nicht bloß nach Kants eigenem Urteil – offensichtlich längst darüber hinausgegangen war: Schiller kann selbst da noch für einen echten Kantianer gelten, wo er über den Meister hinauszugehen glaubte. Auf der einen Seite kann man die gesamte Entwickelung des deutschen Idealismus als die Ausbildung des Systems der Vernunft betrachten, das durch die Kritik begründet worden war: auf der andern Seite kann jede Phase dieser Entwickelung vermöge der Herausarbeitung eines besonderen Moments, das sie charakterisiert, als ein Abweichen von Kant und ein Hinausgehen über ihn dargestellt werden. Und dies muß dann auch für die spezifischen Lehren anerkannt werden, bei denen Schiller seine Selbständigkeit empfand und betonte. Sie haben das Recht dazu um so mehr, wenn sie sich als Ansatzpunkte erkennen lassen, an denen nachher kräftige Seitentriebe aus dem Hauptstamme herausgewachsen sind. Eines aber wird man bei der Feststellung der Bedeutung Schillers für die Entwickelung der Philosophie immer im Auge behalten müssen: das ist, daß er niemals | eigentlich darauf aus war, ein System der Philosophie oder eines ihrer Teile, etwa der Ästhetik, lediglich als solches und um des Systems willen auszubilden. Das Motiv seines Philosophierens war zunächst das persönliche Bedürfnis nach einer begrifflichen Begründung jener Kulturpsychologie der Kunst, die den innersten Kern seiner Überzeugungen ausmachte und in der alle Fäden seiner Individualität, alle Interessen seiner Lebensführung zusammenliefen. Diese seine Lebensgedanken in einer Weltanschauung sicher zu verankern, war für den Dichter der Inbegriff seines metaphysischen Bedürfnisses, und als ihm die optimistische Harmonielehre der Aufklärung in die Brüche gegangen war, da ging er mit harter, immer neu ansetzender Begriffsarbeit daran, das neue philosophische Evangelium sich anzueignen. Sobald es ihm aber gelungen war, sich mit seinen
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Interessen in diesem Gebiete anzusiedeln und jene Grundüberzeugung, die er mitbrachte, in diesem festen Boden Wurzel fassen zu lassen, war der philosophische Teil seiner Lebensarbeit vollbracht. Allein es handelte sich dabei für ihn nicht nur um diese persönliche Selbstverständigung, sondern die begriffliche Klarheit über die Stellung der Kunst in den Vernunftwerten der Menschheit und ihrer geschichtlichen Entwickelung galt dem philosophierenden Dichter zugleich als das wesentliche und unerläßliche Bindeglied in dem Zusammenhange der neuen Bildung der wahrhaften Humanität, die er für sein Zeitalter heraufzuführen sich berufen und mitberufen fühlte. Hiernach ist auch Schillers Stellung zu Kants transzendentalem Idealismus zu bemessen. Der Dichter hat den gewaltigen Gedanken des Philosophen mit der ganzen Kongenialität seiner Persönlichkeit ergriffen: er fand darin den festen Ankergrund seines eigensten Wesens. Aber die Art, wie er auf diesem neuen geistigen Lebensgrunde seine eigene Aufgabe löste und die Begriffe für seine Über|zeugung zurechtlegte, war von Anfang an frei von aller schülerhaften Befangenheit: mit voller Beherrschung der Gedanken prägt er ihnen seine eigene, aus der allgemeinen Redeweise glücklich herausgearbeitete Form auf; er verschmäht es auch nicht, reinholdsche oder fichtesche Wendungen, wo sie ihm leichter zum Ziele zu führen scheinen, sich anzueignen. Gelegentlich hat er sogar später einmal in den Formeln der Identitätsphilosophie geredet. Das Wesentliche und Wertvolle ist ihm immer, zu zeigen, daß in dem Prinzip, worin er das Eigenste der neuen Philosophie mit Recht erblickt, die gemeinsame Wurzel alles moralischen und alles ästhetischen Lebens aufgedeckt ist. Darum ist Schillers Zugehörigkeit zum transzendentalen Idealismus in erster Linie diejenige einer Grundüberzeugung: daß es für das Bewußtsein keine andere Realität, keine anderen »Gegenstände« gibt als diejenigen, die es aus seiner eigenen Vernunftbetätigung heraus erzeugt. Die Verwandlung der Welt in die Gegenstände des Bewußtseins ist die entscheidende Tat des kritischen Philosophen. Und dies Entscheidende hat Schiller genau so scharf gesehen und genau so fest ergriffen wie Fichte. Es ist der Grund-
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ton, auf den alle philosophischen Leistungen Schillers gestimmt sind. Wenn man diese Spontaneität des Geistes in der Erzeugung seiner Gegenstände Freiheit nennt, so gilt es in diesem – aber freilich nur in diesem! – Sinne, daß Freiheit der Zentralbegriff des schillerschen Denkens, wie des kantischen und des fichteschen ist. Aber die allgemeine Formel der Autonomie, die das Wesen des transzendentalen Idealismus ausdrückt, enthält eine Mehrheit von Bedeutungen in sich, die in Kants Lehre sich vielfach miteinander verschlingen und je nach dem Vorwiegen der einen oder der anderen dem Grundgedanken von der Erzeugung des Gegenstandes aus der | Spontaneität des Bewußtseins eine verschiedene Färbung geben. Es ist nicht nur für die Feststellung von Schillers Verhältnis zur kritischen Philosophie, sondern auch für das Verständnis von Kants Lehre und Entwicklung und für die Einsicht in die Motive der auf ihn folgenden Bewegung förderlich und erforderlich, diese Verschiedenheiten deutlich herauszuheben: sie belehren zugleich über den Ursprung und den Rechtsanspruch der verschiedenen Deutungen, welche die kantische Lehre selbst früher und später erfahren hat. Als das »Bewußtsein« nämlich, dem die autonome Erzeugung des Gegenstandes zuzuschreiben ist, können drei verschiedene Instanzen betrachtet werden: das Individuum, die Menschheit, das »Bewußtsein überhaupt«. Erst in ihrer Verknüpfung und Zusammengehörigkeit machen sie zusammen das Ganze des kritischen Horizontes aus: aber dieser erscheint in sehr verschiedener Beleuchtung, wenn er aus dem einen oder dem andern dieser Gesichtspunkte allein oder auch nur hauptsächlich betrachtet wird. Geschieht das aus dem ersten jener drei Standpunkte, so rückt die Idee der Persönlichkeit in den Vordergrund des transzendentalen Idealismus. Die Selbstgesetzgebung des Willens, die Selbstbestimmung des Handelns, die Selbstgestaltung des Lebens erscheinen als die Ideale einer Gesinnung, welche keine anderen Werte in der Welt anerkennt, als die von ihr selbst gesetzten. Diese stolze Moral der Persönlichkeit ist der aus dem Wesen des Mannes selbst stammende Einschlag in der Philosophie Kants; und wir werden kaum irre gehen, wenn wir meinen, sie sei unter den persönlichen
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Motiven seiner Lehre das bedeutsamste. Dieser Appell, daß der Mensch als Vernunftwesen sich und sein Leben auf sich selber stelle, war aber auch der Ton, der das lauteste Echo fand und für die neue Lehre die Jünger aus der Gesinnung heraus warb. Er hat auch Schiller ergriffen, | der es aussprach, es sei gewiß von einem sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen, als dieses kantische »Bestimme dich aus dir selbst«, was zugleich der Inhalt seiner ganzen Philosophie sei. Das sagt der Dichter gerade da, wo er sich anschickt, in den Kalliasbriefen seine eigne ästhetische Theorie aus Kant herauszuarbeiten; und in der Tat ist diese seine Theorie in allen ihren Phasen durch das Bestreben bedingt, die Formen zu erfassen, in denen »diese große Idee der Selbstbestimmung« das Wesen des Schönen ausmacht. Das war aber nur dadurch möglich, daß Kants Idee der Autonomie in Schiller nicht nur den sittlichen Menschen, sondern auch den Künstler packte; daß der Dichter in der Erzeugung der ästhetischen Welt aus dem Bewußtsein, wie sie Kant lehrte, sein eigenstes und innerstes Schaffen wiederfand. Das ist die unsterbliche Bedeutung der Kritik der Urteilskraft. Auch hierin ist es zuletzt die künstlerische Gesinnung, die Schiller zum Jünger Kants gemacht hat. Er war sich aus eignem künstlerischen Erlebnis der schöpferischen Kraft der genialen Phantasie bewußt; ihm war es das Geläufigste, daß die ästhetische Welt eine neue, eine andere ist als die gemeine. Kein Gegensatz kehrt in den ästhetischen Abhandlungen und in den dazu gehörigen Gedichten so häufig wieder wie der von Wahrheit und Wirklichkeit. »Was sich nie und nimmer hat begeben, das allein veraltet nie.« Die Erhebung des Stoffs in die Form, die Vernichtung des Stoffs durch die Form, das Hinausleben aus dem »Gemeinen und Traurigwahren« in die höhere Welt der reinen Gestaltung – und wie sonst die charaktervollen Formeln dafür lauten: immer ist die Schönheit »unsere zweite Schöpferin«. »Wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt,« heißt es in den ästhetischen Briefen, »der wird nie die Wahrheit erobern.« Oder »die Wahrheit ist nichts, was so wie die Wirklichkeit | oder das sinnliche Dasein der Dinge von außen empfangen werden kann; sie ist etwas, das die Denkkraft selbst-
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tätig und in ihrer Freiheit hervorbringt«. Das ist zweifellos im intimsten Sinne des transzendentalen Idealismus gedacht, und es ist höchst interessant, wie der Dichter in diesem Sinne die kritische Erkenntnistheorie sich ästhetisch assimiliert hat. In dem intellektuellen Prozeß wird der Mensch aus einem Sklaven der Natur zu ihrem Gesetzgeber: indem er aus den Empfindungen den »Gegenstand« schafft und ihn »betrachtet«, wird er von dem Objekte wie von der Begierde, mit der es ihn ergriff, frei und erhebt sich zu der Form, dem Nachbild des Unendlichen. So vollzieht sich schon in der Wahrnehmung jener Rhythmus der drei Zustände, wonach der Mensch im physischen die Macht der Natur erleidet, im ästhetischen sich ihrer entledigt und im moralischen sie beherrscht. Aber dieser Vorgang ist die Tat des Subjekts, das in der Betrachtung von der gemeinen Wirklichkeit der Dinge die Form ablöst und auf ihr als dem schönen Scheine weilt. Diese Gleichgültigkeit gegen die Realität ist in Wahrheit die Erweiterung des menschlichen Gemüts zu seiner höheren Bestimmung; der Schein ist des Menschen Werk, und an ihm übt das Gemüt nur sein Eigentumsrecht aus, wenn es in der Kunst des Scheins mit ihm spielt und in ungebundener Freiheit nach eigenen Gesetzen mit ihm schaltet. Freilich fügt Schiller hinzu, der Mensch besitze dieses souveräne Recht schlechterdings auch nur in der Welt des Scheins, in dem wesenlosen Reiche der Einbildungskraft. Er versucht nicht, und es war nicht seine Aufgabe, festzustellen, worauf die Einschränkung dieses Eigentumsrechts im Theoretischen und im Praktischen beruht: aber die Lösung dieser Aufgabe wäre vielleicht sehr schwierig, wenn nicht unmöglich auf dem Boden dieser Ästhetisierung des transzendentalen Idealismus gewesen. | Mit der leisen Wendung ins Psychologische, die daran unverkennbar ist, wird die Autonomie zu einer Praerogative der einzelnen ästhetischen Persönlichkeit und gerät in Gefahr, die Fühlung mit der allgemeingültigen Gesetzmäßigkeit zu verlieren. Wie es denn charakteristisch ist, daß Schiller unter den kantischen Prinzipien der ästhetischen Urteilskraft dasjenige am fremdesten geblieben ist, wonach in dem übersinnlichen Substrat der Menschheit, d. h. im Bewußtsein überhaupt, die Möglichkeit der allgemeinen Mit-
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teilbarkeit des ästhetischen Zustandes gefunden war. Der Dichter berührt dies Prinzip, wo er von der Herrschaft des Formtriebes redet, bei der sich der Mensch zu einer Ideeneinheit erhebe, die das ganze Reich der Erscheinungen unter sich faßt: aber er schwächt es damit ab, daß er diesen Zustand für denjenigen erklärt, in welchem wir »nicht mehr Individuen, sondern Gattung« sind. Das ist allerdings um so weniger verwunderlich, je mehr man bedenkt, wie schwierig es in Kants eigner Darstellung ist, das »Bewußtsein überhaupt« von der menschlichen Gattungsvernunft zu unterscheiden. Allein bedenklicher war es, daß in Schillers Theorie des Spieltriebes die Autonomie der künstlerischen Persönlichkeit bis zu der souveränen Schrankenlosigkeit der Phantasie gesteigert erscheinen konnte, die sich unter der Mitwirkung mißverstandner Lehren Fichtes später als romantische Ironie entfaltet hat. Wie weit indessen Schiller selbst von dieser Gefahr entfernt war, läßt sich – innerhalb seiner philosophischen Untersuchungen – am besten daraus entnehmen, daß es gerade die entgegengesetzte Richtung war, in der er zuerst seine selbständige Position auf dem Boden der kritischen Ästhetik zu gewinnen suchte. Vor schrankenlosem Subjektivismus ist derjenige bewahrt, der seine Aufgabe darin setzt, den objektiven Begriff der Schönheit zu finden: und das ist bekanntlich das Thema der Kalliasbriefe. Schon|dies Thema gilt zum mindesten als eine Ergänzung von Kants Analytik des Schönen, die sich auf die Kritik der Apriorität des ästhetischen Zustandes beschränkt und die Möglichkeit einer Begriffsbestimmung der schönen Dinge abgelehnt hatte. Und in der Tat folgt Schiller hier einem kräftigen, sachlich wohlbegründeten Impulse. Denn so sehr er mit Kant überzeugt war und überzeugt sein durfte, daß der ästhetische Gegenstand als solcher niemals gegeben ist, sondern immer erst in der interesselosen Betrachtung als Form und Schein entspringt, so sehr vermißte er von seinem theoretischen Bedürfnis aus in der Kritik der Urteilskraft eine Antwort auf die Frage, wie die Stoffe der Erfahrung beschaffen sein müssen, um solche Formung zu ästhetischen Gegenständen im künstlerisch gestimmten Gemüte hervorrufen oder auch nur vertragen zu können. Auch dieses theoretische Bedürfnis Schillers wurzelt
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in seinem künstlerischen Erleben. Wir wissen genau, wie vorsichtig und gewissenhaft er selbst in der Wahl seiner Stoffe und in der Erwägung ihrer dichterischen Formbarkeit verfuhr: mußte er sich nicht Rechenschaft darüber zu geben versuchen, auf welchen Eigenschaften in den Stoffen selbst diese Verschiedenheit ihrer ästhetischen Verwertbarkeit beruhe? Diese Frage hatte Kant beim Schönen in der Tat nicht gestellt, geschweige denn beantwortet: denn sie lag außerhalb seiner rein transzendentalen Problemstellung, die nur die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori für das Gefühlsvermögen betraf. Gerade so wenig hatte er in der Kritik der reinen Vernunft die methodologische Frage aufgeworfen, welche Eigenschaften etwa die einzelnen Erscheinungen aufweisen müssen, um unter besondere Naturgesetze subsumiert zu werden. Jenes Problem der Kalliasbriefe stellte aber in keiner Weise den transzendentalen Idealismus der Ästhetik in Frage, es lag vielmehr unmittelbar in dessen Konsequenz. Ja, Schiller hätte sich darauf berufen können, | daß Kant selbst in der Analytik des Erhabenen den Weg eingeschlagen hatte, genau zu untersuchen, wie Erfahrungsinhalte an Größe oder Kraft beschaffen sein müssen, um zwar nicht selbst erhaben zu sein, aber das Gemüt in den Zustand zu versetzen, worin sie als erhaben beurteilt werden. Dabei läuft die Schillersche Lösung des so gestellten Problems auf eine Vorstellungsweise hinaus, welche die höchste und reifste Form des transzendentalen Idealismus zur Voraussetzung hat: denn die Schönheit als Freiheit in der Erscheinung, diese innere Notwendigkeit der Form an einer sich selbst erklärenden Erscheinung, diese Heautonomie, die eine objektive Beschaffenheit der Gegenstände sein soll, weil sie ihnen bleibt, auch wenn das vorstellende (Einzel-) Subjekt ganz hinweggedacht wird, – alle diese aus dem kritischen Begriffsarsenal geholten Bestimmungen sind doch nur dann verständlich, wenn die Naturerscheinungen, die jenes objektive Merkmal des Schönen an sich haben sollen, selbst schon als Gegenstände des Bewußtseins überhaupt gedacht werden. Niemals ist Schiller dem letzten Höhepunkte des Transzendentalismus näher gewesen als hier, wo er sich von dem sogenannten subjektiven Idealismus zugunsten einer objektiven
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Definition der Schönheit zu entfernen scheint. Und wie reif er bei der Zusammenfassung seiner gesamten Untersuchungen diese begrifflichen Beziehungen durchschaut hat, zeigen die Worte, die er am 25. Oktober 1794 an Körner schrieb: »Das Schöne ist kein Erfahrungsbegriff, sondern vielmehr ein Imperativ. Es ist gewiß objektiv, aber bloß als eine notwendige Aufgabe für die sinnliche vernünftige Natur; in der wirklichen Erfahrung aber bleibt sie gewöhnlich unerfüllt. Es ist etwas völlig Subjektives, ob wir das Schöne als schön empfinden; aber objektiv sollte es so sein.« Solchen Aussprüchen gegenüber wird man sich doch freilich schwer des Eindrucks erwehren können, daß die | Energie des Schillerschen Denkens von der Ausbildung, Anwendung und Ergänzung der kantischen Prinzipien leise zu ihrer Umbildung hindrängt, ohne diese selbst zu vollziehen. Denn von dieser Art der Stellungnahme zur kantischen Ideenlehre war der Schritt nicht weit zu Schellings »transzendentalem Idealismus«, von dem sich dann die Aussicht auf die »Philosophie der Kunst« und die hegelsche Ästhetik eröffnet. Schiller selbst hat diesen Schritt nicht getan. Denn er verfolgte diesen Weg nicht weiter. Ihm genügte dieser sein Beitrag zur Ausführung des Gedankens, den ja im Grunde genommen auch schon die Kritik der Urteilskraft ausgesprochen hatte: daß der Stoff der Naturerscheinungen und das Formprinzip der Vernunft in letzter Instanz aufeinander hinweisen und zweckvoll aufeinander abgestimmt sind. Die Durchführung überließ er den Systematikern; er selbst wendete sich nun ganz der Aufgabe zu, die ihm vor allem am Herzen lag: mit den kantischen Begriffen die Stellung der Kunst im Zusammenhange der menschlichen Lebensentwickelung zu begreifen. Eben damit aber kehrte Schillers transzendentaler Idealismus von jenem Ausblick auf das Metaphysische zu der wesentlich anthropologischen Auffassung zurück. Denn wenn das Schillersche Hauptproblem, dessen Lösung für den Dichter sachlich seit den »Künstlern« feststand und stehen geblieben ist, jetzt unter die Gesichtspunkte des transzendentalen Idealismus gerückt wurde, so war das entscheidende Moment die Auffassung des ästhetischen Lebens als der spezifischen Leistung des Menschen. Nur in seiner sinnlich-übersinnlichen Doppelnatur
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sollten die Bedingungen für diese Funktion gegeben, eben deshalb aber auch in dieser Funktion selbst die vollständigste Betätigung seines Wesens enthalten sein. Diese Voraussetzung vom Menschen als dem Mittelgliede zweier Welten hatte Schiller dereinst den herrschenden Vorstellungen ent|nehmen können: aber sie war auch in die kantische Weltanschauung übergegangen, und sie bildete eines der Grundmotive der Kritik der Urteilskraft. Natur und Freiheit – so hieß es hier –, die sonst geschiedenen Reiche der theoretischen und der praktischen Vernunft, finden in dem ästhetischen Bewußtsein ihre Vereinigung: aber gerade deshalb legte auch Kant darauf Wert, daß das Schöne und das Erhabene nur Erscheinungen für den beiden Sphären zugehörigen Menschen seien. Ganz in diesem Sinne behandelt Schiller die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Transzendentalpsychologie, die an fichtesche Bestimmungen anklingt, konstruiert er bekanntlich den Spieltrieb als die Ausgleichung des Gegensatzes der beiden Triebrichtungen im Menschen. Diese Konstruktion hat zwar ihr Vorbild in dem Spiel der Vorstellungsvermögen oder Erkenntniskräfte, das in der Kritik der Urteilskraft die transzendentalpsychologische Grundvoraussetzung bildete: aber sehr viel energischer als Kant hob Schiller hier hervor, daß das ästhetische Leben dem Menschen wesentlich und einzig angehöre. Weder unter ihm in der Natur noch über ihm in der Geisterwelt gibt es Schönheit: in ihm allein als dem sinnlich-übersinnlichen Doppelwesen ist sie möglich und als Ausprägung dieses seines spezifischen Wesens notwendig. Während die theoretische Vernunft über ein Reich der Natur gebietet, dem das empirische Wesen des Menschen nur als ein Teil neben andern eingeordnet ist, während die praktische Vernunft ihr Freiheitsgesetz für »alle vernünftigen Wesen« überhaupt errichtet, zu denen der Mensch nur als eines der Glieder einer übersinnlichen Weltordnung gehört, hat es die ästhetische Vernunft einzig und allein mit dem Menschen als diesem gegebenen Doppelwesen zu tun. Hier ist demnach die kritische Untersuchung wirklich auf das Verständnis der Organisation der menschlichen Vernunft gerichtet, und die Auffassung der kantischen Lehre, | welche das ganze Geschäft der Transzendentalphilosophie unter diese Aufga-
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be stellt, findet in dem transzendentalpsychologischen System der Schillerschen Ästhetik ihr bedeutsamstes Vorbild, das z. B. gerade bei Alb[ert] Lange auch historisch als solches gewirkt haben mag. Um so begreiflicher aber ist es, daß Schiller in diesen »Briefen« mit jenem »objektiven« Begriffe der Schönheit als Freiheit in der Erscheinung, zu dem er in den Kalliasbriefen vorgedrungen war, direkt nichts anfangen konnte. Aus der Lehre vom Spieltrieb, die Schiller in dieser Weise entwickelte, ergab sich notwendig das doppelte Verhältnis, wonach der ästhetische Zustand einerseits als die unumgängliche Überleitungsstufe aus der sinnlichen in die intellektuell-moralische Bestimmtheit des Menschen, andererseits als die vollkommenste und höchste Ausprägung seines ganzen, nur ihm eigenen Wesens gelten mußte. Beide Seiten der Sache sind in ihr selbst gleichmäßig begründet und gehören deshalb für Schiller, wie schon in den »Künstlern«, notwendig zusammen, ohne miteinander zu streiten: sie können nicht auf verschiedene Entwickelungsstufen des Schillerschen Denkens verteilt werden. Vielmehr ist eigentlich erst hier dem Dichter die begriffliche Lösung des Problems gelungen, das ihn und Körner in ihrem Briefwechsel als das wichtigste beschäftigt: unter einem höheren Prinzip das Verhältnis des ästhetischen und des moralischen Lebens zueinander zu bestimmen. Es ist das intimste Lebensinteresse Schillers, das hier seine Befriedigung findet: die Beziehung seines persönlichen Berufs auf die allgemeine sittliche Bestimmung des Menschen. Wir verstehen, wie nach dieser innersten Beruhigung der lang zurückgehaltene Quell seiner dichterischen Schöpferkraft sich in mächtigem, hinreißendem Strome ergossen hat. Was aber dem kritischen Denker Schiller hier vorschwebt, ist, wie wir heute sagen würden, nicht mehr und | nicht weniger als die Frage nach der lebendigen Beziehung der Vernunftwerte zueinander. Wir wissen, wie Kant ursprünglich darauf ausgegangen war, sie in reinlicher Scheidung auseinander zu halten: aber die Kritik der Urteilskraft, sein höchstes Werk, hatte, wie sie das Verhältnis der teleologischen Betrachtung zur Erkenntnis der Naturgesetzmäßigkeit in mustergültiger Weise bestimmte, so auch
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die Beziehungen des ästhetischen Verhaltens im Schönen wie im Erhabenen zu der sittlichen Natur des Menschen herausgearbeitet. Fern von aller engen und ängstlichen Unterstellung der Kunst unter moralisierende Zwecke, war hier die bedeutsamste Verbindung des ästhetischen Lebens mit den höchsten Wertbestimmungen der Menschheit vollauf begriffen worden. Freilich hatte Kant in der kritischen Reinlichkeit seiner Unterscheidungen gerade diese Beziehungen aus dem Umkreise der »reinen« Schönheit verwiesen und sie bei der »angehängten« untergebracht, zu der schließlich doch auch – wie es Schiller selbst gezeigt hat – das Erhabene zu rechnen ist. Schillers Begriffsbestimmungen hatten das »bedeutungslose« Schöne von vornherein aus der Welt geschafft: die »Freiheit in der Erscheinung«, die er auch als »Vernunftähnlichkeit« bezeichnete, ließ die Selbstbestimmung aus jeglicher Gestalt des Schönen uns »zurückstrahlen«. Hier sieht man vielleicht am einfachsten, wie alle die heutigen Theorien der »Einfühlung« nur die mühseligen Versuche sind, mit den Mittelchen der empirischen Psychologie die Kantisch-Schillersche Idee dem alltäglichen Bewußtsein mundgerecht zu machen. In der Tat hatte Schiller in der Idee der Selbstbestimmung das höhere Prinzip gefunden, dem sich der moralische und der ästhetische Wert gleichmäßig unterordneten. Daß auch der logische Wert, die Wahrheit, in dieselbe Ordnung gehört, berührte er nur gelegentlich: aus der Gesamtheit seiner Interessen ist es zu verstehen, | daß er das Hauptgewicht auf die Koordination des moralischen und des ästhetischen Wertes legte. Diese Koordination aber wurde selbstverständlich zu einer Wechselwirkung: wie das Schöne sich in der Bedeutsamkeit vollendet, mit der die sittliche Bestimmung des Menschen als frei gestaltete Form in die sinnliche Erscheinung tritt, so kann zwar die Erhabenheit der Pflichterfüllung in ihrem Triumphe über die sinnliche Neigung moralisch nicht überboten werden, aber es gibt ein »ästhetisches Übertreffen der Pflicht« in der edlen Gesinnung. Diese Theorie der »schönen Seele« steht nun wieder an sich, wie es Schiller selbst sehr richtig hervorgehoben hat, in keinem Widerspruch mit der kantischen Ethik; aber sie enthält eine an-
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ders gerichtete Anwendung ihrer Prinzipien und tritt deshalb in Gegensatz zu derjenigen, die Kant seinem eigenen Wesen gemäß ausgeführt hatte. Das Verhältnis der beiden im Menschen verknüpften Welten, der sinnlichen und der übersinnlichen, zeigt bei Kant wie bei Platon ein doppeltes Gesicht: es besteht zwischen ihnen einerseits der notwendige Gegensatz, ohne den die Norm und der Imperativ gegenüber der gegebenen Wirklichkeit ihren Sinn verlieren würden, und andererseits die Zusammengehörigkeit, vermöge deren allein auf eine, wie auch immer beschränkte Verwirklichung der Norm im Wirklichen zu rechnen ist. Die negative Seite dieses Verhältnisses hat Kant, zumal in der eigentlichen Moral, mit der Rigorosität betont, die Schillers Widerspruch und Spott hervorrief; aber auch Kant hat in seinen großen Gesamtansichten des Lebens die schließliche Gestaltung der Sinnenwelt zur Verwirklichung der Freiheit deutlich gezeichnet. Schiller aber hat sich zu der Notwendigkeit des Gegensatzes bedingungslos für alle Fälle bekannt, in denen das höhere Ziel seiner ästhetischen Ausgleichung noch nicht erreicht ist. Auch diese bekannteste Differenz zwischen dem Dichter | und dem Philosophen ist also an sich nur von gradueller und sekundärer Bedeutung, indem sie sich erst auf dem Boden einer prinzipiellen Gemeinsamkeit entwickelt. Aber in den Argumenten, mit denen Schiller dabei seine Stellung verteidigt, kommen Motive zum Wort, in denen sich wiederum leise Antriebe tieferer Abspaltung ankündigen. Es handelt sich um den Wert der Legalität. Schiller macht darauf aufmerksam, daß eine dem Sittengesetz konforme Handlung, die nur als schöne Wirkung einer glücklichen Natur anzusehen ist, zwar vor dem Richterstuhl der kritischen Moral sittlich indifferent bleibt, darum aber doch ihren positiven Wert nicht etwa im gemein utilistischen Sinne, sondern unter dem Gesichtspunkte behält, daß damit die Verwirklichung des Sittengebotes in dem Zusammenhange des gesellschaftlichen Lebens erreicht ist. Diese objektive Realisierung des Sittengesetzes gilt also bereits als ein eigener Wert neben der subjektiven Grundbestimmung, daß nichts gut sei als der gute Wille. Indem Schiller hier die erzieherische Bedeutung der ästhetischen Veredelung der
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Empfindungen im Vernunftinteresse der Gesamtheit hervorhebt, bereitet er die Auffassungsweise vor, die in Hegels Unterscheidung der subjektiven Moralität von der objektiven »Sittlichkeit« ihr letztes Wort gesprochen hat. Damit hängt noch ein anderes zusammen. Das Ideal der schönen Seele ist schließlich doch der erste Protest gegen die Maximenhaftigkeit der kantischen Moral, für die alles Einzelne seinen ethischen Wert nur durch die Übereinstimmung mit einem allgemeinen Gesetze erhalten sollte. Je mehr die ethische Billigung mit der ästhetischen verschmilzt, um so mehr nimmt sie – nach den Prinzipien der Kritik der Urteilskraft – den Charakter des Einzelurteils an, dessen Wertungsgrund nicht mehr in einem Begriffe zu suchen ist. Und so wächst hier wieder die Urmacht der Persönlichkeit heran, deren ethischen Wert | Kant zwar im allgemeinen auf die höchste Höhe gehoben, deren individueller Gestaltung er aber in seiner Lehre nicht hatte gerecht werden können. Alle diese großen Fragen über die Verhältnisse der Kulturwerte zueinander kommen nun natürlich auch bei Schiller in den lebendigsten Fluß, wenn sie unter die geschichtsphilosophische Betrachtung gestellt werden, deren eigenste Aufgabe ja gerade die Beantwortung dieser Fragen ist. Hier treten deshalb, wenn man Schillers Verhältnis zu Kant ins Auge faßt, alle die Differenzen zutage, die bisher im einzelnen betrachtet wurden. Während der Königsberger Philosoph den Sinn der Geschichte in der Herbeiführung der besten Staatsverfassung sieht, hat der Dichter das ästhetische Leben in den Mittelpunkt der historischen Bewegung gestellt. Dem Historiker Schiller, dem die Universalgeschichte schließlich doch wesentlich Kulturgeschichte war, ist die Gestaltung eines Reichs vollkommener Bildung, der »ästhetische Staat«, das Beste, was von der Erziehung der Menschheit zu hoffen ist. Allein soweit hier die sachlichen Bestimmungen bei Kant und bei Schiller auseinandergehen mögen, so tief bleibt die Verwandtschaft im eigentlichen philosophischen Prinzip. Das kommt am besten bei den Fragen nach dem Anfang der Geschichte, nach dem Verhältnis der historischen Bewegung zu ihren natürlichen Bedingungen heraus. Für Schiller wie für Kant ist die Geschichte
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keine Notwendigkeit natürlicher Entwickelung: sie ist das Werk der menschlichen Gattung, ihre Tat der Freiheit, ihre Selbstbestimmung zur Erfüllung ihrer Aufgabe. Das ist die letzte und höchste Gesinnungsgemeinschaft beider Denker im transzendentalen Idealismus. |
Über Friedrich Hölderlin und sein Geschick (Nach einem Vortrage in der akademischen Gesellschaft zu Freiburg i. B. am 29. November 1878)
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ch beabsichtige in dieser Stunde, ein deutsches Dichterleben in Ihre Erinnerung zurückzurufen, welches, mit der großen Zeit unserer Literatur auf das innigste verflochten, ihren geistigen Gehalt in eigenartiger Verbindung spiegelt, – ein Dichterleben, welches im Morgenglanze klassischer Schönheit aufging und welches endete in der Nacht des Wahnsinns. Es ist zweifellos, daß sich das tragische Geschick Friedrich Hölderlins mehr im Andenken der Nachwelt erhalten hat, als der edle Geist seiner Dichtung. Aber diese Tatsache hat ihren Grund nicht nur in dem pathologischen Interesse, das wir natürlicherweise daran nehmen, wenn eine hohe und geniale Begabung sich in trostlose Zerstörung verirrt: sondern sie ist nicht minder dadurch bedingt, daß die Richtung, welche die Hölderlinsche Muse nahm, weit abliegt von den Bahnen, in welchen sich das bewegt, was wir modernen Geschmack nennen. Es wäre deshalb ein vergebliches Unternehmen, wenn ich beabsichtigte, in diesen flüchtigen Worten Ihnen einen Dichter lieb zu machen, der dem literarischen Treiben des Tages, worin wir doch alle mehr oder minder eingesponnen sind, so fremd gegenübersteht. Für seine Dichtungen darf ich bei dem größten Teil von Ihnen nur das historische Interesse | in Anspruch nehmen, daß ich zeige, wie sie der einseitig vollendete Ausdruck eines wesentlichen und unentbehrlichen Bestandteils in der Kulturgeschichte des deutschen Geistes sind. Für sein tragisches Geschick dagegen kann ich hoffen, Ihre Teilnahme in einem allgemeineren und tieferen Sinne zu erwecken. Je mehr ich mich in den inneren Gehalt seines Lebens vertieft habe, um so klarer ist es mir geworden, daß der Widerspruch, an welchem er zugrunde ging, in unmittelbarem Zusammenhange steht mit einem der schwersten Probleme der modernen Bildung überhaupt, und daß sein Wahnsinn das
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charakteristische Symptom für eine soziale Krankheit ist, die sich aus den eigentümlichen Verhältnissen des modernen Geisteslebens entwickelt hat und immer gefährlichere und drohendere Gestalten annimmt. Friedrich Hölderlin ist ein Sproß aus jener Generation des schwäbischen Volksstammes, welche in der glänzenden Entwicklung des deutschen Geistes am Ende des 18. Jahrhunderts ihre unvergänglichen Spuren hinterlassen hat. Elf Jahre jünger als Schiller, fünf Jahre älter als Schelling, ist er ein Jahresgenosse Hegels: und mit eben diesen drei Genien finden wir seinen Geist von Jugend an auf das innigste verbunden. Seiner ersten poetischen Tätigkeit hat unverkennbar Schillers Jugenddichtung ihren Stempel aufgeprägt, und noch später durfte er dem verehrten Vorbilde schreiben, daß er »unüberwindlich von ihm dependiere«. Mit den beiden Philosophen verband ihn Schulbildung und Jugendfreundschaft in so nahem und lebhaftem Austausch, daß wir in vielen Punkten zweifelhaft sein müssen, was er ihnen verdankt und was er ihnen gegeben hat. Er lebte in denselben Idealen, er rang mit denselben Problemen wie sie: und wenn es jenen beschieden war, sich daraus zur Höhe der Klarheit und des Ruhmes emporzukämpfen, so zog ihn die Schwere seiner Natur zu trauriger Verkümmerung nieder. | Am 29. Mai 1770 zu Lauffen am Neckar, unweit von Heilbronn, geboren, wuchs der frühverwaiste Knabe in Nürtingen unter der Leitung einer schlichtfrommen und feinfühligen Mutter zu hoffnungsvoller Reife heran. Und noch eine größere Mutter, die schöne Natur seiner Heimat, nahm ihn an ihre Brust, und in die jugendliche Dichterseele prägte sich unauslöschlich der zauberische Reiz des Naturlebens. Auf der lateinischen Schule zu Nürtingen war der frühreife Schelling sein Genosse in wissenschaftlicher Vorbildung und teilte schon dort mit ihm die Begeisterung für das klassische Altertum. Der Wunsch der Mutter, dem er, wie es scheint, anfangs ohne Widerstreben folgte, hatte ihn zum Theologen bestimmt, und dies bedingte nach damaliger Einrichtung eine seminaristische Vorbildung, welche er zuerst in Denkendorf, nur eine Stunde von Nürtingen entfernt, und später in Maulbronn genoß. Hier wurden die ersten Jugendfreundschaften geschlossen,
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das erste harmlose Liebesabenteuer bestanden, und hier begann auch schon, wie es dann zu geschehen pflegt, der Born der Poesie zu fließen. Ein Gesetz, demjenigen der organischen Entwicklung ähnlich, scheint es zu verlangen, daß auch das geistige Leben des Menschen in kleinerem Maßstabe die Stadien der vergangenen Generationen durchmache: so ist das Sternbild, in welchem Hölderlins Dichtung aufgeht, dasjenige Klopstocks, umwallt von den sentimentalen Nebeln der Ossianschen Phantasie. Größere Dimensionen nahm diese Entwicklung in jeder Richtung auf der Universität Tübingen an, die der geistvolle, liebenswürdige Jüngling im Herbst 1788 bezog. Er trat hier in das sogenannte Stift ein, jene ausgezeichnete Studienanstalt, aus deren Schoße bis auf die neueste Zeit zahlreiche bedeutende Männer hervorgegangen sind. Wohl mutet sie ihren Zöglingen im Gegensatz zu der sonstigen Freiheit des akademischen Daseins durch | die strenge Regelung des Lebens und Arbeitens manche Entbehrungen zu, und gerade von Hölderlin wissen wir, daß er den klösterlichen Zwang zu Zeiten recht schwer und drückend empfand; aber andererseits erfuhr auch er die unvergleichlichen Vorteile dieses fest geregelten Bildungsganges. Dem theologischen Studium wird hier eine systematische Ausbildung in der klassischen Philologie und in der Philosophie vorangeschickt, und dieser verdankte auch Hölderlin das edle Gepräge seines Geistes und seiner Dichtung. Anfänglich scheint er noch die poetische Richtung verfolgt zu haben, die er vom Seminar mitbrachte, und es sammelten sich um ihn gleichstrebende Freunde, die später wenigstens einen lokalen Dichterruhm erworben haben, unter ihnen Neuffer und Magenau. Ein älterer schwäbischer Dichter, Stäudlin, nahm sich der jungen Gesellschaft an und hat später eine Auswahl ihrer Gedichte in einem Almanach drucken lassen. Noch war Klopstock der Heros, auf dessen Namen man sich Treue schwur: wie in Göttingen, so wurde auch hier ein Dichterbund gegründet, und man schaffte ein Bundesbuch an, in welches die Lieder der Mitglieder an den Aldermannstagen eingetragen wurden, man wanderte zusammen durch die Berge, man besuchte sich in den Ferien, man schrieb sich poetische Episteln und lebte ganz in dem Zauberkreise der
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Klopstockschen Ideale von Liebe, Freundschaft, Freiheit und Vaterland. Der Genius der deutschen Dichtung hat aus diesem verschwommenen Gefühlsleben den Weg zu seiner Größe dadurch gefunden, daß er sich mit dem tiefsten Gehalte der antiken Bildung tränkte: die gleiche Bahn hat in seiner Weise Hölderlin beschrieben. 1791 schied die Mehrzahl jenes Bundes von der Universität; aber ein Jahr vorher war Schelling in das Stift eingetreten, und nun gründete sich zwischen ihm, Hegel und Hölderlin eine tiefe, innige Geistesgemeinschaft. Es ging damals ein mächtiger | Zug durch die deutsche Jugend. Der jubelnde Freiheitsdrang, der jenseits des Rheins tobte, fand hier sein lebhaftes Echo und seine geistige Verklärung. Auf dem Markte von Tübingen pflanzte man den Freiheitsbaum, und Hegel, der spätere »Restaurationsphilosoph«, galt für einen hartgesottenen Jakobiner. Rousseaus glänzende Schilderung des natürlichen Menschen entzündete überall die jugendliche Begeisterung, und wie Schiller, so erfüllten auch diese Freunde ihr Herz mit den Idealen eines neuen Zustandes der Gesellschaft. Aber von vornherein gewann diese Bewegung in Deutschland eine maßvollere Gestalt durch die innige Verknüpfung mit der klassischen Bildung. In der griechischen und römischen Welt sah man den Zustand der Gesellschaft realisiert, nach welchem man sich aus der Kleinlichkeit und Gedrücktheit der heimischen Verhältnisse heraussehnte. So schwelgte auch die Seele Hölderlins in der Begeisterung für die großen Charaktere der antiken Welt, deren Bewunderung er wie Schiller aus dem Plutarch einsog, und die Grundstimmung, die ihn in diesen Jahren beherrschte, war diejenige, aus welcher der große Dichter die »Götter Griechenlands« schuf. So ist es zu begreifen, daß seine Dichtungen dieser Zeit sich ganz in den Bahnen Schillers bewegten und auch äußerlich deren Charakter wiederholten. Nicht nur dieselbe Empfindungsweise, sondern dieselben Rhythmen und ein ähnlicher Glanz der Diktion wie bei dem großen Vorbilde finden sich darin, und Gedichte wie »Griechenland« oder »An die Natur« könnte man füglich in die Sammlung einreihen, welche Schiller als die Gedichte seiner »zweiten Periode« zusammengefaßt hat. Es ist in ihnen, wenn auch
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mehr im Abglanz, dieselbe zündende Kraft, derselbe Schwung, derselbe rücksichtslose Idealismus, und noch ist der Dichter von dem Glauben an die Zukunft beseelt, welcher den Jugendtraum zu verwirklichen hofft; noch findet er im Marquis Posa sein eigenes | Abbild und die Zeichnung seiner eigenen weltverbessernden Pläne, Wünsche und Hoffnungen. Neben der poetischen geht die philosophische Entwicklung Hölderlins einher, und gerade hierin war das Band der Freundschaft am mächtigsten. Die gemeinsame Ausbildung der drei Genossen fiel in die Zeit, wo man in Deutschland mit gleichem Eifer Kant und Spinoza studierte. Jener hatte schon die mächtige Bewegung hervorgerufen, die sich durch das ganze geistige Leben Deutschlands erstreckte; dieser war eben von Lessing und Jacobi entdeckt worden und begann in der Überzeugung der jungen Generation die kräftigsten Wurzeln zu schlagen, mit denen erst seine positive historische Wirkung beginnt. Die Alleinheitslehre und der Naturalismus wurden in der naturbegeisterten Dichterseele leicht lebendig und nahmen hier in verwandter Weise wie bei Goethe eine poetische Gestalt an, die ihrem eigentlichen Wesen fremd war. Dagegen wirkte Kant auch hier durch den sittlichen Ernst seiner Lebensauffassung. Sein rückhaltloser Wahrheitssinn, seine politische und religiöse Freimütigkeit, seine große Auffassung der Geschichte als der Realisierung der Idee der Freiheit warb auch Hölderlin zu seinem Schüler. Indessen trat auch auf diesem Gebiete das antike Bildungsmoment bei den drei Freunden ergänzend und fördernd hinzu. Wenn später Schelling und Hegel ihre Bedeutung nicht zum geringsten dem Umstande verdankten, daß sie in die Entwicklung der kantischen Lehre die reifsten Resultate des antiken Denkens hineinzuarbeiten verstanden, so beruhte das auf dem eingehenden Studium, das sie um diese Zeit mit Hölderlin den großen Philosophen des Altertums widmeten. Dabei ist es selbstverständlich, daß das poetisch gefärbte Interesse der Jünglinge sich zunächst an Platon erwärmte. Hier fanden sie jene Vereinheitlichung der Wahrheit und der Sittlichkeit mit der Schönheit vor, welche in der Verschmelzung | aller ihrer Bestrebungen auch zu ihrem Ideale wurde und welche sie, jeder in
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seiner Weise, zum wesentlichen Gehalte ihrer Lebensarbeit gemacht haben. Mit dem Ende der Tübinger Studienzeit ging das Kleeblatt auseinander. Schelling begann sogleich die ersten Lorbeeren seiner philosophischen Laufbahn zu pflücken; Hegel, als Hauslehrer in die Schweiz verschlagen, arbeitete in der Stille an der Ausbildung seiner Gedanken, und nur brieflich wurde die Gemeinschaft aufrecht erhalten. Auch Hölderlin hatte der theologischen Laufbahn entsagt und sah sich zunächst auf die Hofmeisterstelle angewiesen, welche für eine so große Anzahl der bedeutendsten unter Deutschlands Denkern und Dichtern einen Durchgangspunkt gebildet hat. Für ihn sollte sie das Einzige bleiben, was er in den äußeren Verhältnissen erreicht hat. Anfangs zwar schien sich alles auf das glücklichste zu gestalten. Durch Schiller an Frau von Kalb empfohlen, fand er in deren Hause zu Waltershausen eine überaus günstige Stellung, und als er nun gar mit der Familie zu Ende 1794 nach Weimar übersiedelte, schien sich ihm der reichste und freieste Lebenskreis zu öffnen. Goethe, Herder und Fichte traten mit ihm in persönliche Berührung, und Schiller sorgte für seinen »lieben Schwaben« in der herzlichsten und zuvorkommendsten Weise. Aber schon hier trat jener Zug der Melancholie und der Unbefriedigtheit hervor, der tief in Hölderlins Wesen begründet war. Mitten aus dem Zentrum der deutschen Geistesbewegung, mitten aus diesem edelsten Kreise, dessen Wert er so gut wie nur irgendein anderer verstehen konnte und empfand, sehnte er sich nach der Einsamkeit und der idyllischen Ruhe seiner schwäbischen Heimat, und ohne daß wir von äußeren Veranlassungen wüßten, die ihn dazu getrieben hätten, gab er nach wenigen Monaten seine Stellung auf, um zu den Seinen zurückzukehren. Als er dann eine neue Tätigkeit übernahm, ging er | der düstern Entscheidung seines Lebens entgegen. Im Januar 1796 trat er eine Hauslehrerstelle in der Familie Gontard zu Frankfurt a. M. an, wo er die folgenden Jahre nur mit der Unterbrechung zugebracht hat, daß er im August 1796 während der Kriegsunruhen seine Zöglinge und ihre Mutter auf einer Reise nach Driburg begleitete. Seit dem Beginne des folgenden Jahres sah er sich mit Hegel wie-
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der vereinigt, welcher sich in Frankfurt in ähnlicher Lage befand, und in dem Gedankenaustausche mit dem mächtig gereisten und innerlich geklärten Jugendfreunde erwuchs auch ihm eine neue Regsamkeit des geistigen Lebens. Allein der Genuß dieses Zustandes wurde ihm durch das persönliche Geschick getrübt. Er hatte in der Mutter seiner Zöglinge das Ideal seiner Sehnsucht gefunden und es verkörperte sich für ihn der ganze Inhalt seines elegischen Idealismus in der schönen, edlen und geistreichen Frau, die er »eine Griechin« nannte und als Diotima in seinen Dichtungen gefeiert hat. Aber so sehr ihn diese glühende Liebe beseligte, so sehr sie alle Fasern seines Denkens und Dichtens erregte, so tief drückte ihn die Unerreichbarkeit des Ideals nieder, und um so mehr befestigte sich in ihm die elegische Stimmung der Verzweiflung an der Wirklichkeit und der Flucht in das Land der Träume. Sein Glaube an die Verwirklichung des Ideals wich der trostlosen Klage über dessen ewigen Verlust, und die Energielosigkeit, die er den äußeren Verhältnissen gegenüber schon früher gezeigt, breitete sich nun in gefährlichster Weise über sein ganzes Dasein aus. Nur seine dichterische Kraft ging aus dem Unglück gestählt in ihrer reifsten und schönsten Form hervor. Aus diesen Jahren stammen die edelsten und ergreifendsten Dichtungen Hölderlins, und diese Zeit brachte ihm die volle Entwicklung der Eigentümlichkeit und der selbstständigen, einzigen Bedeutung, welche er als Dichter be|sitzt. In seinem ganzen Wesen war es begründet, daß die Lyrik der Boden war, auf dem allein er Großes und Bedeutendes leisten konnte. Aber für jenes einfache Lied, in welchem sich Goethes Gefühl aussprach, floß in ihm das Blut zu schwer. Seine ganze Begabung lag auf der Seite der gedankenschweren Lyrik, wie sie sich in der antiken Ode und in dem pindarschen Dithyrambus ihre adäquate Form geschaffen hat. Das elegische Element überwiegt in ihm derartig, daß es alle anderen zurückdrängt, und seine künstlerische Form ist eine gewaltige, gedankengetragene, blühende Sprache, die vielleicht außer Schiller unter den deutschen Dichtern keinem so zur Verfügung gestanden hat wie ihm. Ein Reichtum plastischer Bilder, eine bewunderungswürdige Kühnheit
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des Gedankenganges und dabei eine Sicherheit und Geschlossenheit der Komposition machen diese Gedichte Hölderlins zu einem der schönsten Schätze in unserer Literatur. Selbst die kürzeren unter ihnen zeigen eine Kraft der plastischen Gestaltung und eine Meisterschaft der Zusammendrängung, welche in der modernen Literatur nicht übertroffen worden ist. Dabei sind sie sprachlich und rhythmisch von einer geradezu idealen Formvollendung. Sie bewegen sich durchgängig in den antiken Maßen; aber die klassische Form ist hier nicht, wie meistens bei modernen Dichtern, ein äußerlich gemachtes und künstlich gefaltetes Kleid, sondern das natürliche Gewand einer Dichtung, die in ihrem ganzen Gehalte, in ihrer Sprache und in ihrer Empfindung von antikem Geiste beseelt ist. Die elegische Stimmung des Dichters tritt nicht sowohl, wie das sonst in der modernen Poesie geschieht, als eine unmittelbare Schilderung seiner persönlichen Gefühle, sondern vielmehr in dem Kolorit hervor, in welches er die Anschauungen seiner Phantasie taucht. Darin besteht die wirkliche Verwandtschaft Hölderlins mit der Antike, und so bilden seine Dichtungen in Form und Inhalt den vollkommensten Aus|druck davon, daß die antike Bildung ein integrierender Bestandteil der unsrigen ist und hoffentlich immer bleiben wird. Das klassische Element ist bei ihm nicht ein äußerlich angenommenes, sondern ein so vollkommen verarbeitetes, daß seine Dichtung sich damit durchaus identifiziert. Diese Bedeutung ist ihm in unserer Literaturgeschichte gesichert: daß sie, wie ich eingangs andeutete, heutzutage fast vergessen ist, bildet eines der traurigen Symptome dafür, daß unser geistiges Leben in Gefahr ist, von den Quellen abgelenkt zu werden, aus denen sein innerster Gehalt herstammt. Aber für Hölderlin lag nun das Gefährliche dieser Richtung darin, daß sein ganzes Denken, Dichten und Sein in dies antike Element aufging, und daß er deshalb persönlich nur den tiefen Gegensatz empfand, in welchem sich das unruhige und gespaltene Leben der Gegenwart zu seinem Ideal der klassischen Bildung befand. In den Oden, wo das volle Licht künstlerischer Gestaltung waltet, tritt dieser Gegensatz nur als ein Schatten auf, der hin und wieder über das Bild der Schönheit huscht; im Leben Hölderlins
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ist er die Nacht geworden, die sich über seinen Geist breitete, und zu drohenden Wolken geballt, tritt er uns bereits in einem Werke entgegen, in welchem der Dichter den vergeblichen Versuch machte, seine Gefühle und Gedanken in der Form des Romans niederzulegen. Die epische Anlage war ihm ebenso versagt, wie die dramatische, und so ist sein »Hyperion«, dieser Roman in Briefen, welche noch dazu durch die Fiktion, lange Jahre nach den wirklichen Erlebnissen geschrieben zu sein, die Wirkung der Unmittelbarkeit einbüßen, der Form nach ein durchaus mißlungenes Werk. Um so mehr ist es ein charakteristisches Selbstbekenntnis des Dichters. Mit glühenden Farben wird hier im Anschluß an die ersten Zuckungen, mit denen das moderne Griechenland aufzuleben begann, das ideale Bild des alten Griechentums | gezeichnet, und von diesem aus fallen die Reflexe einer geradezu bitteren und ungerechten Kritik auf die Unschönheit, auf die Zerrissenheit, auf die Einseitigkeit und innere Zerfahrenheit des modernen und speziell des deutschen Lebens. Der Mann, der dies Buch schrieb, war seiner Gegenwart auf das tiefste entfremdet, er krankte unheilbar an der Sehnsucht nach einem Lande der Schönheit, das er in dem antiken Griechenland zugleich gefunden und auf ewig verloren zu haben glaubte. Aber dieser unlösbare Gegensatz, mit dem der Hyperion schloß, war auch nur ein idealer Ausdruck für das tragische Geschick, dem der Dichter selbst verfiel und das sich mehr und mehr der Vollendung nahte. Das Verhältnis zu dem Gontardschen Hause ging mit natürlicher Notwendigkeit einer Krise entgegen, welche sich im September 1798 vollzog. Aus Frankfurt entflohen, fand Hölderlin zunächst bei seinem Freunde Sinclair in Homburg Aufnahme, begab sich später auf dessen Veranlassung zur Zeit des Kongresses nach Rastatt und kehrte dann nach Homburg zurück. Alle Pläne, die er zur neuen Gestaltung seines Lebens machte, die Begründung einer Zeitschrift, eine Habilitation in Jena usw. zerschlugen sich teils an den äußeren Verhältnissen, teils an der Mattigkeit und Kraftlosigkeit, der er verfallen war. So ging er denn im Sommer 1800 nach Nürtingen zu seiner Familie. Später finden wir ihn in Stuttgart, dann eine Zeitlang in Hauptwil bei Konstanz,
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und am Ende des Jahres 1801 nahm er eine Hauslehrerstellung in Bordeaux an. Mit dieser Flucht aus dem deutschen Dasein breitet sich das Dunkel über sein Leben. Wie es ihm dort ergangen, wissen wir nicht, und als er im Sommer des folgenden Jahres wieder in Deutschland erschien, hatte sich die Katastrophe, die in seinem Wesen vorgezeichnet war, unrettbar an ihm vollzogen. Der Dichter Matthisson, der ihn früher gekannt, schilderte später mit Entsetzen, wie eines Tages | die Gestalt des einstigen Apoll elend und zerlumpt, mit allen Zeichen der Verstörung in sein Zimmer getreten sei, mit fürchterlicher Kälte nur das eine Wort: »Hölderlin« ausgestoßen habe und dann wie eine Erscheinung wieder verschwunden sei. Bald darauf langte er mit tobenden Gebärden im Zustande verzweifelten Irrsinns bei den Seinen an. Es stellte sich heraus, daß er im Juni plötzlich Bordeaux verlassen und in der brennenden Sonnenhitze über Paris durch ganz Frankreich gewandert war. Vielleicht hatte ihn die Nachricht von Diotimas Krankheit noch in Bordeaux, diejenige ihres Todes in Paris erreicht; jetzt war die Blume seines Daseins geknickt für immer. Zwar schien er sich unter der Pflege der Mutter erholen zu wollen. Das Licht seines Geistes flackerte noch einmal auf, um dann für immer zu erlöschen. Er begann wieder zu dichten, er beschäftigte sich mit einer Übersetzung und Kommentierung des Sophokles, er arbeitete den Pindar durch. Unter diesen Umständen schien eine einfache Beschäftigung für ihn das beste. Freund Sinclair wußte wieder Rat. Durch seine Vermittlung bot dem scheinbar Genesenden der Landgraf von Hessen-Homburg eine Anstellung als Bibliothekar an, zu deren Übernahme er im Sommer 1804 nach Homburg übersiedelte. Allein sein Zustand begann nach kurzer Zeit sichtlich sich mehr und mehr zu verschlimmern, und im Herbst 1806 mußte er in die Tübinger Klinik geschafft werden. Es ergab sich, daß sein Zustand zwar ungefährlich, aber hoffnungslos sei, und so wurde er im folgenden Jahre bei einem Tischlermeister untergebracht. Unter der freundlichen Pflege dieses Mannes, welche später von dessen Witwe fortgesetzt wurde, führte er in der Stille ein inhaltloses Dasein. Denn die Nacht, die seinen Geist gefangen hielt, ist nicht wieder von ihm gewichen und hat ihn noch 36 Jahre lang umhüllt.
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Über die Art und die Gründe dieses Wahnsinns | haben wir nur spärliche Berichte. Die ihn beobachtet und geschildert, waren Laien, welche auf die wesentlichen Symptome ihr Augenmerk nicht richten konnten. So fehlt uns vor allem jeder Anhalt für die Einsicht in die physischen Ursachen seiner Störung. Aus den Klagen über häufigen Kopfschmerz, die sich früh bei ihm meldeten, geht hervor, daß sein Nervensystem nicht das stärkste war: was aber dessen Gleichgewicht so völlig störte, ist damit nicht gesagt. Gewisse unedle Annahmen, für welche man die völlige Unkenntnis seines Lebens während der Zeit in Bordeaux ausnützte, finden in seiner sonstigen Lebensweise nicht nur keine Bestätigung, sondern sogar entschiedene Widerlegung, und stehen auch mit der Tatsache in Widerspruch, daß aus aller seiner Melancholie und aus der ganzen Zeit seines Irrsinns auch nicht ein einziger Fall selbstmörderischer Gedanken oder Versuche mitgeteilt, dagegen ausdrücklich versichert wird, er habe selbst in den dunkelsten Zeiten stets noch das feinste Gefühl für Schicklichkeit und Anstand besessen. Dabei zehrte die Krankheit an seinem Körper nicht. Nachdem seine Verwilderung, in der er aus Frankreich zurückkehrte, überwunden, hat er sich bis zum Tode in der einfachen und sorgfältigen Pflege stets wohl befunden. Nur zuweilen, wenn der Dämon ihn schüttelte, blieb eine tagelange Erschlaffung zurück. Solche Wutanfälle, anfangs häufiger, wurden mit der Zeit immer seltener; sie beschränkten sich auf Störungen des häuslichen Zusammenlebens, die ohne Belang waren. Die eingehendste Schilderung seines geistigen Zustandes verdanken wir dem Dichter Friedrich Waiblinger, der im Anfange der zwanziger Jahre in Tübingen studierte und viel um ihn war, sowie den ergänzenden Mitteilungen seines Biographen Schwab, der ihn gleichfalls noch persönlich gekannt hat. Als das charakteristische Merkmal tritt uns dabei die Unfähigkeit des Dichters entgegen, seine | Gedanken zu beherrschen. Er war in einer rastlosen Tätigkeit der Phantasie begriffen; während der ersten Jahre namentlich bedeckte er jedes Stück Papier, das ihm in die Hände fiel, mit prosaischen oder poetischen Aufzeichnungen. Wenn er seine Spaziergänge in dem engen Gartenhof oder in seinem Zim-
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mer hielt, so war er in ununterbrochenem Selbstgespräche, und wer zu ihm kam, hörte schon an der Tür sein lebhaftes Perorieren. Wie aber sein Auge bei aller Lebhaftigkeit des Umherschauens den Eindruck des Irren durch den Mangel an sicherer, fixierender Konzentration machte, so war auch seine Gedankenbewegung mittelpunktlos und der Herrschaft des vernünftigen Willens entzogen. Es entspricht das genau dem, was man wohl Ideenflucht nennt. Die nervöse Erregung springt, offenbar rein mechanischen Gesetzen folgend, von einem Gedanken zum anderen, und so reiht sich wie ein tosender Wasserfall sinnlos Vorstellung an Vorstellung. In dieser Beziehung sind nun die Gedichte, welche aus Hölderlins irrer Zeit erhalten wurden, eine für den Psychologen überaus interessante Hinterlassenschaft. Nur mühsam wiederstehe ich der Verlockung, eines oder das andere davon hier zu analysieren. Sie sind ein wunderbarer Beweis für die hohe Vollendung der Einübung, welche das menschliche Denkorgan erreichen kann, sodaß seine Tätigkeiten sich noch mechanisch abspielen, auch wenn ihnen die einheitliche Leitung der bewußten Vernunft fehlt. Als Hölderlin nicht mehr dichten konnte, da dichtete es noch in ihm. Schiller hat einmal von den niederen Dichtern gesagt, daß die gebildete Sprache für sie dichte und denke. Ähnlich ist es hier bei Hölderlin. Das Technische der Dichtung, Rhythmus und Reim, ist meist noch von tadelloser Reinheit und Schönheit; anfangs begegnen uns noch die antiken Strophen, später fällt der Dichter wieder mehr in die reimende Art seiner Jugend zurück. Auch der Glanz der Diktion ist an ein|zelnen Stellen wunderbar schön erhalten; aber dazwischen mischt sich nüchtern prosaischer Ausdruck und gelegentlich eine unsägliche Trivialität des Inhalts, oft endlich auch ein völlig sinnloses Verschwimmen des Gedankens und nur noch eine tönende Zusammenfügung von Worten. Was aber in allen Gedichten fehlt, ist Zusammenhang und einheitliche Komposition.1 Anfangs tritt ein beherrschender Gedanke oder ein dominierendes Bild klar und noch mit alter Plastik hervor: aber 1 Das gilt im Ganzen auch noch, nachdem es neuerdings liebevollem Scharfsinn gelungen ist, die z. T. verdorbene Überlieferung philologisch zu
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dann drängen sich – mit lockerster Assoziation und häufig sogar scheinbar ohne diese – fremde Gestalten, oft die wunderlich entlegensten Vorstellungen in die Phantasie hinein, und zuletzt verliert sich der Dichter in pfadlosem Dunkel. Seit altersher spricht man von einer Verwandtschaft zwischen Dichtung und Wahnsinn, zwischen dem Genie und dem Irren. Worin besteht diese Ähnlichkeit? Doch nur darin, daß der Fortgang der Gedanken, die Ideenassoziation, wie die Psychologen sagen, bei beiden sich in einer Weise vollzieht, welche der Gewohnheit des gemeinen Lebens spottet, und daß dieser ungewohnte Flug des Gedankens bei beiden nicht der bewußten Überlegung, sondern einer unbewußten Notwendigkeit entspringt. Aber der Unterschied ist der, daß diese unbewußte Nötigung bei dem Genie in einem sachlichen Zusammenhange der Gedanken wurzelt, bei dem Wahnsinn dagegen nur auf der mechanischen Reihenfolge von Nervenerregungen beruht. Was daher der Dichter in genialer Intuition erfaßt, dem kann nachher der gewöhnliche Verstand mit seiner Logik nachhinken: das Gerede des Irren ist und bleibt sinnlos. Die geniale Aneinanderfügung der Bilder und Ideen ist nun aber vor allem der Grundcharakter | jener dithyrambischen Odendichtung, in der Hölderlins Eigentümlichkeit besteht. Auch eine pindarsche Ode, auch ein goethesches Gedicht, wie etwa die Harzreise, ist »schwer«, wie man zu sagen pflegt, d. h. es ist dem gemeinen Bewußtsein eine Mühe, ihrem Zusammenhange zu folgen. Aber dieser Zusammenhang ist da; er bildet das geheime innere Band der Komposition, und seine kongeniale Auffassung ist der ästhetische Reiz für den Genießenden. So ist es auch in den früheren Dichtungen Hölderlins; allein bei diesen letzten ist nun dies der wehmütige Eindruck, wie sich in ihnen allmählich das Genie in Wahnsinn verliert. Anfangs besitzen sie jenen Faden des Zusammenhangs; aber er wird immer lockerer, und zum Schluß entrinnt er den schwachen Händen des Dichters. In ihrem Anfange spricht noch der Genius, – an ihrem Ende waltet der Dämon. In verbessern und dadurch streckenweise einen Zusammenhang zu gewinnen, der früher versteckt war.
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dieser Hinsicht ist höchst charakteristisch das im Jahre 1803 entstandene Gedicht Pathmos, dessen Länge leider seine Mitteilung verbietet. Man vergleicht des Dichters Geist gern mit der Harfe: hier sind einige Saiten verstimmt, andere zerrissen, andere wieder tönen noch im schmelzenden Wohllaut; was aber darin spielt, ist nicht mehr der Gedanke des Menschen, sondern der Wind, von dem man nicht weiß, von wannen er kommt und wohin er fährt. Einen ähnlichen Eindruck machen die prosaischen Aufzeichnungen, welche aus der ersten Zeit der Gestörtheit stammen. Damals, als er sich noch einmal sammeln zu wollen schien, schrieb er Anmerkungen zu mehreren Sophokleischen Stücken und versuchte, sich über den Grundgedanken seines noch weiterhin zu erwähnenden Trauerspiels »Empedokles« klar zu werden. Beides in einer schwer mit sich ringenden Sprache und in einer Darstellung, welche ebenfalls durch feine, fast unmerkliche Nuancen aus genialem Tiefsinn in trostlosen Unsinn übergeht. Hier kommt noch ein anderes hinzu. Wie bei | manchen der Gedichte, so hat man hier noch häufiger den Eindruck, daß der Dichter das Wort für den Gedanken, der ihm vorschwebt, nicht finden kann und schließlich zu einem inadäquaten greift. Diese Erscheinung ist bekanntlich bei Nervenkrankheiten sehr häufig; als ausgesprochene Dysphasie ist sie bei Hölderlin nicht aufgetreten, auch später nicht, wo er sich dagegen oft in der Bildung ganz sinnloser Worte ergangen hat.2 Aber in jenen Schriften begegnen uns oft seltsame Satzwendungen und Wortbildungen, und es bewegt sich dies Suchen merkwürdigerweise in ähnlichen Bahnen, wie sie Hegel in seiner philosophischen Sprache gewandelt ist. Auch dieser hat die 2 Die Biographie gibt dafür als Beispiel, er habe einmal als er griechisch lesen sollte, geantwortet: »ich verstehe das nicht, das ist Kalamattasprache«. Dies Beispiel ist sehr unglücklich; es scheint dem Biographen entgangen zu sein, daß Kalamatta eine Stadt an der Südküste der Peloponnes ist, deren Namen dem Dichter bei der Aufforderung, griechisch zu lesen, durch einfache Ideenassoziation um so mehr einfallen konnte, als diese Stadt in den zwanziger Jahren als der Sitz des »Senats von Messenien« und wegen ihrer Zerstörung 1825 viel genannt wurde und gewiß gelegentlich auch von den Besuchern Hölderlins erwähnt worden ist.
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Nation durch ungewohnte Worte und Sätze frappiert, und es gibt bei ihm seitenlange Stellen, an denen der seiner Ausdrucksweise Unkundige statt des Tiefsinns auch Wahnsinn vor sich zu haben meint und meinen muß; aber bei Hegel ist doch ein Sinn dahinter, seine Terminologie, mag sie noch so barock sein, beruht auf einem großartigen Gedankenzusammenhange; bei Hölderlin liegt hinter den unverständlichen Worten eben nur traurige Öde oder ein unfaßbares, immer entfliehendes Etwas. Mit der Zeit nahm auch seine geistige Regsamkeit ab; er ward mehr und mehr zum Kinde, und seine Vorstellungswelt schrumpfte auf den engen Kreis seiner nächsten Bedürfnisse und Erlebnisse zusammen. Selten zum Glück waren lichtere Augenblicke, in denen er sein Geschick | verstand, aber auch dann prägte sich sein Gefühl nur in still wehmütiger Ergebung aus, wie sie in den Worten zutage tritt: »Das Angenehme dieser Welt hab’ ich genossen, Die Jugendstunden sind wie lang, wie lang verflossen. April und Mai und Junius sind ferne: Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.«
Mancherlei Kuriositäten und Narrheiten werden von seinen Gewohnheiten berichtet, keine so, daß sie als fixe Idee bezeichnet werden dürfte. Nicht einmal von seiner Sucht, die Menschen mit hohen Titeln, wie Eure Majestät, Eure Durchlaucht usw. anzureden, kann man sagen, daß sie seinen Geist so gefangen gehalten hätte, wie es der Psychiater bei der Anwendung des Ausdruckes fixe Idee im Auge hat. Denn er lebte nicht etwa in der Einbildung, mit lauter vornehmen Leuten umzugehen, er war sich vielmehr der realen Lebensstellung seiner Besucher sehr wohl bewußt und gefiel sich nur in der Marotte einer forcierten Höflichkeit. Anfangs waren ihm seine Gefühle in die Einsamkeit gefolgt; ja er schrieb einmal das schöne Wort: nun erst verstehe er den Menschen recht, da er fern von ihm und in Einsamkeit lebe. Er dichtete noch Oden an Diotima, er zeigte noch das alte Gefühl für die einfache Schönheit der Natur, er gedachte noch mit Teilnahme
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der Seinen. Ein rührendes Blatt an seinen geliebten Halbbruder hat sich erhalten, in jenem gewaltsam verständigen und gemacht nüchternen Stile abgefaßt, den man häufig an Nervenkranken beobachtet, als ob sie sich zusammennähmen, recht vernünftig zu schreiben. Es bricht mit den Worten ab: »ich merke, daß ich schließen muß«. Später verlor sich auch diese Teilnahme; er wurde immer apathischer. Der Besuch eines Jugendfreundes, die Nachricht vom Tode seiner Mutter gingen spurlos an ihm vorüber, selbst die Sammlung seiner Werke, von der man ihm erzählte, blieb | ihm gleichgültig, und nur als er das Exemplar sah, zeigte er etwas wie Freude darüber. So wurde sein Dasein immer schattenhafter, er vegetierte nur noch dahin. Aber eine eigentliche Paralyse, eine völlige Auflösung der geistigen Kräfte scheint nicht eingetreten zu sein. Sein Ende wurde durch ein lokales Leiden, eine Brustwassersucht, schnell und sanft herbeigeführt. Er starb betend am 7. Juni 1843. Die Sektion erwies, wie sein Biograph mitteilt, auch den Bestand einer Gehirnwassersucht, von der sich jedoch nicht feststellen ließ, ob sie mit früheren Entzündungen im Zusammenhange gestanden und was sie etwa noch zu zerstören vorgefunden hatte. So sind wir in der Ätiologie dieses Wahnsinns auf die psychischen Momente angewiesen, welche in seinem Leben vorliegen. In erster Linie glaubt man natürlich, an die unglückliche Liebe denken zu müssen, die sein ganzes Wesen aus den Fugen brachte. Kein Zweifel, daß diese Leidenschaft seine innerste Seele ergriff und ihm den letzten, schwersten Stoß gab. Aber dieser Stoß wirkte nur deshalb zerstörend, weil er schon ein morsches Gebäude traf. Nicht unter allen Umständen, sondern nur in dem inneren Zustande, in welchem Hölderlin schon war, wirkt die unglückliche Liebe so: der Wahnsinn muß schon in der Tiefe angelegt sein und kommt nur zum Ausbruch durch die neue Erschütterung. Und in der Tat, Hölderlins Geist war schon an sich so tief krank, daß es eben nur dieser Veranlassung bedurfte, um ihn in das Verderben zu stürzen. Von ihm gilt das Wort, welches der größte der Dichter in bezug auf einen anderen wahnumnachteten Dichter sprechen läßt:
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»Es liegt um uns herum Gar mancher Abgrund, den das Schicksal grub; Doch der in unserm Herzen ist der tiefste, Und reizend ist es, sich hinabzustürzen.« |
Schon zu jener Zeit, als Hölderlin im Hause der Frau von Kalb lebte, unter den denkbar günstigsten Verhältnissen, auf das liebenswürdigste, feinfühligste aufgenommen, mit den besten Geistern in Verbindung, schon da ergreift ihn die Melancholie. Er mißt sich an den Größen der Zeit, und ihr Anblick, statt ihn zu erheben, drückt ihn nieder. Nicht persönliche Eitelkeit oder unerfüllte Ruhmbegierde liegt dabei zugrunde, sondern die Einsicht in den Mangel seines eigenen Wesens, die Überzeugung von dem Widerspruch zwischen ihm und seinem Ideal. Er glaubt seine Bestimmung nicht zu erfüllen, er fühlt sich den Aufgaben des Lebens nicht gewachsen, – und weil er den Dingen nicht genug tun kann, so tut ihm auch das Leben nicht genug. Er ist der Typus der »problematischen Naturen«, wie sie Goethe gezeichnet hat. Diesen Zustand beurteilte Schiller schon damals als gefährlich. Sein scharfes Auge sah Hölderlin und Jean Paul auf Einer Linie. Und wahrlich, der Dichter des Titan hätte ebenso wie der des Hyperion zugrunde gehen müssen, wenn ihm nicht die Göttergabe des Humors verliehen gewesen wäre. Von diesem Humor, von dieser Erhebung über die Wirklichkeit, hatte Hölderlin keinen Tropfen; in ihm floß nur schweres Blut, und sein Schmerz bohrte sich ins Innere, bis er das Mark zerstörte. Der Grundton, auf den das unendlich feine Instrument seiner Seele gestimmt war, ist der elegische. Unfähig, den Schmerz zu überwinden oder ihn auch nur im reinen Bilde anzuschauen, muß er sich immer tiefer und tiefer in ihn hineinwühlen. Das ist der Fluch des Lyrikers, der an keinem sich so erfüllt hat, wie an Hölderlin. Allein der elegische Dichter bedarf eines Ideals, an dem er die Wirklichkeit mißt und um dessentwillen er aus ihr flüchtet, sollte er sich dies Ideal auch erst schaffen müssen. Dies war, wie wir sahen, für Hölderlin die antike Welt. Sein Interesse an ihr hat früh
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schon einen | gewissen pathologischen Charakter. Schiller hat von der Graecomanie als einem Fieber gesprochen. Er tat es, nachdem er selbst durch Kant und durch Goethe davon geheilt worden war. Aber für Hölderlin wurde dies Fieber eine tödliche Krankheit. Hatte er früher mit Posa gesagt, seine Liebe gelte den kommenden Geschlechtern, so galt jetzt seine Liebe und seine Sehnsucht nur einem vergangenen Geschlechte und einem Zustande, der, für ewig verloren, als ein goldenes Zeitalter weit hinter uns liege. Mochten sich auch in ihm ähnliche Gedanken angebahnt haben, – es fehlte ihm die Energie, welche Schiller und Hegel besaßen, das goldene Zeitalter in höherer Gestalt von der Zukunft zu erhoffen und an seiner Herbeiführung zu arbeiten. Er klagte nur träumend dem Vergangenen nach. Die klassische Welt war der Abgrund, in den er sich stürzte. Wir lernten ihn oben als den idealen Vertreter dieses Elements in unserer Nationalbildung kennen. Hier zeigt es sich, daß er an eben dieser seiner Bedeutung zugrunde gegangen ist. In Dichtung und Philosophie beruht die Größe des deutschen Geistes auf der Verschmelzung des antiken und des modernen Kulturgehaltes. Vollständig, zu reiner Versöhnung ist sie nur in zwei Männern gediehen, in Goethe und in Hegel; in den anderen schiebt sich beides mit mannigfach gestalteten Mischungen durcheinander: bei Hölderlin erheben sich beide Elemente gegeneinander und ihr Widerspruch sprengt das zarte Gefüge seines Geistes. Diese elegische Versenkung in das Altertum war es, welche Hölderlin die Kraft raubte, den Anforderungen des modernen Lebens zu genügen, und ihm das Dasein zur Qual machte. Aber sie selbst ist doch wiederum nur der Ausfluß und gewissermaßen erst die theoretische Form einer allgemeineren Tendenz, die den tiefsten Grund seines Leidens gebildet hat. Diesen versteht man erst, wenn man sich klar macht, worin denn für Hölderlin der | Gegensatz des antiken und des modernen Lebens bestand und weshalb er aus diesem in jenes flüchtete. Es ist das gänzlich verschiedene Verhältnis, welches in beiden Zeitaltern zwischen dem Individuum und dem gesamten Kulturgehalte seiner Zeit besteht. Die antike Welt war noch so einfach, daß der einzelne imstande war, mit seinen Interessen den gesamten Inhalt des gemeinsamen Kulturlebens
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zu umfassen. Wissenschaft und Kunst, Staat und Religion standen noch in so nahem und innigem Verhältnis, daß sie im ganzen nur eine harmonische Einheit ausmachten, und der Umfang dessen, was dazu gehörte, war noch so gering, daß es dem einzelnen möglich war, mit der vollen Hingabe an seinen besonderen Beruf den ganzen Genuß der allgemeinen Bildung zu verbinden. So war jedes Individuum neben seiner Eigentümlichkeit doch mit dem wesentlichen Gehalte des gemeinsamen Lebens so verwachsen, daß es als dessen Repräsentant gelten konnte. Ganz anders ist es in der modernen Welt. Alle Berufstätigkeiten haben in ihr einen solchen Umfang gewonnen und sich so verzweigt, daß der einzelne nicht mehr imstande ist, ihre Gesamtheit zu beherrschen, und dabei sind sie, was noch schwerer wiegt, in ihrer Entwicklung derartig auseinander gegangen, daß jener harmonische Zusammenhang und jene schöne Einheit, worin sie sich bei den Alten noch befanden, unwiederbringlich verloren scheinen. Darum ist uns jene glückliche Identität der individuellen mit der allgemeinen Bildung verloren, und das Individuum ist nicht mehr imstande, in sich die gesamte Kultur seiner Zeit zu verarbeiten und sich zu ihrem Repräsentanten zu machen. Diesen Gegensatz, der zwar nicht absolut aber jedenfalls relativ gilt, hat Hölderlin vielleicht tiefer als irgend jemand anders empfunden. Er lag ganz innerhalb der kulturphilosophischen Gedanken, aus denen Schiller die ästhetischen Grundbegriffe konstruierte, wenn er auch bei | diesem nicht in der gleichen Richtung ausgeführt worden war. Er stand aber zugleich in der innigsten Beziehung zu dem Charakter der damaligen deutschen Bildung, deren wichtigster Zug gerade die universalistische Tendenz war. Als die hauptsächlichsten Vertreter dieser Richtung sind die Romantiker bekannt. Sie haben nicht nur auf dem Gebiete ihrer literarischen Tätigkeit und namentlich in der Poesie, Literaturgeschichte und Philosophie sich die Aufgabe einer Verarbeitung aller großen Schöpfungen gesetzt, welche der menschliche Geist in seiner Entwicklung je hervorgebracht hat, sondern auch vor allem das Prinzip aufgestellt, daß das ästhetische, wissenschaftliche, religiöse und staatliche Leben des Menschen wieder in eine große
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Einheit harmonisch zusammenschmelzen müsse, daß das Individuum seine Aufgabe nur auf dem Grunde einer universalistischen Bildung und in der vollkommenen Einheit mit der gesamten Kultur zu lösen vermöge. Genau die gleiche Tendenz bestimmte das ganze Wesen von Hölderlin, und Haym hat deshalb vollkommen recht getan, ihn in seiner meisterhaften Darstellung der romantischen Schule als einen Seitensproß an ihr zu behandeln, obwohl der einsame Schwabe mit ihr in keiner direkten und persönlichen Verbindung stand. Aber während die Romantiker wenigstens den Versuch machten, dieses Ideal der universalistischen Kultur des Individuums zu realisieren, verzweifelte Hölderlin an der Möglichkeit seiner Verwirklichung. Nur in der antiken Welt sah er es realisiert; nur der Grieche war ihm in diesem Sinne der volle und unverkümmerte Mensch. Das moderne Dasein zeigt Staatsmänner und Bauern, Dichter und Denker, Kaufleute, Handwerker, Beamte, kurz lauter Leute des Berufs, aber einen Menschen sucht man darin vergebens. Deshalb nimmt bei Hölderlin die universalistische Tendenz einen pathologischen Charakter und eine elegische Färbung an. Ihr Ideal ist in dem modernen Leben nicht mehr | zu realisieren, aber es war das Lebensprinzip in dem goldenen Zeitalter des Griechentums. Alle Bitterkeit, welche Hölderlin gegen die moderne Welt und speziell gegen seine eigene Nation im Hyperion ausgegossen hat, und all die leidenschaftlich sehnsüchtige Liebe, mit der er das Altertum umfaßte, beruhen auf diesem Grunde. Deshalb ist nun das Interessanteste seiner Selbstbekenntnisse das Fragment einer Tragödie, worin er diesen Widerspruch, der ihn erfüllte, auf den Boden des Griechentums selbst versetzen wollte. Das tragische Motiv des »Empedokles« hat eine gewisse Ähnlichkeit mit demjenigen des Faust. Es besteht darin, daß das Individuum an dem Drange zugrunde geht, sich zum All zu erweitern, daß es von der Sehnsucht erfüllt ist, alles, was ist, in sich zu umfassen und besonders mit dem ganzen Menschenleben sich zu identifizieren, und daß es mit der Einsicht in die Unerfüllbarkeit dieses Strebens endet. Aus den ausgeführten Teilen und aus den Betrachtungen über den Gesamtplan des Werkes, die Hölderlin hinterlassen hat, läßt sich wenigstens in allgemeinen Zügen erken-
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nen, wie er seinen Helden, in welchem sich der Philosoph, der Dichter und der Staatslenker zu ungeteilter Einheit verbinden, an dem Widerspruche der wirklichen Welt, an der unharmonischen Geteiltheit und Zerstücklung der äußeren Verhältnisse scheitern lassen wollte. Die Unmöglichkeit, in der sich das moderne Individuum befindet, den gesamten Gehalt der allgemeinen Kultur in seiner Bildung zur lebendigen Einheit zu bringen, ist also der letzte Grund für die elegische Versenkung in das klassische Altertum, worin Hölderlins tragisches Geschick sich besiegelte. Und das ist nun in der Tat eine tiefe Einsicht in das Wesen des modernen Lebens. Diese Unmöglichkeit ist eine Tatsache. So unendlich verzweigt, so vielfältig, so widerspruchsvoll ist unsere Kultur geworden, daß das Individuum unfähig ist, sie vollständig | in sich aufzunehmen. Die Gesamtheit unserer Kultur ist ein idealer Begriff, der in keinem individuellen Bewußtsein mehr realisiert ist. Jeder von uns ist in dem großen Getriebe des sozialen Daseins an einem bestimmten Punkte eingefügt, und er ist von da aus nicht mehr imstande, den ganzen Umkreis der übrigen Tätigkeiten und ihres geistigen Gehaltes zu überschauen und in sich aufzunehmen. In die Arbeit des Berufs eingespannt und vermöge der steigenden Anforderungen desselben das ganze Leben hindurch angespannt, bekommt der individuelle Geist gewissermaßen Scheuklappen, die ihm nur ein beschränktes Gesichtsfeld zu übersehen gestatten. Eine universalistische Bildung, wie sie der Bürger Athens besaß, wie sie die großen Männer der Renaissance neu erwarben, wie sie Deutschlands Dichter und Denker in Hölderlins Tagen wenigstens anstrebten, ist heutzutage selbst für das Genie unmöglich. Die Kultur ist zu breit geworden, um vom Standpunkt des Individuums aus übersehen zu werden. Diese Unmöglichkeit trägt eine große soziale Gefahr in sich. Je vereinzelter die Berufstätigkeit des Individuums wird, um so fremder und kenntnisloser steht es den Interessen gegenüber, welche den Lebensgehalt des andern ebenso einseitigen Individuums ausmachen. Die Berufsarten, die Stände, die verschiedenen Schichten der Gesellschaft werden auf diese Weise mehr und mehr einander entfremdet und hören bald
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ganz auf, sich gegenseitig zu verstehen. Das Bewußtsein des einheitlichen Zusammenhanges, der alles Kulturleben beherrschen soll, geht Schritt für Schritt verloren, und die Gesellschaft droht in Gruppen und Atome zu zerfallen, zwischen denen es nicht mehr das Bindemittel des geistigen Verständnisses, sondern nur noch dasjenige der äußeren Not und Notwendigkeit gibt. So wird die moderne Gesellschaft mehr und mehr zu einem Bilde der Zerrissenheit, und je schneller dieser Prozeß mit natürlicher Notwendigkeit fortschreitet, um so | geringer wird selbstverständlich die Kraft der gesellschaftlichen Ordnung, deren festeste Stütze die Gleichheit des Kulturbewußtseins in den Individuen bildet. Schlimmer noch als dieser Mangel einer wahrhaft universellen Bildung ist das Surrogat, mit dem wir uns darüber hinwegzutäuschen suchen. Außerstande, den Bildungsgehalt der fremden Sphären bis in seine Tiefe und seine Besonderung zu durchdringen, hilft sich das moderne Individuum mit einem oberflächlichen Dilettantismus, der von allem den Schaum abschöpft und den Gehalt liegen läßt. Dieser Dilettantismus ist komisch, wo er sich in den Gesprächen des Salons breit macht; aber wo er auf den Gassen gepredigt wird, ist er tragisch. Wir lachen, wenn wir den Backfisch über die Vorzüge Nietzsches und Wagners sein naseweises Urteil hinwerfen hören: aber furchtbar ernst ist die Gestalt des Volksredners, der mit den unverdauten Brocken wissenschaftlicher Theorien prunkt und, was er selbst nicht verstanden hat, als Wahrheit unter das Volk wirft. Sehen wir diesen Dilettantismus von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu drohenderer Gefahr heranwachsen, so können wir uns nicht wundern, wenn wir ihn in Deutschland ebenso gut wie in der ganzen Welt als den Typus des öffentlichen Lebens wiederfinden. Nicht von dem Zeitverbrauch spreche ich, mit dem wir so vielfach tändelnd nur uns amüsieren, wenn wir Belehrung oder ästhetische Erbauung zu suchen vorgeben; auch nicht davon, daß die ernste und wahre ästhetische Bildung unter uns um so seltener geworden ist, je mehr man bemüht gewesen ist, die Genüsse der Kunst jedermann zugänglich zu machen: es hat sich eben nur die alte Erfahrung wiederholt, daß, wenn man das allgemeine Niveau höher
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stellt, dies auf Kosten der Höhe und Größe des darüber Hinausragenden geschieht. Das Bedenkliche, was ich meine, ist, daß dieser Dilettantismus auch bei uns die Signatur der öffentlichen | Institutionen zu werden anfängt. In ganz Europa treibt die politische Bewegung auf den Parlamentarismus zu: mag man über ihn in historischer und politischer Beziehung denken, wie man will, – das eine muß man zugestehen: er ist die Staatsform des Dilettantismus. Die Staatsform ist er, vermöge deren jeder beliebige Sophist und Schreihals, mit dem Mandat einer unverständigen Masse in der Tasche, weil Gott ja einmal mit dem Amt auch den Verstand gab, sich dazu berufen glaubt, über alles, was die Interessen des öffentlichen Lebens angeht, sein verantwortungsloses Urteil ex officio abzugeben, und nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht fühlt, sich über die Tätigkeit des erfahrungsreichen Fachmannes, des gewissenhaften Beamten, des genialen Staatsmannes zum Richter aufzuwerfen. Und es bleibt nicht aus, daß dieser dilettantische Zug auch außerhalb der Parlamente gerade diejenigen ergreift, die spezifisch moderne Menschen zu sein wünschen und glauben. Aber das Schlimmste an dieser Ausbreitung des Dilettantismus ist seine Herrschaft über die Erziehung. Eine ungeheure Ausdehnung des Wissens ist uns, wie über Nacht, über den Hals gekommen. Noch haben wir nicht die Methoden gefunden, es zu vereinfachen und auf den kurzen Gesamtausdruck zu bringen, der vielleicht in einer glücklichen Zukunft das massenhafte Detail unnötig machen wird, welches heute unvermittelt nebeneinander steht und deshalb mechanisch behalten sein will; noch sind wir durch die weitverzweigte Arbeit der besonderen Wissenschaften nicht zu Gesamtresultaten gekommen, welche das im Interesse einer allgemeinen Bildung Wertvolle von der Spreu zu sondern gestatteten. Den gesteigerten Anforderungen gegenüber, welche zudem der Kampf ums Dasein für jede Fachbildung und für jede technische Erziehung stellt, fehlt uns noch vollständig die prinzipielle Entscheidung der für alle Pädagogik funda|mentalen Frage, welches Maß von allgemeiner Bildung mit der Berufserziehung in der Weise vereinbar ist, daß damit für alle Stände und alle Individuen eine Gleichheit der geistigen Grundlage gewonnen wird.
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Von der Erfüllung dieses Ideals ist die Menschheit heute weiter entfernt, als je in ihrer Geschichte, und darin wurzeln alle Schäden der modernen Gesellschaft. Diesem Problem gegenüber verrennt man sich auf der einen Seite mit berechtigter Angst vor dem Dilettantismus in eine rein technische Abrichtung zum besonderen Berufe – eine Einseitigkeit, die selbst in der Arbeitsteilung der Wissenschaften auf allen Gebieten hervorzutreten anfängt. Von Jugend auf treibt man den Geist in eine bestimmte Richtung, so daß er nur das praktische Ziel vor Augen hat und niemals den Blick auf das Ganze gewinnen kann. Und doch steht es durch lange Erfahrung fest, daß die fruchtbare Tätigkeit nur die sein kann, welche den besonderen Beruf im Zusammenhange des Ganzen zu betrachten befähigt ist. Läuft man so Gefahr, den Geist zur Maschine zu machen, die nur ihre bestimmte technische Arbeit verrichten kann, so fällt man auf der anderen Seite dem Dilettantismus anheim, wenn man alle die noch so unfertigen »Ergebnisse« der modernen Wissenschaft in die Schulbildung aufnehmen will. Da drängen sich denn alle Disziplinen heran, damit der jugendliche Geist von jeder etwas kosten soll; von jeder wird durch äußerliche Aneignung etwas aufgenommen, und damit wird die Harmonie und der systematische Zusammenhang unserer früheren Bildung gesprengt. Ihre Unzulänglichkeit gibt jeder zu, aber bisher gibt es entfernt nichts, was an ihre Stelle zu treten berechtigt wäre. Die ganze Masse, die sich jetzt herandrängt, wird auswendig gelernt und nicht begriffen, sie kann nur vom Gedächtnis und nicht vom Verstande bewältigt werden. So überlasten und überhasten wir denn unsere Kinder, ohne ihnen die Verarbei|tung der verwirrenden Mannigfaltigkeit, zu deren Aufnahme wir sie zwingen, gleichmäßig zu ermöglichen. Am gefährlichsten ist es deshalb, wenn mit der Häufung des bloß zu lernenden Stoffs eine Einschränkung jener formalen Geistesgymnastik einhergeht, welche wir bisher zu unserem Segen dem Einleben in die Sprache und das Denken der Griechen und Römer verdankten. Jene Männer der Naturforschung, welche diesen Rest gleichmäßiger Bildungsgrundlage in der europäischen Gesellschaft bekämpfen, sollten doch die ersten sein, das »biogenetische Grundgesetz« auch in der
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Pädagogik anzuerkennen und zu verstehen, daß auch die geistige Lebensbewegung der Menschheit ein Durchlaufen der früheren Bildungszustände als das Natürlichste erscheinen läßt; sie sollten einsehen, daß für den jugendlichen Geist die Bekanntschaft mit einem jugendlichen, einfachen, harmonischen Kultursystem, wie es das griechische ist, immer das geeignetste bleibt. Es liegt mir fern, die schon allzu große Zahl derjenigen zu vermehren, welche für diese gegenwärtigen Zustände einzelne pädagogische Heilmittel vorschlagen; eine Panacee dafür gibt es noch nicht. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, daß wir in dieser Hinsicht in einem Zeitalter der pädagogischen Experimente leben; wir müssen die Generationen bedauern, an welchen diese wechselnden Versuche gemacht werden, und wir dürfen nur die Hoffnung hegen, daß man durch Streit und Mißlingen hindurch schließlich, wenn auch erst spät, zu einem neuen Systeme und zu ruhigerer Fortentwicklung der Bildung gelangen wird. Nur deshalb habe ich auf diese Gefahren, die jeder sieht, hier hingewiesen, weil das Geschick Hölderlins auf das innigste mit diesem modernen Bildungsproblem verwachsen ist, weil die Zerstörung seines hohen Geistes nur im verstärkten Maße und in großen Zügen dasjenige | darstellt, was im kleinen bei Tausenden und Abertausenden sich als Verwirrung und Verwilderung des Geistes erkennen läßt. In der Tat, das moderne Individuum ist das resignierende. Wir alle sind »die Entsagenden« der »Wanderjahre«. Nicht von jener Resignation auf die persönlichen Wünsche ist die Rede, welche zu allen Zeiten eine Pflicht des sittlichen Menschen gewesen ist, sondern von der bewußten Resignation auf eine alles umfassende Kenntnis des gesamten Kulturgehaltes. Wir haben keine Philosophie mehr und werden nie wieder eine haben, welche alle Erkenntnisse der Wissenschaften zu einem Weltbilde zusammenarbeitete. Aber darum darf das Leben des einzelnen nicht aufhören, im Ganzen zu wurzeln und sich mit dem Wesen der Gattung eins zu wissen. Je mehr das Streben in die Breite sich verbietet, um so notwendiger ist es, in die Tiefe zu graben. Mögen wir uns ein jeder in die Besonderheit seines Berufs mit seinem Wissen und
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Können verlieren, so darf uns doch das Verständnis für die höchsten Werte des Menschenlebens, denen sich unser kleines Leben an bestimmter Stelle einzuordnen hat, nicht verloren gehen; und von der philosophischen Besinnung dürfen wir verlangen, daß sie uns eben diesen Zusammenhang der höchsten Wertbestimmungen zum Bewußtsein bringe und uns aus unserem Sonderdasein in die Höhe der Humanität emporhebe. Das bleibt uns immer übrig, den reinen Gehalt allen menschlichen Kulturlebens, die Ideale unserer Geschichte im Bewußtsein zu erhalten und ihnen unser persönliches Leben einzuordnen. In unserem Erkennen und Wissen sind wir keine unbefangen einheitlichen Menschen mehr: aber im tatkräftigen Glauben an die Ideale sollen wir es immer bleiben. |
Fichtes Geschichtsphilosophie (Ein Vortrag. 1908)
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ei dem Namen Johann Gottlieb Fichtes denkt das politisch bewegte Geschlecht von heute zunächst seiner nationalen Großtat, der »Reden an die deutsche Nation«, deren Jahrhundertfeier wir in diesem Winter begehen durften. Diese gewaltigen Reden sind geboren aus der Not und Schmach der Zeit, aber die Wucht ihrer Wirkung war die der Gesinnung, die Gesinnung erzeugte. Darum haben sie nicht nur symptomatisch, sondern selbst schöpferisch ihre fundamentale Bedeutung in jener Regeneration unseres Volkes, wie es neuerdings in Friedrich Meineckes glänzendem, die intimen Zusammenhänge des historischen Prozesses deutlich bloßlegenden Buche über »Weltbürgertum und Nationalstaat« aufgewiesen worden ist. Der Denker hat daran ebensoviel Anteil wie der Patriot, der Denker, der das Sehnen der Zeit im Lichte der Ewigkeit sieht und die Gegenwart mit ihren Zuständen und Aufgaben aus dem Sinne des Ganzen heraus betrachtet. Diese Reden konnte der Patriot nur halten, weil er zugleich der Begründer der Geschichtsphilosophie für die neuere Zeit war und damit in der Entwicklung des deutschen Idealismus einen ihrer charakteristischen Züge mit voller Deutlichkeit ausprägte. Die begrifflichen Grundlagen dafür liegen natürlich in Kants kritischer Philosophie: aber wenn Fichtes Lehre für die gesamte Weiterentwicklung den Durchgangspunkt | gebildet hat, so hat er an keinem Punkte eine tiefergehende Veränderung daran vorgenommen, als an diesem. Es wird zum Verständnis davon wünschenswert sein, ein wenig weiter zurückzugreifen. Die neue, die kritische oder transzendentale Philosophie setzt den Grundgegensatz im Denken und Leben des 18. Jahrhunderts voraus und hat daran ihr Problem. Wenn wir dies Zeitalter das der Aufklärung nennen, so geschieht es im Hinblick auf die rationalistische Oberströmung, welche, von den theoretischen Idealen
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der Klarheit und Deutlichkeit erfüllt, die Welt mit ihrer Verstandeseinsicht durchdringen und das Leben des Einzelnen wie der Gesamtheit danach gestalten wollte. Aber daneben läuft durch die ganze Zeit eine irrationalistische Unterströmung, welche aus dem Gefühl, »daß das Ganze unserer Existenz, durch Vernunft dividiert, nicht restlos aufgeht«, in tiefer leidenschaftlicher Bewegung ihren ursprünglichen Lebensinhalt zur Geltung bringen will. In der deutschen Literatur ist das Verhältnis dieser beiden Strömungen durch den bekannten Gegensatz der regelrechten Dichtung nach der Vorschrift Gottscheds und der genialen Bewegung von Sturm und Drang bekannt. In der allgemeinen europäischen Literatur sind es die beiden großen Namen Voltaire und Rousseau, deren freundliche und feindliche Beziehung diese Zusammenhänge wohl am einleuchtendsten hervortreten läßt. Die kritische Philosophie nun richtet sich auf diesen Gegensatz gerade in dem Sinne, daß es die Grenzen der Geltung zwischen beiden Strömungen genau zu bestimmen gilt. Kant hat den Versuch, Welt und Leben, Erkenntnis und Sittlichkeit so weit wie irgend möglich mit der Vernunft zu durchdringen und rational zu gestalten, so weit und so energisch wie kein anderer durchgeführt und um so schärfer damit die Grenze bestimmt, bis wohin das möglich ist. Man kann alle seine Untersuchungen auf die Formel bringen, den | irrationalen Rest der Wirklichkeit rational zu umgrenzen. Dies ist der Sinn seines Ding-an-sich-Begriffes und aller der Beziehungen, die sich daran knüpfen, dies auch der Grund, weshalb ein so schwieriger Begriff, in welchem so mannigfache und verschiedenartige Motive des Denkens zusammenliefen, für die Folgezeit eine fundamentale Bedeutung gewonnen hat. Die »Kritik« begründete dabei die rationale Erkenntnis in der Beschränkung auf die Form des Wissens, auf das Allgemeine, die Gesetze, die Prinzipien. Die Wissenschaft, die Kant anerkannte und kritisch rechtfertigte, war die Wissenschaft von den Gesetzen der Erfahrung, die Naturwissenschaft und im besonderen die mathematische Naturwissenschaft, die newtonsche Theorie. Nur diese allgemeinen Formen erwiesen sich als streng rational, ihr Inhalt behielt die Irrationalität des bloßen Gegebenseins. Schon
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die einzelnen Gesetze waren aus den allgemeinen Grundgesetzen nicht ableitbar, sie blieben empirischen Charakters. Zwar tat Kant über die »reine Naturwissenschaft« der Kritik und der Prolegomena noch einen Schritt hinaus durch die »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft«, aber sein vielfaches, mit immer neuen Anläufen ringendes Bestreben, den »Übergang von der Metaphysik zur Physik« zu finden, beweist, daß er niemals ganz die Hoffnung aufgegeben hat, die Rationalisierung der Erfahrung immer noch weiter vorzuschieben. Freilich hatte er schon in der Kritik der Urteilskraft eine andere Lösung gefunden. Das Besondere in der Natur, lehrte er dort, die einzelnen Erscheinungen und die einzelnen Gesetze, bleibt für unsere Erkenntnis in alle Wege »zufällig«, das heißt aus den formalen Bestimmungen des Intellekts nicht ableitbar; und darauf beruht das Recht, dies logisch Zufällige der Erscheinungen durch die reflektierende Urteilskraft so zu betrachten, »als ob« ihr zweckmäßiger Zusammenhang in dem ganzen | System der Erfahrung wie in den einzelnen Gebilden des organischen Daseins einem schöpferischen Verstande nach seinem notwendigen Wesen angehöre. Eine ähnliche Verwicklung zeigt sich in Kants Ethik. Ihr bewunderungswürdig tiefer Ernst beruht auf der hohen Spannung des Persönlichkeitsgedankens. Aber die einzige Würde, die für die Person in Anspruch genommen wird, gebührt ihr nur vermöge ihrer Autonomie, der Freiheit, womit sie sich selbst das Gesetz gibt – das Gesetz, das in gleicher Weise für alle gelten soll. So läuft aller Wert menschlichen Wollens und Handelns auf die Angemessenheit der Gesinnung zu Maximen, zu generellen Regeln hinaus, und in dieser Maximenhaftigkeit bleibt kein Raum für den Eigenwert des Individuellen. Das Einzelpersönliche ist auf dem ethischen Gebiet das Irrationale, ebenso wie der intelligible Charakter in den Bereich des unerkennbaren Ding-an-sich geflüchtet werden mußte. Hier lagen die Motive, welche schon Kant auf den Grenzbegriff des Genies führten, die exemplarisch werthafte, unbegreifliche, begrifflich unbestimmbare Individualität. Aus diesen Voraussetzungen ist Fichtes philosophische Entwicklung zu verstehen. Seine erste Wissenschaftslehre ging auf den
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kühnsten Rationalismus aus, auf eine restlose Ableitung der Welt aus der Vernunft, wie er dies mit der Ablehnung des Ding-an-sichBegriffes noch in den Einleitungen in die Wissenschaftslehre ausgesprochen hat. War es doch die Aufgabe dieses Systems gewesen, den zweckvollen Zusammenhang aller Vernunfthandlungen aus dem Wesen des Ich abzuleiten: und diese »Geschichte des Bewußtseins« schien gelungen zu sein, bis die dialektische Konstruktion auf die grundlos freien Handlungen stieß, die in der Empfindung den Inhalt der empirischen Wirklichkeit ausmachen. Diese unbewußte Grundlage alles Bewußtseins war aber wiederum nur gegeben, sie war | nicht abzuleiten, sondern nur zu erleben. Das hat Fichte mit voller Deutlichkeit erkannt. Später haben Schelling und Hegel seinen ersten Gedanken wieder aufgenommen und die Künste der Dialektik damit bemüht, das Besondere in Natur und Geschichte aus der Form der Vernunft und ihrer inneren Bewegung zu begreifen. Fichte dagegen betonte mehr und mehr, daß dieses Besondere nicht zu verstehen, sondern nur zu erleben ist. In dieser seiner Wendung zu Jacobi besteht, wie es erst die neueren Forschungen deutlich erkannt haben, der Umkehrpunkt von Fichtes Entwicklung; es ist seine Wendung vom Rationalismus zum Irrationalismus – von der Aufklärung zur Romantik. Alles, was für die Erkenntnis durch Erfahrung gegeben sein muß und in seiner Notwendigkeit nicht aus Verstandesprinzipien hergeleitet werden kann, hatte man im 18. Jahrhundert mit einer weiteren Bedeutung des Ausdrucks, als sie uns heute geläufig ist, das »Historische« genannt. Wenn wir unter dem Historischen heute im engeren Sinn das Geschichtliche verstehen, so verdanken wir das zum großen Teil den Erwägungen, die sich bei Fichte an jene irrationalistische Wendung anknüpfen mußten. Das Empirische, das Besondere, das Einmalige durfte doch nicht vernunftlos sein. Freilich bestand seine Vernünftigkeit nicht in der logischen Ableitbarkeit aus dem Gesetz, aus dem Allgemeinen. Wenn es trotzdem vernünftig sein kann und soll, so ist es nur teleologisch, nur ethisch vernünftig durch eine Wertbestimmung. Damit erst wird das Historische das Geschichtliche. Jenes Einzelne aber, das »Zufällige«, das nicht logisch notwendig, das theoretisch auch an-
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ders zu denken und das dann doch teleologisch vernünftig ist, – das eben heißt Freiheit. Dieser Begriff der Freiheit bedeutet also einerseits das nicht nach allgemeinem Gesetz Determinierte, andererseits das in seiner Selbstbestimmung für sich allein Wertvolle. | Dies sind die erst in neuerer Zeit wieder verstandenen methodologisch-erkenntnistheoretischen, die eigentlich transzendentalen Grundlagen und Grundzüge der Fichteschen Geschichtsphilosophie. Aber darüber hinaus ging Fichtes Zeit, wie er selbst, sogleich mit lebendigem Gegenwartsinteresse zu den sachlichen Fragen über. Es galt und gilt, die Geschichte in ihrer empirischen Gegebenheit als die Verwirklichung von Vernunftwerten in einmalig zeitlichen Erscheinungen zu verstehen. Aber deren Besonderheit selbst, Menschen, Völker, Ereignisse usw., ist niemals begrifflich ableitbar oder theoretisch konstruierbar: sie bleibt logisch zufällig. Daher darf es der Geschichtsphilosophie nicht einfallen, der empirischen Historie Konkurrenz zu machen. Sie hat weder das Einzelne, noch etwa die Totalität des Einzelnen in seinen empirisch kausalen Zusammenhängen begrifflich zu konstruieren, sondern es völlig dem empirischen Studium der Geschichtsforschung anheimzugeben und soll beileibe keine Universalgeschichte sein, wie man das heutzutage wohl gelegentlich versucht. Fichte hat dies durchaus fern gelegen. Seine Kenntnisse auf dem universalhistorischen Gebiet waren nicht eingehend und umfassend genug, um ihn dazu zu verleiten. Aber selbst wenn er sie in dem Maße wie Hegel besessen hätte, so würde er jenes doch nicht gewollt haben. Auch sachlich handelt es sich für ihn dabei nicht um das Zeitliche, sondern um das Ewige in der Geschichte; aber allerdings nicht das Ewige über der Geschichte (das leistet ja die allgemeine Wissenschaftslehre), sondern um das Ewige in der Geschichte. Geschichtsphilosophie als besondere Disziplin hat die Aufgabe, begrifflich den allgemein sachlichen Charakter desjenigen Geschehens zu bestimmen, das historisch ist. Denn es versteht sich von selbst, daß nur ein außerordentlich kleiner Teil von dem, was in der Welt überhaupt geschieht, geschichtlich ist. | Was ist nun das, was das Geschehen zur Geschichte, was den zeitlichen Verlauf zu einem Vernunftwert macht? Was heißt es, daß
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in der Geschichte sich die Vernunft durch Freiheit verwirklicht? Es ist ja nach Fichte überhaupt nichts als das Ich, nichts als die Vernunft. So kann also auch die Geschichte als zeitlicher Prozeß nur Vernunft zum Inhalt und Sinn, nur Vernunft zum Anfang und zum Ende haben. Aber die Vernunft am Anfang und die am Ende werden verschieden sein, sie müssen dasselbe und doch wieder nicht dasselbe sein. Im Anfang wird die Vernunft als gegeben, am Ende wird sie als selbsttätig erzeugt vorhanden sein. Das nennt Fichte die Vernunft als Natur und die Vernunft als Freiheit. Hiernach hat er in den »Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters« die fünf Stadien alles historischen Geschehens entworfen, nicht als einen universalhistorischen Abriß, sondern vielmehr als den Typus des Vorganges, der sich überall abspielt, wo von einem wahrhaft geschichtlichen Geschehen die Rede ist. Ein solches muß immer ausgehen von dem Zustande, den Fichte als »Vernunftinstinkt« bezeichnet, einem Naturzustande der unbewußten, halbbewußten Vernünftigkeit, und der historische Vorgang wird darin bestehen, den Menschen aus diesem Gegebenen in eine bewußte, gestaltende Herrschaft der Vernunft überzuführen. Diesen Weg aber kann die Gesamtheit nur vermöge der Emanzipation der Individuen von der ursprünglich bedingungslos geltenden Unterwerfung unter das instinktive Gesamtbewußtsein betreten. Und wenn schon Kant im »Sündenfall« den Anfang der Geschichte gesehen hatte, so deutet Fichte diese Ablösung des sich selbst im Gegensatz zur Autorität bestimmenden Individuums als das Wesentliche in allen historischen Vorgängen. Indem die Individuen immer mehr von dem Allgemeinen frei werden, das als Sitte, als Satzung, als Autorität ursprünglich seine dumpfe Herrschaft über | sie ausübte, vollendet sich schließlich diese Sündhaftigkeit in der Anarchie der Meinungen und der Leidenschaften, in der Atomisierung der Gesellschaft: das ist die Auflösung des Ganzen in die Einzelnen, die nichts mehr über sich anerkennen wollen. Von diesem Zustande der vollendeten Sündhaftigkeit, der gesetzlosen Willkür, erwächst die beginnende Vernünftigkeit in der Besinnung des Individuums, das, wenn es nur seinem eigenen Urteil traute, doch schließlich in diesem Urteilen selbst eine höhere, eine allgemeine Gesetzmäßig-
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keit entdeckt. Dadurch wandelt sich die Willkür in intellektuelle und moralische Freiheit, und diese Besonnenheit vollendet sich am Ende zu der »Vernunftkunst«, die aus solcher allgemeingültigen Einsicht und Selbstbeherrschung das Leben zu einer geschlossenen Verwirklichung der Vernunft gestaltet. Wenn Fichte hierin die allgemeine Form des historischen Prozesses erkannt zu haben glaubte, so steht das im genauesten Zusammenhange mit seiner Wissenschaftslehre. Durch den historischen Prozeß vollzieht sich an der Menschheit im Ganzen, in Völkern und Zeitaltern, dasselbe, was das Individuum zu einer geistigen Persönlichkeit macht. In beiden Fällen arbeitet sich die Vernunft aus blindem Gegebensein zu bewußter Gestaltung heraus. Wie die Naturbedingungen der Individualität in dem physischen Organismus und in seinen Beziehungen zu seiner Umwelt gegeben sind, wie sie aber erst durch die bewußte Klarheit der Arbeit des Willens an sich selbst zur Erfassung und Gestaltung der Persönlichkeit erhoben werden müssen, so gilt es auch von der geschichtlichen Menschheit überhaupt, daß sie aus dem Naturzustande des Vernunftinstinktes durch Selbstentzweiung und Selbstzerstreuung, durch alles Elend und alle Sünde des Streites hindurch zur bewußten Selbsterfassung und Selbstgestaltung kommen muß. Das Ich ist das Prinzip auch für die Völker, auch für die Menschheit. So hat Fichte in den | »Reden an die deutsche Nation« den Grundgedanken entwickelt, wie ein Volk als Gesamtpersönlichkeit aus der in Abstammung und Sprache gegebenen Naturanlage sich selbst zum bewußten Wesen neu erzeugen, erfassen und gestalten soll. Schiller, mit dem Fichte dereinst in Jena solche Gedanken gemeinsam gedacht hatte, nannte das den Weg der Menschheit von Arkadien nach Elysium. Fichte selbst hat dies Verhältnis besonders interessant in dem merkwürdigen Bruchstück »Über Geist und Buchstab in der Philosophie« behandelt. Es war für die Horen bestimmt, wurde aber von Schiller abgelehnt. In der Herausgabe von Fichtes Werken ist es unter die populären Schriften geraten. In Wahrheit gehört es zu dem Schwersten, was Fichte geschrieben hat. In dieser Darstellung selbst ringt sich mühsam genug der Gedanke zur Klarheit, daß alle Werte der Menschheit – ästhetisch, ethisch, hi-
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storisch – aus der »Besonnenheit« erwachsen, mit der das geistige Wesen von seiner dunklen Naturanlage her sich selbst erfaßt und ins Lichte gestaltet. Diese Vernunftgestaltung des in dunkler Anlage Vorgefundenen nennen wir die Kultur, und so besteht das Wesen aller Geschichte aus der Erhebung des Naturgegebenen in die Kultur. Den Fortschritt dieser Geschichte bildet die Auflösung eines halbbewußten Naturzustandes der Gesamtheit, und diese Auflösung selbst ist nur möglich durch den »Abfall« der Individuen von der Herrschaft des ohne Wissen seines Rechtsgrundes Bestehenden, der Tradition und Autorität. Erst von solcher Zersetzung und Zerstörung jener ersten naturgegebenen Substanz des Gesamtlebens ist die Rückkehr zur Vernunfteinheit im klaren und gestaltungskräftigen Bewußtsein möglich. Das ist in der Tat der Typus des Gesamtprozesses, den alle großen Kulturvölker durchgemacht haben: in der einfachsten und durchsichtigsten Form ist er durch das Verhältnis des Sokrates zu den Sophisten zum Ausdruck | gekommen. Fichte hat diese Einsicht wesentlich dazu benutzt, seine Stellung zur Aufklärung in der schärfsten Weise darzulegen. Er schildert die eigene Gegenwart als jenes Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, das mit der Zerstörung der Autorität und mit der Willkür des individuellen Urteils seine Lebenseinheit verloren hat und in den unvernünftigen Streit der Meinungen und der Leidenschaften zersplittert ist. Hier wird wohl in der feinsten Form begrifflicher Ausschmiedung der Lebensgegensatz von Aufklärung und Romantik formuliert. Die Gegenströmung gegen die Revolution, in der man die logische und unabwendliche Konsequenz des aufklärerischen Denkens und der Mündigkeitserklärung des individuellen Urteils sehen zu müssen glaubte, hielt sich hier wie anderwärts berufen, da, wo die Revolution eingerissen hatte, wieder aufzubauen und die organische Lebenseinheit der Gesellschaft zurückzugewinnen. Dies tiefe Bedürfnis hatte in Deutschland zuerst Novalis in dem damals nicht gedruckten Aufsatz »Europa oder die Christenheit« ausgesprochen, und die religiöse Färbung, worin er dies romantische Sehnen darstellte, hatte durch Vermittlung Friedrich Schlegels bei den französischen Traditionalisten und Legitimisten die leb-
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hafteste Anerkennung und Ausmalung gefunden. Selbst Auguste Comte hat mit Wiederholung derselben Tiraden gegen die Gewissensfreiheit die Neuorganisation der Gesellschaft auf Grund der allgemeingültigen Überzeugung aus den Lehren der positiven Wissenschaft aufzuführen gesucht. In diesem Bestreben, die Wissenschaft als einheitliche und unveränderliche Basis der neuen Gesellschaftsordnung zu gestalten, begegnet sich Fichte mit jenen französischen Bestrebungen, nur daß dieser Platonismus bei ihm den rein philosophischen Charakter seiner Wissenschaftslehre an sich trägt. Aber damit hängt es nun zusammen, daß für Fichte immer mehr der historische Prozeß zu einem wesentlich | erzieherischen Vorgang wurde. Sachlich ist das durchaus begreiflich aus der Bedeutsamkeit, welche die Tradition für alles geschichtliche Leben besitzt. Dessen Eigenart besteht eben gerade darin, daß jede Generation ihre geistige Errungenschaft auf die andere als ein neues Moment unter den Voraussetzungen ihrer eigenen Lebenstätigkeit überträgt. Daher sind die Veränderungen, die das menschliche Geschlecht im Verlauf seiner Geschichte durchmacht, nicht nur solche Umgestaltungen, wie sie sich sonst biologisch aus der Festsetzung von individuellen, sich vererbenden Variationen im Laufe der Zeit zusammenfügen, sondern sie bestehen in bewußten Neugestaltungen der Humanität von Generation zu Generation. Zu solchen Erwägungen mochten Vorbilder wie Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« oder Schillers »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« hinzukommen, um für Fichte den historischen Prozeß wesentlich als Erziehung erscheinen zu lassen. Da nun aber die Erziehung immer einen Erzieher und einen zu Erziehenden voraussetzt, so kam Fichte – und das war eine wenig glückliche Hypothese in der Richtung einer Konstruktion der Universalgeschichte – zu der Fiktion des Urvolks oder Normalvolks, der zu seiner Zeit auch die mythologischen Forschungen sich zuneigten. Der Philosoph meinte, im Urzustande müsse die Menschheit das Zeitalter des Vernunftinstinktes wenigstens zu einem Teile, d. h. in einem Normalvolk dargelebt haben, einem Urvolk, dem dann, als es in seiner arkadischen Unschuld durch
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die Barbaren gestört wurde, die Aufgabe zufiel, diese siegreich zu erziehen und ihren sinnlichen Trieben die Vernunft als Autorität entgegenzuhalten. In den »Reden an die deutsche Nation« versteigt sich dann Fichtes weltbürgerlicher Patriotismus beinahe zu der Identifikation des Deutschtums mit dem Normalvolk, und es ergibt sich daraus für die Deutschen die historische Pflicht, das Vernunftreich bei sich zu gestalten, um es den anderen | Völkern zu bringen. Auch diese Selbstgestaltung aber wird wiederum in einer neuen Erziehung gesucht, und wir verstehen daraus, wie bei Fichte immer mehr die Bedeutung des Gelehrten für das öffentliche Leben bis zu dem platonischen Ideal hinauf gestiegen ist. Der Gelehrte soll der Herrscher im Zeitalter der Vernunftkunst werden: seine Bestimmung ist die, daß durch ihn das Geschlecht lerne, alle seine Verhältnisse selber mit Vernunft durch Freiheit zu ordnen. So erscheint in der Staatslehre von 1813 das »Reich« als die Verwirklichung der Gottesidee in der zeitlichen Welt, damit aber als ein Reich der Freiheit und der sittlichen Lebensordnung, worin jedes Besondere nicht Teil, sondern Glied ist, eigenartig in sich, in seiner Weise das Leben des Ganzen darstellend. So verhalten sich zum Volk die Persönlichkeiten, zur Menschheit die Völker: aus der Naturanlage heraus hat jeder und jedes frei in Selbsterzeugung und Selbstgestaltung die Menschheit zu verwirklichen. In solchen Formen hat Fichte von seinen Grundgedanken aus das große Problem zu lösen gesucht, das die folgenden Zeiten bewegt hat: die Antinomie zwischen dem Individuum und der Gesamtheit. In dem Reich der Freiheit soll das Recht der Person gegen die Masse gewahrt bleiben: aber alles, was dazu führt, daß die natürliche Individualität sich zur Persönlichkeit macht, gehört zu den wertvollen Vernunftfunktionen, die überindividuellen Charakters sind. Das lag schon in Fichtes Grundauffassung von dem Ich, das allgemeines Ich werden soll, ohne doch aufzuhören, eigenes, besonderes Ich zu sein. Wenn es also für alles Erkennen und Schauen, für alles höchste Wollen und Handeln gilt: »sich aufzugeben ist Genuß«, so kann sich doch die Persönlichkeit zu den höchsten Leistungen, den überpersönlichen Werten nur dadurch steigern, daß sie diese Ausprägung des Ewigen in
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der eigenen Weise vollzieht, welche aus ihrer besonderen, gegebenen | Anlage in die besonnene Klarheit emporgearbeitet wird. So allein ist es möglich, daß der Einzelne aufhört, bloß ein naturnotwendiger Durchgangspunkt in dem variierenden Ablauf des Gattungslebens zu sein. In der geschichtlichen Entwicklung soll die Persönlichkeit – der Einzelnen wie der Völker – mehr werden, als ein naturbestimmtes Exemplar des Begriffs der Gattung, es soll die Idee der Gattung in eigener bewußter Lebensführung bei sich verwirklichen und aus sich heraus sichtbar gestalten. Darin besteht das Wesen des geschichtlichen Menschen. Individuen wie Völker sind nur biologische Erscheinungen, wenn nach ihnen das Leben der Gattung so weiter geht, als hätten sie nie existiert. Persönlichkeiten und Völker werden geschichtlich, wenn sie ihre Art, Menschen zu sein und die Vernunft in sich zu verwirklichen, mit bewußter Selbstgestaltung zu einem bleibenden Bestandteil aller zukünftigen Entwicklung ausprägen. In diesem Sinne war Fichte selbst ein historischer Mensch: im Leben wie im Denken seines Volkes wirkt er weiter als eine der Gestalten, aus deren gereifter Eigenart sich Kräfte höheren Lebens in den alltäglichen Abfluß des Geschehens ergießen. |
Die Erneuerung des Hegelianismus (Heidelberger Akademierede am 25. April 1910)
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er große Anreger und Begründer der europäischen Akademien, Leibniz, wollte dereinst der Philosophie keine eigene Stelle in der Akademie zugestehen. Die Aufgabe der Akademie liegt – im Unterschiede einerseits von dem gelehrten Unterricht, andererseits von der allgemeinen Literatur – bei der Spezialforschung, und für sie mochte Leibniz ein eigenes Gebiet der Philosophie nicht anerkennen. Vielmehr sollte die Gesamtheit der Einzelforschungen schließlich von selbst der Philosophie in dem Sinne zugute kommen, wie sie damals als zusammenfassende Gesamtwissenschaft galt. Das war charakteristisch für die klassische Zeit der dogmatischen Metaphysik. Sie glaubte alle Erforschung des Einzelnen, alles besondere Wissen den speziellen Disziplinen überlassen zu sollen und behielt sich selbst nur ein harmonisierendes Zusammenarbeiten der Ergebnisse vor. Auch wenn sich dies in dem Maße als eine ernste begriffliche Arbeit darstellte, wie es bei Leibniz selbst der Fall war, so hatte es doch eine Art von künstlerischem Einschlag, wie man ihn später mit dem Ausdruck »Begriffsdichtung« bezeichnet hat, und damit geriet es zu den belles lettres in die gefährlich enge Nähe, die für die Philosophie des ganzen achtzehnten Jahrhunderts und namentlich für die Aufklärungsphilosophie charakteristisch geblieben ist. | Durch Kant haben sich diese Verhältnisse geändert. Die Philosophie ist jetzt eine Spezialwissenschaft mit eigenem Forschungsgebiet. Sie ist es anerkannterweise zunächst in dem negativen Sinne, daß sie gern darauf verzichtet, das von den andern Wissenschaften bereits Erkannte irgendwie ihrerseits von neuem erkennen oder durch metaphysische Beziehungen etwa ergänzen zu wollen. Nur nachzüglerische Gewöhnungen, an denen es natürlich nicht gänzlich fehlt, halten heutzutage wohl noch an jenen Bestrebungen fest. Unsicherer ist die Formulierung für die positive Abgrenzung
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und inhaltliche Bestimmung des eigenen Forschungsgebietes der Philosophie: sie ist noch nicht in eindeutiger und allgemein angenommener Weise bestimmt. Kant hat dies Forschungsgebiet mit dem Namen der Kritik der Vernunft bezeichnet: wobei unter Kritik die Besinnung, die systematische Besinnung auf die prinzipiellen Grundlagen alles Vernunftlebens, die wissenschaftliche Bloßlegung der Grundstruktur aller Kulturfunktionen zu verstehen ist. Das ist tatsächlich der Ertrag der kantischen Kritiken, wenn auch diese Formel selbst bei Kant nicht zu finden und vielleicht sogar ihr Sinn in dieser Weise ihm nicht geläufig ist. Seine Transzendentalphilosophie ist in ihren Ergebnissen die Wissenschaft von den Prinzipien alles dessen, was wir jetzt mit dem Namen Kultur zusammenfassen. Sie forscht nach den begrifflichen Grundlagen des Wissens, der Sittlichkeit, des Rechts, der Geschichte, der Kunst, der Religion: und sie tut es in dem Sinne, daß diese Grundlagen in ihrer sachlichen Selbstverständlichkeit aufgedeckt werden, wie sie, unabhängig von aller empirischen Erfassung durch das individuelle oder durch das historisch gemeinsame Bewußtsein, an sich gelten. Nichts anderes ist der Sinn des Apriori bei Kant, dieses so vielfach mißverstandenen Wortes. Denn jenes sachlich Selbstverständliche ist, wie es Lotze gelegent|lich fein gezeigt hat, nicht das psychologisch Ursprüngliche; es muß durch die fortschreitende Reflexion der Selbstverständigung des Bewußtseins erst aufgedeckt und zur Anerkennung gebracht werden. Auch hier gilt das aristotelische Wort: das πρότερον τῇ φύσει ist das ὕστερον πρὸς ἡμᾶς. Diesen Charakter einer umfassenden Kulturphilosophie hat der kantische Kritizismus erst allmählich angenommen. Er wurde aufgerollt an der Kritik der Wissenschaft und von da durch die sachliche Notwendigkeit weitergedrängt von einer Kritik zur anderen. Alle formalen Schwierigkeiten, die wir bei dem Verständnis Kants in der Abgrenzung zwischen der Kritik der Vernunft und dem System der Vernunft antreffen, beruhen schließlich auf diesem entwicklungsgeschichtlichen Verhältnis, und alle scheinbaren Unstimmigkeiten verschwinden, sobald man sich dieses deutlich gemacht hat.
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Dieser Entwicklungsgang aber hat sich in der deutschen Philosophie des letzten halben Jahrhunderts wiederholt. Auch bei ihrer Erneuerung ist Kants Lehre zunächst als Erkenntnistheorie aufgerollt und einseitig darauf beschränkt worden. Schon Schopenhauer hatte die praktische Philosophie Kants und alle ihre Konsequenzen abgelehnt, und wenn man nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Philosophie vermeintlich im Sinne Kants als Spezialwissenschaft behandelte, so galt sie als Erkenntnistheorie und nur als solche. Dieser Bann ist nun in den letzten Jahrzehnten gebrochen, und wiederum ist die Gesamtheit der Vernunftbetätigungen in ihrem begrifflichen Grundstock zum Forschungsgebiet der Philosophie geworden. Und das ist in der Tat ein Boden für gemeinsame fruchtbare Begriffsarbeit, wie nur in irgendeiner anderen der besonderen Wissenschaften, und ein reiches Feld für eingehende, bestimmt zu formulierende Aufgaben der Untersuchung. So gefaßt, ist die | Philosophie nicht mehr ein allgemeines Gerede »übers Ganze«, sondern ernste Begriffsarbeit an Sonderproblemen, die man nur frisch und ohne große methodologische Umständlichkeit anpacken soll. So hat die Philosophie ihr Eigenrecht und ihre Forschungsstelle auch in einer Akademie und soll sich an deren Arbeiten in diesem Sinne beteiligen. Aber wenn ihr Vertreter an einem festlichen Tage zu Worte kommt, wo die Akademie nach außen heraustritt und sich des Interesses weiterer Kreise dankbar freuen darf, dann wird er, wie es auch dem Vertreter jeder anderen Spezialwissenschaft erlaubt wäre, nicht solche Detailarbeit als Probe vorlegen, sondern für ein Allgemeineres zu interessieren suchen und womöglich eine Frage aufwerfen, die mit der gegenwärtigen Stellung seiner Wissenschaft zu dem geistigen Gesamtleben enger zusammenhängt. Versuche ich derartiges, so reizt es mich heute, über eine Tatsache Rechenschaft zu geben, die wohl jedem auffällt, der sich einigermaßen mit der gegenwärtigen Philosophie, mit ihrem literarischen und akademischen Betriebe beschäftigt, eine Tatsache, die dabei überall eine gewisse Verwunderung erweckt: das ist die Erneuerung des Hegelianismus.
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Diese Tatsache kann man nicht verkennen, und man soll sie nicht unterschätzen. Sie bedeutet mehr als eine Mode des Tages. Hegel erfährt, wie Kant, im Wechsel der Generationen den Wechsel der Anerkennung, und zwar in noch extremerer Weise. Begeistert einst von einer ganzen Generation empfangen – dann verachtet, vergessen, der Verhöhnung preisgegeben – scheint er nun zu intensiver Wirkung neu emporzusteigen. Von Tag zu Tag mehren sich die literarischen Arbeiten über seine Philosophie, aus den auf der Berliner Bibliothek lang vergessen lagernden Papieren wird seine Entwicklung mit glücklichem Erfolge studiert, seine Bücher werden neu | aufgelegt, und seine Gesamtwerke, die man dereinst für ein Billiges erwerben konnte, sind ein wertvoller antiquarischer Besitz geworden. Vor allem aber, die neueste Arbeit der Philosophie zeigt sich überall durchtränkt von seinen Gedanken, und das junge Geschlecht sehen wir in neuer Begeisterung an seinen Schriften, deren krause Darstellung ihren Schrecken verloren zu haben scheint, sich abmühen. Dem älteren Geschlecht, dessen Bildung in die mittleren Zeiten des vorigen Jahrhunderts zurückgreift, kommt dies Wiederaufleben der »Hegelei« gar wunderlich vor. Man hat sich damals wohl an den Absonderlichkeiten und Verkehrtheiten der Hegelschen Terminologie, an manchen Verschiefungen tatsächlicher Bestände weidlich belustigt; man hat auch gern Schopenhauers Tiraden gegen den »großen Charlatan« genossen und meist gemeint, daß man den für immer los sei. Und nun ist er wieder der große Mann, nun soll wohl gar jenes Gerede von An-sich, Für-sich und Anund Für-sich wieder losgehen?! Was bedeutet diese Auferstehung Hegels? und wie verträgt sie sich mit dem, was ich vorhin über unsere Philosophie als Spezialwissenschaft gesagt habe? Ist nicht gerade Hegel wieder ein Metaphysiker alten Stils gewesen? Gilt er nicht als der, welcher das von Kant Zertrümmerte neu errichtet und damit das von Kant Geschaffene wieder verdorben hat? der die alten Prätensionen der Philosophie wieder mit der äußersten Rücksichtslosigkeit gegen die übrigen Wissenschaften hervorgekehrt hat? Und der soll wieder unser Führer werden?
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Offenbar ist es erforderlich, in dieser Bewegung scharf zu scheiden und damit so klar wie möglich die Grenzen zu bestimmen, in denen diese neuhegelsche Bewegung gehalten werden muß, wenn sie nicht wieder eine Gefahr für eine ernste und wissenschaftliche Philosophie werden soll. Das gilt vor allem mit Rücksicht auf die Motive, | welche zu der Neubelebung des Hegelianismus aus den Bedürfnissen geführt haben, die von dem geistigen Gesamtzustand unserer Tage her an die Philosophie Antwort heischend herangebracht werden. Es ist der Hunger nach Weltanschauung, der unsere junge Generation ergriffen hat und der bei Hegel Sättigung sucht. Wir haben hier nicht zu fragen, durch welche Wandlungen der geistigen Lage, durch welche Erlebnisse der Volksseele, welche Geschicke des Gesamtlebens diese Stimmung erzeugt worden ist: genug, sie ist da, und sie entlädt sich mit elementarer Gewalt. Unsere Literatur, unsere Kunst, unsere Wissenschaft lassen sie überall erkennen. Und wenn sich dies Geschlecht aus positivistischer Verarmung und materialistischer Verödung zu geistigen Lebensgründen zurücksehnt und zurücksucht, ist es da zu verwundern, daß, da ihm keine neue eindrucksvolle Philosophie geboten wird, es an der Lehre zu haften beginnt, die ihm das Universum als Entwicklung des Geistes in großen Zügen vorführt? Gerade in diesem Sinne kann man bei den persönlichen und den literarischen Formen des Neuhegelianismus vielfach den Einschlag des religiösen Motives beobachten, das in den Weltanschauungsbedürfnissen einer aufgeregten Zeit noch immer sich so lebhaft als wirksam erwiesen hat. Je mehr aber aus der erdrückenden Masse des Einzelnen und des Äußerlichen die Sehnsucht der Zeit zu einem Gesamtsinn aller Wirklichkeit emportauchen möchte, um so faszinierender wirkt die imponierende Einheit und die grandiose Geschlossenheit der systematischen Komposition, worin der Hegelsche Panlogismus sich darstellt. Sie hat auch zweifellos etwas an sich, das den ästhetischen Sinn zu befriedigen geeignet ist, und gerade dieses Moment entscheidet sicher vielfach über Fichte, Schelling und Herbart hinaus für Hegel. Dazu kommt der entwicklungsfrohe Optimismus, der seine Lehre durchpulst, das Ver|trauen in die Macht der Ver-
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nunft, womit er gegen die düstere Predigt Schopenhauers vom Elend der Welt obsiegt. Und endlich bricht gegenüber dem schrankenlosen Individualismus, mit dem eine Zeitlang Nietzsche unser Volk berauscht hat, in der junghegelschen Strömung die Hingabe an eine geistige Gesamtheit, an einen vernünftigen und allgemeingültigen Lebensinhalt kräftig durch. In diesem Sinne bedeutet die »Rückkehr zu Hegel« entschieden eine Art von Gesundung, und sie wird diese Mission erfüllen, wenn sie sich freihält von den wunderlichen Äußerlichkeiten und von den metaphysischen Übereilungen des alten Hegelianismus – wenn sie die Schale abzuwerfen und den Kern festzuhalten vermag. Dazu aber ist es erforderlich, daß auch die begriffliche Arbeit der wissenschaftlichen Philosophie sich mit entschiedenem Bewußtsein die Momente zu eigen macht, welche sie selbst bei Hegel für die Lösung ihrer eigenen Aufgaben finden kann: und an solchen fehlt es wahrlich nicht. Wenn die Philosophie nach Kant sich mit ihrer begrifflichen Arbeit auf die Entwicklung des Systems der Vernunft richten mußte, so ist es in der Tat ein notwendiger Fortschritt gewesen, der von Kant über Fichte und Schelling zu Hegel führte, und die Wiederholung dieses Prozesses in dem Fortschritt der neuesten Philosophie vom Neukantianismus zum Neuhegelianismus ist nicht zufällig, sondern besitzt in sich eine sachliche Notwendigkeit. Es gilt jenes Apriori zu erforschen, das sachliche An-sich der Vernunft, das unabhängig von aller empirischen Erfassung für die Welt der Erfahrung und damit über diese hinaus gilt. Diese Erforschung aber können wir nur mit der menschlichen Vernunft und von ihr aus anstellen. In ihr wird das Apriori, eingebettet in ihren empirischen Tätigkeiten, von uns vorgefunden, um durch die philosophische Kritik herausgearbeitet und in ihrem | Geltungsrechte begriffen zu werden. Das meinte Kant mit seiner Frage nach dem Rechtsgrunde der synthetischen Urteile a priori. Unser Bewußtsein findet in sich, zwar nicht auf den ersten und oberflächlichen Anblick, aber bei ernster Selbstdurchforschung eine Anzahl von Voraussetzungen, ohne die das gemeinsame Geistesleben, welches das Wesen aller Kultur ausmacht, unmöglich sein würde. Diese
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Voraussetzungen lassen sich als Sätze formulieren, die wir mit dem Anspruch auf unbedingte Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit behaupten, deren Geltung wir aus den Daten unserer Erfahrung niemals vollständig begründen können und die wir doch als für diese Erfahrung allgemein und notwendig geltend anerkennen. Solche Voraussetzungen liegen allem wissenschaftlichen Denken, aller sittlichen Lebensgemeinschaft, aller künstlerischen Betätigung im Schaffen und Genießen, aller religiösen Überzeugung und Übung zugrunde. Sie sollen von der Philosophie in ihrer sachlichen Geltung zur Evidenz gebracht werden, aber sie müssen eben deshalb zunächst mit systematischer Vollständigkeit festgestellt werden. Wie soll nun diese Erforschung und tatsächliche Konstatierung jener synthetischen Urteile a priori, die ihrer philosophischen Kritik vorhergehen muß, in gesicherter Weise erfolgen? Das war die methodische Grundfrage der nachkantischen Philosophie, und es gab für sie im Grunde nur zwei mögliche Antworten, und diese sind von den beiden Philosophen gegeben worden, die nacheinander auf dem Heidelberger Katheder gestanden haben: Fries und Hegel. Nach dem einen erfolgt diese Erforschung aus der Erfahrung des individuellen Seelenlebens mit allen seinen Auszweigungen, nach dem andern aus der Erfahrung der menschlichen Gattungsvernunft in allen ihren historischen Gestaltungen. Nach dem einen ist das Organon der Philosophie die Psychologie, nach dem andern die Geschichte. Beide Philosophen sind im Prinzip gleich weit | entfernt davon, die tatsächliche Geltung jener Vernunftwerte, die sie, psychologisch der eine und historisch der andere, vorfinden, mit der philosophischen Geltung zu verwechseln, die es erst durch die Kritik aus der sachlichen Selbstverständlichkeit zu begründen gilt: beide verfahren also in der Absicht, das empirisch Festgestellte nur als das Material für die kritische Bearbeitung zu benutzen. Diese beiden Methoden, die psychologische und die historische, erscheinen in der Entwicklung von Kant selbst gewissermaßen als die antithetischen Pole. Kants erste kritische Arbeiten, die Erkenntnistheorie der Inauguraldissertation (wenn man diese schon mitzählen will) in der entschiedensten Weise, aber doch auch
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noch diejenige der Kritik der reinen Vernunft und der Prolegomena, nehmen als Organon der philosophischen Kritik deutlich die Psychologie: und es ist bekannt, wie schwierig und vieldeutig sich diese Erkenntnistheorie in ihrer kritischen Eigenart aus den psychologischen Feststellungen hat herausarbeiten müssen. Die Analyse der Erfahrung, die das Wesen dieser Theorie ausmacht, hat zwar ihr Ziel in dem kritischen Verständnis und der logischen Begründung eines historisch gegebenen Kulturproduktes, nämlich der Wissenschaft und speziell der Naturwissenschaft in der newton’schen Form: aber ihre Untersuchungen gehen durchaus von dem Standpunkt der psychologischen Erfahrung aus. Ihre Gliederungen und Einteilungen, ihre Voraussetzungen über Seelenvermögen und deren Beziehungen zueinander zeigen überall deutlich die Eierschalen der psychischen Anthropologie. Je mehr aber Kant durch die Kritik der praktischen Vernunft hindurch zu der Untersuchung der übrigen Kulturbereiche fortschreitet, der Kunst, des Rechts, der geschichtlichen Entwicklung, der Religion – um so mehr verschieben sich die empirischen Vorlagen und Grundlagen seiner Kritik aus dem psychologischen auf das historische Gebiet. In seiner Religionsphilo|sophie endlich kommt das neue methodische Prinzip mit voller Klarheit durch die Fragestellung heraus: wieviel von dem geistigen Inhalt der historischen Religion hat seine apriorische Geltung in der bloßen Vernunft? Und wie in der ersten Zeit manches Psychologische sich in das kritisch Gültige einzuschleichen wußte, so nunmehr manches Historische. So hat schon Kant die Gefahren beider Methoden an sich erlebt und mit ihnen gerungen, erst die des Psychologismus und dann die des Historismus. Der Weg aber, den er von der Inauguraldissertation bis zur »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« beschrieben hat, ist in der auf ihn folgenden Generation der Weg von Fries zu Hegel: und fragen wir uns, weshalb wir das als einen Fortschritt ansehen, so lassen sich die Gründe, die für den Vorzug der hegelschen Art sprechen, leicht und einfach einleuchtend machen. Für die Psychologie ist der Mensch als Naturwesen gegeben; sie erforscht die Gesetze der seelischen Bewegung, die er im Prinzip
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mit allen animalen Wesen teilt, die formalen Bestimmungen der Bewußtseinsvorgänge in Assoziationen und Apperzeptionen von Vorstellungen, Gefühlen und Volitionen. Diese formalen Prozesse nun sind für die Inhalte, für deren Wert und Sinn und für ihre Vernunftbedeutung an sich völlig indifferent, und die Sonne dieser Naturgesetzlichkeit leuchtet gleichmäßig über Ungerechtes und Gerechtes. Als Naturwissenschaft ist die Psychologie unfähig, Vernunftwerte kritisch zu bestimmen oder gar zu begründen. Schon Aristoteles hat die Lehre vom νοῦς als ein völlig Neues über der Lehre von der αἴσθησις und der ὄρeξις errichtet. Nur insofern als die Vernunftwerte Inhalt und Gegenstand für die psychischen Funktionen des Vorstellens, Fühlens, Begehrens werden können – aber sie können es formal nicht anders als alle beliebigen sonstigen Inhalte –, nur insofern kann von den Vernunftwerten auch in der Psychologie | die Rede sein. Aber sie sind in dieser eben immer nur geborgt, der Psychologe weiß von ihnen nur zufällig, weil er selber als Kulturmensch die ganze Fülle der historischen Tradition in sich hat. Denn der eigentliche Herd für unser Wissen von den Kulturwerten ist eben die Geschichte, in der sie mit der fortschreitenden Zusammenschmelzung der Völker zur Menschheit durch das Ringen der Gesamtheit erworben werden – Wissenschaft, Moral und Recht ebenso, wie Kunst und Religion. Der Mensch als Vernunftwesen ist nicht psychologisch gegeben, sondern historisch aufgegeben. Nur als geschichtliche Wesen, als die in der Entwicklung begriffene Gattung haben wir Anteil an der Weltvernunft. Darum ist die Geschichte das wahre Organon der Philosophie: hegelsch zu reden, der objektive Geist ist die Wohnstätte des absoluten Geistes. Deshalb ist die Philosophie von heute wieder im Begriff, zu der hegelschen Methode zurückzukehren: aus dem historischen Kosmos, wie ihn die Erfahrung der Kulturwissenschaften darbietet, die Prinzipien der Vernunft herauszuarbeiten. Mit einer Art von grotesker Vergrößerung und Vergröberung hat man jenen Weg von der einen zu der anderen Methode noch einmal durchlaufen müssen. Die Erneuerung des Kantianismus, wie sie vor fünfzig Jahren einsetzte, war, wie vorhin erwähnt, einseitig erkenntnistheore-
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tisch orientiert, und schon deshalb lief sie, auch wenn nicht noch andere Momente hinzugekommen wären, sehr bald in Psychologismus aus und verstrickte sich in einen Relativismus, dem die Vernunftwerte unter den Händen zerrannen in anthropologische Notwendigkeiten und Erforderlichkeiten. Aus der »Kritik« wurde schließlich nur eine Konstatierung des empirisch Tatsächlichen und im besten Falle ein Versuch seiner naturgesetzmäßigen Erklärung; und es war eine unvermeidliche Konsequenz, daß dieser Psychologismus zeitweilig sich auch die Ethik und die Ästhetik zu erobern versuchte, als das | hoffnungslose Beginnen, die Vernunft, den Sinn und den Wert des Menschenlebens lediglich aus seinen natürlichen Gegebenheiten zu begreifen. Das ergab dann zuletzt den Verzicht auf eine eigene Aufgabe der Philosophie neben der Psychologie und damit zugleich eine Verödung und Entleerung dieser Psychologie selbst, indem sie zu einem dilettantischen Betriebe desjenigen verkümmerte, was der Physiologe besser macht. Von diesem Tiefpunkt ihrer Wellenbewegung hat sich die Philosophie allmählich zu dem ganzen Kritizismus zurückgefunden, der die historische Grundlage verlangt. Schon wenn man die Aufgabe der Erkenntnistheorie von der Kritik der Naturforschung, auf die sie Kant im Sinne seiner Zeit eingeschränkt hatte, auf die Kritik der Kulturforschung erweiterte, die sich inzwischen in den historischen Wissenschaften so mächtig betätigt hat, schon damit wurden in den Umkreis des theoretischen Denkens die Prinzipien der Wertung hineinbezogen, und seitdem Lotze die Rücksicht auf das Reich der Werte als entscheidendes Moment bereits für die logische Theorie eingeführt hatte, wurde dem philosophischen Denken die ganze Fülle der historischen Entwicklung der Vernunftwerte von neuem als das fruchtbare Feld für seine begriffliche Durcharbeitung eröffnet. Das ist der Sieg, den Hegel von neuem über Fries zu erringen im Begriffe ist. Aber dieser Sieg darf nicht erkauft werden durch den Verfall in den Historismus, welcher eine mindestens ebenso bedenkliche Art des Relativismus ausmacht, wie der Psychologismus. Die Bedeutung der Geschichte als des Organon der Philosophie darf nicht besagen, daß nun alles historisch Geltende
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als Vernunftwert einfach hingenommen werden soll. Auch diese Empirie gibt eben nur das Material für die philosophische Kritik, deren Prinzip man am besten als Evidenz der immanenten Sachlichkeit bezeichnen kann. | Gerade in dieser Hinsicht aber bietet die hegelsche Philosophie zur Überwindung jener Gefahr des Historismus selber die beste Waffe. Damit berühren wir tiefgreifende Probleme, mit denen die neueste Philosophie beschäftigt ist und für die deshalb die prinzipielle Grundlage des Hegelianismus eine besondere Bedeutsamkeit besitzt. Wir erleben die Vernunftwerte freilich als denkende Menschen in unserer Erfahrung immer so, daß sie sich uns als Inhalte und Gegenstände unserer Funktionen, psychologischer oder historischer Tätigkeiten darbieten. Aber – und das hat Hegel mit aller Energie hervorgehoben – ihre Vernünftigkeit oder ihr Vernunftwert ist offenbar von diesen unsern Tätigkeiten selbst völlig unabhängig. Umgekehrt erhalten unsere Tätigkeiten ihren Vernunftwert erst dadurch, daß sie diese Inhalte zu ihren Gegenständen machen. Ein Satz wird nicht dadurch wahr, daß wir ihn bejahen: sondern wir sollen ihn bejahen, weil er wahr ist. Eine Gesinnung wird nicht dadurch gut, daß wir sie billigen: sondern wir sollen sie billigen, weil sie gut ist. Das sind elementare und unangreifbare Erlebnisse des logischen und des ethischen Gewissens. Für diese Unabhängigkeit der Vernunftwerte von den Funktionen menschlicher Vernunft, mag diese individuell oder historisch tätig sein, für dies An-sichbestehen der Wahrheit, das doch keine gemeine Wirklichkeit, weder im Sinne des dinghaften Seins noch in der Art des tatsächlichen Geschehens bedeutet, hat Lotze den glücklichen Terminus des »Geltens« eingeführt, und er hat damit in den berühmten und fundamentalen Paragraphen seiner Logik (316 ff.) die geistreiche und glänzende Deutung der Platonischen Ideenlehre und des Sinnes vom Begriffe des ὄντως ὄν gegeben. Aber dieselbe Erörterung leitet bei Lotze auch die bedeutsame Schlußwendung seiner Logik ein, mit der er sich – vorbildlich – zu Hegel bekannt hat. Dies Gelten der Vernunftwerte, wodurch sie für die | menschlichen Vernunftfunktionen zu den Normen werden, denen diese sich fügen sollen, ist der äußerste Punkt, bis zu welchem die Analy-
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se der kritischen Philosophie vordringen kann. Ihre unmittelbare Evidenz in ihrer immanenten sachlichen Selbstbegründung für das empirische Bewußtsein zur tatsächlichen Geltung zu bringen, ist das ganze Geschäft der Philosophie. Und das ist ihr Unterschied von der neuen Metaphysik. Bei Kant ist dies An-sich-gelten in dem Begriff des »Bewußtseins überhaupt« gemeint. Er bezeichnet damit den Ort für alle Voraussetzungen immanent sachlicher Notwendigkeit, auf denen die Erfahrung, d h. die von uns erlebte Vernunftbetätigung beruht, und ihre systematische Einheit nennt er das Prinzip der Apperzeption. Was es zunächst in seiner wissenschaftstheoretischen Bedeutung besagen will, läßt sich vielleicht am einfachsten so formulieren: Alle Inhalte der äußeren Erfahrung erlangen erst dadurch Gegenständlichkeit, d. h. allgemeine und notwendige Geltung, daß sie in den Zusammenhang desselben einen unendlichen Raums eingestellt sind, der selber kein Gegenstand der Erfahrung ist; ebenso erlangen alle Erlebnisse überhaupt nur dadurch Gegenständlichkeit, d. h. allgemeine und notwendige Geltung, daß sie in die Ordnung derselben einen unendlichen Zeit eingestellt sind, die selber niemals erlebt wird: und ebenso erhält alles, was für uns gegenständliche Realität als Substanz oder Funktion haben soll, diese allgemeine und notwendige Geltung erst dadurch, daß es in den Kategorien, d. h. in den Formen der transzendentalen Apperzeption desselben einen Subjektes gedacht wird, das selber niemals Gegenstand der Erkenntnis ist. Nun hatte schon Kant alle Mühe, dieses »Bewußtsein überhaupt« vor der metaphysischen Ausdeutung zu schützen, die ihm sein eigenes persönliches Weltanschauungsbedürfnis nahelegte. Der zunächst hypothetisch eingeführte »in|tuitive Verstand«, der intellectus archetypus, dann – nach den Postulaten der praktischen Vernunft – in der Kritik der Urteilskraft das »übersinnliche Substrat der Menschheit«, das alles waren schüchterne Ansätze zur Metaphysizierung des »Bewußtseins überhaupt«, denen Hegel nur den rechten Namen gab, wenn er es Gott nannte. Denn es gehört zum unerläßlichen Inventar des religiösen Bewußtseins, den Inbegriff und den einheitlichen Zusammenhang aller Inhalte, denen
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jenes Gelten zukommt, als seiend im Sinne einer metaphysischen Realität zu denken. Hier ist also der Punkt, an dem auch dem Neuhegelianismus die kritische Grenze in dem alten kantischen Sinne zu ziehen ist. Aber damit ist noch ein anderes geboten. Es betrifft den Zusammenhang der Vernunftwerte. Er ist durch das Postulat der Vernunfteinheit aufgegeben, aber nicht gegeben. Wir finden sie, historisch bedingt, einzeln und in einzelnen Zusammenhängen vor, die wir nachzuerleben vermögen, als die Inhalte unserer Vernunftfunktionen. Indem aber ihr Gelten von diesen unseren Funktionen unabhängig ist, wird ihr immanent sachlicher Zusammenhang in seiner Totalität zu einer notwendigen Voraussetzung, aber auch zu einem unlösbaren Problem – geradeso wie dereinst bei Platon die κοινωνία τῶν ἰδεῶν. Hegel bezeichnete diesen Zusammenhang in seiner eigenartigen Sprache als die Bewegung der Wahrheit in sich selbst, als die Selbstentzweiung der Idee, die aus ihrer Zerrissenheit zu sich selbst zurückkehre. Er dachte in dieser Selbstbewegung des Gedankens zugleich die Unabhängigkeit des Geltens-an-sich von der Anerkennung durch irgendwelche empirische Bewußtseinsfunktionen und die notwendige Verknüpfung der Vernunftwerte untereinander. Dies zu verstehen, war der Sinn seiner dialektischen Methode. Er meinte damit jenes letzte Problem zu lösen, das Kant als die Spezifikation der Natur formuliert | hatte: zu begreifen, wie die Gliederung, in der sich für unsere Erfahrung das Universum darstellt, als eine innere Notwendigkeit in der Idee des Ganzen begründet ist. Statt die Welt analytisch zusammenzubuchstabieren, sollte die Philosophie sie synthetisch konstruieren. Die dialektische Methode hängt somit auf das genaueste mit der metaphysischen Hypostasierung der Ideen zusammen, und so sehr wir die Feinfühligkeit und den bohrenden Tiefsinn, vor allem aber die Zähigkeit der begrifflichen Arbeit bewundern mögen, mit der Hegel, namentlich in dem Filigranwerk seiner Logik, einzelne Zusammenhänge genial aufgedeckt hat, so wenig kann doch solche Dialektik als Ganzes wieder die Methode der Philosophie bilden. Deshalb wird die Philosophie, wenn sie als eigene Wissenschaft eine Spezialforschung über die begriffliche Struktur
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alles Kulturbewußtseins sein will, starken Anlaß haben, sich den formalen Eigenarten und Unarten ebenso wie den metaphysischen Neigungen des Hegelianismus gegenüber äußerst vorsichtig zu verhalten. Aber ich glaube doch verständlich gemacht zu haben, wie sehr einerseits die Erneuerung des Hegelianismus, die wir erleben, aus den Weltanschauungsbedürfnissen zu begreifen ist, die von außen her als gebieterische Anforderungen an die heutige Philosophie herantreten, und wie intim andererseits die Beziehungen der hegelschen Begriffsarbeit zu den eigensten Aufgaben der wissenschaftlichen Philosophie selbst sind. Eines aber möchte ich zum Schluß auch nicht unerwähnt lassen. Aus der aufgeregten und leidenschaftlich zerrissenen geistigen Lage, in der wir stehen, tönt uns in lauter Vielstimmigkeit der Ruf nach einer Philosophie der Tat und des Willens entgegen. Ja, in einer schwer begreiflichen Selbsttäuschung verlangt wohl gar eine solche Philosophie von sich selbst, sie solle die Vernunftwerte nicht suchen oder verstehen, sondern gesetzgebend neu er|zeugen. Diesem Treiben gegenüber kann die Versenkung in den gewissenhaften Ernst, mit dem die hegelsche Philosophie die Vernunft in der Welt bis in das Einzelnste hinein zu verstehen und begrifflich herauszuarbeiten sucht, – kann die Erneuerung dieser mühseligen Forscherandacht zum Kleinen, die doch aus dem Großen heraus denkt, nur eine wohltätig erzieherische Wirkung haben. Vor allem aber wird sie geeignet sein, den Zusammenhang der Philosophie mit den übrigen Einzelwissenschaften wieder so innig und fruchtbar zu gestalten, wie er in Hegels Zeiten – nicht zum Nachteil von beiden – gewesen ist. |
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er den seelischen Bewegungen unserer Tage beobachtend nachgeht, dem fallen hauptsächlich zwei Momente in die Augen: der Zug zur Einheit und der Drang nach Verinnerlichung. Aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Betätigungen und Gestaltungen, in die sich unsere Kultur verzweigt, erwächst wieder mit stetig steigender Kraft die Sehnsucht nach dem einheitlichen Lebensgrunde, der all jener Fülle von Arbeit und Leistung doch erst den rechten Sinn und Wert geben muß: und vor der bezaubernden Gewalt, mit der uns der Eindruck der ungeheuren Wandlungen des äußeren Lebens an die körperliche Wirklichkeit, an ihre wissenschaftliche Erkenntnis und ihre technische Bemeisterung zu fesseln droht, erhebt sich wieder die bange Frage, ob wir nicht, indem wir die Welt gewinnen, Schaden leiden an unserer Seele. Nach beiden Richtungen also ist es in den gegebenen Verhältnissen des heutigen Lebens begründet, daß sein aufgeregtes Gewoge einen stark religiösen Einschlag zeigt. Er ist vor allem daraus begreiflich, daß vielleicht in keinem Zeitalter der Geschichte die Substanz des Wertlebens der Kulturvölker so sehr im Fluß, in der Auflösung und in der Neubildung begriffen gewesen ist, wie in dem unsrigen. Die Ausweitung des Kulturzusammenhanges über den ganzen Planeten mit der freundlichen und feindlichen Berührung aller Rassen hat jedes Volk aus der ruhigen Entfaltung seines Einzeldaseins herausgerissen, und die rapide Umgestaltung aller sozialen Verhältnisse | hat überall die festen Formen der Wertungsgewohnheiten zu sprengen angefangen. Zwar ist es richtig, daß es mit der Umwertung aller Werte glücklicherweise noch nicht so schlimm steht und noch nicht so schnell geht, wie es ihre begeisterten Propheten glauben machen möchten: aber darüber darf man sich nicht täuschen, daß in dieser beispiellosen Aufregung aller Kräfte sich Wandlungen vorbereiten, die an die tiefsten Gründe, an
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die letzten Inhalte des Menschenlebens greifen. Die Zeiten solcher Erregung aber sind stets, dem Wesen der Sache nach, auch von intensiv religiösen Trieben durchsetzt, die, unaustilgbar in der Natur des Menschen angelegt, gerade in den Zuständen gesteigerter Entwicklung neue Formen anzunehmen oder die alten im neuen Gewande hervorzutreiben bereit sind. So nimmt auch bei uns das Bedürfnis, eine geistige Lebenseinheit gegenüber der Zersplitterung in die materielle Außenkultur zu retten, vielfach religiöse Gestalt an; und es kommt hinzu, daß nach dem Gesetz der gegenseitigen Ablösung der Gegensätze darin ein Rückschlag gegen die Vorherrschaft des Materialismus in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts sich geltend macht. Das Suchen nach Weltanschauung stürmt mit den reichen Motiven des heutigen Lebens weit über die engen Grenzen hinaus, in die es durch eine einseitige Metaphysik der Naturwissenschaft gebannt worden war, und hat dementsprechend die Richtung auf das entgegengesetzte Ziel. Aber zugleich spielt nun noch ein anderer Gegensatz hinein. Wir erleben dabei in gewisser Weise, wenn auch zum Teil mit durchaus veränderten Einzelmotiven, denselben Umschlag der Denkweise, der um das Jahr 1800 herum überall in Europa, besonders aber in Deutschland, sich zwischen Aufklärung und Romantik vollzogen hat: den Umschlag aus dem Rationalismus in den Irrationalismus. Jedesmal, wenn der moderne Geist mit dem Bestreben | gescheitert ist, in seiner Erkenntnis mit den Begriffen des Verstandes die Wirklichkeit bis auf den letzten Rest zu durchdringen und in seinem Leben nach den Prinzipien der Vernunft seine Welt durchgängig zu gestalten, so flieht er in sich selbst zurück, um in den dunklen Regungen des Gefühls und in der ursprünglichen Wucht des Willens das Heil zu suchen. Darum wird auch jetzt wieder das Irrationale als das heilige Geheimnis aller Wirklichkeit, als der jenseits aller Erkenntnis liegende Grund alles Lebens verkündet; und darum nimmt auch der religiöse Trieb, der in dem Weltanschauungsbedürfnis waltet, wieder gern die Formen der Mystik an. Das Geheimnisvolle, das sich den erkannten oder für erkannt angesehenen Zusammenhängen der Wirklichkeit nicht einfügen
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will, hat zu allen Zeiten den Reiz einer mit leisem Grauen verbundenen Neugier gehabt, und diesem Reiz pflegen gerade auch solche Menschen und Zeitalter zugänglich zu sein, die im übrigen auf die Kraft und den Erfolg ihres Wissens und Denkens stolz sein zu dürfen meinen. Die Zeiten der Aufklärung sind keineswegs gegen den Aberglauben gefeit, sie scheinen vielmehr seiner als einer Art von Ergänzung zu bedürfen: das finden wir in der Renaissance wie im achtzehnten Jahrhundert. Und so braucht man auch nicht allzu sehr zu erschrecken, wenn von Zeit zu Zeit ein Licht darauf fällt, in welchem Umfange auch unter uns, und zwar ausnahmslos in allen sozialen Schichten, allerhand Okkultismus sein Wesen und Unwesen treibt. Sind es dabei meist praktische Bedürfnisse, welche zu den angepriesenen Geheimmitteln greifen, nachdem die offenen Wege der Erfahrungswissens nicht zum Ziele geführt haben, so ist es andererseits – und damit erst betreten wir den Boden der eigentlichen Mystik – das theoretische Bedürfnis, das im Ringen nach einer sittlich-religiösen Weltanschauung über alles Wissen hinaus zu einer unmittelbaren An|schauung der geistigen Urwirklichkeit, zu einem inneren Erleben des Zusammenhanges der Seele mit den letzten Gründen der Dinge aufstrebt. Üppig wie nur je wuchern zu beiden Seiten des Ozeans die Sekten, zahlreich finden wir die theosophischen Vereine und Gesellschaften in propagatorischer Tätigkeit, und auch die überraschende Ausbreitung, welche die buddhistischen Gemeinden nicht nur in den Hauptstädten Europas, sondern auch in vielen weiteren Verzweigungen während der letzten Jahrzehnte gewonnen haben, legt Zeugnis davon ab, wie das religiöse Weltanschauungsbedürfnis sich seine Wege auch außerhalb des Rahmens der kirchlichen Lehren zu bahnen sucht. Überall möchte das Individuum von sich aus direkt den Zugang zu den Geheimnissen der geistigen Realität finden und sie im freien persönlichen Erlebnis sich zu eigen machen. Das aber ist der entscheidende Grundzug dessen, was wir im geschichtlichen Sinne des Wortes Mystik nennen. Diesem Zuge der Zeit hat sich auch unsere Philosophie nicht verschlossen. Sie hat ihm zunächst in ihren historischen Auffassungen Rechnung getragen. Wie dereinst die Romantik den
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vergessenen Jakob Böhme wieder zu Ehren brachte, so ist jetzt der Vater aller philosophischen Mystik, der große Neuplatoniker Plotin, wie ein neuer Stern am Himmel der Geschichte der Philosophie aufgegangen: seitdem ihn Eduard v[on] Hartmann in seiner Geschichte der Metaphysik mit liebevoller und kongenialer Darstellung an den entscheidenden Platz gerückt hatte, ist Plotin zum Gegenstand erneuten Studiums geworden. Aber auch die mittelalterliche Mystik, besonders die deutsche, der Adolf Lasson in den neuen Auflagen des Überweg-Heinzeschen Grundrisses eine tiefdringende Analyse widmete, ist zu verständnisvollerer Anerkennung gelangt; wir charakterisieren die Philosophie des Mittelalters nicht mehr einseitig als Scholastik, sondern wir stellen dieser die Mystik als die ebenbürtige, ja als die frucht|barere und zukunftsreichere Bewegung an die Seite. Und seitdem nun gar die Parole der Erneuerung der Romantik ausgegeben ist, hat deren mystische Aufdeckung tiefer Lebensquellen, wie ihre Propheten sagen, wieder Jünger um Jünger zu werben begonnen. In der Philosophie selbst aber war die Einbruchstelle für das mystische Moment durch den Agnostizismus gegeben, der die Denkbewegungen des neunzehnten Jahrhunderts in den mannigfachsten Formen beherrscht hat. Wenn dem rationalen Denken die Erkenntnis des wahren Wesens der Welt und der letzten Gründe aller Wirklichkeit versagt wird, so findet der metaphysische Trieb gerade darin den Freibrief, sich mit allen Mitteln der Irrationalität zu befriedigen. Das hat schon Kant erfahren. Es war ein gefährliches Wort, das viel zitierte und viel mißbrauchte: »Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.« Kant selbst, der strenge Rationalist, der eben deshalb den scharfen Blick für die Grenzen jeder Art des »vernünftigen« Verfahrens besaß, Kant selbst wollte jenseits des Wissens auch nur einen durchaus rationalen Glauben, einen begrifflich zu bestimmenden, allgemein und notwendig zu begründenden Glauben dulden. Aber er konnte es nicht hindern, daß schon Jacobi die kritische Lehre von der wissenschaftlichen Unerkennbarkeit des Ding-ansich bereitwillig anerkannte, um gerade darauf das Recht eines unmittelbaren Wahrnehmungsvermögens für das Übersinnliche
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und die höhere Wahrheit des individuellen Erlebens zu stützen. Vergebens hatte sich Kant in einer der prächtigsten von seinen kleinen Schriften (»Was heißt, sich im Denken orientieren?«) gegen diese Schwärmerei der Geisterseher gewehrt, die sich in der Nacht des Übersinnlichen, wo freilich das Wissen versagt, durch irgendein besonderes persönliches Gefühl orientieren wollen, statt sich der praktischen Vernunft, dem schlichten Pflichtbewußtsein, dem|klaren und strengen Gedanken der Sittlichkeit anzuvertrauen. Kant hat damit nicht hindern können, daß auf dem Felde, das er für seinen Glauben freigemacht haben wollte, sich die Romantik mit der ganzen üppigen Fülle der genialen Erlebnisse zu tummeln begann. Gerade die Romantik aber hat die Gefährlichkeit dieser Verhältnisse deutlich genug zutage treten lassen: ihre Entwicklung, die Umbiegung ihrer Tendenzen von Schleiermacher und Novalis zu Friedrich Schlegel und Adam Müller hat bewiesen, daß die mystischen Bewegungen im schließlichen Erfolg mehr den Kirchen zugute kommen als der Religion. Auch die besondere Form des Agnostizismus, die in Kants Erkenntnistheorie angelegt war, hat die Entwicklung mystischer Neigungen begünstigen müssen. Wissenschaftliche Erkenntnis im strengen Sinne des Wortes fiel nach der kritischen Kategorienlehre mit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Theorie zusammen; schon der Organismus bildete einen Grenzbegriff für das Erkennen, für die Gegenstände der inneren Erfahrung sollte es höchstens eine beschreibende, keine begreifende und erklärende Disziplin geben. Waren so die Ansprüche der Wissenschaft aus die Natur als den Zusammenhang der mechanischen Kausalität beschränkt, so lag es freilich auf der Hand, daß das metaphysische Bedürfnis mit der Wirklichkeit, die diese Wissenschaft erkennt, sich nun und nimmermehr zufrieden geben konnte: und je lebhafter zeitweise der Neukantianismus diese Selbsteinschränkung der Erkenntnis als die einzige Weisheit der Philosophie proklamierte, um so breiter wurde der Spielraum für alle Forderungen des Glaubens und des unmittelbaren Erlebens, welche die Gewißheit ihrer Inhalte völlig davon unabhängig machen wollten, ob sie nach den Prinzipien jener Erkenntnis möglich seien oder nicht. Ja, sie ließen
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sich wohl gern in die Position des alten Wortes hineindrängen: certum est, quia impossibile est; es ist gewiß, | weil es nach eurer Schulweisheit unmöglich ist. Denn zu allen Zeiten nimmt sich der Irrationalismus aus der Selbstbegrenzung der Vernunft am liebsten das Recht der Paradoxie. Ein weiterer Anlaß zum gegensätzlichen Heraustreiben mystischer Motive lag in der Entwicklung der Psychologie, die in den letzten Jahrzehnten so vielfach die Philosophie hat ersetzen sollen. Der entscheidende Punkt ist hier die weit verbreitete Theorie vom psychophysischen Parallelismus. Die Schwierigkeiten, die in der Vorstellung einer gegenseitigen Kausalität leiblicher und seelischer Zustände stecken, hat man bekanntlich nach dem Vorbilde Spinozas wieder dadurch zu umgehen gesucht, daß in beiden nur die inhaltlich verschiedenen, aber stetig in allen einzelnen Bestimmungen einander eindeutig zugeordneten Seiten eines und desselben Grundprozesses vorliegen sollen. Damit scheint zwar das selbständige Wesen des Psychischen gegenüber dem Physischen gewahrt: aber in der Auffassung des Geschehens kann diese Theorie der Wendung zum Materialismus nicht entgehen. Das hat sich schon dereinst in der Entwicklung der englischen Assoziationspsychologie (bei Hartley) gezeigt. Und wenn jetzt das Hauptargument für die Annahme des psychophysischen Parallelismus darin zu bestehen plegt, daß eine psychophysische Kausalität mit dem Prinzip der Erhaltung der Energie unvereinbar sein würde, so ist die unausweichliche Folge die, daß der Ablauf der leiblichen Zustände nach physikalischen und chemischen Gesetzen in letzter Instanz begreiflich erscheint und dann der korrespondierende Ablauf der seelischen Zustände zu einer Begleiterscheinung an dem physischen Grundprozeß herabsinkt. Damit aber ist das gesamte Seelenleben in den Zusammenhang der mechanischen Kausalität hineingerissen, und das Bewußtsein der Aktivität, in der die Persönlichkeit sich selbst erlebt, erscheint dieser Psychologie gegenüber | als ein Wunder, das seine Selbstgewißheit außerhalb der wissenschaftlichen Theorie suchen muß. Wenn man aber dann nach den Denkgewohnheiten einer auf Psychologie eingeschrumpften Philosophie diesem Bedürfnis nur mit den Mitteln des individuel-
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len Erlebnisses Genüge tun will, so ist man unweigerlich auf dem Wege der Mystik. Der klassische deutsche Idealismus hat dereinst, wie es am großartigsten Hegel gelungen ist, die konkreten Werte der geistigen Realität aus den begrifflichen Zusammenhängen des historischen Prozesses herausgearbeitet. Solange man das verschmäht und auf dem Standpunkt der individuellen Besinnung beharrt, wird man mit allem Ethos und Pathos den geistigen Lebensinhalt, der aus der Verschlingung in das physische Dasein gerettet werden soll, zu einer nebelhaften Religiosität und einer religiösen Nebelhaftigkeit verflüchtigen. Das ist die ernste, an mehr als einer Stelle schon deutlich hervortretende Gefahr für unsere neue idealistische Bewegung. Die Lehre vom psychophysischen Parallelismus enthält noch ein zweites ungewollt mystisches Moment. Sie ist, zumal als allgemeine metaphysische Theorie, nicht durchführbar ohne die Voraussetzung einer enormen Menge unbewußter seelischer Zustände. Soll jedem körperlichen Vorgange eine psychische Funktion zugeordnet sein, so ist die Hauptmasse der seelischen Wirklichkeit unbewußter Art, und die Sphäre des bewußten Lebens bildet dann nur eine kleine und dünne Oberschicht auf dem breiten Grunde des Unbewußten, in welchem das wahre seelische Geschehen mit seinen treibenden Kräften sich so abspielt, daß nur seine obersten Spitzen in das Licht des bewußten Erlebnisses heraustreten. Aber die Annahme des Unterbewußtseins verlangt als ihr Gegenstück auch die eines Überbewußtseins: und wie die Grenzen des Bewußtseins gegen jenes flüssig sind, so werden sie auch diesem gegenüber nicht undurchdringlich sein. | In dem »Unbewußten« haben Fechner und Ed[uard] v[on] Hartmann, so verschieden die Ausgangspunkte und die Methoden ihres Denkens waren, die mystische Einheit des Unterbewußten und des Überbewußten zu suchen gelehrt. Wenn man endlich die Tätigkeiten des Bewußtseins unter dem Gesichtspunkte der empirischen Lebenszwecke betrachtet, so droht das, was wir unser Wissen nennen, wiederum den Wert einer Beziehung auf die wahre Realität einzubüßen. Die Vorstellungen lassen sich entwicklungsgeschichtlich als die höchste Form
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der Umsetzung sensibler in motorische Zustände des Organismus betrachten; dann ist ihr Sinn lediglich die zweckmäßige Bestimmung des Handelns, dann löst unser begriffliches Denken aus den reichen Verflechtungen individueller Wirklichkeiten nur die gleichmäßigen äußeren Schematismen, die sich wiederholen werden, heraus, und mit den Kategorien der wissenschaftlichen Erkenntnis begreifen wir nicht das Leben, sondern seine starr gewordenen Formen oder, wie es ein älterer französischer Mystiker, Pierre Poiret, gegenüber der mechanistischen Naturphilosophie der Cartesianer gesagt hat, den Leichnam der Natur. Ihr Inneres aber wie unser eigenes kann nicht in Begriffen gedacht, sondern nur in unmittelbarer Intuition erlebt werden. Diesen Bund zwischen biologischem Pragmatismus und Mystik hat Henri Bergson verkündet, und darauf beruht die extensive und intensive Wirkung seiner in diesem Sinne spezifisch modernen Philosophie. Die Bedürfnisse der Mystik liegen tief im Wesen des Menschen und in der Begrenztheit seiner Erkenntnis. Sie nehmen deshalb in den verschiedensten Zeiten die Formen an, welche durch das Bewußtsein von den Aufgaben des Wissens und dem Maße ihrer Erfüllbarkeit jeweils besonders bestimmt sind. Der wissenschaftliche Geist wird an diesen von ihm selbst erkannten Grenzen immer stille stehen, das Unerforschliche ruhig verehren und nicht un-| geduldig an den Schleiern zerren. Der Mystiker aber glaubt, in ganz besonderem Erlebnis doch ein glückliches Schauen erhaschen zu können. Das wird ihm niemand wehren: aber er gerät mit sich selbst in Widerspruch, wenn er, in diese Welt des gemeinsamen Bewußtseins zurückkehrend, sein Schauen in Lehre und Tat umsetzen will. Die Formen der Rede sind die des Denkens, und diese sind keine anderen als die des Erkennens: wenn also jene reine Intuition des Mystikers sich aussprechen will, so kann sie nur in denselben Kategorien sich äußern, die sie selbst als unzulänglich und irreführend verwirft. Darum ist ihre Rede, so berauschend sie klingt, ihrem eigenen Wesen und Eingeständnis nach nur ein Stammeln. Der Mystiker kann seine selige Schau als seltenen Sabbatfrieden genießen: aber für das Alltagsleben braucht auch er eine Innenwelt und eine Außenwelt, die sich denken lassen, deren
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Beziehungen sich begrifflich gestalten und danach verwirklichen lassen. Die Mystik ist möglich als intuitives Erlebnis des Individuums; sie ist unmöglich als wissenschaftliche Lehre: das ist sie höchstens in ihrem negativen kritischen Teil, aber nicht in dem, was sie positiv sagen möchte. Will aber die Philosophie das Denken den Wissenschaften überlassen und sich selbst das unaussagbare Schauen vorbehalten, so hat sie als Wissenschaft abgedankt. Mancher wird sagen, das schade nichts, wenn sie nur, vielleicht gerade damit, die geistige Lage der Zeit zum adäquaten Ausdruck bringe. Aber um so berechtigter wird die Frage sein, ob es aus dieser Lage heraus keinen Weg für die Philosophie gibt, um ihren Charakter als rationales Denken, als begriffliche Wissenschaft aufrechtzuerhalten. Denn die höchste Aufgabe wird doch immer die bleiben, unser Leben aus der dumpfen, halbbewußten Gegebenheit in klares Bewußtsein und deutliche Gestaltung zu bringen. |
[ Z W E I T E R BA N D ]
Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie (1907)
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s soll mir vergönnt sein, über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie zu sprechen. Eine derartige Betrachtung ist für die Philosophie von ganz anderer Bedeutung und durch ganz andere Anlässe berechtigt, als für irgend eine der besonderen Wissenschaften. Diese haben ihren mehr oder minder begrenzten Gegenstand, und ihre Entwicklung zeigt einen, wenn auch nicht immer völlig stetigen, so doch im ganzen sicher bestimmten Fortschritt in der Annäherung an ihr Erkenntnisziel: für eine solche Einzeldisziplin kann es sich in einem besonderen Augenblicke nur darum handeln, sich auf die Summe des Erreichten an Kenntnissen und Arbeitsweisen zu besinnen und daraus etwa die nächstliegenden Aufgaben für die Zukunft zu bestimmen. Der Philosophie aber, die solcher Stetigkeit in ihrer historischen Bewegung entbehrt, werden ihre Aufgaben jeweils durch die gesamten Zustände des geistigen Lebens ihrer Zeit bestimmt, und sie ist deshalb von diesen in viel höherem Maße abhängig als die übrigen Wissenschaften. Das hängt natürlich damit zusammen, daß man von der Philosophie nicht die Einsicht in ein einzelnes Gebiet des Wirklichen, sondern vielmehr eine gedankliche Arbeit erwartet, die in wissenschaftlicher Begründung eine Weltanschauung und Lebensansicht gewähren soll. Diese Aufgabe aber kann niemals nur durch die theoretischen Ergebnisse des in seine besonderen Gegen|stände vertieften Forschens und Wissens gelöst werden, sondern sie verlangt immer eine ideelle Selbstverständigung der tiefsten Motive des gesamten Kulturlebens, eine Besinnung auf die letzten inhaltlichen Bestimmungen des sittlichen und sozialen, des ästhetischen und religiösen Zusammenhanges ihrer Zeit, dessen prinzipielle Einheit in einer
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begrifflichen Form zu erfassen das Wesen der Philosophie ausmacht. Das Bedürfnis nach einer solchen ideellen Konzentration und Selbstbesinnung ist nun in dem Kulturleben selbst nicht immer mit gleicher Energie vorhanden, und das Verlangen nach einer Weltanschauung, das metaphysische Bedürfnis, wie wir es seit Schopenhauer nennen, macht sich deshalb zu den verschiedenen Zeiten in sehr verschiedenem Maße geltend. An sich ist es ja immer vorhanden, es gehört zu den unausrottbaren Trieben der menschlichen Natur, und alle Enttäuschungen, die es im Laufe der Geschichte erfahren hat, können nicht verhindern, daß es immer wieder in jedem ernsten Menschen mit der ganzen Fülle seiner quälenden Fragen aus den scheinbaren Selbstverständlichkeiten und eingelebten Gewohnheiten der Meinungen hervorbricht. Für jeden gibt es schließlich Erlebnisse, durch die das unbefangene Vertrauen in das alltägliche Meinen und Glauben erschüttert wird, und das sind die Geburtsstunden des philosophischen Nachdenkens. Aber die Bedeutung, welche die Beschäftigung mit diesen letzten Problemen in dem geistigen Leben des Einzelnen wie der Gesamtheit einnimmt, hängt zum großen Teile davon ab, wie stark es von den Aufgaben und Interessen anderer Tätigkeits-Sphären in Anspruch genommen und von deren Ergebnissen und Erfolgen befriedigt ist. So ist es möglich, daß zeitweilig vor der intensiven Arbeit auf den besonderen Gebieten des Kulturlebens die philosophische Besinnung auf deren einheitlichen Zusammenhang mehr zurücktritt und die wissenschaftliche Philosophie in | dem Interesse ihrer Zeit nur eine mehr oder minder untergeordnete Rolle spielt. Derartige Zeitalter kann man positive nennen, und ein solches ist bei uns Deutschen die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sicherlich gewesen. Man hat sie wohl als das naturwissenschaftliche oder auch als das technische oder das politische Zeitalter charakterisiert und damit die Richtungen angegeben, worin mit dem gesamten Leben auch die Arbeit des Intellekts ihre besonderen Ziele verfolgt, in den festen Bahnen der gegebenen Aufgaben sich entfaltet und darin sich erschöpft und beruhigt hat. Es war deshalb eine Zeit, welche in der Tat nicht eigentlich eine eigene Philosophie hatte,
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sondern nur noch die Geschichte der Philosophie kannte und im ganzen – abgesehen natürlich von individuellen Ausnahmen – auf eine neue Schöpfung verzichtete, weil sie entweder ihrer nicht zu bedürfen oder dazu nicht fähig zu sein glaubte. Das hat sich nun offenbar geändert. Man spricht heutzutage mit Recht von dem wachsenden Interesse an der Philosophie, mit dem das neue Jahrhundert bei uns eingesetzt hat, und akademische wie literarische Erfahrungen bestätigen wirklich das steigende Verlangen unserer Zeitgenossen nach einer philosophischen Lösung der Probleme, mit denen sie ringen. Und wer den Blick auf unsere heutigen geistigen Zustände richtet, der wird sich darüber nicht wundern. Wir sehen uns umstürmt von einer Mannigfaltigkeit tief an die Wurzel des Lebens greifender Aufgaben. Durch unser Volk geht ein gewaltiges Sehnen; es ist in ihm etwas von dem Gefühl, über sich selbst hinauszuwachsen, ein Hinausstreben in noch Unbestimmtes und Unbekanntes, ein Trieb zugleich der Ausweitung und der Vertiefung, der Bereicherung und der Befestigung. Wir haben das Bewußtsein, im Übergange zu stehen, und die Formel von der Umwertung aller Werte ist in aller Munde. Das gibt zunächst einen Zustand der | Unsicherheit: wir sehen ein Greifen nach dem Alten, ein Hervorholen ausgelebter Formen und Gestaltungen und dann wieder ein Abwerfen aller Überlieferung und ein ungestümes Verlangen nach eigenem, nie vorher dagewesenem Schaffen. Ein solches Schwanken zwischen Erneuerung und Neuerung können wir in allen Sphären des modernen Lebens beobachten; nur zwei Gebiete möchte ich erwähnen, auf denen es uns besonders entgegentritt: die Schule und die Kunst. Nirgends vielleicht mehr spiegelt sich das Hin- und Herwogen der Kräfte, als in den zahllosen Versuchen, mit denen die traditionellen Formen der Erziehung unserer Nation, von der Volksschule bis hinauf zur Hochschule, reformiert und den Bedürfnissen der neuen Zeit angepaßt werden sollen, und ebenso finden wir in unserer Kunst ein Suchen und Tasten, wohl auch mit ungesunden Auswüchsen und doch wieder mit gesunder, zukunftsvoller Ursprünglichkeit. Gerade in letzter Hinsicht vergleicht sich unsere Zeit gern mit der Romantik, die ja auch aus ihrer allseitigen Verarbeitung der
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geschichtlichen Tradition ein völlig neues Leben heraufführen zu können glaubte. Wenn ich aber auf deren Erfolg und auf ihr Geschick sehe, so möchte ich von der Gegenwart hoffnungsvoller denken und sie lieber mit der Renaissance vergleichen, dem typischen Zeitalter einer die Tradition mit starkem Erfolge in sich überwindenden Schöpferkraft. Beide aber, Renaissance wie Romantik, waren erfüllt von dem sieghaften Triebe nach einer neuen Weltanschauung, und so darf uns das Drängen zur Philosophie, das wir heute in weiten Kreisen unseres Volkes erleben, als ein Zeichen dafür gelten, daß wir auf dem Wege zu einer neuen Konzentration des geistigen Lebensinhaltes begriffen sind und damit uns dem Kraftquell nähern, ohne den noch niemals eine Zeit zu einer bleibenden Kulturleistung gelangt ist. Wenn wir uns nun fragen, was die heutige Philo|sophie dem zu bieten hat, der mit dem stürmischen Verlangen nach einer Weltanschauung an sie herantritt, so machen wir uns dies am einfachsten durch einen geschichtlichen Rückblick auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte klar. Die Mitte des vorigen Jahrhunderts bezeichnet in Deutschland einen Tiefstand philosophischer Leistung und philosophischen Interesses, und die Literatur der 50er und 60er Jahre war in der Hauptsache von zwei Richtungen beherrscht, dem Materialismus und dem Pessimismus. Für den durchschnittlichen geistigen Zustand jener Tage ist dasjenige charakteristisch, was diesen beiden Richtungen gemeinsam war. Der Materialismus suchte mit den Begriffen der Naturforschung eine vermeintlich wertfreie Weltansicht, eine rein theoretische Erkenntnis der Dinge zu gewinnen, die von aller Vermenschlichung, von aller Trübung durch menschliche Gefühle und Bedürfnisse frei sein sollte; und der Pessimismus hatte seine eindrucksvolle Energie in der Verneinung der Lebenswerte, in der Überzeugung von der Sinnlosigkeit alles Wollens. In den Zeiten, wo man Büchner’s »Kraft und Stoff« und Schopenhauer las, war man so weit wie nur je entfernt von einem Verständnis der geistigen Wertinhalte aller Wirklichkeit. Damit hing eine andere Gemeinsamkeit beider Richtungen zusammen: ihre Gleichgültigkeit gegen die Bedeutung der Geschichte. Für den Materialismus war das eherne, immer gleiche Naturge-
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setz die letzte Instanz der Betrachtung, auch wenn sie sich den Vorgängen des menschlichen Lebens zuwendete, und für Schopenhauer galt alles Ringen der geschichtlichen Menschheit als eine Tragikomödie, in der immer nur mit anderen Kostümen dasselbe Elend gespielt werde. In der Herrschaft dieser beiden Auffassungen sehen wir am deutlichsten den Rückschlag gegen die große Zeit des deutschen Idealismus, der in der ersten Hälfte des Jahrhunderts seine historische Weltanschauung begründet hatte. Es ist deshalb wohl so unrichtig nicht, wenn man | in der Vorherrschaft jener beiden Formen unhistorischer und wertverneinender Weltansicht eine Wirkung der Enttäuschungen sieht, welche das deutsche Volk in seinem politischen Leben während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfahren hatte. Um so eigentümlicher ist es, daß diese Stimmungen das große Erlebnis des Jahres 1870 zunächst überdauert haben: in der breiten Masse wenigstens der populären Literatur des achten Jahrzehnts begegnen wir einer Hochflut materialistischer und pessimistischer Schriften, deren Stimmung sich auch der gesamten allgemeinen Literatur mitteilte. Vergebens würden wir in ihr und insbesondere in der damaligen Philosophie einen zureichenden Ausdruck des Gefühls suchen, daß eine neue Zeit, eine weite, von großen Aufgaben und Geschicken erfüllte Zukunft für unser Volk angebrochen sei. Es ist ein nachdenklich machender Beweis dafür, wie langsam die Wandlungen des Volksgeistes zum Selbstbewußtsein der begrifflichen Erkenntnis gelangen. Denn diese entwickelt sich zunächst für sich in ihren Überlieferungen und nimmt die neuen Kräfte aus dem übrigen Leben in ihre Gedankenwelt erst dann auf, wenn sie mit der ganzen Gewalt ihrer Fragen, mit dem ganzen Ungestüm ihrer Widersprüche an die Pforten der Wissenschaft klopfen. So ist es auch keineswegs etwa die unmittelbare Wirkung veränderter Volksstimmungen gewesen, welche die Philosophie des 19. Jahrhunderts aus ihrer materialistischen und pessimistischen Erschlaffung befreit hat. Ihre Neubelebung ist vielmehr daraus erwachsen, daß sie den Weg zu den Errungenschaften ihrer großen Zeit Schritt für Schritt zurückgefunden hat. Die Übereilungen des einseitig naturwissenschaftlichen Denkens, die sich im Mate-
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rialismus als ein grobes System von starr dogmatischer Prägung festgelegt hatten, sind durch die kritische Besinnung überwunden worden, welche gerade die bedeutenden | Naturforscher der Beschäftigung mit Kant verdankten. Die Neuentdeckung der kritischen Philosophie, zu der im allgemeinen der Überdruß an den metaphysischen Systemen des Idealismus allmählich führte und nicht zum wenigsten die eindrucksvolle Darstellung Kuno Fischer’s beitrug, hat die materialistische Bewegung zum Stillstand gebracht oder wenigstens sie aus den Kreisen der Wissenschaft in diejenigen einer minderwertigen populären Literatur gedrängt. Für diese Phase der kritischen Besinnung ist Albert Lange’s Geschichte des Materialismus und ihr weithin reichender Erfolg die charakteristische Erscheinung. Aber dasselbe Werk läßt auch in typischer Weise erkennen, wie man zunächst Kant’s Lehre wesentlich nach ihrer negativen Seite würdigte und ihre Leistung in der Zermalmung nicht nur der materialistischen Metaphysik, sondern aller Metaphysik überhaupt suchte und fand. Eine philosophische Timidität fand darin ihren Ausdruck, welche der wissenschaftlichen Einsicht die Begründung einer Weltanschauung verschloß und diese auf die mehr oder minder persönlichen Formen ethischer, ästhetischer und religiöser Bedürfnisse verwies. Der NeuKantianismus, der sich in diesem Sinne als eine fast ausschließlich erkenntniskritische Philosophie ausbildete, konnte seine Deutung der kantischen Lehre mit der Autorität Schopenhauer’s decken und fand seinen Eingang nicht nur bei den Naturforschern, sondern auch bei den Theologen, die damit einverstanden waren, daß die philosophische Erkenntnis sich zu den großen Problemen der Weltanschauung nur problematisch verhalten sollte. Erst allmählich hat das Studium Kant’s zu dem Verständnis der Gesamtheit seiner Lehre und zu der Einsicht in die positive Stellung geführt, welche seine Weltanschauung zu allen großen Fragen des Kulturlebens einnimmt: seine Ethik, seine Rechts- und Geschichtsphilosophie, seine Ästhetik, seine Religionsphilosophie sind der folgenden Generation immer bedeutsamer und für die philosophischen | Überzeugungen wirksamer geworden. Je mehr aus dem bewegten Leben heraus diese sachlichen Probleme der
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Welt- und Lebensansicht die ringenden Geister der Zeit beschäftigten, um so mehr erkannte man, daß die Gedankenwelt des größten Philosophen nicht nur der Wissenschaft ihre Wege wies und ihre Grenzen bestimmte, sondern auch auf die tiefsten Fragen des gesamten geistigen Lebens dem Einzelnen wie der Gesamtheit wohlerwogene Antworten gab. Aber aus der Behandlung gerade dieser Wertprobleme hatten sich dereinst nach Kant die großen metaphysischen Systeme des deutschen Idealismus herausgebildet, und so konnte es nicht ausbleiben, daß diese zu ihrer Zeit mit Begeisterung aufgenommenen und dann von einem ernüchterten Geschlecht verworfenen, in Verachtung und Vergessenheit geratenen Lehren von neuem entdeckt und aufgenommen wurden. Wenn die Philosophie zu Kant zurückgekehrt war, so ging sie nun wiederum von ihm aus und beschrieb dabei ähnliche Wege, wie es vor hundert Jahren seine großen Nachfolger getan haben. In dieser Weise erleben wir jetzt ein Neuerwachen des nachkantischen Idealismus: wir sehen die Gegensätze jener Zeit sich wiederholen. Wiederum steht eine psychologische Richtung, die sich an Fries orientieren will, den metaphysischen Auffassungen gegenüber. Fichtes Lehre mit ihrer Prävalenz der ethischen Bestimmung und ihrer scharfen Betonung des Wertbegriffes findet neue Jünger. Die geschmähte Naturphilosophie Schellings feiert in dem Vitalismus und ebenso in der Energetik der heutigen Naturphilosophen ihre Auferstehung. Die Philosophie der Romantik sprießt auf dem Boden des neuen ästhetischen Lebens üppig empor. Vor allem aber die hegelsche Lehre, die mit ihrer großen historischen Auffassung den Inbegriff der Werte des Kulturlebens als eine gewaltige geistige Einheit zu betrachten begonnen hat, dringt mit der ganzen Wucht ihrer sachlichen Wahrheit zu immer breiterer An|erkennung vor. Alle diese verschiedenen Richtungen sind natürlich, wo sie zu erfolgreicher Neubelebung streben, damit beschäftigt, die zum Teil sehr wunderlichen Formeln, worin jene Gedanken in der Zeit nach Kant zuerst in die Erscheinung getreten sind, mehr und mehr abzustreifen: wie es denn charakteristisch ist, daß in dem Verständnis der Bedeutung mancher dieser Lehren, insbesondere der hegelschen, uns Deutschen zum Teil die andern Völker voran-
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gegangen sind, die bei ihren Übersetzungen und Interpretationen hinter den harten und krausen Kern zu dem sachlichen Gehalte dringen mußten. Auch für uns wird es deshalb jetzt die Aufgabe, das bedeutsame Gesamtergebnis jener großen Zeit der deutschen Philosophie aus seinen zeitlichen Umhüllungen herauszuarbeiten und es in lebendigen sachlichen Zusammenhang mit den Problemen unserer Zeit zu bringen. Für die Besonderheit der philosophischen Begriffsarbeit wird aber immer das methodische Prinzip maßgebend bleiben, das wir Kants grundlegendem Denken verdanken. Wenn von der Philosophie nach wie vor als das dem gebildeten Gesamtbewußtsein Wesentliche eine auf wissenschaftliche Untersuchung begründete Welt- und Lebensansicht verlangt und erwartet wird, so kann niemals mehr ernstlich daran gedacht werden, ein solches Weltbild lediglich aus rein formalen Begriffen herausspinnen zu wollen: eine solche Metaphysik, ein solches Wissen rein aus sich selbst ist durch Kant ein für alle mal abgetan. Die metaphysische Lehre der Philosophie kann nur noch durch die Gesamtheit der übrigen wissenschaftlichen Arbeit hindurchgehen und aus ihr hervorgehen. Sie kann nur darauf gerichtet sein, in den Einsichten der Wissenschaften selbst die Prinzipien zu entdecken, vermöge deren wir die Art und das Maß ihrer Geltung zu beurteilen imstande sind. Denn nicht darauf möchte ich, wie es viele getan haben und noch tun, diesen intimen Zusammenhang der | Philosophie mit den übrigen Wissenschaften gestellt sehen, daß etwa aus diesen, wie man wohl zu sagen pflegt, die allgemeinen Ergebnisse zusammengearbeitet werden sollen. Das bleibt im besten Falle schöngeistige Dilettantenarbeit, und eine solche Philosophie der Brosamen und der Lesefrüchte hat kein Anrecht auf den Namen einer eigenen Wissenschaft, geschweige denn auf denjenigen der ersten, der grundlegenden Wissenschaft. Allerdings meine auch ich, daß die Philosophie die übrigen Wissenschaften zu ihrer Voraussetzung haben soll, aber nicht um sie zu plündern und aus ihren Ergebnissen dies oder jenes herauszupflücken, sondern um sie zum Gegenstande ihres eignen, des kritischen Verfahrens zu machen. Dies kritische Verfahren ist nun aber nicht etwa eine Kritik
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im landläufigen Sinne des Wortes: es soll der Philosophie nicht einfallen, die Lehren der besonderen Wissenschaften zu beurteilen oder zu prüfen. Sie hat vielmehr deren inhaltlichen Bestand in seiner ganzen Breite als den Grund und Boden anzusehen, der für sie selbst unabänderlich gegeben ist, den sie weder in Frage stellen noch verändern, weder bereichern noch beschränken will. Ihre Aufgabe ist vielmehr darauf gerichtet, die letzten Gründe ausfindig zu machen, worauf dieses ganze in unmittelbarer Betätigung des Erkenntnistriebes erworbene Wissen beruht, die innere Struktur der intellektuellen Arbeit aller jener besonderen Disziplinen zu verstehen und die sachlichen Voraussetzungen zu gewinnen, die ihren Geltungsgrund in sich enthalten. Den einzelnen, mit methodischem Bewußtsein arbeitenden Wissenschaften geht ein vorwissenschaftliches Auffassen, Meinen und Fürwahrhalten des Menschen vorher: an ihm übt die Wissenschaft ihre Auswahl, ihre Unterscheidung und Verknüpfung, ihre Kritik und ihre Korrektur. Das gilt für unser Verständnis der körperlichen Außenwelt ebenso wie für unser Wissen von unserm eignen geistigen Leben, für die Gebilde des natürlichen Daseins | ebenso wie für die Gestalten und Geschicke der geschichtlichen Wirklichkeit. Alle diese zunächst in der unbefangenen Erfahrung des Menschen gegebenen Inhalte haben von den Wissenschaften mit methodischer Arbeit geformt und neugestaltet werden müssen, um aus ihrer Unbestimmtheit in die begriffliche Klarheit und Deutlichkeit erhoben zu werden, die allein auf eine notwendige Geltung und auf allgemeine Anerkennung Anspruch hat. In dieser auswählenden und gestaltenden Arbeit des wissenschaftlichen Denkens bildet die letztentscheidende Instanz überall die innere Notwendigkeit des vernünftigen Bewußtseins selbst, und indem die Philosophie jene Tätigkeit der Wissenschaften bis in ihre letzten Gründe hinein verfolgt und in ihrem systematischen Zusammenhange zum deutlichen Bewußtsein zu bringen sucht, gibt sie der in die Fülle des Einzelnen sich verzweigenden Erkenntnistätigkeit ihre einheitlich begründende Zusammenfassung. Die Gesamtheit der Gegenstände aber, an denen sich das Wissen entwickelt, ist schließlich nichts anderes, als der Inbegriff des
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geistigen Besitzes, den die Menschheit in der Gemeinschaft ihrer intellektuellen Arbeit erworben hat, und auf diese Weise gestaltet sich die kritisch-philosophische Untersuchung der Wissenschaften zur bewußten Erfassung des Kulturinhaltes der Menschheit. So kann auch jetzt die Philosophie nicht anders verfahren, als indem sie nach dieser kritischen Methode den Ertrag der wissenschaftlichen Arbeit des 19. Jahrhunderts auf seine prinzipielle Bedeutung hin durchforscht und die innere Struktur ihrer letzten Voraussetzungen darlegt. Blicken wir aber jetzt auf diese zurück, so zeigt sich darin ein eigenartiger Gegensatz, der in den früheren Perioden der Wissenschaftsgeschichte nicht im entferntesten dieselbe Rolle gespielt hat. Man hat dies Jahrhundert mit gleichem Rechte das naturwissenschaftliche und andererseits das historische genannt. Der rapide Fortschritt, den die | Naturforschung in diesem Zeitalter gemacht hat, ist die offenkundigste aller Tatsachen. Er betrifft nicht nur die staunenswerte Bereicherung der Kenntnisse und die bewunderungswürdige Verfeinerung der Methoden wie aller ihrer Hilfsmittel, sondern auch die prinzipielle Vertiefung und die begriffliche Klärung ihrer Grundgedanken. Aber wenn die gewaltigen Veränderungen unseres praktischen Lebens, die spielende Überwindung der elementaren Hemmnisse von Raum und Zeit, die wir diesen Fortschritten der Erkenntnis in ihrer technischen Anwendung und Ausbildung verdanken, den Blick des Beobachters zunächst auf sich ziehen und bei sich festzuhalten geeignet erscheinen, so darf man doch nicht übersehen, daß diese ganze großartige Entwicklung in ihren Grundlinien die folgerichtige Fortsetzung der wissenschaftlichen Arbeit ist, welche in der Renaissance als das wesentlich Neue geschaffen wurde und seitdem sich die Herrschaft im Reiche des intellektuellen Lebens gewonnen hatte. Das wesentlich und prinzipiell Neue in dem Wissenschaftsbetriebe des 19. Jahrhunderts ist auf der anderen Seite zu suchen. Mit feiner Symbolik sind in dem Vorgarten der Berliner Universität die Standbilder der beiden Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt errichtet worden: sie erinnern daran, wie schon in den Anfängen des 19. Jahrhunderts brüderlich neben dem großen encyklopädischen Naturforscher der allseitig anregende
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und feinverknüpfende Vertreter aller historischen Forschung gestanden hat, der Begründer der Sprachgeschichte und der Förderer aller Seiten der Geisteswissenschaft. In der Tat ist es das weitaus Eigenartigere in dem wissenschaftlichen Bilde des 19. Jahrhunderts, daß die historische Forschung darin ihre bewußte und selbstbewußte Gestaltung wie ihre erfolgreiche Organisation gefunden hat. Auf einem bis dahin vorwiegend der allgemeinen Literatur, den belles lettres zugerechneten Gebiete ist der volle Ernst kritischer Forschung | heimisch geworden; auch hier beobachten wir eine Ausbildung und Verfeinerung der Methoden, eine bewußte Handhabung exakt wissenschaftlichen Verfahrens, von der frühere Zeiten noch kaum eine Ahnung gehabt haben; auch hier macht sich der systematisch geleitete Betrieb, durch den die Sonderarbeit des Anfängers in den Zusammenhang der Gesamtforschung eingefügt wird, schon in der äußeren Gestaltung an unsern Hochschulen bemerklich. Neben den Instituten der naturwissenschaftlichen und der medizinischen Fakultät haben mit der Zeit alle Universitäten ihre Seminarien für die historischen Disziplinen erhalten. Aus dieser geordneten Massenarbeit aber ragen während des ganzen 19. Jahrhunderts die gewaltigen Leistungen genialer Forscher hervor. So haben beide Seiten des einzelwissenschaftlichen Lebens in dem verflossenen Jahrhundert ihre gleichmäßig bedeutsame Entfaltung gefunden: neben die Liebig und Helmholtz stellen wir getrost die Ranke und Mommsen, und neben den großen Arbeiten von Kirchhoff und Bunsen stehen die monumentalen geistesgeschichtlichen Werke von Eduard Zeller und Kuno Fischer. Diesem neuen Verhältnis, worin die historische Wissenschaft ebenbürtig neben die Naturforschung getreten ist, hat nun die Philosophie Rechnung zu tragen, wenn sie nach kantischem Prinzip sich von neuem als eine kritische Wissenschaftslehre aufbauen will. Denn bei Kant ist deren Umkreis dadurch beschränkt, daß sein Begriff der Wissenschaft im wesentlichen auf denjenigen der Naturwissenschaft zugespitzt und eingeengt ist. Trotz all seines Sinnes für die Erfahrung teilt er doch mit seiner Zeit zuletzt die Gewohnheit, in dem »historischen« Wissen, d. h. in der empirischen Kenntnis des Einzelnen nur etwas Zufälliges zu sehen, dem mit der
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Vernunftnotwendigkeit auch die Allgemeingültigkeit abgehe: er selbst findet in jeder Wissenschaft nur so viel »eigentliche« Wissenschaft, als Mathematik | darin ist, und sein eigenstes Bestreben war, wie wir in seiner ganzen Entwicklung verfolgen können, darauf gerichtet, eine allgemeine begriffliche Grundlage für die newtonsche Naturphilosophie, d. h. für die mathematisch-physikalische Theorie zu finden. Deshalb handelt es sich in seiner ganzen Erkenntniskritik lediglich um Naturforschung, und das gesamte historische Wissen geht dabei leer aus: denn es ist nicht in dem Sinne Wissenschaft, worin diese den Gegenstand der Kritik der reinen Vernunft bildet. Das ist nun der Punkt, an welchem, soweit ich sehe, die kantische Wissenschaftslehre eine prinzipielle Erweiterung und Ergänzung erfahren muß. Unser heutiges Denken steht in der doppelten Tradition von Naturforschung und Historik, es hat einen weiteren Begriff der Wissenschaft und muß deshalb seine kritisch-metaphysische Untersuchung auf dessen ganzen Umfang gleichmäßig richten. Für uns bildet die historische Wissenschaft geradeso das Problem der Kritik wie die Naturforschung, und eben das ist der Sinn, in welchem die geschichtliche Weltansicht, die Kant’s große Nachfolger im Zusammenhange mit der romantischen, durch und durch historisch angelegten Denkrichtung ihrer Zeit ausgebildet haben, in den systematischen Zusammenhang der kritischen Philosophie hineingearbeitet werden kann und muß. Die Angreifbarkeit, welche den Formen jener historischen Weltansicht anhaftete, hatte ihren Grund darin, daß sie wesentlich als metaphysische Theorien mit allem dogmatischen Anspruch auftraten. Damit verbarg sich für das Verständnis der Folgezeit der tiefe und lebendige Inhalt, den die historische Weltansicht besaß, und wir dürfen hoffen, das Verständnis davon zurückzugewinnen, wenn es gelingt, diesen selben Gehalt durch die nüchterne Kritik aus der Methode Kant’s herauszuarbeiten. In erster Linie kommt es deshalb darauf an, den fundamentalen Unterschied in das Auge zu fassen, der | zwischen jenen beiden Arten der empirischen Wissenschaften besteht. Eine solche Unterscheidung aber entwickelt sich, wie jede begriffliche Unterscheidung, aus einem gemeinsamen Grunde, und dieser kann in
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unserm Falle nur in der gemeinsamen Aufgabe aller Erfahrungswissenschaften zu suchen sein. Hierfür nun hat Kant die bleibende Grundlage geschaffen, in der wir sogleich eine tief einschneidende Korrektur der Voraussetzungen des vulgären Denkens feststellen müssen. Die Übereinstimmung der Vorstellungen mit ihren Gegenständen gilt dem naiven Bewußtsein als das selbstverständliche Kriterium der Wahrheit, das auch für die Leistungen der empirischen Wissenschaft, gleichviel ob sie die Natur oder die Geschichte zum Gegenstande hat, durchgängig zutreffen soll. Allein es genügt geringe Besinnung, um deutlich zu machen, daß ein solches Abbild der Wirklichkeit durch keine menschliche Vorstellung und deshalb auch durch keine darauf gebaute Wissenschaft erreicht werden kann. Selbst wenn wir von allen Bedenken absehen, die daraus erwachsen, daß wir niemals wissen können, ob die Empfindungsinhalte, die in unserm Bewußtsein als die Zeichen für die Dinge unserer Umwelt gelten, den Anspruch haben, deren Abbilder zu sein, so lehrt uns schon ein Blick auf das Entstehen unserer Wahrnehmungen, wie wenig in ihnen eine erschöpfende und vollständige Auffassung des sog. Gegenstandes gegeben ist. Aus der unabsehbaren Fülle der Merkmale des Wirklichen geht unter allen Umständen nur ein kleiner Teil schon in unser wahrnehmendes Bewußtsein ein, und wenn dabei das, was wir die unwillkürliche Aufmerksamkeit nennen, in seinem Ergebnis bereits eine Auswahl aus dem Vollbestande des Wirklichen bedeutet, so ist es klar, daß alle die erinnernden und zusammenfassenden Vorstellungsbildungen, in denen unser erkennendes Denken besteht, erst recht eine solche, teils noch unbewußt und teils schon bewußt auswählende Funk|tion darstellen. Vielleicht wird das am einfachsten klar, wenn wir uns besinnen, was eigentlich unsere Vorstellung von irgend einem Menschen unserer Bekanntschaft ausmacht. Wir haben ihn in vielen wechselnden Lagen, in mancherlei Kleidung, in allerlei Beschäftigungen und Verhältnissen gesehen. Wir werden nicht behaupten, daß wir dabei auch mit jeder besonderen Wahrnehmung jedesmal alles einzelne an ihm bis in das Kleinste wirklich aufgefaßt hätten, und gar unsere Gesamtvorstellung, die wir nun von ihm haben, ist doch auf einen verhältnismäßig sehr kleinen Teil
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aus allen den einzelnen Wahrnehmungen beschränkt, die wir im Laufe der Zeit von ihm und an ihm gemacht haben. Das Bild also, das wir so im Ganzen von ihm haben, ist als solches allein niemals wirklich gewesen, es bedeutet vielmehr einen Ausschnitt, eine Auswahl aus dem Wirklichen, und diese Auswahl hat sich dabei in der Reihenfolge unserer einzelnen Erlebnisse ganz unwillkürlich noch ohne jede Absicht vollzogen. Fragen wir uns aber nun, was denn dabei aus der ganzen Mannigfaltigkeit ausgewählt worden ist, nach welchen Kriterien sich tatsächlich diese absichtslose Auswahl vollzogen hat, so werden wir in der Hauptsache ganz dieselben Interessen als maßgebend finden, die uns auch dann leiten, wenn wir einen Menschen mit vollbewußter Absicht beobachten. Es hat uns das an ihm interessiert, ist uns aufgefallen und in der Erinnerung geblieben, was an ihm etwa für sein Verhältnis zu uns und zu anderen Menschen irgendwie wichtig war oder sein konnte: alles andere dagegen, was eine solche Beziehung nicht gewann, ist uns gleichgültig gewesen und, wenn es je flüchtig aufgefaßt war, nachher wieder vergessen worden. Und doch gehörte alles dieses an sich auch gerade so zu dem Wirklichen wie dasjenige, was wir aufgefaßt und behalten haben, weil es für uns in irgend einem Sinne »wesentlich« war. Wenn auf diese Weise schon unsere unwillkürliche Vor|stellungsbildung durch einen Vorgang der Auswahl des »Wesentlichen« bestimmt ist, so gilt das in erhöhtem Maße für alle die Vorstellungen, die wir in absichtlicher Überlegung erzeugen. Eine solche Vorstellung nennen wir in der Wissenschaft einen Begriff, und jeder Begriff entsteht somit aus einer auswählenden Neuerzeugung im Bewußtsein. Wenn wir uns von irgendwelchen Gegenständen unserer täglichen Erfahrung, von einem Baum, einem Stuhl, einem Hund einen Begriff machen, und zwar nicht etwa erst den gattungsmäßigen Allgemeinbegriff Baum, Stuhl, Hund, sondern den Singularbegriff von diesem einzelnen Gegenstande, so leisten wir dies, indem wir entweder von der einzelnen Anschauung oder von den in unserer Erinnerung angesammelten mehrfachen Anschauungen die einzelnen Merkmale gesondert hervorheben: aber das geschieht immer nur und kann immer nur geschehen an einem
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kleinen Teile dieser von uns niemals ganz aufzufassenden Mannigfaltigkeit, und die dabei ausgewählten Merkmale verknüpfen wir dann wieder zu der Einheit, die eben der Begriff bildet. So entsteht durch analysierende Auswahl und synthetische Neuverbindung aus der Wahrnehmung der Begriff. Der Inhalt also, den wir darin vorstellen, ist niemals eine einfache Kopie des Wirklichen, ein Abbild des Dinges, sondern er ist ein Erzeugnis des auswählenden und zusammenfügenden Denkens. Die Gegenstände der Erkenntnis somit, die wir in den Begriffen denken, sind nicht als Abbilder des Wirklichen gegeben, sondern im Denken und vom Denken selbst erzeugt. Aus diesen Grundverhältnissen ergibt sich die fundamentale Aufgabe aller Erkenntniskritik: die Prinzipien zu bestimmen, nach denen in der wissenschaftlichen Begriffsbildung die Auswahl und die Neuverknüpfung der Merkmale von statten geht. Denn wie wir schon an unserer alltäglichen Vorstellungsbewegung beobachten können, daß | für verschiedene Menschen und verschiedene Interessen jene Auswahl des »Wesentlichen« außerordentlich verschieden ist, so zeigt sich auch die Art, wie die Erzeugung des Begriffs in der Wissenschaft von statten geht, in letzter Instanz stets durch deren besondere Erkenntnisziele bestimmt. Jede Wissenschaft erzeugt in gewissem Sinne mit ihren Begriffen selbst erst ihre Gegenstände. Allbekannt ist das hinsichtlich der Mathematik, welche ihre Größenbegriffe in der Algebra so gut wie in der Geometrie durch ihre Definitionen erst zustande bringt, um dann an ihnen die Verhältnisse zu erforschen, die mit der Konstruktion als deren notwendige Folgerungen gegeben sind. Für die Mathematik ist dies Verhältnis auch völlig unbedenklich: denn bei der Wahrheit ihrer Erkenntnisse verlangt niemand die Übereinstimmung mit einem »in der Wirklichkeit« gegebenen Gegenstande. Bei den empirischen Wissenschaften dagegen, die sich doch in irgendeiner Weise auf eine solche bestehende Wirklichkeit beziehen sollen, muß das Recht der Auswahl und der synthetischen Neuschöpfung, die sie mit ihren Begriffen vollziehen, erst aufgewiesen werden. Den individuellen Assoziationen und Interessen gegenüber kann dies Recht der Wissenschaft, worauf die objektive Geltung
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ihrer Begriffe beruhen soll, nur in allgemeingültigen Prinzipien bestehen, welche als die obersten Postulate und, wenn man sich so ausdrücken will, als letzte Voraussetzungen oder »Vorurteile« den gesamten Prozeß der Urteilsbildung regulieren. Für alle diejenigen Erfahrungswissenschaften nun – so weit reicht das grundlegende Ergebnis von Kant’s Kritik der reinen Vernunft –, welche in der Weise der Naturforschung eine Theorie suchen, wie das jetzt nicht mehr nur in der Physik, sondern ebenso auch in der Chemie, in der Biologie, in der Psychologie der Fall ist, gelten dabei die rein theoretischen Grundbegriffe, welche als Kategorien schon in aller Wahrnehmung enthalten sind, aber bei dieser alltäglichen Erfahrung | nur in vorläufiger und unfertiger Weise angewendet werden. Es ist die von Kant in den »Analogien der Erfahrung« formulierte Grundvoraussetzung, daß die Welt aus dauernden Substanzen bestehe, deren Zustände nach allgemeinen Gesetzen in Wechselwirkung miteinander stehen. Alle begriffliche Arbeit dieser Wissenschaften läuft also darauf hinaus, in der Auffassung der einzelnen Tatbestände und in dem Verständnis ihrer Zusammenhänge aus der weiten Mannigfaltigkeit des Gegebenen dasjenige herauszuheben, was zur Bildung fester Dingbegriffe und zur Erkenntnis regelmäßiger Kausalfolgen geeignet ist. Auf diese Weise werden in der logischen Form der Bildung von Gattungsbegriffen die unwillkürlich aufgenommenen Vorstellungen von den Dingen und ihrer Wirkung aufeinander zur Erkenntnis der Substanzen und der Naturgesetze umgearbeitet, und das ganze Geschäft dieser Theorien ist in letzter Instanz darauf gerichtet, aus dem Gewirr der Eindrücke eine feste Ordnung des bleibenden Seins und des stets sich wiederholenden Geschehens herauszupräparieren. Diese, wie man in der Philosophie sagt, apriorische Grundlage, welche das ganze Gebäude unserer theoretischen Welterkenntnis trägt, genügt nun aber nicht für die Begründung des objektiven Rechts derjenigen Auswahl, welche die historischen Wissenschaften aus dem Tatsachenmaterial treffen. Denn es leuchtet ohne weiteres ein, daß hier erst recht eine Auswahl aus der Mannigfaltigkeit des Gegebenen vollzogen wird und daß diese weit davon entfernt ist, auf die Auffindung von Substanzbegriffen und Ge-
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setzen gerichtet zu sein. Der Bereich des historischen Wissens ist sehr viel enger als der des Geschehens überhaupt. Zunächst ist es klar, daß den Hauptbestand der historischen Forschung dasjenige Geschehen ausmacht, das den Menschen betrifft, das an ihm, in ihm oder wenigstens für ihn stattfindet. Aber auch durchaus nicht alles, was | so dem Menschen geschieht, ist darum historisch, und deshalb lautet hier die Grundfrage: wie muß das Geschehen beschaffen sein, um geschichtlich zu werden? Auch hier zeigt uns wieder das vorwissenschaftliche Vorstellen, in diesem Falle das vorwissenschaftliche Erzählen den Weg. Der Einzelne schon behält und erzählt das, was ihm irgendwie bedeutsam gewesen ist, was eine Beziehung auf sein Interesse, auf sein Wertleben besessen und bewahrt hat: und ebenso ist die Auswahl der Erinnerungen für eine Familie, für einen Stamm, für ein Volk durch solche werthaften Beziehungen bestimmt. Aber in allen diesen Fällen walten wenigstens zum Teil rein individuelle Wertrichtungen vor, die auf ein allgemeingültiges Interesse keinen Anspruch haben. Die Geschichtswissenschaft aber, welche die begrifflich geformte, allgemeingültige Gesamterinnerung unseres Geschlechtes darstellen soll, bedarf deshalb als ihrer obersten Voraussetzungen und Auswahlprinzipien eines Systems allgemeingültiger Werte, welches auf diesem Gebiete dieselbe Aufgabe zu erfüllen hat, wie in den theoretischen Disziplinen jenes System der »Grundsätze des reinen Verstandes«. Derartige theoretische Begriffsbildungen von Dingbegriffen und von Kausalgesetzen kommen zwar auch in dem methodischen Zusammenhange geschichtlicher Forschung vor, aber sie bilden weder deren charakteristische Voraussetzung, noch ihre eigentlichen und bedeutsamen Ziele.1 Den wissenschaftlichen Charakter einer allgemeingültigen Erkenntnis gewinnt also die historische Forschung im Unterschiede von der Naturwissenschaft nur dadurch, daß wir die Geschichte 1 Die umfassende Darlegung dieser Gedanken bietet das Werk von Heinrich Rickert: »Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften« (Tübingen, 1902).
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als die fortschreitende Verwirklichung der Vernunftwerte, daß wir sie als den Prozeß der Kultur | betrachten, worin sich aus dem Gewirre menschlicher Interessen und Leidenschaften der allgemeingültige Wertinhalt des geistigen Lebens zum Bewußtsein und zur Verwirklichung emporringt. In diesem Sinne verlangt das Verständnis der historischen Wissenschaft, das der heutigen Philosophie durch die allgemeine wissenschaftliche Lage zur Aufgabe gemacht wird, eine kritische Theorie der Kulturwerte. Auf der andern Seite aber ist eine solche Theorie selbst wieder nur aus der lebendigen Entwicklung der Geschichte zu gewinnen. Es ist völlig aussichtslos, aus der Betrachtung des Menschen als Naturwesen und aus seiner darin enthaltenen Triebbestimmtheit die Vernunftwerte des geistigen Lebens ableiten, begreifen und begründen zu wollen. Nur als historisches Wesen reicht der Mensch in die Welt der geistigen Werte hinauf. Seine Sittlichkeit und sein Recht, seine Kunst und seine Religion sind das aus Kampf und Not errungene Ergebnis seiner Geschichte. So muß uns die Geschichte ebensosehr zum Organon der Philosophie werden, wie es früher nur die Naturforschung gewesen ist, und wenn diese Einsicht vor hundert Jahren in dem deutschen Idealismus aus rein begrifflichen und zum Teil metaphysischen Motiven entwickelt worden ist, so zwingt uns heute der lebendige Zusammenhang, in welchem die Philosophie mit der Arbeit der besonderen Wissenschaften stehen soll, unausweichlich dazu, dies Prinzip wieder aufzunehmen und fortzuführen. Für die Weltansicht, die das ersehnte und geforderte Ziel der heutigen Philosophie sein soll, muß das Wertverständnis der Geschichte dieselbe fundamentale Bedeutung gewinnen, wie die Einsicht in die begrifflichen Grundlagen der Naturforschung. Es ist ein verbreiteter Einwurf gegen diese Auffassung, daß sie eine unberechtigte Vermenschlichung des Weltbildes enthalte. Von der theoretischen Betrachtung her ist es leicht, darauf hinzuweisen, welch eine verschwindend geringe | Bedeutung der Mensch mit allem seinem Fühlen und Wollen und allen Wertinhalten seines Gemütes in dem unendlichen Weltall besitzt, und man fragt wohl spottend, wie dieses Geschlecht, das in einem entlegenen Winkel des Universnms sein auf ein paar Jahrtausende oder auch Jahrzehn-
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tausende bestimmtes Geschick abspielt, sich herausnehmen dürfe, die Wertinhalte seines kleinen Lebens in das innere Wesen des unermeßlichen Ganzen zu verlegen. Indessen dürfen wir doch wohl uns darauf besinnen, daß die Vorstellung von der Natur als einem gesetzmäßigen Zusammenhange, worauf jener Einwurf schließlich beruht, selbst keineswegs als ursprünglich und selbstverständlich gegeben gelten darf, sondern vielmehr erst ein Erzeugnis der begrifflichen Vernunfterkenntnis ist, das in mühsamer Bewältigung der auf uns eindringenden Vorstellungen erzeugt worden ist: und wenn wir auf Grund dieser Erkenntnisse uns selbst in den unermeßlichen Zusammenhang des körperlichen Daseins eingestellt finden, so erleben wir in dem Ringen der Geschichte und in der Herausarbeitung unserer Lebensideale aus dem Wirrwarr der Leidenschaften unsere Einstellung in einen andern Zusammenhang, in den des geistigen Daseins, der ebenso unermeßlich ist und der über unsere empirische Existenz ebenso weit übergreift wie jener physische Zusammenhang. Wenn wir daher der Ordnung und Gesetzmäßigkeit, welche die sogenannte wertfreie Forschung aus dem Gewirr unserer Wahrnehmungen herauszupräparieren imstande ist, eine reale Geltung über die bloßen Formen unseres Intellektes hinaus zuschreiben dürfen, warum soll es uns verwehrt sein, zu glauben, daß auch jenen allgemeinen Werten, die aus unserer Geschichte sich herausgerungen haben, ebenso eine über die begrenzte Lebensform des Menschen hinaus geltende Realität zukommt? Die historische Erscheinung, die werthafte Weltansicht, hat bei der Befriedigung des metaphysischen Bedürfnisses gehört zu werden dasselbe Anrecht | wie die naturwissenschaftliche Erscheinung, die sich die wertfreie Weltansicht nennt. Von der einen wissen wir mit demselben Rechte und mit denselben Grenzen, wie von der andern. Wer sich diese Bedeutung und dies Verhältnis der beiden Weltordnungen, denen der Mensch sich eingestellt findet, zum vollen Bewußtsein gebracht hat, muß in der letzten Einheit, welche das Denken für beide verlangt, das höchste Problem der Philosophie finden, und so wird auch die Religionsphilosophie im Zusammenhange einer solchen Gestaltung des kritischen Denkens sich auf
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die Frage konzentrieren, wie die Welt der Gesetze und die Welt der Werte, das Reich des Müssens und das Reich des Sollens in einer höchsten geistigen Einheit verbunden sind. Das ist in den begrifflichen Zusammenhängen, die ich hier angedeutet habe, der Punkt, an welchem die philosophische Erkenntnis das letzte und unergründliche Geheimnis aller Wirklichkeit wie unseres persönlichen Lebens berührt. |
Über Denken und Nachdenken (Freiburger Antrittsrede. 1877)
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em scheinbar regellosen Verlaufe, mit welchem sich die Vorstellungen ohne unser Zutun, wie wir meinen, in uns abwechseln, setzt eine verbreitete und auch wissenschaftlich vielfach verwertete Ansicht das durch den Willen beherrschte, nach bewußten Absichten gestaltete Denken als ein wesentlich Verschiedenes gegenüber. Im ersten Falle scheint es, als spiele sich der ganze Vorstellungsmechanismus in dem leeren Raume unseres Bewußtseins nur wie ein zufällig hineingeratenes Getümmel selbständig ab; in dem anderen Falle glauben wir aus der Natur unseres Bewußtseins den Gedankengang als unseren eigenen zu erzeugen. Es ist für die psychologische Betrachtung und in gewissem Sinne auch für logische Theorien wichtig, darüber klar zu werden, ob dieser Unterschied zwischen dem unwillkürlichen und dem willkürlichen Denken wirklich von so prinzipieller Bedeutung ist, wie es danach erscheinen könnte, – ob der Einfluß des Willens in der Tat den Charakter unserer Denkbewegung in so entscheidender Weise verändert. Zweifellos ist zunächst die Tatsächlichkeit dieses Einflusses, den der bewußte Wille auf den Verlauf unserer Vorstellungsbewegung ausübt. Daß wir willkürlich unsere Aufmerksamkeit auf die Aufnahme bestimmter sinnlicher Wahrnehmungen richten und konzentrieren, – daß wir | willkürlich frühere Vorstellungen in unser Bewußtsein zurückrufen und, wie wir zu sagen pflegen, in dem Schatze unseres Gedächtnisses danach mit vollbewußter Absicht suchen, – daß wir im willkürlichen Nachdenken um mannigfacher Zwecke willen Aufmerksamkeit und Erinnerung dazu verwenden, Begriffe, Urteile und Schlüsse durch bewußte Absicht zu erzeugen: das sind so sehr einem jeden bekannte und so völlig unzweifelhafte Tatsachen, daß man nur darüber eigentlich sich verwundern sollte, weshalb das Problem, wie dieser Einfluß des
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bewußten Willens auf das Denken zu begreifen sei, sich bisher von den Psychologen verhältnismäßig nur sehr geringer und höchstens gelegentlicher und nebensächlicher Beachtung zu erfreuen gehabt hat. Vielleicht, weil sich die alte Erfahrung wiederholte, daß gerade das Geläufigste und Gewohnteste am spätesten die Aufmerksamkeit der erklärenden Wissenschaft auf sich zu ziehen pflegt, – vielleicht auch aus dem anderen Grunde, weil die Auffassung der älteren Psychologie dieses Problem mehr verdeckte, und weil die Erkenntnismittel, welche ihr zu Gebote standen, in der Tat zur Lösung dieser Aufgabe unzureichend waren. Diese ältere Psychologie hatte bekanntlich den leeren Raum des von ihr angenommenen »Seelenwesens« mit einer Reihe von metaphysischen Gespenstern bevölkert, welche sie »Vermögen« nannte und welche in Wahrheit nur Abstraktionsbegriffe aus der Gleichartigkeit psychischer Tatsachen waren. Da gab es ein Empfindungsvermögen, ein Gefühlsvermögen, ein Aufmerksamkeitsvermögen, ein Gedächtnisvermögen – und was weiß ich, was diese arme Seele noch alles für Vermögen haben sollte. Es ist aber diese Annahme selbständiger Seelenvermögen nicht weniger ungerechtfertigt und ungereimt, als wenn z. B. die Naturwissenschaft die Gravitationskraft oder die magnetische Kraft als selbständige Wesen betrachten wollte, während sie darin nur gesetzmäßige, d. h. allgemein sich gleich|bleibende Wirkungsweisen des körperlich Seienden sieht und sehen darf. Nachdem aber einmal durch jene mit Recht als »mythologisch« bezeichnete Operation die Seele in lauter selbständige kleine Seelchen gesplittert war, so fand man weiter kein Arg darin, das eine dieser Vermögen auf das andere einwirkend und den Gang von dessen Tätigkeiten modifizierend zu denken: und da unter diesen Seelenvermögen auch der Verstand als Denkvermögen und der Wille als Begehrungsvermögen figurierten, so ist es gar nicht verwunderlich, daß man auf das bezeichnete Problem sich nicht sonderlich viel eingelassen hat. Anders steht zu dieser Sache die neuere Psychologie. Sie muß zwar in ihrer Ausdrucksweise sich der von jener älteren Auffassung beherrschten Sprache akkommodieren und spricht, um nicht überall gar zu weitläufig zu werden, auch vom Willen und vom
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Verstande, als wären das solche abstrakten, selbständigen Dinge: aber das sind für sie eben nur bequeme Abkürzungen ihres Ausdrucks, und sie geht demgegenüber von der Ansicht aus, daß der Zusammenhang von Erfahrungstatsachen, welchen wir als unser Seelenleben bezeichnen, in der Bewegung einfacher und ursprünglicher Elemente besteht. Sie stellt sich deshalb die Doppelaufgabe, einerseits die Urtatsachen des psychischen Lebens in ihrem gesetzmäßigen Ursprunge festzustellen, andererseits diejenigen Formen aufzusuchen, in welchen sich nach festen Gesetzen diese einfachen Elemente zu den verwickelten Gebilden verknüpfen, die den unmittelbaren Gegenstand unserer inneren Erfahrung ausmachen. Erst vor dieser Auffassung der seelischen Vorgänge treten die wirklichen Schwierigkeiten der Probleme hervor; erst sie aber besitzt auch die Mittel, um deren Überwindung wenigstens anzubahnen. Von ihr fällt auch ein neues Licht über die Frage, »wie wir etwas denken können deshalb, weil wir es denken wollen«. Es ist eine unnötige Vermehrung jener Schwierig|keiten, welche man sich durch eine fast sophistische Wendung der Sache bereitet hat. Bewußte Absicht setzt im allgemeinen die Vorstellung des zu erreichenden Zieles voraus. Wer nun mit bewußter Absicht etwas denken will, der, hat man gesagt, muß doch schon wissen, was er denken will: d. h. er hat schon, was er will, und sein ganzes Denkenwollen ist vollständig unnütz. Der Sophismus dieser Argumentation ist so offenkundig und so leicht zu entwirren, daß er kaum hätte erwähnt werden sollen, wenn nicht in seiner Auflösung zugleich eine sehr wertvolle Mahnung für das philosophische Denken und ein fruchtbarer Ausgangspunkt für weitere Betrachtungen läge. Es ist nämlich ganz klar und einfach, daß zwar jenes »Etwas«, welches wir denken wollen, in dem Augenblicke des Wollens in der Tat selbst noch nicht bekannt sein darf, daß dagegen die Beziehungen bekannt sein müssen, in welchen dies unbekannte »Etwas« zu anderen bekannten Vorstellungen steht, – mit anderen Worten, daß es gesucht wird nur vermöge der Stellung, die es in dem sonstigen Systeme der Vorstellungen entweder schon einnimmt oder einnehmen soll. Ebenso wie wir in der Rechnung jedes x nur bestimmen können, insofern es in be-
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kannten funktionellen Verhältnissen zu bekannten Größen steht, so kann auch in allen unseren Gedanken Unbekanntes nur von Bekanntem aus gesucht werden. Es liegt im Begriffe des Suchens, des bewußten Findenwollens, daß man mit einer Anzahl bekannter Vorstellungselemente ein bisher Unbekanntes zu bestimmen hat: ins Blaue hinein kann niemand nachdenken, – wenn auch nicht zu leugnen ist, daß mancher beim Nachdenken ins Blaue hineingerät. Bei allem durch bewußte Absicht vollzogenen Denken liegen somit die Motive sowohl als auch die Ansatzpunkte in dem schon vorliegenden Denkstoffe, mit welchem das Gesuchte in bekannten Beziehungen stehen soll. Ein sog. »beziehungsloser Gedanke« kann durch absichtliches Nach|denken gar niemals gewonnen werden, und es war eine verhängnisvolle Täuschung, wenn in der Geschichte der Philosophie hin und wieder Versuche gemacht worden sind, das Denken sozusagen ab ovo zu beginnen und einen »voraussetzungslosen« Anfang des Philosophierens zu finden. Ein solcher kann nie aus bewußtem Nachdenken, sondern nur aus »mystischer Eingebung« stammen – einem Vorzuge, der manchem Philosophen vielleicht als Menschen, jedenfalls aber nicht in seiner Eigenschaft als Philosoph zuteil werden mag. Alles Nachdenken ist seinem Wesen nach voraussetzungsvoll; es gibt in ihm keinen einfachen Punkt, der, an sich selbst gewiß, der Träger aller übrigen Gewißheit wäre. Die menschliche Erkenntnis besteht vielmehr in letzter Instanz aus einem System von Gedanken, welche, von den verschiedensten Ansatzpunkten aus erwachsen, sich mit ihrer Überzeugungskraft gegenseitig stützen und tragen, und die letzte Gewißheit besteht für jeden einzelnen nur in der widerspruchslosen Übereinstimmung, mit der er sich dem Zusammenhange des Ganzen einfügt. Das Denkenwollen setzt somit überall den Tatbestand des unwillkürlichen Denkens voraus; es ist erst da möglich, wo schon ein nach mannigfachen Beziehungen geordnetes System von Vorstellungen, d. h. also ein relativ entwickelter psychischer Organismus, vorliegt. Die Erfahrung der Kinderstube bestätigt diese Folgerung. Die willkürliche Aufmerksamkeit, das »Aufpassen« von innen heraus, tritt erst ein, wenn eine Reihe von Erfahrungen gemacht
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worden sind und sich festgesetzt haben; und die ersten Spuren absichtlichen Nachdenkens sind bekanntlich noch viel späteren Datums. Jedenfalls also bildet das unwillkürliche Denken die Grundlage des willkürlichen; es enthält teils die Veranlassung des letzteren, teils bietet es die Mittel, wodurch jenes seine Absicht erfüllt. Allein die Einsicht dieser unumgänglichen Bedingung | lehrt noch nichts über die Art und Weise, wie es der bewußte Wille fertig bekommt, den Gang der Vorstellungsbewegung nach seinen Absichten zu bestimmen und zu beherrschen. Diesen Kern des Problems haben die Psychologen meistens mit einer nichtssagenden Parallele umgangen. Wir müssen dabei die Versicherung hinnehmen, das Verständnis dieses Vorganges sei uns ebenso verschlossen, wie dasjenige der ähnlichen Beziehung, vermöge deren der bewußte Wille die Glieder unseres Leibes seinen Absichten gemäß in Bewegung setzt. In beiden Fällen bediene sich der Wille zur Erreichung seiner Zwecke eines teils in Form natürlicher Vorrichtung vorgefundenen, teils durch die Gewöhnung früherer Tätigkeiten eingeübten Mechanismus: hier sei es der physiologische Mechanismus der Auslösung von Nervenerregungen, dort der psychologische Mechanismus von Vorstellungsbewegungen. Wie aber die Benutzung des Mechanismus herbeigeführt werde, davon wisse der Wille selbst in dem einen Falle so wenig wie in dem anderen, und das bleibe auch für die wissenschaftliche Forschung ein undurchdringliches Geheimnis. Der Vergleich liegt nahe, und doch hinkt er mehr, als es sonst wohl Vergleichen gestattet ist. Das freilich läßt sich nicht bestreiten, daß das natürliche Bewußtsein, wenn es dort die Glieder des Leibes, hier die Gedanken in Bewegung setzt, in beiden Fällen gleich wenig von dem dabei benutzten Mechanismus wie von der Art dieser Benutzung weiß. Wir wissen weder, wie wir es machen, um unseren Arm auszustrecken, noch was wir eigentlich anstellen, wenn wir uns auf einen entfallenen Namen besinnen. Für die wissenschaftliche Erklärung aber zeigt sich sogleich ein sehr wichtiger Unterschied beider Vorgänge. Alle Erkenntnis nämlich des physiologischen Mechanismus, der in dem einen Falle spielt
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und der die Bewegung der peripherischen Organe von gewissen Erregungen zentraler Nervenkomplexe abhängig zeigt, läßt uns auch nicht im | geringsten die Beziehung begreifen, in welcher eben diese anfängliche Erregung der Gehirnganglien zu der bewußten Absicht steht, die wir als erste Ursache der Leibesbewegung anzusehen gewöhnt sind. In diesem Falle ist also die Einsicht in das Wesen des vom Willen benutzten Mechanismus auch nicht im entferntesten mit derjenigen in die Form und die Möglichkeit dieser Benutzung verbunden. Unser Wille scheint dabei auf einem unendlich kompliziert gebauten Instrumente zu spielen; wir vermögen eine annähernde Erkenntnis der Einrichtung dieses Instrumentes und der in ihm stattfindenden Übertragungsvorgänge zu gewinnen, mittelst deren aus anfänglichen zentralen Erregungen kräftige Bewegungserscheinungen in der Peripherie resultieren. Aber ob überhaupt und wie der innere Zustand, welchen wir als bewußte Absicht bezeichnen, jene erste Erregung hervorrufen, wie der Wille auf diesem Instrumente spielen kann, – das begreifen wir nicht. Der Grund davon ist der, daß wir in dieser Benutzung des Leibes durch den Willen eine Art jener Übertragung der psychischen Tätigkeit in die physische Welt vor uns haben, welche bisher überhaupt jeder menschlichen Erklärungsfähigkeit spottet. So mannigfach auch die Theorien sind, welche im Verlaufe der Geschichte der Wissenschaften über das Verhältnis leiblicher und seelischer Funktionen aufgestellt worden sind, – keine genügt bisher völlig, und keine von allen vermag die fortwährend sich vollziehende Verwandlung der einen in die anderen, selbst unter dem Gesichtspunkte, daß sie nur scheinbar stattfinden sollte, zu erklären. Diese Übertragung liegt nun aber in dem anderen Falle, demjenigen der Benutzung des Vorstellungsmechanismus durch den Willen, nicht vor; hier ist es die psychische Funktion der bewußten Absicht, welche sich zu ihrer Realisierung eines gleichfalls psychischen Mechanismus bedient; hier ist also jene Kluft, die im anderen Falle den Abschluß der Erklärung verhindert, | nicht zu fürchten, sondern es steht vielmehr zu hoffen, daß die volle Einsicht in das Wesen des Vorstellungsmechanismus uns auch die Möglichkeit seiner Beeinflussung durch den bewußten Willen begreiflich machen wird.
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Es ist deshalb nötig, wenigstens in allgemeinen Umrissen das Bild dieses Vorstellungsmechanismus vorzuführen, in welchen nach der gewöhnlichen Ansicht der bewußte Wille hie und da bestimmend eingreift. Dies »unbeherrschte Spiel des Vorstellungsverlaufes« setzt sich aus zwei verschiedenen Bestandteilen zusammen. Einerseits nämlich strömen beharrlich von der Außenwelt her durch die Sinneseindrücke neue Vorstellungen in unser Inneres ein, andererseits findet zwischen diesen neuen Elementen und den aus der Erinnerung aufsteigenden älteren Vorstellungen eine ununterbrochene Bewegung statt. Die Reihenfolge jener sinnlichen Eindrücke hängt selbstverständlich im allgemeinen von dem Zustande unseres physischen Organismus und seinen Verhältnissen zu den bewegten Körpern seiner Umgebung ab: diese rein innerliche Bewegung dagegen unterliegt den psychologischen Gesetzen, welche als diejenigen der Assoziation bekannt sind. Denn der Vorgang der Reproduktion ist überall von den Verhältnissen der Assoziation abhängig. Ohne in eine genaue Entwicklung der teilweise noch immer streitigen Theorie einzugehen, lassen sich doch die Grundformen der Assoziation leicht und sicher aufweisen. Das Verwachsen der Vorstellungen zeigt sich teils durch die Verhältnisse ihres Inhaltes, teils durch die Art ihres Auftretens in dem einzelnen Bewußtsein bedingt. Vorstellungen, welche gleichzeitig oder in unmittelbarer Sukzession in dasselbe Bewußtsein getreten sind und sich darin »berühren«, pflegen sich gegenseitig zu reproduzieren, und zwar um so sicherer, je häufiger vorher diese Gemeinsamkeit ihres Bewußtwerdens stattgefunden hat. Auf der andern Seite weiß jeder, daß Ähnlichkeiten und Verwandtschaften, daß | gedankliche Beziehungen allerlei Art diejenige Verknüpfung von Vorstellungen herbeiführen, vermöge deren die eine die andere nach sich in das Bewußtsein hineinzuziehen bestrebt ist. Das erstere kann man als subjektive, das letztere als objektive Assoziation bezeichnen. Schon aus diesem flüchtigen Blicke auf die der allgemeinen Erfahrung geläufigen Formen der Assoziation kann man abnehmen, worauf es hier allein ankommt, daß nämlich im entwickelten psychischen Organismus jede Vorstellung sich mit einer großen Anzahl anderer im Zustande mehr oder minder fester
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Assoziation befindet, sodaß bei dem Neueintritt jener ersten alle die anderen gleichfalls in das Bewußtsein zurückzukehren streben. Nun ist aber unser Bewußtsein ein verhältnismäßig nur sehr enger Raum, in welchem jeden Augenblick nur eine höchst beschränkte Anzahl von Vorstellungen nebeneinander Platz haben, und da somit von den zahlreichen Vorstellungen, die von einer gegebenen Vorstellung aus den Assoziationsgesetzen gemäß reproduziert zu werden vermöchten, immer nur einige, gewöhnlich sogar zunächst nur eine wirklich bewußt werden kann, so entsteht eine Art von Wettstreit zwischen allen diesen Vorstellungen, und es fragt sich, ob wir imstande sind, vorauszusagen, welche darin den Sieg davontragen und das Bewußtsein für sich erobern wird. Allein damit ist es noch nicht abgetan. Denn diese Konkurrenz der reproduzierbaren Vorstellungen würde allein in Betracht kommen nur in dem Falle, wo das Bewußtsein von den Eindrücken der Außenwelt total isoliert wäre und dann also nur aus seinem bisherigen Besitzstande die Gedankenkette der Erinnerungen fortspänne. Dieser Zustand ist (innerhalb des unwillkürlichen Denkens, mit dem wir es ja hier zunächst zu tun haben) höchstens annähernd im Traum des tiefen Schlafs vorhanden, und nur in ihm folgt daher die Vorstellungsbewegung bedingungslos den Assoziationsgesetzen. Im | wachen Zustande dagegen greifen bekanntlich in diese Reproduktionsbewegung fortwährend die neu erregten Sinneseindrücke ein, indem sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und damit von den durch Assoziation zu reproduzierenden Vorstellungen ablenken. Aber auch diese Sinneswahrnehmungen stehen fortwährend nicht nur auf diese Weise mit den Assoziationsvorstellungen, sondern auch untereinander in einem Wettstreit um das Bewußtsein. Auf jeden unserer Sinne werden von der umgebenden Welt in ununterbrochenem Wechsel Reize ausgeübt: Lichtwellen, Schallwellen, Wärmeschwingungen usw. treffen fortwährend auf die Endigungen unseres Nervensystems, und jeder dieser Reize kann unter geeigneten Bedingungen eine bewußte Empfindung hervorbringen. So wird, wenn man sich bildlich ausdrücken darf, jener enge Raum unseres Bewußtseins teils von innen teils von außen her in jedem Momente von zahllosen Vorstellungsreizen bestürmt,
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von denen in abstracto jeder die Fähigkeit des Bewußtwerdens besitzt, in concreto aber immer nur äußerst wenige, meistens nur einer wirklich bewußt werden kann. Auch dieser Gesamtzustand des unwillkürlichen Denkens ist freilich bei dem entwickelten Menschen selten rein und in längerer Ausdehnung zu beobachten. Das Bedürfnis des praktischen Lebens und die leicht sich einstellende Erregung bewußter Absichten durchkreuzen ihn, wenn er eingetreten ist, gewöhnlich sehr bald wieder, und so vielfach dieser unwillkürliche Gedankenabfluß in uns stattfindet, so selten ist doch für längere Zeit der völlige Ausschluß des bewußten Denkenwollens. Es sind hauptsächlich die Zustände des träumenden Wachens oder wachen Traumes, in denen dies unbeherrschte Spiel des psychischen Mechanismus sich in uns entfaltet, wenn wir in behaglicher, absichtsloser Stimmung uns ganz dem Ablauf unserer Gedanken überlassen. Da fällt uns bei dieser | oder jener Wahrnehmung mancherlei aus alten Erlebnissen ein, Erinnerung spinnt sich an Erinnerung, wir kommen »vom Hundertsten ins Tausendste«, bis eine neue Wahrnehmung, etwas, das wir sehen oder hören, uns in Anspruch nimmt und der Ausgangspunkt eines neuen Gedankenspiels wird, welches dann ähnlich zugunsten eines dritten endet, u. s. f. Die schwierige Aufgabe einer Theorie des unwillkürlichen Vorstellungsverlaufs ginge nun dahin, die statischen Verhältnisse zu bestimmen, in denen die Entscheidung des Bewußtseins zwischen der Masse der sich ihm in jedem Augenblicke aufdrängenden Vorstellungen sich vollzieht. In besonderen Verhältnissen scheint das nicht allzu schwer. Was zunächst den Wettstreit der verschiedenen Sinneseindrücke untereinander betrifft, so wissen wir alle, daß bei Ausschluß anderer Bedingungen die Aufmerksamkeit sich jedesmal dem stärksten Eindruck zuwendet. Und da die Stärke des Eindrucks derjenigen des äußeren Reizes zwar nicht direkt, aber doch in dem bekannten logarithmischen Verhältnis proportional gilt, so können wir für den Fall, daß dieses Prinzip das allein bestimmende ist, aus der Kenntnis der verschiedenen Reizstärken die Richtung, welche das Bewußtsein nehmen wird, voraussagen. Freilich ist das zunächst nur bei Eindrücken eines und desselben Sinnes direkt
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anwendbar: wie stark dagegen z. B. ein Ton sein muß, um das Bewußtsein von einer bestimmten Intensität des Lichteindrucks abzulenken, würde schon sehr viel schwieriger zu bestimmen sein; hauptsächlich deshalb, weil hier nie die reinen Intensitätsverhältnisse unabhängig von Assoziationsvorstellungen in der Erfahrung darstellbar sein würden. Man bedürfte dazu vermutlich einer ganz genauen Kenntnis des Äquivalents von Nervenerregung, welches jedem der beiden an sich unvergleichlichen Reize entspricht. Allein diese psychophysischen Fragen erscheinen leicht | und einfach gegenüber der viel verwickelteren Mannigfaltigkeit der rein psychischen Kreuzungen. Denn da hier vermöge der großen Anzahl von Assoziationen, in welchen sich bei dem entwickelten psychischen Organismus jede Vorstellung befindet, von derselben einzelnen aus sehr viele Wege der Reproduktion offen stehen, so erscheint der gewöhnlichen Auffassung der tatsächliche Gang, den das Bewußtsein seiner Enge wegen natürlich immer nur in einer bestimmten Richtung nehmen kann, als durchaus zufällig, launenhaft und unberechenbar. In der gegenteiligen Überzeugung, daß auch hier feste Gesetze walten, wird die Psychologie dadurch befestigt, daß sie in diesem Dunkel doch wenigstens hie und da Licht zu sehen vermag. Zunächst läßt uns der Umstand, daß fast alle Vorstellungen zusammengesetzten Inhalts sind, eine Erklärung für die verschiedene Festigkeit und Haltbarkeit der Assoziationen finden. Je größer nämlich die Anzahl der Elemente ist, welche zwei Vorstellungen gemeinsam haben, um so lebhafter wird sich auch die Bindekraft der Assoziation zwischen ihnen betätigen, und wir werden daher – ceteris paribus – den Vorstellungsmechanismus immer die Richtung nach der am meisten verwandten Vorstellung einschlagen sehen. Weiterhin zeigt sich ein bemerkenswerter Unterschied zwischen den verschiedenen psychischen Organisationen. Bei unbefangenen, natürlichen Menschen, bei Kindern und Ungebildeten, werden diejenigen Assoziationen die häufiger bevorzugten sein, welche durch gleichzeitige Sinneswahrnehmung hervorgerufen oder in sinnlich anschaulicher Weise vermittelt sind; bei dem mehr geistig lebenden Menschen liegen dagegen diejenigen Reproduktionen am nächsten, in welchen gedankliche Bezie-
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hungen das Bindeglied bilden. Das gilt so im allgemeinen; doch entziehen sich ihrem Wesen nach alle diese Verhältnisse durchaus einer genauen und für die Erklärung des einzelnen Falles sicher genügenden Analyse, und auch die | statistischen Methoden der sog. experimentellen Psychologie führen darin nicht weiter. Am ungünstigsten endlich steht es mit unserer Einsicht in diejenigen Verhältnisse, nach denen die neu erregten sinnlichen Eindrücke von den rein innerlichen Bewegungen des Denkens und umgekehrt diese von jenen die Aufmerksamkeit abzulenken vermögen. Zwar wird die Psychologie auch hier aus der allgemeinen Erfahrung die Tatsachen registrieren dürfen, daß unter gewöhnlichen Umständen schwache und gewohnte Sinneseindrücke keinen oder wenigstens keinen merklichen Einfluß auf die innerliche Vorstellungsbewegung ausüben, daß dagegen starke und ungewohnte Eindrücke sofort jenes innere Spiel der Gedanken über den Haufen zu werfen geeignet sind. Allein von irgendeiner gesetzmäßigen Bestimmung der relativen Stärkegrade, bei welchen das eine oder das andere eintritt, sind wir sehr weit entfernt und werden es aus prinzipiellen Gründen wohl immer bleiben. Um so günstiger und wertvoller ist es, daß allen diesen unsicheren Verhältnissen gegenüber mit voller Klarheit und Sicherheit eine andere Grundtatsache aufgestellt werden kann, welche zu ihnen allen sich in einem gewissen Gegensatze befindet. Alle die soeben skizzierten allgemeinen Regeln erleiden nämlich sofort eine Ausnahme, sobald eine der für das Bewußtsein möglichen Vorstellungen ein besonderes Interesse oder ein lebhaftes Gefühl erweckt. Aller Lärm der umgebenden Welt ist ohnmächtig gegen einen leisen Laut, der die Saiten unseres fühlenden Innern in Mitschwingung zu setzen vermag; keine Festigkeit der Vorstellungsassoziation hält stand vor dem Einflusse des Interesses, welches uns von einer Vorstellung zu einer anderen damit vielleicht nur ganz lose zusammenhängenden überzugehen nur deshalb veranlaßt, weil an diesem Punkte sich die größte Lebhaftigkeit unserer Gefühle entfaltet; auch der festest geknüpfte Faden unseres Phantasiespieles | reißt ab, sobald in einem, wenn auch nur ganz schwachen Sinneseindruck unser persönliches Gefühl rege wird; und ande-
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rerseits hindern selbst mächtige Wirkungen der Außenwelt die unwillkürliche Fortspinnung unserer Gedanken nicht, wenn diese nur mit unserem Interesse verknüpft ist. So unbestimmt und allgemein gehalten auch diese Beobachtungen an sich sein mögen, so genügen sie doch völlig zur Begründung des Satzes, daß der bisher betrachtete Verlauf des sich selbst überlassenen Vorstellungsmechanismus in jedem Augenblicke durch den Einfluß der Gefühle gestört und in andere Bahnen gelenkt werden kann, als er ohne sie verfolgt haben würde. Diese Einsicht in die von den Gefühlen ausgehende Beeinflussung des unwillkürlichen Vorstellungsverlaufs nimmt nun aber eine überraschende Tragweite an, sobald wir eine andere Lehre in Betracht ziehen, welche eine der glücklichsten Errungenschaften der neueren Psychologie ist, – diejenige von der »Allgegenwart der Gefühle«. Je schärfer man nämlich in die Analyse des seelischen Lebens eingedrungen ist, um so näher ist man der Erkenntnis der Grundtatsache gerückt, daß es keinen Vorstellungszustand gibt, der nicht in einer, sei es auch noch so schwachen Weise mit einer Gefühlserregung verknüpft wäre. Von den Sinnesempfindungen an, unter denen keine einzige ohne einen gewissen Gefühlston ist, der freilich bei der einen deutlicher hervortritt als bei der anderen, bis hinauf zu den höchsten und besten Erzeugnissen des denkenden Geistes sind alle unsere Vorstellungen auf das innigste mit Gefühlen verwoben, welche bei ihrer Reproduktion sogleich wieder in Wirksamkeit zu treten geneigt sind. Jede Vorstellung steht in einem gewissen Verhältnis zu dem ganzen psychischen System, in welchem sie auftritt, und eben dieses Verhältnis findet in dem sie begleitenden Gefühle seinen Ausdruck. Ist aber diese Allgegenwart der Gefühle eine Tatsache, so findet jene Störung der rein | theoretischen Assoziationsvorgänge, welche wir aus besonders in die Augen fallenden Tatsachen erschließen konnten, fortwährend statt, und jene Assoziationsgesetze, für deren Geltung deshalb auch oben stets der »Ausschluß anderer Bedingungen« in Anspruch genommen werden mußte, haben sich uns nur durch besonders günstige Fälle zu erkennen gegeben, in welchen der Einfluß der Gefühle verhältnismäßig gering
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oder gleichmäßig verteilt war und deshalb vernachlässigt werden durfte. Diese Mitwirkung der Gefühle ist es nun in der Tat, welche das Geheimnis der Launenhaftigkeit und Unberechenbarkeit des unwillkürlichen Vorstellungsverlaufs enthüllt. Wären wir nur vorstellende Wesen, so könnte unser Bewußtsein in jedem Augenblicke nur einerseits der stärksten Sinneseinwirkung, andererseits der festesten Vorstellungsassoziation folgen – wie es sich freilich mit der Wahl zwischen beiden dann abfinden sollte, wäre vollkommen unerfindlich. So aber, auf Grund der Allgegenwart der Gefühle, können wir es als allgemeines Gesetz aufstellen, daß das Bewußtsein in jedem Augenblicke diejenige Vorstellung ergreift, welche unter den von innen wie den von außen erregten das lebhafteste Gefühl mit sich führt. Ja, es scheint sogar der Versuch nahe gelegt, dem Gedanken nachzugehen, ob nicht jene oben aus der Erfahrung entwickelten Gesetze der scheinbar rein theoretischen Aufmerksamkeit sich zuletzt aus diesem obersten Grundgesetze ableitbar erweisen. Wenn die physiologische Psychologie nachweist, daß der mit einer Sinnesempfindung verbundene Gefühlston stets in Beziehung zu der Intensität der entsprechenden Empfindung steht, so begreift sich eben vermöge dieses Grundgesetzes, weshalb die Bewußtwerdung der Sinneseindrücke von ihrer relativen Stärke abhängt, sowohl, wenn sie miteinander, als wenn sie mit Assoziationsvorstellungen konkurrieren. Daß ferner überhaupt zwischen | dem Sinneseindruck auf der einen Seite und der assoziativen Reproduktion auf der anderen Seite ein Wettstreit stattfindet, ist nur unter der Voraussetzung eines vergleichbaren Intensitätsgrades beider Elemente zu begreifen. Und seitdem man sich1 überzeugt hat, daß die Meinung von einer verschiedenen Intensität der Vorstellungstätigkeit als solcher irrig ist, bleibt nichts übrig, als diese Kraft, mit der sich die Vorstellungen bei ihrem Wettstreite messen, in den sie begleitenden Gefühlen zu suchen. Was endlich die andere 1 Durch Lotzes glänzende Beweisführung im »Mikrokosmus« Bd. I 2. Aufl. pag. 227 ff.
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Tatsache anlangt, daß Vorstellungen sich um so leichter gegenseitig reproduzieren, je mehr sie gemeinsamen oder aufeinander bezogenen Inhalt haben, so wird das so zu begreifen sein, daß der letzte Grund für die Assoziation gleicher oder ähnlicher Vorstellungen in der Verwandtschaft der mit ihnen verwachsenen Gefühle besteht. Diese Grundform der Assoziation tritt sogar direkt als Erfahrungstatsache hervor, und sie wurde in der obigen Aufzählung der Assoziationsgesetze nur deshalb übergangen, weil es sich dort nur um die scheinbar rein theoretischen Verknüpfungen handelte. In der Tat aber ist es eine der wichtigsten und häufigsten Formen der Assoziation, daß zwischen an sich völlig disparaten Vorstellungen lediglich die Gleichheit oder Verwandtschaft der mit ihnen verwachsenen Gefühle als Bindemittel auftritt. Vielleicht ist die Berührungsassoziation, die Verbindung des gleichzeitig im Bewußtsein Auftretenden, in dieser Weise durch die Mitwirkung des sog. Allgemeingefühls zu erklären; aber auch sonst sind die Beispiele dafür sehr häufig, und es spielt diese Art der Assoziation namentlich bei Übertragungen von Vorstellungen und Bezeichnungen aus einem Gebiete in ein anderes eine große Rolle. Wenn wir von der Wärme eines Farbentones sprechen, so sind in diesem Ausdrucke | die spezifischen Vorstellungen dreier Sinnessphären verbunden, welche keine Spur von Empfindungsinhalt gemein haben und zwischen denen daher nur die Analogie der Gefühlswirkung vermitteln konnte. Hiernach nimmt nun aber das Bild jenes unwillkürlichen Vorstellungsverlaufs eine wesentlich andere Gestalt an. Glaubten wir anfangs einen selbständigen Abfluß der Vorstellungen vor uns zu sehen, so zeigt sich jetzt, daß als die wahren Leiter dieser Bewegung die Gefühle dahinter stehen und daß wir dabei nicht so uninteressiert sind, wie wir uns einbilden. Denn die Gefühle treten eben dabei durchaus nicht immer selbst in das Bewußtsein, sondern sie schieben sozusagen die Vorstellungen, an denen sie sich erregen, vor. Daraus erkennen wir, daß unsere Vorstellungen den Kampf um den engen Bewußtseinsraum, der jeden Augenblick neu zwischen ihnen entbrennt, nicht mit den eigenen, sondern mit geborgten Waffen, mit denjenigen der ihnen angeschmolze-
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nen Gefühle auskämpfen. In dem Turniere des Seelenlebens sind die Vorstellungen nur die Masken, hinter denen sich die wahren Streiter, die Gefühle, vor dem Auge des Bewußtseins verbergen. Was ist denn aber dies Interesse, was sind diese Gefühle, deren Einfluß in dem wirklichen Gange unserer Vorstellungen so unverkennbar die Hauptrolle spielt? Sie alle sind nichts anderes als Formen und Erregungsweisen des unbewußten Willens. Es geschieht nicht ohne Beklemmnis, daß ich mich damit eines Ausdrucks bediene, der in unserer Zeit mit Recht als verdächtig gilt. Treibt doch mit diesem Worte eine Popularphilosophie unserer Tage ihr Unwesen, indem sie alle unverstandene Weisheit der Dinge flugs, daß man ihres Begreifens enthoben sei, in die unnahbare Region des »Unbewußten« verweist. Allein dieser metaphysische Mißbrauch, der mit dem Worte getrieben wird, darf uns an dem Begriffe nicht irre machen und berührt in keiner Weise eine Einsicht, welche die | Psychologie schon seit mehr als einem Jahrhundert gesichert hat, diejenige nämlich, daß der gesamte Untergrund unseres seelischen Lebens, dessen Spitzen nur in stetig wechselnder Gruppierung vom Bewußtsein beleuchtet werden, in unbewußten Vorgängen besteht, von deren Verhältnissen allein der jedesmalige Inhalt des Bewußtseins abhängt. Unwahrnehmbar, wie diese unbewußten Vorgänge ihrem Begriffe nach sind, können sie nur ihrer Tatsächlichkeit nach erschlossen werden aus den Bestimmungen, welche sie auf das Bewußtsein ausüben, und unser Wissen von ihnen ist daher notwendig auf diese Beziehungen beschränkt. Ohne ihr Wesen an sich unmittelbar zu kennen, ohne vor allem ihre Beziehung zu den leiblichen Vorgängen von vornherein zu bestimmen, vermögen wir daher diese unbewußten Zustände nur durch diejenigen bewußten Funktionen zu bezeichnen, deren Grundlage sie bilden, und man sollte immer vorsichtig genug bleiben, nicht zu vergessen, daß »unbewußte Vorstellung«, »unbewußtes Gefühl«, »unbewußter Trieb« nur einen uns an sich unbekannten, aber auf Grund einer Anzahl von Tatsachen notwendig anzunehmenden psychischen Zustand bedeutet, welcher, wenn er bewußt wird, als Vorstellung, Gefühl, Trieb oder Wille erscheint. In zwei Richtungen nur darf diese Annahme als wahrscheinlich gelten: einerseits
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sind es die elementaren Inhaltsbestimmungen des Seelenlebens, die mit dem Körper in unmittelbarem Zusammenhange stehenden Funktionen von Empfindungen, Trieben und Gefühlen, denen offenbar solche unbewußte Zustände zukommen: andererseits bestehen die unbewußten Vorgänge in den erinnerungsfähigen Vorstellungsinhalten, und zwar nicht nur in dem »Behalten« der einfachen Elemente, sondern besonders auch in der Aufbewahrung der vom Bewußtsein zwischen diesen Elementen erzeugten Verbindungen. In psychologischer Beziehung besteht der oben erwähnte Mißbrauch | der Hypothese des Unbewußten in der auf keine Weise zu erhärtenden Annahme, daß jene Elemente auch ohne die Mitwirkung des Bewußtseins miteinander alle diejenigen Verbindungen neu einzugehen vermögen, welche in der Tat nur durch das Bewußtsein selbst vollzogen werden können. Insonderheit aber gilt es von den Gefühlen, daß sie in ihrer ganzen Ausdehnung und deshalb auch in der Einwirkung, welche sie auf den Vorstellungsverlauf ausüben, durch die Regungen des unbewußten Willens, welche wir am besten Triebe nennen, bedingt sind. Denn die Gefühle sind eben nichts anderes als das Mittelglied, vermöge dessen wir von unserem eigenen an sich unbewußten Willen überhaupt etwas erfahren.2 Von allen in unserm leiblichen Organismus angelegten Trieben würden wir nichts wissen, wenn nicht ihre Befriedigung oder Nichtbefriedigung durch die Bewußtwerdung von Gefühlen der Lust oder Unlust sich uns bemerklich machte. Diese Gefühle aber sind so wenig durch Vorstellungen vermittelt, daß der Zusammenhang, welcher zwischen einem bestimmten Gefühl und der Befriedigung eines bestimmten Triebes besteht, uns durchaus nicht ursprünglich bekannt ist, sondern erst durch Erfahrung gelernt sein will; daher denn auch erst durch solche Erfahrung ein Suchen nach den Mitteln zur Aufhebung eines bestehenden Unlustgefühls möglich wird. Infolgedessen kann es geschehen, daß, ehe diese Erfahrung gemacht ist, das Unlustgefühl sich irrtümlicherweise mit der Vorstellung eines anderen Triebes 2 Diese Verhältnisse sind am besten von Göring, System der kritischen Philosophie, I p. 60 ff, behandelt worden.
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verknüpft und so eine Täuschung des Individuums über seinen eigenen Willen herbeiführt. Diese wichtige und von den Psychologen noch immer nicht hinreichend gewürdigte Tatsache, daß wir über unseren eigenen Willen im Irrtum sein und deshalb bei Eintritt eines erwarteten | Ereignisses zu unserm großen Erstaunen von einem ganz anderen Gefühl als dem vorausgesehenen, ergriffen werden können, diese Tatsache spricht ganz entscheidend für den an sich unbewußten Charakter des Willens. Ist dem aber so, so ist es auch geradezu nur ein anderer Ausdruck für die oben gewonnene Einsicht in die durchgängige Abhängigkeit des Vorstellungsverlaufs von der Einwirkung der Gefühle, wenn wir behaupten, daß schon der sog. unwillkürliche Vorstellungsmechanismus in allen Wendungen, welche er wirklich nimmt, wesentlich bestimmt ist durch die Tätigkeit des Willens. Es wird niemandem entgehen, daß dieser Ansicht der Sache unter den neueren Systemen der Philosophie das schopenhauersche am nächsten steht. Schopenhauer selbst hat diese anthropologische Seite seiner metaphysischen Prinzipien nur ganz im allgemeinen und ohne speziellere Durchführung ausgesprochen.3 Es muß deshalb hervorgehoben werden, daß die hier angestellte rein empirisch-psychologische Untersuchung gänzlich unabhängig ist von jener Metaphysik, aus welcher ihr Resultat sich als scheinbare Folgerung ergeben könnte, und welche in nichts anderem besteht, als in der metaphysischen Verallgemeinerung einer psychologischen Ansicht. Daß die gesamte vorgestellte Welt nur die Erscheinung des Willens als Ding-an-sich sei, ist jedoch eine metaphysische Wendung, welche nicht einmal ihrem Urbilde, jener psychologischen Erkenntnis, entspricht: denn nicht als Erscheinung des Willens zeigt sich uns der Vorstellungsverlauf, sondern vielmehr als ein Eigentümliches, in dessen Bewegung sich nur der Wille als bestimmende Macht betätigt. 3 Göring hat (a. a. O. 53) sehr richtig auf den Widerspruch hingewiesen, worin Schopenhauers anderweitig begründete Lehre von der »Objektivität« der Gesichtswahrnehmungen mit seiner allgemeinen psychologischen Theorie steht.
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Will man aber durchaus überall historische An|knüpfungen, so sei bei dieser Gelegenheit die auch für manche andere brennenden Fragen des philosophischen und des psychologischen Forschens zutreffende Bemerkung nicht verschwiegen, daß in der deutschen Philosophie diese den früheren Auffassungen diametral entgegengesetzte Lehre von der Herrschaft des an sich unbewußten Willens über die Vorstellungen ihren Ursprung in Fichte hat, dessen gewaltige Gedankenarbeit, wie sie den Ausgangspunkt für die Systeme der Identitätsphilosophen Schelling und Hegel und andererseits Herbarts bildet, so auch das Original ist, welches, wenn auch in mannigfachen Verzerrungen, doch dem Kundigen unverkennbar, der Lehre Schopenhauers zugrunde liegt. Was jedoch die Tatsache selbst anbetrifft, so liefert sowohl die tägliche Erfahrung als auch die gesamte Geschichte des menschlichen Denkens in großen Zügen das vollgültigste Zeugnis dafür. Unwillkürlich gestalten sich allüberall unsere Gedanken nach unseren Bedürfnissen, ohne daß uns diese selbst dabei jedesmal zum Bewußtsein kommen. Das tritt zunächst am klarsten hervor, wenn man die Vorstellungswelt des Kindes ins Auge faßt, in welcher lange Zeit nur diejenigen Vorstellungen sich festzusetzen vermögen, die in irgend einer fördernden oder hemmenden Beziehung zu den in dieser Zeit noch rein leiblichen Bedürfnissen stehen; und da alle fernere Entwicklung auf diesen Anfängen fußt, so ist sie schon aus diesem Grunde vom unbewußten Willen von vornherein abhängig. Aber auch der entwickeltere Mensch steht bekanntlich mit seiner Gedankenbewegung unter der Herrschaft desjenigen Gesamtgefühls, welches man Stimmung nennt, und wenn das nicht der Fall ist, interessieren ihn zunächst doch immer, auch ohne daß er sie sucht, am meisten diejenigen Wahrnehmungen und Gedanken, welche sich innerhalb des Vorstellungskreises seines Berufs, seiner Tätigkeit, seiner persönlichen Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen be|wegen. Und was so für den einzelnen gilt, entfaltet sich auch an der Gesamtheit. Die ganze Vorstellungswelt, in der wir jetzt leben und die uns als eine selbstverständliche erscheint, ist doch im Grunde genommen noch heute in ihrem Inhalt wie in ihrer Richtung durchweg von den unwillkürlichen
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Vorstellungsprozessen abhängig, welche während der Anfangszeiten des Gattungslebens infolge der frühesten Bedürfnisse von der Aufmerksamkeit haben bevorzugt werden müssen. Wer ferner die Geschichte des menschlichen Denkens in ihrer stetigen Beziehung auf die gesamte Kulturarbeit betrachtet, dem entgeht es nicht, wie überall auch ohne ausdrückliches Bewußtsein, ja sogar oft unter heftiger Ableugnung, sich die Gedanken an die Aufgaben dieser Arbeit angelehnt haben. Es muß endlich auch die Verschiedenheit der Gedankenbildung in den verschiedenen Geschlechtern, Ständen, Völkern und Generationen zum großen Teil auf diesen Einfluß der unbewußt wirkenden Bedürfnisse zurückgeführt werden. Sobald wir es nun freilich mit entwickelten Menschen und Kulturzuständen zu tun haben, beschränken sich diese Beobachtungen nicht mehr auf den Einfluß des unbewußten Willens, sondern es tritt überall jene Einwirkung des bewußten Denkenwollens hinzu, von deren Betrachtung wir ausgingen. Dabei findet freilich meistens ein allmählicher Übergang statt, der es häufig zweifelhaft erscheinen lassen wird, ob wir es mit einer Einwirkung des bewußten oder mit einer solchen des unbewußten Willens zu tun haben. Je häufiger der bewußte Wille die Vorstellungsbewegung in eine bestimmte Richtung gebracht hat, um so geringer ist die Kraft, deren er weiter dazu bedarf, und um so eher wird diese Richtung auch ganz unwillkürlich eingeschlagen. Wie ein großer Teil unserer zweckmäßigen Leibesbewegungen erst mit absichtlicher Anstrengung in allen einzelnen Phasen gelernt sein will, nachher aber unwillkürlich sich von selbst vollzieht, so wird auch der Gang, | in welchen wir oft unsere Gedanken willkürlich hineingezwungen haben, bald zu einem ausgetretenen Wege, in den sie von selbst und absichtslos hineingeraten. Diese Allmählichkeit des Übergangs sollte nun von vornherein auf den Gedanken gebracht haben, der das Resultat dieser Untersuchung bildet, daß nämlich zwischen dem willkürlichen und dem unwillkürlichen Denken ein Unterschied von so prinzipieller Bedeutung, wie ihn die gewöhnliche Meinung voraussetzt, in Wahrheit nicht existiert. Diese beiden Prozesse, welche man gern als heterogene auffaßt und darstellt, bilden im wesentlichen nur
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einen einzigen. Alles Denken befindet sich in seinem Verlaufe ausnahmslos unter dem Einflusse des Willens: und wie dieser selbst an sich unbewußt, seine Bewußtwerdung dagegen seinem inneren Wesen gegenüber nur eine gelegentliche Nebenbestimmung ist, so tritt auch zu seinem Einflusse auf den Vorstellungsverlauf der Charakter des bewußten Denkenwollens nur als eine gelegentliche Nebenbestimmung hinzu. Es ist nicht wahr, was sich als allgemeine Auffassungsweise eingebürgert hat, als stehe der Wille dem Denken wie einem Fremden gegenüber und werfe nur in dessen ruhigen Abfluß stoßweise seine bestimmenden Absichten hinein. Diese Täuschung konnte nur entstehen, wo man an der Einbildung eines dinghaften Willens und eines gleich dinghaften Denkvermögens klebte. In Wahrheit ist das innere Getriebe jener einfachen Vorstellungselemente, dessen Gesamteindruck wir als »Denken« bezeichnen, allüberall vermittelt durch die stete Lebendigkeit der Triebe, welche in ihrer Gesamtheit den »Willen« ausmachen.4 Und da an dem Wesen dieser Triebe und an | ihrer Fähigkeit, den Verlauf der Vorstellungen überhaupt zu beeinflussen, durch ihr Verhältnis zum Bewußtsein nichts geändert wird, so hat die Unterscheidung des willkürlichen und des unwillkürlichen Denkens, rein theoretisch betrachtet, nur einen nebensächlichen Wert. Alle Vorstellungsbewegung wird vom Willen geleitet: ob dieser bewußt oder unbewußt ist, bleibt für die Möglichkeit und das Wesen dieser Leitung gleichgültig. Ist diese Lösung des Problems richtig und erweist sich danach der Einfluß des bewußten Willens auf die Vorstellungsbewegung als ein Spezialfall der allgemeinen Abhängigkeit des Denkens vom Willen überhaupt, welche ihrerseits eine nur festzustellende und selbst nicht wieder ableitbare Tatsache unseres Seelenlebens ist, so muß sich diese Ansicht in dem Verhältnis des absichtlichen 4 In dieser Hinsicht mag an die Lehre von Leibniz erinnert werden, wonach das Leben der Monade aus der Vorstellungs- und der Begehrungstätigkeit derartig zusammengesetzt sein soll, daß nur aus der letzteren der Fortschritt der Vorstellungen, die »tendance de l’une perception à l’autre«, erklärt wird.
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Denkens zu dem unabsichtlichen bewähren. Wenn das Bewußtsein unter der großen Anzahl der möglichen Vorstellungen jeden Augenblick diejenige wählt, welche dem stärksten Willensimpulse entspricht und somit das lebhafteste Gefühl hervorzurufen geeignet ist, so kann der bewußte Wille das Denken nur insofern und auch nur so lange bestimmen, als er der stärkste ist, und sein Einfluß wird sogleich nichtig werden, sobald ein stärkerer Einfluß von seiten einer unbewußten Willenstätigkeit eintritt. Unsere Fähigkeit des willkürlichen Denkens besteht daher lediglich in dem Überwiegen der bewußten Willenstriebe über die unbewußten. Diese Folgerung wird von der Erfahrung auf das vollständigste bestätigt. Das Denkenwollen ist der Erreichung seiner Zwecke durchaus nicht immer gewiß. Ganz abgesehen davon, daß es in dem Inhalte seiner Vorstellungen auf jene Mängel und Schwierigkeiten stößt, welche dem Wunsche allumfassenden Wissens des Menschengeistes im Wege stehen, ist das Nachdenken nicht einmal sicher, seinen Gang ungestört fortsetzen zu können. Denn nachdem es die entsprechende Vorstellungsbewegung eingeleitet hat, ist es | noch jeden Augenblick in Gefahr, daß einerseits andere Willensinteressen den ganzen Zusammenhang unterbrechen, andererseits aber die aus der Vorstellungsbewegung selbst heraus aufsteigenden Gefühle sich der Fortsetzung bemächtigen. Beiden Gefahren unterliegen wir nur allzu oft. Wie jeder weiß, kann alle Energie der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens es nicht hindern, daß die elementarsten Bedürfnisse des Hungers und Durstes brutal genug sind, unsere besten Beobachtungen und Überlegungen zu stören, oder daß lebhafte Gemütsbewegungen der Freude, namentlich aber des Kummers und der Sorge trotz aller Unterdrückung immer wieder unterbrechend zwischen unsere Arbeit treten. Was aber das zweite betrifft, so besteht bekanntlich eine der allgemeinsten Ursachen der menschlichen Irrtümer darin, daß unser absichtliches Denken in der Richtung seines Fortschritts und in der Bildung seiner Resultate sich nicht sowohl durch den sachlichen Charakter seiner Gegenstände, als vielmehr durch persönliche oder allgemein menschliche Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen leiten läßt. Jene Verblendung, von der die Alten
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sagten, daß die Gottheit mit ihr denjenigen umhülle, den sie verderben wolle, ist nur der äußerste und klarste Fall einer Täuschung, die wir alltäglich an uns erfahren können. Je mehr wir bei einer Sache persönlich interessiert sind, um so weniger dürfen wir unserem Urteil darüber trauen – um so weniger traut aber auch die Welt unserem Urteil darüber. Denn eben dies Interesse bringt es mit sich, daß von allen einschlägigen Vorstellungen sich schließlich nur diejenigen in unserm Bewußtsein halten können, welche demselben entsprechen, und diesen fällt dann, auch wenn kein objektiver Grund dafür vorhanden ist, unsere subjektive Gewißheit zu. In dieser Hinsicht entwickelt sich aus dem Einflusse des Interesses – des unbewußten so gut wie des bewußten – auf den Vorstellungsverlauf ein höchst bemerkenswerter Gegensatz. Auf der einen | Seite befähigt uns bekanntlich jedes Interesse, das wir an einem Gegenstande haben oder nehmen, in hervorragender Weise zur Produktion und Reproduktion derjenigen Gedankengänge, welche für seine Erfüllung von Wichtigkeit sind. Not macht erfinderisch, und alles ist leicht, was wir mit Lust und Liebe tun. Auf der anderen Seite aber irren wir nie häufiger, als in dem, was uns persönlich angeht, und unsere verderblichsten Täuschungen wurzeln darin, daß wir glauben, was wir wünschen oder verwünschen und was wir deshalb höchstens hoffen oder fürchten dürfen. Es gibt noch eine andere Tatsache der allgemeinen Erfahrung, welche in einem nicht minder merkwürdigen Gegensatze speziell bei einer allzu heftigen Intensität der absichtlichen Leitung unserer Vorstellungen zeigt, daß sie sich selbst hinderlich im Wege stehen kann. Wer dem Eintritt eines erwarteten Sinneseindrucks gar zu leidenschaftlich entgegensieht, ist durchaus nicht am sichersten, daß er ihm nicht entgehen wird; wenn wir uns gar zu viel vorhalten, daß wir uns auf einen bestimmten Namen, eine Zahl oder dergleichen besinnen wollen, so wird es mit jeder Minute unwahrscheinlicher, daß uns das Gesuchte einfällt; und wer sich einmal an der Lösung schwieriger Denkprobleme versucht hat, weiß, daß die Stunden, in denen er sich am energischsten mit aller Willensanstrengung darauf konzentrierte, darum nicht immer die glücklichen des Findens waren. Die Erklärung dieser auf
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den ersten Anblick frappierenden Tatsache ist nicht schwer: ihr Grund ist der, daß die äußerst gesteigerte Intensität des bewußten Willens in diesen Fällen den Bewußtseinsraum so vollständig für sich in Anspruch nimmt, daß er auch den Eindrücken und den Assoziationen, welche den Willen befriedigen würden, versperrt bleibt. Gleichwohl sind die entsprechenden Assoziationen dabei unterhalb der Bewußtseinsschwelle in Bewegung gesetzt, so daß sie später in das Bewußtsein eintreten können, sobald es einmal verhältnis|mäßig unbestürmt ist, – wie denn jeder weiß, daß in solchen Fällen häufig nach einiger Zeit scheinbar ganz unvermittelt zwischen mehr oder minder gleichgültigeren Vorstellungsläufen der gesuchte Name plötzlich hervorspringt oder mit einem Schlage die zur Lösung des Problems erforderlichen Vorstellungen klar und deutlich vor dem Bewußtsein stehen. Nur die Sinneswahrnehmung, welche eine allzu eifrige Aufmerksamkeit sich hat entgehen lassen, ist natürlich durch diese allein nicht zurückzurufen. Ohne uns über diese beiden Hemmnisse, welche die bewußte Absicht des Denkenwollens ihrer eigenen Erfüllung zu bereiten droht, immer durchaus klar zu sein, suchen wir sie durch bekannte Gewohnheiten zu umgehen. Ehe wir ein durch Überlegung gewonnenes Resultat unseres Denkens, sei es nun die Lösung eines theoretischen Problems oder die Entscheidung für eine praktische Handlungsweise, als endgültig ansehen, lieben wir es, noch eine gewisse Zeit hingehen zu lassen und diese mit möglichst andersartigen Beschäftigungen hinzubringen; wir »beschlafen« einen wichtigen Entschluß noch einmal, ehe wir ihn ausführen, und der Veröffentlichung von Problemlösungen soll es bekanntlich nichts schaden, wenn sie das horazische nomun prematur in annum erfahren. Wir vertrauen darauf, daß in dem weniger bewegten, nicht mehr von heftigem Wunsche beherrschten Zustande unsere Vorstellungen gewissermaßen ebben werden und daß dabei Gedankengänge, welche, zum richtigen Ende vielleicht nötig, durch jenen heftigen Wunsch unterdrückt worden waren, Macht genug gewinnen, um im ruhigeren Zustande richtig von uns gewürdigt zu werden.
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Haben wir uns auf diese Weise die Möglichkeit des absichtlichen Denkens dadurch zu erklären gesucht, daß wir darin nur eine besondere Art der vom Willen ganz allgemein ausgeübten Beherrschung des Vorstellungsverlaufs nachwiesen – und nur in einer solchen Unterordnung | unter einen allgemeineren Satz besteht ja zuletzt immer und überall das, was wir in der Wissenschaft Erklärung nennen –, so könnte es fast erscheinen, als wäre damit zu viel bewiesen. Indem sich nämlich herausstellte, daß so wenig wie an dem Wesen des Willens auch an demjenigen seiner Einwirkung auf die Vorstellungsbewegung der Umstand, ob er bewußt oder unbewußt ist, etwas ändert, so könnte daraus zu folgen scheinen, es sei auch für die Herrschaft, welche die einzelne Willenserregung über den Gang des Denkens ausübt, völlig gleichgültig, ob sie bewußt oder unbewußt ist. Tatsächlich ist das aber offenbar nicht der Fall, sondern, wie jeder weiß, ist dasselbe Willensbedürfnis zur Leitung des Vorstellungsverlaufs sehr viel energischer befähigt, wenn es im bewußten Zustande auftritt, als wenn ihm dies nicht vergönnt ist. Allein diese Tatsache, weit entfernt, der vorgetragenen Theorie zu widersprechen, ist vielmehr ihre beste Bestätigung. Denn die gesamte obige Beweisführung lief nur darauf hinaus, zu zeigen, daß, wo von einer Einwirkung des bewußten Willens auf das Denken die Rede ist, kein der Art nach neuer und in dem unwillkürlichen Vorstellungsverlauf nicht schon enthaltener Prozeß stattfindet. Das Bewußtsein des Willens ändert somit zwar an der Art und Weise, wie er das Denken beherrscht, nichts, wohl aber ändert es die Stärke dieses Einflusses, und zwar in so bedeutendem Grade, daß für den Moment wenigstens unter allen gleichzeitigen Trieben der bewußte fast immer den stärksten, den entscheidenden Einfluß auf den Fortgang des Denkens ausübt. Es entspringt deshalb zum Schluß noch die Frage, worin diese Verstärkung besteht und wie es also kommt, daß die Bewußtwerdung der Willensakte ihre Fähigkeit, das Denken zu beherrschen, in so bedeutendem Maße steigert. In der Beantwortung dieser Frage können wir dem gefundenen Grundsatze gemäß nur den Weg einschlagen, | diejenigen Gefühle und Willensrichtungen ausfindig zu machen, welche mit der leb-
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haften Bewußtwerdung als solcher verknüpft und auf diese Weise die Intensität des ursprünglichen Willens zu verstärken geeignet sind. Und danach brauchen wir nicht lange zu suchen. In einem entwickelteren psychischen Organismus – und nur in einem solchen begegnet uns ja das absichtliche Denken – tritt jeder mit einiger Lebhaftigkeit bewußt werdende Vorstellungsinhalt sofort in innige Beziehung zum Selbstbewußtsein, und insbesondere gilt diese persönliche Beziehung bekanntlich von dem Bewußtwerden aller Willensimpulse. Mit dieser Ichvorstellung ist nun aber unlösbar verschmolzen das Ichgefühl, das kräftigste, lebhafteste und wirksamste von allen. Indem also der bewußte Wille auf das Selbstbewußtsein bezogen wird, verbindet er sich zugleich auch mit diesem intensivsten aller Gefühle, welchem keines der übrigen standhalten kann, und so ist es begreiflich, daß in jedem Augenblicke sich des Vorstellungsverlaufs diejenige unserer Willensrichtungen bemächtigt, welche gerade dem Selbstbewußtsein am nächsten steht und die überwiegende Gewalt des Ichgefühls für sich in die Wagschale zu werfen vermag. Das Ichgefühl bildet somit die höchste und letztentscheidende Instanz in unserm Vorstellungsverlauf, und von seinem Wesen wird deshalb zuletzt immer der Gang und der Wert unseres willkürlichen Denkens abhängen. Es ist aber unter diesem Ichgefühl nicht etwa eine abstrakte Beziehung der »Seele« auf sich selbst zu verstehen, sondern es ist das reichste, zusammengesetzteste und verdichtetste aller Gefühle. Ebenso wie das Selbstbewußtsein – seinem empirischen, d. h. individuellen Inhalte nach – nichts anderes enthält als den konstanten Besitzstand unseres Vorstellungslebens und somit nur aus den »beherrschenden Vorstellungsmassen« zusammengesetzt ist, so bildet das Selbstgefühl in jedem psychischen Organismus den konzen|trierten Niederschlag von dessen gesamter Willens- und Gefühlsentwicklung, und sein wesentlicher Inhalt besteht deshalb aus nichts anderem, als aus den in dem betreffenden Individuum herrschenden Willens- und Gefühlsmassen. Und wie das Wesen des Selbstbewußtseins sich darin entfaltet, daß es auf seine herrschenden Vorstellungsmassen alles neu in das Bewußtsein Eintretende bezieht oder es damit »apperzipiert«, so
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ist auch die Tätigkeit des Selbstgefühls darauf gerichtet, jede neu aufsteigende bewußte Absicht mit der in ihm begründeten allgemeinen Willensrichtung des Individuums in Verbindung zu setzen. Dies Verhältnis, welches man die Apperzeption der Gefühle und der Triebe durch die konstanten Bestimmungen des Selbstgefühls nennen kann, prägt nun auch jedem absichtlichen Denken den persönlichen Charakter auf, und auf diesem Wege erklärt es sich, daß auch in dem willkürlichen Gedankenleben des Menschen sein persönlicher Charakter zutage zu treten pflegt. Den breiten Untergrund dieses Ichgefühls bilden nun überall die konstanten, zunächst die leiblichen Interessen des Individuums: allein ebenso wie die Ichvorstellung sich von ihrer Grundlage, der Vorstellung des eigenen Körpers, zu einem geschlossenen System von Erinnerungen, Meinungen und Ansichten entwickelt, so wachsen auch aus der Durchbildung unserer ursprünglichen Triebe und Gefühle allmählich die Überzeugungen hervor, welche den entscheidenden Inhalt des Selbstgefühls ausmachen. Sie bilden dann in immer kräftigerer Ausgestaltung die herrschenden Gefühls- und Triebmassen; sie sind es, welche mit jeder Regung des bewußten Willens sich sofort verbinden, ihm dadurch seine überlegene Stärke verleihen, zugleich aber auch die Erfüllung seiner Absichten durch ihren Einfluß in bedeutsamster Weise mitbedingen. In der Anknüpfung des bewußten Willens an unsere Besinnung auf die letzten und höchsten Maximen unseres Strebens | liegt seine wahre Stärke: aber von eben diesen Maximen, von ihrer Kraft und von ihrer Art, hängt deshalb auch der Wert ab, den die Ausführung unserer Absichten erreichen wird. Wie von allen bewußten Entschlüssen, so gilt dies auch vom Denkenwollen. Die Wurzel der Kraft, mit welcher der bewußte Wille die Vorstellungsbewegung leitet, liegt allein in der Beziehung seiner Absicht auf die wertvollsten Gesamtinteressen des Individuums und in der Besinnung auf die als richtig erkannten und zu fester Überzeugung eingelebten Maximen. Die Absicht, etwas zu denken, verschwindet wie eine zerplatzende Seifenblase vor dem Druck der rastlos weiter drängenden Triebbewegungen, wenn sie nicht in einem wahren und ernsten Interesse des Denkenden ihren
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Rückhalt hat. Und von der Art dieses Interesses hängt in letzter Instanz der allgemeinere Wert jeder auf solche Weise durch das Ichgefühl bevorzugten Denkbewegung ab. Sie wird stets in Gefahr sein, ihr Ziel zu verfehlen und mit der Hastigkeit des persönlichen Interesses, wie oben gezeigt, über sich selbst zu stolpern, wenn das Ichgefühl dem bewußten Denkenwollen keine andere Stärkung zuführen kann, als die Heftigkeit der individuellen Triebe – gleichviel ob diese in ihrer ursprünglichen Gestalt oder in der unter den sogenannten Kulturverhältnissen üblichen Verfeinerung und Vergeistigung auftreten. Allem, was wir nur um unserer selbst willen tun, haftet schließlich dies Kainsmal auf der Stirne: und jedes absichtliche Denken, dem nur der zufällige Impuls eines individuellen Bedürfnisses zugrunde liegt, erfährt nur das ihm gebührende Geschick, wenn es jeden Augenblick von einem anderen, gleich zufälligen Impulse abgelöst wird, – es erfährt ein nicht minder verdientes Geschick, wenn es durch seine eigene Lebhaftigkeit des Interesses der notwendigen Selbsttäuschung verfällt. Über diese Mängel der individuellen Beschränktheit | kann sich das willkürliche Denken nur erheben, wenn es sich an ein mit moralischen Überzeugungen getränktes Ichgefühl anknüpfen kann und wenn der Wille, der die Vorstellungen lenkt, in letzter Linie einem sittlichen Zwecke dient. Denn nur diese Zwecke sind die allgemeingültigen, nur der Vorstellungsbewegung, die von ihnen geleitet ist, wohnt ein Wert bei, der über den engen Kreis des einzelnen psychischen Organismus hinausgeht. Unser Denken, so mannigfach von unsern Trieben hin- und hergeworfen, vollendet sich in seiner Unterordnung unter den sittlichen Willen. Unter diesen sittlichen Zwecken nun ist einer, der teils seiner eigenen Würde wegen, teils als das universale Mittel für alle fruchtbare Tätigkeit gerade dem Denkenwollen den tiefsten Wert verleiht: die Wahrheit. Das Streben nach ihr ist die beste Macht in dem willkürlichen Denken, und ohne dies gibt es keinen sicheren Wert des absichtlich Gedachten. Man gibt einem absichtlichen Denken, welches mit vollem Bewußtsein nur auf dieses Ziel gerichtet wird, gemeinhin den Namen des »interesselosen Denkens«. Wenn es nun nach den obigen Ausführungen feststeht, daß wir nie-
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mals etwas denken, geschweige denn über etwas nachdenken, was uns nicht irgendwie interessiert, so zeigt sich, daß jener Ausdruck »das interesselose Denken« auf einem engeren Sprachgebrauche des Wortes »Interesse« beruht, als es hier im psychologischen Sinne angewendet worden ist. Man denkt dabei nur an persönliche, individuelle Interessen, und deren Ausschluß ist es dann, welchen man mit Recht für alles Denken, das allgemeingültig sein will, und speziell für dasjenige der Wissenschaft in Anspruch nimmt. Daß aber ein solcher Ausschluß der individuellen Interessen möglich ist, beruht allein darauf, daß in unserm psychischen Organismus neben jenen auch andere nicht nur möglich sind, sondern zu einer sie überwindenden Macht erstarken können; und unter diesen | unpersönlichen Interessen nimmt dasjenige für die Wahrheit, der Wahrheitstrieb und das Wahrheitsgefühl, eine der ersten Stellen ein. Was man also gewöhnlich interesseloses Denken nennt, ist vielmehr dasjenige, welches lediglich durch ein starkes Interesse an der Wahrheit hervorgerufen und geleitet wird. Allein auch der sittliche Ernst des Wahrheitsstrebens genügt noch nicht für die Erreichung dieses höchsten Zwecks des absichtlichen Denkens. Denn die Mittel, welche ihm von dem gewöhnlichen Vorstellungsmechanismus dargeboten werden, sind viel zu individuellen, zufälligen und unsicheren Ursprungs, als daß sie den Zweck der Wahrheit so, wie sie sind, erfüllen könnten. Das natürliche Denken, auch wo es vom lautersten Wahrheitsbedürfnis getrieben wird, unterliegt vermöge seiner Unerfahrenheit und seiner ursprünglichen Leichtgläubigkeit, ohne es zu ahnen, einer Fülle von Tänschungen, und so ist auch das sittlich gegründete Wahrheitsbestreben seiner Erfüllung durchaus nicht gewiß. Wie zahllose Denker, die vom reinsten Erkenntnistrieb beseelt waren, hat die Geschichte in den Wirrsalen trauriger Irrtümer enden sehen! Zur glücklichen Entfaltung des Erkenntnistriebes gehört neben der sittlichen Grundlage seines Strebens noch ein anderes: die klare und sichere Besinnung auf die Grundsätze, nach denen allein das richtige Denken zustande kommen kann. Und nicht von selbst ist die Befolgung dieser Gesetze mit der natürlichen Vorstellungsbe-
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wegung gegeben; vielmehr ist diese mit ihrer Hingabe an den sie erfüllenden Inhalt, mit ihrer Tendenz zu vorschneller Verallgemeinerung, mit der ganzen Menge der im Wesen der Geistestätigkeit selbst angelegten Voraussetzungen und Vorurteile stets dem Irrtum näher gestellt als der Wahrheit. Sie bedarf, um zu richtigen Zielen zu gelangen, durchaus der Schulung, der Gewöhnung an scharfe Kritik, der steten Mahnung zu sorgfältiger Vorsicht. Diese Zucht | des natürlichen Denkens wird freilich durch das Hineinwachsen in eine gebildete Sprache, durch die Erziehung, durch die Erfahrung unserer eigenen Irrtümer, mit einem Worte, durch den Gang des Vorstellungslebens selbst in gewissem Grade herbeigeführt; allein für die Erfüllung der höchsten Aufgaben des Erkennens, vor allem für die Wissenschaft genügt diese Zucht des Lebens nicht, sondern sie bedarf der stetigen Unterstützung durch eine nimmer ruhende Selbsterziehung, durch welche wir uns in die Gesetze des richtigen Denkens so einleben müssen, daß sie allmählich zu Naturgesetzen unseres Vorstellungsmechanismus werden, welche den Gang unseres Denkens, sobald wir in klarer Besonnenheit ihn zu leiten suchen, mühelos beherrschen. Wohl lernen wir schon aus der alltäglichen Erfahrung vorsichtig mit unserer Wahrnehmungstätigkeit zu werden: allein erst einer strengen Schulung gelingt es, unsere Aufmerksamkeit zur wissenschaftlichen Beobachtung zu erziehen. Wohl zwingen uns schon die gewöhnlichen Aufgaben des Lebens, mit kritischem Blicke unser Urteilen und Schließen zu verfolgen: allein wie langer Arbeit bedarf es, um die phantasievolle Lebendigkeit der Vorstellungen an den methodischen Gang wissenschaftlicher Beweisführung zu gewöhnen! Und auch diese stetige Besinnung auf die Regeln des richtigen Denkens in der praktischen Anwendung aller seiner Formen – auch sie wurzelt zuletzt nirgends anders als in der sittlichen Hingabe an den großen Gedanken der Wahrheit. Denn es erhalten diese Regeln Wert und Kraft nur als notwendige Mittel des Wahrheitstriebes. So ruht auch hier die tiefste Triebfeder des absichtlichen Denkens in einem moralischen Zwecke. Erst wo das Denken als eine sittliche Pflicht angesehen wird, vermag es seine Ziele zu erreichen. Wenn wir deshalb oben sahen, wie die Leidenschaftlichkeit
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und Lebhaftigkeit des Denkenwollens sich selbst im Wege stehen kann, so genügt es andererseits | nicht, daß ein flüchtiger Anstoß des bewußten Willens die Gedanken nach der gewünschten Richtung in Bewegung setze: sondern es muß von Zeit zu Zeit in ruhigem Bewußtsein immer wieder das Ziel ins Auge gefaßt werden. Die moralische Kraft ist es, welche während der Zeit der Gedankenarbeit die fremden Eindrücke, die Verlockungen der Phantasie, die persönlichen Interessen fernhalten und niederdrücken muß, damit das Bewußtsein für seine Zwecke freien Raum bewahre. Denn das natürliche Denken des Menschen hat einen unverwüstlichen Hang zum Spazierengehen, und nur der sittliche Ernst der Wahrheitsforschung kann es auf den rechten Weg bringen und darauf festhalten bis ans Ende. |
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ie Freiheit – die Freiheit des Willens! das ist das große Grübelproblem der Menschheit, daran sich das Denken der Besten abgequält, – das populärste Problem, dasjenige, welches irgendwie einmal in einem jeden auftaucht und ihn mit innerster Beunruhigung in die Betrachtungen der Philosophie treibt. Kann ich, was ich soll? – das ist die Frage! Einen Zwang fühl’ ich in mir, wonach, wie der Stein dem Gesetze der Schwere folgt, notwendig und unabänderlich mein Vorstellen, mein Fühlen, mein Wollen sich gestaltet: und das Bewußtsein eines Gebotes trage ich in mir, nach dem ich denken, fühlen, wollen soll. Wie verhalten sich zueinander jener Zwang und dies Gebot, – wie sind sie vereinbar und welchen Sinn hat ihr Nebeneinanderstehen? Wenn alles in mir eben so, wie es geschieht, geschehen muß, – was will ein Gebot? Verlangt es dasselbe, wie jener Zwang, – wozu erst verlangen, was so wie so von selbst geschieht? Verlangt es etwas anderes, – welch einen Sinn hat es, zu verlangen, was nicht geschehen kann? Wenn es demnach ebenso sinnlos ist, dasjenige zu gebieten, was auch ohne dies geschähe, wie dasjenige, was doch nicht geschieht, so folgert man zunächst, von einer Geltung des Gebots, von einer begreiflichen Bedeutung eines solchen sei nur unter der Voraussetzung die Rede, daß es ein die naturnotwendigen Funktionen des | psychischen Lebens durchbrechendes Vermögen gebe, welches zur Erfüllung des Gebots berufen sei. Dies nennt man dann Freiheit, und nachdem man dies Postulat auf Grund dieses oder eines ähnlichen Gedankenganges gewonnen hat, müht man sich natürlich vergebens, es mit den sonstigen Voraussetzungen unseres wissenschaftlichen Weltverständnisses in Einklang zu bringen. Überall, in seinen tausend Variationen, wächst das Freiheitsproblem aus diesem Bewußtsein einer doppelten Gesetzgebung hervor, der wir unser geistiges Leben unterstellt finden: einer Ge-
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setzgebung des Müssens und des natürlichen Geschehens, einer anderen des Sollens und der idealen Bestimmung. Erst deshalb, als ein göttliches Gebot, als das Bewußtsein der Sünde, d. h. der Verletzung des Gebots, als dieser Gegensatz der natürlichen und der göttlichen »Ordnung« zum Bewußtsein gekommen war, erst da ist auch das Problem der Freiheit, von dem die Philosophie in ihren Anfängen nichts wußte, mit allen seinen zahlreichen Auszweigungen emporgesprossen, und seitdem ist es nicht wieder aus dem Gesichtskreise der europäischen Völker entschwunden.1 Es wurzelt in dem Gefühl der Verantwortlichkeit. Hätten wir dies nicht, so wäre nicht abzusehen, wie wir aus rein theoretischen Gründen jemals zu der Annahme einer von der kausalgesetzmäßigen Bedingtheit unserer seelischen Zustände abweichenden Funktion hätten gelangen sollen. Wenden wir doch das schon für alles praktische Denken unumgänglich erforderliche Axiom, daß gleichen Ursachen gleiche Wirkungen folgen werden, fortwährend im gewöhnlichen Leben auch auf die Seelentätigkeiten an. Jede Berechnung, welche voraussetzt, daß unter bestimmten Bedingungen die Menschen, mit denen wir es zu | tun haben, in bestimmter Weise sich verhalten, vorstellen, fühlen, wollen werden, macht von diesem Axiome Gebrauch; es ist allen künstlichen Behauptungen zum Trotz die Grundlage unseres Verkehrs mit den Menschen ganz ebenso wie mit allen anderen Dingen: es ist der Glaube, mit dem auch der verhärtetste Skeptiker dem wütenden Feinde ebenso ausweicht wie dem fallenden Stein. Freilich vermögen wir auch mit der genauesten Kenntnis der Gesetze des Seelenlebens nicht den feinen Ausschlag individueller Lebendigkeit, die leisen Wendungen der inneren Vorgänge zu berechnen: aber wer will denn genau die Bahn des Schiffs bestimmen, welches wir dem wogenden Meere übergeben, – wer will die räumliche Verteilung ausrechnen, in der die Gasperlen aus dem gefüllten Becher aufsteigen? Und doch nehmen wir für diese physischen Prozesse die durchgängige Abhängigkeit von denselben Gesetzen an, deren Wirksamkeit wir 1 Vgl. des Verfassers Vorlesungen »Über Willensfreiheit« (Tübingen u. Leipzig 1904).
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an gröberen, isolierten Vorgängen konstatiert haben, und schreiben die Unmöglichkeit ihrer vollständigen Erklärung nur der großen Mannigfaltigkeit der Bedingungen zu, welche wir nicht zu übersehen vermögen. Theoretisch liegt die Sache genau ebenso auf dem psychischen Gebiete: auch hier kennen wir, teils in Gestalt der praktischen »Menschenkenntnis«, teils in derjenigen wissenschaftlicher Erfahrung, eine Anzahl von Grundgesetzen, die wir durch glückliche Einfachheit beobachteter Fälle oder durch experimentelle Isolation gewonnen haben; sie sind vielleicht nicht ganz so exakt wie unsere Formulierungen der physikalischen Gesetze, und sie sind vielleicht in noch höherem Maße als diese nur grobe Approximationen an den wahren Sachverhalt: aber unsere Unfähigkeit, aus ihnen die ganz besondere Gestaltung der einzelnen seelischen Tätigkeit zu erklären, würde, rein theoretisch betrachtet, ebensowenig wie in den erwähnten Fällen des äußeren Geschehens imstande sein, unsern Glauben an die axiomatische Geltung des Kausalitätsprin|zips, worauf alle Erklärung in der Wissenschaft und alle Erwartung im praktischen Leben beruht, zu erschüttern und zu der Annahme einer geheimnisvollen Unterbrechung des Kausalprozesses zu führen. Dies geschieht lediglich aus dem Bedürfnisse, die Geltung und die Vernünftigkeit eines Gebots zu retten, dem wir uns unterworfen und verantwortlich fühlen und das keinen Sinn hätte, wenn es sich nicht von der kausalen Notwendigkeit unterschiede, der die naturgesetzliche Bewegung unseres geistigen Lebens unterliegt. Und so scheint man denn unausweichlich vor einer schweren Alternative zu stehen: entweder an dem wissenschaftlichen Axiom festzuhalten und dann die Geltung des Gebots nicht mehr anerkennen zu können, oder das Gebot und als das ihm korrespondierende Vermögen die Freiheit anzuerkennen, damit aber die Ausnahmslosigkeit der Geltung des wissenschaftlichen Axioms in Frage zu stellen. Immer tritt jener Widerspruch zwischen den »Bedürfnissen des Gemüts« und den Voraussetzungen und Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung zutage, welcher dem modernen Denken wesentlich zu sein scheint. Selbst ein so vorsichtiger, metaphysisch so keuscher Versuch, wie ihn Kant gemacht hat, durch
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die Annahme des intelligiblen Charakters die Schwierigkeiten aufzuheben, verfällt doch derselben Unmöglichkeit, beide Gefahren gleichmäßig zu vermeiden. Die populäre Betrachtungsweise kennt das Freiheitsproblem fast nur von der moralischen Seite. Auf diesem Gebiete ist ein jeder sich eines Systems von Vorschriften bewußt, welche er erfüllen sollte und von denen der wirkliche Prozeß seines Wollens und Handelns mehr oder minder abweicht. Vor allem aber ist hervorzuheben, daß für die große Masse auf diesem Gebiete allein das Verantwortlichkeitsgefühl in voller Ausdehnung sich geltend macht: es ist hier vermöge unserer bürgerlichen Institutionen einerseits und vermöge der religiösen Über|zeugungen andererseits mit dem Gefühle der Furcht vor den Unannehmlichkeiten verwachsen, welche sich als strafende Folgen in der bürgerlichen oder der göttlichen Ordnung an die Übertretung des Gebots anschließen werden. Deshalb bringt hier die wissenschaftliche Betrachtung, wonach auch des Menschen Willensentschließungen und Handlungen nach festen Gesetzen notwendig sich so vollziehen, wie sie es wirklich tun, das peinliche Gefühl unbegreiflicher Ungerechtigkeit hervor, mit der jemand für etwas bestraft werde, was er nicht hatte ändern können. Derselbe Widerspruch jedoch zwischen Gebot und Naturnotwendigkeit, der vermöge dieser bürgerlichen und religiösen Verantwortlichkeit auf dem ethischen Gebiete jedermann zum Bewußtsein kommt, ist auch auf anderen Gebieten vorhanden; nur wissen da die wenigsten davon. Auch von den Vorstellungen, mit denen wir die Welt zu erkennen glauben, zeigt uns die Psychologie, daß ihre Elemente und deren Verbindungen ebenso wie das Gefühl der Gewißheit, welches sich an einige darunter knüpft, das notwendige Produkt eines psychischen Mechanismus sind: wer aber nach Wahrheit ringt, der fühlt sich für seine Vorstellungen verantwortlich; der weiß, daß es auch in dieser Sphäre ein System von Vorschriften gibt, welche er erfüllen soll und von denen der wirkliche Prozeß seines Denkens mehr oder minder abweicht. Auch hier also steht der naturnotwendig bedingten Wirklichkeit ein Bewußtsein von Regeln gegenüber, welche den Wert dessen, was
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mit kausaler Notwendigkeit gedacht wurde, bestimmen. Ähnlich verhält es sich auf dem ästhetischen Gebiete. Die Art, wie unser Gefühl von der umgebenden Welt, mag sie der Natur oder der menschlichen Tätigkeit ihren Ursprung verdanken, zu Beifall oder Verwerfung bestimmt wird, folgt sicher überall aus einem naturgesetzlichen Zusammenhange. Wer aber an ein Ideal der Schönheit | glaubt, der weiß, daß nur gewisse Anschauungen ihm gefallen sollten, und daß andere, welche ihm vielleicht vermöge der naturnotwendigen Erregung bestimmter Gefühle wirklich gefallen, dies nicht tun sollten: er stellt auch hier die normale Gefühlsweise der wirklichen gegenüber. Für den reifen Kulturmenschen gibt es nicht nur ein sittliches, sondern auch ein logisches und ein ästhetisches Gewissen. Er macht sich nicht nur für sein Wollen und Handeln, sondern auch für sein Denken und Fühlen verantwortlich; er wirft sich einen Denkfehler und eine Geschmacklosigkeit nicht minder vor, als eine sittliche Nachlässigkeit; er kennt wie für sein Wollen und Handeln, so auch für sein Denken und Fühlen eine Pflicht, und er weiß, er empfindet mit Schmerz und Beschämung, wie oft der naturnotwendige Lauf seines inneren Lebens diese Pflichten verletzt. Man darf sogar sagen, daß erst in dieser logischen und ästhetischen Form das Verantwortlichkeitsgefühl rein hervortritt: es ist hier nichts weiter als das Bewußtsein, einem Gebot unterworfen zu sein und von dessen Erfüllung den Wert der eigenen Tätigkeit abhängig zu wissen. Die dem moralischen Gewissen bei der großen Masse der Menschen feiner oder gröber anhaftende Verschmelzung mit Furchtgefühlen (oder, was auf dasselbe hinausläuft, mit Belohnungshoffnungen) fällt hier von selbst fort: keine bürgerliche Strafe, keine Drohung des religiösen Glaubens, kein direkt fühlbarer Nachteil folgt auf die Verletzung der logischen oder der ästhetischen Pflicht. Gerade deshalb ist auch für die Veredelung des ethischen Gewissens und für dessen Erziehung zu einem reinen, aller eudämonistischen Rücksichten entkleideten Pflichtgefühl kein pädagogisches Mittel so wirksam, wie die Erweckung des logischen und des ästhetischen Gewissens. Die sittliche Wirkung intellektueller und ästhetischer Bildung besteht
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im Wesentlichen darin, daß der Mensch eine Norm über | sich als um ihrer selbst willen geltend anzuerkennen lernt und nicht mehr nach den Vorteilen und Nachteilen schielt, die ihm aus der Erfüllung oder Nichterfüllung des Gebots erwachsen werden: was er so auf den anderen Gebieten erfahren hat, das überträgt sich ihm dann von selbst auch auf das moralische Leben. Jedenfalls aber ist klar, daß der Antagonismus einer natürlichen und einer normativen Gesetzgebung, auf welchem das ethische Freiheitsproblem beruht, in ganz derselben Weise sich auf dem logischen und dem ästhetischen Gebiete wiederholt: es ist in allen drei Fällen der Gegensatz eines Gebots gegen die psychologische Notwendigkeit. In dieser ganzen Ausdehnung also muß man das Problem fassen, um es zu behandeln: es muß im allgemeinen gefragt werden, welchen Sinn es hat, die psychischen Funktionen des Menschen unter zwei voneinander differierende Gesetzgebungen zu stellen. Zunächst empfiehlt es sich, ganz klar die Verschiedenheit der Gesichtspunkte hervorzuheben, unter denen die Geltung beider Systeme behauptet werden darf. Die psychologischen Gesetze sind Naturgesetze, d. h. diejenigen allgemeinen Urteile über die Sukzession seelischer Vorgänge, in denen wir das Wesen seelischer Tätigkeit erkennen und aus denen wir die einzelnen Tatsachen des psychischen Lebens abzuleiten vermögen. Die Aufstellung dieser Gesetze geschieht also aus rein theoretischem Interesse und mit rein theoretischer Berechtigung. Wie überhaupt das Prinzip der kausalen Gesetzmäßigkeit nichts anderes ist als der assertorische Ausdruck für unser Postulat der Erklärung, nichts anderes als das »Axiom der Begreiflichkeit der Natur«, so ist auch die besondere Anwendung, welche wir davon – in der Wissenschaft wie im praktischen Leben – innerhalb des Gebietes der Seelentätigkeit machen, nur ein Ausfluß dieses unseres Bedürfnisses, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten und in diesem All|gemeinen die bestimmende Macht für das Einzelne zu sehen. Es ist hier nicht der Ort, und es gehörte ein ganzes System der Erkenntnistheorie dazu, diese oberste Voraussetzung aller wissenschaftlichen Theorie wie des allgemeinen Denkens zu rechtfertigen: der gesamte
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Apparat, welchen die Logik dafür herbeischaffen müßte, kann immer nur darauf führen, die unmittelbare Evidenz dieses Satzes auch in denjenigen Vorstellungen, die ihm zu widersprechen scheinen, hervortreten zu lassen und zu zeigen, daß mit seiner Aufhebung jede Möglichkeit eines erfolgreichen Nachdenkens über den Zusammenhang unserer Erfahrungswelt ausgeschlossen wäre. Einen anderen »Beweis« des Prinzips der Naturgesetzmäßigkeit gibt es nicht und kann es nicht geben: denn jedes der zahllosen Beispiele, mit denen der allgemeine Satz in jedem Momente unseres Erfahrungslebens bestätigt wird, ist selbst erst durch irgend eine Anwendung des Prinzips begründet. Für die wissenschaftliche Untersuchung braucht deshalb dessen Geltung in der Erkenntnis des Seelenlebens nicht besonders begründet zu werden, sondern sie versteht sich von selbst: denn jenes Prinzip wäre in seiner Allgemeingültigkeit aufgehoben, sobald in dem Ablauf der erfahrungsmäßigen Tatsachen irgendeine Erscheinung angenommen würde, welche nicht die gesetzlich notwendige Wirkung ihrer Ursachen wäre. Nur darum also kann es sich für die Wissenschaft des Seelenlebens handeln, die besonderen Formen zu konstatieren, nach denen die kausale Gesetzmäßigkeit sich auf diesem Gebiete abspielt. Die psychologischen Gesetze sind also Prinzipien der erklärenden Wissenschaft, aus denen der Ursprung der einzelnen Tatsachen des Seelenlebens abgeleitet werden muß: sie stellen – der Grundüberzeugung gemäß, ohne welche es keine erklärende Wissenschaft gibt, – die allgemeinen Bestimmtheiten dar, vermöge deren jede einzelne Tatsache des Seelenlebens eben so, wie sie sich ge|staltet, notwendig sich gestalten muß. Die Psychologie erklärt mit ihren Gesetzen, wie wir wirklich denken, wirklich fühlen, wirklich wollen und handeln. Die »Gesetze« dagegen, welche wir in unserm logischen, ethischen und ästhetischen Gewissen vorfinden, haben mit der theoretischen Erklärung der Tatsachen, auf welche sie sich beziehen, nichts zu tun. Sie sagen nur aus, wie diese Tatsachen beschaffen sein sollen, damit sie in allgemeingültiger Weise als wahr, als gut, als schön gebilligt werden können. Sie sind also keine Gesetze,
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nach denen das Geschehen objektiv sich vollziehen muß oder subjektiv begriffen werden kann, sondern ideale Normen, nach denen der Wert dessen, was naturnotwendig geschieht, beurteilt wird. Diese Normen sind also Regeln der Beurteilung. Faßt man zunächst den Gegensatz in dieser Weise auf, so zeigt es sich, daß die beiden Gesetzgebungen, denen wir unser psychisches Leben unterstellt finden, diesen ihren gemeinsamen Gegenstand unter zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten betrachten und deshalb einander nicht ins Gehege zu geraten brauchen. Für die psychologische Gesetzgebung ist das Seelenleben ein Objekt der erklärenden Wissenschaft; für die normative Gesetzgebung des logischen, des ethischen und des ästhetischen Bewußtseins ist dasselbe Seelenleben ein Objekt idealer Beurteilung. Aus den Naturgesetzen begreifen wir die Tatsachen, nach den Normen haben wir sie zu billigen oder zu mißbilligen. Die Naturgesetze gehören der urteilenden, die Normen der beurteilenden Vernunft an. Die Norm ist nie ein Prinzip der Erklärung, so wenig wie das Naturgesetz je ein Prinzip der Beurteilung. Hieraus ergibt sich im Zusammenhange mit dem Obigen zweierlei. Auf der einen Seite ist es klar, daß die normative und die psychologische Gesetzgebung nicht miteinander identisch sein können. Das logische Prinzip, das | Sittengesetz, die ästhetische Regel sind nicht solche Naturgesetze des Denkens, des Wollens oder des Fühlens, daß nach ihnen der wirkliche Prozeß des Seelenlebens sich wirklich unter allen Umständen vollzöge. Auf der anderen Seite aber ist es auch unmöglich, daß diese beiden Gesetzgebungen, welche sich auf denselben Gegenstand beziehen, toto coelo voneinander verschieden wären und in keiner Hinsicht miteinander übereinkämen. Das Gewissen kann nichts verlangen, was in der naturnotwendigen Bestimmtheit des seelischen Lebens unmöglich und von ihr völlig ausgeschlossen wäre. Zwischen diesen beiden Extremen einer vollständigen Identität und einer vollständigen Verschiedenheit muß also das Verhältnis der Normen zu den Naturgesetzen zu suchen sein. Am leichtesten wird es gefunden werden, wenn wir von dem verwickelteren Vorgange der Selbstbeurteilung des Individuums
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zu der einfacheren Erscheinung übergehen, in welcher der einzelne die Tätigkeiten der anderen beurteilt. Eine Anzahl von Vorstellungselementen, z. B. ein bestimmter Umkreis von Erfahrungen, sei verschiedenen Menschen gemeinsam. Gleichwohl wird die Verarbeitung dieses Stoffs zu einer zusammenfassenden Ansicht bei den Verschiedenen sehr verschieden ausfallen. Die Reihenfolge, in welcher die einzelnen ihre Erfahrungen gemacht, das Interesse, das sie an der einen oder der anderen genommen haben, die Sicherheit der Erinnerung, die Vorsicht der Überlegung, die Fähigkeit der Kombination, – alles dies ist von Individuum zu Individuum verschieden, und daraus erklärt sich hinlänglich, wie bei voller Gleichheit der psychologischen Gesetze der Vorstellungsverbindung aus gleichen Elementen sehr weit voneinander entfernte Resultate hervorgehen. Alle diese Prozesse der Assoziation, welche sich in den einzelnen Menschen vollziehen, sind mit ihren jeweiligen Resultaten naturnotwendig bedingt. Aber nur eine von diesen Verknüpfungsweisen hat den Wert, | richtig zu sein: nur eine entspricht der Norm des Denkens. Es ist möglich, daß der naturnotwendige Prozeß diese korrekte Verknüpfungsweise bei mehreren, – es ist auch möglich, daß er sie bei keinem unter jenen Individuen herbeiführt. So wenig also die psychologische Notwendigkeit die normative involviert oder über die Normalität entscheidet, so wenig schließt andererseits die Naturgesetzmäßigkeit die Möglichkeit einer Erfüllung der Norm aus. Unter der ganzen Menge der Vorstellungsassoziationen sind nur wenige, welche den Wert der Normalität haben. Der Naturprozeß kann der Norm entsprechen, aber er braucht es nicht zu tun. Es gibt auch solche Formen der naturnotwendigen Vorstellungsverknüpfung, welche den Irrtum unausweichlich zu ihrem Resultate haben. Mit derselben Naturnotwendigkeit, mit welcher der eine richtig denkt, denkt der andere falsch. Dies alles ist selbstverständlich; aber man muß sich ausdrücklich darauf besinnen, daß es so ist, um das gesuchte Verhältnis richtig zu formulieren. Die von dem logischen Bewußtsein aufgestellten Regeln des Denkens sind weder identisch mit den Gesetzen der Vorstellungsassoziation überhaupt, nach denen sich jedes Denken
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vollziehen muß, noch sind sie etwas gänzlich davon Verschiedenes: sondern sie sind bestimmte Arten der Verknüpfung, welche im naturnotwendigen Prozeß neben den anderen möglich sind und sich von diesen eben durch den Wert der Normalität unterscheiden. Von den besonderen Bedingungen, unter denen jede Funktion des Denkens vonstatten geht, hängt es ab, ob im einzelnen Falle die normale oder eine andere Art der Assoziation eintritt. Ein hervorragendes Beispiel dieses Verhältnisses bildet der Vorgang der Verallgemeinerung. Die Notwendigkeit des assoziativen Prozesses bringt es mit sich, daß zwei Vorstellungen, die nur je miteinander vereinigt im Bewußtsein gewesen sind, sich derartig verbinden, daß sie einander später reproduzieren: hieraus | ergibt sich als gesetzmäßige Folge, daß, wer den Inhalt der einen Vorstellung wieder erfährt, daneben resp. danach stets auch den der anderen erwartet, d. h. daß er die einmalige Koinzidenz oder Sukzession verallgemeinert. Im logischen Gewissen der europäischen Völker hat es erst allmählich zum Bewußtsein kommen müssen, daß diese Naturnotwendigkeit verallgemeinernder Assoziation nur unter ganz bestimmten Bedingungen erlaubt, d. h. normgerecht ist, und die Theorie der Induktion ist nichts weiter als die Besinnung auf diejenige Art der verallgemeinernden Assoziation, welche als allgemeine Norm für jeden gelten soll. Es zeigt sich also, daß der unter den psychologischen Gesetzen sich vollziehende Vorstellungsmechanismus, solange in ihm das Bewußtsein der Normen nicht wirksam geworden ist, weit davon entfernt ist, auf Richtigkeit des Denkens angelegt zu sein. Er enthält mindestens ebensoviel Nötigungen zum Irrtum wie zur Wahrheit; und bedenkt man, daß meistens unter einer Menge von assoziativen Möglichkeiten nur eine der Norm entspricht, so begreift man, weshalb in diesem sich selbst überlassenen Mechanismus das Falsche bei weitem wahrscheinlicher ist als das Richtige. Der Fehlschluß kommt ebenso notwendig zustande wie der richtige Schluß; aber von denselben Prämissen her ist nur ein korrekter Schluß möglich, der Fehlschlüsse dagegen viele. Die Wahrheit ist die einzige weiße Kugel unter vielen schwarzen. Ganz ebenso steht es auf dem ethischen und dem ästhetischen
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Gebiete. Jede Willensentscheidung mit der daraus resultierenden Handlung ist, von seiten ihrer Entstehung betrachtet, ein nach den Gesetzen der Motivation naturgesetzlich bedingtes Phänomen, und ebenso ist die Präsenz wie die Stärke der einzelnen dabei mitwirkenden Motive jedesmal auch wieder ein in dem gesamten Lebenslauf des Individuums oder in dessen gegenwärtigem | Zustande kausal notwendiges Ergebnis: aber diese Einsicht in die Naturnotwendigkeit jeder Willenstätigkeit steht nicht im geringsten der Beurteilung im Wege, wonach nur diejenigen gebilligt werden, bei denen gewisse Klassen von Motiven den Ausschlag gegeben haben. Unter der ganzen Masse der wirklichen Willensentscheidungen gibt es solche, in denen die sog. »moralischen« Motive die Entscheidung bestimmt haben: andere und mehr gibt es, in denen die entgegengesetzten gesiegt haben. Geschehen ist das eine so naturnotwendig wie das andere: die ethische Beurteilung billigt das eine und verurteilt das andere. Ich verstehe sehr gut, wie der eine Mensch durch glückliches Naturell, durch richtige Erziehung, durch günstiges Geschick mit Notwendigkeit dazu kommt, sittlich zu handeln, und wie mit gleicher Naturnotwendigkeit der andere durch wilde Veranlagung, durch verderbliche Einflüsse, durch schwere Erlebnisse zum Verbrecher wird: aber diese Einsicht in die Naturnotwendigkeit beider Prozesse hält mich nicht im geringsten ab, Charakter und Handlung bei dem einen als gut, bei dem anderen als böse zu bezeichnen. Auch hier also zeigt sich: unter der großen Masse der Willensbetätigungen, welche nach den Motivationsgesetzen möglich sind und wirklich werden, ist nur eine beschränkte Anzahl derer, welche dem normativen Bewußtsein, dem sittlichen Gewissen, entsprechen. Die Gebote des letzteren sind gewisse Formen der Motivation, welche durch den naturgesetzlichen Prozeß hervorgerufen werden können, aber durchaus selten wirklich hervorgerufen werden. Ebenso selbstverständlich ist es, daß das Wohlgefallen oder Mißfallen, welches wir irgendeinem Gegenstande der Natur oder der Kunst gegenüber empfinden, allemal eine Gesamtwirkung ist, welche aus vielen einzelnen, in der Entwicklung unseres Lebens
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erzeugten Gefühlen sich naturnotwendig, wenn auch häufig in sehr verwickelter Weise, zusammensetzt: aber ein ästhetisches Bewußtsein | gibt es dem hedonischen gegenüber nur insofern, als einige dieser sämtlich naturnotwendigen Gefühle als normale den zufälligen Bedürfniszuständen der Individuen gegenübergestellt werden. Auch die ästhetische Norm ist also eine unter den vielen Gefühlsweisen, welche durch den naturnotwendigen Prozeß des Seelenlebens möglich gemacht und in den einzelnen Individuen, je nach den Umständen, herbeigeführt oder unterdrückt werden. Die Normen sind daher von den Naturgesetzen allerdings verschieden, aber sie stehen ihnen auch nicht als ein Fremdes und Fernes gegenüber; jede Norm ist vielmehr eine solche Verbindungsweise psychischer Elemente, welche durch den naturnotwendigen, gesetzlich bestimmten Prozeß des Seelenlebens unter geeigneten Umständen ebenso wie viele andere und wie auch die entgegengesetzten hervorgerufen werden kann. Eine Norm ist eine bestimmte, durch die Naturgesetze des Seelenlebens herbeizuführende Form der psychischen Bewegung. So ist ein Denkgesetz (in der Sprache der Logik) eine bestimmte Verbindungsweise der Vorstellungselemente, welche durch den natürlichen Verlauf des Denkens, je nach den im Individuum gegebenen Bedingungen, herbeigeführt, aber auch verfehlt werden kann. So ist jedes Sittengesetz eine bestimmte Form der Motivation, welche, je nach dem gesamten Triebzustande der Individuen, durch den natürlichen Verlauf der Willenstätigkeiten realisiert, aber auch verletzt werden kann. So ist jede ästhetische Regel eine bestimmte Art zu fühlen, welche, je nach der Reizfähigkeit der einzelnen Menschen, eintreten, aber auch ausbleiben und durch andere verdrängt werden kann. Alle Normen sind also besondere Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen. Das System der Normen stellt eine Auswahl aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Kombinationsformen dar, unter denen, je nach den individuellen Verhältnissen, die Naturgesetze des | psychischen Lebens sich entfalten können. Die Gesetze der Logik sind eine Auswahl aus den möglichen Formen der Vorstellungsassoziation, die Gesetze der Ethik sind eine Auswahl aus den möglichen Formen der Motivation, die Gesetze
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der Ästhetik sind eine Auswahl aus den möglichen Formen der Gefühlstätigkeit. Es ist auch nicht schwer, sogleich das Prinzip aufzustellen, wonach in allen drei Fällen diese Auswahl aus der Mannigfaltigkeit der naturnotwendigen Entwicklungsformen zu geschehen hat. Die logische Normalität wird nur insofern von der Vorstellungstätigkeit verlangt, als sie den Zweck erfüllen soll, wahr zu sein. Bei dem kombinativen Vorstellungsspiel der Phantasie verlangt niemand logischen Zusammenhang; und wem es im allgemeinen oder bei besonderer Gelegenheit gleichgültig ist, ob er wahr denkt, für den kommt die logische Gesetzgebung nicht in Betracht. Mit den Launen eines Denkens, das sich der Norm nicht fügen will, hat vielleicht die Psychologie, niemals aber die Logik zu tun. Die logische Gesetzgebung besteht also für uns nur unter Voraussetzung des Zwecks der Wahrheit: es ist die Allgemeingültigkeit, d. h. der Wert, von allen anerkannt werden zu sollen, welcher die logischen Formen des Denkens von den übrigen, im naturgesetzlichen Prozeß möglichen Assoziationen unterscheidet. Dasselbe wiederholt sich bei der ethischen und ästhetischen Gesetzgebung; auch hier liegt in der Norm, sofern sie uns einleuchten soll, der Sinn eines Maßstabes für die Beurteilung, welche den Zweck der Allgemeingültigkeit zugrunde legt. Das Sittengesetz verlangt diejenige Motivation, welche mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit gebilligt werden kann; die ästhetische Regel verlangt diejenige Gefühlserregung, welche unter Voraussetzung allgemeiner Geltung ihren Gegenstand als schön charakterisieren darf. Was also die Norm in allen Fällen für uns zur Norm | macht, ist die Beziehung auf den Zweck der Allgemeingültigkeit. Nicht um faktische Allgemeingültigkeit handelt es sich – das wäre ein Fall von naturgesetzlicher Notwendigkeit –, sondern um das Verlangen der allgemeinen Geltung. Normen sind diejenigen Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen, welche unter Voraussetzung des Zwecks der Allgemeingültigkeit gebilligt werden sollen. Normen sind diejenigen Formen der Verwirklichung der Naturgesetze des Seelenlebens, welche in unmittelbarer Evidenz mit der Überzeugung verbunden sind, daß sie und sie allein realisiert werden
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sollen, und daß alle anderen Arten, in denen die naturgesetzliche Notwendigkeit des Seelenlebens zu individuell bestimmten Kombinationen führt, wegen ihrer Abweichung von der Norm zu mißbilligen sind. Das normative Bewußtsein nimmt also unter den Bewegungen des naturnotwendigen Seelenlebens eine Auswahl vor, um die einen zu billigen und die anderen zu verwerfen. Die Normalgesetzgebung ist mit der Naturgesetzgebung weder identisch noch im Widerspruch; sie ist eine Selektion aus den durch die Naturgesetzgebung bestimmten Möglichkeiten. Das Normalbewußtsein des logischen, des ethischen, des ästhetischen Gewissens verlangt weder was immer so wie so geschieht, noch was gar nicht geschehen kann: es billigt einiges von dem, was geschieht, um das übrige zu verwerfen. Stellen so die Normen eine Auswahl aus der Menge des naturgesetzlich Möglichen dar, so liegt es nahe, diese Einsicht mit einer in der erklärenden Wissenschaft der Gegenwart zu glänzender Bedeutung gelangten Betrachtungsweise in Verbindung zu bringen. Daß die Normen gelten sollen, stellt sich in dem empirischen Bewußtsein als unmittelbare Evidenz dar, die absolut nicht erklärt, sondern einfach nur zum Bewußtsein gebracht und damit zur Anerkennung erhoben werden kann: daß aber die | Normen faktisch gelten, daß sie anerkannt und der wirklichen Beurteilungstätigkeit zugrunde gelegt werden, ist eine Tatsache des empirischen Seelenlebens. Diese Tatsache muß so gut wie jede andere erklärt werden: und es wäre deshalb möglich, die faktische Anerkennung der Normen als das Produkt eines Selektionsprozesses anzusehen. Es ist nämlich nach den psychologischen Gesetzen des Vorstellungs- und Gefühlsverlaufs selbstverständlich, daß diejenigen Tätigkeitsformen, welche durch naturnotwendige Wiederholung und Gewöhnung häufiger eintreten und umfassendere Bedeutung erlangen als andere, zu Objekten der Billigung werden. Unmerkliche Anhäufung der Eindrücke macht als stillwirkende Gewöhnung uns die eine oder die andere unserer Verrichtungen lieb. Wenn sich nun herausstellte, daß die Gewöhnung an das normale Denken, Wollen und Fühlen ein Vorteil im Kampfe ums Dasein wäre, daß somit dasjenige Individuum, welches durch naturnotwendige
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Gewöhnung in höherem Maße der logischen, ethischen und ästhetischen Norm entspräche, die größere Aussicht auf das Überleben, auf die Übertragung und Vererbung seiner Gewöhnung hätte, so ließe sich auf diese Weise erklären, daß die Entwicklung des Menschen immer mehr zur Beschränkung der naturnotwendigen Prozesse auf die normalen Formen und damit zu ihrer faktischen Anerkennung führen müsse. Darüber kann kein Zweifel obwalten, daß der reife Kulturmensch die Normen des logischen, ethischen und ästhetischen Gewissens in ganz anderer Weise versteht und anerkennt, als der Wilde oder das Kind, welche der ganzen Mannigfaltigkeit des Naturprozesses, oft fast noch ohne jedes Bewußtsein einer Norm überhaupt, widerstandslos anheimgegeben sind: und es fragt sich, da die Normen eine Selektion aus den naturgesetzlichen Möglichkeiten darstellen, ob dieser Unterschied durch die Selektionstheorie in der Weise zu erklären ist, | daß sich die Gewöhnung an die Norm als Vorteil im Kampfe ums Dasein erweist.2 Für die logische Form scheint dieser Nachweis möglich. Das richtige Denken ist zweifellos ein Vorteil im Wettstreit der Individuen. Ein Schlußfehler, eine aus vorschneller Verallgemeinerung geschehene falsche Erwartung kann im praktischen Leben von den bedenklichsten Konsequenzen sein. Unsere Macht über die Menschen so gut wie über die Natur ist, wie man oft ausgeführt hat, viel weniger auf die physische Kraft, als auf das Wissen gestützt: und, wer richtig zu denken gewöhnt ist, der wird im Kampfe der Gesellschaft der Überlegene, der Überlebende sein; er wird seine Art zu denken, durch Vererbung und Nachahmung in seinen Nachfolgern sich fortpflanzen sehen, und so ließe sich a priori eine Entwicklung der Gesellschaft denken, vermöge deren sich in ihr immer mehr die Gewöhnung an normales Denken durch natürliche Auswahl festsetzte. Offenbar freilich ist das normale Denken 2 In der Tat ist diese Erklärungsweise vielfach von denjenigen Theorien versucht worden, welche, besonders in der neueren Erkenntnislehre und Moral, die Tatsache »apriorischer« Bestimmungen für das individuelle Bewußtsein anerkennen, aber sie durch »Erwerbung« im Leben der Gattung entwicklungsgeschichtlich erklären wollen.
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in dem gesellschaftlichen Wettkampf neben anderen Eigenschaften, die hauptsächlich auf den Gebieten des Willens und der Arbeitskraft zu suchen sind, nur von untergeordneter Bedeutung: aber es ist doch ein, wenn auch geringer Vorteil, der unter Umständen den Ausschlag geben kann. Auch im Kampfe der Völker ist die Intelligenz, d. h. die Fähigkeit richtigen Denkens, ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung der Machtfrage. Dennoch würde man fehlgehen, wenn man darin den wichtigsten sehen wollte. Umgekehrt zeigt vielmehr die Geschichte sehr oft die Tatsache, daß gerade die gebildeten Völker dem Anprall der intellektuell unerzogenen unter|liegen und daß erst nachher der Sieger in die Schule des Besiegten geht. Das intellektuelle Element ist eben als Chance im Lebenskampf doch nicht bedeutend genug, um stetig das entscheidende zu sein. Im allgemeinen jedoch zeigt der historische Prozeß einen entschiedenen Fortschritt in der Ausscheidung der falschen und in der Anerkennung der richtigen Denkformen. Als auffälligstes Beispiel ist hier wiederum die Verfeinerung des induktorischen Verfahrens anzuführen, welche sich schon in der kurzen Geschichte des logischen Gewissens der europäischen Völker vollzogen hat: es kann kein Zweifel darüber sein, daß wir in dieser Hinsicht durchschnittlich viel korrekter denken, als der Grieche. Während der intellektuelle Fortschritt in der uns übersehbaren Geschichte des Menschengeschlechts kaum je angezweifelt werden kann, ist bekanntlich der ethische Fortschritt vielfach bestritten, und keinesfalls liegt er so auf der Hand wie jener. Damit stimmt es überein, daß eine Erklärung des ethischen Fortschritts auf dem Wege der Selektionstheorie nicht möglich wäre. Denn Moralität ist kein Vorteil im Kampfe ums Dasein; im Gegenteil, sie ist ein Nachteil, – wenigstens soweit es sich um den Kampf der Individuen handelt. Wohlmeinende Sprichwörter wie »Ehrlich währt am längsten« und ähnliche, entsprechen doch der Wirklichkeit nicht. Moralität ist Einschränkung der Motivation; der sittliche Mensch kann einen großen Teil der Mittel nicht anwenden, die dem unsittlichen skrupellos zur Verfügung stehen. Kein naturnotwendiger Prozeß knüpft an die Unsittlichkeit als notwendige Folge eine Schwächung der übrigen, der intellektuellen oder der physischen
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Machtmittel. Wo der sittliche Mensch mit den Mitteln zu Ende ist, die der unsittliche ganz ebenso wie jener anzuwenden vermag, da hat der unsittliche immer noch eine große Anzahl von Mitteln zur Verfügung, die dem anderen durch das Gewissen | verboten sind. Wo deshalb der sittliche und der unsittliche Mensch in Kampf geraten, da hat – ceteris paribus – der unsittliche die größere Chance des Sieges. Man muß durchaus sich klar machen, daß sittlich zu handeln kein Mittel ist, um glücklich und mächtig zu werden: es gibt kein törichteres Unternehmen als das der Moralisten, die dem Menschen einreden wollen, daß er am klügsten daran tue, sich der sittlichen Norm zu unterwerfen: sie werden von der Erfahrung alle Tage widerlegt. Darum kann man aber auch nicht davon sprechen, daß die Anerkennung der Normen des sittlichen Bewußtseins durch die natürliche Auswahl herbeigeführt werde: umgekehrt vielmehr zeigt die historische Erfahrung – ganz der obigen Betrachtung gemäß –, daß jede in sich geschlossene Gesellschaft um so mehr sittlich verwildert, je älter sie wird; und die geschichtliche Menschheit wäre längst dem ethischen Gewissen ganz entfremdet, wenn sie nicht von Zeit zu Zeit durch das unverdorbene Bewußtsein frischer Völker regeneriert worden wäre. Wie von den Individuen, so gilt es auch aus gleichen Gründen von den einzelnen politischen und sozialen Mächten, daß die sittliche Gesinnung für sie kein Vorteil im Kampf ums Dasein ist; und an der Geschichte brennender Kämpfe der Gegenwart ließe sich dies Verhältnis sehr einleuchtend machen. Wo dagegen ganze Völker miteinander ringen, da ist diejenige Nation im entschiedensten Vorteil, welche sich die ethischen Tugenden, die Hingebung des einzelnen an das Ganze, die Selbstlosigkeit, die Unterordnung, den Gehorsam, das Pflichtgefühl und die Selbstbeherrschung bewahrt hat. Im Kampf ums Dasein der Völker ist die Moralität die stärkste aller ausschlaggebenden Kräfte. Dadurch wird im Laufe der Jahrtausende der umgekehrte Vorgang, der sich zwischen den Individuen abspielt, immer wieder ausgeglichen und das Gewissen wieder in seine Rechte eingesetzt. Noch anders endlich fällt die entwicklungsgeschichtliche | Betrachtung des ästhetischen Lebens aus. Eine aufsteigende Ent-
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wicklung ist auf diesem Gebiete zweifellos zu konstatieren. Die Nerven der Menschheit sind feinfühliger geworden. Den Gebilden der Natur steht der moderne Mensch mit reinerem Gefühl als der frühere gegenüber, und auch die Geschichte der Kunst zeigt, wenn sie auch Jahrhunderte des Rückschritts zu verzeichnen und in der Vervollkommnung der einzelnen Künste keineswegs überall gleichen Schritt zu beobachten hat, doch im ganzen selbst in der Zeit von den Griechen bis zu uns eine entschiedene Verfeinerung: vor allem aber tritt in der Auffassung und Einrichtung des alltäglichen Lebens eine große Steigerung des ästhetischen Bedürfnisses und der ästhetischen Empfänglichkeit zweifellos hervor. Die Menschheit hat geschmackvoller zu fühlen gelernt. Indessen ist es kaum zu denken, daß diese Gewöhnung an feineres Fühlen, diese Abstreifung ursprünglicher Geschmacklosigkeit ein Produkt der natürlichen Selektion sein sollte: denn auch hier ist durchaus nicht abzusehen, wie die bessere Reizbarkeit des ästhetischen Gefühls als solche auch nur den geringsten Vorteil im Kampf ums Dasein gewähren sollte. Wer Roheit und Gemeinheit nicht empfindet und nicht fürchtet, der ist im alltäglichen Leben darum nicht schlechter dran als der andere; wer ihn aber kennt,
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»– den unsäglichen Augenschmerz, Den das Verwerfliche, ewig Unselige Schönheitliebenden rege macht –«
der ist verletzt und zurückgescheucht, wo die Verständnislosigkeit sich unbekümmert breit machen kann. Selbst im Verhältnis der Völker sind ästhetische Neigungen keine Waffen des Lebenskampfes: denn bekannt ist die Erfahrung, daß Feinheit der Sitten und geschmackvolle Kunstbetätigung mit der Zeit die Gefahr der Verweichlichung bei sich führen. So ist es durch bloße natürliche Auswahl nicht zu | erklären, daß die Mannigfaltigkeit der naturgesetzmäßigen Funktionen des menschlichen Seelenlebens mehr und mehr sich auf diejenigen zu beschränken scheint, welche als Normen den Wert idealer Allgemeingültigkeit besitzen. Bei den rein organischen Gebilden mag es begreiflich sein, daß der naturnotwendige Prozeß selber im Laufe
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der Zeit zwischen seinen Produkten die Auswahl trifft, vermöge deren nur die lebensfähigen und in diesem Sinne zweckmäßigen Typen bestehen bleiben. Auf dem psychischen Gebiete fallen Normalität und Existenzfähigkeit nicht in gleichem Maße zusammen; hier ist das, was dem Zwecke der Allgemeingültigkeit entspricht, nicht zugleich dasjenige, was seinen Träger vor anderen in dem Kampfe ums Dasein zu erhalten und zu fördern geeignet ist. Wenn sich also trotzdem das Bewußtsein der Normen, ohne die empirische Lebensfähigkeit und Selbsterhaltungskraft seiner Träger zu steigern, in der historischen Bewegung der Menschheit nicht nur erhält, sondern in einzelnen Hinsichten steigert, vertieft und verfeinert, so muß das auf einer direkten und selbständigen, von allen Nebenwirkungen unabhängigen Kraft beruhen, welche dem Bewußtsein der Normen als solchem innewohnt und welche das Gewissen, wenn es erst einmal in Kraft getreten ist, zu einer psychischen Macht erhebt, die als neuer Faktor in die Bewegung des Seelenlebens eintritt. Erst so wird man das wahre Wesen und die psychologische Bedeutung der Normen zu verstehen haben. Bis hierher nämlich haben wir die Normen nur als Prinzipien einer Beurteilung betrachtet, mit der ein zwecksetzendes Bewußtsein die Tätigkeiten eines oder mehrerer anderer messen, billigen oder mißbilligen kann. Es ist das dieselbe Beurteilung, wie wenn wir Sonnenschein und Regen als günstig oder ungünstig für den von uns vorausgesetzten Zweck des Kornreifens bezeichnen. Wenn wir über Richtigkeit oder Falschheit einer fremden Vor-| stellung entscheiden, so ist es für diese Beurteilung gleichgültig, ob der andere diese Vorstellung nur gelernt oder selbst gebildet hat, gleichgültig, wie er überhaupt dazu gekommen ist, gleichgültig, ob er damit Wahrheit zu finden gewünscht hat oder nicht. Wenn wir den in der Willensentscheidung und Handlung sich dokumentierenden Charakter eines Menschen als gut oder böse beurteilen, so ist es wiederum für diese Prädikation als solche gleichgültig, wie er zu diesem Charakter, zu diesem Prävalieren der einen oder der anderen Motive gekommen ist; wir billigen nur einfach oder mißbilligen, daß es so oder so ist. Wenn wir unser Wohlgefallen an einem Kunstwerke aussprechen, so konstatieren wir damit nur,
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daß es unserem ästhetischen Bedürfnis, einer normalen Gefühlsweise entspricht, und wir fragen dabei nicht, wie der Künstler es angefangen hat, uns in dieser Weise zu befriedigen. Es ist besonders für das moralische Gebiet wichtig, diese Tatsache zu konstatieren, daß unsere nach den Normen sich vollziehende Beurteilung einfach nur die Übereinstimmung oder Verschiedenheit zwischen der Norm und dem zu Beurteilenden konstatiert, und daß unser Wohlgefallen dieser Übereinstimmung gegenüber eintritt, auch wenn sie ohne jedes Bewußtsein der Norm selbst zustande gekommen ist. Für die theoretische Beurteilung gibt das jeder zu, für die ästhetische ist es sogar im gewissen Sinne besonders wertvoll. Wenn jemand durch zufällige Ideenkombination, lediglich dem unwillkürlichen Mechanismus seiner Vorstellungsbewegung folgend, irgend etwas Richtiges entdeckt hat, so muß dies als wahr gebilligt werden, ganz abgesehen davon, ob er sich dabei der Normen bewußt gewesen ist, durch welche sein Resultat begründet werden muß. Das Wohlgefallen am Kunstwerk – von demjenigen an der schönen Natur gar nicht erst zu reden – ist gänzlich unabhängig davon, ob der Künstler mit bewußter Befolgung ästhetischer Regeln gearbeitet hat, auf | deren Erfüllung die Schönheit des Eindrucks beruht: im Gegenteil der ästhetische Genuß wird bekanntlich nur beeinträchtigt, wenn irgendwie ein bewußtes Innehalten der Regeln sich bemerkbar macht, und er ist am höchsten, wenn die Normalität des Produkts unmittelbar aus der Naturnotwendigkeit genialen Schaffens hervorgegangen zu sein scheint. Aber dasselbe gilt auch auf dem Felde der Sittlichkeit, obwohl es hier hat in Zweifel gezogen werden können. Die Handlungsweise der »schönen Seele«, welche, ohne nach bewußten Maximen zu fragen, lediglich ihren reinen, edlen Motiven folgend, die Forderung des Sittengesetzes erfüllt, ist weit entfernt, moralisch »indifferent« zu sein, wie Kant es behauptete, sondern ist vielmehr das Objekt eines hohen sittlichen Wohlgefallens. Unser ethisches Bedürfnis verlangt nicht, daß unter allen Umständen das Bewußtsein der sittlichen Norm die Ursache der Handlungen sei; es verlangt nur, daß der Prozeß der Motivation der sittlichen Maxime entspreche, und unser Beifall trifft die Erfüllung dieses
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Verlangens überall, gleichgültig ob es durch das charaktervolle Bewußtsein der Norm oder nur durch die reflexionslose Notwendigkeit des Naturells erfüllt worden ist. Gut nennen wir den, der so will, wie es das Sittengesetz verlangt: ob er sich das Gesetz als Norm und Maxime ausdrücklich zum Bewußtsein gebracht hat, ist nur von sekundärer Bedeutung. Allein auf diese Beurteilung eines fremden Tatbestandes durch das zwecksetzende Bewußtsein ist nun die Geltung der Normen durchaus nicht beschränkt. Sie entwickelt sich zu ihrer höchsten Bedeutung in der Selbstbeurteilung des Individuums. Was wir von anderen verlangen, haben wir auch von uns selbst zu fordern. Unsere eigene Vorstellungsbewegung, mag sie wie immer durch unsere persönlichen Interessen, Neigungen und Anlagen zustande gekommen sein, prüfen wir darauf hin, | ob sie der logischen Norm der Wahrheit entspricht. Unsere eigenen Willenstätigkeiten, mit so unausweichlicher Notwendigkeit sie sich vollzogen haben mögen, unterstehen dem Gericht des Gewissens, das sie an der sittlichen Norm mißt. Was der Künstler geschaffen, was der Mitgenießende empfand, das beurteilt er selbst vor der ästhetischen Norm als recht oder verfehlt. Auf dem ästhetischen Gebiete ist mit dieser retrospektiven Beurteilung eigener wie fremder Tätigkeiten und ihrer Gegenstände und Produkte die Bedeutung der Norm erschöpft. Das Wesen ästhetischen Genusses ebenso wie dasjenige künstlerischer Produktion besteht in der Unmittelbarkeit und der Reflexionslosigkeit; beide sollen den Normen entsprechen, ohne durch sie hervorgebracht und im Bewußtsein bestimmt zu sein. Nichts wäre lächerlicher, als wenn man durch Besinnung auf ästhetische Gesetze die Gefühle bewußt regeln wollte, mit welchen man den Eindruck schöner und erhabener Natur oder künstlerischer Werke aufzunehmen hat. So sehr es auch für die Gefühle unter dem ästhetischen Gesichtspunkte ein Maß der Richtigkeit und Allgemeingültigkeit geben mag, – korrekt fühlen zu wollen, ist ein Nonsens. Man kann sich nicht vornehmen, geschmackvoll zu sein. Wohl kann man im allgemeinen durch ernstes Eindringen in musterhafte Gebilde der Kunst und durch die Gewöhnung an die Auffassung des Schönen
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und Erhabenen sich ästhetisch erziehen, aber man kann nicht für den einzelnen Eindruck mit bewußter Besinnung auf ästhetische Normen sich absichtlich vorbereiten. Das mag der pedantische Kritiker versuchen – aber er hebt damit eo ipso die ästhetische Betrachtung auf. Ebenso ist es das sicherste Zeichen des Mangels an künstlerischem Beruf, wenn der Mittelmäßige oder der Dilettant bei der Arbeit selbst sich die Regeln vorhält, um nach ihnen zu schaffen. Der große Künstler kennt diese Regeln nicht; er erzeugt sie. Mit absichts|loser Naturnotwendigkeit produziert er den Normen gemäß, die erst durch sein Werk ihm und den Nachgenießenden zum Bewußtsein kommen. So verlangt es das eigentümliche Wesen der ästhetischen Funktion – der produktiven so gut wie der reproduktiven –, welches hier nur erwähnt und nicht näher untersucht werden kann: aber darauf eben beruht es, daß auf dem ästhetischen Gebiete die Norm niemals etwas anderes sein kann als ein Prinzip der Beurteilung, und daß von einer bewußten Mitwirkung der Norm weder im ästhetischen Produzieren noch im ästhetischen Genießen die Rede sein darf. Ganz anders aber steht die Sache auf den beiden anderen Gebieten. Was bei den Gefühlen durch die Natur der Sache selbst ausgeschlossen ist, das ist beim Denken und Wollen nicht nur möglich, sondern in der Mehrzahl der Fälle geboten. Die Erzeugung unserer Vorstellungen und ebenso diejenige unserer Willensentschlüsse ist durch eine Überlegung zu regeln, welche das Bewußtsein der Norm zu einem bestimmenden und eventuell zu dem entscheidenden Moment in der Entstehung dessen macht, was einem Zwecke, d. h. in diesem Falle einer bewußten Absicht gemäß geschehen soll. Das logische und das ethische Gewissen haben daher nicht bloß jene Bedeutung von Prinzipien einer retrospektiven Beurteilung desjenigen, was schon ohne ihren Einfluß geschehen ist, sondern sie vermögen selbst zu bestimmenden Mächten des Seelenlebens zu werden. Der Wert eines logischen Gesetzes ist nicht damit erschöpft, die Regel zu sein, wonach ich meine oder fremde Vorstellungsbewegungen, wenn sie sich vollzogen haben, als wahr oder falsch zu beurteilen imstande bin: sondern, wenn ich nachdenke, um
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Wahrheit zu finden, so wird mir das Bewußtsein des logischen Gesetzes zu einem Prinzip der willkürlichen Anordnung meiner Vorstellungen und ihrer durch den Zweck der Wahrheit bestimmten Ver|knüpfung. Wer sich der logischen Norm bewußt geworden ist, der vermag absichtlich danach zu denken. Alle methodische Forschung, wie sie in den Wissenschaften angestellt wird, ist eine durch den Zweck der Wahrheit geregelte, mit Absicht angestellte Erzeugung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen, deren Reihenfolge und Verknüpfung durch das Bewußtsein der logischen Normen bestimmt wird. Besonders deutlich tritt dies auf dem sittlichen Gebiete hervor. Wohl ist es möglich, daß jemand ohne alle Besinnung auf ethische Maximen, lediglich durch die nun einmal in ihm vorhandenen Verhältnisse der Motive dasjenige will, was das Sittengesetz verlangt: er hat dann gewissermaßen das große Los gezogen. Aber sicherer ist der moralischen Normalität jedenfalls derjenige, welcher sich die ethische Norm zum Bewußtsein gebracht hat und in welchem nun eben dies Bewußtsein der Norm das stärkste, das die Willensentscheidung bestimmende Motiv ist. Das Pflichtbewußtsein ist selbst imstande, eine Triebfeder zu werden und als solche in dem Kampfe der Motive den Ausschlag zu geben. In diesem Falle somit ist auch die ethische Norm nicht mehr nur ein Prinzip der Beurteilung, sondern eine Macht des Willenslebens. Die logischen und die ethischen Normen können also in dem zwecktätigen, willkürlich denkenden und bewußt wollenden Individuum zu Bestimmungsgründen der Vorstellungsverknüpfung und der Willensentscheidung werden. Und sie können das nicht nur, sondern sie werden dazu in stärkerer oder schwächerer Weise jedesmal, sobald sie in das Bewußtsein treten. Denn die Vorstellung einer jeden Norm führt als solche ein Gefühl davon bei sich, daß nach ihr der wirkliche Prozeß, sei es des Denkens oder des Wollens, sich gestalten sollte. Mit unmittelbarer Evidenz knüpft sich an das Bewußtwerden der Norm eine Art von psychologischer Nötigung, sie zu befolgen. Wer sich eines logischen Gesetzes bewußt geworden ist, der | empfängt eben damit auch den Wunsch, im entsprechenden Falle so und nicht anders zu denken. Wer sich
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des Sittengesetzes, einer besonderen oder allgemeineren ethischen Maxime bewußt geworden ist, der fühlt sich eben dadurch veranlaßt, sie zum Motive seines Wollens zu machen. Wer eine Norm als solche anerkennt, der ist eben damit überzeugt, daß er, so wie alle anderen, danach verfahren sollte. Da nun die Norm eine unmittelbare Evidenz bei sich führt, mit der sie sich in jedem, sobald sie klar und ernstlich zum Bewußtsein gebracht wird, notwendig geltend machen muß, so wird jede logische und ethische Regel, in welcher Weise sie auch, gleichviel ob durch eigene Besinnung oder fremde Einwirkung, in das individuelle Bewußtsein eintreten mag, in diesem zu einem Bestimmungsgrunde des Denkens oder des Wollens. Allein die Intensität, mit der sie als solcher wirkt, ist je nach den Zuständen des individuellen Bewußtseins außerordentlich verschieden: sie kann den sonstigen Antrieben und Gewohnheiten gegenüber so schwach sein, daß trotz des Bewußtseins der Norm die psychische Bewegung sich doch gerade so weiter abspielt, wie sie es sonst tun würde; sie kann zu einer Bedeutung gelangen, vermöge deren sie in dem Resultate der Vorstellungsbewegung oder Motivüberlegung, wenigstens in gewisser Hinsicht, hemmend oder fördernd, mitwirkt; und sie kann endlich so entscheidend werden, daß sie dies Resultat von sich aus allein bestimmt. Die ganze Fülle der Unterschiede, welche zwischen den einzelnen Menschen hinsichtlich ihrer Fähigkeit des korrekten Denkens und hinsichtlich ihrer sittlichen Reife sich darstellen, lassen sich auf diese Verhältnisse reduzieren, in denen bei den einzelnen die Normen zu Bestimmungsgründen den übrigen Denkund Willensmotiven gegenüber sich entwickelt haben. So allein ist es zu verstehen, wie innerhalb des naturnotwendigen Prozesses des menschlichen Seelenlebens und ohne Aufhebung der ausnahmslos kausalgesetzlichen | Bedingtheit aller seiner einzelnen Funktionen eine Erfüllung der Normen möglich ist. Ohne das Bewußtwerden der Normen erschien es als eine verhältnismäßig wenig wahrscheinliche Möglichkeit, daß der Mechanismus allein gerade zu solchen Resultaten führe, welche der Norm entsprechen. Aber dieser mechanische Ablauf führt selbst zum Bewußtwerden der Normen, und nachdem dies eingetreten
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ist, wird die Norm zu einer ordnenden und bestimmenden Macht in dem mechanischen Ablauf und führt in vollkommen naturgesetzlicher Weise ihre eigene Realisierung herbei. Jene weiße Kugel hat die Kraft, sich so zu stellen, daß sie öfter als die schwarzen gezogen werden muß. Das logische und das ethische Gewissen sind selbst naturnotwendig wirkende Kräfte in der psychischen Lebensbewegung. Nichts anderes nun als das Bewußtsein von dieser bestimmenden Macht, welche die erkannte und anerkannte Norm über die Denktätigkeit und die Willensentscheidung auszuüben vermögen – nichts anderes ist die Freiheit. Das Gefühl der Freiheit wurzelt im Gewissen. Unfrei im Denken nennen wir denjenigen, dessen Vorstellungsbewegung durch irgendwelche Eindrücke, durch Voreingenommenheit, durch Gewohnheit, Schlaffheit oder durch persönliche Interessen so beherrscht ist, daß er sich der logischen Norm trotz aller Besinnung nicht fügen kann: ein freies Denken ist dasjenige, welches, lediglich vom Wahrheitstriebe beseelt, mit klarem Bewußtsein dem logischen Gesetze folgt. Sittlich unfrei nennen wir denjenigen, der trotz aller Kenntnis der ethischen Norm in seinem Wollen und Handeln von der Macht der einzelnen Motive, der Leidenschaften und der Affekte derartig beherrscht ist, daß das Gewissen nicht zum entscheidenden Bestimmungsgrund werden kann: sittliche Freiheit ist die bewußte Unterordnung aller Triebfedern unter das erkannte Sittengesetz. Freiheit ist Herrschaft des Gewissens. Das, was | allein diesen Namen verdient, ist die Bestimmung des empirischen Bewußtseins durch das Normalbewußtsein. Den Inbegriff der Normen darf man, ohne von der Meinung der gewöhnlichen Sprache abzuweichen, Vernunft nennen, und so läßt sich das Resultat dieser Untersuchung auch in den altbekannten Satz formulieren: Freisein heißt der Vernunft gehorchen. Dieser Begriff der Freiheit wird nämlich hier nicht etwa zum ersten Male aufgestellt, sondern nur als eine notwendige Konsequenz des Zentralbegriffs der kritischen Philosophie, der Norm, und in seinem dadurch bedingten Verhältnis zum Naturgesetz entwickelt. Diese Freiheit ist nicht etwa ein geheimnisvolles Vermögen, etwas zu tun, wozu keine Ursache vorhanden ist, sie
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verlangt keine Ausnahme von dem naturgesetzlichen Zusammenhange der Erscheinungen des empirischen Seelenlebens; sondern sie ist vielmehr selbst das reifste Produkt der Naturnotwendigkeit, dasjenige, wodurch das empirische Bewußtsein sich selbst unter das Gesetz des Normalbewußtseins stellt. Diese Freiheit ist die Autonomie, mit welcher das individuelle Bewußtsein eine von ihm selbst erkannte und anerkannte Norm zur Maxime seiner Tätigkeit macht. Dieser Begriff der Freiheit ist endlich in gleichem Maße mit der normativen Geltung des Gewissens und mit der theoretischen Geltung des Prinzips kausaler Gesetzmäßigkeit vereinbar. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß dieser deterministische Freiheitsbegriff vielfach deshalb bestritten wird, weil er dem Verantwortlichkeitsgefühl und dem Wesen der Verantwortlichkeit überhaupt nicht Genüge tue. Der Grund davon aber ist lediglich in der unglaublichen Unklarheit zu suchen, welche über diesen Begriff der Verantwortung obzuwalten pflegt. Wenn man gewöhnlich meint, Verantwortlichkeit setze eine ursachlose oder eine naturgesetzlich nicht bedingte Willensentscheidung voraus, so bewegt man sich in einem ganz offenbaren Widerspruche. | Denn es ist absolut nicht zu verstehen, wie man etwas anderes verantwortlich machen will, als eine Ursache für ihre Wirkung. Wenn das Kind den Stuhl schlägt, an dem es sich gestoßen, so sieht es ihn eben damit als die Ursache seines Schmerzes an. Rechtlich machen wir den Menschen für das verantwortlich, was er getan hat, und so besteht auch die moralische Verantwortlichkeit darin, daß wir den Charakter als die Ursache der Willensentscheidung und der Handlung betrachten. Darin gerade liegt der Schmerz der Reue, daß wir die schlechte Handlung als die notwendige Folge unseres Charakters erkennen, – daß wir erfahren, wir haben so handeln müssen, weil wir so sind. Sollte in uns irgend etwas geschehen, wovon wir nicht die Ursache wären, sollte es also eine ursachlose Willensentscheidung in uns geben, so wüßte man absolut nicht mehr, wie wir dafür sollten verantwortlich gemacht werden. Was ursachlos geschähe, das wäre der absolute Zufall, und dafür könnte niemand mehr verantwortlich gemacht werden. Verantwortlichkeit reicht gerade so weit, wie das kausale Verhältnis.
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Das Kausalverhältnis ist nun freilich kein völlig eindeutiger Begriff, und auch für die hier zu berührenden Fragen des Freiheitsproblems kommt die Trennbarkeit von zwei Momenten in Betracht, die in der vulgären Vorstellung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung nur unklar miteinander vereinigt zu werden pflegen. Die Kategorie der Kausalität hat bekanntlich die Funktion, einem zeitlichen Verhältnis der Sukzession den Charakter der Notwendigkeit, dem »Folgen« (post hoc) den Sinn des »Erfolgens« (propter hoc ) zu verleihen. Diese begriffliche Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache wird aber in zwei völlig verschiedenen Formen gedacht. Die eine davon ist jene undefinierbare, völlig primäre Vorstellung, die wir mit dem Namen des »Wirkens« bezeichnen und von der an dieser Stelle nicht weiter verfolgt zu werden | braucht, an welchen Intuitionen sie mit ihrer unmittelbaren Evidenz zum Bewußtsein kommt: genug, daß jeder gefühlsmäßig weiß, was wir darunter verstehen. Die andere Form jener Notwendigkeit ist die logische Dependenz des Besonderen vom Allgemeinen, die sich in dem Merkmal der Gesetzmäßigkeit ausspricht. Die Verknüpfung beider Momente ist am schärfsten in der klassischen Formulierung von Kant ausgesprochen, wonach »die Ursache der Wirkung ihr Dasein in der Zeit nach einer allgemeinen Regel bestimmt.« In dieser Verknüpfung des »Wirkens« mit der Gesetzmäßigkeit besteht die »Notwendigkeit«, welche den kategorialen Sinn der Kausalität ausmacht. In der neueren Erkenntnislehre aber macht sich infolge positivistischer Einflüsse die Neigung geltend, jene beiden Momente zu trennen oder gegen einander zu isolieren. Auf der einen Seite führt das zu dem Versuche, das Merkmal des Wirkens oder den Begriff der Kraft zu eliminieren: dann behält man in der Kausalität nur den Gattungsbegriff von Zeitfolgen der Ereignisse übrig und behandelt diese nach nominalistischem Prinzip als ein Ergebnis der subjektiven Reflexion. Solche Tendenzen sind hauptsächlich in der theoretischen Naturforschung, speziell der Mechanik, und in den dadurch bestimmten Richtungen der Erkenntnistheorie hervorgetreten. Auf der anderen Seite wird hervorgehoben, daß das Verhältnis von Ursache und Wirkung
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auch in solchen Fällen gilt, wo sowohl Ursache als auch Wirkung einmalige und unwiederholbare Ereignisse bedeuten und damit die Abhängigkeit von einer allgemeinen Regel, d. h. die Gesetzmäßigkeit ausgeschlossen erscheint. Da aber – genau betrachtet – schließlich alles, was geschieht, einmalig und individuell bestimmt ist, so erscheinen auch unter diesem Gesichtspunkte die »Gesetze« als Abstraktionen des theoretischen Denkens, und der Sinn der »Kausalität« ist auf den in dem ganzen Umfang | seiner Realität nicht wiederholbaren Vorgang des jeweiligen individuellen »Wirkens« beschränkt. Kausalität, so scheint es danach, ist ohne Gesetzmäßigkeit denkbar: es wären Kausaleinmaligkeiten möglich, welche keine Subsumtion unter eine allgemeine Regel zulassen.3 Diese letztere Theorie nun ist es, die an dieser Stelle für die Probleme von Freiheit und Verantwortlichkeit bedeutsam zu werden verspricht; denn die Ablösung des Merkmals der Gesetzmäßigkeit von dem Begriff der Kausalität scheint die Möglichkeit zu gewähren, »Ursachen« verantwortlich zu machen, deren »Wirken« in seiner einmaligen Tatsächlichkeit keiner allgemeinen Bestimmung, keinem Gesetze des Müssens unterliegt.4 Man würde sagen können, Ursächlichkeit und Gesetzmäßigkeit seien nicht identisch, das naturgesetzlich nicht Bestimmte sei darum noch nicht das Ursachlose: die Verantwortung betreffe gerade das einmalig unwiederholbare, durch kein Gesetz bestimmte und in diesem Sinne freie Wirken. Allein so einfach läßt sich das große Problem nicht aus der Welt schaffen. Die Elimination der Gesetzmäßigkeit aus der Kategorie der Kausalität ist nicht durchzuführen. Die erkenntnistheoretischen Argumente freilich, welche dagegen sprechen, können an dieser Stelle nicht behandelt werden: aber sie sprechen doch im Grunde auch bei den folgenden Überlegungen mit, die
Vgl. H. Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, 2. Aufl. p. 212 ff. Damit stimmt in gewissem Maße der Begriff der »Kausalität durch Freiheit« überein, den Kant als kosmologische Idee aus der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft entwickelt und der dann freilich mit der »praktischen Idee« der Freiheit in seiner Ethik nichts als den Namen gemein hat. 3
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sich lediglich in dem Zusammenhange der hier behandelten Probleme halten sollen. Worin soll denn – so müssen wir nämlich fragen – die Notwendigkeit bestehen, womit bei dem »Wirken« unabhängig von aller Gesetzmäßigkeit die Ursache ihre Wir|kung bestimmt? Weshalb – m. a. W. – soll diese Wirkung dieser Ursache eindeutig zugeordnet sein? Wenn der Kategorie der Kausalität irgendeine »gegenständliche« Bedeutung zukommen soll, so enthält sie doch eben dies sachliche Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, daß beide notwendig miteinander verbunden sind. Für dieses sachliche Verhältnis ist es völlig gleichgültig, wie oft in dem zeitlichen Verlauf beide eintreten. Soll ich also Wollen und Handeln des Menschen als seine Wirkung, als die Wirkung seines »Wesens« oder Charakters betrachten, so folgt jede einzelne Entscheidung, mag sie noch so offenbar in ihrem Einzelbestande unwiederholbar und in diesem Sinne auf kein »Gesetz« zurückführbar sein, doch aus seinem Wesen so notwendig, daß ich annehmen muß, er würde, wenn sich dieselbe Lage je wiederholen sollte, immer in derselben Weise wollen und handeln. Denn wäre dies nicht der Fall, so könnte das einmalige Auftreten der Wirkung seinem Wesen nur zufällig, mit ihm nicht notwendig verbunden gewesen sein. Die »Notwendigkeit« des Wirkens involviert begrifflich die Gleichmäßigkeit bei aller Wiederholung; ob eine solche Wiederholung tatsächlich eintritt oder ob sie durch die Lage der empirischen Wirklichkeit ausgeschlossen ist, bleibt für den begrifflichen Zusammenhang völlig gleichgültig. Die »Natur« des Menschen oder sein »Charakter«, die in seinem Wollen und Handeln »wirken«, stellen selbst eine allgemeine Gesetzmäßigkeit dar: wenn für eine bestimmte, einzelne Wirkung die Bedingungen nur einmal in unwiederholbarer Weise erfüllt sind, so ändert das nicht das geringste daran, daß diese Wirkung eine allgemeine, d. h. gesetzmäßig bestimmte ist. Auch die empirisch unwiederholbare Kausaleinmaligkeit enthält begrifflich und potentiell das allgemeine, gesetzmäßig wirksame Wesen ihrer Elemente. Alle Wirksamkeit hat die erkenntnistheoretische Bedeutung und die logische Form der Gesetzmäßigkeit, | auch wenn ihre tatsächliche Unwiederholtheit oder Unwieder-
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holbarkeit methodologisch ihre Vergleichbarkeit mit anderen Erscheinungen ausschließt. Deshalb darf von einem Kausalverhältnis ohne Gesetzmäßigkeit nicht gesprochen werden, wenn nicht dessen Notwendigkeit preisgegeben werden soll. Dasselbe Verhältnis zeigt sich in einer anderen geläufigen Einrede, mit der die Verantwortlichkeit in Gegensatz zu der kausalgesetzlichen Notwendigkeit des Wollens und Handelns gebracht werden soll. Jedesmal, sagt man, wenn jemand für etwas verantwortlich gemacht wird, beruht das auf der Voraussetzung, daß er »anders hätte handeln resp. wollen können«, daß er die Norm hätte erfüllen können, um deren Verletzung willen er gemißbilligt wird. Bei diesem Konditionalis, »er hätte anders wollen können«, entspringt die gefährliche Täuschung. Denn die Bedingung, unter der dies »hätte« allein gelten kann, ist eben die: »wenn er anders gewesen wäre«. Daß »dem Menschen« einer gegebenen Situation gegenüber viele Möglichkeiten des Handelns oder Unterlassens offenstehen, gilt eben nur für den Gattungsbegriff des Menschen, für den Menschen in abstracto: dem konkreten Menschen, dem Individuum ist seine Entscheidung durch seine konstanten Motive, durch die ganze Art seiner Willens- und Gefühlstätigkeit vorgeschrieben; er würde nur dann anders handeln können, wenn er anders wäre. Darum eben ist er für seine Handlungen verantwortlich; sein Wesen entscheidet, welche unter den für den Menschen in abstracto möglichen Entscheidungen bei ihm in concreto wirklich wird: und über dies sein Wesen als die allgemeine gesetzmäßig wirkende Ursache seines einzelnen Wollens sprechen wir das Urteil, wenn wir ihn verantwortlich machen. Indessen, wenn so das Verantwortlichmachen auf der kausalen Auffassung beruht, so involviert dies neue Schwie|rigkeiten. Denn einerseits ist der Charakter nicht die alleinige Ursache der Handlung, andererseits ist die Kausalkette über den Charakter hinaus rückwärts ins Unendliche zu verfolgen. Neben dem Wesen des individuellen Menschen ist es der gesamte Zustand, in den er sich hineinversetzt fand, welcher als Ursache für das Resultat des Handelns verantwortlich gemacht werden kann. Weiter aber fragt sich dann, wer für den »Charakter« verantwortlich, d. h. wer
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dessen Ursache ist. In dem Bestreben, die Verantwortlichkeit auf dem Individuum sitzen bleiben zu lassen, meint man dann wohl, der Mensch sei für seinen Charakter »verantwortlich«. Als ob es noch irgendwie auszudenken wäre, was das Individuum im Unterschiede von seinem Charakter noch sein könnte! Deshalb muß das Wesen des Menschen verdoppelt werden, um für den »empirischen« den »intelligiblen« Charakter verantwortlich zu machen und eine metaphysische Vorstellung zu schaffen, die mit dem kausalen Element des Begriffs der Verantwortlichkeit absolut unvereinbar ist. Andererseits aber lassen sich in dem Verlauf des empirischen Geschehens die Abhängigkeiten verfolgen, in welchen sich die Entstehung des individuellen Charakters von dem gesamten gesellschaftlichen Zustande und somit zuletzt von dem allgemeinen Weltlauf befindet, und so wird denn schließlich die Gesellschaft oder der Weltlauf und in letzter Instanz die Gottheit als Träger und Urheber desselben »verantwortlich« gemacht. Man sieht, aus dieser Verfolgung der Kausalketten lassen sich alle Standpunkte ableiten, welche zur Lösung des Freiheitsproblems betreten worden sind und deren genauere Entwicklung hier nicht am Platze ist. Es folgt hieraus, daß das Verantwortlichmachen zwar stets ein kausales Verhältnis voraussetzt, daß aber die Anfang- und Endlosigkeit und die Vielverflochtenheit des Kausalprozesses aller Willkürlichkeit das Tor öffnet, wenn man die Verantwortlichkeit nur in eine Kausalbetrachtung | verwandelt. Sie involviert vielmehr stets eine Beurteilung, und darauf beruht es, daß ein Verantwortlichmachen auch für Unterlassungen, für das Nichteintreten einer bestimmten Handlungsweise gilt. Es fragt sich immer nur, ob eine Norm erfüllt ist oder nicht, – ist sie nicht erfüllt, so tritt die Mißbilligung ein, gleichviel ob gar nichts oder anderes geschehen ist. Aber diese Mißbilligung wird nun von der einzelnen Funktion, auf welche sie sich als auf eine Verletzung der Norm zunächst bezog, auf dasjenige denkende, wollende, fühlende Individuum übertragen, in dessen Eigenschaften des Intellekts, des Charakters, der Gefühlsweise die gemißbilligte Funktion ihre naturnotwendig wirkende Ursache hatte: und in dieser Übertragung der Mißbil-
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ligung von der Funktion auf die funktionierende Persönlichkeit besteht alles, was wir Verantwortlichmachen nennen. Warum hat es nun aber keinen verständlichen Sinn mehr, diese Übertragung an dem Leitfaden der Kausalität über die Persönlichkeit hinaus fortzusetzen? Der Grund davon läßt uns erst ganz das Wesen der Verantwortlichkeit verstehen. Die Verantwortlichmachung ist eine Zwecktätigkeit: ihr Zweck ist der, die Norm zur Herrschaft zu bringen. Wenn wir uns selbst für etwas verantwortlich machen, so geschieht es, damit in uns die Norm zu klarerem Bewußtsein komme und dadurch zum Bestimmungsgrunde mehr erstarke, entweder direkt als Maxime der bewußten Gestaltung unseres logischen und ethischen Lebens oder indirekt, wie es auf ästhetischem Gebiete allein möglich ist, als Gewöhnung an das Rechte und als Entwöhnung vom Falschen. Wo wir einen anderen verantwortlich machen, da geschieht es entweder in der Beschränkung auf eine Mitteilung unseres Urteils, die für jenen dieselbe Wirkung einer Besinnung auf die Norm haben soll, oder in der Gestalt jener gröberen Pädagogik des Privaten und des öffentlichen Lebens, womit wir das Unlustgefühl der auf | der Verletzung der Norm beruhenden Mißbilligung auf den Urheber der gemißbilligten Funktion zurückfallen lassen, damit er die Norm befolgen lerne. In dieser letzteren Beziehung ist die Verantwortlichmachung das große pädagogische Gesamtmittel, womit wir im staatlichen wie im privaten Leben unter Benutzung der eudämonistischen Gefühlswirkungen das Gefallen an der Norm und das Mißfallen an dem sie Verletzenden hervorzurufen pflegen. Daher reicht das Verantwortlichmachen nur bis zu denjenigen »Ursachen«, in denen die Norm zum Bewußtsein und als Bestimmungsgrund für die zukünftigen Funktionen zur Wirkung kommen kann, d. h. zu den einzelnen Persönlichkeiten. Jede Verantwortlichmachung steht deshalb mitten in dem Kausalprozeß des psychischen Lebens: sie will unter Benutzung von dessen Naturgesetzen auf die Persönlichkeit eine Wirkung ausüben, vermöge deren der Mensch später in gleich naturnotwendiger Weise der Norm gemäß funktionieren soll. Sie ist das vornehmste Mittel der Erziehung und der Selbsterziehung.
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Das Ziel dieser Erziehung besteht aber immer darin, daß die Normen schließlich als die einzigen Formen übrig bleiben, in denen sich der naturgesetzliche Mechanismus des Seelenlebens entfaltet: und zwar teils so, daß ihre Erfüllung zur selbstverständlichen Gewohnheit des Denkens, des Wollens und des Fühlens geworden ist, teils so, daß die logischen und die ethischen Normen als Bestimmungsgründe des Bewußtseins stark genug entwickelt sind, um die Bewegung des Denkens und des Wollens von sich aus bewußt und absichtsvoll zu bestimmen. Die intellektuelle Ausbildung des Menschen würde darin gipfeln, daß er gar nicht mehr anders als normgerecht denken könnte und daß die Besinnung auf die logischen Normen jederzeit genügte, um die Verknüpfung der Vorstellungen nach ihnen zu regeln. Auch das moralische Ideal besteht darin, daß das Sittengesetz in dem Sinne zum »Natur|gesetz« unseres Wollens werde, daß die Notwendigkeit unserer Triebe uns jederzeit zum normgerechten Wollen und Handeln führe und die ethische Maxime unter allen Umständen das entscheidende Motiv in uns bilde. Die ästhetische Erziehung endlich würde ihr Ende erreicht haben, wenn der Mensch sich über die Roheit seiner Triebe so weit erhoben und seine Gefühlsweise so weit veredelt hätte, daß all sein Wohlgefallen und Mißfallen von interesseloser Allgemeingültigkeit wäre. Der vollkommene Mensch wäre derjenige, dessen Tätigkeiten stets der Norm entsprächen und auf allgemeine Anerkennung Anspruch hätten. Dieser vollkommene Mensch wäre zugleich der absolut freie, derjenige, dessen gesamte innere Lebensbewegung durch das Normalbewußtsein bestimmt wäre. Freiheit ist nicht das zweifelhafte Danaergeschenk eines unausdenkbaren Vermögens, ursachlos und gesetzlos dahin und dorthin zu tappen, sondern sie ist das Ideal eines den höchsten Zwecken mit vollem Bewußtsein sich unterwerfenden Denkens und Wollens. Sie ist nicht einem dunklen Boden zu vergleichen, auf dem wir alle stünden, sondern einer klaren Höhe, zu der wenige sich emporringen. Der große Begründer der kritischen Philosophie, der die Zusammengehörigkeit des Begriffs der Norm mit demjenigen der Freiheit vollkommen erkannte, hat das Reich der Freiheit dem
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Reiche der Natur gegenübergestellt. Ihm mußte, der genetischen Betrachtungsweise des 18. Jahrhunderts gegenüber, vor allem daran gelegen sein, den in sich selbst begründeten Wert der Normen aus dem Flusse des Entstehens und Vergehens herauszuheben. Aber er schuf damit einen Dualismus, dessen Überwindung die wichtigste Aufgabe seiner Nachfolger werden sollte. Es mußte begreiflich gemacht werden, wie mitten im Reiche der Naturnotwendigkeit die Norm zur Geltung und Herrschaft gelangen kann. Leicht gewann es dabei den Anschein, | als ob die Natur mit der Befolgung ihrer Gesetze schließlich etwas von ihr Verschiedenes, etwas Höheres produziere, als ob sie sich »über sich selbst hinaus potenziere«. Diese in den dialektischen Begriffen des hegelschen Systems am besten ausgeprägte Vorstellungsweise kommt auch in den naturalistischen Ansichten der Gegenwart, als deren Typus der »Neue Glaube« von Strauß gelten kann, mit einigen Modifikationen des Ausdrucks, aber im Grunde völlig unverändert zum Vorschein. Dem gegenüber sollte hier gezeigt werden, daß die Normen selbst von vornherein eine in der naturgesetzlichen Bewegung des Seelenlebens gegebene Möglichkeit darstellen und daß diese zur Wirklichkeit wird durch die unmittelbare Evidenz, welche den Normen innewohnt und welche sie, sobald sie zum Bewußtsein gelangt sind, zu bestimmenden Mächten in dem naturgesetzlichen Prozesse selbst macht. Die Naturnotwendigkeit treibt nicht über sich selbst hinaus, aber sie sondert sich in sich selbst. Die »Vernunft« wird nicht erzeugt, sondern sie ist in der unendlichen Mannigfaltigkeit der naturnotwendigen Prozesse schon enthalten: es kommt nur darauf an, daß sie erkannt und mit Bewußtsein zum Bestimmungsgrunde gemacht wird. Das Reich der Freiheit ist mitten im Reiche der Natur diejenige Provinz, in welcher nur die Norm gilt: unsere Aufgabe und unsere Seligkeit ist, in dieser Provinz uns anzusiedeln. |
Kritische oder genetische Methode?
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eit Kant in der Kritik der reinen Vernunft, welche bekanntlich nicht sowohl ein System der Philosophie als vielmehr ein »Traktat von der Methode« sein wollte, dem Psychologismus seiner Zeitgenossen eine neue Auffassung von der Aufgabe und der Erkenntnisweise der Philosophie entgegenzustellen suchte, ist die Frage nach dem Wesen ihrer Methode nicht wieder von der Tagesordnung der Philosophie verschwunden, und es ist dies um so mehr begreiflich, als die Entscheidung dieser Frage zugleich diejenige über die Stellung ist, welche man in der Philosophie oder ihr gegenüber einnimmt. Im Interesse dieser Entscheidung ist es zu beklagen, daß Kant’s eigene Lehre mit der ganzen Schwierigkeit ihrer Probleme, mit der großen Elastizität ihrer Darstellung, mit der äußerst komplizierten Verarbeitung mannigfacher, zum Teil antagonistischer Gedankengänge, mit der Unsicherheit ihrer im Werden begriffenen Terminologie nicht so eindeutig und scharf bestimmt aufgetreten ist, daß der Begriff der kritischen Methode, die er zu schaffen beabsichtigte, mit selbstverständlicher Klarheit gegen jedes Mißverständnis geschützt gewesen und als historische Tatsache zweifellos hinzustellen wäre. Das Neue, das er brachte, war in das Alte eingewickelt; es war nicht ausgeschlossen, daß man in seine Lehre einerseits den alten Empirismus und andererseits den alten Rationalismus hineindeutete, und daß so sein neues Prinzip zwischen zwei Stühle geriet. | Dennoch liegt die historische Wirksamkeit dieses Prinzips auf der Hand. Denn die kantische Behandlung der Probleme hat die gesamte Philosophie des 19. Jahrhunderts direkt oder indirekt derartig beeinflußt, daß sie nur von jener aus zu verstehen ist. Alle nachkantische Philosophie ist entweder die Entwicklung und mehr oder minder umfassende Ausbildung des kantischen Prin-
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zips oder der Kampf der alten Richtungen gegen die seinige. Es ist nach ihm prinzipiell nichts Neues geschaffen worden. Hie und da sind die metaphysischen, hie und da die psychologistischen Tendenzen des 18. Jahrhunderts erneuert worden, aber niemals ohne durch die Einwirkung der kantischen Philosophie mehr oder minder stark modifiziert zu werden. Die großen metaphysischen Systeme der deutschen Philosophie unterscheiden sich von den früheren wesentlich durch die Aufnahme des kantischen Elements; das, worin der heutige Positivismus – abgesehen von der physiologischen und psychologischen Ausdrucksweise – von demjenigen der Enzyklopädisten abweicht, beruht lediglich auf dem Einfluß kantischer Gedanken und auf der Berücksichtigung der kritischen Probleme, wie sie unbewußt und unerkannt bei den französischen und englischen Schriftstellern dieser Richtung, bewußt und anerkannt bei dem einzig originellen der deutschen Positivisten, Karl Göring, hervortritt: der Psychologismus endlich, wie ihn etwa die Fries und Beneke darstellen, oder wie er sich in der völkerpsychologischen Richtung neu entwickelt hat, verdankt die große Überlegenheit, die er den entsprechenden früheren Theorien gegenüber zweifellos besitzt, lediglich dem Anschluß an die kritische Philosophie. Das ist die Größe des Kantianismus, daß er alle seine Gegner veredelt hat. Indessen war der Gegensatz der kritischen Philosophie gegen die verschiedenen Richtungen, welche sie vorfand, nicht gleichmäßig scharf ausgesprochen. Gegen die metaphysischen Tendenzen machte die neue Lehre so energisch | Front, daß sie nicht in Gefahr geraten konnte, damit direkt verwechselt zu werden, und eine Reihe von historischen Einflüssen brachte es zudem mit sich, daß diese Opposition der kritischen gegen die metaphysische Methode in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und so scharf wie nur irgend denkbar zugespitzt wurde. Galt doch lange Zeit die transzendentale Dialektik mit dem ganzen Apparat, welchen sie zum Nachweis von der Unmöglichkeit einer Erkenntnis des Dinges-ansich beibrachte, für den eigentlichen Kern der kantischen Lehre! Nach der anderen Seite dagegen ist die Gefahr eines Mißverständnisses der kritischen Methode sehr viel größer und ausgebreiteter.
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Denn die Natur der Sache brachte es mit sich, daß Kants Untersuchung streckenweise mit den üblichen Forschungen über den »Ursprung« der Vorstellungen Hand in Hand gehen mußte, und seine eigene Gewöhnung an die zeitgemäße Betrachtungsweise der Probleme ließ ihn den fundamentalen Unterschied, den er selbst zwischen »Ursprung« und »Begründung« statuierte, so wenig festhalten und so wenig klar zur Darstellung bringen, daß schon Schleiermacher ihm den seither vielfach wiederholten Vorwurf machen konnte, die Grundunterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen erweise sich vor der psychologischen Einsicht als flüssig und unhaltbar. Kant selbst trug Schuld daran, daß der neue Begriff der Apriorität sehr bald in die alte Vorstellung psychologischer Priorität herabgezogen und so das Wertvollste seiner Schöpfung verkannt wurde. Um so mehr ist es nötig, jenen fundamentalen Unterschied, auf dessen Einsicht die Möglichkeit einer kritischen Auffassung der Philosophie beruht, mit aller Schärfe klar zu machen, und als der beste Weg dazu empfiehlt sich eine Reflexion auf einen methodischen Hauptunterschied der übrigen Wissenschaften und dessen letzte Bedeutung, wie diese Verhältnisse von der bisherigen Logik unter dem | Vorwiegen der Rücksicht auf das Erkenntnisziel der Naturforschung aufgefaßt werden. Verfolgt man nämlich alle Unterscheidungen, welche hinsichtlich des wissenschaftlichen Beweisverfahrens überhaupt zu machen sind, so reduzieren sie sich schließlich auf den Gegensatz von deduktiver und induktiver Methode, und dieser beruht auf dem Grundverhältnis, welches allem unserm Denken zugrunde liegt: demjenigen zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Die einheitliche Tendenz, welche unser gesamtes Nachdenken beherrscht, läßt sich dahin formulieren, daß wir die Abhängigkeit verstehen wollen, in welcher sich das Einzelne vom Allgemeinen befindet. Darum ist dies das absolute Grundverhältnis des wissenschaftlichen Denkens. An dem Punkte scheiden sich wissenschaftliche und ästhetische Funktion, wo, während der Blick des Künstlers liebevoll nur das Besondere in seiner gesamten Ausgestaltung erfaßt, der erkennende Geist, ebenso wie der praktisch handelnde,
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den Gegenstand unter eine allgemeinere Vorstellungsform zu subsumieren, das für diesen Zweck Untaugliche auszuscheiden und nur das »Wesentliche« festzuhalten beginnt. Darin besteht auch die umfassende Macht, welche Aristoteles auf die Entwicklung der menschlichen Wissenschaft ausgeübt hat, daß er dies Grundverhältnis des Allgemeinen und des Besonderen zum Angelpunkte ebenso seiner Metaphysik wie seiner Logik gemacht hat. An diesem Grundverhältnis und seiner allgemeinen Geltung wird auch dadurch nichts geändert, daß das Allgemeine und Wesentliche in der historischen Forschung sachlich einen anderen Sinn hat als in der Naturwissenschaft, daß es dort einen Wertzusammenhang der Tatsachen, hier ihre Gesetzmäßigkeit bedeutet.1 | Zwischen zwei Polen bewegt sich somit alles menschliche Erkennen: auf der einen Seite stehen die einzelnen Empfindungen, auf der anderen Seite die allgemeinen Sätze, welche über die möglichen Verhältnisse oder Beziehungen der ersteren bestimmte Regeln aussprechen. Alles wissenschaftliche Denken ist darauf gerichtet, mittelst der logischen Verknüpfungsformen jene Empfindungen unter diese allgemeinen Sätze unterzuordnen. Deshalb eben liegt allen logischen Formen diese Beziehung des Einzelnen auf das Allgemeine, die Abhängigkeit des ersteren vom letzteren zugrunde. Alle unsere Erkenntnis besteht darin, das Allgemeinste und das Besonderste miteinander durch die Zwischenglieder, welche unser Nachdenken erzeugt, zu verflechten. Die Gewißheit und Wahrheit aller dieser Zwischenglieder beruht also in letzter Instanz auf der Gewißheit und Wahrheit jener beiden in ihnen durch logische Operationen verflochtenen Elemente: der Empfindungen und der allgemeinen Sätze. Alles, was zwischen diesen beiden liegt, wird mit Anwendung der logischen Gesetze aus ihnen bewiesen. Daraus ergibt sich von selbst, daß diese Ausgangspunkte als die unerläßlichen Voraussetzungen alles Beweisens selbst nicht bewiesen werden können. Alle Gewißheit, die auf einem Beweise beruht, ist mittelbar: sie fällt und steht mit 1 Vgl. hierüber H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (Tübingen 1902), besonders S. 305 ff.
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der Gewißheit der Voraussetzungen des Beweises. Da aber unsere beweisende Tätigkeit nicht ins Unendliche zurückgehen kann, so muß sie einen absoluten Anfang haben, und dieser muß in solchen Vorstellungen gesucht werden, die selbst nicht mehr bewiesen werden können. Alles Beweisbare ist mittelbar gewiß; die letzten Voraussetzungen alles Beweisens sind unmittelbar gewiß. Diese unmittelbare Gewißheit trifft also jene beiden diametral einander gegenüberstehenden Ausgangspunkte: die Empfindungen und die allgemeinen Sätze, nach denen die Verhältnisse des Empfundenen aufgefaßt | werden sollen. Nennt man die letzteren, wie es gewöhnlich geschieht, Axiome, so darf man sagen: alle menschliche Erkenntnis besitzt die mittelbare Gewißheit, welche aus der logischen Unterordnung von Empfindungen unter Axiome gewonnen werden kann. Alle Sätze, welche die einzelnen Wissenschaften aufstellen und beweisen, sind logisch erzeugte Zwischenglieder zwischen Axiomen und Empfindungen: den Axiomen gegenüber sind sie das mehr oder minder Besondere, den Empfindungen gegenüber sind sie das mehr oder minder Allgemeine. Darum ist es, wie Lotze sehr richtig hervorgehoben hat, eine »glückliche Tatsache«, daß die Masse unserer Empfindungen sich wirklich dazu eignet, unter unsere axiomatischen Voraussetzungen subsumiert zu werden, – eine Tatsache, welche nicht notwendig ist in dem Sinne, daß man sie nicht aufgehoben denken könnte, sondern welche notwendig nur in dem Sinne ist, daß sie absolut erforderlich ist, wenn überhaupt Denken für uns möglich sein soll. Unsere Überzeugung, daß wir alle unsere Wahrnehmungen müssen denkend verarbeiten können, ist identisch mit der Voraussetzung, daß die Verhältnisse aller unserer Empfindungen sich unseren Axiomen unterordnen lassen, die man in dieser Hinsicht auch Postulate nennen kann. Wären die beiden Arten von unmittelbarer Gewißheit, die wir besitzen, gänzlich unvergleichlich, oder wären sie auch nur so verschieden, daß unser logisches Bewußtsein sie nicht aufeinander beziehen könnte, so gäbe es kein verknüpfendes Denken für uns. Zugleich aber folgt, wie hier nicht näher gezeigt werden kann, aus dem formalen Wesen des Denkens, daß jene Zwischenglieder,
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in deren Aufstellung die Tätigkeit aller Wissenschaften besteht, immer nur durch gemeinsame Benutzung beider Ausgangspunkte bewiesen werden können: aus bloßen Axiomen folgt, ohne Zuhilfenahme des Besonderen, nie etwas. Um aus einem allgemeinen Satze | irgend etwas zu folgern, muß man, nach dem Prinzip des Syllogismus, irgend etwas Besonderes haben, was unter das Subjekt des allgemeinen Satzes subsumiert wird; um von einem generellen Satze zu partikularen überzugehen, muß man ein Subordinations- oder ein Divisionsverhältnis kennen, welches auf rein analytischem Wege aus keinem Begriffe gewonnen werden kann, sondern irgendwie durch anderweitige Einsicht gegeben sein muß. Ebenso wenig aber ist es möglich, aus bloßen Empfindungen nur mit den formalen Operationen des verknüpfenden Denkens allgemeine Sätze zu erzeugen, welche für den Zusammenhang der Empfindungen gelten sollen: immer macht man dabei nicht nur die allgemeine Voraussetzung, daß überhaupt ein solcher Zusammenhang obwalte, sondern auch eine besondere Voraussetzung über die durch irgendeine Kategorie ausgedrückte Art dieses Zusammenhanges, und nur wenn man diese als letzten Obersatz des Schließens annimmt, wird die Verarbeitung der Tatsachen beweiskräftig. Weder bloße Axiome, noch bloße Empfindungen genügen, um etwas anderes zu beweisen. Wer nur das Allgemeinste besitzt, findet darin nicht den Stoff, um das Besondere herauszuspinnen: wer nur vor der Masse des Besonderen steht, findet keinen Weg, ein Allgemeineres hineinzuschmuggeln. Man bestimmt deshalb den Gegensatz deduktiver und induktiver Methode schief, wenn man meint, die erstere beweise nur aus Axiomen, die letztere nur aus Empfindungen. Beides ist unrichtig. Auch in der Mathematik folgen die einzelnen Lehrsätze aus den Axiomen nur dadurch, daß die letzteren auf gewisse anschauliche Kombinationen angewendet werden, deren Vorstellung in den Axiomen selbst nicht enthalten war und aus ihnen allein nicht hergeleitet werden könnte. Die Sätze vom ebenen Dreieck folgen aus den Axiomen der Geometrie nur mit Zuhilfenahme eben der Vorstellung vom Dreieck, und keine | bloß logisch-analytische Notwendigkeit kann aus jenen Axiomen den Begriff des Dreiecks
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ableiten. Auf der anderen Seite aber hat jeder induktive Beweis, den man etwa für ein einzelnes Naturgesetz führt, seine letzte Begründung in der Voraussetzung eines allgemeinen gesetzlichen Zusammenhanges der Naturerscheinungen, welcher sich in deren konstanter Sukzession offenbare; ohne die Hinzunahme dieses Axioms ist jede Umdeutung der bisher beobachteten Reihenfolge in ein »Gesetz« und jede Erwartung ihrer Wiederholung hinfällig und grundlos. Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine ist also in allen Fällen das Wesen des Beweisens. Auch die Prinzipien der Induktion sind, nach dieser formalen Richtung betrachtet, im Syllogismus zu suchen, und andererseits verlangt jeder Syllogismus einen Untersatz zu seinem Obersatze. Der Gegensatz deduktiven und induktiven Beweisverfahrens – von dem Forschen und Finden ist hier nicht die Rede – muß deshalb innerhalb dieses ihres gemeinsamen Grundcharakters gesucht werden. Er besteht wesentlich darin, daß die Deduktion unter einen allgemeinen Satz einen besonderen, wie auch immer gewonnenen Vorstellungsinhalt subsumiert, um daraus für eben diesen besonderen Fall etwas zu folgern; daß dagegen die Induktion eine Gruppe von Tatsachen unter einen allgemeinen Satz subsumiert, um daraus einen hinsichtlich der Allgemeinheit zwischen jenen Tatsachen und diesem allgemeinen Satze in der Mitte stehenden Satz abzuleiten. Nur in diesem sehr modifizierten und eingeschränkten Sinue gilt es, daß die deduktive Methode vom Allgemeinen zum Besonderen, die induktive dagegen vom Besonderen zum Allgemeineren fortschreitet. Jene setzt das Besondere, diese das Allgemeinste schon voraus. Das Besondere, dessen jede Deduktion bedarf, um überhaupt von dem Allgemeinen fortzukommen, ist entweder, wie in der Mathematik, eine willkürlich vollzogene Anschauung, oder, wie | etwa in der Jurisprudenz, eine auf Erfahrung beruhende Annahme von Möglichkeiten, oder, wie in der Geschichte, ein Komplex von Tatsachen, die durch eine gemeinsame Wertbeziehung zu einem Ganzen verbunden werden sollen, oder, wie in den deduktiven Teilen theoretischer Naturwissenschaften, die durch die Erfahrung gegebenen Spezialfälle der allgemeineren Gesetze.
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Das Allgemeine dagegen, ohne welches keine Induktion möglich ist, besteht immer in ganz allgemeinen Voraussetzungen über die Zusammengehörigkeit oder die Wertverhältnisse der Vorstellungsinhalte, in den Grundgesetzen, welche jedem normalen Denken als selbstverständlich gelten. Daher kommt es, daß man bei Anwendung der induktiven Methode diese selbstverständlichen Axiome, deren sie auf Schritt und Tritt benötigt, nicht erst besonders auszusprechen pflegt; es wäre pedantisch und langweilig, bei jedem induktiven Schluß das Kausalitätsprinzip zu nennen, welches doch den unerläßlichen Obersatz dafür bildet. Daraus aber entspringt leicht die Gefahr, diese letzte Begründung ganz zu übersehen und zu meinen, die Prämissen des induktiven Beweises seien mit den Tatsachen erschöpft, die dabei verwertet werden. So konnte jene traurige Ansicht entstehen, als ließe sich eine Wissenschaft als ein bloßer Haufen von Tatsachen wie mit dem Besen zusammenkehren. Jedenfalls ist es unbestreitbar, daß aller Erkenntnistätigkeit der einzelnen Wissenschaften, in dem induktiven so gut wie in dem deduktiven Fortschritt, die Anerkennung von Axiomen zugrunde liegt, deren Sinn darin besteht, daß durch sie allein über Tatsachen und aus Tatsachen etwas bewiesen, d. h. etwas als wahr erhärtet werden kann. Das System dieser Axiome darzustellen und ihr Verhältnis zu der Erkenntnistätigkeit zu entwickeln, – nichts anderes kann die Aufgabe der theoretischen Philosophie, der Logik, sein. Aber von gleich axiomatischer, alle besonderen Funktionen bedingender und begründender | Geltung sind auf dem ethischen und zum Teil schon aus dem historischen Gebiete die allgemeinen Zwecke, deren Anerkennung von jedem verlangt wird und nach denen alle besondere Zwecktätigkeit beurteilt wird, – auf dem ästhetischen Gebiete die Regeln der Gefühlswirkung, mit denen die allgemeine Mitteilbarkeit bestimmter Gefühle begründet werden kann. Mit einer Erweiterung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs kann man so auch von ethischen und ästhetischen Axiomen sprechen, und es läßt sich dann die Aufgabe aller philosophischen Untersuchungen auch so formulieren: das Problem der Philosophie ist die Geltung der Axiome.
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Es gehört zum Begriff der Axiome, wie gezeigt, unbeweisbar zu sein. Deduktiv können sie nicht bewiesen werden, weil sie selbst die Grundlage aller Deduktion bilden und weil für diesen Beweis dann wieder noch Allgemeineres, Unmittelbareres, also noch höhere Axiome in Anspruch genommen werden müßten. Induktiv können sie erst recht nicht bewiesen werden, weil jede Induktion auf dem Gebiete, innerhalb dessen sie vorgenommen wird, bereits eben die Geltung der Axiome voraussetzt. Hieraus ergibt sich, daß die Philosophie weder von der deduktiven noch von der induktiven Methode den Gebrauch machen kann, welcher in den übrigen Wissenschaften üblich ist. Die Geltung der Axiome ist weder aus irgend etwas anderem abzuleiten noch durch die Masse der einzelnen Fälle zu beweisen, in denen sie sich geltend zeigen. Die Philosophie muß also ihrem Probleme auf andere Weise beikommen. Kant hat jene Axiome, um deren Geltung es sich in seiner Kritik handelt, mit dem Namen der synthetischen Urteile a priori bezeichnet, und seine drei Hauptwerke verfolgen sie auf den drei oben bezeichneten Gebieten. Will man seinen Begriff ohne die seitdem so vieldeutig gewordene, durch die psychologistische Auffassung völlig | verschiefte Terminologie in einer nicht mißzuverstehenden Weise darstellen, so kann man sagen: es handelt sich für die Philosophie um die Geltung solcher Vorstellungsverbindungen, welche, selbst unbeweisbar, allem Beweisen mit unmittelbarer Evidenz zugrunde liegen. Für die Philosophie kommt deshalb alles darauf an, wie diese unmittelbare Evidenz der Axiome aufgewiesen werden soll. Es gibt keine logische Notwendigkeit, mit der die Geltung der Axiome bewiesen werden könnte. Deshalb ist nur zweierlei möglich: entweder man zeigt die tatsächliche Geltung auf, man sucht nachzuweisen, daß in dem wirklichen Prozeß des menschlichen Vorstellens, Wollens und Fühlens diese Axiome tatsächlich als geltend anerkannt werden, daß sie in der empirischen Wirklichkeit des Seelenlebens geltende, anerkannte Prinzipien sind, – oder man zeigt, daß ihnen eine andersartige Notwendigkeit beiwohnt, die teleologische Notwendigkeit nämlich, daß ihre Geltung unbedingt
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anerkannt werden muß, wenn anders gewisse Zwecke erfüllt werden sollen. Dies ist der Punkt, an welchem sich die genetische und die kritische Auffassung der Philosophie voneinander scheiden. Für die genetische Methode sind die Axiome tatsächliche Auffassungsweisen, welche sich in der Entwicklung der menschlichen Vorstellungen, Gefühle und Willensentscheidungen gebildet haben und darin zur Geltung gekommen sind; für die kritische Methode sind diese Axiome – ganz gleichgültig, wie weit ihre tatsächliche Anerkennung reicht – Normen, welche unter der Voraussetzung gelten sollen, daß das Denken den Zweck wahr zu sein, das Wollen den Zweck gut zu sein, das Fühlen den Zweck Schönheit zu erfassen, in allgemein anzuerkennender Weise erfüllen will. Wenn in dieser Weise für die kritische Philosophie der teleologische Gesichtspunkt in Anspruch genommen wird, so | geschieht das ohne jede metaphysische Hypostasierung des Zweckbegriffs, und so zeigt sich eben darin der fundamentale Unterschied, in welchem sich die Philosophie von den übrigen Wissenschaften befindet. Unter den Prinzipien der erklärenden Wissenschaften hat der Zweckbegriff keine oder eine sehr bescheidene Stelle; das Urteil über den Grad, in welchem ein Ding oder eine Tätigkeit irgendeinem Zwecke entspricht, ist kein theoretisches Urteil und keine Einsicht, durch welche die Wirklichkeit des Dinges oder der Tätigkeit begriffen würde. Die Teleologie ist keine genetische Erkenntnis. Von Zwecken ist in der erklärenden Wissenschaft nur auf dem beschränkten Gebiete der Psychologie, der Gesellschaftslehre und der Geschichte die Rede, wo die bewußte Absicht als einer der kausal und gesetzmäßig wirkenden Faktoren des individuellen oder des gemeinsamen Lebens in Rechnung gezogen werden muß: im übrigen aber ist die Einsicht in die Zweckmäßigkeit irgendwelcher Verhältnisse keine kausale Erkenntnis derselben.2 Die teleologische Notwendigkeit erklärt die Wirklichkeit 2 Man spricht in neuerer Zeit gern davon, daß die entwicklungsgeschichtliche Forschung, welche in der erklärenden Wissenschaft einen so bedeutenden Raum einnimmt, die Zweckmäßigkeit der Lebewesen zum
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nicht. Es ist also nicht zu befürchten, daß die Art, wie hier der teleologische Gesichtspunkt für die philosophische Methode in Anspruch genommen wird, in irgend|einen Widerspruch mit den Voraussetzungen der übrigen Wissenschaften gerate: die Philosophie gewinnt aus dem Verzicht, den sie darauf tut, den erklärenden Wissenschaften ins Handwerk zu pfuschen, auf ihrem ganz eigenen Gebiete den Mut, sich zu dem Gedanken des teleologischen Zusammenhanges als zu ihrem Prinzip zu bekennen. In gewissem Sinne also gilt es für den ganzen Umfang der kritischen Philosophie, was Schiller von einer besonderen Lehre der kantischen gesagt hat: sie schiebt einem, was sie nicht beweisen kann, »ins Gewissen hinein«. Die theoretische Philosophie kann ihre Axiome nicht beweisen; weder die sog. Denkgesetze der formalen Logik noch die Grundsätze aller Weltbetrachtung, die sich aus den Kategorien entwickeln, sind irgendwie durch Erfahrung zu begründen; aber die Logik kann zu einem jeden sprechen: Du willst Wahrheit, besinne dich, du mußt die Geltung dieser Normen anerkennen, wenn dieser Wunsch je erfüllt werden soll. Die praktische Philosophie kann die sittlichen Maximen weder durch eine allseitige Induktion gewinnen noch aus irgendwelchen theoretischen Erkenntnissen der Metaphysik, der Psychologie oder der empirischen Gesellschaftslehre ableiten; aber die Ethik kann sich an jeden mit dieser Argumentation wenden: Du bist überzeugt, daß es ein absolutes Maß gibt, nach welchem entschieden werden soll, was gut und was böse ist; wohlan, sobald du dich recht bePrinzip der Erklärung mache und deshalb im Grunde genommen auch teleologischen Charakters sei. Doch herrscht in dieser Hinsicht vermöge der Vieldeutigkeit des Wortes »zweckmäßig« eine gewaltige Verwirrung. Die Zweckmäßigkeit, welche die entwicklungsgeschichtliche Erklärung im Auge hat, ist nicht etwa Normalität, Übereinstimmung mit einem Ideal, sondern einfach Lebensfähigkeit. Zweckmäßig wird von diesem Standpunkte aus alles genannt, was lebensfähig ist, mag es im übrigen sein wie es wolle, und wenn man dann schließlich zu der Einsicht kommt, daß im Kampfe ums Dasein nur dies Zweckmäßige sich erhält, so ist das eben keine große Weisheit, sondern eine Tautologie, resp. das analytische Urteil: was lebensfähig ist, bleibt leben.
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sinnst, wirst du finden, daß das nur möglich ist, wenn die Geltung gewisser Normen als unerläßlich anerkannt wird. Die ästhetische Philosophie kann die Regeln der Schönheit weder durch theoretisches Welterkennen noch durch Herumfragen bei allen oder auch nur vielen fühlenden Individuen beweisen; aber sie kann uns zu der Besinnung zwingen, daß, wenn Schönheit etwas anderes sein soll als individuelle Wohlgefälligkeit, wir eine allgemeingültige Norm für sie anerkennen müssen. Die Geltung der Axiome ist überall durch einen Zweck | bedingt, der als Ideal für unser Denken, Wollen und Fühlen vorausgesetzt werden muß. Wer daran Anstoß nehmen wollte, daß eine solche Grundvoraussetzung der kritischen Methode unerläßlich ist, der wäre zunächst daran zu erinnern, daß die genetische Methode noch viel mehr und viel speziellere Voraussetzungen machen muß, ohne damit zu einem befriedigenden Resultate zu gelangen. In erster Linie gehören dazu alle diejenigen Axiome, ohne welche es überhaupt keine erklärende Theorie gibt, alle diejenigen, wodurch die Konstatierung von Tatsachen und die Deutung ihres Zusammenhangs allein begründet werden kann. Der ganze Inhalt eines Systems der Erkenntnistheorie muß vorausgesetzt werden, um in philosophischem Sinne irgendeine »Theorie« zu begründen: und das gilt auch von dem tatsächlichen Nachweis und der genetischen Betrachtung der Axiome. Es sind also nicht etwa nur die Gesetze der sog. formalen Logik, deren Geltung dabei von vornherein zugestanden werden muß, sondern eben dieselben Grundsätze der Erkenntnistheorie (wie z. B. der Kausalitätssatz), um deren Untersuchung es sich handelt. Für die Axiome der formalen Logik freilich, für die Regeln des Urteilens und Schließens, ist es selbstverständlich, daß ihre Geltung für jede Untersuchung, also auch für die auf sie selbst bezügliche, von vornherein zugestanden sein muß. Wenn man überhaupt nachzudenken anfängt, sei es auch über das Denken selbst, so muß man die Regeln des richtigen Denkens schon eben dabei anwenden, wo man sie etwa als gültig nachweisen will; wenn man überhaupt sich miteinander verständigt, so muß man die dafür geltenden Normen anwenden, auch wenn man erst im Begriffe ist, zu untersuchen, wie man es macht, sich
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miteinander zu verständigen. Logische Untersuchungen anstellen, ohne schon logisch korrekt zu denken, – das wäre in Wahrheit das »Schwimmen lernen, ehe man ins Wasser geht«. Dies | haben alle verständigen Logiker erkannt, und daraus darf also keiner logischen Behandlungsweise ein Vorwurf gemacht werden, weil es ausnahmslos für alle Standpunkte zutrifft. Aber die Voraussetzungen der genetischen Methode sind auch mit diesen formalen Bestimmungen lange nicht erschöpft: wie oben gezeigt wurde, beruht jede Feststellung von Tatsachen und jede darauf fußende oder darauf bezügliche Theorie immer auf den allgemeinen »Vorurteilen«, unter welche wir unsere Wahrnehmungen im einzelnen oder im ganzen subsumieren, und eben dies sind die Axiome der Erkenntnistheorie, deren Geltung nachgewiesen werden soll. Besonders aber gilt das, wie es sich ganz von selbst versteht und wie es nicht erst weiter begründet zu werden braucht, von den Versuchen, die unter dem Druck der empiristischen Tendenz der Gegenwart die Philosophie zu einer Art von Naturwissenschaft, zu einer »induktiven« Disziplin machen wollen. Zu jeder derartigen »Theorie« gehört aber außerdem noch ein großes, umfangreiches Material entweder nur psychologischer oder psychologischer und historischer Erkenntnisse. Will man zeigen, daß die Axiome wirklich gelten, und begreiflich machen, wie sie in dem naturgesetzlichen Prozeß des menschlichen Seelenlebens zur Geltung gekommen sind, so ist das nur auf dem Boden teils der Psychologie, teils der Kulturgeschichte (im weitesten Sinne des Wortes) möglich. Für die genetische Methode ist deshalb Psychologie und Kulturgeschichte der eigentliche Herd philosophischer Untersuchung. Die Daten dieser empirischen Wissenschaften sind für sie das entscheidende Erkenntnismaterial; die Philosophie ist für sie nichts anderes als eine auf die Axiome gerichtete psychologisch-kulturgeschichtliche Betrachtung. Sie ist der »hoffnungslose Versuch«, durch eine empirische Theorie dasjenige zu begründen, was selbst die Voraussetzung jeder Theorie bildet. Aber gesetzt auch, man wollte die ganze Masse und | die Besonderheit aller dieser Voraussetzungen zugeben, so ist doch gar
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nicht abzusehen, was man durch eine solche Beschränkung auf die empirisch-genetische Behandlung der Axiome für die Aufgabe der Philosophie erreichen will. Das Höchste, was auf diesem Wege zu gewinnen wäre, würde doch immer nur darin bestehen, zu konstatieren und aus den Gesetzen des psychischen Lebens begreiflich zu machen, daß die Axiome tatsächlich gelten. Aber mit diesem Nachweis und dieser Erklärung allein dürfte es etwa ebenso ungünstig stehen, wie mit der tatsächlichen Geltung selbst. Wenn »gelten« im Sinne des Tatsächlichen bedeuten soll, daß etwas anerkannt werde oder das faktisch bestimmende Prinzip sei, so »gelten« die Axiome tatsächlich zwar für einzelne und gelegentlich, aber weder für alle noch jederzeit. Und zwar trifft das die Gattung ebenso wie das Individuum. Denn gegen die tatsächliche Geltung der Axiome lassen sich mit vollem Rechte alle die Einwürfe erheben, welche Locke gegen die sog. eingeborenen Ideen gerichtet hat: und man braucht nicht erst zu den Botokuden und anderen interessanten Völkerschaften zu gehen, um zu erfahren, daß etwas tatsächlich allgemein Geltendes im weiten Umkreise der menschlichen Seelentätigkeit nicht angetroffen werden kann; – es sei denn jener Glückseligkeitstrieb, der als rein formaler Begriff des Strebens nach Befriedigung der jeweiligen Wünsche, sie mögen sein, welche sie wollen, so hoch und so niedrig wie nur immer, sich überall und jederzeit realisiert findet. Er ist folgerichtig auch das einzige, was die empiristische Methode der Psychologisten als das Allgemeingeltende konstatiert hat: womit sie denn freilich bei dem Pöbel, dem sie dadurch nichts Neues sagt, großen Erfolg zu haben pflegt. Aber von keinem allgemeinen Satze, weder von einem Denkgesetz der formalen Logik noch von einem erkenntnistheoretischen Axiom, weder von einer sittlichen Maxime noch von einer ästhetischen Regel läßt sich eine | tatsächliche allgemeine Anerkennung feststellen. Kinder und Idioten lassen sich überall als negative Instanzen aufführen, und auch wenn man darauf verzichtet, so bieten die ausgewachsenen Exemplare der Spezies homo sapiens so viele Varietäten, daß nichts als allgemein anerkannt zwischen ihnen gelten darf. Weder durch induktive Vergleichung aller Individuen und Völker noch durch deduktive Ableitung aus
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einem Begriff vom allgemeinen »Wesen« des Menschen läßt sich das Allgemeingültige finden. Wollte sich daher jemand in dieser Hinsicht wirklich und allen Ernstes auf den Standpunkt der »reinen Erfahrung« stellen, so müßte er es für eine Sache der bloßen Willkür erklären, daß überhaupt von Allgemeingültigem in strengem Sinne geredet wird: man darf der tatsächlichen Geltung höchstens approximative Allgemeinheit zuschreiben. Der naturnotwendige Prozeß des Seelenlebens treibt bei den Individuen und ebenso bei den einzelnen Völkern gewisse allgemeine Auffassungsweisen hervor. Das sind die konstanten Apperzeptionsformen und Apperzeptionsmassen, welche, nachdem sie sich den Gesetzen der Assoziation und Reproduktion gemäß gebildet haben, den ferneren Verlauf der psychischen Bewegung bestimmen und sich mit einem Gefühl subjektiver Gewißheit verknüpfen – belief hieß es bei Hume, Glaube übersetzte es unglücklich genug Jacobi, Überzeugungsgefühl taufte es Schleiermacher –, welches sich anspruchsvoll in einem jeden so darstellt, als müßten alle anderen ebenso denken, wollen, fühlen. Vor der psychologischen Betrachtung aber sind alle diese Apperzeptionen gleich notwendig, und von ihr aus ist absolut nicht abzusehen, wie jemals entschieden werden sollte, daß die eine mehr Recht hat als die andere. Die genetische Erklärung ebenso wie die tatsächliche Konstatierung trifft alle gleichmäßig. Für sie gibt es daher kein absolutes Maß, ihr müssen alle diese Überzeugungen als gleichberechtigt, weil als gleich naturnotwendig gelten. | Für sie haben alle diese allgemeinen Sätze und die darauf sich gründenden Beurteilungen nur relativen Wert teils für den Standpunkt des Individuums, teils für das psychische Gesamtleben einer historisch bedingten Gesellschaft. So ist der Relativismus die notwendige Konsequenz der rein empiristischen Auffassung der philosophischen Kardinalfrage. Wie alle Formen der Weltbetrachtung in dem klaren Ablauf des hellenischen Geisteslebens mit typischer Einfachheit und Großartigkeit sich in scharf zugeschliffener Gestalt entwickeln, so tritt auch diese Konsequenz bei den Sophisten überaus einleuchtend hervor, und alle späteren Darstellungsformen des Relativismus, wie
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etwa die Lehre der Enzyklopädisten oder der moderne Positivismus und Pragmatismus, sind nur Neuverbrämungen und zeitgemäß zurechtgemachte Abklatsche jenes protagoreischen: πάντων χρημάτον μέτρον ἄνθρωπος. Indessen ist es mit diesem Relativismus nicht so schlimm, wie es furchtsamen Gemütern erscheinen könnte. Wo er als wissenschaftliche Theorie auftritt, da ist er eine ungeheure Selbsttäuschung. Denn eben damit, daß er eine Theorie sein will, erkennt er stillschweigend alle diejenigen Voraussetzungen an, unter denen überhaupt eine Theorie möglich ist und begründet werden kann. Wenn er seinen Satz beweisen will, so nimmt er an, daß es möglich ist, Tatsachen in allgemeingültiger Weise festzustellen, und daß es ebenso möglich ist, aus ihnen etwas zu erschließen, was alle anerkennen sollen. Er zeugt selbst für das, was er bekämpft, für die Geltung erkenntnistheoretischer Grundsätze und logischer Normen. Tut er das nicht, so bleibt ihm nur, wie einigen Schwätzern der griechischen Sophistik, übrig, zu erklären, daß man eigentlich gar nichts behaupten dürfe, was denn freilich seiner Weisheit weisestes Ende ist. Auf dem theoretischen Gebiete wenigstens erkennt jede, auch die nihilistische und relativistische | Theorie die Geltung der Axiome, das Vorhandensein einer alle bindenden Norm an. Je mehr der Relativist seine Beweise häuft, um so lächerlicher wird er: denn um so mehr widerlegt er, was er beweisen will. In Wahrheit gibt es deshalb auch keine ernstliche wissenschaftliche Theorie des Relativismus: sondern diese Meinung, daß für jeden nur gelte, was ihm gerade scheint, ist wirklich vorhanden nur als eine wenig beneidenswerte Art der Lebensauffassung. Der Relativismus ist die »Philosophie« des Blasierten, der an nichts mehr glaubt, oder des weltstädtischen Gamins, der achselzuckend über alles sein freches Witzchen macht und es eben nur recht findet, heute so und morgen so zu reden. Auf irgend eine Weise suchen deshalb auch die Vertreter der genetischen Methode immer den Begriff des Normalen und Allgemeingültigen zu retten, und zwei Wege bieten sich ihnen dafür dar, die sich wohl gelegentlich berühren. Muß auf tatsächliche Allgemeingültigkeit verzichtet werden, so scheint sich das Normale
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teils durch quantitative Verhältnisse, teils durch den historischen Prozeß bestimmen zu lassen. Gibt es nichts, worin alle Menschen zu allen Zeiten übereinstimmen, so ist doch auf der einen Seite jedesmal eine Meinung der großen Masse vorhanden, auf der andern Seite ein entschiedener Fortschritt, mit dem allmählich in der Geschichte der Menschheit Axiome und Normen zur »tatsächlichen Geltung« wenigstens bei der Mehrzahl oder bei den »Besseren« gekommen sind. Die tatsächliche Geltung ist entweder bei der Majorität zu suchen oder durch den Fortschritt der Geschichte zu konstatieren. Der Appell an die Masse hat den Vorzug, besonders plausibel zu sein: der Aberglaube an die Majorität gehört zu den Spezialitäten unserer Zeit. Durch unsere naturgesetzliche Betrachtungsweise sind wir dahin gekommen, daß wir den Wahnsinn, der sich ja ebenso notwendig | entwickelt wie das »normale« Denken, nur noch als eine von der üblichen abweichende Bewegung der Vorstellungen definieren, – daß wir im Verbrecher nur den Unglücklichen sehen, der nun einmal, ebenso naturnotwendig wie wir alle, anders will und handelt, als es von der großen Mehrzahl gebilligt wird. Was man früher das Abnorme nannte, ist bald für uns nur noch das Ungewöhnliche. Auf dem breiten Boden der Naturnotwendigkeit aber ist das Ungewöhnliche ebenso berechtigt wie das Gewöhnliche: da gibt es überhaupt kein Recht, sondern nur die Macht, die Existenz, und was die Majorität an dem einzelnen tut, der von ihren Gewohnheiten abweicht, das beruht nur auf dem brutalen »Recht« des Stärkeren. Wenn man keinen anderen Gesichtspunkt, als den der tatsächlichen Konstatierung und der genetischen Erklärung hat, so ist es in alle Wege unmöglich, den Wert der einzelnen Erscheinungen gegeneinander abzuschätzen: das, was die Majorität anerkennt – sei sie auch noch so groß –, ist darum noch nicht das Rechte. Die Wissenschaft muß protestieren, wenn auch in sie das Verfahren heutiger Politik eingeführt werden soll. Die Quantität tatsächlicher Billigung ist niemals ein Beweis der Normalität. Die Mehrheit kann ebenso gut fehlgehen wie der einzelne, und es fragt sich sehr, wofür die größere Wahrscheinlichkeit ist. Und wer jene Meinung, die Norm sei in der Überzeugung der Mehr-
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zahl gegeben, ernstlich vertreten wollte, den braucht man nur zu fragen, ob denn die Majorität niemals geirrt und gefehlt habe. Die Unterwerfung unter das Urteil der Masse – das wäre ein trauriger Ausgang der Bemühungen der Philosophie. Eine ähnliche Beugung vor der brutalen Tatsache liegt vor, wenn man, lediglich vom Standpunkt der genetischen Erklärung aus, in der Bewegung der menschlichen Geschichte das beweisende Kriterium für die »Geltung« der Axiome sucht und wenn man meint, das Normale mit | demjenigen begründen zu dürfen, was durch den geschichtlichen Fortschritt zu immer tieferer, festerer, umfassenderer Anerkennung gekommen ist. Neben allen anderen macht man dabei die Voraussetzung, daß im Verlauf des historischen Prozesses von selbst, durch dessen naturnotwendige Entfaltung, die Vernunft zum Durchbruch komme, und man konstituiert, so scheint es, die Auffassung des Normalen durch Reflexion auf den historischen Fortschritt. Zugegeben zunächst, was außerdem nicht so ganz zweifellos sein dürfte, daß jene Voraussetzung zuträfe, so bliebe doch immerhin noch festzustellen, was in der geschichtlichen Bewegung Fortschritt, d. h. Verbesserung, Annäherung an das Normale und Vernünftige, genannt werden soll. Das wird doch hoffentlich jeder zugeben, daß durchaus nicht immer das Spätere eo ipso als solches das Bessere ist. Veränderung ist nicht Fortschritt. Das klingt sehr trivial und selbstverständlich. Aber es heißt vielleicht, den Finger in eine offene Wunde unserer Zeit legen, wenn man diese Trivialität ausspricht. Denn je mehr die rein genetische Betrachtung maßgebend wird, um so leichter entsteht die Täuschung, als sei auch in der Kulturentwicklung des Menschen immer das Neue zugleich das Bessere, das Anerkennungswertere. Für den Standpunkt der erklärenden Theorie gibt es nur Früheres und Späteres, gibt es eben nur Veränderung: ob die Veränderung ein Fortschritt ist, das läßt sich mit der genetischen Untersuchung allein nicht entscheiden; dazu gehört allemal ein Maßstab, die Vorstellung eines Zwecks, wonach der Wert der Veränderungen bestimmt wird. Wer daher überhaupt von einem »Fortschritt« in der Geschichte spricht, der nimmt, indem er den genetisch zu erklärenden Prozeß beurteilt, mit klarem oder un-
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klarem Bewußtsein irgendein Ideal, einen Zweck, eine Norm als Maßstab an, um mit Rücksicht darauf die einen Veränderungen als Fortschritt, die andern als Stillstand und Rückgang zu bezeichnen. Die rein | naturalistische Betrachtung kennt nur notwendige Veränderungen und weiß von ihrem Werte nichts. Wenn man von der historischen Untersuchung auch den Nachweis des Fortschritts erwartet, so muß sie eine Voraussetzung über den Zweck besitzen, nach welchem der Fortschritt gemessen werden soll; beurteilende Geschichte ist nur durch ein zweckbestimmtes Bewußtsein möglich. Wer daher die Geltung der Axiome aus dem Fortschritt der Geschichte ableiten will, der muß schon ein Prinzip haben, wonach er in dieser Hinsicht bestimmt, was Fortschritt genannt werden soll; er muß also entweder das Bewußtsein der Axiome als Maßstab für die Beurteilung der historischen Erscheinungen schon voraussetzen, oder er muß für jeden Moment der Geschichte dasjenige, was nun gerade zu leidlich allgemeiner Anerkennung und Anwendung gekommen ist, als »gültiges« Axiom anerkennen. Im letzteren Falle würde ein historischer Relativismus daraus resultieren, der noch niemals ernsthaft behauptet worden ist; im ersteren Falle macht somit gerade die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung im Geheimen die Voraussetzung einer absoluten Geltung, nach der sie den historischen Prozeß beurteilt. Wenn man erst einmal die Axiome festgestellt oder angenommen hat, dann kann man sehr gut auch zeigen, wie sie in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit zur faktischen Anerkennung gekommen sind und wie eben darin der Fortschritt dieser Geschichte besteht. Um die Vernunft in der Geschichte nachzuweisen, muß man nicht nur die Geschichte, sondern auch die Vernunft kennen. Eine »Kritik der historischen Vernunft« ist also ein sehr löbliches Unternehmen: sie muß nur eben eine Kritik sein, und als solche bedarf sie eines Maßstabes. Wenn man »ganz vorurteilslos« den historischen Verlauf betrachtet, so findet man, daß bald dies, bald jenes geglaubt und anerkannt worden ist; man kann die sprachlichen | Vorgänge und die geschichtlichen Denkbewegungen konstatieren, welche zu diesen Überzeugungen Veranlassung gegeben haben; man kann auch schließlich feststellen, welche Axio-
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me zurzeit in den bevorzugten Kreisen der Menschheit, die sich selbst als Kulturvölker bezeichnen, anerkannt werden: aber damit kommt man nicht über die simple Tatsache hinaus, und der Umstand, daß der kausal bedingte Prozeß des menschlichen Gattungslebens zum Bewußtsein gewisser Sätze geführt hat, beweist nicht das Geringste für ihre absolute Geltung oder ihre Berechtigung: es wäre ja ebenso gut möglich, daß, etwa vermöge ursprünglich unglücklicher Richtung und steter Häufung der Vorstellungsassoziation unter dem Einflusse alltäglicher Bedürfnisse, diese gesamte Entwicklung zu lauter Täuschungen und Torheiten geführt hätte, die wir nur eben deshalb jetzt für Wahrheit hielten, weil wir darin unentfliehbar eingeschlossen sind. Wenn deshalb die genetische Methode in der sog. völkerpsychologischen Behandlung, welche ihre bedeutendste und edelste Erscheinung ist, an der Hand der Sprachwissenschaft und der Kulturgeschichte die allmähliche Genesis des axiomatischen Bewußtseins der indogermanischen Rasse darstellt, so löst sie damit eine hohe geschichtliche Aufgabe, aber nicht das Problem der Philosophie: denn die »Geltung« der Axiome kann unmöglich damit erschöpft sein, daß sie durch die historische Notwendigkeit bei gewissen Gruppen der Menschheit zur Anerkennung gelangt sind; und der Fortschritt, der auf diese Weise in der Geschichte nachgewiesen werden soll, darf doch nur deshalb als solcher bezeichnet werden, weil man von vornherein die Geltung der Axiome voraussetzt und alles dasjenige als Fortschritt ansieht, was zum Bewußtsein und zur Anerkennung davon geführt hat. So zeigt es sich, daß die genetische Methode für die Axiome nie etwas anderes als einen gewissen Umkreis von empirischer Geltung der Axiome aufweisen kann und dabei | doch in eben diesem Aufweise ihre normative Bedeutung in Anspruch nimmt. Die quantitativen und die zeitlichen Verhältnisse genügen nicht, um diesen Axiomen irgendein höheres Recht zu gewähren, als es jedem beliebigen anderen Produkte des psychischen Mechanismus zukommt, und alle entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen setzen, geradeso wie jede empirische Forschung, das gesamte System des normalen Bewußtseins schon voraus. Dagegen bedarf
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die kritische Methode, abgesehen von der Unterwerfung unter die formalen Denkregeln, ohne welche, wie oben erwähnt, auch sie nicht denken kann, nur einer einzigen Gesamtvoraussetzung: derjenigen nämlich, daß es ein normales Bewußtsein gibt, dessen Grundsätze anerkannt werden müssen, sofern überhaupt irgendetwas allgemeine Geltung haben soll. Die allgemeine Geltung, von der hier die Rede ist, darf also nicht im Sinne des tatsächlichen Anerkanntwerdens, sondern nur des Anerkanntwerdensollens verstanden werden. Gleichgültig, wie weit die faktische Anerkennung reicht, baut sich die kritische Methode auf der Überzeugung auf: es gibt allgemeine Werte, und damit diese erreicht werden, muß sich der empirische Prozeß des Vorstellens, Wollens und Fühlens in denjenigen Normen bewegen, ohne welche eben die Erfüllung des Zwecks nicht denkbar ist; diese allgemeinen Werte sind die Wahrheit im Denken, die Gutheit im Wollen und Handeln, die Schönheit im Fühlen, und alle diese drei Ideale repräsentieren jedes auf seinem Gebiete nur das Verlangen nach demjenigen, was der allgemeinen Anerkennung würdig ist. Diese Würdigkeit ist natürlich aus den faktischen Prozessen des Anerkennens nicht herauszulesen; sie besitzt eine unmittelbare Evidenz, mit der sie sich, wenn sie an irgendeinem beliebigen empirischen Inhalte zum Bewußtsein gekommen ist, zur faktischen Geltung im einzelnen Bewußtsein bringt. Die Voraussetzung der kritischen Methode ist also der | Glaube an die allgemeingültigen Zwecke und an ihre Fähigkeit, im empirischen Bewußtsein erkannt zu werden. Wer diesen Glauben nicht hat oder ihn erst »bewiesen« haben möchte, wer sich künstlich – denn von der Natur haben wir jene Überzeugung alle – davon überredet, daß es nichts Allgemeingültiges gebe, – der bleibe daheim: mit ihm weiß die kritische Philosophie nichts anzufangen. Der Logiker wendet sich nicht an den, der da leugnet, daß es einen Zwang des normalen Denkens gibt; die Ethik hat mit dem nichts zu schaffen, der absolut kein Gebot des richtigen Wollens anerkennt, und die Ästhetik ist für denjenigen ein Unding, der die allgemeine Mitteilbarkeit, auf welcher das Wesen des ästhetischen Eindrucks beruht, in Abrede stellt. Eine philosophische Unter-
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suchung ist nur zwischen denjenigen möglich, welche überzeugt sind, daß eine Norm des Allgemeingültigen über ihren individuellen Tätigkeiten steht, und daß es möglich ist, diese zu finden. Mit dieser Voraussetzung begeht nun die kritische Methode von vornherein einen Zirkel. Wer sie handhabt, muß voraussetzen, daß sowohl er selbst, als auch derjenige, an welchen er sich mit seiner Untersuchung wendet, das normale Bewußtsein wenigstens in einem gewissen Umfange besitze. Nirgend anders kann die Ästhetik die Prinzipien des guten Geschmacks finden, als bei denjenigen, bei denen sie ihn von vornherein vermutet. Wo in aller Welt soll die Ethik die Prinzipien der Moral suchen, wenn nicht im gemeinsamen Bewußtsein derjenigen, von denen vorausgesetzt wird, daß sie richtig urteilen und handeln? So kann auch die Logik die Regeln des wahren Vorstellens nur bei solchen suchen, denen sie ihre Befolgung von vornherein zutraut. Alle drei haben in dieser Weise ein Ideal des normalen Menschen, das sie voraussetzen, um es zur Darstellung zu bringen. Auch hier gilt, was Lotze gesagt hat, daß, da dieser Zirkel einmal unvermeidlich ist, man ihn reinlich begehen soll. | Um dies zu tun, ist es zunächst erforderlich, den schwersten Vorwurf gegen die kritische Methode zurückzuweisen, der sich gerade an dieser Stelle erhebt. Denn alle diejenigen, welche sich auf das normale Bewußtsein besinnen wollen und es zu diesem Zwecke bei sich selbst und anderen voraussetzen müssen, sind doch eben empirisch bestimmte Individuen, und die psychologische Notwendigkeit wird es mit sich bringen, daß ihnen dasjenige, was durch den historischen Prozeß als axiomatisches Bewußtsein in ihnen erzeugt worden ist, unmittelbar jene höchste Evidenz des Normalbewußtseins zu haben scheint, daß sie also das für sie selbst faktisch Gültige mit dem Allgemeingültigen verwechseln. Die kritische Methode scheint den schlimmsten Fehler zu machen, indem sie den Standpunkt des philosophierenden Individuums zur absoluten Norm erhebt, und wäre das der Fall, so wäre sie einfach gerichtet. Diese ernste Gefahr besteht in der Tat, und sie hat sich oft genug, am meisten bei der Ethik und der Ästhetik, in schweren Irrtümern
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gezeigt. Die Verabsolutierung historisch bestimmter, durch besondere soziale oder gar individuelle Verhältnisse hervorgerufener Auffassungsweisen ist ja gerade dasjenige, was man zumeist gegen die kritische und zugunsten der genetischen Methode ins Feld führt. Und diese Gefahr erscheint in der Tat unvermeidlich, so lange man die Sache so auffaßt, als habe man sich auf dasjenige, was allgemein anerkannt werden soll, nur so einfach zu besinnen, und als genüge das Gefühl der Evidenz, um den einzelnen zu versichern, daß er es nicht nur mit einer individuellen oder einer bei mehreren vorhandenen Meinung zu tun habe. Die Täuschbarkeit der subjektiven Evidenz ist die allbekannte Tatsache, an der dies Verfahren unvermeidlich scheitern müßte. Bei der einfachen und unmittelbaren Evidenz allein darf sich somit die philosophische Besinnung nicht beruhigen, son|dern die kritische Methode verlangt durchaus eine durch bestimmte systematische Maßregeln vermittelte, dadurch in sich berichtigte und eben damit allein berechtigte Evidenz. Hier ist es nun, wo das Prinzip des teleologischen Zusammenhangs, das zuerst von Fichte in die kritische Philosophie eingeführt worden ist, wenn es richtig verstanden wird, die Schwierigkeiten aus dem Wege räumt. Wenn es sich dabei offenbar darum handelt, aus dem, was der einzelne vermöge der historischen Bestimmtheit seines Vorstellungslebens für normal und axiomatisch halten muß, dasjenige auszuschließen, was nur empirischen Ursprungs ist, so ist das nach allem Vorigen wiederum durch vergleichende Induktion oder genetische Betrachtung nicht möglich, und es bleibt daher nur übrig, das Normale an der Hand einer teleologischen Betrachtung aufzusuchen. Von ihrer einzigen Voraussetzung her, daß es Vorstellungen, Willensentscheidungen und Gefühle geben soll, welche allgemein gebilligt werden dürfen, hat die kritische Methode alle diejenigen Bewegungsformen des psychischen Lebens sich zum Bewußtsein zu bringen, welche als unerläßliche Bedingungen für die Realisierung jener Aufgabe aufgewiesen werden können, und sie hat bei diesem Aufweise auf keinerlei besondere, gegebene Einzelbestimmungen des wirklichen Seelenlebens als auf Beweisgründe zu rekurrieren. Das allein kann gemeint sein, wenn man
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verlangt, daß der Nachweis der a priori geltenden Axiome und Normen selbst nicht empirischen Charakters sein dürfe. Das System der Logik also ist der Inbegriff aller derjenigen teleologisch zu entwickelnden Grundsätze, ohne welche es kein allgemeingültiges Denken würde geben können; die Normen der Ethik entwickeln sich als die Mittel zur Herbeiführung eines Wollens und Handelns, welches allgemeine Billigung verdient; die Regeln der Ästhetik | sind die Bedingungen, unter denen allein ein allgemein mitteilbares Gefühl möglich ist. Alle Axiome, alle Normen erweisen sich – unabhängig von jedem besonderen Inhalt und von jeder historischen Bestimmtheit – als Mittel zum Zweck der Allgemeingültigkeit. Es gibt keine Logik, wenn nicht, gleichgültig welches im einzelnen Falle der Inhalt der Vorstellungen ist, gewisse Verbindungs- und Anordnungsweisen als Gesetze des Denkens gelten, – keine Ethik, wenn nicht, unabhängig von der empirischen Bestimmung unserer Motive, gewisse Normen über ihre Verhältnisse bestehen, – keine Ästhetik, wenn nicht, welches auch der Inhalt der einzelnen Anschauungen und der dadurch hervorgerufenen Gefühle sei, bestimmte Regeln über die Art ihres Zusammenwirkens obwalten. Darin besteht die unvergängliche Größe und zugleich die historische Wirkung Fichtes, daß er diesen teleologischen Charakter der kritischen Methode klar erkannte und die Aufgabe der Philosophie dahin bestimmte, das System der (im teleologischen Sinne) notwendigen Vernunfthandlungen aufzustellen. Deshalb entwickelte er alles das, was Kant Anschauungen, Begriffe, Grundsätze, Ideen, Maximen, Regeln usw. genannt hatte, in Einer Reihe, um jede dieser normalen Funktionen als eines der Glieder in dem System der Lösung einer Gesamtaufgabe des Bewußtseins zu begreifen: er deduzierte das Normalbewußtsein als ein teleologisches System. Der Grund dafür, daß bis auf den heutigen Tag die wenigsten diesen Gedanken verstanden haben, lag neben mancherlei Wunderlichkeiten seiner Darstellung hauptsächlich in der metaphysischen Tendenz, die er seiner Konstruktion gab und deren die gewöhnliche Meinung auf den Kopf stellende Konsequenz genügte, um ihn der Masse unsympathisch zu machen.
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Aber der tiefere Fehler der »Wissenschaftslehre« besteht darin, daß sie ganz allein aus der Bestimmung | des Zwecks (sie formulierte ihn als die Aufgabe des empirischen Ich, allgemeines Ich zu werden!) nun auch alle Mittel zu seiner Realisierung deduzieren zu können meinte. Deshalb mußte sie, um den Fortschritt von einer »Vernunfthandlung« zur anderen teleologisch zu konstruieren, von Schritt zu Schritt Widersprüche statuieren, deren Lösung weiter treiben sollte3, und so schlug die kritische in die dialektische Methode um. Aber diese kann so wenig wie irgend eine andere Form der Deduktion, die Mannigfaltigkeit des Besonderen aus ihrem Prinzip herausholen. Auch die teleologische Konstruktion bedarf nicht nur der Zweckbestimmung, sondern auch der Berücksichtigung des Materials, in welchem der Zweck realisiert werden soll. Sie bedarf ihrer freilich niemals, – und das ist im Gegensatze gegen den Charakter der Voraussetzungen der genetischen Methode ganz ausdrücklich zu betonen –, sie bedarf ihrer niemals, um die teleologische Aufzeigung der Axiome und Normen zu begründen; aber sie bedarf ihrer desto mehr, um die Axiome und die Normen zu finden und zum Bewußtsein zu bringen. Wie überhaupt sowohl in dem individuellen Geiste als auch in demjenigen der Gattung die Normen nur durch Vermittlung der einzelnen erfahrungsmäßigen Tätigkeiten zum Bewußtsein kommen, für welche in ihnen die Begründung und Berechtigung gesucht werden muß, so kann auch die Philosophie ihre Aufgabe, die Normen zu suchen, nur an der Hand der Erfahrung lösen, indem sie den einzelnen Tätigkeiten gegenüber, die sie vorfindet, sich darauf besinnt, welche Anforderungen diese erfüllen müssen, um als allgemeingültig gebilligt werden zu dürfen. Nicht den einzelnen Inhalt, wohl aber den allgemeinen Charakter des Materials | muß man kennen, um sich die Aufgaben zum Bewußtsein zu bringen, welche dadurch gelöst werden sollen.4 3 Das Nähere darüber s. in des Verf. »Geschichte der neueren Philosophie«, Bd. II, 5. Aufl., Leipzig 1911, S. 214 ff. 4 Sehr gut hat dies für die logischen Fragen Lotze in der Einleitung zu seiner Logik (1874) entwickelt.
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So kann die Logik schon nach dem allgemeinsten Blicke auf den Vorstellungsmechanismus konstatieren, daß es kein gemeinsames Denken und in diesem kein allgemeingültiges Resultat geben würde, wenn nicht eine formale Denknotwendigkeit bestände. Deren Wesen kann man etwa als das »Axiom der Konsequenz« dahin aussprechen, daß, sobald einmal irgendwelche Vorstellungen als wahr anerkannt worden sind, auch alle diejenigen Beziehungen und Verknüpfungen als wahr anerkannt werden müssen, welche sich nach den (weiterhin zu suchenden) logischen Normen daraus ergeben. Der Satz, daß, wer die Voraussetzung zugegeben hat, auch ihre logisch entwickelten Konsequenzen zugeben muß, ist eine so selbstverständliche Erweiterung der alten Regel: »mit dem Grunde ist auch die Folge gegeben«, daß er als Prinzip des Beweisens wie jene gelten kann, zugleich aber den allgemeinen Charakter der Denknotwendigkeit ausdrückt. Ebenso wird man leicht aus dem Zweck der Allgemeingültigkeit durch Reflexion auf die psychologisch bekannten Funktionen der Billigung und Mißbilligung teleologisch das Verbot einleuchtend machen können, daß, was bejaht wird, nicht verneint werden darf, und wird es als Satz des Widerspruchs zu formulieren haben. Endlich wird man für die zwischen Bejahung und Verneinung in der Mitte liegende Suspension des Urteils sich auf das Prinzip besinnen können, daß man sich allen Urteilen gegenüber, für welche zureichende Gründe weder des Bejahens noch des Verneinens vorliegen, problematisch zu verhalten hat, und dies läßt sich dann als Satz vom zureichenden Grunde formulieren. | Mögen nun auch diese Sätze noch so selbstverständlich bei der Subsumtion des Vorstellungsmechanismus unter den Zweck des allgemeingültigen Denkens sich mit teleologischer Konsequenz geltend machen, so sind es doch eben verschiedene empirisch bekannte Verhältnisse des Vorstellungsverlaufs, welche den Anlaß geben müssen, daß man sich auf diese Normen oder Axiome besinnt. Freilich liegt der Grund für ihre Geltung nicht in jenen Anlässen; aber sie bilden gewissermaßen das Gerüst, dessen wir bedürfen, um an dem Bau des Normalbewußtseins zu arbeiten. Und je weiter nun etwa die Logik fortschreitet, indem sie die
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einzelnen Denknormen aufsucht, immer muß sie an die in der empirischen Psychologie, wenn auch nur in der rohesten Weise, beschriebenen Formen der Vorstellungsverknüpfung ihre Besinnung auf deren korrekte Gestaltung anknüpfen. Nur in engeren Gruppen zeigt sich unter den logischen Normen ein teils selbst wieder logischer, teils teleologischer Zusammenhang, das erstere z. B. in dem Verhältnis einiger Schlüsse zu den Folgerungen, das letztere in dem Zusammenhange der Kategorien, wenn es sich etwa erweist, daß das Problem der Substantialität nur durch den Begriff der Kausalität zu lösen ist, u. s. w. Auf diese Weise kommt selbst in der am meisten durchgebildeten und zum System entwickelten philosophischen Disziplin, der Logik, der Tatbestand zum Vorschein, daß nur streckenweise das in sich zusammenhängende System der Normen auch in unserem Bewußtsein zusammenhängt, daß wir vielmehr im allgemeinen darauf angewiesen sind, auf die empirischen Veranlassungen hin, welche in der tatsächlichen Bewegung des individuellen und des sozialen Geisteslebens liegen, uns auf die einzelnen Normen zu besinnen und ihre teleologische Bedeutung hinsichtlich des Zwecks der Allgemeingültigkeit uns zum Bewußtsein zu bringen. Hieraus ergibt sich nun die methodische Bedeutung, | welche das Tatsachenmaterial aus der Psychologie und aus der Geistesgeschichte für die Philosophie und ihre kritische Behandlung der Axiome besitzt. Haben wir bisher das entscheidende Gewicht darauf legen müssen, daß in allen diesen Tatsachen und somit in der psychologisch oder historisch nachweisbaren empirischen Geltung niemals der Beweis für die normative Geltung gesucht werden kann, so müssen wir nun das positive Verhältnis ins Auge fassen, worin diese selben Tatsachen eine geordnete Auffindung der Normen und eine zusammenhängende Besinnung auf das Recht ihrer Geltung ermöglichen. Die kritische Methode darf die Tatsachen der Psychologie und der Geschichte niemals als Geltungsgründe für die Normen anerkennen, aber sie bedarf ihrer als der Gegenstände, an denen sie ihre philosophische Prüfung und Besinnung vollzieht. Diese Prüfung selbst wird immer auf die Betrachtung des teleologischen Zusammenhangs und der teleolo-
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gischen Erforderlichkeit in dem oben entwickelten Sinne hinauslaufen: aber ihre Voraussetzung wie ihren Gegenstand bilden eben die Geltungsansprüche, welche teils mit der Naturnotwendigkeit des allgemeinen psychischen Wesens des Menschen, teils mit der geschichtlichen Notwendigkeit der fortschreitenden Kulturentwicklung erhoben werden. Die genetischen Tatsachen sind in der Philosophie niemals Beweisgründe, wohl aber die Gegenstände der Kritik: Psychologie und Geschichte müssen das Erkenntnismaterial aus seiner vorwissenschaftlichen Unbestimmtheit soweit herausgearbeitet haben, daß die Probleme der Philosophie in begrifflich bestimmter und geordneter Weise daraus entwickelt werden können. Danach bestimmt sich zunächst das Verhältnis der Philosophie zur empirischen Psychologie. Da es keine Möglichkeit gibt, bloß aus dem Zwecke der Allgemeingültigkeit alle die besonderen Bedingungen für dessen | Erfüllung deduktiv abzuleiten, – da wir, mit anderen Worten, das Normalbewußtsein nicht an sich, sondern nur in seiner Beziehung zum empirischen Bewußtsein kennen, so bedarf die Philosophie des Leitfadens der empirischen Psychologie, um sich in geordneter Weise auf die einzelnen Axiome und Normen zu besinnen. Aber die allgemeinen Vorstellungen von den psychischen Funktionen, welche dabei der empirischen Kenntnis entnommen werden, sind weit davon entfernt, die Normen und die allgemeinen Sätze, welche an ihnen auf teleologischem Wege gewonnen werden, ihrerseits zu begründen. Die Begründung der Axiome und Normen liegt lediglich in ihnen selbst, in der teleologischen Bedeutung, welche sie als Mittel für den Zweck der Allgemeingültigkeit besitzen. Wo sie als solche nachgewiesen werden können, da ist aber auch nicht mehr die bloße Tatsächlichkeit der Geltung, sondern da ist die immanente Notwendigkeit des teleologischen Zusammenhangs vorhanden. So entnimmt die philosophische Betrachtung der empirischen Psychologie z. B. die Dreiteilung der psychischen Funktionen, welche sich in der Dreizahl der philosophischen Disziplinen wiederholt, und dabei ist es ganz klar, daß diese Einteilung für sie nirgends einen Erkenntnisgrund, sondern eben nur einen Leitfaden
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darstellt, dessen sie in Ermangelung des deduktiven Verfahrens zur Aufsuchung der Normen bedarf. Dieselbe Rolle spielen dann innerhalb der einzelnen Teile der Philosophie die besonderen Unterscheidungen, mit denen die empirische Psychologie ihre Gegenstände einteilt. Würden alle diese psychologischen Einteilungen umgeworfen, so fiele damit vielleicht auch die Einteilung der Philosophie, aber nicht die Gewißheit der Normen und der Axiome, welche auf diesen empirisch psychologischen Begriffen nicht beruht, sondern nur mit ihrer Hilfe zum Bewußtsein gekommen ist. Indessen ist die Hilfe, welche die kritische Methode von | der Psychologie zu erwarten hat, in der Hauptsache auf diese Bestimmung der formalen Ordnung beschränkt: sachlich ist sie äußerst gering. Denn in dem allgemeinen, natürlich bestimmten Wesen des Menschen, auf dessen wissenschaftliche Theorie die Psychologie ausgeht und allein ausgehen kann, ist zuletzt immer nur die formale Möglichkeit für die inhaltliche Entwicklung der Vernunftwerte und damit der normativen Bestimmungen gegeben, um die es sich in der Philosophie handelt. Diese Entwicklung selbst aber ist die Sache und der eigentliche Sinn des historischen Prozesses. Deshalb bildet die Geschichte in noch viel höherem Maße als die Psychologie das Organon der kritischen Philosophie, indem diese die Gestaltung, worin die Normen als tatsächlich geltende Prinzipien des Kulturlebens historisch gegeben sind, zu Gegenständen ihrer teleologischen Untersuchung und damit zum empirischen Anlaß für ihre kritische Besinnung zu machen hat. Dabei schützen der Wechsel und die Mannigfaltigkeit dieser geschichtlichen Gestaltungen das kritische Denken vor dem Historismus, d. h. vor dem historischen Relativismus, der sich etwa mit der zeitlichen, geschichtlich als notwendig zu begreifenden Geltung jeder dieser Gestaltungen begnügen und auf die Erfassung einer davon unabhängigen absoluten Geltung verzichten wollte. Jedes historisch bedingte Denken wird freilich die Bescheidenheit haben müssen, von den Grenzen seiner eignen Leistungsfähigkeit überzeugt zu sein: es wird sich, durch die Wandlung der Meinungen in der Geschichte gewarnt, immer vorhalten müssen, daß es niemals absolut sicher sein kann, auch mit der vollkommensten Evidenz und ihrer
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teleologischen Vermittlung zu völlig unverrückbaren Ergebnissen gelangt zu sein. Aber das betrifft nur die individuelle, geschichtlich bedingte und begrenzte Leistungsfähigkeit der Philosophen: ihr gegenüber bleiben die Aufgabe der Philosophie, die stetige Arbeit an ihrer Lösung und die Überzeugung, daß sie an | einer Anzahl von Punkten in der Tat bereits gelöst sei, unbeirrt bestehen. Es war deshalb eine tiefe Weisheit, mit der Hegel den systematischen Inhalt der Philosophie aus den Bewegungen des Vernunftbewußtseins in der Geschichte herauszuarbeiten unternahm. Aber in seiner Ausführung dieses Gedankens ist in einer Weise und aus Gründen, über die an dieser Stelle nicht genauer gehandelt werden kann, die kritische Begriffsarbeit mit dem Historismus so eigenartig verwachsen, daß sie kaum voneinander zu scheiden sind und die Ausdeutung nach der einen Seite ebenso gut gestatten wie nach der andern. In der Absicht nämlich, jeder Gestaltung, welche die Vernunftprinzipien im Fortgang des geschichtlichen Lebens erfahren haben, ihren relativen Anteil an dem Geltungsrecht des Ganzen zu retten, griff Hegel zu den künstlichen Mitteln der Dialektik, um sie alle trotz ihrer Verschiedenheiten, ihrer Gegensätze und sogar ihrer Widersprüche zu einer in sich gegliederten Einheit zusammenzuarbeiten. Vor diesem positiven, harmonisierenden Zuge des historischen Optimismus mußte deshalb die Energie der Kritik, die scheidende und ausscheidende Messung des Einzelnen an dem Ideal absoluter Geltung, obwohl sie bei Hegel durchaus nicht fehlt, wenigstens in der Darstellung zurücktreten und oft bis zur Unkenntlichkeit verwischt werden. Durch dieselben Eigentümlichkeiten seiner Methode ist Hegel auch dazu gekommen, der historischen Reihenfolge, worin die Vernunftinhalte aufgetreten sind, systematische Bedeutung beizumessen: gerade darin besteht das Charakteristische seiner Dialektik, für welche deshalb die zeitlichen Vermittlungen gleichgültig wurden. Für die kritische Methode kann der geschichtliche Entwicklungsgang in seiner wesentlich empirischen, der »Idee« gegenüber zufälligen Bestimmtheit diese systematische Bedeutung nicht haben. Gleichwohl ist er für sie nicht bedeutungslos, denn der | historische Prozeß bildet in sich selber eine immanente Kritik.
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Um ihn als solche zu verstehen, darf man freilich die zeitliche Reihenfolge nicht eo ipso als »Fortschritt«, das Folgende nicht als das »Wahrere« betrachten, um schließlich bei dem Letzten als dem vorläufig Geltenden stille zu stehen; sondern es bedarf eben dazu des stetigen Hinblicks auf jene Zwecke der Normalität, die für die kritische Methode die allgemeine Richtschnur bilden. Diese historische Kritik ist also weit entfernt, sich etwa an den Erfolg als ihr maßgebendes Kriterium zu binden; sie ist von der tatsächlichen Anerkennung in jeder Hinsicht unabhängig. In dieser Weise erwächst für die Philosophie die Erkenntnis aller inhaltlichen Vernunftwerte aus der kritischen Durchleuchtung der Geschichte. In der historischen Entwicklung der Wissenschaften und ihrer axiomatischen Voraussetzungen, in den großen Konzentrationen des sittlichen, des staatlichen, des sozialen Lebens und in der Ausprägung der dafür geschaffenen Institutionen und Organisationen, in den Mitwelt und Nachwelt ergreifenden und bezwingenden Gestaltungen künstlerischer Schaffenskraft, – in diesem viel verflochtenen Werdegang der Kulturwerte finden Logik, Ethik und Ästhetik die sich gegenseitig ergänzenden und berichtigenden Materialien für ihre Anwendung der kritischen Methode. Ein wertvolles Ergebnis endlich, das die Philosophie solcher historischen Orientierung verdankt, besteht in der Grenzbestimmung der absoluten Werte. Gerade die historische Besinnung zeigt die Punkte, an denen die Bestimmung des »Apriori«, des in der teleologischen Struktur absolut und unerläßlich Geltenden aufhört, an denen deshalb die Kriterien der tatsächlichen Anerkennung und der historischen Gewährleistung durch einen sichtlich und zweifellos fortschreitenden Prozeß der Befestigung und der Ausscheidung eintreten müssen. An solchen Stellen führt die kritische Methode zum Teil zu dem negativen Ergeb|nis, die Gebiete festzustellen, in denen der Anspruch auf normative Allgemeingültigkeit, welcher den Gegenstand ihrer Untersuchung bildet, sich nicht oder noch nicht rechtfertigen läßt. Die verschiedenen Disziplinen der Philosophie zeigen in dieser Hinsicht einen sehr verschiedenen Ertrag. Am größten ist der Umfang des Allgemeingültigen, das
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wir mit voller kritischer Sicherheit behaupten dürfen, zweifellos in der Logik: er ist schon wesentlich geringer in der Ethik, und er ist am geringsten in der Ästhetik. |
Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburger Rektoratsrede. 1894)
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s ist ein wertvolles Vorrecht des Rektors, daß er am Stiftungsfeste der Universität das Ohr ihrer Gäste und ihrer Mitglieder für einen Gegenstand aus dem Umkreise der von ihm vertretenen Wissenschaft in Anspruch nehmen darf: die Pflicht aber, welche diesem Recht entspricht, verwickelt den Philosophen in ganz besondere Bedenken. Freilich ist es für ihn verhältnismäßig leicht, ein Thema zu finden, das mit Sicherheit auf allgemeines Interesse rechnen kann. Aber dieser Vorteil wird bedeutend durch die Schwierigkeiten überwogen, welche die Eigenart der philosophischen Untersuchungsweise mit sich bringt. Alle wissenschaftliche Arbeit ist darauf gerichtet, ihren besonderen Gegenstand in einen weiteren Kreis zu rücken und die einzelne Frage aus allgemeineren Gesichtspunkten zu entscheiden. Soweit steht es mit der Philosophie nicht anders als mit den übrigen Wissenschaften: aber während die letzteren mit einer für die Spezialforschung genügenden Zuverlässigkeit solche Prinzipien als fest und gegeben behandeln dürfen, ist es für die Philosophie wesentlich, daß ihr eigentliches Untersuchungsobjekt eben die Prinzipien selbst sind, daß sie also ihre Entscheidungen nicht aus einem Allgemeineren ableiten kann, sondern jedesmal im Allgemeinsten selber zu bestimmen hat. Für die Philosophie gibt es streng genommen überhaupt keine Spezialuntersuchung; jedes ihrer Sonderprobleme dehnt seine Linien von selbst in die höchsten und letzten Fragen ans. Wer über philosophische Dinge philosophisch reden | will, muß allemal den Mut haben, im Ganzen Stellung zu nehmen, und er muß auch den schwerer zu bewahrenden Mut haben, seine Zuhörer auf das hohe Meer allgemeinster Überlegungen hinauszuführen, wo dem Auge wie dem Fuß das feste Land zu entschwinden droht. Durch solche Bedenken könnte der Vertreter der Philosophie sich wohl versucht finden, entweder nur ein historisches Bild aus
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seiner Wissenschaft zu zeichnen oder seine Zuflucht zu der besonderen Erfahrungswissenschaft zu nehmen, die ihm nach den noch bestehenden akademischen Einrichtungen und Gewöhnungen ebenfalls obzuliegen pflegt, – der Psychologie. Bietet doch auch sie eine Fülle von Gegenständen, die jeden angehen und deren Behandlung um so sicherer Ausbeute verspricht, je mannigfaltiger die methodischen und sachlichen Gesichtspunkte sind, welche die lebhafte Bewegung dieser Disziplin in den letzten Jahrzehnten hat zutage treten lassen. Ich verzichte auf beide Auswege: ich möchte weder der Meinung Vorschub leisten, daß es nicht mehr Philosophie, sondern nur deren Geschichte gebe, – noch der anderen, als könne die Philosophie, wie sie Kant neu begründet hat, jemals wieder in den engen Rahmen derjenigen Spezialwissenschaft zusammenschrumpfen, deren Erkenntniswert er selbst unter den theoretischen Disziplinen am geringsten veranschlagte. Vielmehr erscheint es mir bei einer Gelegenheit wie der heutigen als Pflicht, dafür Zeugnis abzulegen, daß die Philosophie auch in ihrer jetzigen Form, wo sie alle metaphysische Begehrlichkeit abgelegt hat, sich jenen großen Fragen gewachsen fühlt, denen sie, wie den bedeutsamen Inhalt ihrer Geschichte, so auch ihren Wert in der Literatur und ihre Stellung im akademischen Unterricht verdankt. Und so reizt mich das Wagnis der Aufgabe, jene Triebkraft der philosophischen Untersuchung, wodurch jedes Sonderproblem sich in die letzten Rätsel menschlicher Welt- und Lebensansicht ausweitet, Ihnen an einem Beispiel zu ver|anschaulichen und daran die Notwendigkeit aufzuzeigen, mit welcher ein jeder Versuch, das scheinbar klar und einfach Bekannte zu vollem Verständnis zu bringen, uns schnell und unentfliehbar an die äußersten, von dunklen Geheimnissen umlagerten Grenzen unseres Erkenntnisvermögens drängt. Wenn ich zu diesem Zwecke ein Thema aus der Logik, insbesondere aus der Methodologie, der Theorie der Wissenschaft wähle, so geschieht es in der Meinung, daß an einem solchen in besonders deutlicher, greifbarer Weise der innige Zusammenhang hervortreten muß, in welchem die Arbeit der Philosophie mit derjenigen der übrigen Wissenschaften steht. Nicht wissensfremd in
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eigner erdachter Welt, sondern in reichem Wechselverkehr mit aller lebendigen Wirklichkeitserkenntnis und mit allem Wertgehalte des wirklichen Geisteslebens hat die Philosophie bestanden und besteht sie: wenn ihre Geschichte die der menschlichen Irrtümer gewesen ist, so war der Grund davon der, daß sie guten Glaubens aus den Theorien der besonderen Wissenschaften als fertig und sicher übernahm, was auch in diesen nur höchstens als werdende Wahrheit hätte gelten dürfen. Dieser Lebenszusammenhang zwischen der Philosophie und den übrigen Disziplinen zeigt sich am deutlichsten gerade in der Entwicklung der Logik, welche nie etwas anderes war als die kritische Reflexion auf die vor ihr betätigten Formen des wirklichen Erkennens. Niemals ist eine fruchtbare Methode aus abstrakter Konstruktion oder rein formalen Überlegungen der Logiker erwachsen: diesen fällt nur die Aufgabe zu, das erfolgreich am einzelnen Ausgeübte auf seine allgemeine Form zu bringen und danach seine Bedeutung, seinen Erkenntniswert und die Grenzen seiner Anwendung zu bestimmen. Woher – um gleich das vornehmste Beispiel heranzuziehen – hat die moderne Logik, der griechischen Mutter gegenüber, die gereifte Vorstel|lung vom Wesen der Induktion? Nicht aus der programmatischen Emphase, mit der sie Bacon empfohlen und scholastisch beschrieben hat, sondern aus der Reflexion auf die tatkräftige Anwendung, welche diese Denkform in der Einzelarbeit der Naturforschung, von Sonderproblem zu Sonderproblem sich verfeinernd und steigernd, seit den Tagen Keplers und Galileis bewährt hat. Auf denselben Zusammenhängen aber beruhen selbstverständlich auch die der neueren Logik eigentümlichen Versuche, in dem zu so bunter Mannigfaltigkeit ausgewachsenen Reiche des menschlichen Wissens begrifflich bestimmte Linien zur Grenzabsonderung der einzelnen Provinzen zu ziehen. Die wechselnde Vorherrschaft, welche in den wissenschaftlichen Interessen der neueren Zeit Philologie, Mathematik, Naturwissenschaft, Psychologie, Geschichte ausgeübt haben, spiegelt sich in den verschiedenen Entwürfen zum »System der Wissenschaften«, wie man früher sagte, zur »Klassifikation der Wissenschaften«, wie es heute genannt wird. Viel wurde dabei durch die universalistische
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Tendenz gefehlt, welche, mit Verkennung der Autonomie der einzelnen Wissensgebiete, alle Gegenstände dem Zwange einer und derselben Methode unterwerfen wollte, so daß für die Gliederung der Wissenschaften nur noch sachliche, das hieß metaphysische Gesichtspunkte übrig blieben. So haben nacheinander die mechanistische, die geometrische, die psychologische, die dialektische, in neuester Zeit die entwicklungsgeschichtliche Methode den Anspruch erhoben, von den engeren Feldern ihrer ursprünglichen fruchtbaren Anwendung ihre Herrschaft möglichst über den ganzen Umfang der menschlichen Erkenntnis zu erweitern. Je größer der Widerstreit dieser verschiedenen Bestrebungen erscheint, um so mehr erwächst für die Besonnenheit der logischen Theorie die weitausschauende Aufgabe, eine gerechte Abwägung jener An-| sprüche und eine ausgleichende Scheidung ihrer Geltungsbereiche durch die allgemeinen Bestimmungen der Erkenntnislehre zu gewinnen. Die Aussichten dafür stehen nicht ungünstig. Durch Kant ist die methodische Auseinandersetzung der Philosophie mit der Mathematik und im Prinzip auch mit der Psychologie vollzogen worden. Seitdem hat das 19. Jahrhundert bei einer gewissen Erlahmung des anfangs überreizten philosophischen Triebes eine um so buntere Mannigfaltigkeit von Bestrebungen und Bewegungen in den besonderen Wissenschaften erlebt: in der Bewältigung zahlreicher neuer und neuartiger Probleme ist der methodische Apparat nach allen Seiten hin verändert und in nie vorher dagewesenem Maße zugleich verbreitert und verfeinert worden. Dabei haben sich die verschiedenen Verfahrungsweisen vielfach ineinander verästelt, und wenn dann doch jede einzelne für sich eine herrschende Stellung in der allgemeinen Welt- und Lebensansicht unserer Tage verlangt, so erwachsen gerade daraus der theoretischen Philosophie neue Fragen: und solche sind es, für welche ich, ohne sie irgendwie erschöpfen zu wollen, Ihr Interesse in Anspruch zu nehmen wünsche. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß Einteilungen, wie ich sie hier im Auge habe, sich nicht mit der Gliederung decken können, welche die Wissenschaften in der Abgrenzung der Fakultäten finden. Diese ist aus den praktischen Aufgaben der Universitäten
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und deren geschichtlicher Entwicklung hervorgegangen. Dabei hat der praktische Zweck häufig vereinigt, was in rein theoretischer Hinsicht zu trennen, und auseinandergerissen, was sonst eng zu verbinden wäre: und dasselbe Motiv hat die eigentlich szientifischen mit praktischen und technischen Disziplinen mehrfach verschmolzen. Doch meine man nicht, daß dies alles zum Schaden der wissenschaftlichen Tätigkeit gewesen wäre: vielmehr haben die praktischen Beziehungen | auch hier den Erfolg gehabt, eine reichere und lebendigere Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Arbeitsgebieten hervorzurufen, als es vielleicht bei den abstrakteren Zusammenfassungen des Gleichartigen, wie sie in den Akademien vorliegen, der Fall gewesen wäre. Gleichwohl zeigen die Verschiebungen, welche die Fakultätsordnungen der deutschen Universitäten, insbesondere hinsichtlich der ehemaligen facultas artium in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, eine gewisse Neigung, den methodischen Motiven der Gliederung größere Bedeutung einzuräumen. Geht man diesen Motiven mit nur theoretischem Interesse nach, so darf zunächst als gültig vorausgesetzt werden, daß wir die Philosophie und doch wohl noch immer auch die Mathematik den Erfahrungswissenschaften gegenüberstellen. Die beiden ersteren mögen unter dem alten Namen der »rationalen« Wissenschaften zusammengefaßt werden, wenn auch in sehr verschiedener und hier nicht näher zu erörternder Bedeutung des Wortes. Es genügt für jetzt, ihre Gemeinsamkeit in der negativen Form auszusprechen, daß sie selbst nicht unmittelbar auf die Erkenntnis von etwas in der Erfahrung Gegebenen gerichtet sind, wenn auch die von ihnen gewonnenen Einsichten in anderen Wissenschaften für diesen Zweck verwendet werden können und sollen. Diesem gegenständlichen Momente entspricht auf der formalen Seite die logische Gemeinschaft, daß beide – Philosophie wie Mathematik – ihre Behauptungen niemals auf einzelne Wahrnehmungen oder auf Massen von Wahrnehmungen stützen, so sehr auch der tatsächliche, psychogenetische Anlaß für ihre Untersuchungen und Entdeckungen in empirischen Motiven liegen mag. Unter Erfahrungswissenschaften dagegen verstehen wir diejenigen, deren
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Aufgabe es ist, eine irgendwie gegebene und der Wahrnehmung zugängliche Wirklichkeit zu erkennen: ihr formales Merkmal be-| steht somit darin, daß sie zur Begründung ihrer Resultate neben den allgemeinen axiomatischen Voraussetzungen und der für alles Erkennen gleichmäßig erforderlichen Richtigkeit des normalen Denkens durchweg einer Feststellung von Tatsachen durch Wahrnehmung bedürfen. Für die Einteilung dieser auf die Erkenntnis des Wirklichen gerichteten Disziplinen ist gegenwärtig die Scheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften geläufig: ich halte sie in dieser Form nicht für glücklich. Natur und Geist – das ist ein sachlicher Gegensatz, der in den Ausgängen des antiken und den Anfängen des mittelalterlichen Denkens zu beherrschender Stellung gelangt und in der neueren Metaphysik von Descartes und Spinoza bis zu Schelling und Hegel mit voller Schroffheit aufrecht erhalten worden ist. Sofern ich die Stimmung der neuesten Philosophie und die Nachwirkungen der erkenntnistheoretischen Kritik richtig beurteile, so würde diese in der allgemeinen Vorstellungsund Ausdrucksweise haften gebliebene Scheidung jetzt nicht mehr als so sicher und selbstverständlich anerkannt werden, daß sie unbesehen zur Grundlage einer Klassifikation gemacht werden dürfte. Dazu kommt, daß dieser Gegensatz der Objekte sich nicht mit einem solchen der Erkenntnisweisen deckt. Denn, wenn Locke den cartesianischen Dualismus auf die subjektive Formel brachte, äußere und innere Wahrnehmung – sensation und reflection – als die beiden gesonderten Organe für die Erkenntnis einerseits der körperlichen Außenwelt, der Natur, andererseits der inneren Geisteswelt einander gegenüberzustellen, so hat wiederum die Erkenntniskritik der neuesten Zeit diese Auffassung mehr als je ins Schwanken gebracht und die Berechtigung zur Annahme einer »inneren Wahrnehmung« als besonderer Erkenntnisart wenigstens stark in Zweifel gezogen. Auch würde weiterhin keineswegs zugegeben werden, daß die Tatsachen der sogenannten | Geisteswissenschaften lediglich durch innere Wahrnehmung begründet wären. Vor allem aber zeigt sich die Inkongruenz des sachlichen und des formalen Einteilungsprinzips darin, daß zwischen Naturwis-
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senschaft und Geisteswissenschaft eine empirische Disziplin von solcher Bedeutsamkeit wie die Psychologie nicht unterzubringen ist: ihrem Gegenstand nach ist sie nur als Geisteswissenschaft und in gewissem Sinne als die Grundlage aller übrigen zu charakterisieren; ihr ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebahren ist vom Anfang bis zum Ende dasjenige der Naturwissenschaften. Daher sie denn es sich hat gefallen lassen müssen, gelegentlich als die »Naturwissenschaft des inneren Sinnes« oder gar als »geistige Naturwissenschaft« bezeichnet zu werden. Eine Einteilung, welche solche Schwierigkeiten aufweist, hat keinen systematischen Bestand: indessen bedarf sie vielleicht, um ihn zu gewinnen, nur geringer Veränderungen der Begriffsbestimmung. Worin besteht denn die methodische Verwandtschaft der Psychologie mit den Naturwissenschaften? Offenbar darin, daß jene wie diese ihre Tatsachen feststellt, sammelt und verarbeitet nur unter dem Gesichtspunkte und zu dem Zwecke, daraus die allgemeine Gesetzmäßigkeit zu verstehen, welcher diese Tatsachen unterworfen sind. Dabei bringt es freilich die Verschiedenheit der Gegenstände mit sich, daß die besonderen Methoden zur Feststellung der Tatsachen, die Art und Weise ihrer induktiven Verwertung und die Formel, auf welche die gefundenen Gesetze sich bringen lassen, sehr verschieden sind; und doch ist in dieser Hinsicht der Abstand der Psychologie z. B. von der Chemie kaum größer, als etwa der der Mechanik von der Biologie: aber – worauf es hier ankommt – alle diese sachlichen Differenzen treten weit zurück hinter der logischen Gleichheit, welche alle diese Disziplinen hinsichtlich des formalen Charakters ihrer Erkenntnisziele besitzen: es sind immer Gesetze des | Geschehens, welche sie suchen, mag dies Geschehen nun eine Bewegung von Körpern, eine Umwandlung von Stoffen, eine Entfaltung des organischen Lebens oder ein Prozeß des Vorstellens, Fühlens und Wollens sein. Demgegenüber ist die Mehrzahl derjenigen empirischen Disziplinen, die man wohl sonst als Geisteswissenschaften bezeichnet, entschieden darauf gerichtet, ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und erschöpfender Darstellung zu bringen.
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Auch auf dieser Seite sind die Gegenstände und die besonderen Kunstgriffe, wodurch man sich ihrer Auffassung versichert, von äußerster Mannigfaltigkeit. Da handelt es sich etwa um ein einzelnes Ereignis oder um eine zusammenhängende Reihe von Taten oder Geschicken, um das Wesen und Leben eines einzelnen Mannes oder eines ganzen Volkes, um die Eigenart und die Entwicklung einer Sprache, einer Religion, einer Rechtsordnung, eines Erzeugnisses der Literatur, der Kunst oder der Wissenschaft: und jeder dieser Gegenstände verlangt eine seiner Besonderheit entsprechende Behandlung. Immer aber ist der Erkenntniszweck der, daß ein Gebilde des Menschenlebens, welches in einmaliger Wirklichkeit sich dargestellt hat, in dieser seiner Tatsächlichkeit reproduziert und verstanden werde. Es ist klar, daß hiermit der ganze Umfang der historischen Disziplinen gemeint ist. Hier haben wir nun eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe zu gründende Einteilung der Erfahrungswissenschaften vor uns. Das Einteilungsprinzip ist der formale Charakter ihrer Erkenntnisziele. Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen: in der Sprache der formalen Logik ausgedrückt, ist das Ziel der einen das generelle, apodiktische Urteil, das der anderen der singulare, assertorische Satz. Und so knüpft sich dieser Unterschied an jenes | wichtigste und entscheidende Verhältnis im menschlichen Verstande, das von Sokrates als die Grundbeziehung alles wissenschaftlichen Denkens erkannt wurde: das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen. Die antike Metaphysik spaltete sich von hier aus, indem Platon das Wirkliche in den unveränderlichen Gattungsbegriffen, Aristoteles dasselbe in den zweckvoll sich entwickelnden Einzelwesen suchte. Die moderne Naturwissenschaft hat uns gelehrt, das Seiende zu definieren durch die dauernden Notwendigkeiten des an ihm stattfindenden Geschehens: sie hat das Naturgesetz an die Stelle der platonischen Idee gesetzt. So dürfen wir sagen: die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich
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gleichbleibende Form, zum anderen Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften; jene lehren was immer ist, diese was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist – wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf — in dem einen Falle nomothetisch, in dem anderen idiographisch. Wollen wir uns an die gewohnten Ausdrücke halten, so dürfen wir ferner in diesem Sinne von dem Gegensatz naturwissenschaftlicher und historischer Disziplinen reden, vorausgesetzt, daß wir in Erinnerung behalten, in diesem methodischen Sinne die Psychologie durchaus zu den Naturwissenschaften zu zählen. Überhaupt bleibt dabei zu bedenken, daß dieser methodische Gegensatz nur die Behandlung, nicht den Inhalt des Wissens selbst klassifiziert. Es bleibt möglich und zeigt sich in der Tat, daß dieselben Gegenstände zum Objekt einer nomothetischen und daneben auch einer idiographischen Untersuchung gemacht werden können. Das hängt | damit zusammen, daß der Gegensatz des Immergleichen und des Einmaligen in gewissem Betracht relativ ist. Was innerhalb sehr großer Zeiträume keine unmittelbar merkliche Veränderung erleidet und deshalb auf seine unveränderlichen Formen hin nomothetisch behandelt werden darf, kann sich darum doch vor einem weiteren Ausblick als etwas nur für einen immerhin begrenzten Zeitraum Gültiges, d. h. als etwas Einmaliges erweisen. So ist eine Sprache in allen ihren einzelnen Anwendungen durch ihre Formgesetze beherrscht, die bei allem Wechsel des Ausdrucks dieselben bleiben: aber andererseits ist diese selbe ganze besondere Sprache mitsamt ihrer ganzen besonderen Formgesetzmäßigkeit doch nur eine einmalige, vorübergehende Erscheinung im menschlichen Sprachleben überhaupt. Ähnliches gilt für die Physiologie des Leibes, für die Geologie, in gewissem Sinne sogar für die Astronomie: und damit wird das historische Prinzip auf das Gebiet der Naturwissenschaften hinübergetrieben. Das klassische Beispiel dafür bildet die Wissenschaft der organischen Natur. Als Systematik ist sie nomothetischen Charakters, insofern als sie die innerhalb der paar Jahrtausende bisheriger menschlicher Beobachtung sich stets gleichbleibenden Typen der
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Lebewesen als deren gesetzmäßige Form betrachten darf. Als Entwicklungsgeschichte, wo sie die ganze Reihenfolge der irdischen Organismen als einen im Laufe der Zeit sich allmählich gestaltenden Prozeß der Abstammung oder Umwandlung darstellt, für dessen Wiederholung auf irgendeinem andern Weltkörper nicht nur keine Gewähr, sondern nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, – da ist sie eine idiographische, historische Disziplin. Schon Kant nannte, als er den Begriff der modernen Deszendenztheorie im voraus entwarf, denjenigen, welcher sich dieses »Abenteuers der Vernunft« erkühnen würde, den zukünftigen »Archäologen der Natur«. | Fragen wir, wie sich zu diesem entscheidenden Gegensatze unter den Spezialwissenschaften bisher die logische Theorie verhalten hat, so stoßen wir genau auf den Punkt, an welchem diese am meisten reformbedürftig bis auf den heutigen Tag ist. Ihre ganze Entwicklung zeigt die entschiedenste Bevorzugung der nomothetischen Denkformen. Das ist freilich überaus erklärlich. Da alles wissenschaftliche Forschen und Beweisen in der Form des Begriffs vonstatten geht, so bleibt für die Logik immer die Untersuchung über Wesen, Begründung und Anwendung des Allgemeinen das nächste und bedeutendste Interesse. Dazu kommt die Wirkung des historischen Verlaufs. Die griechische Philosophie ist aus naturwissenschaftlichen Anfängen, aus der Frage nach der φύσις, d. h. nach dem bleibenden Sein im Wechsel der Erscheinungen hervorgewachsen, und in einem parallelen Verlauf, der auch der kausalen Vermittlung durch historische Tradition in der Renaissance nicht entbehrte, ist die moderne Philosophie zu ihrer Selbständigkeit ebenfalls an der Hand der Naturwissenschaft emporgediehen. So konnte es nicht anders sein, als daß die logische Reflexion sich in erster Linie den nomothetischen Denkformen zuwandte und dauernd ihre allgemeinen Theorien von diesen abhängig machte. Dies gilt noch immer. Unsere ganze traditionelle Lehre vom Begriff, Urteil und Schluß ist noch immer auf das aristotelische Prinzip zugeschnitten, nach welchem der generelle Satz im Mittelpunkte der logischen Untersuchung steht. Man braucht nur irgend ein Lehrbuch der Logik aufzuschlagen, um sich zu überzeugen, daß nicht
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nur die große Mehrzahl der Beispiele aus den mathematischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen gewählt wird, sondern daß auch solche Logiker, welche vollen Sinn für die Eigenart historischer Forschung zeigen, doch die letzten Richtpunkte ihrer Theorien auf der Seite des nomothetischen Denkens suchen. Es wäre zu wünschen, aber es sind | noch sehr wenige Ansätze dazu vorhanden, daß die logische Reflexion der großen geschichtlichen Wirklichkeit, welche im historischen Denken selbst vorliegt, ebenso gerecht werde, wie sie die Formen der Naturforschung bis in das Einzelne hinein zu begreifen verstanden hat. Einstweilen lassen Sie uns das Verhältnis zwischen nomothetischem und idiographischem Wissen etwas näher betrachten. Gemeinsam ist, wie gesagt, der Naturforschung und der Historik der Charakter der Erfahrungswissenschaft, d. h. beide haben zum Ausgangspunkte – logisch gesprochen, zu Prämissen ihrer Beweise – Erfahrungen, Tatsachen der Wahrnehmung; und auch darin stimmen sie überein, daß die eine so wenig wie die andere sich mit dem begnügen kann, was der naive Mensch so gewöhnlich zu erfahren meint. Beide bedürfen zu ihrer Grundlage einer wissenschaftlich gereinigten, kritisch geschulten und in begrifflicher Arbeit geprüften Erfahrung. In demselben Maße wie man seine Sinne sorgfältig erziehen muß, um die feinen Unterschiede in der Gestaltung nächstverwandter Lebewesen festzustellen, um mit Erfolg durch ein Mikroskop zu sehen, um mit Sicherheit die Gleichzeitigkeit eines Pendelschlages und der Einstellung einer Nadel aufzufassen, – ebenso will es mühsam gelernt sein, die Eigenart einer Handschrift zu bestimmen, den Stil eines Schriftstellers zu beobachten oder den geistigen Horizont und den Interessenkreis einer historischen Quelle zu erfassen. Das eine kann man von Natur meist so unvollkommen wie das andere: und wenn nun die Tradition der wissenschaftlichen Arbeit nach beiden Richtungen eine Fülle feiner und feinster Kunstgriffe hervorgebracht hat, welche der Jünger der Wissenschaft sich praktisch aneignet, so beruht jede solche Spezialmethode einerseits auf sachlichen Einsichten, die schon gewonnen oder wenigstens hypothetisch angenommen sind, andererseits aber auf logischen Zusammenhängen oft sehr
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verwickelter Art. Hier ist nun | wiederum zu bemerken, daß sich bisher das Interesse der Logik weit mehr der nomothetischen als der idiographischen Richtung zugewendet hat. Über die methodische Bedeutung von Präzisions-Instrumenten, über die Theorie des Experiments, über die Wahrscheinlichkeitsbestimmung aus mehrfachen Beobachtungen desselben Objekts und ähnliche Fragen liegen eingehende logische Untersuchungen vor: aber die parallelen Probleme der historischen Methodologie haben von seiten der Philosophie nicht entfernt gleiche Beachtung gefunden. Es hängt dies damit zusammen, daß, wie es in der Natur der Sache liegt und wie die Geschichte bestätigt, sich philosophische und naturwissenschaftliche Begabung und Leistung sehr viel häufiger zusammenfinden, als philosophische und historische. Und doch würde es vom äußersten Interesse für die allgemeine Erkenntnislehre sein, die logischen Formen herauszuschälen, nach denen sich in der historischen Forschung die gegenseitige Kritik der Wahrnehmungen vollzieht, die »Interpolationsmaximen« der Hypothesen zu formulieren und so auch hier zu bestimmen, welchen Anteil an dem sich in allen seinen Momenten gegenseitig stützenden Gebäude der Welterkenntnis einerseits die Tatsachen und andererseits die allgemeinen Voraussetzungen haben, nach denen wir sie deuten. Doch hier kommen schließlich alle Erfahrungswissenschaften an dem letzten Prinzip überein, welches in der widerspruchslosen Übereinstimmung aller auf denselben Gegenstand bezüglichen Vorstellungselemente besteht: der Unterschied zwischen Naturforschung und Geschichte beginnt erst da, wo es sich um die erkenntnismäßige Verwertung der Tatsachen handelt. Hier also sehen wir: die eine sucht Gesetze, die andere Gestalten. In der einen treibt das Denken von der Feststellung des Besonderen zur Auffassung allgemeiner Beziehungen, in der andern wird es bei der liebevollen Ausprägung des Besonderen | festgehalten. Für den Naturforscher hat das einzelne gegebene Objekt seiner Beobachtung niemals als solches wissenschaftlichen Wert; es dient ihm nur soweit, als er sich für berechtigt halten darf, es als Typus, als Spezialfall eines Gattungsbegriffs zu betrachten und diesen daraus zu entwickeln; er reflektiert darin nur auf diejenigen Merkmale, wel-
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che zur Einsicht in eine gesetzmäßige Allgemeinheit geeignet sind. Für den Historiker besteht die Aufgabe, irgend ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zu ideeller Gegenwärtigkeit neu zu beleben. Er hat an demjenigen, was wirklich war, eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen, wie der Künstler an demjenigen, was in seiner Phantasie ist. Darin wurzelt die Verwandtschaft des historischen Schaffens mit dem ästhetischen und die der historischen Disziplinen mit den belles lettres. Hieraus folgt, daß in dem naturwissenschaftlichen Denken die Neigung zur Abstraktion vorwiegt, in dem historischen dagegen diejenige zur Anschaulichkeit. Diese Behauptung wird nur demjenigen unerwartet kommen, der sich gewöhnt hat, den Begriff der Anschauung in materialistischer Weise auf das psychische Aufnehmen des sinnlich Gegenwärtigen zu beschränken, und der vergessen hat, daß es Anschaulichkeit, d. h. individuelle Lebendigkeit der ideellen Gegenwart für das Auge des Geistes ganz ebenso gibt, wie für das des Leibes. Freilich ist jene materielle Auffassung heutzutage weit verbreitet, und sie ist nicht ohne ernste Bedenken. Je mehr man sich gewöhnt, überall wo Vorstellungen erregt werden sollen, möglichst Vieles zum Betasten und Besehen vorzuzeigen, um so mehr setzt man durch das Übermaß des rezeptiven Anschauens die spontane Anschauungsfähigkeit der Gefahr aus, ungeübt zu verkümmern, und dann wundert man sich hinterher, wenn die sinnliche Phantasie träge und leistungsunfähig ist, sobald sie nicht leiblich tasten und | sehen kann. Das gilt für die Pädagogik ebenso wie für die Kunst, insbesondere für die dramatische, in der man sich gegenwärtig alle Mühe gibt, die Augen so zu beschäftigen, daß für die innere Anschauung der dichterischen Gestalten nichts mehr übrig bleibt. Daß aber die Stärke der Naturforschung nach der Seite der Abstraktion, diejenige der Geschichte nach der der Anschaulichkeit liegt, wird noch mehr einleuchten, wenn man ihre Forschungsergebnisse vergleicht. So fein gesponnen auch die begriffliche Arbeit sein mag, deren die historische Kritik beim Verarbeiten der Überlieferung bedarf, ihr letztes Ziel ist doch stets, aus der Masse des Stoffes die wahre Gestalt des Vergangenen zu lebensvoller
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Deutlichkeit herauszuarbeiten: und was sie liefert, das sind Bilder von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichtum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen, aufbewahrt in ihrer vollen individuellen Lebendigkeit. So reden zu uns durch den Mund der Geschichte, aus der Vergessenheit zu neuem Leben erstanden, vergangene Sprachen und vergangene Völker, ihr Glauben und Gestalten, ihr Ringen nach Macht und Freiheit, ihr Dichten und Denken. Wie anders ist die Welt, welche die Naturforschung vor uns aufbaut! So anschaulich ihre Ausgangspunkte sein mögen, – ihre Erkenntnisziele sind die Theorien, in letzter Instanz mathematische Formulierungen von Gesetzen der Bewegung: sie läßt – echt platonisch – das einzelne Sinnending, das entsteht und vergeht, in wesenlosem Scheine hinter sich und strebt zur Erkenntnis der gesetzlichen Notwendigkeiten auf, die in zeitloser Unwandelbarkeit über alles Geschehen herrschen. Aus der farbigen Welt der Sinne präpariert sie ein System von Konstruktionsbegriffen heraus, in denen sie das wahre, hinter den Erscheinungen liegende Wesen der Dinge erfassen will, eine Welt von Atomen, farblos und klanglos, ohne allen Erdgeruch der Sinnesqualitäten, – der | Triumph des Denkens über die Wahrnehmung. Gleichgültig gegen das Vergängliche, wirft sie ihre Anker in das ewig sich selbst gleich Bleibende; nicht das Veränderliche als solches sucht sie, sondern die unveränderliche Form der Veränderung. Geht aber so tief der Gegensatz zwischen beiden Arten der Erfahrungswissenschaft, so begreift es sich, weshalb zwischen ihnen der Kampf um den bestimmenden Einfluß auf die allgemeine Weltund Lebensansicht des Menschen entbrennen muß und entbrannt ist. Es fragt sich: was ist für den Gesamtzweck unserer Erkenntnis wertvoller, das Wissen um die Gesetze oder das um die Ereignisse? das Verständnis des allgemeinen zeitlosen Wesens oder der einzelnen zeitlichen Erscheinungen? Und es ist von vornherein klar, daß diese Frage nur aus einer Besinnung auf die letzten Ziele der wissenschaftlichen Arbeit entschieden werden kann. Nur flüchtig streife ich hier die äußerliche Beurteilung nach der Utilität. Vor ihr sind beide Denkrichtungen gleichmäßig zu rechtfertigen. Das Wissen allgemeiner Gesetze hat überall den
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praktischen Wert, die Voraussicht künftiger Zustände und ein zweckmäßiges Eingreifen des Menschen in den Lauf der Dinge zu ermöglichen. Das gilt für die Bewegungen der Innenwelt ebenso wie für diejenigen der materiellen Außenwelt; in der letzteren namentlich gestattet die durch das nomothetische Denken erworbene Kenntnis die Herstellung derjenigen Werkzeuge, durch welche die Herrschaft des Menschen über die Natur in stetig zunehmendem Maße erweitert wird. Nicht minder aber ist alle zweckvolle Tätigkeit im gemeinsamen Menschenleben auf die Erfahrungen des historischen Wissens angewiesen. Der Mensch ist, um ein antikes Wort zu variieren, das Tier, welches Geschichte hat. Sein Kulturleben ist ein von Generation zu Generation sich verdichtender historischer Zusammenhang: wer in diesen | zu lebendiger Mitwirkung eintreten will, muß das Verständnis seiner Entwicklung haben. Wo dieser Faden einmal abreißt, da muß er – das hat die Geschichte selbst bewiesen – nachher mühsam wieder aufgesucht und angesponnen werden. Sollte dereinst durch irgendein elementares Ereignis, sei es in der Außengestaltung unseres Planeten, sei es in der Innengestaltung der Menschenwelt, die heutige Kultur verschüttet werden – wir können sicher sein, daß die späteren Geschlechter nach ihren Spuren ebenso eifrig graben werden, wie wir nach denen des Altertums. Schon aus diesen Gründen muß die Menschheit ihren großen historischen Schulsack tragen, und wenn er im Laufe der Zeit immer schwerer und schwerer zu werden droht, so wird es der Zukunft an Mitteln nicht fehlen, ihn vorsichtig und ohne Schaden zu erleichtern. Aber nicht solcher Nutzen ist es, wonach wir fragen: hier handelt es sich um den inneren Wissenswert. Freilich auch nicht um die persönliche Befriedigung, welche der Forscher an seinem Erkennen lediglich um dessen selbst willen hat. Denn dieser subjektive Genuß des Herauskriegens, des Entdeckens und Feststellens ist schließlich bei allem Wissen in gleicher Weise vorhanden. Sein Maß wird viel weniger durch die Bedeutung des Gegenstandes, als durch die Schwierigkeit der Untersuchung bestimmt. Zweifellos jedoch gibt es daneben objektive und doch rein theoretische Unterschiede im Erkenntniswert der Gegenstände: ihr
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Maß aber ist kein anderes als der Grad, in welchem sie zur Gesamterkenntnis beitragen. Das Einzelne bleibt ein Objekt müßiger Kuriosität, wenn es kein Baustein in einem allgemeineren Gefüge zu werden vermag. So ist im wissenschaftlichen Sinne schon »Tatsache« ein teleologischer Begriff. Nicht jedes beliebige Wirkliche ist eine Tatsache für die Wissenschaft, sondern nur das, woraus sie – kurz gesagt – etwas lernen kann. Das gilt vor allem für die Geschichte. Es geschieht gar | vieles, was keine historische Tatsache ist. Daß Goethe im Jahre 1780 sich eine Hausglocke und einen Stubenschlüssel, sowie am 22. Februar ein Billetkästchen hat anfertigen lassen, ist durch eine völlig echt überlieferte Schlosserrechnung urkundlich erwiesen: es ist demnach enorm wahr und gewiß also geschehen, und doch ist es keine historische Tatsache, weder eine literaturgeschichtliche noch eine biographische. Indessen ist andererseits zu bedenken, daß es innerhalb gewisser Grenzen unmöglich ist, von vornherein zu entscheiden, ob dem Einzelnen, was sich der Beobachtung oder der Überlieferung darbietet, dieser Wert einer »Tatsache« zukommt oder nicht; daher es die Wissenschaft machen muß, wie Goethe im späten Alter: einhamstern, aufspeichern, wessen sie habhaft werden kann, froh des Gedankens, nichts zu verabsäumen von dem, was sie einmal verwenden könnte, und des Vertrauens, daß die Arbeit der kommenden Geschlechter, soweit sie nicht durch die äußern Zufälle der Überlieferung beeinträchtigt wird, wie ein großes Sieb das Brauchbare bewahren und das Nutzlose versinken lassen wird. Aber dieser wesentliche Zweck alles Einzelwissens, sich einem großen Ganzen einzufügen, ist nun keineswegs auf die induktive Unterordnung des Besonderen unter den Gattungsbegriff oder unter das allgemeine Urteil beschränkt: er erfüllt sich ebenso da, wo das einzelne Merkmal sich als bedeutsamer Bestandteil einer lebendigen Gesamtanschauung einordnet. Jenes Haften am Gattungsmäßigen ist eine Einseitigkeit des griechischen Denkens, fortgepflanzt von den Eleaten zu Platon, der, wie das wahre Sein so auch die wahre Erkenntnis nur im Allgemeinen fand, und von ihm bis zu unseren Tagen, wo sich Schopenhauer zum Sprecher dieses Vorurteils gemacht hat, wenn er der Geschichte den Wert echter
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Wissenschaft absprach, weil sie stets nur das Be|sondere und nie das Allgemeine erfasse. Wohl ist es richtig, daß der menschliche Verstand vieles auf einmal nur dadurch vorzustellen vermag, daß er den gemeinsamen Inhalt des zerstreuten Einzelnen auffaßt: aber je mehr er dabei zum Begriff und Gesetz strebt, um so mehr muß er das Einzelne als solches hinter sich lassen, vergessen und preisgeben. Wir sehen das da, wo man in spezifisch moderner Weise versucht, »aus der Geschichte eine Naturwissenschaft zu machen«, wie es die sogenannte Geschichtsphilosophie des Positivismus vorgeschlagen hat. Was bleibt bei einer solchen Induktion von Gesetzen des Volkslebens schließlich übrig? Es sind ein paar triviale Allgemeinheiten, die sich nur mit der sorgfältigen Zergliederung ihrer zahlreichen Ausnahmen entschuldigen lassen. Dem gegenüber muß daran festgehalten werden, daß sich alles Interesse und Beurteilen, alle Wertbestimmung des Menschen auf das Einzelne und das Einmalige bezieht. Bedenken wir nur, wie schnell sich unser Gefühl abstumpft, sobald sich sein Gegenstand vervielfältigt oder als ein Fall unter tausend gleichartigen erweist. »Sie ist die erste nicht« – heißt es an einer der grausamsten Stellen des Faust. In der Einmaligkeit, der Unvergleichlichkeit des Gegenstandes wurzeln alle unsere Wertgefühle. Hierauf beruht Spinozas Lehre von der Überwindung der Gemütsbewegungen durch die Erkenntnis: denn für ihn ist Erkenntnis Untertauchen des Besonderen ins Allgemeine, des Einmaligen ins Ewige. Wie aber alle lebendige Wertbeurteilung des Menschen an der Einzigkeit des Objekts hängt, das erweist sich vor allem in unserer Beziehung zu den Persönlichkeiten. Ist es nicht ein unerträglicher Gedanke, daß ein geliebtes, ein verehrtes Wesen auch nur noch einmal ganz ebenso existiere? ist es nicht schreckhaft, unausdenkbar, daß von uns selbst mit dieser unserer individuellen Eigenart noch ein zweites Exemplar in der Wirklichkeit vorhanden sein | sollte? Daher das Grauenhafte, das Gespenstige in der Vorstellung des Doppelgängers – auch bei noch so großer zeitlicher Entfernung. Es ist mir immer peinlich gewesen, daß ein so geschmackvolles und feinfühliges Volk wie das griechische die durch seine ganze Philosophie hindurchgehende Lehre sich hat gefallen lassen, wonach in
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der periodischen Wiederkehr aller Dinge auch die Persönlichkeit mit allem ihren Tun und Leiden wiederkehren soll. Wie schlimm entwertet ist das Leben, wenn es genau so schon wer weiß wie oft dagewesen sein und wer weiß wie oft sich noch wiederholen soll – wie entsetzlich der Gedanke, daß ich als derselbe schon einmal dasselbe gelebt und gelitten, gestrebt und gestritten, geliebt und gehaßt, gedacht und gewollt haben soll und daß, wenn das große Weltjahr abgelaufen ist und die Zeit wiederkommt, ich dieselbe Rolle auf demselben Theater noch wieder und wieder soll abspielen müssen! Und was so vom individuellen Menschenleben gilt, das gilt erst recht von der Gesamtheit des geschichtlichen Prozesses: er hat nur Wert, wenn er einmalig ist. Dies ist das Prinzip, welches die christliche Philosophie in der Patristik siegreich gegen den Hellenismus behauptet hat. Im Mittelpunkt ihrer Weltansicht standen von vornherein der Fall und die Erlösung des Menschengeschlechts als einmalige Tatsachen. Das war die erste große und starke Empfindung für das unveräußerliche metaphysische Recht der Historik, das Vergangene in dieser seiner einmaligen unwiederholbaren Wirklichkeit für die Erinnerung der Menschheit festzuhalten. Andererseits bedürfen nun aber die idiographischen Wissenschaften auf Schritt und Tritt der allgemeinen Sätze, welche sie in völlig korrekter Begründung nur den nomothetischen Disziplinen entlehnen können. Jede Kausalerklärung irgendeines geschichtlichen Vorganges setzt allgemeine Vorstellungen vom Verlauf der Dinge überhaupt voraus; und wenn man historische Beweise auf ihre rein | logische Form bringen will, so erhalten sie stets als oberste Prämissen Naturgesetze des Geschehens, insbesondere des seelischen Geschehens. Wer keine Ahnung davon hätte, wie Menschen überhaupt denken, fühlen und wollen, der würde nicht erst bei der Zusammenfassung der einzelnen Ereignisse zur Erkenntnis von Begebenheiten – er würde schon bei der kritischen Feststellung der Tatsachen scheitern. Freilich ist es dabei sehr merkwürdig, wie nachsichtig im Grunde genommen die Ansprüche der Geschichtswissenschaft an die Psychologie sind. Der notorisch äußerst unvollkommene Grad, bis zu welchem bisher die Gesetze
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des Seelenlebens haben formuliert werden können, hat den Historikern niemals im Wege gestanden: sie haben durch natürliche Menschenkenntnis, durch Takt und geniale Intuition gerade genug gewußt, um ihre Helden und deren Handlungen zu verstehen. Das gibt sehr zu denken und läßt es recht zweifelhaft erscheinen, ob die von den Neuesten geplante mathematisch-naturgesetzliche Fassung der elementaren psychischen Vorgänge einen nennenswerten Ertrag für unser Verständnis des wirklichen Menschenlebens liefern wird. Trotz solcher Unzulänglichkeiten der Ausführung im Einzelnen ist hieraus klar, daß in der Gesamterkenntnis, zu welcher sich alle wissenschaftliche Arbeit zuletzt vereinigen soll, diese beiden Momente in ihrer methodischen Sonderstellung nebeneinander bleiben: den festen Rahmen unseres Weltbildes gibt jene allgemeine Gesetzmäßigkeit der Dinge ab, welche, über allen Wechsel erhaben, die ewig gleiche Wesenheit des Wirklichen zum Ausdruck bringt: und innerhalb dieses Rahmens entfaltet sich der lebendige Zusammenhang aller für das Menschentum wertvollen Einzelgestaltungen ihrer Gattungserinnerung. Diese beiden Momente des menschlichen Wissens lassen sich nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückführen. Wohl legt die Kausalerklärung des einzelnen Geschehens mit | dessen Reduktion auf allgemeine Gesetze den Gedanken nahe, daß es in letzter Instanz möglich sein müsse, aus der allgemeinen Naturgesetzmäßigkeit der Dinge auch die historische Sondergestaltung des wirklichen Geschehens zu begreifen. So meinte Leibniz, daß schließlich alle vérités de fait ihre zureichenden Gründe in den vérites éternelles haben. Aber er vermochte dies nur für das göttliche Denken zu postulieren, nicht für das menschliche auszuführen. Man kann sich dies an einem einfachen logischen Schema klar machen. In der Kausalbetrachtung nimmt jegliches Sondergeschehen die Form eines Syllogismus an, dessen Obersatz ein Naturgesetz, bzw. eine Anzahl von gesetzlichen Notwendigkeiten, dessen Untersatz eine zeitlich gegebene Bedingung oder ein Ganzes solcher Bedingungen und dessen Schlußsatz dann das wirkliche einzelne Ereignis ist. Wie aber logisch der Schlußsatz eben zwei
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Prämissen voraussetzt, so das Geschehen zwei Arten von Ursachen: einerseits die zeitlose Notwendigkeit, in der sich das dauernde Wesen der Dinge ausdrückt, andrerseits die besondere Bedingung, die in einem bestimmten Zeitmomente eintritt. Die Ursache einer Explosion ist in der einen – nomothetischen – Bedeutung die Natur der explosiblen Stoffe, die wir als chemisch-physikalische Gesetze aussprechen, in der anderen – idiographischen – Bedeutung eine einzelne Bewegung, ein Funke, eine Erschütterung oder ähnliches. Erst beides zusammen verursacht und erklärt das Ereignis, aber keines von beiden ist eine Folge des anderen; ihre Verbindung ist in ihnen selbst nicht begründet. So wenig, wie der bei der syllogistischen Subsumtion angefügte Untersatz eine Folge des Obersatzes selbst ist, so wenig ist beim Geschehen die zu dem allgemeinen Wesen der Sache hinzutretende Bedingung aus diesem gesetzlichen Wesen selbst abzuleiten. Vielmehr ist diese Bedingung als ein selbst zeitliches Ereignis wiederum | auf eine andere zeitliche Bedingung zurückzuführen, aus der sie nach gesetzlicher Notwendigkeit gefolgt ist: und so fort bis in infinitum. Ein Anfangsglied dieser endlosen Reihe ist begrifflich nicht zu denken; und auch wenn man versucht, es vorzustellen, so ist ein solcher Anfangszustand doch immer ein Neues, was zu dem allgemeinen Wesen der Dinge hinzutritt, ohne daraus zu folgen. Spinoza hat dies durch die Unterscheidung der beiden Kausalitäten, der unendlichen und der endlichen, ausgedrückt und damit in genialer Einfachheit viele Bedenken unnötig gemacht, mit denen sich neuere Logiker über das »Problem der Vielheit der Ursachen« beunruhigt haben. In der Sprache der heutigen Wissenschaft ließe sich sagen: aus den allgemeinen Naturgesetzen folgt der gegenwärtige Weltzustand nur unter der Voraussetzung des unmittelbar vorhergehenden, dieser wieder aus dem früheren, und so fort; niemals aber folgt ein solcher bestimmter einzelner Lagerungszustand der Atome aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen selbst. Aus keiner »Weltformel« kann die Besonderheit eines einzelnen Zeitpunktes unmittelbar entwickelt werden: es gehörte dazu immer noch die Unterordnung des vorhergehenden Zustandes unter das Gesetz.
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Da es somit kein in den allgemeinen Gesetzen begründetes Ende gibt, bis zu welchem die Kausalkette der Bedingungen zurückverfolgt werden könnte, so hilft uns alle Subsumtion unter jene Gesetze nichts, um das einzelne in der Zeit Gegebene bis in seine letzten Gründe hinein zu zergliedern. Darum bleibt für uns in allem historisch und individuell Erfahrenen ein Rest von Unbegreiflichkeit – etwas Unaussagbares, Undefinierbares. So widersteht das letzte und innerste Wesen der Persönlichkeit der Zergliederung durch allgemeine Kategorien, und dies Unfaßbare erscheint vor unserem Bewußtsein als das Gefühl der Ursachlosigkeit unseres Wesens, d. h. der individuellen Freiheit. | Eine Menge metaphysischer Begriffe und Probleme ist an diesem Punkte entsprungen. So unglücklich jene, so verfehlt diese sein mögen: das Motiv bleibt bestehen. Die Gesamtheit des in der Zeit Gegebenen erscheint in unableitbarer Selbständigkeit neben der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, nach der es sich doch vollzieht. Der Inhalt des Weltgeschehens ist nicht aus seiner Form zu begreifen. Hieran sind alle Versuche gescheitert, das Besondere aus dem Allgemeinen, das »Viele« aus dem »Einen«, das »Endliche« aus dem »Unendlichen«, das »Dasein« aus dem »Wesen« begrifflich abzuleiten. Dies ist ein Riß, welchen die großen Systeme der philosophischen Welterklärung nur zu verdecken, aber nicht auszufüllen vermocht haben. Das sah Leibniz, als er den vérités éternelles ihren Ursprung im göttlichen Verstande, den vérités de fait den ihrigen im göttlichen Willen anwies. Das sah Kant, als er in der glücklichen aber unbegreiflichen Tatsache, daß alles in der Wahrnehmung Gegebene sich unter die Formen des Intellekts bringen und danach ordnen und verstehen läßt, eine über unser theoretisches Wissen weit hinausragende Andeutung göttlicher Zweckzusammenhänge fand. In der Tat kann über diese Fragen kein Denken mehr Aufschluß geben. Die Philosophie vermag zu zeigen, bis wohin die Erkenntniskraft der einzelnen Disziplinen reicht; über diese hinaus aber kann sie selbst keine gegenständliche Einsicht mehr gewinnen. Das Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte, inkommensurable Größen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen. Hier ist
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einer der Grenzpunkte, an denen der wissenschaftliche Gedanke nur noch die Aufgabe bestimmen, nur noch die Frage stellen kann in dem klaren Bewußtsein, daß er nie imstande sein wird, sie zu lösen. |
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n gewisser Hinsicht ist die Ethik, wie es auch durch die historische Wirkung der kantischen Lehre bewiesen wird, derjenige Teil der Philosophie, für welchen die kritische Methode am meisten auf Anerkennung rechnen zu dürfen scheint. Denn auf diesem Gebiete sind die Grundbegriffe der kritischen Methode, diejenigen des Sollens und der Norm, dem gewöhnlichen Bewußtsein durchaus geläufig, und auf diesem ist auch das Verhältnis des teleologischen Zusammenhangs recht eigentlich zu Hause. Trotzdem erweist sich gerade dies verlockende Feld voller geheimer Schlingen. Denn es nimmt zwar jedermann für seine moralische Beurteilung Allgemeingültigkeit durchaus in Anspruch; wenn man aber näher zusieht, so findet man den Inhalt desjenigen, was als Maßstab dafür gilt, schon von Individuum zu Individuum, noch mehr aber von Volk zu Volk und von Zeitalter zu Zeitalter so verschieden, daß man gerade der Energie gegenüber, mit der an diesen Überzeugungen jeder festhält, daran verzweifelt, ein allgemeingültiges inhaltliches Prinzip sittlicher Beurteilung aufzufinden. Verzichtet man auch auf faktische allgemeine Anerkennung bei allen Spitzbuben und Schurken, so gehen doch auch die Ansichten der »moralischen« Menschen, wenn wir alle vergleichen, so weit auseinander, daß die Aufstellung eines Sittengesetzes, das sachlich für alle gälte, nicht möglich erscheint. | Bei jedem ist die Beurteilung, welche er an fremden oder eigenen Handlungen und Willensentscheidungen ausübt, ein Produkt naturnotwendiger Entwicklung. Wir wachsen, ohne es zu wissen, in eine bestimmte Lebensauffassung hinein. Den weitesten Umkreis dieser ethischen Atmosphäre bildet für uns Europäer eine aus dem Kampf und der Arbeit der Völker gewonnene allgemeine Kultur; in immer größerer Verengerung reihen sich daran Volkssitte und Standesgeist, Familiensinn und persönliche Lebensgestaltung.
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Durch die Kreuzung aller dieser Elemente entsteht eine solche Vielheit von Auffassungsweisen, daß es völlig glaubhaft ist, wenn diejenigen, die auch in diesen Dingen die Wunderkraft der Induktion probieren, uns schließlich versichern, daß zu etwas überall Geltendem, zu einem »Sittengesetz«, das überall als solches und als Prinzip der Beurteilung anerkannt würde, durchaus nicht zu gelangen sei. Indessen ist das Unglück vielleicht nicht so groß, wenn die Umfrage zu keinem Erfolge führt und man desto mehr Einkehr bei sich selbst hält. Denn wenn es ein Prinzip der Moral, eine allgemeingültige Norm der sittlichen Beurteilung überhaupt gibt, so muß es schon durch die Besinnung des Individuums gefunden und in dieser durch die unmittelbare Evidenz erkannt werden können, mit der es sich als conditio sine qua non für die Möglichkeit einer allgemeingültigen Beurteilung zum Bewußtsein bringt. Fragen wir uns deshalb, was etwa in den Maximen unserer Beurteilung unerläßlich ist, wenn überhaupt ethisch geurteilt werden soll, so finden wir, ohne uns erst bei der Ethnographie Rats erholen zu müssen, daß nicht nur je nach dem Standpunkt unserer eigenen Entwicklung, sondern schon zu derselben Zeit je nach den verschiedenen Gegenständen und Verhältnissen sehr verschiedene Maximen dabei in Betracht kommen, auf deren Erfüllung wir Wert legen. Die einzelnen Inhaltsbestimmungen dieser | Maximen beziehen sich auf empirische Willensverhältnisse und zeigen vermöge ihrer Abhängigkeit von den besonderen Objekten und Zuständen des wirklichen Lebens eine solche Mannigfaltigkeit, daß es keinen allgemeinen Inhalt gibt, der sich in allen gleichmäßig fände und durch induktive Analyse daraus gefunden werden könnte. Dieselbe Unmöglichkeit, auf welche man bei der Vergleichung der Individuen, Völker und Zeiten stößt, waltet also, wenn auch mit etwas veränderter Beziehung, schon innerhalb des einzelnen Bewußtseins ob. Daraus folgt nun von vornherein – und es ist von höchster methodischer Wichtigkeit, darauf genau aufmerksam zu sein –, daß, wenn es überhaupt ein oberstes Prinzip der Moral gibt, es zu den einzelnen sittlichen Maximen nicht im Verhältnis des Gat-
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tungsbegriffs zu seinen Arten stehen kann. Eben deshalb läßt sich die Ethik weder nach deduktiver noch nach induktiver Methode behandeln: man kann weder, von einem allgemeinen Begriffe ausgehend, durch bloß logische Operationen die besonderen gewinnen noch umgekehrt von den besonderen zu dem allgemeinen aufsteigen. Zwischen dem Prinzip und den einzelnen Sätzen besteht kein analytisches Verhältnis. Schon am Individuum also läßt sich verstehen, weshalb bei umfassender empirischer Betrachtung keine einzelne Inhaltsbestimmung der sittlichen Maximen als unerläßliche Bedingung für die allgemeingültige Beurteilung erscheint. Ebenso aber wird es schon durch die individuelle Besinnung klar, daß die Möglichkeit der Beurteilung sofort aufgehoben wäre, wenn nicht in jedem Falle irgend etwas durchaus verlangt und erwartet würde. So unübersehbar und unvergleichbar verschieden dasjenige sein mag, was verlangt wird, so unerläßlich für das Wesen der ethischen Beurteilung ist es, daß unter allen Umständen von der Willenstätigkeit des Menschen irgend etwas verlangt wird. Wo man nichts verlangt und nichts erwartet, da ist auch | von Beurteilung keine Rede; für die Beurteilung ist ein Verlangen, ein Gebot, das erfüllt werden soll, unerläßlich. In der ethischen Terminologie nennen wir dies Gebot, dessen Erfüllung oder Nichterfüllung die Beurteilung bestimmt, eine Pflicht, und so läßt sich behaupten, daß von ethischer Beurteilung überhaupt nie die Möglichkeit gegeben wäre, wenn wir nicht ein Bewußtsein von Pflichten besäßen, die durchaus erfüllt werden sollen. Das Pflichtbewußtsein ist insofern das Prinzip der Moral, als es die oberste Bedingung ist, unter der sittliches Leben möglich ist. Was Pflicht ist, das mag je nach den Umständen, Völkern und Zeitläufen verschieden sein; aber, daß überhaupt eine Pflicht anerkannt werde, ist die selbstverständliche, einem jeden einleuchtende Grundbedingung des moralischen Lebens. Wer da leugnen wollte, daß es überhaupt ein Soll für den Menschen gibt, wer gar keine Pflicht anerkennte, der müßte seinerseits auf alle Beurteilung verzichten, und in solcher Gesinnung würden wir andererseits das absolut Unsittliche erkennen.
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Das Pflichtbewußtsein ist also das allgemeingültige Prinzip der Moral. Die einzelnen Pflichten mögen noch so empirisch bestimmt sein, das Pflichtbewußtsein selbst ist a priori, d. h. es ist durch keine empirische Bestimmung zu begründen und begründet vielmehr selbst erst die Möglichkeit der besonderen Pflichten, welche ihren erfahrungsmäßigen Inhalt durch die jeweiligen Verhältnisse erhalten. Gegen diese Apriorität des Pflichtbewußtseins enthält deshalb der Nachweis des empirischen Ursprungs seiner einzelnen Inhaltsbestimmungen nicht den geringsten Einwurf, und sie wird auch nicht durch die psychologische Theorie in Frage gestellt, welche die Veranlassungen entwickelt, die in der empirischen Bewegung des individuellen und des Gattungsbewußtseins zur Erfassung der moralischen Pflicht und ihrer einzelnen Inhaltsbestimmungen geführt haben und immer wieder führen. Man tut sich | heutzutage viel darauf zugute, wenn man an der Hand der Psychologie, Ethnographie und Kulturgeschichte zeigen kann, daß das Gefühl der Verpflichtung zuerst in der Unterordnung des einzelnen Willens unter das Gebot eines fremden Willens, sei es eines Individuums oder einer Gesellschaft, entspringt, daß es durch Gefühle der Furcht und der Hoffnung sich eindringlich macht, daß die Pflichterfüllung zuerst Mittel zum Zweck der Erreichung von Lust und besonders der Vermeidung von Unlust ist und erst im Laufe der Zeit durch lange Gewöhnung zum selbständigen Wert wird. Diese ganze Geschichte der Überleitung der »heteronomen« in die »autonome« Willensbestimmtheit, diese »Heterogonie der Zwecke« ist freilich durchaus nichts Neues: sie ist das offene Geheimnis aller Erziehung. Aber als ethische Theorie leidet sie an der weit verbreiteten und nie genug zu bekämpfenden Verwechslung von Veranlassungen und Gründen. Keine Norm kommt anders als durch empirische Vermittlungen zum Bewußtsein: ihre Apriorität hat mit psychologischer Priorität nichts zu tun, ihre Unbegründbarkeit ist nicht empirische Ursprünglichkeit. Aber die Geschichte ihres Entstehens ist immer nur diejenige ihrer Veranlassungen. Auch vom Satz des Widerspruchs z. B. läßt sich zeigen, wie er durch den Vorstellungsmechanismus zustande gekommen ist, zustande kommen muß: aber es wäre doch wahrlich schlimm
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mit unserem Denken bestellt, wenn er dadurch begründet wäre! Wer sich gegen die Anerkennung dieses Verhältnisses wehrt, der möge doch bedenken, daß man in der mathematischen Erkenntnis ein ganz ähnliches Verhältnis fortwährend anwendet. In der Philosophie, wo es sich um die wertvollsten Überzeugungen handelt, fürchtet man offenbar stets, zugunsten der eigenen Wünsche übervorteilt zu werden, und schreckt deshalb vor derselben Anerkennung zurück, die man bei geometrischen und arithmetischen Sätzen alle Tage vollzieht. Wenn das Kind durch Aus|zählen erfährt, daß 7 × 7 = 49, so ist es felsenfest überzeugt, daß es immer so und niemals anders sein wird, mag man nun statt der Stäbchen Kugeln oder statt der Äpfel Nüsse oder sonst etwas nehmen: und wem wollte es einfallen, zu meinen, daß der Grund für jene mathematische »Wahrheit« in dem empirischen Auszählen, in der Art zu suchen sei, wie ihre Einsicht psychologisch veranlaßt worden ist! Ganz so aber ist es mit unserer Überzeugung von allen Axiomen und Normen beschaffen: ihre Berechtigung reicht weit über die psychologischen Prozesse hinaus, durch welche sie uns zum Bewußtsein kommt. Unsere Überzeugung davon, daß wir eine Aufgabe, eine Pflicht haben, ist tiefer begründet, als in den individual- oder sozial-psychologischen Übertragungen, durch die wir dazu erzogen werden: sie ruht in sich selbst, denn sie ist identisch mit unserm Gewissen. Dies Pflichtbewußtsein ist jedoch, wie sich von selbst versteht, ein lediglich formales Prinzip. Es besagt nur, daß überhaupt nach einer Norm gewollt und gehandelt werden soll, aber es besagt über den Inhalt dieser Norm nichts. Der oberste Grundsatz der Sittlichkeit, das höchste Gebot lautet: tue deine Pflicht! Aber er sagt nicht, was die Pflicht sei; er verlangt nur, daß, welches auch im einzelnen Falle die Pflicht sei, diese getan werde. Er gilt also überall, wo überhaupt von Sittlichkeit die Rede sein soll, und er läßt doch für die ganze Fülle der Besonderheiten, die infolge des historischen Prozesses als sittliches Erfordernis hie und da erscheinen können, völlig offenen Raum. Man sieht leicht, daß wir uns mit diesem rein formalen Prinzip dicht bei dem »kategorischen Imperativ« von Kant befinden. Auch
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dieser ist mit Verzicht auf jede inhaltliche Bestimmung rein formalen Charakters; auch er verlangt, recht verstanden, nur, daß jeder das tue, was er für seine Pflicht erkannt hat, und er sagt darüber, was | dies sei, nichts aus: er geht vor allem darauf aus, das Verlangen des sittlichen Wollens von jedem Appell an ein schon empirisch bestehendes Wollen, um des willen und zu dessen Befriedigung es als Mittel gefordert würde, unabhängig zu machen. Aber Kant hat in der Absicht, den Begriff der Allgemeinheit in die Formulierung des obersten Grundsatzes aufzunehmen, diesem Prinzip die Wendung gegeben, man solle stets nach derjenigen Maxime handeln, von der man wollen könne, daß sie zum allgemeinen Naturgesetz des Wollens werde, und er hat sich, wie am besten seine eigene Darstellung1 zeigt, mit diesem »Wollenkönnen« in unauflösliche Schwierigkeiten verstrickt. Man entgeht ihnen, wenn man einfach konstatiert, daß ethisches Leben nicht ohne Anerkennung einer Pflicht, d. h. von etwas, das schlechthin und bedingungslos geschehen soll, zu denken ist. Von vornherein aber ist damit klar, daß in den besonderen moralischen Vorschriften neben diesem allgemeinen Prinzip des Pflichtbewußtseins immer ein einzelner Inhalt gegeben sein muß, der aus dem Prinzip selbst nicht abzuleiten, sondern durch erfahrungsmäßige Verhältnisse bedingt ist. Dies ist das historische Element, dessen keine Ethik entraten kann. Wo man es abzustreifen geneigt ist, da hat man nur die Wahl, entweder bei jenem Allgemeinsten und deshalb an sich Unfruchtbaren stehen zu bleiben oder den besonderen Bestimmungen des Willenslebens, die durch historische Verhältnisse bedingt sind, unrichtigerweise einen absoluten Wert zuzuschreiben. In der Gegenwart freilich ist die letztere Gefahr viel geringer, als die entgegengesetzte, daß über jenes historische Element, auf welches alle Tatsachen der Erfahrung hinweisen, das apriorische vergessen wird. | Und doch ist dies nicht völlig unfruchtbar: denn es lassen sich aus dem Prinzip des Pflichtbewußtseins ohne jede Zuhilfe1 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschn. W. W. [Gesammelte Werke] (B[erliner] A[kademie]) IV, 421 ff.
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nahme historischer Daten eine Reihe besonderer, freilich auch ihrerseits wieder rein formaler Pflichten ableiten: nur allerdings nicht im logischen, sondern im teleologischen Zusammenhange. Denn das Grundverhältnis der »praktischen« Welt ist dasjenige von Zweck und Mittel. Seine intimen Beziehungen zu den theoretischen Verhältnissen von Ursache und Wirkung einerseits, von Grund und Folge andrerseits genauer zu betrachten, ist nicht dieses Orts: nur darauf darf im allgemeinen hingewiesen werden, daß alle Anwendung eines Mittels für einen Zweck die, wenn auch noch so unbestimmte Vorstellung eines kausalen Verhältnisses und seiner gesetzmäßigen Geltung voraussetzt, und daß erst demgemäß das Wollen des Zwecks den Grund für das Wollen des Mittels enthält. In allem Werten und Wollen spielen diese Beziehungen eine entscheidende Rolle. Für die psychologische Einsicht gewähren sie das entwicklungsgeschichtliche Moment, welches den Aufbau der breiten und bunten Mannigfaltigkeit des Wertlebens im Fühlen und Wollen auf den elementaren Bestimmungen des emotionellen Daseins gestattet; für die philosophische Untersuchung bieten sie die systematische Handhabe für die Begründung der besonderen Normen aus allgemeineren, aber nicht gattungsmäßig ihnen übergeordneten Prinzipien dar. Die letzte Konsequenz des teleologischen Zusammenhangs ist der Begriff eines höchsten Zwecks, um dessen willen alle anderen Ziele als die Mittel zu seiner Herbeiführung entweder tatsächlich gewollt werden oder pflichtgemäß gewollt werden sollen. Beide Möglichkeiten sind seit dem Altertum, nicht immer genau geschieden, durch den Begriff des höchsten Guts bezeichnet worden. Psychologisch bedeutet er die Annahme eines Grundtriebes, der alle besonderen Wertungen im Fühlen und Wollen | als die Mittel seiner Verwirklichung bestimmt: philosophisch enthält er die Idee einer letzten Einheit des sittlichen Bewußtseins, in der alle besonderen Bestimmungen desselben nach dem Prinzip begründet sind, daß jeder einzelne davon als ein nachweisbar unerläßliches Mittel für den höchsten Zweck gewollt, gebilligt und verlangt werden muß.
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Ist nun die Erfüllung der Pflicht, welches auch immer ihr Inhalt sei, der höchste Zweck, dessen Realisierung vom sittlichen Gewissen unter allen Umständen verlangt wird, so müssen mit teleologischer Konsequenz als Pflichten auch alle diejenigen besonderen Formen des Seelenlebens betrachtet werden, welche als unerläßliche Bedingungen für die Erfüllung der inhaltlich bestimmten Pflichten sich erweisen. Auf diesem Wege lassen sich aus dem Zweck der Erfüllung des Pflichtbewußtseins mit Rücksicht auf die psychologischen Formen des Motivationsprozesses eine Anzahl von formalen Pflichten entwickeln, welche ganz allgemein gelten, welches auch immer in der einzelnen Gesellschaft oder in der einzelnen Seele der Inhalt des Pflichtbewußtseins sei. Wer jedem beliebigen Triebe des Moments folgt, wer sich gehen läßt, wer da unüberlegt aufs Geratewohl hin sich entscheidet und handelt, wer leicht von einem zum andern Plane überspringt, wer schwach jedem Widerstande nachgibt, der wird schwerlich der Pflicht genügen können. Selbstbeherrschung also, Überlegtheit, Konsequenz, Energie usw. – das werden Anforderungen sein, die man im Interesse der Pflichterfüllung überall und immer an den Menschen zu stellen hat, wie auch sonst im besonderen sich der Inhalt seiner sittlichen Aufgabe gestalten möge. Diese aus dem Pflichtbewußtsein teleologisch abzuleitenden Pflichten sind deshalb nur formale, und sie sind es in mehr als einem Sinne. Sie bleiben dieselben, unabhängig von den Inhaltsbestimmungen, die bei den Individuen oder den Gesellschaften | die materialen Pflichten ausmachen, und sie beziehen sich lediglich auf die psychologischen Verhältnisse, welche als Mittel zur Pflichterfüllung verlangt werden müssen. Eine vollständige Darstellung dieser formalen Pflichten müßte an dem Leitfaden der empirischen Psychologie alle Momente und Phasen des Motivationsprozesses verfolgen und für jedes davon dasjenige Verhältnis bestimmen, durch welches die Pflichterfüllung ermöglicht wird: daraus würden sich in jedem Falle Gebot und Verbot ableiten lassen. Eine solche systematische Darstellung kann hier nicht beabsichtigt und nicht einmal angedeutet werden; es kommt nur darauf an, zu zeigen, in welcher Weise eine solche teleologische
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Ableitung möglich ist, und dafür mögen die obigen Beispiele genügen. Endlich sind diese formalen Pflichten nun zwar als solche durchaus allgemeingültig und von den historischen ebenso wie von den individuellen Verhältnissen unabhängig, dafür aber auch sekundär und von untergeordneter Bedeutung. Sie treffen eben nicht den Inhalt des Pflichtbewußtseins. Sie sind Mittel für die Herbeiführung dieses Inhalts, und sie empfangen ihren sittlichen Wert erst durch den Zweck, dem sie dienen. Dieser ihr rein formaler Charakter tritt vor allem darin hervor, daß die in diesen Pflichten verlangten Eigenschaften und Tätigkeiten keinen moralischen Wert an sich darstellen, daß sie keine selbständigen Tugenden sind. Denn da sie eben nur als Mittel verlangt werden, so können sie als Mittel, ihrem bloß formalen Charakter gemäß, auch in den Dienst anderer und sogar spezifisch unsittlicher Zwecke treten. Selbstbeherrschung z. B. ist lediglich ein bestimmtes Verhältnis der Motivation, vermöge dessen gewisse Motive eine sicher und klar beherrschende Stellung in den Vorgängen der Willensentscheidung einnehmen. Diese »gewissen Motive« können die sittlichen sein – und dann ist Selbstbeherrschung eine solche formale Tugend –, sie | können aber auch unsittliche sein, und dann hat die Selbstbeherrschung ihren sittlichen Wert verloren. Auch wer einen tief unsittlichen Zweck der Herrschsucht, der Rache, des Eigennutzes verfolgt, kann jene formale virtus der Selbstbeherrschung in hohem Grade besitzen. In diesem Falle hegen wir dafür eine Art von ästhetischem (bekanntlich oft in der Tragödie benutztem) Wohlgefallen, aber wir versagen ihr den ethischen Beifall. Ganz dasselbe gilt von der Festigkeit und der Energie des Willens u. s. f. Alle diese psychologisch-formalen Bestimmungen erhalten ihre ethische Bedeutung erst durch ihre Unterordnung unter den seinem Inhalte nach sittlich bestimmten Willen, dessen Zwecken gegenüber sie die unerläßlichen Bedingungen der Realisierung darstellen. Um so mehr aber zeigt sich, daß die Moral sich mit dem formalen Prinzip des Pflichtbewußtseins und den daraus nach teleologischer Konsequenz folgenden formalen Pflichten nicht begnügen kann. Da eben aus der bloßen Form sich der Inhalt nicht ableiten
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läßt2, so müssen die Prinzipien der materialen Pflichten unabhängig von jenem formalen Prinzip festgestellt werden. Es zeigt sich damit in der Ethik eine ähnliche Zweiheit von Prinzipien, wie sie auch die Logik zu statuieren hat. Wenn diese die Normen des Denkens darstellen will, so begegnet sie auf der einen Seite jenen formalen Regeln, nach denen, welches auch immer der gegebene Inhalt der Vorstellungen sein möge, der korrekte Fortschritt des Denkens, der auf Allgemeingültigkeit Anspruch haben soll, schlechthin sich vollziehen muß, – auf der andern Seite aber den allgemeinen Axiomen, welche über die Beziehungen aller Erfahrungs|gegenstände gewisse Voraussetzungen aussprechen, woraus allein eine Bearbeitung des Gegebenen nach jenen formalen Regeln sich gründen kann. Beide, die Regeln der formalen Logik und die Grundsätze der Erkenntnistheorie, stehen unabhängig nebeneinander; sie lassen sich nicht auseinander ableiten, und sie sind beide erforderlich, um die Erkenntnistätigkeit der besonderen Wissenschaften zu begründen. Dabei verteilen sie sich in ganz analoger Weise, wie hier von den formalen und den materialen Prinzipien der Ethik die Rede ist, auf die Form und den Inhalt des Denkens. Die Regeln der formalen Logik gelten für jeden beliebigen Inhalt: ihre Befolgung hat aber eben deshalb nur hypothetischen Wert. Gerade so, wie die von den formalen Pflichten verlangten Verhältnisse der Motivation auch in den Dienst unsittlicher Zweckinhalte treten können, so kann nach den formalen Denkregeln das Törichtste korrekt erschlossen werden, wenn die Elemente, die Prämissen, inhaltlich falsch sind: und gerade so, wie deshalb die formalen Denkregeln durch die Grundsätze der Erkenntnistheorie ergänzt sein wollen, welche über den Inhalt der Vorstellungen und seine sachlichen Beziehungen bestimmte Voraussetzungen statuieren, gerade so hat auch die Ethik den for2 Auch Kant hat aus dem kategorischen Imperativ die besonderen Pflichten nur dadurch abgeleitet, daß er ihm durch eine Reihe von Zwischengliedern die materiale Formulierung der Maxime von der Wahrung der Menschenwürde unterschob. Vgl. des Verf. Geschichte der neueren Philosophie II5 , S. 121, 142.
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malen Prinzipien andere, davon unabhängige Bestimmungen über den Inhalt des Pflichtbewußtseins hinzuzufügen. Wenn nun schon oben bemerkt worden ist, daß in den letzteren sich das historische Element als das maßgebende geltend mache und daß eben deshalb die vergleichende Induktion zu keinem Resultate führe, so bleibt nur noch die Aussicht übrig, durch die teleologische Reflexion auf das Wesen dieser historischen Bedingtheit zu allgemeingültigen Inhaltsbestimmungen des Pflichtbewußtseins zu gelangen. Alle Versuche, welche in der Moralphilosophie gemacht worden sind, das Prinzip der Moral in der allgemeinen | »Natur« des Menschen zu suchen, haben daran scheitern müssen, daß der Inhalt der sittlichen Zwecke nicht durch einen allen Individuen gleichen Begriff des Menschen gefunden werden kann, sondern überall dem konkreten Menschen angehört. Der konkrete Mensch aber steht immer in irgendeiner Art von historisch bedingtem Lebenszusammenhange mit der Gattung, welchen wir mit dem allgemeinsten Namen eine Gesellschaft nennen. Mag das nun eine Familie oder eine Horde, mag es ein Volk oder ein Völkerkomplex, mag es endlich eine ideale kosmopolitische Gemeinschaft sein – niemals existiert das Individuum anders als in einem solchen gesellschaftlichen Verband, und der bestimmte gesellschaftliche Verband, dem es angehört, bedingt in seiner besonderen historischen Gestaltung auch den Inhalt seines Pflichtbewußtseins und den Maßstab der sittlichen Beurteilung. Die moralische Funktion ist, wie die logische und die ästhetische, sozialer Natur. In dem isolierten Individuum ist weder moralische noch logische oder ästhetische Beurteilung denkbar. Denn das isolierte Individuum ist überhaupt nicht denkbar: es ist eine Fiktion. Wie schon physisch der einzelne nur aus der Gattung heraus entsteht, so tut er es auch geistig. Selbst der abgeschiedenste Einsiedler ist in seinem geistigen Leben durch die Gesellschaft bedingt, die ihn erzeugt hat, und das ganze Leben eines Robinson beruht auf den Resten der Zivilisation, aus der er in die Einsamkeit verschlagen worden ist. Der abstrakte »natürliche« Mensch existiert nicht; nur der historische, der gesellschaftliche lebt. Wie
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der ganze Inhalt unseres individuellen Daseins, so ist auch der unserer sittlichen Überzeugung durch die Gesellschaft bestimmt. Alles ethische Leben wurzelt in der Beziehung des Individuums zu seiner Gesellschaft: wäre der einzelne absolut allein, ohne jeden anderen Menschen, dem unendlichen Weltall gegenübergestellt, so wüßten wir nicht, wie es für ihn | Sittlichkeit geben sollte. Alle unsere Sittlichkeit wurzelt in der Sitte. Die Verschiedenheit der Lebensverhältnisse – das Wort im weitesten Sinne verstanden –, worin sich die historisch bestimmten Gesellschaften befinden, genügt deshalb völlig, um die Verschiedenheit der sittlichen Lebensauffassungen, die darin zutage treten, genetisch zu erklären. Das ist das Geschäft der Ethnographie und der Kulturgeschichte, die dabei für die theoretische Formung der Tatsachen ihre Anleihen bei der Psychologie zu machen haben. Die philosophische Frage dagegen ist die, ob sich in der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft durch teleologische Besinnung ein allgemeingültiger Inhalt des Pflichtbewußtseins auffinden läßt. Als die einfachste und nächstliegende Beziehung, welche hier denkbar ist, erscheint es, die Gesellschaft selbst als den Zweck zu betrachten, um dessen willen die Tätigkeit des Individuums da sein soll, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß in der teleologischen Unterordnung des Individuums unter die Gesellschaft aller Inhalt des ethischen Gewissens gesucht werden muß. Wenn man aber vielfach, namentlich in der modernen Ethik, der Lehre begegnet, daß die Existenz der Gesellschaft das höchste Prinzip der Moral sei und daß aller Inhalt der sittlichen Vorschriften darauf hinauslaufe, die Förderung alles dessen, was diese zu erhalten, und die Vermeidung alles dessen, was sie in Frage zu stellen oder zu zerstören geeignet ist, in kategorischer Weise zu verlangen, so kann dies durchaus nicht zugegeben werden. Die Existenz der Gesellschaft ist kein absoluter Zweck, dessen Geltung von selbst einleuchtete und der als Abschluß der teleologischen Kette den gesamten Inhalt des sittlichen Bewußtseins bestimmen dürfte. Denn diese bloße, nackte Existenz hat an sich gar keinen ethischen Wert: sie hat ihn bei der Gesellschaft ebensowenig wie bei dem einzelnen. Wie | überall, so muß man auch hier dem mo-
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dernen Vorurteile gegenübertreten, als ob die Qualität durch die Quantität geändert werden könnte! Ist die Existenz des einzelnen kein absoluter Zweck, so ist es auch nicht diejenige einer Masse, sie sei noch so groß. Aus lauter Nullen addiert man keine positive Größe zusammen. Freilich tragen wir unter Umständen kein Bedenken, die Existenz des einzelnen »für die Gesellschaft« zu opfern. Aber man besinne sich wohl! Geschieht das wirklich nur, damit die übrigen einzelnen existieren können? Gibt es ein sittliches Recht, welches die bloße Existenz der Masse über die bloße Existenz des einzelnen stellte? In der Natur freilich erhält sich die Majorität auf Kosten der Minorität: aber das »Recht« der Majorität ist das Recht des Stärkeren und hat keinen sittlichen Grund. Umgekehrt wird es Fälle geben, in denen unser ethischer Wunsch gern die Existenz der Masse für diejenige eines oder weniger einzelnen hingäbe. Nicht also auf die bloße Existenz, sondern auf den Wert dessen, was da existiert, kommt es an, wenn das eine für das andere geopfert wird. Auch dem Individuum kann ein so selbständiger Wert beiwohnen, daß wir es niemals für die bloße Existenz noch so vieler anderer hingeben würden. Die bloße Existenz hat als leeres Dasein niemals einen sittlichen Wert, und daß die Gesellschaft auch nur so einfach existiere, das kann niemals den absoluten Inhalt des Pflichtbewußtseins ausmachen. Ob ein Individuum existiert oder nicht, ist sittlich gleichgültig, solange es nicht einen bestimmten Wert repräsentiert: und ganz ebenso ist es sittlich gleichgültig, ob eine ganze Gesellschaft existiert oder nicht, solange sie noch nicht und sobald sie nicht mehr einen bestimmten Wert besitzt. Dazu kommt noch mehr. Wer in der bloßen Existenz der Gesellschaft den höchsten Zweck sehen wollte, zu welchem alle besonderen moralischen Vorschriften nur die Mittel | der Realisierung verlangten, der würde sich damit jeder Möglichkeit eines Urteils über den sittlichen Wert der verschiedenen Gesellschaften begeben. Jede wirkliche Gesellschaft existiert: wenn das der höchste Zweck ist, so erfüllen ihn alle, und alle gleichmäßig. Dann trifft die sittliche Beurteilung immer nur die Individuen nach Maßgabe ihrer Unterordnung unter die jeweilige Gesellschaft; dann hat es keinen
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Sinn mehr, davon zu reden, daß die eine Gesellschaft, das eine Volk, die eine Zeit usw. als Ganzes sittlicher seien als die anderen. Wenn ein ethisches Urteil über die Gesellschaften möglich sein soll, so muß es auch für die Gesellschaften eine Aufgabe geben, nach deren Erfüllung oder Nichterfüllung ihr Wert bestimmt wird. Es besteht eine Pflicht nicht nur für das Individuum, sondern auch für das Volk, für die Zeit, – für die Gesellschaft! Eben darum kann das Pflichtbewußtsein nicht die bloße Existenz der Gesellschaft zu seinem Inhalte haben. Erkännten wir ferner in der Existenz jeder beliebigen Gesellschaft einen absoluten, unter allen Umständen zu billigenden und zu fördernden Zweck an, so wäre nicht abzusehen, wie unser sittliches Urteil jemals sich mit der Zerstörung der einen Gesellschaft durch die andere einverstanden erklären könnte. Und doch sehen wir nicht nur unbedenklich, sondern mit entschiedenem Beifall zu, wenn die europäische Gesellschaft durch die Ausbreitung ihrer Zivilisation, durch unsere Missionen und Eroberungen, durch Feuerwaffen und Feuerwasser, eine nach der anderen von den »wilden« Gesellschaften physisch und geistig ruiniert und mit der Zeit vom Erdboden verdrängt. Wir würden mit dieser Zustimmung lediglich das brutale Recht der Gewalt sanktionieren, wenn wir nicht der Überzeugung wären, daß die siegreiche Gesellschaft den höheren ethischen Wert repräsentiert. Hieraus ergibt sich, daß, wenn das materiale Prinzip | der Sittlichkeit in dem Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft gesucht werden muß, die letztere dabei nicht bloß als Koexistenz einer Masse von Individuen, sondern als ein teleologisches System gedacht werden muß, das selbst noch als Ganzes eine Pflicht zu erfüllen hat und das eben damit auch die Pflicht des Individuums erst bestimmt. Die Pflichten der Individuen erwachsen aus den Pflichten der Gesellschaft. Der teleologische Zusammenhang, um dessen Aufweis es sich in der Ethik handelt, endet nicht bei der Gesellschaft als dem höchsten Zwecke, sondern weist über sie hinaus. Lassen wir es zunächst dahingestellt, wie diese Pflicht der Gesellschaft, welche hier vorerst nur als ein selbstverständliches Postulat der ethischen Beurteilung erscheint, im besonderen inhalt-
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lich zu bestimmen ist, so läßt sich nun zeigen, in welchem Sinne und in welcher Beschränkung die Existenz der Gesellschaft als Inhalt des individuellen Pflichtbewußtseins gedacht werden muß. Sie hat nur insofern Wert und ist folglich nur insofern auch das Objekt des sittlichen Wollens, als durch sie die Pflicht der Gesellschaft erfüllt werden soll. Die Existenz der Gesellschaft ist nicht der höchste Zweck, aber sie ist wiederum das Mittel zu dessen Realisierung: sie muß deshalb um jenes höchsten Zwecks willen gewollt werden und darf nur in Beziehung auf ihn gewollt werden. Wenn man mit dieser Einschränkung es für die Pflicht des Individuums erklärt, die Existenz der Gesellschaft nicht nur nicht zu gefährden, sondern aufrechtzuerhalten und zu schützen, so lassen sich wieder daraus nach der Methode des teleologischen Zusammenhangs im Hinblick auf die allgemeinen empirischen Lebensformen der Gesellschaft eine Reihe von Verboten und Geboten ableiten, welche man füglich als soziale Pflichten bezeichnen darf. Es ist selbstverständlich, daß die Gesellschaft nicht bestehen, geschweige denn ihre Aufgabe erfüllen kann, wenn die | Existenz ihrer einzelnen Mitglieder und die Ordnung, wodurch diese gewährleistet wird, in Frage gestellt und von der Willkür des persönlichen Interesses bedroht ist. Die Achtung des fremden Lebens und Eigentums, die Hintansetzung der individuellen Wünsche dem gesellschaftlichen Bedürfnis gegenüber, der Gehorsam und die Unterordnung des einzelnen Willens unter das Gesetz des Ganzen, – alle diese Fundamentalgebote bis zu dem der eventuellen Aufopferung der gesamten persönlichen Existenz für die Zwecke der Gesellschaft, alle sie ergeben sich mit teleologischer Konsequenz aus der Forderung der sozialen Gesinnung als die einzelnen unerläßlichen Bedingungen für deren Realisierung in den einzelnen Verhältnissen des Gesellschaftslebens. Sollten sie, worauf wiederum hier verzichtet werden muß, in ihrer Vollständigkeit entwickelt werden, so bedürfte man auch hier eines empirischen Leitfadens, der in der Kenntnis der allgemeinen Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens zu suchen wäre; aber die Begründung jener einzelnen Gebote liegt natürlich wiederum nicht in dieser empirischen Vermittlung, sondern in der Evidenz, mit der sich
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die einzelnen Vorschriften als Mittel zur Realisierung der sozialen Gesinnung darstellen. Alle diese Vorschriften folgen somit – was für das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur Ethik entscheidend ist – nicht erst aus irgendwelchen »angeborenen Rechten« der Individuen, sondern es sind Pflichten der Individuen gegen die Gesellschaft und ihre einzelnen Mitglieder. Ein Recht besteht für das Individuum immer in dem Inbegriff desjenigen, was hinsichtlich seiner die gesellschaftliche Ordnung von den anderen Individuen verlangt. Das Recht des einen und die Pflichten des anderen sind die beiden Seiten eines und desselben Grundverhältnisses. Mein Recht besteht darin, daß die anderen Pflichten gegen mich haben. | Indessen zeigen nun alle die Pflichten, welche in diesem Sinne unter dem Namen der sozialen zusammengefaßt werden können, ihren sekundären Charakter dadurch, daß auch sie nicht absolut gelten, sondern sämtlich unter Umständen suspendierbar sind. Da sie nur Mittel zur Erhaltung der Gesellschaft sind und da dieser ihr Zweck als sittliche Notwendigkeit nur unter der Bedingung gilt, daß die Gesellschaft ihre Aufgabe erfüllt, so sind alle diese Pflichten aufgehoben, sobald die Erfüllung der Aufgabe der Gesellschaft in besonderen Fällen ihre Verletzung erfordert. Die Achtung vor dem Leben und dem Eigentum des Individuums hat bekanntlich ihre Grenzen, wo es sich um die höchsten Güter der Gesellschaft handelt, und auch der Gehorsam gegen eine momentan bestehende gesellschaftliche Ordnung kann gerade durch das sittliche Bewußtsein von ihrer Unangemessenheit zu den Aufgaben der Gesellschaft aufgehoben werden. Es gibt kein Gebiet, auf welchem sich eine größere und schwierigere Kasuistik entfaltete, und keines, worin so sehr die bewußte und die unbewußte Sophistik sich breit machten, wie diese Einschränkung der sozialen durch die »höheren« Pflichten. Dasselbe äußere Resultat, die Verletzung der sozialen Pflicht, kann dabei aus einfacher oder raffinierter Unsittlichkeit, und es kann aus tiefster, reinster Sittlichkeit hervorgehen. Das gibt Komödien und Tragödien, – aber trotz aller Irrungen, Täuschungen und Selbsttäuschungen bleibt doch die Möglichkeit unangetastet, daß es zur sittlichen Pflicht wird, die
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eine oder die andere der sozialen Pflichten zu verabsäumen oder zu verletzen. Dieselbe Einschränkung trifft die den sozialen Pflichten entsprechenden Rechte. Denn da das Recht des einzelnen in den sozialen Pflichten besteht, welche die übrigen ihm gegenüber haben, so wird es ethisch hinfällig, sobald diese Pflichten durch höhere verdrängt werden. Wenn deshalb | auf irgendeine Weise zwischen der Existenz des Individuums und den Aufgaben der Gesellschaft gewählt werden muß, so kann über die sittliche Entscheidung kein Zweifel sein: andererseits aber muß auch hier bedacht werden, daß die Verletzung der sozialen Pflicht nur dann gestattet ist, wenn sie als das unerläßlich im Interesse des höheren Zwecks gebotene Mittel erscheint. Diese nur bedingte Geltung der sozialen Pflichten läßt zwischen ihnen und den oben behandelten formalen Pflichten einen bemerkenswerten Parallelismus hervortreten: beide gelten nur unter der Voraussetzung, daß sie sich höheren, wertvolleren Zwecken als Mittel unterordnen, und sie sind deshalb nicht absolute, kategorische, sondern hypothetische und aufhebbare Imperative. Das läßt vermuten, daß ihnen noch eine tiefere Verwandtschaft zukommt, und auch diese ist nicht schwer zu finden. Alle jene sozialen Pflichten nämlich beziehen sich auf das Verhältnis, in welchem der individuelle Wille sich zu dem Gesamtwillen der Gesellschaft und zu den übrigen Individualwillen befinden soll: sie ordnen die Willensverhältnisse in der Gesellschaft; sie bestimmen, wie sich der einzelne in der Anerkennung des fremden Einzelwillens und der von der Gesellschaft gewollten Ordnung zu verhalten hat, damit das Ganze seine Bestimmung erfüllen kann. Sie richten sich also auf diejenigen Motivationsformen, welche für die Gesellschaft die unerläßlichen Bedingungen dafür sind, daß der Zusammenhang der Willenstätigkeiten ihrer Mitglieder die Aufgabe des Ganzen erfülle. Ebenso wie jene formal genannten Pflichten sich sämtlich darauf beziehen, welche Verhältnisse in den Elementen des individuellen Willenslebens immer obwalten sollen, damit der einzelne seine Pflicht, gleichviel welchen Inhalts, erfülle, genau ebenso bestimmen diese sozialen Pflichten, welche Verhältnisse
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zwischen den Elementen des gesellschaftlichen Willenslebens, d. h. den ein|zelnen wollenden Persönlichkeiten, inmner obwalten sollen, damit die Gesellschaft ihre Pflicht, gleichviel welchen Inhalts, erfülle. Wie deshalb die formalen Pflichten für alle Individuen, so gelten die sozialen Pflichten für alle Gesellschaften, – unabhängig davon, welches der letzte inhaltliche Zweck des Pflichtbewußtseins in dem einen Falle für die Individuen, in dem anderen für die Gesellschaften ist. Die sozialen Pflichten sind also inhaltlich, wenn sie vom Standpunkt des Individuums aus betrachtet werden; aber sie sind formal, wenn sie vom Standpunkt der Gesellschaft aus betrachtet werden. Sie verlangen für das soziale Gesamtleben genau dasselbe, was die »formalen« Pflichten für das individuelle Dasein fordern, nämlich eine solche Ordnung der Elemente des Willenslebens, vermöge deren die Pflicht, dort des Ganzen, hier des Einzelnen, erfüllt werden kann. Dieser Parallelismus läßt sich deshalb auch im besonderen verfolgen. Der Pflicht der Selbstbeherrschung als der Unterordnung der momentanen Triebregungen unter das Pflichtbewußtsein entspricht im sozialen Zusammenhange die Pflicht des Gehorsams als der Unterordnung des Individualwillens unter den Gesamtwillen. Doch fragt es sich und kann nur in einem System der Ethik entschieden werden, ob dieser Parallelismus sich vollständig durchführen ließe: hier kommt es nur darauf an, jene prinzipielle Verwandtschaft im allgemeinen hervorzuheben. Durch alle solche Untersuchungen ist nun aber die Lösung der Frage nach dem Prinzip der Moral, d. h. nach dem Inhalt desjenigen, was auf alle Fälle gewollt werden soll, nach dem höchsten, absoluten Zweck, nur hinausgeschoben worden. Das bisherige Resultat läßt sich dahin zusammenfassen, daß der Satz »tue deine Pflicht« sich in den anderen verwandelt hat: »tue, was in deinen Kräften steht, damit die Gesellschaft, der du angehörst, ihre Pflicht | erfülle«. Die schwierigste Frage bleibt also noch zu behandeln, die Frage, ob in allgemeingültiger, von dem Wechsel der historischen Vorstellungs- und Willensbewegung unabhängiger Weise diese Pflicht der Gesellschaft bestimmt werden kann. Die Allgemeingültigkeit, welche für die formalen und die sozia-
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len Pflichten nach der teleologischen Methode aufgezeigt werden konnte, war in beiden Fällen durch den Verzicht auf den Inhalt erkauft, und wenn sich auch für das individuelle Pflichtbewußtsein schon ein gewisser Inhalt durch die sozialen Pflichten darstellte, so gelten doch diese nicht an sich, sondern nur als Mittel für den höchsten Zweck, der in der Pflicht der Gesellschaft zu suchen ist. Hierauf drängt also von allen Seiten der Zusammenhang der Willensprozesse, um einen letzten Abschluß der teleologischen Kette zu statuieren. Was ist die Aufgabe der Gesellschaft? Das ist die Kardinalfrage aller Ethik. Daß jede Gesellschaft in irgendeiner Form, sei es in der des religiösen Glaubens, sei es in einer Anpassung an die jeweiligen praktischen Umstände und Zustände, oder in irgendeiner anderen Form ein mehr oder minder klares Gesamtgefühl davon hat, daß sie eine Bestimmung zu erfüllen und alle ihre Kräfte auf eine mehr oder minder umfangreiche Leistung zu konzentrieren habe, das dürfte vielleicht sogar als Tatsache zugestanden werden. Doch bedarf die Ethik dieses Zugeständnisses nicht einmal. Würde es verweigert, so änderte das an der normativen Allgemeingültigkeit der Gesellschaftspflicht so wenig, wie die »Geltung« des individuellen Pflichtbewußtseins dadurch alteriert wird, daß sich hie und da ein Lump findet, dem nichts heilig ist. Gibt es Gesellschaften, denen jede Spur eines Pflichtbewußtseins verloren gegangen ist, so sind sie eben die unmoralischen, und so zählen sie einfach in unserer Besinnung auf die ethische Norm so wenig mit wie irgendeine tierische Gesellschaft. Die Frage ist nur die, ob über | den mannigfachen Inhalten, welche die einzelnen historisch bedingten Gesellschaften für ihre Bestimmung halten, eine gemeinsame Aufgabe festgestellt werden kann, die für alle als Norm und Maßstab der Beurteilung gilt. In dieser Hinsicht predigt man heutzutage wieder von allen Dächern die Weisheit der Aufklärung, daß die Gesellschaft dazu da sei, ihre Mitglieder so glücklich wie möglich zu machen, und damit stempelt man die »allgemeine Glückseligkeit« zum inhaltlichen Prinzip der Moral. Niemand wird sich über den Beifall wundern, den diese Lehre zu finden pflegt. Also dazu ist der ganze Lärm der
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Gesellschaft und des historischen Lebens da, daß wir alle so glücklich wie möglich werden! Welch eine vortreffliche, welch eine zeitgemäße Moral! Gibt es etwas Erhebenderes, als den Gedanken, daß die Gesellschaft das Ideal aller Assekuranzanstalten ist? eine Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit, bei der die Pflicht die Einzahlung und das allgemeine Glück die Dividende ist? Das ist eine Abrechnung, die einem jeden einleuchtet; da braucht man nicht nach hohen und weiten Prinzipien umzuschauen, da bleibt man hübsch auf dem Boden der lieben Erfahrung, und da schließt sich alles herrlich zum Kreise zusammen. Die Individuen sind für die Gesellschaft da, und die Gesellschaft, – nun, die ist für die Individuen da. Denn jenes »allgemeine Glück« hat doch vermutlich kein anderes Subjekt als die Summe der Individuen, welche daran partizipieren. Die Gesellschaft fühlt nicht: nur die Individuen sind glücklich oder unglücklich. Meint man also, diese allgemeine Glückseligkeit sei der Zweck der Gesellschaft und deshalb der höchste Inhalt des Pflichtbewußtseins, so macht man die Gesellschaft zu einem Mittel für die Herbeiführung einer großen Masse von Wohlgefühl, das immer nur in den einzelnen Individuen zu finden ist, und man steigt in der teleologischen Kette | nicht über die Gesellschaft empor, sondern wieder zu den einzelnen Individuen herab.3 Der Grundfehler dieser Ansicht, deren Vertretern häufig eine gewisse wohlmeinende Gemeinnützigkeit nicht abzusprechen ist, besteht darin, daß sie allen Wertverhältnissen nur Quantitätsdifferenzen unterschiebt. Die Grundvoraussetzung dabei, welche durchaus nicht von selbst einleuchtet, ist die, daß im Falle des Konfliktes die Lust der Majorität wertvoller sei als die der Minorität, oder die intensivere Lust wertvoller als die schwächere. Wird
3 Es sei nur ganz nebenbei bemerkt, daß die unverständigste Konsequenz dieser Ansicht diejenige war – man darf wohl kaum mehr sagen: ist –, welche dieses teleologische Verhältnis zum Erklärungsgrunde der Gesellschaft machen wollte und es sich herrlich zusammenphantasierte, wie die Biedermänner der Urzeit, um alle zusammen viel, viel glücklicher zu werden, die Gesellschaft »gründeten«.
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aber der Schwerpunkt auf die möglichst große Höhe der Glückseligkeitssumme gelegt, so kann man es niemandem verdenken, wenn er seinen Anteil an der Erzeugung der allgemeinen Glückssumme durch die Steigerung seines eigenen Wohlbefindens zu leisten sucht, für welches er ja doch am besten und sichersten zu sorgen vermag; und wenn man ihm vorwirft, er tue das auf Kosten fremder Glückseligkeit, so wird er leicht demonstrieren können, daß es in diesem Jammertal, bei dem allgemeinen Kampf ums Dasein, überhaupt schwer sein wird, irgend jemandem einen Vorteil zu verschaffen, ohne ihn einem anderen zu entziehen. Wenn es aber nur darauf ankommt, daß die Gesamtsumme der Lust möglichst groß wird, so ist es ja ganz gleichgültig, wie sie sich auf die einzelnen verteilt. Reich kann auch die Gesellschaft sein, in deren Vermögen sich wenige, aber sehr große Kapitalien zu vielen kleinen addieren. Betont man andererseits die gleichmäßige Verteilung der Lustgefühle auf alle Mitglieder der Gesellschaft | und nimmt man die Allgemeinheit des Glückseligkeitszustandes als letztes Prinzip der Ethik an, so ist, da jeglicher nur durch die Befriedigung seiner persönlichen Wünsche glücklich zu machen ist – denn man kann niemanden zu seinem Glücke zwingen –, durchaus nicht abzusehen, wie man der Konsequenz entgehen will, alle diese Wünsche, wie sie nun einmal sind, prinzipiell als gleichwertig zu betrachten und das System der ethischen Vorschriften lediglich als eine zweckmäßige Ausgleichung zwischen ihnen anzusehen. Eine Wertverschiedenheit dieser Wünsche wäre dann nur in dem Sinne zu statuieren, daß sich die einen mit geringerer, die anderen mit größerer Benachteiligung der Wünsche der anderen erfüllen lassen, und derselbe Wunsch hätte verschiedenen ethischen Wert, je nachdem die zufälligen Umstände seine Erfüllung mit den Interessen der übrigen in größeren oder geringeren Widerspruch versetzen. Diese ganze Lustkrämerei gibt also kein festes Prinzip ethischer Wertschätzung, und das ist, wie gegen jeden, so auch gegen den sozialen Eudämonismus neben vielen anderen, die hier als bekannt vorausgesetzt werden können, der schwerste Einwurf. Es kommt hinzu, daß das Prinzip der »allgemeinen Glückseligkeit« doch zuletzt seinen teleologischen Schlußpunkt in dem Glückseligkeits-
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bestreben des Individuums hat. Dies ist aber ein Naturgesetz, das immer realisiert ist, – nicht eine Norm, von der abgewichen werden kann. Diesem Naturgesetze folgen ausnahmslos, wie alle Individuen, so auch alle Gesellschaften, und dieser Trieb gibt daher keine Bestimmung ab, welche die Gesellschaft erfüllen sollte. Setzt man ihn als den absoluten Zweck, so gibt es nur intellektuelle Verschiedenheiten zwischen den Gesellschaften wie zwischen den Individuen: die einen fangen es klüger an, glücklich zu werden, als die anderen. Aber die Ethik ist keine Klugheitslehre: sie hat nicht zu lehren, wie man es – eventuell|mit Hilfe der Gesellschaft – anfängt, seine Wünsche zu befriedigen; sie hat sich darauf zu besinnen, was man wünschen soll. Endlich können wir uns eine Gesellschaft denken und eine solche eventuell irgendwo in dem paradiesischen »Naturzustande« wirklich vorfinden, welche unter günstigen Lebensverhältnissen bei einem Minimum von rein leiblichen Bedürfnissen, deren Befriedigung sich leicht und einfach gestaltete, alle ihre Mitglieder vollkommen glücklich machte. Würden wir diese für das Ideal der Sittlichkeit halten? Wer sich ernsthaft besinnt, wird es leugnen. Aber verstehen wird man hiernach, weshalb alle eudämonistische Moral die Tendenz hat, Bedürfnislosigkeit als höchste Tugend zu empfehlen. Denn, ist die Glückseligkeit der absolute Zweck, sei es der Individuen, sei es der Gesellschaften, so ist es fast ein analytischer, jedenfalls ein strikt zu erschließender und außerdem durch die Erfahrung bestätigter Satz, daß dieser Zweck um so besser erreicht wird, je geringer und niedriger in jeder Hinsicht die Bedürfnisse sind. Mit jedem neuen und höheren Bedürfnis steigt die Unwahrscheinlichkeit vollkommener Befriedigung. Deshalb ist der Kynismus, die Moral der Bedürfnislosigkeit, die einzig korrekte Konsequenz des Eudämonismus. Umgekehrt gilt uns überall als der reifere, sittlich höher stehende Mensch und als der wertvollere Gesellschaftszustand derjenige, welchen wir von anderen als von den die bloße Existenz und die einfachsten Triebe betreffenden Bedürfnissen bewegt sehen. Es gibt vielleicht keinen schlagenderen Beweis gegen die Glückseligkeitstheorie: je höher die Bedürfnisse (nicht der Quantität, sondern der Qualität nach!)
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steigen, je unvollkommener und unvollständiger deshalb ihre Befriedigung ist, um so größer ist unser sittlicher Beifall für das Individuum ebenso wie für die Gesellschaft. Viel leichter deshalb ist die Glückseligkeit für den zu erreichen, dem die | sittlichen Bedürfnisse fehlen, als für denjenigen, der sie hat. Nimmt man endlich hinzu, daß mit dem Wert der Wünsche der Schmerz über ihre Nichterfüllung steigt, so sieht man ein, wie unklug es vom Standpunkt des Glückseligkeitsbedürfnisses aus ist, sittliche Wünsche zu hegen, und wie töricht es auf der andern Seite ist, in der Glückseligkeit den absoluten Zweck des ethischen Lebens zu suchen. Wenn es also gilt, die Aufgabe der Gesellschaft zu bestimmen, so darf man nicht zu den Gefühlszuständen der unter ihr stehenden Individuen, sondern man muß über sie hinaus greifen. Ihr Zweck muß höher sein als sie selbst, geschweige denn als ihre Teile. Allein, so gefaßt, scheint die Aufgabe für unsere Erkenntnis unlösbar zu sein; denn in dem Aufbau unserer erfahrungsmäßigen Welterkenntnis ist die Gesellschaft die letzte Synthese, auf welche wir stoßen: über sie hinaus wissen wir nichts. Es gibt kein empirisches Dasein mehr, welchem gegenüber die Gesellschaft als Mittel zum Zweck erscheinen könnte; die Kette der Finalität scheint bei ihr geschlossen zu sein. Hätten wir eine Erkenntnis von einem Gesamtplan des Weltgeschehens, so würden wir die Stellung verstehen, welche in seiner Realisierung die Gesellschaft einnimmt; wir würden damit ihre Bestimmung begreifen und darin den allgemeingültigen Inhalt ihres Pflichtbewußtseins gefunden haben. Es ist deshalb durchaus verständlich, wenn in diese Lücke unseres Wissens der Glaube eingetreten ist. Wer eine lebendige religiöse Überzeugung hat, der besitzt darin auch eine Vorstellung von der durch göttliches Gebot bestimmten Aufgabe, welche das gesellschaftliche Leben des Menschen zu erfüllen habe. Er hat in der göttlichen Weltordnung das Höhere, den Zweck, dem er die Gesellschaft unterstellen muß, und den Inhalt des Pflichtbewußtseins bildet für ihn in letzter Instanz die religiöse Auf|gabe, an die er glaubt. Hierauf gründen sich alle Formen der religiösen Moral, welche von Platon bis auf unsere Tage aufgestellt worden sind.
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Modernen Vorurteilen gegenüber ist zu konstatieren, daß eine solche Auffassung der Ethik viel konsequenter und klarer gedacht ist als die Glückseligkeitstheorie. Die theologische Moral versteht, daß, wenn es einen Zweck, eine Aufgabe für die Gesellschaft geben soll, diese nicht unter ihr, sondern über ihr zu suchen ist, und daß, wenn uns hier das Wissen im Stich läßt, der Glaube an seine Stelle zu treten hat. Die Metapyhsik, d. h. die vollständige Erkenntnis des Weltalls, würde uns in den Stand setzen, auch die Aufgabe zu verstehen, welche im Weltplan die Gesellschaft zu erfüllen hat: deshalb haben die großen metaphysischen Systeme in ihrer theoretischen Erkenntnis den Angelpunkt für die Inhaltsbestimmung des sittlichen Bewußtseins gesucht. Verzichten wir jetzt auf eine solche Wissenschaft, so kann die metaphysische Ansicht, aus welcher das Prinzip der Moral hervorgehen soll, nur noch im Glauben gesucht werden. Allein die Metaphysik des religiösen Glaubens ist nicht wissenschaftlich begründbar, so wenig wie eine Metaphysik überhaupt. Wer daher seiner metaphysischen Vorstellung auch die Ansicht vom Zwecke der Gesellschaft entnimmt und daraus den Inhalt des Pflichtbewußtseins gewinnt, der tut es auf Grund seines Glaubens, den ihm niemand wehren wird, aber nicht in der allgemeingültigen Weise einer wissenschaftlichen Begründung. Wie die theologische Metaphysik, so gilt auch die theologische Ethik nur unter Voraussetzung des Glaubens. Aber ihr großer Vorteil der psychologischen Auffassung gegenüber besteht eben darin, daß sie ihrem Glauben ein inhaltliches Prinzip der Moral verdankt. So scheint es, als wären wir am Ende. Die theoretische Erkenntnis kann weder unterhalb noch oberhalb | der Gesellschaft in allgemeingültiger Weise den Zweck und die Aufgabe bestimmen, welche diese zu erfüllen hat. Die Psychologie mit ihrem Glückseligkeitstrieb reicht nicht aus; die Metayhysik mit ihrem Weltplan ist als Wissenschaft unmöglich und als Glaube nicht beweisbar. Und dabei müßten wir uns mit dem mageren Ertrag des formalen Prinzips und der formalen und sozialen Pflichten begnügen, wenn es nicht gelänge, einen allgemeingültigen Inhalt für das gesellschaftliche Pflichtbewußtsein zu finden.
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Aber sollte denn wirklich die Kenntnis des »Weltplans« dazu nötig sein, um die Aufgabe der Gesellschaft zu bestimmen, und sollte, da wir doch in jeder historischen Gesellschaft irgendwie eine Vorstellung von ihrer Aufgabe finden, sich gar kein allgemeiner Begriff davon in dem Wesen der Gesellschaft selbst erfassen lassen? Bei allen Normen handelt es sich um die Forderung von etwas Allgemeingültigem. Indem wir dem Merkmal, daß überhaupt etwas verlangt wird, zuerst nachgingen, stießen wir auf das formale Prinzip der Pflichterfüllung. Sollte etwa der Inhalt der Pflicht, bei dessen Betrachtung uns das historische Element der Gesellschaft begegnete, mit dem Merkmal der Allgemeingültigkeit selbst in direkter Beziehung stehen? Alle Gesellschaften, wie sie auch zustande gekommen sein mögen, – die einen nur durch gemeinsame Abstammung, die anderen unter Mitwirkung historischer Prozesse – sind Komplexe von vorstellenden, fühlenden, wollenden Individuen. In einer jeden waltet nicht nur eine Gemeinsamkeit des physischen Lebens, sondern auch ein geistiger Zusammenhang ob. Jede Gesellschaft hat ihr Gesamtbewußtsein. Nicht eine mystische Substanz, ein unfaßbarer »Volksgeist« ist dessen Träger, sondern alle einzelnen Individuen. Aber eben vermöge der natürlichen oder historischen Gemeinsamkeit ihres Lebens liegt in allen diesen Individuen ein gemeinsamer Untergrund des | seelischen Daseins, auf welchem alle Mannigfaltigkeit des individuellen Vorstellens, Fühlens und Wollens sich erhebt. Da ist eine Vorstellungsweise, welche den Rahmen aller Kenntnisse und alles Nachdenkens der einzelnen bildet, – eine Gefühlsweise, aus der die Regungen individueller Gefühle als Auszweigungen sich ablösen, – eine Willensbestimmtheit, die als Grundton alle persönlichen Bestrebungen durchdringt. Dies Gesamtbewußtsein ist in dem ursprünglichen Zustande jeder Gesellschaft eine natürliche Gemeinsamkeit, die unerkannt als bestimmende Macht über den Individuen schwebt. Ihr Denken, ihr Fühlen, ihr Wollen ist davon beherrscht. Diese Naturmacht des Gesamtbewußtseins nennen wir Sitte; sie ist das natürlich Gemeinsame, dasjenige, was mit Naturnotwendigkeit für alle Mitglieder der Gesellschaft gilt. Sie ist in jeder Gesellschaft ein notwendiges
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Produkt von deren natürlichen und historischen Lebensverhältnissen; sie ist deshalb in jeder anders als in den übrigen gestaltet. Allein die Macht der Sitte ist diejenige unwillkürlicher und unbewußter Notwendigkeit. Prüfen wir aber unser Urteil über den Wert der Gesellschaften, so finden wir, daß wir die einzelnen um so höher schätzen, je mehr in ihnen dieser ihr gemeinsamer geistiger Lebensgehalt zum bewußten Ausdruck und zur Herrschaft in ihrem ganzen äußeren Zusammenleben gekommen ist. Denn das klare Bewußtsein und die äußeren Ausprägungen dessen, was für alle gilt, sind die sichere Gewähr für die Herrschaft des Gemeinsamen über die Willkür der individuellen Tätigkeiten, die stets mit der Zeit sich gegen jenes ursprüngliche Gesamtbewußtsein aufzulehnen beginnt. Wenn es in der entwickelten Gesellschaft etwas Allgemeingültiges geben soll, so muß jener dunkle Gesamtuntergrund aller einzelnen geistigen Existenzen in diesen zum Bewußtsein und zur Darstellung in ihren gemeinsamen äußeren Lebensverhältnissen kommen. | Darum ist es die Aufgabe jeder Gesellschaft, ihren geistigen Gehalt, der als natürliche Gemeinsamkeit dem Seelenleben aller ihrer Mitglieder zugrunde liegt, zum klaren Bewußtsein zu bringen und nach ihm den Zusammenhang ihres äußeren Lebens zu gestalten. Die allseitige Lösung dieser Aufgabe nennen wir das Kultursystem der betreffenden Gesellschaft, und so dürfen wir sagen: die Bestimmung jeder Gesellschaft ist die Schaffung ihres Kultursystems. Diese Aufgabe gilt für alle Gesellschaften: aber weil einer jeden durch ihre natürlichen und historischen Bedingungen ihr Gesamtbewußtsein und die Möglichkeit von dessen Ausbildung und Ausprägung vorgeschrieben ist, so sind von der einen Gesellschaft zur anderen die besonderen Vorstellungen, Gefühle und Willenstätigkeiten, in denen sie ihr Kultursystem darstellen müssen, verschieden. Erst hier übersieht man, wo das historische Element wurzelt, das in den besonderen Vorschriften der Moral unaustilgbar ist. Jede Gesellschaft hat – das ist ihre sittliche Aufgabe – aus der Masse der individuellen Tätigkeiten dasjenige herauszuarbeiten, was an Vorstellungen, Gefühlen und Willensbestimmungen ihren gemeinsamen Lebensgrund bildet. Sie hat mit der Vereinigung
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aller ihrer Kräfte dies ihr Kultursystem zu schaffen. Sie soll sich das, was in ihr unwillkürlich galt, zum Bewußtsein bringen, sie soll es prüfen, soll sich besinnen, ob sie an seiner Anerkennung in klarer Überzeugung festhält, und sie soll, wenn sie dies getan hat, es niederlegen in der Anordnung ihres gesamten äußeren Lebensapparates. Mit diesem ihrem Kultursystem steht und fällt der sittliche Wert jeder Gesellschaft: den letzten Schweiß- und Blutstropfen hat sie daran zu setzen, um es zu erzeugen und zu erhalten. Und indem so die einzelne Gesellschaft in ihrer historischen Bedingtheit das Gemeinsame, das in ihr über | allen ihren Individuen waltet, zur Herrschaft in ihrem inneren und äußeren Leben bringt, strebt sie von ihrer natürlichen Grundlage empor, in sich das absolut Allgemeingültige zur Erscheinung zu bringen. Das ist das letzte Ziel: aber jede Gesellschaft löst es nur innerhalb der Grenzen, die ihr durch die ursprüngliche, natürliche Gemeinsamkeit ihrer Sitte gesteckt sind. Diese Aufgabe der Gesellschaft wurzelt also in dem Begriffe der Allgemeingültigkeit: sie soll zum Bewußtsein und zur äußeren Darstellung bringen, was in ihr allgemein gilt. Dadurch schafft sie ihr Kultursystem. Damit aber ist nun zugleich der Inhalt des individuellen Pflichtbewußtseins, soweit es von der historischen Besonderheit unabhängig ist, gegeben. Die Pflicht des Individuums ist, im Dienste der Gesellschaft zu stehen, aber in dem Sinne, daß diese in gemeinsamer Arbeit ihr Kultursystem erzeuge. Das materiale Prinzip der Ethik lautet: tue das deine, damit in der Gesellschaft, der du angehörst, ihr gemeinsamer geistiger Gehalt zum Bewußtsein und zur Herrschaft gelange. Aus diesem Grundsatz ergeben sich dann wieder nach der Methode des teleologischen Zusammenhangs eine Anzahl besonderer Pflichten, welche als Kulturpflichten zu bezeichnen sein dürften. Als Leitfaden für ihre Auffindung müßte wieder die psychologische Einteilung sich darbieten, wonach das Gesamtbewußtsein sich auf den drei Gebieten des Vorstellens, Fühlens, Wollens zu entwickeln hat, und immer handelte es sich um die unerläßlichen Bedingungen für die Gemeinsamkeit dieser Tätigkeiten. Jene inhaltlichen Hauptpflichten der Wahrhaftigkeit, der Sympathie, des
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Wohlwollens, auf welche alle Morallehren hindrängen, erscheinen hier neben anderen als die notwendigen teleologischen Konsequenzen der Aufgabe, und als die Realisierung des Kultursystems treten uns die drei großen Güter Wissenschaft, Kunst und Rechts-| ordnung entgegen, die in der Religion, wie ihre gemeinsame empirische Grundlage, so auch das Ziel ihrer idealen Vereinigung haben. Doch seien diese Ausführungen auch für diesen wichtigsten Teil nur kurz hier angedeutet, wo es sich wesentlich um das Prinzip der Moral und um den Nachweis handelte, daß die kritische Methode auf dem Wege der teleologischen Besinnung zur Begründung eines Systems der Moral fähig ist, das von der Mannigfaltigkeit der besonderen Maximen in den historisch bedingten Formen der menschlichen Gesellschaft völlig unabhängig und dabei doch weit davon entfernt ist, in leeren Abstraktionen hängen zu bleiben. Freilich zeigen gerade diese Ausführungen auch, daß die »Moral« nur den Anfang und niemals das Ganze der Ethik als allgemeiner praktischer Philosophie ausmacht; denn auch der Begriff der Kulturpflichten, wie er hier ausgeführt wurde, bleibt noch immer im Formalen stecken. Er enthält die Bedingungen dafür, daß der Einzelne an seiner Stelle zur Verwirklichung des Kultursystems der ihm übergeordneten Gesellschaft, zur lebendigen Ausprägung ihrer Kulturwerte tätig sei. Welches aber diese Kulturwerte inhaltlich sind, blieb dabei wiederum unbestimmt, und es mußte ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß sie in jedem besonderen Falle von den historischen Bedingungen abhängig sind. Hier stehen wir somit in der Tat an der Grenze der kritisch aufweisbaren Allgemeingültigkeit. Für die inhaltlichen Kulturwerte selbst bedarf es deshalb eines anderen Geltungsprinzips als der teleologischen Evidenz, und dies kann nach allem nur historisch-empirischen Charakters sein. Es ist die im strikten Sinne nur tatsächliche Geltung des entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhangs. Die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Lebens mit der Verschiedenheit ihres Kulturinhalts liegen nicht zerstreut auseinander, | sondern sie bilden vermöge der Tradition den einheitlichen Lebensprozeß der Menschheit,
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worin jene Kulturwerte aus ihren anfänglichen halbbewußten und unfertigen Formen zur Klärung, Gestaltung und Umgestaltung gelangen. Der fortschreitende Zusammenschluß der Völker zur Menschheit, deren Idee sich aus dem biologischen Bestande der Gattung allmählich herausarbeitet, gibt dann freilich zuletzt auch die Gewähr des Vertrauens in eine höhere und tiefere Berechtigung der in dem geschichtlichen Prozeß errungenen Inhalte der Kulturwerte. In diesem Sinne, der hier nur noch kurz anzudeuten war, muß sich die Ethik als System der praktischen Philosophie in einer sachlich bestimmten Geschichtsphilosophie abschließen. |
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n den Zusammenhängen des sozialen Lebens spielen die Mitgefühle oder sympathischen Gefühle, die nach den beiden Grundrichtungen allen Fühlens als Mitfreude und Mitleid sich darstellen, eine außerordentlich bedeutsame Rolle. Wenn wir uns ihrer Betrachtung zuwenden, so haben sie uns nicht bloß als psychologische Erscheinungen zu beschäftigen, sondern sie ziehen unsere Aufmerksamkeit besonders auch durch ihre ethische Bedeutung auf sich, indem wir der Frage begegnen, wie weit sie den Inhalt des sittlichen Lebens ausmachen und es zu erklären geeignet sind, das heißt ob überhaupt und in welchem Sinne sie ein Prinzip der Moral ausmachen. Daß sie in dieser Hinsicht die Philosophen mannigfach beschäftigt haben, ist bekannt, und in welcher Weise das meistens geschehen ist, läßt sich am einfachsten an einer Fiktion deutlich machen, die häufig dazu eingeführt worden ist. Man denke sich einen Fremdling aus einer andern Welt, der die Menschen auf unserer Erde beobachtet und ihr Treiben zu verstehen sucht: er sieht mit Staunen, daß sie vieles tun, was sie als Individuen nichts angeht, was sie gar nicht fördert, ja häufig sogar schädigt, und es zeigt sich, daß dies wunderbare Verhalten nicht bloß durch intellektuelle Irrtümer über die Folgen der Handlungen zu erklären ist. Wie ist das möglich? Und welche Gefühlsweisen müssen in diesen Menschen angenommen | werden, die als Ursachen ihres Verhaltens gelten dürfen? Die Fragestellung selbst charakterisiert ihren Urheber oder wenigstens seine Psychologie: es ist die naive Verwunderung darüber, daß jemand etwas anderes tut als das, was ihm nützt. Es ist der volle Gegensatz zu dem von Friedrich Theodor Vischer im »Auch Einer« so schön geprägten Wort: »Das Moralische versteht sich immer von selbst.« Nach jener Fragestellung scheint sich vielmehr nur das von selbst zu verstehen, daß jeder tut, was ihm nützt
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oder was er wenigstens als für sich nützlich betrachtet. In der Tat ist diese Psychologie die Grundlage gewesen, auf der sich im Altertum die moralphilosophischen Überlegungen zuerst entwickelt und lange gehalten haben: ja aus ihr hat sich dann noch die weitere Zuspitzung dieser Moralpsychologie entwickelt, die der Meinung ist, das Wollen des Menschen sei unter allen Umständen durch die Erwartung der Lust bestimmt und geschehe um der Lust willen, die er von dem Erfolg seiner Handlung sich verspricht. Nun ist freilich richtig, daß die Befriedigung eines jeden Wollens – gleichgültig auf welchen Inhalt es gerichtet sein mag – Lust bringt, aber es ist, wie schon Aristoteles sehr richtig erkannt hat, durchaus falsch, daraus zu schließen, daß unter allen Umständen die Erwartung der Lust das Motiv des Wollens und des Handelns bilde. Vieles wollen wir ja in der Tat nur deshalb, weil wir es als Lust bringend erfahren haben oder uns vorstellen. Aber andererseits gibt es doch auch ein von allen solchen Gefühlserlebnissen unabhängiges, primär auf seinen Gegenstand gerichtetes Wollen. Beispiele dafür liefern zunächst die Instinkte und insbesondere die perversen Instinkte, bei denen die Macht des primären Wollens so groß ist, daß es sogar die Erfahrung der Unlust überwindet, welche sich aus dem Befolgen des Instinktes ergeben hat. Daher ist es grundfalsch, wenn jene Psychologie ihrerseits die Instinkthandlungen aus der unbewußten Er|wartung hoher Lust erklären möchte, die sich als Ergebnis der Entwicklung der Gattung in jedem Individuum wiederhole. Diese Erklärung scheitert an der Tatsache der perversen Instinkte; sie bilden eine Art des primären Wollens, die nicht aus früheren Gefühlserlebnissen erklärbar ist. Neben ihnen aber ist auch das rein sachliche Wollen einer jeden Kulturarbeit mit der ganzen, wenigstens dem Individuum ursprünglich einleuchtenden Unvermitteltheit des kategorischen Imperativs, der sich in diesen Pflichterfüllungen verwirklicht, der kräftigste Gegenbeweis gegen jene utilistische Voraussetzung. Ist aber einmal diese Voraussetzung anerkannt, so bedarf es allerdings noch einer besonderen Erklärung dafür, wie der Mensch, wenn er prinzipiell und seinem Willenswesen nach ein Egoist sein soll, überhaupt dazu kommen kann, im Sinne der andern zu fühlen,
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zu wollen und zu handeln. Damit kommt jene Betrachtung auf die Frage nach dem Motiv des sittlichen Wollens und Handelns hinaus: aber zugleich ist klar, daß man als das sittliche Handeln dabei das selbstlose, das auf das Wohl und Wehe des Nebenmenschen gerichtete oder das altruistische versteht, wie es in der Theorie seit etwa einem Jahrhundert genannt wird. Die Realität altruistischen Fühlens, Wollens und Handelns ist eine nicht zu bezweifelnde Tatsache: will man sie mit der Voraussetzung einer wesentlich egoistischen Anlage des menschlichen Wesens in Einklang bringen, so gibt es dazu mancherlei Wege, die in der Geschichte der Philosophie tatsächlich beschritten worden sind. Zunächst liegt es nahe, auf den physischen und psychischen Zwang zurückzugehen, den die Gesellschaft und der Staat auf das Individuum ausüben, wobei Lohn und Strafe als die groben Vermittlungen der Gewöhnung erst an altruistisches Handeln und dann mehr und mehr auch an altruistisches Fühlen und Wollen gelten, während an|dererseits die feineren Momente dieser Entwicklung auf solche Tatsachen wie das Ehrgefühl und das Anerkennungsbedürfnis bezogen werden. In allen Fällen aber spielt dabei das entwicklungsgeschichtliche Moment seine Rolle, wonach die seelischen Vorgänge der Übertragung mit Hilfe des Hineinwachsens der späteren Generation in die Gefühlsweise der vorhergehenden eine entscheidende Wirkung ausüben. Die Umbildung der ursprünglichen Gefühlsweise des Menschen vollzieht sich auf die mannigfachste Weise, indem durch seine Erlebnisse ihm allmählich das anfänglich Angenehme gleichgültig und sogar unangenehm, umgekehrt aber auch das anfangs Unerfreuliche mit der Zeit wertvoll werden kann. Aus dieser Umwertung der Werte in der alltäglichen Bewegung der Gefühle und der Erfahrungen entspringt schließlich das, was man die Moral des wohlverstandenen Interesses zu nennen pflegt, jener Zustand, worin der Mensch sich um das Wohl und Wehe des andern kümmert, weil er erfahren hat, daß das der beste Weg ist, für sein eigenes Wohl und Wehe zu sorgen. Eine andere Form dieser Umbildungen sieht man in der Wirkung der supranaturalen Vorstellungen. Das ist eine Theorie, die
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wir schon im 18. Jahrhundert besonders gern von den Engländern ausgeführt finden. In neuerer Zeit ist sie von dem Soziologen Benjamin Kidd zu dem Argument zugespitzt worden, daß die Herrschaft der religiösen Vorstellungen eine ethische Kräftigung des Gefühls- und Trieblebens zugunsten des Altruismus herbeiführe, und daß dies um so mehr eintrete, je vollkommener die Religion sei. So will er den Erfolg der Engländer bei der Eroberung Ostindiens darauf zurückführen, daß sie den Hindu gegenüber die altruistischere Religion gehabt hätten! Sieht man aber genauer zu, so führen auch diese Erklärungsweisen immer wieder darauf hinaus, daß die Wirksamkeit der Erwartung von Lohn und Strafe, | womit Gott die Handlungen der Menschen, die Befolgung oder Nichtbefolgung seiner Gebote bewerte, das seelische Motiv darstellt, aus dem schließlich der egoistische Mensch die seiner Natur ursprünglich fremde Gewohnheit des altruistischen Wollens und Handelns angenommen habe. Bei allen diesen Erklärungen und ihren verschiedenen empirischen Hilfsmitteln bleibt dann aber doch das ganze moralische Leben eine durch Erfahrung und Klugheit oder durch religiöse Ansichten umgebildete Art des Egoismus: eine zweite Natur, die durch Gewohnheit, sei es im Individuum, sei es in der Gattung erworben worden ist. Solchen künstlichen Erklärungen gegenüber macht sich doch immer wieder die Frage geltend, ob nicht schon in der ursprünglichen Natur des Menschen die Motive für das altruistische Wollen und Handeln gegeben sind. Auch in dieser Hinsicht haben die englischen Moralisten des 18. Jahrhunderts mannigfache Versuche vorgeschlagen. Sie haben von wohlwollenden Neigungen gesprochen, die ebenso wie die egoistischen im Wesen des Menschen gegeben und mit diesen in Einklang zu bringen seien, oder von dem moralischen Sinn, der als etwas dem ästhetischen Geschmack Ähnliches den Keimpunkt des sittlichen Lebens bilde. Allen diesen Annahmen haftete das Bedenken an, daß sie eine allgemeine und unbestimmte Gefühlsrichtung anstatt eines konkreten einzelnen Fühlens behaupten zu wollen schienen. Diesem Bedenken ist die Lehre von David Hume enthoben, die er wie andere mit seinem Freunde Adam Smith teilt, die Lehre von den sympathischen Ge-
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fühlen oder von der Grundtatsache des Mitfühlens, wonach im einzelnen Falle der Gefühlszustand des einen Individuums sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit in dem anderen Individuum wiederholt und zu dessen eigenem seelischen Erlebnis wird. Indem ich mir vorbehalte, hierauf noch in anderem Sinne zurückzukommen, stelle ich hier nur fest, daß damit die Begründung der Ethik auf | die sympathischen Gefühle zuerst gewonnen war. Von weiteren Lehren, die sich in dieser Richtung entwickelt haben, erwähne ich zunächst nur zwei, die in einem interessanten Gegensatz zueinander stehen. Da jedes Gefühl Lust oder Unlust bedeutet, so ist auch das sympathische Gefühl entweder Mitlust oder Mitunlust, entweder Mitfreude oder Mitleid. Weithin bekannt ist nun, wie Schopenhauer in voller Konsequenz seines Pessimismus seine gesamte ethische Theorie auf das Mitleid als die Grundtatsache des gemeinsamen Lebens aufbaut: weniger bekannt ist die Energie, mit der Ludwig Feuerbach die Mitfreude als das primäre und entscheidende Motiv des Altruismus hervorgehoben hat. Es ist das ein sehr interessanter Gegensatz. Der behaglich lebende Junggeselle, dem es eigentlich an nichts fehlt als an der Befriedigung seines brennenden literarischen Ehrgeizes, er lehrt die Lebensverneinung, ihm ist die Unlust die Grundstimmung des Daseins und das Mitleid das Motiv des altruistischen Wollens und Handelns: der andere Einsiedler, der es nicht so freiwillig ist wie jener, der kümmerlich mit den Seinen in Dürftigkeit und Unsicherheit sich durchschlägt, der lehrt die stärkste Lebensbejahung, dem ist die einzig wahre Religion die Lebensfreude und deshalb Mitfreude das sittliche Ideal. So könnte man beinahe von einem Kontrast zwischen der Lebenslage und der ethischen Theorie sprechen und es jedenfalls für widerlegt halten, daß die letztere positiv von der ersteren bestimmt werde. Höchst bedeutsam ist deshalb der posthume Entwurf zur Moralphilosophie, den Karl Grün im Anhang zu Feuerbachs Briefwechsel veröffentlicht hat, weil sich darin Feuerbach mit Schopenhauers Mitleidstheorie auseinandersetzt. Wie man aber auch immer das sittliche Leben aus dem Mitfühlen erklären will, so muß man immer dies Mitfühlen selbst psychologisch begreiflich machen und sodann ethisch auch zeigen, daß
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es ein allgemeines Grund|motiv ist, aus dem alles sittliche Wollen und Handeln folgt. Da sagt man nun gewöhnlich sehr unbestimmt, der Mitfühlende versetze sich in die Lage des anderen, er wiederhole dessen Gefühl als sein eigenes und handle, als ob er selbst dieser andre wäre. Da das nun aber niemals vollständig möglich sei, so stufe es sich nach den Graden der Verwandtschaft zwischen den verschiedenen Wesen ab. Das Letztere ist ja nun gewiß Tatsache. Je ferner sich die Wesen stehen, desto unbestimmter wird das Miterleben, desto mehr verliert es den spezifischen Charakter des jedesmaligen besonderen Erlebnisses. Physischen Schmerz oder physisches Behagen verstehen wir gewiß an allen Lebewesen, auch am Tier, obwohl vielleicht häufig nur mit abstrakter Analogie. In den intimeren Gefühlen des Innenlebens dagegen verstehen sich die verschiedenen Völker und Rassen oft recht schlecht, und dasselbe gilt von den Lebensschichten, den Ständen desselben Volks. Die Schaffensfreude eines Dichters, den Schmerz eines Forschers, der vergebens um ein Problem ringt, das Unglück eines Staatsmannes, dem alle seine Pläne zusammenstürzen, – das kann nicht ein jeder völlig und im eigensten Wesen nacherleben. Man freut sich wohl mit, man trauert wohl mit, aber doch nur im allgemeinsten, nicht in concreto. Solche Mitgefühle sind Phantasiegefühle und als solche immer nur möglich auf Grund von Erlebnisgefühlen. Was wir nicht selber erlebt haben, können wir nicht in den andern hineinfühlen, können wir ihm nicht nachfühlen. Daher haben die Mitgefühle ihre Grenze teils an intellektueller Beschränktheit, teils an emotioneller Regsamkeit. Wir müssen auch in dieser Hinsicht Gefühlsphantasten und Gefühlspositivisten unterscheiden: bei den einen genügt die Vorstellung einer freudigen oder traurigen Lage, um das entsprechende Gefühl in größerer oder geringerer Stärke hervorzurufen; die anderen reservieren ihre Gefühle für den wirklichen | Eintritt der Ereignisse. Wenn man also sich ein Gefühl vorstellt, so tritt dies nicht immer selbst als wirkliches Gefühl auf, wenn auch eine Neigung dazu stets vorhanden ist. Wir können die schwanken Grenzen, die dafür bestehen, uns am besten daran deutlich machen, daß wir uns darauf besinnen, wie häufig wir uns eigener früherer Gefühle erinnern, ohne sie als solche neu zu
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erleben: unsere Gefühlserinnerungen brauchen nicht notwendig Erinnerungsgefühle zu werden. In ganz ähnlicher Weise finden wir auch bei den verschiedenen Individuen verschiedene Stufen der Mitleidigkeit, worin ja immer die Vorstellung des fremden Gefühls unser eigenes Gefühl hervorrufen soll. Wie nun die Gefühlserinnerung um so leichter zum neuen Gefühl wird, je ähnlicher noch unser Zustand demjenigen ist, zu welchem uns die Erinnerung zurückführt, ebenso wird auch das fremde Gefühl um so mehr zu unserem eigenen, je ähnlicher im allgemeinen unsere Lage ist, je mehr wir das Gefühl auf unsere eignen Zustände als möglich zu übertragen Anlaß haben. Daher wird denn die Willenswirkung des Mitleids am liebsten aus der Furcht erklärt, die wir dabei sekundär für uns selbst fühlen. Aristoteles hat bekanntlich in seiner Theorie der Tragödie Mitleid und Furcht in die engste Beziehung zueinander gesetzt, ohne freilich diese Beziehung genau zu bestimmen, und Lessing hat sich viel um die Frage bemüht, ob dabei die Furcht für den Helden oder die Furcht für uns selbst mehr gemeint sei. Ich werde mich hüten, auf das ästhetische Problem, das in sehr weite Fernen hinauslockt, einzugehen. Ich möchte nur deutlich machen, daß auf diese Weise durch die Beziehung auf die Furcht für uns selbst die moralische Wirkung des Mitleids wieder in den Umkreis der egoistischen Motive hineingezogen wird: On se pleure soi-même en pleurant les autres. Demgegenüber ist doch festzustellen, daß es – wenn vielleicht auch selten – | ein freies Mitleid ohne Furcht für uns selbst in allen solchen Fällen gibt, wo auch eine nur ähnliche Gefahr für uns selbst absolut ausgeschlossen ist. Wenn ein greiser Junggeselle eine fremde Frau bemitleidet, der ihr liebstes Kind gestorben ist, oder wenn ein Stubengelehrter sich an der Tatenlust und den Erfolgen eines kühnen Eroberers berauscht, so sind das reine Formen des Mitleids und der Mitfreude. Und solche Gefühlsweisen billigen wir; wir sagen vielleicht, wer so fühlt, ist ein guter, jedenfalls kein egoistischer Mensch, und wir erwarten von ihm in andern Fällen ein sittliches Verhalten. Allein in diesen Fällen ist das Mitgefühl selbst das Objekt des ethischen Wohlgefallens, aber noch nicht Motiv des ethischen
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Wollens: in jenen Beispielen folgt noch gar kein Wollen oder Handeln aus dem Gefühlszustande. Sollte etwa das Mitleid Motiv nur werden in Verbindung mit der Furcht, sei es mit der Furcht überhaupt, sei es mit der Furcht für uns selbst? Jedenfalls muß, wenn das Mitgefühl Motiv zum sittlichen Verhalten werden soll, von ihm aus noch irgendwie der Übergang zum Wollen oder zum Handeln gefunden werden. Aus diesem Umstande ist es begreiflich, daß für die Theorie des ethischen Motivationsprinzips sich unter den Mitgefühlen die negativen, das heißt die des Mitleids, besser eignen. Mitfreude, wie Freude selbst, ist ein Zustand, der im besten Falle den Wunsch seiner Erhaltung und höchstens das Wollen des dazu Erforderlichen hervorruft, im allgemeinen aber kein Motiv zum Handeln darstellt. Mitleid dagegen wird, wie alles Leid, selbst zum Motiv und zu dem Wollen, das darauf gerichtet ist, es fortzuschaffen und die Unlust loszuwerden. Wäre nun das Mitleid nur dies auf unseren eigenen Zustand bezogene Unlustgefühl, so genügte es, sich davon loszumachen, etwa einfach fortzugehen, nicht daran zu denken. Aber wer das tut, der ist nicht gut. Wer dem Bettler gibt, um ihn loszuwerden, | wer Elend lindert, weil er es nicht ansehen oder anhören kann, der handelt doch nicht sittlich: er schafft nur sich selbst eine Unbequemlichkeit vom Leibe. Damit also ist nicht die Gesinnung erklärt, daß man dem andern hilft. Man könnte ja meinen, die altruistische Handlung erweise sich als die gründlichste Art, das mitleidige Unlustgefühl durch Verstopfung seiner Quelle loszuwerden; aber dann läge darin eben doch wieder nur eine Betätigung des Egoismus, der nur zufällig sich in einer altruistischen Handlung äußerte. Diese Gründe waren es, aus denen Kant die »Pathologie des Mitleids« für moralisch indifferent erklärte. Sie führt im besten Falle zur Legalität der Handlung, aber sie enthält keine Moralität der Gesinnung, und bei dieser ethischen Indifferenz kommt dann allerdings besonders in Betracht, daß die Mitleidigkeit die Gefahr in sich trägt, den Menschen weich und schwach zu machen. Das letztere hat besonders Spinoza betont, der meinte, das Mitleid sei ein Leidenszustand, es gehöre der Passivität der menschlichen See-
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le an und dürfe deshalb bei einem nach den Gesetzen der Vernunft lebenden Menschen nicht zugelassen werden. Um allen solchen egoistischen Vermittlungen des Mitleids als moralischer Triebfeder zu entgehen, hat Schopenhauer zu den Höhen der Metaphysik gegriffen. Die wahre Wirklichkeit besteht für ihn in der Alleinheit des Willens, und die Verschiedenheit der Individuen ist nur eine Erscheinung in Raum und Zeit. Er hat freilich auf der andern Seite die intelligiblen Charaktere der Menschen als etwas unveränderlich der Erscheinung Vorhergehendes von metaphysischer Ursprünglichkeit angesehen, und das stimmt schlecht mit seiner ethischen Theorie des Mitleids zusammen. Aber die letztere, die sich wesentlich auf die metaphysische Alleinheit stützt, wird dahin ausgeführt, daß alles, was in der Erscheinung nur dem einzelnen | Individuum geschieht, im Wesen der Sache auch allen anderen geschieht. Schopenhauer liebt es, diese Lehre mit Zitaten aus älteren Formen der Mystik zu schmücken, er erwähnt gern das indische »tat-twam-asi« und besser das neuplatonische, daß wegen der Einheit aller Dinge alle Seelen nur eine einzige sind. Von dieser metaphysischen Einheit bilde nun das Mitleid das intuitive Bewußtsein, indem ein jeder das fremde Leid als sein eigenes fühle und behandle. Das klingt außerordentlich einleuchtend und gilt vielen als eine bedeutsame Bestätigung der metaphysischen Willenslehre. Aber jedenfalls muß zugegeben werden, daß, wenn das Mitleid in dieser Weise eine ihres wahren Grundes unbewußte Intuition bedeutet, dabei doch im empirischen Bewußtsein immer noch die deutliche Vorstellung der Verschiedenheit der Individuen bestehen bleibt. Das geht schon daraus hervor, daß wir uns nie vollständig und oft nur sehr unvollständig in die fremde Notlage versetzen können und an eine Identifikation mit dem fremden Wesen in keiner Weise denken. Weiterhin kommt die Differenz der Individuen in gewissen Nebenbestimmungen des Mitleids zutage, auf die wir bald noch näher eingehen werden, vor allem aber gerade in dem Grundgefühl, auf das hinsichtlich der ethischen Betätigung des Mitleids soviel Gewicht gelegt wird, das Gefühl: wie wäre mir zumute, wenn ich in dieser Lage wäre? Außerdem ist zu bedenken, daß zum Teil das moralische Verdienst der mitlei-
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digen Handlung dadurch verloren oder wenigstens herabgesetzt wird, wenn es nicht fremdes, sondern eigenes Leid ist, das ich fortschaffe. Und endlich gilt gegen Schopenhauers Theorie die feine Bemerkung von Feuerbach, daß für den, dessen letztes Ziel das Nirwana bildet, das Suchen des fremden Glücks und das Lindern der fremden Not geradeso nichtig sein müßte, wie alle die um das eigene Wohl und Wehe beschäftigten Mühen. | Darum hat in neuster Zeit William Stern in seiner »Kritischen Grundlegung der Ethik« und in einer Abhandlung über »Das Wesen des Mitleids« (1903) eine positivistische Umbildung der Schopenhauerschen Mitleidstheorie versucht. Danach sei Mitleid das entwicklungsgeschichtlich begründete Gefühl der Zusammengehörigkeit gegen Schädigungen des Seelenlebens durch Eingriffe des Unbeseelten und auch des Beseelten. Die Reaktion des Willens zur Aufhebung solcher Störungen richte sich deshalb gleichmäßig bei allen Individuen gegen alle Eingriffe, ohne Rücksicht darauf, welches besondere Individuum im einzelnen Falle durch die Störung betroffen werde. Diese empirische Begründung der Solidarität ist jedenfalls eine äußerst gezwungene Erklärung: sie setzt die Dualität von Seelenleben und Körperlichkeit – diese wahre crux metaphysica – naiv voraus und imputiert dem Urmenschen eine zarte Rücksicht für die Ruhe seines Seelenlebens, die ich nicht für sehr wahrscheinlich halte. Ganz anders geht Feuerbach vor. Er stellt sich ganz stramm auf den Standpunkt der utilistischen oder eudämonistischen Psychologie. Der Wille ist nichts anderes als Glückseligkeitstrieb. Feuerbach lehnt jede Möglichkeit eines rein sachlichen Wollens ab, und er bekennt ganz naiv, er habe den Einwurf eines Professors nicht verstanden, der ihm sagte, er habe noch nie nach Glückseligkeit gestrebt und dem er mit der Gegenfrage antwortete, ob er denn nie nach der Professur gestrebt habe. Der nominalistische Philosoph begreift dabei offenbar nicht, um was es sich handelt: daß nämlich Glück oder Glückseligkeit nur ein Wort, ein Gattungsbegriff, ein abstractum bedeutet, und daß in jedem konkreten Fall der Wille auf ein Besonderes gerichtet ist, durch dessen Erreichung die Befriedigung eintreten wird. Glücklicher aber ist Feuerbach da, wo
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er zeigt, daß auch der Buddhist unter dem Glückseligkeitstriebe stehe: er sucht eben sein Glück im | Nirwana, in der Willensverneinung, und sein Standpunkt ist deshalb der eines kranken Eudämonismus. So deckt Feuerbach sehr hübsch den eudämonistischen, ja den beinahe hedonistischen Hintergrund von Schopenhauers Mitleidstheorie auf und stellt ihr dann seine eigene Lehre vom Mitgefühl entgegen, die auf einem empirischen Universalismus und auf einer sozialpsychologischen Grundvoraussetzung beruht. Das Individuum, lehrt er, mit seinem Egoismus sei eine Abstraktion, eine Fiktion – ein großer Irrtum. In Wahrheit bestehe das Gefühlsund Willensleben wie das Vorstellungsleben nur im ganzen, in der Solidarität von Mann und Weib, von Familie, Stamm, Volk und Menschheit. Daher richte sich jeder Trieb zugleich auf individuelle und auf gesellige Glückseligkeit; es gebe keine rein egoistische und ebenso keine rein altruistische Motivation. Beide Triebrichtungen seien in den Motiven und in den Folgen der Handlung nie völlig voneinander zu sondern. Deshalb sei der Egoismus nicht im Prinzip und absolut zu verwerfen und zu verbannen. Feuerbach deutet damit äußerst fein ein Grundverhältnis an, das in der Tat für die eudämonistische Grundlage der Ethik gilt. Die altruistische Moral verlangt von mir, daß ich das Wohl des andern fördern soll, und verlangt dies auch von allen übrigen. Sie erklärt also das Wohl des andern für einen ethischen Wert: warum soll das nun gerade für den andern; selbst kein ethischer Wert, kein erlaubtes Ziel sein? Oder umgekehrt: die Moral verlangt von allen andern, sie sollen mein Wohl fördern – und nur mir verbietet sie es? Das Individuum hat in der Tat Pflichten gegen sich selbst, nach Feuerbach in erster Linie zur Erhaltung und Erwerbung leiblicher und geistiger Gesundheit. Das gilt nicht bloß deshalb, weil es Bedingung der altruistischen Leistungsfähigkeit ist, sondern weil das Individuum selbst als Persönlichkeit zu dem Gesamtbestand der ethischen Werte | gehört. Deshalb kommt es (wie übrigens schon Shaftesbury und andere englische Moralisten, z. B. Mandeville gesehen haben) schließlich für die Moral auf das Verhältnis von egoistischer und altruistischer Triebbestimmtheit an, daß die eigene Glückseligkeit nicht die fremde überwuchere und vernichte. Das Gewissen (con-
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scientia, συνείδησις), als ein »Mitbewußtsein« sozial begründet, ist ursprünglich, sagt Feuerbach, das böse Gewissen: »der in den Eingeweiden meines eigenen Glückseligkeitstriebes wühlende, verletzte Glückseligkeitstrieb des andern.« Die Erklärung des Mitgefühls steckt also in der Solidarität des Triebwesens der Individuen, sie ist sozialpsychologisch. Was aber Feuerbach auf diese Weise noch dialektisch mit allgemeinen Begriffen versuchte, das kann die Psychologie konkreter verfolgen, wenn sie den Erscheinungen der Sympathie in dem Sinne von Hume und Smith nachgeht und sich darauf besinnt, wie das Verständnis fremder Gemütszustünde möglich ist. Jeder von uns urteilt mit Sicherheit, ob der andere lustig oder unlustig, ob er fröhlich oder traurig ist. Aber die wenigsten wissen, woran sie das erkennen. Der Ausdruck der Gemütsbewegungen wird als Ganzes verstanden, aber seine einzelnen Merkmale sind für gewöhnlich nicht bekannt. Wir haben hier einen typischen Fall der klaren, aber undeutlichen Vorstellungen, die zur Wiedererkennung ihres Gegenstandes genügen, aber in ihrer Zusammensetzung und in ihrer Struktur nicht bewußt sind. Wie ist das möglich? Gehen wir noch einen Schritt weiter, so finden wir, daß wir selbst willkürlich einen bestimmten Ausdruck herbeizuführen vermögen, ohne zu wissen, wie wir das machen und welches die einzelnen Züge dieses Ausdrucks sind. Wenn wir dem Photographen zuliebe »recht freundlich« blicken, wenn wir beim Liebhabertheater auf Wunsch des Leiters ernst oder lustig, grimmig oder vergnügt, verliebt oder eifersüchtig aussehen, so | wissen wir doch als Laien so gut wie niemals, was dazu gehört und wie wir das anfangen. Alle Verstellung, worin wir dem andern ein anderes Gesicht zeigen, als es unsere wahre Gesinnung oder Stimmung verlangen würde, beruht auf einer solchen Willkür des Aussehens, bei der wir den einzelnen Ausdruck unbewußt gestalten. Wenn wir von hier aus die gesuchte Erklärung finden wollen, so müssen wir noch eine Tatsache hinzunehmen, die in den unwillkürlichen Nachahmungsbewegungen besteht. Sobald wir Bewegungen wahrnehmen oder auch nur in der Phantasie vorstellen, so erleben wir dabei zum mindesten den Antrieb zu einer Ausführung analoger Bewegungen durch unsere eigenen
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Glieder. Beim Billard- oder Kegelspiel ahmt man unwillkürlich mit dem Leibe Bewegungen nach, von denen man wünscht, daß die Kugel sie ausführe. Der Redner ist immer in Gefahr, räumliche Verhältnisse, von denen er handelt, durch seine Gesten unwillkürlich nachzubilden, und wer im Vortrag mehrere Möglichkeiten unterscheidet, muß sich vor dem Antrieb hüten, durch die Hand oder den Finger dieses Einteilen sinnlich darzustellen. Darwin hat die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung dieser imitativen Bewegungen im Zusammenhange mit den rudimentären Bewegungen sehr einleuchtend nachgewiesen. Nehmen wir nun all dieses zusammen, so verstehen wir, wie mit der Wahrnehmung willkürlicher oder unwillkürlicher Ausdrucksbewegungen an anderen Wesen zunächst ein Antrieb zur Wiederholung dieser Bewegungen in uns auftreten muß, und daß damit das leise Entstehen der korrespondierenden Gefühle und Triebe in uns selber verbunden ist. So gehen das Verständnis des fremden Ausdrucks und der Ursprung analoger Gefühle in uns selbst unmittelbar Hand in Hand, sie beruhen auf demselben psychophysischen Vorgang. Danach kann man schon im Groben verstehen, wie das Gähnen oder das Lachen | nach dem Prinzip der unbewußten Nachahmung in einem geselligen Kreise sich fortpflanzt, und dasselbe gilt für die Erklärung seelischer Massenbewegungen: so reißt die Teilnahme an einer großen Zeremonie auch einer fremden Religion einen jeden mit zu einem, wenn auch unbestimmten Mitfühlen der darin zum Ausdruck kommenden seelischen Erlebnisse, und mit dieser psychophysischen Macht des Mitfühlens kann uns unter Umständen auch ein Prunkredner packen, selbst wenn wir die innere Hohlheit seiner Rede vollständig durchschauen. In diesen Richtungen müssen wir die psychologische Entstehung des Mitfühlens empirisch zu verstehen suchen: aber es fragt sich nun, wie weit daraus das moralische Handeln im Sinne des Altruismus etwa begriffen werden kann. Da zeigt sich nun zunächst, daß das altruistische Fühlen und Wollen als solches allein und ganz rein wohl außerordentlich selten auftritt. Gewiß hat Feuerbach recht, die Mitfreude ist ein hoher ethischer Wert, aber sie ist sehr
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selten. Prüfen wir uns ehrlich, so werden wir uns eingestehen müssen, daß sie meistens mit einer Nebenempfindung verbunden ist, die vom Neid nicht weit entfernt ist. Gerade darin zeigt sich, daß die Differenz der Individuen im Bewußtsein auch bei den sympathischen Gefühlen nicht völlig ausgelöscht ist. Es gibt zuletzt doch immer eine Grenze für jene Sympathie, mit der wir uns in die Lage des Nebenmenschen hineinversetzen. Der Mensch kann dabei nicht ganz davon lassen, sich mit dem anderen zu vergleichen, und in den Becher der Mitfreude fällt leicht ein herber Tropfen mit dem Gedanken, daß wir es nicht selbst sind, denen die Freude primär zuteil wurde. Man sollte meinen, das fiele fort, wenn wir das Glück, das dem andern jetzt zuteil geworden ist, auch schon haben: aber dabei stellt sich doch leicht noch das eifersüchtige Gefühl ein: es wäre schöner, wenn wir es allein besäßen. | Entsprechendes gilt vom Mitleid. Auch dies ist ein gemischtes Gefühl und als Mitleid wohl selten ein reines Leid. Denn daß dies Leid eigentlich und ursprünglich nicht das unsere ist, das macht ein, wenn auch noch so minimales Lustmoment aus. La Rochefoucauld hat einmal gesagt: Il y a dans le malheur de nos meilleurs amis toujours quelque chose qui ne nous déplait pas partout, und Rousseau war ehrlich genug, zu bekennen: La pitié est douce parcequ’en se mettant à la place de celui qui souffre, on sent pourtant le plaisir de ne pas souffrir comme lui. Danach schiene sogar im Mitleid eine schwache Dosis der Schadenfreude zu stecken, von der böse Menschen bekanntlich gesagt haben, sie sei die beste Freude. Jedenfalls stellt das Mitleid denjenigen, der es hat, immer etwas besser und etwas höher auf der Glücksleiter als denjenigen, der es empfängt, und ebenso steckt auch in dem »Wohlwollen« schon gewissermaßen ein leiser Nebenton des Gnädigen, des Herablassens von oben nach unten. Auch Feuerbach nennt gelegentlich das Mitleid eine freiwillige Herablassung des Glücklichen zum Unglücklichen. In dieser Weise führt das Mitleid ein lustbetontes Nebengefühl des Gehobenseins bei sich. Daher bemitleiden die Leute so gern und so ausdrücklich eine bedeutende Persönlichkeit, der irgendein Schlimmes geschieht, und wer kennte sie nicht, die guten Seelen, die behaglich von Haus zu Haus wandern, um mit
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geräuschvollem Mitleid von allem Traurigen zu erzählen, was sich bei andern begeben hat? Daher kann denn auch das Mitleid für den, den es trifft, unter Umständen außerordentlich peinlich werden. Freilich sind die Menschen darin sehr verschieden. Manche lassen sich gern und ausgiebig bemitleiden und genießen darin einen ausgleichenden Trost. Andere dagegen fühlen dadurch nur ihren Schmerz erhöht. Auch das noch! sagen sie wohl, muß ich mich von aller Welt bemitleiden lassen und nun gar von diesem Menschen! Denn es ist auf diese | Weise sehr gut möglich, daß eine Mitleidsbezeigung einen Akt der Feindschaft bildet. Jedenfalls sind es nicht die niedern oder die schwachen Menschen, die das Mitleid der übrigen nicht wollen, und ihr Stolz ist ein wohlberechtigter. Aus diesen Gründen ist nichts delikater zu behandeln, als die Erweisung des Mitleides und gar die daraus fließende Wohltätigkeit. Das ist eine schwere Kunst der Feinfühligkeit und des höchsten sittlichen Taktes, und je seltener diese in der Welt anzutreffen sind, um so häufiger wird durch ein roh zutappendes Mitleid tiefgehender und verletzender Schaden ausgeübt. Nicht anders ist es, wenn der Wunsch nach Mitfreude Motiv des Wohltuns ist. Auch hier sollte die Absicht, dem anderen Freude zu machen, nichts Patronisierendes an sich haben und vor allem nicht danach aussehen, als wolle man irgendwie Dank ernten. Besonders aber muß alles vermieden werden, wodurch im Empfänger der Neid aufgestachelt werden kann. In dieser Hinsicht gibt es nichts Peinlicheres und ethisch Bedenklicheres als die Veranstaltungen, mit denen Wohltaten durch Vergnügen ermöglicht werden sollen. Vom Standpunkt des Erfolges aus mag man ja zugeben, daß, wie die Menschen nun einmal sind, die Mittel, die man für die Wohltätigkeit braucht, schwer auf anderm Wege zusammenzubringen sein würden: aber darum soll man nicht meinen, damit etwas sittlich Wertvolles zu leisten. Derartige Vorrichtungen gehören höchstens in das Reich der Legalität, aber mit der Moral haben sie nichts zu schaffen. Alle diese Verhältnisse bilden vielleicht den sehr begreiflichen Grund, weshalb die orientalischen Religionen die Wohltätigkeit ganz allgemein, gleichmäßig und schematisch als religiöse Pflicht verlangen. Sie ist
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dann von allen jenen feinverzweigten persönlichen Verhältnissen des Mitleids unabhängig und ergibt gewissermaßen von selbst und rein mechanisch ein gewisses Maß sozialer Ausgleichung. | Alle diese Überlegungen weisen darauf hin, daß in den tatsächlichen Verhältnissen des menschlichen Lebens die sympathischen Gefühle und insbesondere auch die des Mitleids, nicht so rein altruistisch sind, wie man wohl auf den ersten Blick meint. Deshalb versteht sich auch die ethische Wertbedeutung dieser Gefühle nicht ein für allemal von selbst, sondern sie will sehr cum grano salis behandelt und von Fall zu Fall beurteilt sein. Weiterhin aber zeigt sich, daß das sympathische Gefühl als Motiv des Handelns mit vernünftiger Überlegung und mit verständiger Abwägung der jeweiligen Verhältnisse verbunden sein will, wenn seine Wirkung moralischen Beifall finden soll. Schon die natürlichen Verhältnisse bedingen ja damit eine gewisse Abstufung vermöge des Grades der Verwandtschaft, der von der Familie zum Stamm, zum sozialen Stand, zur Volksgemeinschaft, zum Menschengeschlecht und schließlich zur Gesamtheit der animalen Wesen, zum Tierreich sich erweitert. Man kann sagen, je weiter der Abstand ist, um so reiner und ethisch wertvoller sind Mitleid und Mitfreude, weil jene Beziehungen auf uns selbst, insbesondere die vergleichende Anwendung auf unsere eigene mögliche Lage mehr ausgeschlossen sind. Es wäre deshalb wohl zu behaupten, daß die schönste Entfaltung der sympathischen Gefühle als wirklich sittliche Leistung am meisten den Tieren gegenüber zur Geltung kommt, und es gehört zu den erfreulichsten Wendungen der Philosophie Schopenhauers, daß er dies mit besonderem Verständnis hervorgehoben hat. Eigenartig gestaltet sich diese Abstufung der sympathischen Gefühle innerhalb der Menschheit. Bis zur Volksgemeinschaft, vielleicht noch bis zur Rasse reicht das natürliche, im unmittelbaren Erlebnis hervorbrechende Solidaritätsgefühl. Darüber hinaus verlieren wir diese natürliche Basis der sympathischen Gefühle. Das ist zwei|fellos eine entwicklungsgeschichtliche Folge des Kampfes ums Dasein, den die Völker geführt haben, den sie führen und weiter führen werden. Sie stehen sich, wie sie aus der Hand der Natur in die Geschichte eintreten, fremd und feindlich gegenüber. Die
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allgemeine Menschenliebe und die sympathischen Gefühle, womit wir Mitfreude und Mitleid allem zuwenden, was Menschenantlitz trägt, sind nicht etwas von Natur Gegebenes, sondern vielmehr ein historisches Produkt der Kultur und eines der wertvollsten von allen. Wir können sein Werden in dem griechischen Denken verfolgen, und wir sehen, wie aus dem Begriff der Gattung in der Stoa und im Christentum ein neues und höheres Gefühlsleben sich entwickelt hat. Aber diese allgemein humane Sympathie ist mehr eine bewußte Maxime als ein unmittelbares Gefühl: sie ist etwas, woran wir noch heute den aus der geschichtlichen Erziehung hervorgegangenen Kulturmenschen von dem geschichtslosen Naturmenschen unterscheiden können. Neben der extensiven Abstufung verlangt unser sittliches Bewußtsein auch eine intensive Abstufung in der Ausübung der Mitgefühle nach dem Prinzip der ethischen Würdigkeit. Wir würden es niemals billigen, wenn jemand sich für die Vernachlässigung nächstliegender Pflichten durch dasjenige entschuldigen wollte, was ein allgemeines Mitgefühl von ihm verlangt habe. Wir wollen immer eine vernünftige Wertabschätzung auch in der Befolgung der sympathischen Gefühle eintreten sehen. Wenn ein großer Staatsmann, ein bedeutender Gelehrter, ein schöpferischer Künstler aus dem natürlichen Impuls heraus mit eigener Lebensgefahr ein Proletarierkind rettet, so werden wir diesem Impuls freilich unsern Beifall nicht versagen, aber dabei doch zweifelhaft darüber sein, ob in solchem Falle der Einsatz und das dadurch zu Erreichende im richtigen Verhältnis zueinander standen. Aber auch abgesehen von solchen außergewöhnlichen Fällen, ist die Abwägung der | Werte der Unmittelbarkeit des Gefühls gegenüber eine moralische Erforderlichkeit. So gehört es z. B. – wir wollen nicht entscheiden, ob mit Recht oder Unrecht – zu den Axiomen unseres Wertlebens, daß gut und wohl ebenso zusammengehören wie schlecht und weh. Die Folge dieser Gefühlsweise ist es, daß uns das Weh um so unerträglicher wird, je höher der Mensch gewertet wird, den es trifft, und daß es umgekehrt um so erträglicher scheint, je niederer wir ihn einschätzen. Das Wohl aber scheint uns beim guten Menschen selbstverständlich, und beim
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schlechten sind wir geneigt, es für eine Ungerechtigkeit anzusehen. Deshalb stellen sich Mitfreude und Mitleid um so geringer und um so wirkungsloser ein, je unwürdiger uns der Mensch vorkommt, auf den sie sich richten. An sich aber ist, wie wir gesehen haben, das Entstehen der sympathischen Gefühle nur durch den psychologischen Tatbestand des mitklingenden Gefühls gegeben und von unserer sonstigen Wertung des Trägers von Leid und Lust unabhängig. Jene Abstufung beweist also die sehr wesentliche Mitwirkung eines anderen Faktors: unseres Bedürfnisses nach ausgleichender Gerechtigkeit. Um hier eine altbewährte aristotelische Unterscheidung anzuwenden, können wir sagen: das Mitfühlen für sich allein muß alle Menschen, auch die unwürdigsten nach dem Naturprozeß der Sympathie unter dem Gesichtspunkte der absoluten Gleichheit treffen – die gerechte Abwägung dagegen richtet sich nach dem Prinzip der relativen, der verhältnismäßigen Gleichheit. Das ist besonders entscheidend für die Bedeutung, welche das Mitleid in der Theorie und Praxis des staatlichen Strafens zu beanspruchen hat. Auch hier muß der Übergang aus dem sympathischen Gefühl zum Handeln durch die gerecht abwägende Vernunft geregelt werden. Nur so entgeht man auf der einen Seite der rücksichtslos drakonischen Gleichmacherei und auf der an|dern Seite der Verweichlichung mißverstandener Humanität. So hat sich gezeigt, daß das Mitgefühl nur eines der ethischen Motive ist und daß man sich nicht auf seine alleinige Wirksamkeit verlassen darf. Wie es wirklich auftritt, ist das sympathische Gefühl, als Mitfreude wie als Mitleid, gemischt, so daß in ihm selbst wieder moralische, indifferente und antimoralische Motive als Bestandteile unterschieden werden müssen: und beim Übergang in das Wollen und Handeln muß dies Gefühl durch andere Motive, insbesondere durch die Überlegungen der Gerechtigkeit, geregelt werden. Das ganze Gebäude der Ethik kann dies schmale Stück nicht tragen. Zum alleinigen Prinzip der Ethik sind aber die sympathischen Gefühle schon deshalb nicht geeignet, weil sie nur die Schicht der ethischen Wirklichkeit umspannen, die sich auf Wohl und Wehe des Menschen und zum Teil auch noch anderer fühlender Wesen
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bezieht. Diese Schicht gehört ja gewiß unerläßlich zu dem Reiche der Sittlichkeit, und sie ist für viele sogar die einzige, in der sie heimisch werden und heimisch werden können. Aber auf diesem Wohlfahrtsumkreis wollen wir uns doch das Wesen und Leben der Sittlichkeit nicht einschränken lassen. Der Altruismus umfaßt nur einen Teil, und nicht den höchsten Teil des Sittlichen. Wenn wir unter Sittlichkeit das Πρακτὸν ἀγαθον, das Reich der Werte verstehen, die der Mensch selbst durch die Betätigung seines Vernunftwesens erzeugt, so können wir nicht darüber zweifelhaft sein, daß die höchsten Ziele menschlichen Wollens jenseits von Ich und Du, jenseits von Egoismus und Altruismus liegen. Sie betreffen sachliche Vernunftwerte von höherer Bedeutung, die über jedes besondere Selbst und seine Interessen hinausgehen. Sie bestehen in den großen Kulturgütern, die nicht nur zur Wohlfahrt, sondern zur lebendigen Ausprägung des ge|samten menschlichen Wesens dienen. Diese und die Arbeit des Menschen an sich selbst, durch die er als Persönlichkeit sich dazu reif macht, haben ganz andere Wurzeln als das Mitgefühl. Sie heben den Menschen aus dem Hin und Her der Glückseligkeitstriebe empor in die reineren Regionen, worin er sich als Vernunftwesen betätigen soll. |
Pessimismus und Wissenschaft (1876)
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s kann durchaus keine Frage sein, daß unter denjenigen Richtungen der allgemeinen Geistesbewegung, welche das Vorstellungsleben und die Charakterbildung des Einzelnen als die »höheren Mächte« bestimmen und beherrschen, in unserer Zeit der Pessimismus einen breiten und immer breiteren Raum für sich in Anspruch nimmt: gleichviel, ob man ihn bekämpft oder vertritt, ob man ihn verketzert oder preist, ob man in ihm einen Wahn oder eine Religion sieht, man muß ihn als eine Tatsache betrachten und mit ihm rechten. Der Pessimismus ist zweifellos eine der am weitesten, wenigstens in den Grenzen des deutschen Kulturlebens verbreiteten Moden. Es gibt ganze gesellige und gesellschaftliche Kreise, in denen es als unfein betrachtet wird, mit dem Zustande der Welt zufrieden zu sein, und in denen es zum guten Ton geworden ist, das Elend des Daseins im gemeinsamen Gefühl überlegener Verurteilung und in freundlicher Mitteilung resignierender Gefühle zu ertragen. Es gibt ja nichts auf der weiten Welt, was die persönliche Eitelkeit angenehmer zu berühren vermöchte, als diese verachtungsvolle Erhebung nicht über einzelne Wesen, sondern über die Gesamtheit alles Seins und Lebens überhaupt! Unbedeutende Menschen mögen zufrieden im Ablauf der Dinge dahinwandeln: wer sich aber dazu aufschwingt, die Welt zu beurteilen und sie gar zu verwerfen, der zeigt eben dadurch, daß er an innerer Bedeutung über ihr steht! Aber es ist nicht nur aristokratisch, Pessimist zu sein: nicht minder als in den Salons wird der Pessimismus | auch auf den Gassen gepredigt, er geht mit jenen Agitationen Hand in Hand, die in den Kreisen rühriger Arbeit neue Bedürfnisse erregen, um ihnen dann die Unzulänglichkeit ihrer wirklichen Lage beweisen zu können, und er frißt sich so als eine Stimmung des Unmuts und der Unbehaglichkeit in alle Schichten der Bevölkerung hinein.
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Von manchen Seiten ist wohl schon die Frage aufgeworfen worden, wie es doch erklärlich sei, daß eine solche Stimmung sich gerade in dieser Zeit der frischen Aufrichtung, der arbeits- und gedankenvollen Erhebung des nationalen Lebens im deutschen Volke Bahn gebrochen hat, und es bedürfte, wie es uns scheint, nicht gerade allzu tiefer psychologischer Studien und Einsichten, um dem Ursprung dieses auf den ersten Blick verwirrenden Gegensatzes nachzugehen. Allein so verlockend eine solche Aufgabe sein möchte, so müssen wir doch, da wir uns weder zum Kulturhistoriker noch zum Sittenrichter der eigenen Zeit berufen fühlen, auf ihre Ausführung verzichten, und indem wir den Pessimismus in seiner augenblicklichen Tatsächlichkeit ins Auge fassen, möchten wir seine Berechtigung nur nach einer bestimmten Seite hin zum Gegenstande unserer Betrachtung machen, nach der Seite freilich, auf welcher wir die gefährlichste Form seines gegenwärtigen Auftretens erblicken müssen. Dieser Punkt in dem modischen Pessimismus, den wir freilich auch für den angreifbarsten halten, ist die Verbindung, in die man ihn mit wissenschaftlichen Theorien zu setzen versucht hat, sodaß es den Anschein gewinnen mußte, als ob die im Pessimismus ausgedrückte Überzeugung von der Schlechtigkeit der Welt ein beweisbares Resultat wissenschaftlicher Untersuchungen wäre. Wenn wir es nun versuchen werden, nicht nur die in der Gegenwart bestehenden und einflußreichen Formen dieser Verbindung des Pessimismus mit der Wissenschaft, sondern auch die Möglichkeit einer solchen Verbindung | überhaupt einer kritischen Untersuchung zu unterwerfen, so muß allerdings von vornherein darauf aufmerksam gemacht werden, daß eine solche Kritik sich nicht minder auch gegen die gegenteilige Überzeugung richtet, wonach etwa eine ähnliche Ableitbarkeit optimistischer Ansichten aus philosophischen Prinzipien verlangt und für möglich gehalten würde. In dieser Beziehung stehen offenbar Optimismus und Pessimismus auf ganz gleicher Linie, und wir glauben zeigen zu können, daß die Wissenschaft mit dem einen ebenso wenig zu tun hat wie mit dem andern. Deshalb wird sich auch unsere Untersuchung über die Möglichkeit einer solchen Verbindung überhaupt von
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Anfang an gleichmäßig gegen beide richten, und nur der Umstand, daß die moderne Literatur allüberall von der »trüben Botschaft« des wissenschaftlich begründeten Pessimismus wiederhallt, kann uns veranlassen, den Nachweis von der Unhaltbarkeit dieser Verbindung wesentlich an dem Beispiel der pessimistischen Theorien der Gegenwart zu erhärten. Optimismus und Pessimismus sind in ihrer ursprünglichen und einfachen Form Stimmungen, welche wir abwechselnd, zeitweise in uns selbst und bei anderen wahrnehmen. Die Gesetze der psychologischen Assoziation und Apperzeption machen es vollkommen begreiflich, daß ein bis zu einem besonders hohen Grade gesteigertes Gefühl der Befriedigung oder der Enttäuschung eine verhältnismäßig lange Zeit in uns dominieren und mit allen folgenden Vorstellungen in der Weise sich verbinden kann, daß wir an den letzteren hauptsächlich nur die jenem Gefühl entsprechenden Momente wahrnehmen. Namentlich tritt dies ein, wenn mehrfach hintereinander gleichartige Gefühle entweder der Lust oder Unlust sich in ihrer Kraft und Eindrucksfähigkeit gegenseitig verstärkt haben: es genügen dann auch eine Anzahl an sich geringer und sogar kaum merklicher Anlässe, um eine vollständig | ausgesprochene Stimmung zu erzeugen, wie es z. B. jeder erfahren haben wird, daß ihn morgens gleich beim Aufstehen die unbedeutendsten Dinge in eine pessimistische Tagesstimmung hineinärgern können. Zunächst also sind Optimismus und Pessimismus nichts anderes, als gewisse psychische Dispositionen, aus irgend welchen Gefühlen hervorgegangen, die dann aber leicht allem Neuerlebten ihr Gepräge aufdrücken. Jeder kennt solche Stimmungen, und es ist bekannt, wie sehr sie namentlich auch von rein physiologischen Vorgängen abhängen. Diese Stimmungen, anfänglich an sich nur vorübergehender Natur, können nun aber aus Gründen des Temperaments oder der persönlichen Erfahrungen, immer aber infolge gewisser lediglich psychologischer Tatsachen und Richtungen, mehr oder minder beharrlich werden, sodaß eine bestimmte Neigung des Individuums zu optimistischer oder pessimistischer Auffassung eintritt. Je mehr aber eine solche Neigung sich befestigt, um so mehr geht sie auch vermöge der in dem menschlichen
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Vorstellungsleben von Jugend auf angelegten und wirksamen Tendenz zur Verallgemeinerung des Denkinhalts in festgewurzelte Überzeugungen über, wonach die Gesamtheit der Dinge unter dem Lichte der einen oder der andern Stimmung betrachtet wird. Erfahren wir doch diese Verallgemeinerung eben schon in der einzelnen, vorübergehenden Stimmung: sind wir freudig bewegt, so sehen wir alle Dinge im rosigen Lichte, gehen leicht und gern über die Mängel hinweg und nehmen alles von der lustigen Seite; dem Traurigen dagegen ist alles traurig, er steht in jeder Betrachtung auf der Schattenseite und sucht geflissentlich die Dornen der Welt, um sich an ihnen neu zu verwunden. Selbst im physischen Organismus ist eine solche Beständigkeit der Stimmung angelegt, indem alles Lachen und Weinen sich selbst zu potenzieren geneigt ist. Sind wir erst einmal ins Lachen gekommen, so lachen wir über Dinge, an denen | bei ruhiger Betrachtung niemand etwas Lächerliches finden würde, und nicht nur von den kleinen Kindern dürfte es richtig sein, daß sie sich ins Weinen geradezu hineinheulen können. Um wie viel mehr wird diese Ansteckung und Verallgemeinerung der Stimmung da auftreten, wo sich schon durch Temperament und Erlebnisse beharrliche Stimmungen gebildet haben! Je nach ihren persönlichen Anlagen und dem Einfluß ihres eigenen Geschicks fassen daher die Menschen die sie umgebende Welt von der heitern oder von der trüben, von der guten oder von der schlechten Seite auf: und in tausend und abertausend Graden und Verhältnissen kreuzen sich deshalb in der Weltauffassung der Menschen Optimismus und Pessimismus, so jedoch, daß in jedem Einzelnen, der eine mehr ausgesprochene persönliche Ansicht besitzt, eines der beiden Elemente überwiegt. Was aber von den Einzelnen, gilt auch von den Völkern. Im allgemeinen wird stets die Jugend mehr optimistisch, das Alter mehr pessimistisch denken; im allgemeinen überwiegt in den klassischen Kulturvölkern das optimistische, in den romantischen das pessimistische Prinzip. Ebenso kann man auch in den Generationen eines und desselben Volkes die Auffassung von einem Extrem zum andern in oszillatorischer Bewegung verfolgen. Daß jedoch der Mensch niemals allein ein Produkt der äußern Verhältnisse ist, könnte man vielleicht am besten daraus
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beweisen, daß derjenige sehr irren würde, welcher mit Sicherheit voraussetzte, die sogenannten schlechten Zeiten seien stets die Schulen des Pessimismus, die guten diejenigen des Optimismus. Indem die Geschichte wie die gewöhnliche Erfahrung vielfach das Gegenteil aufweist, bestätigt sie die Abhängigkeit dieser Auffassungen von dem Temperament und dem Charakter, worin die Dinge betrachtet werden. Solange nun Optimismus und Pessimismus diesen Stempel ihres subjektiven Ursprungs offen an der Stirn | tragen, sind sie in ihrer psychologischen Berechtigung durchaus unangreifbar. Man kann es niemandem verargen oder verbieten, sich nach seinem Charakter und seinem Schicksale eine Privatmeinung darüber zu bilden, welchen Wert für ihn die Welt und das Leben haben; und so sehr diese Meinungen das Denken und Tun der Einzelnen beeinflussen mögen, so werden sie doch nur bei besonders hoher Einseitigkeit als geradezu schädlich bezeichnet werden dürfen. Wir werden manchem wünschen, daß er etwas weniger optimistisch, manchem, daß er etwas weniger pessimistisch denke und verfahre, da beide Stimmungen, ins Extrem getrieben, die Tatkraft in gleicher Weise lähmen, der Optimismus, indem er leichtsinnig, der Pessimismus, indem er schwerblütig und gleichgültig macht. Im allgemeinen jedoch sind beide Stimmungen als notwendige psychische Zustände und Richtungen vollkommen anzuerkennen. Aber die Sache ändert sich sofort, sobald eine der beiden Parteien ihre Weltauffassung der andern als eine von der subjektiven Stimmung unabhängige und als objektiv anzusehende und anzuerkennende Wahrheit aufdringen will. Handelt es sich um die optimistische oder pessimistische Beurteilung eines einzelnen Falles, so kann man in ruhiger, objektiver Weise darüber sich auseinandersetzen und die durch die persönliche Stimmung des einen oder des anderen herbeigeführten Trübungen der Einsicht eliminieren. Will sich dagegen die Stimmung als solche in eine Weltanschauung umsetzen und jene Verallgemeinerungstätigkeit der Stimmungsbetrachtung bis an das letzte Ende führen, wo dann das Urteil: »die Welt ist gut« oder »die Welt ist schlecht« den Anspruch auf objektive Wahrheit und allgemeine Anerkennung macht – dann stehen wir vor einer Prinzipienfrage
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ersten Ranges. Objektiv beweisen heißt wissenschaftlich beweisen. Nun besteht der Unterschied zwischen wissenschaftlichem und gewöhnlichem Den|ken zu allererst in dem Ausschluß der Gefühle von dem Vorstellungsinhalte. Wissenschaftliche Betrachtung ist interesselose Betrachtung, und die erste, an sich freilich nur erst negative Bedingung des wissenschaftlichen Denkens besteht darin, daß alle Einflüsse des Gefühls und der Stimmung auf die Ausgangspunkte ebenso wie auf den Fortgang des Denkens sorgfältig ausgeschlossen werden. So wäre es denn in der Tat eine höchst eigentümliche und wunderbare Erscheinung, wenn das wissenschaftliche Denken in seinem letzten Resultate, in seinem abschließenden Urteil über den Zusammenhang der Dinge in eine jener vorher sorgfältig ausgeschlossenen Stimmungen zurückkehrte. Dies aber ist nun gerade das Charakteristische in dem Auftreten des modischen Pessimismus. Er erhebt laut und offen den Anspruch, sein Urteil: »Die Welt ist schlecht, und es wäre besser, sie wäre nicht da« – dieses Urteil wissenschaftlich, d. h., da es sich um die Grundprinzipien der Dinge handelt, philosophisch erwiesen zu haben; er will den Inhalt der pessimistischen Stimmung als eine von der Subjektivität unabhängige und philosophisch bewiesene Wahrheit anerkannt sehen. Es ist nicht schwer, die Gefährlichkeit dieser Kombination zu begreifen, wenn man nur bedenkt, wie leicht das Denken der Masse sich von einer nur recht selbstgewiß auftretenden subjektiven Gewißheit imponieren und diese subjektive Gewißheit sich in eine Autorität verwandeln läßt. Zahlreiche Gemüter, welche die Lücken dieser Beweisführung und vor allem ihre von Anfang an schiefe und wissenschaftlich unberechtigte Fragestellung nicht zu bemerken imstande sind, fangen dann an, die Welt für schlecht und sich darin für recht unglückliche und verfehlte Existenzen zu halten, selbst wenn ihnen das bei sonst guten Verhältnissen manchmal recht schwer werden mag, und nachdem sie belehrt worden sind, daß ein einsichtiger und moralischer Mensch das | Elend der ganzen Welt in sich zur lebhaften Empfindung bringen muß, beginnen sie sich der optimistischen Regungen zu schämen, die etwa noch aus ihrer unbefangenen Natur von Zeit zu Zeit in ihnen aufsteigen mögen.
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Freilich, an diesem Schein, als ob der Pessimismus wissenschaftlich begründbar und gar schon begründet sei, trägt die deutsche Philosophie selbst den größern Teil der Schuld. Sie hat ihn schon in dem Zeitpunkte auf sich geladen, als sie den nicht minder verfehlten Versuch antrat, den Optimismus aus wissenschaftlichen Prinzipien zu begründen. Es war bekanntlich Leibniz, der in seiner Theodizee damit gewissermaßen die Rechenprobe für den theologischen Teil seiner Weltanschauung machen wollte. Daß die Welt aus der schöpferischen Tätigkeit eines allweisen und allgütigen Gottes hervorgegangen, schien doch nur dann haltbar zu sein, wenn diese Welt nun auch selbst durchaus weise und gut eingerichtet wäre. Aber schon diese erste Probe fiel schlecht genug aus. Daß diese Welt gut im absoluten Sinne sei, wagte nicht einmal Leibniz zu behaupten, und er beschränkte seine Beweisführung darauf, daß sie unter den möglichen Welten die beste sei. Daher stammt denn auch der Superlativ in dem Ausdruck »Optimismus« und dem danach gebildeten »Pessimismus«, während der eigentliche Sinn der beiden Stimmungen mehr die Ausdrücke Bonismus und Malismus verlangte, wie denn auch der letztere aus den pessimistischen Kreisen der Gegenwart vorgeschlagen worden ist. Ob freilich die leibnizsche Theodizee mit ihrer Lehre von der metaphysischen Negativität der Sünde und des Übels wirklich eine Apologie des ganzen Christentums bilden würde, ist eine andere Frage, welche durchaus verneint werden müßte. Denn das Christentum ist als Religion ebenso pessimistisch wie es als Dogma optimistisch ist; und nur so ist es erklärlich, daß sich der schopenhauersche Pessimismus mit mindestens gleichem Rechte auf die Ur|kunden des Christentums berufen konnte, wie der leibnizsche Optimismus. Seit aber nun so der Anfang gemacht worden war, ist es gewissermaßen Sitte geworden, daß die Weisen ihr Urteil über den Wert und die Existenzberechtigung der Welt abgeben, und es hat natürlich nicht ausbleiben können, daß einige von ihnen dabei bedenklich das Haupt geschüttelt und sich mit dem Zusammenhange der Dinge nicht so ganz einverstanden erklärt haben. Selbst Kant fiel, als er noch nicht ganz er selbst war, einmal in die Schlingen des
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leibnizschen Optimismus und schrieb darüber eine kleine Schrift, die er in seinem Alter verleugnet hat. Wie aber schon bei Leibniz, so trat auch später der Optimismus oder der Pessimismus immer in Verbindung mit den höchsten metaphysischen Spekulationen auf. Als die deutsche Philosophie an die Stelle des persönlichen Gottes die souveräne Weltvernunft setzte, da mußte natürlich auch dieser die Vollendung alles einzelnen Seins entsprechen, und der bekannte Satz: »Alles was ist, ist vernünftig«, war das letzte Stichwort des idealistischen Optimismus. Allein während diese Überzeugung die offizielle Philosophie der Deutschen ausdrückte, brachen sich im stillen immer mehr jene schon von Fichte angeregten, von Schelling näher ins Auge gefaßten, von Baader aus der alten deutschen Mystik hervorgeholten, endlich von Schopenhauer klar und scharf ausgesprochenen Gedanken Bahn, welche im Weltgrunde ein Irrationales, teils Über-, teils Unvernünftiges aufsuchten, und im Zusammenhange damit hob man denn auch die Irrationalität und die Unvernünftigkeit, das Elend der aus diesem Grunde hervorgegangenen Welt stärker hervor. Es bildete sich unter dem Einfluß Schopenhauer’s eine wahre Manie heraus, den »Wert des Lebens« zu beurteilen, bis schließlich, als sei man an einem synthetischen Ende dieser Bewegung angelangt, Hartmann die Meinungen von Leibniz und | Schopenhauer in der äußerst witzigen Weise kombinierte, daß zwar mit dem Ersteren anerkannt wurde, diese Welt sei die beste der möglichen, dann aber mit dem Letzteren die Schlechtigkeit dieser bestmöglichen Welt behauptet und daraus gefolgert wurde, daß, wenn die bestmögliche Welt so miserabel ausgefallen sei, es doch sicher besser wäre, sie wieder zu vernichten. Will man diesen schwankenden und wechselnden Meinungen gegenüber einen sichern Standpunkt der Beurteilung ihrer Berechtigung gewinnen, so muß man sich zunächst über das diesen Gegensätzen gemeinsam zugrunde Liegende orientieren. Die beiden entgegengesetzten Urteile: »die Welt ist gut« und »die Welt ist schlecht« haben offenbar die gemeinsame Absicht, den Wert des Universums zu beurteilen. Sie enthalten nicht ein theoretisches Urteil zur Feststellung oder zur Erklärung der Wirklichkeit,
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sondern vielmehr eine die erkannte Wirklichkeit beifällig oder mißfällig charakterisierende Beurteilung. Das Urteil ist somit teleologisch; und zwar ist sein Gegenstand, das beurteilte Objekt, in diesem Falle nicht ein einzelnes Ding oder eine bestimmte Art von Dingen, sondern das Universum. Wir brauchen deshalb in den noch immer nicht geschlichteten Streit über die teleologische Betrachtungsweise einzelner Vorgänge in der Natur gar nicht einzutreten, wenn wir für unsern Zweck lediglich die Behauptung aufstellen und zu begründen suchen, daß sich die Wissenschaft für die Beurteilung des Universums, für ein Urteil über den Wert der Welt von vornherein für durchaus inkompetent erklären muß, und daß sie dies tun muß nicht etwa aus einer mißverständlichen Bescheidung und Bescheidenheit, sondern vielmehr aus der klaren Einsicht in die völlige Unmöglichkeit einer solchen Beurteilung. Die Urteile: »die Welt ist gut, die Welt ist schlecht« messen, wie alle Urteile, in denen die Prädikate gut und schlecht vorkommen, das Subjekt des Satzes, diesmal | also das Universum, an einem Beurteilungsprinzip, d. h. an einem Zwecke, und je nachdem sie finden, daß der Gegenstand diesen seinen Zweck erfüllt oder nicht erfüllt, erklären sie ihn für gut oder für schlecht. Der Optimismus und der Pessimismus fallen somit unter diejenigen Beurteilungen, welche den Wert eines Gegenstandes für eine Bestimmung oder einen Zweck prüfen, und stehen folglich unter den allgemeinen Regeln solcher Beurteilung. Nun ist es hinlänglich bekannt, ein wie weiter Spielraum auf diesem Gebiete der subjektiven Willkür offen steht und wie außerordentlich schwer es ist, in derartigen »Beurteilungen« wirklich objektive wissenschaftlich zu beweisende und anzuerkennende Gesichtspunkte und Kriterien aufzustellen. Denn es ist klar, daß man in dieser Richtung die willkürlichsten und abenteuerlichsten Urteile aufstellen kann, und daß eine derartige Beurteilung nur unter ganz bestimmten und genau festzustellenden Bedingungen eine objektive Berechtigung beanspruchen darf. Wenn ich mir ein Paar Tanzstiefel bestelle und nachher dem Schuster Vorwürfe mache: »sie sind schlecht, denn ich kann sie nicht essen«, so wird man mich für verrückt halten; wenn ich ihm sage: »sie sind schlecht, denn ich kann damit keine
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Gletscher besteigen«, so wird man mich lächerlich finden; sage ich aber »sie sind schlecht, denn sie sind zu schwer oder zu wenig biegsam«, so werde ich, die Tatsache vorausgesetzt, in meinem Rechte sein. Was ist der Unterschied zwischen diesen drei Beurteilungen? Die erste, offenbar unsinnige, mißt den Gegenstand an einer Bestimmung, den er niemals haben kann; die zweite nicht gerade unsinnige, aber durchaus unberechtigte, mißt ihn an einem Zwecke, zu welchem ich ihn zwar verwenden könnte, zu welchem er aber seinem ursprünglichen Sinne nach nicht bestimmt war; die dritte, richtige, endlich bezieht ihn auf die Bestimmung, für welche er ursprünglich und seinem ganzen Wesen nach da ist. Von diesen drei möglichen | Formen der Beurteilung ist offenbar nur die dritte die objektiv begründete, die beiden anderen unterscheiden sich nur durch den Grad der Willkürlichkeit, mit der ein Gegenstand an einem ihm selbst durchaus fremden Zwecke gemessen wird. Gleichwohl ist namentlich die zweite Art von Beurteilungen eine im gewöhnlichen Vorstellungsmechanismus, wenn auch nicht in so krasser Form wie in dem gewählten Beispiel, überaus häufig vorkommende Erscheinung, die Beurteilung eines Gegenstandes nach einer Bestimmung, wozu man ihn zwar verwenden kann, wozu er aber seinem eigenen Wesen nach ursprünglich nicht da ist. Wenn jemand, aus der Kirche kommend, die Beurteilung abgibt: »die Predigt war schlecht, denn sie war nicht amüsant«, so wird das der Geistliche sehr übel nehmen und als einen durchaus willkürlichen Maßstab der Beurteilung mit Recht zurückweisen; aber es wäre doch eben möglich, daß jemand zu diesem seinem persönlichen Zwecke Predigten anhörte. Sehr witzig hat einmal Heinrich Heine so äußerlich willkürliche Betrachtungsweisen ironisiert, indem er erklärte, er für seine Person teile alle Pflanzen in solche ein, welche man essen kann, und in solche, welche man nicht essen kann. Allein diese willkürliche Beurteilungsweise der zweiten Art tritt nicht immer in so handgreiflicher Form auf, sondern meistens in sehr versteckter Weise und mit scheinbar sehr sicherer Begründung. Kinder und Erwachsene bedienen sich ihrer fortwährend, und um nur eins der allergeläufigsten Beispiele anzuführen – was ist es denn anders, wenn wir so häufig von den
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besten und verständigsten Menschen Urteile hören müssen, wie dieses: »Dieses Kunstwerk ist schlecht, denn es ist unmoralisch«. – Wenn es solchen Willkürlichkeiten der Beurteilung gegenüber nun eine objektive Form des teleologischen Urteils geben soll, so ist es nur auf dem einen Wege möglich, daß der Zweck, an welchem der Gegenstand gemessen werden soll, objektiv, d. h. wissen|schaftlich als derjenige nachgewiesen wird, welcher wirklich als die dem Dasein des betreffenden Gegenstandes vorhergehende Bestimmung desselben objektiv vorhanden war. Es geht daraus von vornherein hervor, daß die Anzahl der mit wissenschaftlicher Begründung zu beurteilenden Objekte sich auf den relativ geringen Umfang derjenigen beschränkt, deren Entstehung aus einem Zweckgedanken unzweifelhaft nachgewiesen werden kann. Ist dies richtig, so leuchtet ein, daß von einem wissenschaftlich begründbaren Urteil über den Wert des Universums, d. h. also von einer wissenschaftlichen Begründung des Optimismus oder des Pessimismus nur unter der Bedingung die Rede sein könnte, daß erstens das Universum überhaupt einen Zweck oder eine Bestimmung hat, und daß zweitens wir denselben mit Sicherheit wissen. So schwer es nun dem an die Zweckbeurteilung aller einzelnen Dinge von Jugend auf gewöhnten gemeinen Bewußtsein ankommen mag, sich die Gesamtheit der Dinge ohne einen Zweck, den sie erfüllen sollen, vorzustellen, so schwer wird es andrerseits dem wissenschaftlich geschulten Denken, sich auch nur die Möglichkeit irgendeines Zweckes, dem das Universum untergeordnet wäre und nach dem es deshalb beurteilt werden müßte oder dürfte, auch nur annähernd vorzustellen. Denn jede Zweckbestimmung, die dafür hypothetisch aufgestellt würde, wäre doch immer nur wieder eine der zahllosen Bestimmungen in der unendlichen Weite der Wirklichkeiten und somit nur ein Teil des Universums selbst. Wohl vermögen wir Einzelnes mit Einzelnem in zweckmäßige Beziehung zu setzen, aber um aus dem Universum herausgehend einen Zweck für dasselbe ausfindig zu machen, fehlt uns nach dem Begriffe des Universums selbst jede Denkmöglichkeit. Sollte demnach auch für eine etwa höher angelegte Vorstellungstätigkeit ein Ausweg aus diesem Zirkel möglich sein, so müssen wir doch
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bekennen, daß die menschliche Wissen|schaft von einem Zwecke, der die Bestimmung des Universums ausmachte und das Kriterium seiner Beurteilung abzugeben vermöchte, nichts weiß und nichts wissen kann. Vom Universum gibt es keinen Zweck, der objektiv nachweisbar wäre. Wenn wir also dennoch von mannigfachen Versuchen, die Welt auf einen Zweck zu beziehen und danach zu beurteilen, in der Geschichte des menschlichen Denkens hören, so werden wir darin immer nur eine, wenn auch subjektiv noch so begründete, so doch objektiv niemals zu rechtfertigende Übertragung der an der Betrachtung der Einzeldinge großgewordenen Auffassung auf den Begriff des Universums zu sehen haben. Es ist so selbstverständlich, daß der Mensch immer und auf allen Stufen der Kultur die Gesamtheit der Dinge unter dem Gesichtspunkte betrachtet, den er selbst als den höchsten und wertvollsten anzusehen gelernt hat, so selbstverständlich, daß er auch die Wissenschaft zum Nachweise dieser Beziehung heranzuziehen sucht. Daraus eben erklärt sich die Mannigfaltigkeit solcher Beurteilungen, welche die Geschichte aufweist. Mancher wird die höchsten Güter seiner persönlichen Überzeugung sich zu diesem Weltzwecke zu verklären suchen; ein anderer wird, wenn auch vielleicht nicht offen theoretisch, aber doch praktisch dem Gedanken huldigen, die Welt sei dazu da, daß er sich darin möglichst wohl fühle; der dritte wird, diesen Gedanken verfeinernd, der Überzeugung leben, die Welt sei dazu da, in der Erkenntnis betrachtet zu werden. Aber das sind keine objektiv begründbaren, wissenschaftlich beweisbaren Standpunkte, und alle darauf gegründeten beifälligen oder mißfälligen Urteile über die Art und Weise, wie die Welt diesen Zwecken entspricht, fallen somit unter die Kategorie jener zweiten, willkürlichen Form der Beurteilung. Jede den Einfluß der Gefühle und Stimmungen auf den Gedankengang ausschließende Wissenschaft muß deshalb auch | die Frage, ob die Welt gut oder schlecht sei, d. h. ob sie ihrem Zweck entspreche oder nicht entspreche, von vornherein als schief gestellt ablehnen. Die jetzt so viel erhobene Frage, ob Optimismus oder Pessimismus, ist deshalb gar kein Problem der wissenschaftlichen Philosophie. Optimismus und Pessimismus können in der
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Wissenschaft nur Platz finden als Erscheinung auf dem Gebiete der individuellen und der kulturhistorischen Psychologie, welche als interessante Gebilde höchst komplizierter Verschmelzungsprozesse aufgewiesen und erklärt werden müssen. Wenn somit keine der im Optimismus oder Pessimismus ausgesprochenen Beurteilungen der Welt das Prinzip der Beurteilung als objektiv berechtigt nachweisen kann, so sehen wir doch dem Einwurf entgegen, daß diese ganze Entwicklung schließlich nur gegen die freilich mit eine Hauptsache bildende Formulierung der darin niedergelegten Erkenntnis sich richten könne. Es möchte vielleicht zugegeben werden, daß in bezug auf eine objektive Beurteilung die angewendeten Maßstäbe allerdings willkürlich seien, aber es bliebe doch immerhin eine Möglichkeit, daß mit wissenschaftlicher Gewißheit nachzuweisen wäre, daß die Welt einem solchen willkürlich gesetzten Zwecke in der Tat entspräche oder nicht entspräche. Und wäre dann diese Bestimmung nur eine recht tief aus dem Wesen der menschlichen Auffassung heraus geschöpfte, so bliebe dann doch die ungeheure Wichtigkeit einer solchen Erkenntnis bestehen. Man könnte mit einem Worte die Namen des Optimismus und des Pessimismus und den darin enthaltenen Anspruch auf eine objektive Beurteilung des Universums preisgeben, um dadurch die Anerkennung zu retten, daß es wenigstens wissenschaftlich durchführbar sei, zu beweisen, in welchem Grade das Universum einem solchen willkürlich gesetzten Zwecke entspräche oder nicht entspräche. Man würde darauf verzichten, die Welt deshalb gut oder schlecht zu nennen; aber man würde es | für objektiv entscheidbar halten, ob in der Welt einer der von der menschlichen Willkür setzbaren Zwecke erfüllt sei oder nicht. Allein selbst diesen schon bedeutend herabgeschraubten Anspruch würden wir nicht bestehen lassen können, und wir wollen deshalb versuchen, ihn an den hervorragendsten Gesichtspunkten des neuern philosophischen Pessimismus zu prüfen. Es sind deren wesentlich drei aufgestellt worden, von denen allerdings in das allgemeine Bewußtsein fast nur der eine übergegangen ist. Als den Zweck der Welt, den sie in der Tat nicht erfülle, hat man erstens die Erhaltung ihres eigenen Bestandes, zweitens
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die möglichst hohe Glückseligkeit, drittens die Realisierung sittlicher Prinzipien angesehen; der vulgäre Pessimismus bezieht sich natürlich nur auf die in der Welt mögliche Erfüllung des Glückseligkeitstriebes. Der erste dieser Zwecke ist nicht so recht eigentlich ein wirklicher Zweck, den das Dasein und die Entwicklung der Dinge zu erfüllen hätte, sondern das Universum wird darin unter den dialektischen Begriff des Selbstzwecks gesetzt und seine Bestimmung somit wesentlich in die bloße Erhaltung seiner Existenz verlegt. In dieser Hinsicht müßte nun also der Pessimismus die kühne Behauptung aufstellen, die Mittel, mit denen die bestehende Welt sich selbst in ihrem Zusammenhange erhält, seien für diesen Zweck unzulänglich und unzweckmäßig. Wenn es wirklich so wäre und der Bestand des Universums somit ernstlich in Frage gestellt wäre, so müßte das Ende der Welt dem mit ihrem Zustande unzufriedenen Pessimisten sicher ein Gegenstand der Befriedigung sein; allein dies Gefüge der Dinge, an dem sich schon mancher den Kopf eingerannt hat, macht einen so verzweifelt beständigen Eindruck, daß es vermutlich selbst den Mehrheitsbeschluß der Hartmannianer, es in das Nichts zurückzuschleudern, im ruhigen Fortgange seiner Bewegungen überdauern wird. Und seit die | moderne Naturwissenschaft sich zu dem Prinzip der Erhaltung der Kraft bekannt hat, dürfte für die Ausbreitung solcher Ansichten kaum mehr Hoffnung sein; daher denn auch diese Art des Pessimismus nicht recht hat aufkommen können. Schopenhauer machte einmal dazu den Versuch, als er im überschäumenden Groll behauptete, diese Welt sei so schlecht, daß sie nur mit knapper Not überhaupt existiere, und daß, wenn sie nur um ein Haar breit schlechter wäre, sie zerfallen müßte. Er mußte, als er das schrieb, seine Lehre von der »Sempiternität« der Materie und seine sonst so begeistert ausgesprochene Verwunderung für die Zweckmäßigkeit der Natur völlig vergessen haben. Aber er konnte diese Behauptung nicht einmal festhalten; denn alle Tatsachen und Möglichkeiten, mit denen er sie zu begründen suchte, bezogen sich nicht auf den Untergang des Universums, sondern nur auf die Zerstörung der gegenwärtigen Formen seiner Existenz. Diesen Gedanken haben denn auch
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die neueren Pessimisten als eine von vornherein verlorene Position sogleich aufgegeben. Um so mehr aber haben sie die schon bei Schopenhauer am meisten hervortretende zweite Art des Pessimismus, den »eudämonologischen Pessimismus«, zu begründen unternommen. Dieser geht also von dem Grundsatze aus, die Welt sei dazu da, möglichst viel Glückseligkeit hervorzurufen. Der neuere Pessimismus bekennt sich unumwunden zu diesem Prinzip und erklärt konsequenter Weise, daß auch die Sittlichkeit nur als eins der Mittel, vielleicht als das zweckmäßigste, für diesen letzten und höchsten Zweck angesehen werden könne. Es ist nun charakteristisch, in welcher Weise die Philosophie des Unbewußten diesen ihren eudämonistischen Grundgedanken zu begründen weiß. Zuerst wird durch eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, deren völlig illusionärer Charakter für jeden, der die Prinzipien dieser Rechnung und den Wert ihrer | Anwendbarkeit kennt, durchsichtig ist, der Leser überredet, daß die Natur überhaupt nach Zwecken verfährt. Dann wird, »um die Kette der Finalität zu schließen«, diese Annahme mit der andern gleichgestellt, daß die Natur als Ganzes, das Universum einen Zweck zu erfüllen habe. Aus dieser Annahme wird endlich, nachdem alle anderen sonst etwa aufgestellten Zwecke, darunter auch die Sittlichkeit, abgewiesen worden sind, geschlossen, daß, da doch das Universum überhaupt einen Zweck haben müsse, die Glückseligkeit allein übrig bleibe! Daß, selbst jene Annahme zugegeben, der Zweck des Universums möglicherweise ein noch nicht aufgestellter, daß er überhaupt vielleicht vom Unbewußten nicht offenbart sein könnte, wird dabei als ein vermutlich ganz törichter Einwurf nicht in Betracht gezogen – genug, es ist sonnenklar bewiesen, daß die Glückseligkeit der Zweck des Universums ist. Auf solchen Schlüssen beruht der Pessimismus, der bereits das Heraufdämmern einer neuen Religion der Menschheit in sich bemerkt hat! Wir haben es hier nicht mit einer logischen Gedankenkette, sondern mit einer Reihe von Assoziationen rein psychologischer Natur zu tun, welche sich deshalb so überaus eindrucksvoll erwiesen haben, weil dieselben Assoziationen auf dem natürlichen Standpunkte der menschlichen Weltauffassung fortwährend ge-
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schehen. Es ist das Einfachste und das Natürlichste auf der Welt, daß jeder Mensch so glücklich wie möglich sein will und daß er alle Dinge seiner Erfahrung zunächst auf das Interesse hin prüft, welches er an ihnen nehmen kann; er betätigt dies immer mehr und gewinnt dadurch immer mehr Instanzen für das verallgemeinernde Urteil, daß alles überhaupt nur für diese Glückseligkeit da sei. So muß denn jeder von uns seine natürliche »induktive« Tätigkeit gewaltig zügeln, um nicht zu dem »spekulativen Resultate« zu kommen, daß die Welt zu seiner Glückseligkeit da sei. Kommt er aber einmal zu dieser Ver|allgemeinerung, so verlangt er auch, daß die Welt diesen ihren Zweck erfüllt, und tut sie’s nicht, so ist sie »schlecht«. Man sieht, dies Verlangen und damit beide Beurteilungen, welche nach diesem Verlangen die Welt auffassen – sie sind rein pathologisch. Das Interesse, welches unsere Zeit an den Streitfragen des Optimismus und Pessimismus nimmt, ist kein wissenschaftliches, sondern ein an die Wissenschaft völlig unberechtigter Weise gerichtetes Verlangen, die Welt aus dem Triebe der Genußsucht zu beurteilen. Aber nun könnte man zwar zugestehen, dieser Trieb sein ein willkürlicher Gesichtspunkt der Beurteilung, aber doch daran festhalten, er sei ein sehr wichtiger, der wichtigste Trieb des Menschendaseins, und es sei doch wohl wert, das Universum daraufhin zu prüfen. Man wolle ja darum nicht die Welt wissenschaftlich beloben oder tadeln, sondern man wolle lediglich eine wissenschaftliche Untersuchung darüber, ob es in der Welt mehr Glück oder Unglück gäbe. Unter diesem Gesichtspunkte wären also die Untersuchungen der Optimisten und der Pessimisten gewissermaßen nur als Beiträge für eine Art von eudämonologischer Statistik zu betrachten, als Vorarbeiten für eine statistische Feststellung des Zahlenverhältnisses von Glück und Unglück im Universum. Das Nächstliegende wäre dann also, man zählte beide, Lust und Unlust, einfach aus. Allein das ist nicht nur deshalb unmöglich, weil man eben das Universum überhaupt nicht auszählen kann, sondern vor allem schon in ganz beschränkten Kreisen deshalb nicht, weil man, um das Plus und Minus richtig abzuwägen, niemals nach den als Lust- oder Unlustreize bekannten äußeren Vorgängen, sondern
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nach dem Grade der Gefühle abschätzen müßte, und weil man dazu eines uns völlig mangelnden gemeinsamen Gradmessers der Gefühle bedürfte. Dies eudämonologische Thermometer würde nämlich bekanntlich schon bei zwei Wesen nächster Verwandtschaft, also etwa bei zwei Menschen desselben | Alters, Berufs usw., für dieselbe Veranlassung merklich verschiedene Höhen angeben. Da nun also hier die Induktion doch nicht recht ausreichen möchte, so hat man den Beweis von der Mehrheit der Unlust durch begriffliche Deduktion zu führen gesucht. Zuerst tat das Schopenhauer, indem er, ebenso wie der optimistische Leibniz die Negativität des Übels darzutun gesucht hatte, nun seinerseits die Befriedigung des Willens und das Glück als etwas Negatives nachzuweisen suchte. Da aber die Gefühle der Lust – und die Gefühle sollen ja gegeneinander abgeschätzt werden – doch trotz der vielleicht teilweise negativen Veranlassungen gerade so real bleiben wie diejenigen der Unlust, so mußte auch dieser verfehlte Versuch von der neuern Verteidigung des Pessimismus preisgegeben werden. Nicht anders erging es dem scheinbar schlagendsten Beweise, den Schopenhauer aus dem Wesen des Willens zu führen suchte: der Wille sei jedesmal das Bedürfnis nach einem noch Unerreichten, folglich eo ipso Unlust. Werde er nun nicht erfüllt, so steigere sich diese Unlust zu mächtigem Schmerze, werde er erfüllt, so müsse von der entspringenden Lust doch immer jene erste Unlust in der Gesamtschätzung abgezogen werden. Soll daraus aus eine überwiegende Summe von Unlust in der Welt geschlossen werden, so muß außerdem vorausgesetzt werden erstens, daß der Zuschuß von Unlust bei unbefriedigtem Wollen die anfängliche Unlust auf einen mindestens ebenso hohen Grad steigert als die Gradhöhe der bei der Befriedigung des Willens eintretenden Lust beträgt, was zu beweisen bleibt, und zweitens, daß der Wille mindestens ebenso oft unbefriedigt bleibt, als er befriedigt wird, was gleichfalls zu beweisen bleibt. Außerdem aber ist dagegen zu konstatieren, daß eine große Anzahl von Lustgefühlen überhaupt ohne jedes vorhergehende Gefühl des Bedürfnisses erfahrungsmäßig eintritt. Indem er daher auf diese Beweise verzichtet, stellt Hartmann fünf anthropolo|gische Argumente auf, welche den durchgängigen Überschuß
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von Unlust in der empfindenden Seele erhärten sollen: die Nervenermüdung, welche die Unlust vermehrt, die Lust vermindert, die geringe Höhe der aus dem Nachlassen der Unlust entspringenden Lust, das leichtere Bewußtwerden der zur Unlust führenden Reize, die längere Dauer der Unlust gegenüber dem kurzen Verklingen der Lust, die Neigung des Bewußtseins, bei momentan gleichen Quantitäten von Lust und Unlust der letztern das Übergewicht zu geben. Von diesen fünf Argumenten möchte zunächst das letzte eben nur für den Pessimisten, niemals für den Optimisten gelten, da es geradezu nichts anderes als eine Beschreibung der pessimistischen Stimmung enthält. Aber selbst wenn die vier ersten, wie wir es auch nur bedingt zugeben können, erfahrungsmäßig feststellbare Tatsachen sind, so folgt daraus das zu Beweisende noch durchaus nicht; denn alle diese Bestimmungen sind nur relativ, und sie würden den verlangten Beweis nur dann mit Sicherheit leisten können, wenn zugleich objektiv feststellbar wäre, daß die Summe der im Universum auftretenden Lustreize die Summe der Unlustreize nicht um so viel übersteigt, daß sie durch die in diesen vier Tatsachen begründete Verminderung noch immer nicht bis zur Unlustsumme herabgedrückt würde. Angenommen freilich, es gibt in der Welt etwa ebensoviel Veranlassungen zur Unlust wie zur Lust, könnten jene Argumente vielleicht Beweiskraft gewinnen – allein wer begründet uns diese Annahme? Genug, es ist keine objektive Beweisführung bisher gefunden worden, welche die unmögliche Auszählung und Abschätzung von Glück und Unglück im Universum a priori ersetzen und damit für ein optimistisches oder pessimistisches Resultat entscheidend werden könnte. Alle diese Versuche sind ebenso willkürlich, wie die darin notwendigen Abschätzungen der verschiedenen Grade von Lust und Unlust, und wenn der Pessimist | Schopenhauer seine Abschätzungen in das Aperçu zusammenfaßt, man möge das Verhältnis von Glück und Unglück in der Welt nach dem Verhältnis schätzen, worin das Lustgefühl des fressenden Tieres zu dem Unlustgefühl des gefressenen steht – was würde er einem Optimisten erwidern können, der ihn fragte, was alle Schmerzen der Mutter wiegen gegen die Seligkeit, mit der das Kind an ihrem Halse ruht?
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Endlich aber, geben wir einmal zu, es ließe sich diesen willkürlichen Schätzungen und Zählungen gegenüber ein objektives Prinzip der Rechnung finden, und das Resultat derselben zeigte nun schließlich mit Sicherheit ein immerhin bedeutendes Übergewicht auf seiten der Lust oder der Unlust – was wäre denn nun der Wert dieses Resultats? Für jeden einzelnen Gefühlszustand des einzelnen Wesens sind bekanntlich nicht nur die Gefühlszustände der übrigen Wesen, sondern auch die früheren oder späteren Gefühlszustände desselben Wesens völlig indifferent: denn sofern diese anderen Gefühlszustände selbst Momente des Vorstellungsinhalts in dem einzelnen Zustande sind, müssen sie in dem Begriff desselben als Erinnerungen, Hoffnungen u. s. f., d. h. als integrierende Bestandteile dieses Zustandes schon mitgedacht sein. Was hat nun da das Zusammenrechnen für einen Sinn? Welchem realen Verhältnis entspricht das Resultat dieses Zusammenrechnens? Es heißt immer, man kompensiere gleichgradige Quantitäten von Lust und Unlust und sehe nach, wo ein Überschuß bleibt. Ein Lustgefühl und ein Unlustgefühl können sich doch nur so kompensieren, respektive einen Überschuß nach einer der beiden Seiten geben, daß sie gleichzeitig in demselben Wesen als entgegengesetzte Momente seiner Gefühlserregung auftreten. Ohne diese Bedingung gibt es gar keine reale »Kompensation«. Sehr richtig ist die Bemerkung, daß ein Glas Bier, welches wir heute trinken, den Durst nicht kompensiert, der uns vor | zehn Jahren einmal plagte: aber ebenso gilt auch der allgemeinere Satz, daß kein Unglück, das uns einmal betrübte, durch irgendein späteres Glück wieder gut gemacht werden kann, nicht minder jedoch auch der andere Satz, daß kein Glück, das wir einmal genossen, durch irgendein noch so großes Unglück wieder aufgehoben werden kann. Wenn es uns manchmal anders erscheinen möchte, so beruht das auf einer Verwechslung der unmittelbaren Gefühlsmomente mit den Erinnerungen und den von diesen erzeugten Gefühlen. Erinnern wir uns später in einem und demselben Momente zugleich einer Anzahl glücklicher und einer Anzahl unglücklicher Momente, so können sich die von diesen Erinnerungen ausgehenden Gefühle vielleicht kompensieren und einen Überschuß nach irgend einer Seite geben; allein jene ersten
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realen Gefühle bleiben davon natürlich für eine solche Schätzung gänzlich unberührt. Die ganze Rechnung der Optimisten und Pessimisten hätte deshalb einen realen Wert nur für ein Allbewußtsein, in welchem sämtliche Gefühle aller Wesen aller Zeiten als Momente eines einzigen Gefühlszustandes aufträten, welches Allfreude und Alleid gegeneinander kompensierend abwöge und je nach dem Erfolge glücklich oder unglücklich oder – indifferent auf dem »Nullpunkt der Empfindung« wäre. Ein solches Allbewußtsein lehnen die pessimistischen Theorien der Gegenwart geflissentlich ab, und für sie schwebt so das Resultat der eudämonologischen Statistik durchaus in der Luft. So viel aber ist klar, daß für das endliche Bewußtsein des Einzelnen das Resultat dieser Rechnung, wohin es auch ausfallen möge, durchaus bedeutungslos bleibt, zumal vom eudämonistischen Standpunkte aus, wo man doch dem Weltzweck der höchsten Glückseligkeit nur so dienen kann, daß man in seinem nächsten Kreise, vor allem aber am sichersten in sich selbst, so viel als möglich Glückseligkeit zu befördern sucht. | Diesem Haschen nach dem Glück und der Lust hat der größte deutsche Denker das eherne Wort entgegenhalten: »Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um unsere Schuldigkeit zu tun.« Diesen zunächst auf das menschliche Leben bezogenen Gedanken hat er dann, obwohl er die wissenschaftliche Erkenntnis des Universums als Weltganzen ablehnte, doch nach seinem Prinzip des »moralischen Glaubens« auf das Universum ausgedehnt, und in konsequenter Durchführung dieser Gedanken hat später Fichte die Realisierung der sittlichen Ordnung für den Zweck des Universums erklärt. So sehr man nun den edlen, reinen Sinn bewundern mag, der in diesem Gedanken sich aussprach, so gern man die belebende und innerlich kräftigende Wirkung anerkennen wird, die von diesem moralischen Idealismus in die deutsche Jugend geströmt ist, so sehr muß man auch zugeben, daß, so wie der Wert, schließlich auch die Begründung dieses Gedankens mehr in dem großen Zuge des Charakters als in der nüchternen Beweisführung der Wissenschaft gesucht werden mußte. Die Geschichte selbst hat den Untergrund jener dialektischen Beweisführungen durch seine eigene stetige Wandelbarkeit
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zerstört, und wir brauchen deshalb nicht besonders auszuführen, daß jener Gedanke einer strengen wissenschaftlichen Begründung bisher entbehrt und stets wird entbehren müssen, weil, um die Möglichkeit irgend eines Zweckes herbeizuführen, immer schon etwas, d. h. also das Universum selbst, da sein muß. Es liegt auch keine Veranlassung dazu vor, weil der auf die Beurteilung nach diesem sittlichen Zweck gegründete, d. h. der fichtesche Pessimismus, auf den sich übrigens die modernen Pessimisten doch lieber nicht berufen sollten, zurzeit, wenigstens literarisch, kaum vertreten und auch überhaupt für eine Verbreitung in der großen Masse recht wenig geeignet sein dürfte. Denn er appelliert nicht an den freilich überall ein Echo findenden Glückseligkeits|trieb, sondern an den tiefen Ernst sittlicher Betrachtung, und indem er an dem sittlichen Zwecke den gegenwärtigen Zustand der Dinge prüft, muß er ihn verwerfen. Wenn wir die Tendenz auch dieses Pessimismus auf Beurteilung der Welt als unberechtigt zurückweisen müssen, so haben wir doch die Grenzen zu bestimmen, in denen ein solcher ethischer Pessimismus seine Berechtigung hat. Überall nämlich, wo ein wahrhaft sittliches Streben existiert, da wurzelt es in der Überzeugung, daß es anders werden muß in einem gegebenen Zustande, daß einiges nicht ist, was sein sollte, und daß einiges ist, was nicht sein sollte. Jeder sittliche Entschluß enthält deshalb eine auf sittliche Zweckbestimmungen bezogene Verwerfung des gegenwärtigen Zustandes, und wenn man unter diesem moralischen Pessimismus die Überzeugung verstehen will, daß der bestehende Zustand der Dinge noch an irgendeiner Stelle, die man zunächst selbst vertritt, dem Ideal sittlicher Gestaltung nicht entspricht, dann muß man gestehen, daß diese Art des Pessimismus – die einzige, deren relative Berechtigung uns zweifellos erscheint – die treibende Kraft in allen edlen Erscheinungen des Menschenlebens ist. Aber eben deshalb beschränkt sich auch das in diesem Pessimismus ausgesprochene Verwerfungsurteil immer auf einen gegebenen Zustand des Menschenlebens und am besten auf die Lebenssphäre des Einzelnen. Es gäbe endlich noch eine Form, in der das Universum in bezug auf den sittlichen Zweck beurteilt würde, indem sich das Urteil
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nicht auf einen augenblicklichen, gegebenen Zustand, sondern darauf bezöge, ob in der ganzen zeitlichen Entwicklung des Universums sich eine Annäherung an die Realisierung des sittlichen Zweckes nachweisen lasse, und ob es demnach zu hoffen stehe, daß diese Realisierung einmal wirklich eintrete. In dieser Beziehung war Fichte eine Zeitlang ebenso sehr Optimist, | als er sich in der sittlichen Beurteilung des gegenwärtigen Weltzustandes zum trübsten Pessimismus bekannte. Sollte nun aber diese Frage aus den vagen Begriffsdeduktionen auf reale Erkenntnisse zurückgeführt werden, so könnte es sich auch hier nicht um die Entwicklung des sittlichen Gedankens im Universum, sondern höchstens um diejenige innerhalb der terrestrischen Organismen handeln. Wer unbedingt dem Darwinismus huldigt, dürfte sich dann, wenn er den vermutlichen moralischen Zustand des Urmenschen mit dem der jetzigen Menschheit vergliche, wohl einer optimistischen Hoffnung hingeben können; wer aber sich lediglich an das historische Material halten würde, der könnte, wie es uns scheint, leicht zu dem schopenhauerschen Schlusse gelangen, daß zwar die intellektuelle Bildung der Menschheit in der Geschichte die wesentlichsten Fortschritte zeigt, daß aber in sittlicher Beziehung vielleicht mehr Klugheit und äußere Beherrschung der Begierden, nicht aber mehr wirklich innerliche Güte und wahre Charakterbildung in der historisch übersehbaren Zeit Platz gegriffen hat. Wenn jedoch wirklich sich nachweisen ließe, daß das sittliche Wesen der Menschheit im ganzen innerhalb der unserer Kenntnis eröffneten wenigen Jahrtausende ebensowenig nachweislich sich verändert hat wie seine äußere Gestalt, so wäre doch immerhin die Möglichkeit einer eben ganz außerordentlich langsamen Umbildung dadurch nicht völlig ausgeschlossen. So wenig deshalb auch in dieser Richtung die Wissenschaft allzu hoffnungsvolle Perspektiven eröffnen kann, so wenig schließt sie solche völlig aus, und sie wird, bei den bisherigen Daten, sicher am besten tun, auch diese Frage in suspenso zu lassen, – bis zu der Zeit, wenn dieser Planet mit allem, was er trägt, in den heimatlichen Gasball zurückstürzt, oder wenn, »wie unsere Weisen sagen«, in eisiger Gleichheit die Bewegungen des Universums auszittern . . . ? |
Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben Vortrag 1908 im Wiener Verein der Freunde des humanistischen Gymnasiums . . . Die so heiß umstrittene Reform des Mittelschulwesens hat in Österreich wie im Deutschen Reiche vorläufig zu einem Ausgleich geführt, wonach die gleichberechtigte Nebeneinanderstellung verschiedener Wege zum Studium der Hochschule anerkannt und durchgeführt werden wird. Wie sich das nun im einzelnen gestalten soll, ist natürlich eine Frage der Zukunft, und dafür etwa besondere Vorschläge in schultechnischem Sinne zu diskutieren, fühle ich mich nicht befugt. Auch die Erfahrungen, welche drüben im Reiche bisher haben gesammelt werden können, sind dazu noch viel zu gering. Die Wirkung einer solchen Mittelschulreform, die Bedeutung, welche sie für das ganze Bildungsleben des Volkes besitzt, kann sich ja erst mindestens im Verlaufe einer ganzen Generation entwickeln. Wie wenig deshalb jetzt etwa schon von entscheidenden Erfahrungen in dieser Hinsicht zu reden ist, zeigt sich gerade in einem Punkte, der die Universitäten speziell angeht und den ich deshalb allein hervorheben möchte, weil er in den breiten Diskussionen dieser Frage verhältnismäßig am wenigsten behandelt worden ist. Die völlige Gleichberechtigung, mit der drei verschiedene Vorbereitungsweisen jetzt in das akademische Studium führen, legt der gegenwärtigen Generation der | Hochschuldozenten eine ganz außerordentlich schwierige Pflicht, eine besondere didaktische Forderung auf: sie sollen allen diesen verschiedenen Vorbildungen gegenüber, die das gleiche Recht zu lernen gewähren, in ihrer Lehre verständlich und eindringlich sein und dabei doch das wissenschaftliche Niveau des akademischen Vortrages nicht um ein Haar breit herabsinken lassen. Das ist eine schwere Aufgabe, und jeder Einzelne muß sich auf das sorgfältigste überlegen, wie er ihr in seinem Fache gerecht werden kann: daß das nicht leicht
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ist, – diese Erfahrung haben wir allerdings schon gemacht. Ja, man darf bereits sagen, daß unter den vielen Gefahren, die aus dem modernen Leben dem Wesensbestande der deutschen Universität drohen, diese weitaus die schwerste, die am tiefsten an die Wurzel greifende ist. Aber nicht von derartigen einzelnen Problemen der zukünftigen Organisation des Unterrichtes soll hier die Rede sein. Der Zustand, zu welchem die Entwicklung der Frage jetzt gelangt ist, erlaubt es, eine allgemeinere Betrachtung der ganzen Bewegung und des Streites, der dabei ausgefochten wird und weiter ausgefochten werden muß, wenigstens in kurzem zu versuchen. Wir stehen ja in der Tat nun schon durch mehr als zwei Jahrzehnte auf dem ganzen weiten Boden des deutschen Kulturlebens in einer Art von Bildungsbewegung, die sich selbstverständlich als eine Reform unseres Unterrichtssystems, als die Frage der Schulzwecke entwickeln mußte. Wenn ich den Motiven nachzugehen versuche, welche diese Bewegung ausgelöst haben, so liegen sie in erster Linie zweifellos in dem voluntaristischen und zugleich utilistischen Zuge unserer Zeit. Manche von Ihnen entsinnen sich gewiß mit mir noch des großen Eindruckes, den – das war wohl der erste von diesen Vorstößen – ein merkwürdiges Buch gemacht hat, das uns »Rembrandt als Erzieher« aufnötigen wollte, ein Buch, das in kür|zester Zeit zahlreiche Auflagen erlebte und von dem heute niemand mehr redet. Seitdem sind uns viele andere »Erzieher« empfohlen worden, und an zahllosen Stellen, von berufenen und unberufenen Persönlichkeiten, werden uns Heilmittel der verschiedensten Art für unser Bildungswesen angepriesen, als ob dieses den Anforderungen des neuen Lebens durchaus nicht mehr genügen wollte. Das lag, wie es sich gerade in jenem Buche zuerst symptomatisch ankündigte, in einem leidenschaftlichen Drange nach Leben, nach Tat, nach Entfaltung der Persönlichkeit, nach Ausbildung und Ausladung des Willens. Eine Menge von Kulturverhältnissen und von inhaltlichen Bestimmungen unserer Geschichte, auf die ich im einzelnen jetzt nicht näher einzugehen vermag, haben dazu beigetragen, diese Richtung des neuen Lebens herbeizuführen und
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zu verstärken, und sie hat sich als ein Bedürfnis nach Unmittelbarkeit des Lebens und Handelns in lebhaftem Gegensatze zu dem intellektualistischen Gepräge entwickelt, das unser deutsches Leben in den vorhergehenden Jahrzehnten aufgewiesen hatte und das, wie es einst als gepriesener Vorzug unseres nationalen Wesens gegolten hatte, nun als der Grund unserer Schwäche gescholten zu werden sich gefallen lassen mußte. Es steckt in dieser Bewegung etwas von dem Zuge der Renaissance und darum zugleich auch wieder ein heftiges Bedürfnis, die Last der Tradition, die in dem intellektuellen Dasein steckt, abzuwerfen. Es gibt Zeiten, wo der Menschheit ihr Schulsack zu schwer zu werden scheint und wo sie plötzlich meint, sich aufraffen zu müssen, um ihn abzuwerfen, um ihn los zu werden, um ganz frank und frei sich der Wirklichkeit selbst in die Arme zu werfen. Aber gerade die Renaissance sollte in dieser Hinsicht das lehrreichste Beispiel sein; sie zeigt dem, der sehen will, auf die deutlichste Weise, daß man auch mit allem leidenschaftlichen Drange von der Tradition nicht loskommt, | daß sie dem geschichtlichen Menschen unweigerlich im Blute steckt und daß, wenn er meint, irgendwelche Traditionen abzuwerfen, er, gewollt oder ungewollt, bewußt oder unbewußt, in eine andere verfällt. Das hat die Renaissance auf allen Gebieten bewiesen, in Kunst und Wissenschaft nicht anders als im religiösen und staatlichen Leben. Diese Unentfliehbarkeit der Tradition sehen wir vielleicht am deutlichsten an dem charakteristischen Denker und Dichter unserer Tage, an Nietzsche, der selbst in seinen Jugendjahren mit aller Leidenschaft das Abwerfen der Last der historischen Tradition für den Idealmenschen der Zukunft proklamierte. Er selber aber, was wäre er gewesen ohne diese feinste und tiefste Tränkung seines geistigen Wesens gerade mit dem Geiste des klassischen Altertums, ohne diese vollkommene Verarbeitung aller höchsten Schätze der Bildung aus allen Zeiten? Und was wäre er in seiner Wirkung gewesen ohne die Resonanz, die seine poetisch hochentwickelte Sprache, seine Feinfühligkeit einer in allen Tönen weltgeschichtlicher Erinnerung spielenden Darstellung nur finden konnte bei einem ästhetisch durchgebildeten und historisch erzogenen Geschlecht?
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Aber der voluntaristische Zug, der in Nietzsches dionysischem Grundwesen mit seiner apollinischen Bildung ringt, hat sich bei der großen Masse der Zeitgenossen durch den utilistischen Zug gefärbt und verstärkt. Dieser Utilismus hängt selbstverständlich mit dem Charakter unseres Zeitalters der Technik zusammen, von dem sehr gut gesagt worden ist, daß der große Dank, den unsere Zeit ihrer Beschäftigung mit der Natur und dieser Natur, die sie damit beherrscht, selbst schuldet, unser Denken wehrlos unter die Herrschaft derjenigen Denkformen bringe, denen man so Gewaltiges verdankt. Gerade dieser Utilismus aber meinte den ganzen historischen Ballast unserer traditionellen Bildung loswerden zu können, um sich, un|beirrt von ihren Vorurteilen, einer reinen Auffassung der natürlichen Wirklichkeit hinzugeben. Die voluntaristische Richtung, die uns mit ihrer Kritik des bisherigen Bildungssystems in zahllosen Vertretern entgegentritt, ist immer auf den einen Grundton gestimmt: »wir lernen zu viel, wir wollen zu wenig«, und von hier aus empfiehlt sie, wie es dereinst schon im Zeitalter des Rationalismus von den Philanthropisten geschah, die Konzentration alles Unterrichtes auf die Erziehung des Willens und der Persönlichkeit ebenso, wie die kräftige Ausbildung des tätigen Leibes im Turnen und im Sport. Und im Anschluß daran sagt der Utilismus: wenn wir bei alledem doch nun einmal lernen müssen, dann doch nur das, was wir brauchen, doch nur das, was wir auf irgendeine Weise für die praktischen Ziele unseres täglichen Lebens verwenden können. Das ist alles recht schön und in manchem Sinne förderlich, in manchem Sinne auch gut zur Aufhebung und Ergänzung früherer Einseitigkeiten. Aber es hat doch auch seine bedenkliche Seite. Wenn man diese Stimmen der Reformer hört und auch wenn man – wir wollen uns das nicht verbergen – die Jugend von heute, wenigstens zu einem großen Teile, in der Art ihrer Betätigung ansieht, so muß man sich sagen: es scheint uns eines verloren zu gehen, die Freude am Lernen als solchem, die Freude an der geistigen Arbeit, die Freude an dem inneren Ausleben des Menschen, die Freude an dem geistigen Reifen um seiner selbst willen. Solch ein reiner Trieb des inneren Strebens hat vor Jahrzehnten noch die deutsche Jugend
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erfüllt, aber im Gedränge des modernen Lebens, in der vielgestaltigen Ergossenheit unseres Daseins in die Außenwelt, beginnt er zweifellos uns abhanden zu kommen. Endlich ist zu den voluntaristischen und utilistischen Motiven noch ein anderes Moment hinzugekommen, und dieses ist vielleicht in der Gesamtheit unserer Zustände | das wirksamste von allen: das soziale. Die deutsche Kulturentwicklung hat vor 100 Jahren in der Schöpfung des ästhetisch-historischen Bildungssystems gegipfelt, das zugleich ein philosophisches Bildungssystem gewesen ist, und dieses hat lange Jahrzehnte hindurch unserem Volke den einheitlichen inneren Halt und die Gemeinschaft der geistigen Nationalität gegeben. Aber jenes Bildungssystem war – das dürfen wir auch nicht verkennen – zu seiner Zeit nur in einer verhältnismäßig dünnen Oberschicht lebendig und wirksam. Nun aber haben die Bewegungen des 19. Jahrhunderts das wahr gemacht, was einer der großen Schöpfer jener idealistischen Bildung, Hegel, vorahnend mit den Worten ausgesprochen hat: »Die Massen avancieren«. Sie avancieren auch in dem Sinne, daß sie an den Bildungswerten der Kultur ihren vollen Anteil in Anspruch nehmen, und wir können heute die merkwürdige und beschämende Beobachtung machen, daß jener Bildungsmüdigkeit, die in den oberen Schichten der Gesellschaft Platz gegriffen hat, in den übrigen Schichten eine Bildungsbedürftigkeit von gewaltiger Energie gefolgt ist. Aber diese Bildungsbedürftigkeit der Massen richtet sich nun wieder auf eine Art der geistigen Nahrung, die für ihre Vorstellungsweise und ihre Lebenszwecke, für ihre Gefühls- und Willensrichtung brauchbar zu sein verspricht. Das sind, wenn ich recht sehe, die Hauptmomente, welche in der Tat dazu geführt haben, daß sich während der letzten Jahrzehnte unsere Bildungsideale in großer Ausdehnung verschoben haben: und wo sie sich nicht von selbst verschoben, ist noch in ausgiebiger Weise von Berufenen und Unberufenen an ihnen herumgeschoben worden. Alle diese Versuche lassen sich im Grunde genommen darauf zurückführen – und das ist der tiefste Sinn der Sache –, daß wir mit einem solchen Streben nach neuen Bildungswegen schließlich auf der Suche nach einer neuen | Weltanschauung sind,
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nach einer Weltanschauung, die sich aus den mächtig umgestalteten Verhältnissen unseres Lebens herausgebären will. Damit hängt es ja auch wesentlich zusammen, daß wir in unseren Tagen wieder in weiteren Kreisen eine ernste und lebhafte Beschäftigung mit der lange verschmähten und verachteten Philosophie feststellen können. Aber die Philosophie kann die ersehnte neue Weltanschauung noch nicht aus Einem Gusse geben: denn sie selber ist geteilt durch den Zwiespalt der Überlieferung, die sie aus dem 19. Jahrhundert übernommen hat, den Zwiespalt zwischen historischem und naturwissenschaftlichem Denken. Das positive Zeitalter, welches die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutet hat, ein Zeitalter, das, der Philosophie fremd, wenn nicht feind, sich in seiner intellektuellen Arbeit den positiven Disziplinen zuwandte, ist in demselben Maße ein Zeitalter der großen historischen Wissenschaft, wie ein Zeitalter der großen Naturforschung gewesen, und die beiden Denkweisen, die diesen Sonderwissenschaften zugrunde liegen, stellen nun gleiche Anforderungen und haben gleiches Recht an die neue Weltanschauung, welche zu ihrer Ausgleichung berufen ist, diese Weltanschauung, die doch in letzter Instanz das ersehnte neue Bildungssystem erst wird begründen können. Hierin nun, in dem jetzt noch unausgeglichenen Zwiespalt jener beiden Denkformen, der naturwissenschaftlichen und der historischen, liegt eigentlich, wenn wir genau zusehen und in die Tiefe dringen, der letzte Grund des Streites auch um die praktischen Probleme – der Kern der Schulfrage. Betrachten wir dabei die Stellung der Parteien, so wäre es ungerecht, zu verkennen, daß von seiten der historischen Denkweise und der Vertreter der humanistischen Bildung die Berechtigung der Methoden und Auffassungsweisen der Naturforschung und ihre | Stellung in dem allgemeinen Zusammenhange des geistigen Lebens im großen und ganzen immer rückhaltlos theoretisch und praktisch anerkannt worden ist. Weit eher haben wir es erlebt, daß von seiten der naturwissenschaftlichen Vorstellungsweise jener Ruf nach Abkehr von der humanistischen Tradition, nach einem Bruch mit unserer ganzen historisch gerichteten Bildung und das Verlangen nach einer wesentlich ma-
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thematisch-naturwissenschaftlichen Erziehung unserer gesamten Jugend ertönte. Es liegt ja nahe genug, daß diejenigen Bestrebungen, welche den Hauptwert darauf legen, die Jugend für das gegenwärtige Leben zu erziehen, welche die sichere Stellung zu den Aufgaben unseres realistischen, unseres technisch bewegten und aufgeregten Zeitalters an die Spitze der Unterrichtsziele stellen, es liegt nahe, daß diese meinen, für solche Erziehungszwecke mit den Denkmitteln auszukommen, mit denen die eindrucksvollen Ergebnisse der Naturforschung gewonnen zu sein scheinen. Es ist begreiflich, daß man in dieser Weise denkt, die neue Zeit brauche die Irrgänge, die das menschliche Denken in der Geschichte durchgemacht hat, nicht erst nach- und mitzumachen, wir seien reif, in unmittelbarem Erfassen an die Wirklichkeit der Natur mit unserer Erkenntnis heranzutreten, auch die Jugend müsse frei werden von der Last der historischen Irrtümer. Aber gemach! »Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.« Wer so redet von der Schädlichkeit der humanistischen Tradition, der ahnt wohl nicht, wie viel Tradition in der heutigen Naturwissenschaft und in ihren Theorien steckt. Aber man braucht nur einigermaßen sich mit dem Entwicklungsgange vertraut zu machen, durch den die moderne Naturforschung gerade in ihren Größen, wie Kepler und Galilei, sich aus der humanistischen Überlieferung herausgearbeitet hat, um darüber klar zu werden, daß unsere heutige Naturwissenschaft selbst ein | Produkt der Begriffsarbeit von zwei Jahrtausenden ist. Gerade die Methoden, mit denen wir heute die Natur denken, beruhen in keiner Weise auf dem unbefangenen und von selbst gegebenen Auffassen des natürlichen Menschen, sondern sie enthalten ihren wesentlichen Grundzügen nach die Formen eines abstrakten Denkens, welches selber eines der allergrößten Ergebnisse der intellektuellen Arbeit des Menschen in seiner Geschichte bedeutet: und sie sind in ihrem Wesen und Werte nicht zu verstehen, wenn man sie nicht als ein solches Erzeugnis der historischen Arbeit begreift. Nehmen wir z. B. die Vorstellung des Naturgesetzes oder den Grundbegriff des Atoms oder das Prinzip der Energie, sie alle haben erzeugt werden müssen in einer großen mühevollen Denk-
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arbeit der Generationen: ihr Sinn, ihr Inhalt hat gewechselt, er hat sich vertieft, er hat sich korrigiert im Laufe der Zeit. Nur wer ihre Geschichte kennt, nur wer weiß, welche Wandlungen diese Denkformen durchgemacht haben, besitzt den Maßstab für die Beurteilung ihres Geltungswertes. Er bekommt Respekt vor der gewaltigen geschichtlichen Arbeit, die in der heutigen Wissenschaft steckt, aber er lernt auch Vorsicht in dem Glauben an die natürliche Selbstverständlichkeit ihrer Geltung, an ihren absoluten Wert. Wer diese Geschichte nicht kennt, der wird jeder gegenwärtigen Form der Theorie, die sich ihm als ein zwar neu Gefundenes, aber zeitlos Gültiges darstellt, kritiklos anheimzufallen in Gefahr sein. Gerade die erkenntnistheoretischen Untersuchungen des letzten Jahrzehnts gehen von allen Seiten mit einer merkwürdigen Übereinstimmung des Ergebnisses darauf aus, in den Formen unserer Naturerkenntnis etwas aus dem Bedürfnis, aus den Wertbestimmungen, aus den Tätigkeitsausgaben des Menschen im Prozesse der Geschichte Hervorgegangenes, Herangezogenes, durch Auswahl und | nach Brauchbarkeit des Einzelnen erst Zusammengefügtes uns darzustellen. Die pragmatistischen Theorien, die in der anglo-amerikanischen Philosophie heutzutage eine so große Rolle spielen, die erkenntnistheoretischen Systeme, die aus der Werttheorie in Deutschland wie in Frankreich herstammen, sie alle laufen darauf hinaus, uns zu zeigen, daß die Auffassungsformen der Naturgesetzmäßigkeit, die bei Kant als ein apriorischer, d. h. notwendiger und allgemein gültiger Besitz des »Bewußtseins überhaupt« galten, in einer geschichtlichen Bewegung begriffen sind, in einer zweckvollen Bewegung, die durch die Bedürfnisse des Menschen, nicht des einzelnen natürlich, sondern der Menschheit als eines gesamterkennenden Wesens bestimmt oder wenigstens mitbestimmt wird. So ist die naturwissenschaftliche Theorie, sobald man ihrem Ursprung und ihrem Wesen nachgeht, eines der besten Zeugnisse dafür, daß, was dem naiven Menschen von heute als ein natürlich Selbstverständliches oder ein eben erst Entdecktes vorkommt, in Wahrheit eine Errungenschaft der historischen Bewegung ist und daß – wir mögen uns drehen wie wir wollen – wir uns doch im-
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mer unentfliehbar in den historischen Gedankengängen unserer geistigen Vorfahren befinden: »Wer kann was Kluges, wer was Dummes denken, Das nicht die Vorwelt schon gedacht?«
Diesen Werdegang uns vor Augen zu halten, ist deshalb jedenfalls klüger und erzieherischer, als jene Tradition in Bausch und Bogen zum alten Eisen zu werfen. Freilich werden wir nicht bei dem historischen Relativismus uns genügen lassen, der für manche der Modernen sich aus diesem Tatbestande ergeben hat: aber wenn wir irgend hoffen dürfen, aus dem Wechsel der Meinungen im theoretischen wie im praktischen Leben zu ewigen und absoluten Werten vorzudringen, so führt der Weg | dazu nicht durch die vermeintliche Unmittelbarkeit einer naturalistischen, traditionsfreien Erfassung der Wirklichkeit, sondern nur durch den historischen Prozeß selbst, der in seiner gewaltigen Notwendigkeit durch alles Streben, Irren und Erreichen der Individuen und der Zeitalter hindurch sich in sich selber zielsicher korrigiert und befestigt. Auch für unsere Frage gilt es deshalb, daß der Kulturmensch überhaupt nicht schon mit und in dem natürlichen Menschen gegeben, sondern für den geschichtlichen Menschen aufgegeben ist und durch ihn allein verwirklicht wird. Darum besteht ja alle Erziehung, die wir leisten, alle Bildung, die wir leiten können, wesentlich darin, aus dem natürlichen Menschen den historischen zu machen. Schon das Einfachste und Elementarste, die alltäglichsten Künste des Lesens, des Schreibens und des Rechnens, die unsere Schule den kleinen Kindern beibringt, bedeutet ja nichts anderes als die Einführung in den großen intellektuellen Entwicklungsgang der Menschheit, welche all dieses, was den neuen Menschenkindern so spielend zugeführt wird, in schwerer Arbeit und großer Bedrängnis erst hat erwerben und schaffen müssen. Das sollte jeder, der diese Arbeit leistet, in seinem Gewissen sich vorhalten: daß er berufen ist, eine neue Generation in den geistigen Prozeß von Jahrtausenden aufzunehmen. Und was von diesem Einfachsten gilt, das gilt erst recht von allem Höheren und Besseren: denn nur aus
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der Geschichte stammen die Wertinhalte des Menschenlebens, zu deren selbständigem Ergreifen die Jugend herangebildet werden soll, und deshalb müssen wir den neuen Menschen sie historisch erleben und neu erzeugen lassen. Die Religion, in die wir das neue Geschlecht hineinleben lassen, ist nicht die natürliche, sondern eine historische. Wir werden nicht daran denken, das Kind in das religiöse Leben durch die Mitteilung irgendeiner Vernunftlehre | einzuführen, sondern wir werden es sich herausentwickeln lassen aus der Form des religiösen Daseins, in das es durch seine Geburt hineingestellt ist, und das ist immer eine geschichtliche, eine positive Religion. Wir brauchen darum den jungen Menschen nicht ängstlich in dieser Tradition festzuhalten, sondern wir müssen es seinem eigenen Wesen und seinem eigenen Leben überlassen, wie er diese Tradition in sich verarbeiten und wie er sich daraus herausarbeiten wird. Aber den Weg durch die Geschichte hindurch müssen wir alle in dieser wie in den übrigen Sphären der geistigen Entwicklung durchmachen. Oder, wie will man dem Naturkinde etwas vom Wesen des Staates, von seinen Beziehungen zum öffentlichen Leben beibringen anders, als indem man es dies historisch miterleben und mitmachen läßt, indem man es einfügt in die große Gesamttradition seines Volkes, in der es weiter zu leben und zu wirken berufen ist? Auch von allen unseren ökonomischen Verhältnissen, von dem allgemeinen und dem individuellen Wirtschaftsleben gilt es doch, daß es dem Einzelnen nur verständlich ist durch das Eindringen in die Geschichte seiner Entwicklung, durch das Begreifen der allmählichen Umbildung der Lebensbeziehungen der Menschheit: gerade die mächtigen Umwälzungen des gesellschaftlichen Daseins, in denen wir heute stehen, lassen die schweren Gefahren, die sie für ein unreifes Urteil bei sich führen, überwindbar erscheinen nur durch die Zucht des historischen Verständnisses. Und endlich – um noch Eines zu erwähnen, das für die Interessen der modernen Bildungswelt von besonderer Bedentung ist – wie soll der Mensch heranreifen zum Verständnis der Kunstwerke? Auch hier führt der Weg zur Erfassung des Ewigen nur durch den Entwicklungsgang des Zeitlichen. Wohl sind es die ganz Großen,
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die uns emporheben auch über ihre Zeit. Aber gerade | an ihnen werden wir am allerbesten lernen müssen und zu verstehen suchen, wie aus dem Milieu, aus dem ganzen Treiben der geschichtlichen Umgebung heraus die geniale Persönlichkeit sich zu ihrer Eigengestaltung entwickelt hat. Kein Gebiet ist vielleicht günstiger für die Auffassung dieses fundamentalen Verhältnisses zwischen der Tradition und dem aus der Tradition emporwachsenden absoluten Werte, als das geschichtliche Leben der Kunst auf allen ihren Gebieten. Hier gerade sehen wir, daß man nirgends bloß naturalistisch anpacken darf, um die Kulturgüter der Menschheit als solche aufzufassen und in sich aufzunehmen, sondern daß man seinen inneren Anteil an ihnen nur dann gewinnt, wenn man sie in ihrem historischen Werden, in ihrem Herauswachsen aus der Tradition miterlebt. Wer das entbehren zu können glaubt, der kommt schließlich dahin, die Art von Originalität darzustellen, die Goethe mit den Worten bezeichnet hat: »Ein Narr auf eigne Hand!« Indessen brauchen wir nun darum nicht alle Tradition mitzumachen, sondern das ist das Große und Bewunderungswürdige an dem Prozeß der Geschichte, daß er sich in sich selber bestimmt und begrenzt. Es gibt eine Konzentration des historischen Lebens der Menschheit. In der Mitteilung ihrer Errungenschaften von Generation auf Generation, in dem mitschaffenden Nacherleben des jüngeren Geschlechtes steckt ein Prozeß der Auswahl des Wirksamen und des Werthaften, der Bewährung und Befestigung der inneren Lebensgüter. Wie in den Apperzeptionsvorgängen des Individuums, so schlägt sich auch in den Kulturbewegungen der Gattung ihr dauernder Besitz an geistigen Gütern nieder. So hat sich aus den zerstreuten Anfängen des Lebens dieser Spezies »homo sapiens« mit der Zeit eine geistige Gemeinsamkeit herausgebildet. Denn, wie es auch mit dem natürlichen Ursprung des Menschengeschlechtes bestellt sein möge | – das hat die Naturwissenschaft, die Biologie zu untersuchen und vielleicht zu entscheiden –, für die geschichtliche Betrachtung ist der Mensch im Anfange verstreut über die Erde, geteilt, getrennt, die Völker einander fremd und feind: und der eigentliche Sinn, der wahre Inhalt der geschichtlichen Entwicklung, das was uns berechtigt, von der
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Geschichte der Menschheit als von einem einheitlichen sinnvollen Prozeß zu reden, das besteht in dem Zusammenwachsen der getrennten Gebilde, in der Erzeugung einer Gemeinschaft, einer äußeren und inneren Lebensgemeinschaft der Völker, in der sich mit allmählichem Fortschritt das entfalten soll, was nach Herder das Thema der Geschichte ist: die Humanität. Den bedeutsamsten Schritt in dieser Entwicklung, die das Wesen der Geschichte ausmacht, in dieser Konzentration ihres inneren Gemeinschaftslebens hat nun die Menschheit zweifellos in derjenigen Phase getan, die wir die Mittelmeerkultur nennen. Seit den Tagen Alexanders ist aus dem großen Ineinander und Durcheinander der Völker, die das Mittelmeer umwohnten, der damaligen οἰκουμένη, der bewohnten Erde, eine Einheit emporgewachsen, zu der griechische Wissenschaft und Kunst die geistige Grundlage, zu der das Römertum nachher mit seinen machtvollen Institutionen den äußeren Rahmen gegeben hat und aus der als letztes Ergebnis unsere christliche Kultur hervorgegangen ist. Deshalb bildet in der Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung diese Mittelmeerkultur die bleibende Grundlage für alle folgenden Gestaltungen der Lebenseinheit der Menschheit. Ihre Reste haben die Bildungsnahrung des Mittelalters ausgemacht; sie hat seit der Renaissance ihren ganzen Reichtum zu neuer Entfaltung in den modernen Völkern gebracht, und wenn wir heute sehen, daß sich räumlich diese Mittelmeerkultur zu einer atlantischen Kultur zu erweitern begonnen hat, so wird auch diese, so wunderlich sie sich|manchmal zu stellen scheint, jene historische Grundlage nicht verleugnen dürfen. Gerade in diesem Sinne war es von höchstem Interesse, aus dem Berichte, der in einem der letzten Hefte Ihres Vereins, meine Herren, mitgeteilt wurde, das rege Verständnis zu ersehen, das auch drüben, jenseits des Ozeans, für den unverrückbaren Wert dieser Tradition lebendig und kräftig sich regt. Gerade das ist wertvoll, daß auch Amerika, das »keine verfallenen Schlösser hat und keine Basalte«, für sein Bildungsleben den Wert der Tradition begreift. In diesen Verhältnissen liegt das welthistorische Recht der humanistischen Bildung. Von ihrem Werte für unser deutsches Kul-
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turleben brauche ich in diesem Kreise kein Wort weiter zu sagen; ich könnte nur wiederholen, was schon besser gesagt worden ist. Nur darauf möchte ich – und gewiß in Ihrem Sinne – kurz hinweisen, was ich für eines der wichtigsten Momente in dem gegenwärtigen Bildungsstreite halte: wir würden die lebendigen Beziehungen zu unserer großen deutschen Literatur, zu dem Besten, was wir an gemeinsamem Bildungsschatze besitzen, unwiderruflich abschneiden, wenn wir der Entfremdung unserer Jugenderziehung vom klassischen Altertum nachgeben wollten. Wer kann Goethe und Schiller, wer kann Platen und Grillparzer lesen, der nicht durch die humanistische Bildung hindurchgegangen ist? Und ich denke dabei nicht, wie man wohl gelegentlich gemeint hat, an das Verständnis von Namen und Personen oder gar von mythologischen Bezeichnungen, sondern ich denke an die Lebensauffassung, an den Geist des klassischen Altertums, aus dem heraus allein wir auch diese größten Erzeugnisse des deutschen Geistes begreifen und miterleben können. Es ist ebenso charakteristisch wie betrübend, daß in der jüngeren Generation mit der Abwendung vom Humanismus auch die Entfremdung von unserer eigenen Literatur Hand in Hand geht. | Im Grunde genommen ist also die Verschiedenheit des Standpunktes der Parteien in dem modernen Schulstreit auf ihre verschiedene Stellung zu der historischen Tradition zurückzuführen, und diese verschiedene Wertung kommt nun auch noch an einem anderen wesentlichen Punkte zutage, der in der Entwicklung des gemeinsamen Kulturlebens das bedeutsamste ausmacht. Denn wie vollzieht sich zuletzt alle jene Tradition? Was ist ihr wesentlichstes und bedeutsamstes Vehikel? Es ist zweifellos die Sprache. Sie ist die Grundform der Tradition, worin der Inhalt des Lebens von Generation zu Generation weitergegeben und zu neuer Fruchtbarkeit gestaltet wird. Darum ist die Stellung zur Sprache und zu ihrer Bedeutung im Unterricht notwendig auch ein Gegenstand des Streites zwischen historischem und naturwissenschaftlichem Denken geworden. Es ist höchst charakteristisch, wie schon Bacon in seiner Lehre von den Idolen, von den Täuschungen, mit denen die Wahrnehmung des Menschen bei seiner Auffassung der natür-
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lichen Wirklichkeit durchsetzt sei und von denen deshalb die wissenschaftliche Erfahrung in erster Linie gereinigt werden müsse, um »reine Erfahrung« zu werden, einen Hauptherd menschlicher Irrtümer in den Idola fori, in der Sprache gefunden hat. Der große englische Empirist hatte offenbar ein sicheres Gefühl dafür, daß der Bruch mit dem geschichtlichen Denken, den er sich vorgesetzt hatte, auch eine Abkehr von den sprachlichen Formen verlangte, in denen sich jener traditionelle Gedankengehalt mit lebendiger Wirksamkeit befestigt hat. Er hat das eine so wenig durchführen können wie das andere. Aber in den wissenschaftlichen Kreisen, welche unter seiner Einwirkung standen, hat von Hobbes an die Sprache es sich gefallen lassen müssen, wesentlich nur unter dem Zweckgesichtspunkte betrachtet zu werden, daß sie die Aufgabe habe, bestimmten Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen eine eindeutige Bezeichnung zu | geben. Nachdem schon Locke nicht ohne Abhängigkeit von den nominalistischen englischen Minoriten des späteren Mittelalters die antike Zeichentheorie der Sprache, die »Semeiotik«, erneuert hatte, ist in den naturwissenschaftlich denkenden Kreisen, insbesondere durch den französischen Positivisten Condillac die Neigung bestehen geblieben, die Sprache nach Analogie des mathematischen Formelsystems zu behandeln. In diesem Vorbilde können in der Tat die einzelnen Zeichen eindeutig für die Inhalte und deren Beziehungen festgesetzt werden. Aber es ist klar, daß eine solche künstlich gebildete Zeichensprache immer nur zum Ausdruck eines abstrakten Denkens geeignet ist, daß es sich bei ihr nicht um unmittelbare Erlebnisse, sondern um begriffliche Präparate handelt, die dem analysierenden Nachdenken über das Erlebnis entspringen und eine Auswahl aus dessen Inhalt vollziehen und fixieren. Mit solchen Zeichen kann man eben wegen dieser ihrer willkürlich bestimmten Eindeutigkeit »rechnen«, und das ist daher die Grenze, welche durch die Natur der Sache einer jeden künstlichen Sprache, die erfunden und konventionell angenommen werden kann, unausweichlich gesetzt ist. Aber eine lebendige Sprache ist etwas ganz anderes: sie ist ein unsäglich viel verwickelteres, aber damit eben auch dem seelischen Leben in ganz anderem Maße entsprechendes Gebilde. Eine le-
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bendige Sprache sagt niemals vollständig den gesamten seelischen Inhalt aus, den sie wiedergeben und anregen soll. Es ist völlig ausgeschlossen, daß sie die ganze Feinheit gedanklicher Beziehungen oder mitschwingender Gefühle, welche sie andeutet und in der Nachschwingung hervorruft, mit ihren lautlichen Elementen und Formen wirklich und eindeutig im einzelnen bezeichnete: vielmehr hat die lebendige Sprache in der Biegsamkeit ihrer Beziehungsformen, in der unglaublichen Vielgestaltigkeit ihrer Wendungen | und Abschattierungen die wunderbare Fähigkeit, eine Menge von seelischen Inhalten und Verhältnissen, die sie garnicht unmittelbar aussagt, in dem verstehenden Hörer anzuschlagen und durch ihre Andeutung zu entwickeln, aus ihm zu entbinden. Denn dies ist das große Geheimnis des sprachlichen Lebens, daß wir an dem lebendigen Worte viel mehr seelisch Wirkliches im Hören erleben, als in den bloß lautlichen Zeichen als solchen jemals bedeutet sein kann. Die Sprache ist mit ihrem kolossalen Reichtum des ursprünglichen Lebens in der Lage, demselben Gedanken vielfach variierende und in weiten Abständen unter sich abgetönte Ausdrücke zu geben; anderseits wendet sie auch wieder in ihrer Ökonomie häufig denselben Ausdruck, dasselbe Wort oder dieselbe Beziehungsform für verschiedene gedankliche Inhalte und Verhältnisse an, und sie überläßt es – gerade das ist das wunderbare Geheimnis ihrer Leistung – dem, der sie hört, das Gemeinte in jedem Falle richtig aufzufassen. Gestatten Sie mir, dafür nur aus einem der mir zunächst liegenden Gebiete, aus der Logik, zwei Beispiele anzuführen. Wenn wir aussprechen wollen, daß ein Begriff als Artbegriff unter einen anderen gehöre, so können wir das urteilsmäßig in einer Fülle verschiedener Formen aussprechen: das Quadrat ist ein Viereck, einige Vierecke sind Quadrate, ein Viereck kann ein Quadrat sein. Der sachliche Inhalt, den wir dabei denken, ist immer derselbe: die nuancierten Formen, worin wir ihn ausdrücken, bezeichnet die formale Logik als kategorisches, als partikulares, als problematisches Urteil, und die Theorie wundert sich dann wohl darüber, daß diese so verschiedenen Formen »äquipollent« sind, d. h. dasselbe bedeuten. Oder zweitens: in zahlreichen Sätzen
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erfolgt die typische Verbindung des Subjekts mit dem Prädikat durch die Kopula, durch das ganz blasse und an sich bedeutungslose »Sein«. Diese | sprachliche Verknüpfung deckt eine große Menge von Beziehungen, von denen dabei in jedem einzelnen Falle nur eine gemeint ist und vom Hörer gedacht werden soll. Einmal ist es das Verhältnis eines Dinges zu einer Eigenschaft (Zucker ist süß), ein anderes Mal das einer Art zu ihrer Gattung (die Rose ist eine Blume) u. s. f. Zahlreiche, wie der Philosoph sagt, kategoriale Verhältnisse, die zwischen Subjekt und Prädikat denkbar sind, werden in dieser sprachlichen Form des Satzes nicht etwa wirklich ausgedrückt, sondern vielmehr mit derselben Kopula nur angedeutet: und das Geheimnis des Sprachlebens ist nun eben dieses, daß jeder, der in der lebendigen Sprache steht, mit vollkommener Sicherheit jedesmal versteht, welche der Beziehungen er mitzudenken hat. Nur die Logiker sind es gewesen, welche sich von diesem lebendigen Wesen der Sprache entfernt haben, wenn sie manchmal meinten, die von der Kopula bedeutete Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat unter allen Umständen als dieselbe, z. B. als die der Subsumtion auffassen zu dürfen. Dieser vieldeutige Reichtum der lebendigen Sprache ist durchaus kein Mangel, sondern vielmehr ihr wesentlicher Vorzug. Nicht künstlich abstrahierte Teile, sondern das organische Ganze des seelischen Daseins geht auf geheimnisvollem Wege im Sprechen und Hören von einer Seele auf die andere über: und diese Fülle der Ausdrucksformen und der andeutenden Bezeichnungen, die jede Sprache in ihrer eigenen Weise ausgeprägt hat, ist nun der letzte Grund dafür, daß das Wechselspiel der Sprachen einen so unendlichen Reichtum des geistigen Lebens hervorzubringen geeignet ist. Deshalb genügt es nicht, die Schätze des Inneren durch die eine Sprache, worin der Mensch von Natur aufwächst, zu entfalten, sondern die volle Lebendigkeit dieses inneren Wachstums wird erst durch die Berührung und den Austausch der Sprachen gefördert. Bei jedem Lernen einer fremden Sprache, deren | Eigenart zu verstehen wir uns mühen müssen, bei jeder Übersetzung, die uns nötigt, darüber nachzudenken, wie die feinen gedanklichen Beziehungen sich in der einen Sprache mit so ganz anderen
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Andeutungen darstellen als in der unsrigen, werden die Kräfte der Innerlichkeit zu neuer Betätigung und zu höherer Entwicklung entbunden. Wir wachsen damit hinein in die geistige Arbeit von Jahrhunderten und Jahrtausenden, die sich in diesen Formen niedergelegt hat, ohne darin zu erstarren, die vielmehr ihr eigenes Leben in uns neu lebendig werden läßt. Wenn wir es für die Aufgabe aller Erziehung und allen Unterrichtes halten, aus dem natürlichen Menschen den geschichtlichen zu machen, so gibt es dafür gar kein anderes Mittel, als ihn zunächst mit dem eigenen Volke und dann mit den anderen Völkern, vor allem mit den Völkern der entscheidenden Kulturentwicklung reden und dadurch sie verstehen zu lehren. Es ist deshalb schwer begreiflich, daß in dem Schulstreite sogar die extreme Meinung hat verfochten werden können, welche jeden Bildungswert des sprachlichen Unterrichtes leugnet. Es ist denkbar, daß es Menschen gibt, die von diesem Unterricht wenig haben; von allem Unterricht gilt ja das Wort: Wer da hat, dem wird gegeben; aber daß einer rein gar nichts vom Lernen der Sprachen davongetragen haben sollte, das muß auf einer großen Selbsttäuschung beruhen. Wenn es hochstehende Männer der Wissenschaft gibt, die das behaupten, so erkläre ich es mir aus einer wohlbekannten Erfahrung. Man erlebt es oft, daß Schüler und gerade begabte Schüler die Schule mit der Überzeugung verlassen, sie hätten nichts darin gelernt. Gerade die Erzeugung des Erkenntnistriebes, welche das beste Ergebnis der Schule ist, bringt diese Täuschung zuwege: und wenn wir sie in einem gewissen Sinne alle durchgemacht haben, so ist es uns hinterher, wenn auch vielleicht spät erst deutlich geworden, | was wir der Schule eigentlich verdanken. Gerade so erwächst uns aus der Fülle der historischen Bildung, die sich an der Hand des sprachlichen Unterrichtes erzeugt, ohne daß wir es beim Lernen selber unmittelbar merken, jener Drang nach Klarheit der Einsichten und nach sicherer Ausprägung ihrer äußeren Form, der zu den wesentlichen Merkmalen des wissenschaftlichen Geistes gerade auch in der Naturforschung gehört. Aus allen diesen Gründen darf unser Bildungssystem, wenn es nicht von seinen historischen Wurzeln abgeschnitten und dem Ver-
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dorren preisgegeben werden soll, weder den Charakter der sprachlichen Erziehung überhaupt verlieren noch auf das unmittelbare Einleben in den Geist der antiken Kulturvölker verzichten: keine Rücksicht auf utilistische Aufgaben der Gegenwart darf dazu führen, in der Ökonomie des Unterrichtes diesen seinen eisernen Bestand aufzugeben. Wenn es durchaus nicht anders angeht, als daß man mit Rücksicht auf das Übergewicht technischer Interessen auf eine der beiden alten Sprachen verzichtet, da ist in der Tat die Wahl zwischen beiden schwer. Bei mir persönlich würde sie für die Beibehaltung des Griechischen ausfallen. Irrelevant schiene mir dabei die manchmal hervorgehobene Rücksicht auf das Verständnis der wissenschaftlichen Terminologie: es setzt auch in den Naturwissenschaften, z. B. in Chemie, Biologie, Anatomie, das Griechische mindestens in demselben Umfange voraus wie das Lateinische. Für das Letztere spräche ja zweifellos der Gesichtspunkt, daß es den leichteren Zugang zum Erlernen moderner Sprachen, des Italienischen und Spanischen, des Französischen und Englischen und daß es andererseits das Einleben in das römische Recht gewährt. Aber für das Griechische spricht nicht nur, wie oft hervorgehoben, der größere Kulturgehalt seiner Literatur, sondern vor allem der unvergleichliche Vorzug der Sprache als solcher. Denn in der Tat kann sich im ganzen | Umkreise der geschichtlichen Menschheit keine Sprache an geistiger Modulationsfähigkeit, an Feinheit und Mannigfaltigkeit der Beziehungsformen, an durchgearbeitetem und gegliedertem Reichtum der Ausdrucksweise mit der griechischen messen. Aber das ist, wie gesagt, eine Privatmeinung, deren Durchführung wohl auf die größten praktischen Schwierigkeiten und Widerstände stoßen würde und auf die ich in diesem Zusammenhange kein besonderes Gewicht gelegt haben möchte. Viel bedeutsamer sind andere Fragen, welche überhaupt das Maß betreffen, worin die einzelnen Individuen und Klassen an diesen wertvollsten Bestandteilen unseres Kulturlebens Anteil zu behalten genötigt werden sollen. Selten ist ja der Radikalismus der Neuerer so weit vorgegangen, die humanistische Bildung aus unserem Geistesleben überhaupt ausrotten zu wollen; aber der Gedanke ist doch,
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wenn auch nur vereinzelt, ausgesprochen worden, die sprachlichen und historischen Studien des klassischen Altertums in derselben Weise wie andere wissenschaftliche Spezialgebiete auf die Universität zu verweisen: oder es ist wenigstens verlangt worden, die humanistische Bildung auf den Mittelschulen auch nur für solche obligatorisch zn machen, die sie für ihren späteren Beruf und ihr akademisches Studium in dem Sinne brauchen wie etwa Philologen und Theologen. Gerade diejenigen, die für ihre Fächer die humanistische Vorbildung als nicht erforderlich und gar als hemmend ansehen, meinen wohl, man solle sie für die entsprechenden Berufe und Studien, aber auch nur für diese, ruhig weiter bestehen lassen. Diese Meinung halte ich für außerordentlich unrichtig. Ihre Ausführung würde den Humanismus, der ein unverlierbares Gut unserer Gesamtkultur ist und bleiben soll, auf eine kleine Schicht des Volkes, auf eine gelehrte Kaste beschränken und ihn damit doch schließlich zum Verdorren verurteilen. Er kann seine Bedeutung | nur bewahren, wenn er von den Kreisen aus, die zu seiner besonderen Pflege berufen sind, in stetigen lebendigen Beziehungen zu den übrigen Berufskreisen und Bildungsschichten wirksam bleibt. Auch diese schwierige Frage erlauben Sie mir unter das Licht einer allgemeinen Betrachtung zu rücken. Wir sind aus den einfacheren Verhältnissen des Altertums – und zum Teil auch noch des Mittelalters – längst zu Zuständen herangewachsen, worin das, was wir die gemeinsame und einheitliche Kultur eines Volkes oder einer Zeit nennen, in keinem individuellen Geiste und auch in keinem einzelnen Verbande mehr vollständig und bis in alle seine Bestandteile hinein gleichmäßig als bewußter Besitz vorhanden sein kann. Unsere Kultureinheit, unsere geistige Gemeinschaft ist ein Ideal, das in keinem einzelnen tatsächlich wirklich ist oder verwirklicht werden kann. Es ist keine aktuelle, sondern eine potenzielle, keine substantielle, sondern eine funktionelle Einheit: und ich weiß, um die Art, wie die Kultur als seelische Wirklichkeit vorhanden ist, einigermaßen anschaulich zu machen, nichts Besseres als den Vergleich mit der monadologischen Weltansicht, die Leibniz begründet hat. Sie lehrt uns, die Welt so zu denken,
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daß derselbe Lebensinhalt des Universums in allen substantiellen Wesen, den seelenhaften Monaden, gleichmäßig enthalten sei: aber so, daß in jeder einzelnen Monade immer nur ein mehr oder minder beschränkter Teil dieses gemeinsamen Lebensinhaltes mit Klarheit und Deutlichkeit zum Bewußtsein kommt, während das übrige in mannigfachen Abstufungen nur halbbewußt oder unbewußt dazu gehört. So stellen sie alle dasselbe vor und doch jede in einer eigenen Gestalt. Genau so hat jeder Einzelne von uns aus unserem gemeinsamen Kulturleben nur einen umgrenzten Teil in bewußtem Besitz, anderes halbbewußt, noch anderes unbewußt. Selbst die großen typischen Individuen, von denen wir|etwa sagen, daß in ihrer Persönlichkeit sich ihr Volk, ihre Zeit in nuce darstelle, ein Goethe, ein Bismarck, sind davon nicht ausgenommen; auch in ihnen findet das Leben der Gesamtheit nur streckenweise seine klare und deutliche Bewußtseinsform, während das übrige nur in engeren oder lockeren Zusammenhängen damit unter der Schwelle des Bewußtseins verbunden sein kann. In diesem Verhältnis stehen zum kulturellen Gesamtleben notwendig auch die einzelnen Bildungsschichten, die durch die ökonomische und berufliche Differenzierung des sozialen Körpers bedingt sind. Aber zwischen diesen unvermeidlichen Sonderungen würde die Einheit der Kultur verloren gehen und zu einem wesenlosen Namen werden, wenn nicht fortwährend die intimsten Lebensbeziehungen zwischen allen Kreisen der so gegliederten Gemeinschaft bestünden, wenn nicht nach dem Gesetz der Kontinuität, wie es Leibniz formulierte, die Bestandteile des geistigen Gemeinlebens von Stufe zu Stufe miteinander zusammenhingen. Deshalb würde jede Bildungsweise, die für eine bestimmte soziale Schicht in erster Linie bestimmt ist, notwendig in sich verkümmern, wenn sie auf diese Schicht beschränkt bliebe und nicht wenigstens mit einigen ihrer Bestandteile auch in die übrigen Schichten hineinragte. Es ist gewiß unmöglich, eine solche Bildungsweise wie die humanistische allen Schichten der Bevölkerung in gleicher Weise zuzuführen; das hat man für sie niemals verlangt und kann es für sie so wenig tun, wie für irgendeine andere Bildungsweise. Aber jede solche Bildungsart kann ein lebendiger und wirksamer Bestandteil des
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Gesamtlebens eben nur dadurch bleiben, daß sie, wenn auch in abgestufter Ausdehnung einer großen Anzahl von Berufssphären und Bildungsschichten gemeinsam bleibt. Deshalb darf eine unter dem Gesichtspunkte der geistigen Kulturgemeinschaft der Nation entworfene Organisation des Unterrichtes keines der Bildungsmomente | völlig isolieren, und so darf auch die große traditionelle Grundlage, die wir für unsere Kultur in der humanistischen Bildung besitzen, nicht auf die beschränkt werden, die unmittelbar die Aufgabe haben, sie in gelehrter Arbeit aufrecht zu erhalten, sondern sie muß auch für den ganzen Umkreis der übrigen mit abgestufter Energie lebendig und flüssig erhalten werden. Deshalb dürfen die beiden großen Hauptmassen unserer Bildungsformen, die historische und die naturwissenschaftliche, sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern sie müssen mit ihrer Zurichtung für die verschiedenen praktischen Erziehungsziele sich zu einem abgestuften System von Verbindungsweisen anordnen, bei denen, je nach dem besonderen Zweck, das eine oder das andere Moment nur überwiegt. In dieser Weise hat das humanistische Gymnasium stets die Ergänzung seiner sprachlich-historischen Bildung durch die Mathematik im Auge gehabt, und aus einer so verknüpften Bildung sind dereinst Männer wie Helmholtz hervorgegangen, der als Schüler unter einem ebenso vorzüglichen Gräcisten, wie einem ausgezeichneten Mathematiker aufgewachsen ist. In derselben Weise aber sollte aus demselben Grunde auch eine auf das technische und naturwissenschaftliche Denken zugespitzte Bildung niemals der Ergänzung wenigstens durch eine der klassischen Sprachen entraten. Das ist um so mehr erforderlich, als aus unseren Mittelschulen nicht nur die Männer aller sonstigen Berufe und damit die Väter der zukünftigen Schüler, sondern auch die zukünftigen Lehrer selbst hervorgehen sollen. Gerade zwischen ihnen muß als die Grundlage des Verständnisses, das für die gemeinsame Arbeit erforderlich ist, auch ein möglichst breites Maß gemeinsamer Bildung aufrecht erhalten werden, und dazu muß immerdar das wichtigste traditionelle Moment unseres gesamten Geisteslebens, das humanistische, gehören. Dasselbe Prinzip gilt aber deshalb |
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auch für die Hochschulausbildung der Mittelschullehrer. Es wäre auf das tiefste zu bedauern, wenn die in Deutschland bestehende Bewegung zu ihrem Ziele führte, welche die Lehrer der mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächer ihre Vorbildung nur an den technischen Hochschulen suchen lassen will. Wir würden damit zwei verschiedenartige Schichten des Lehrertums bekommen und damit wieder ein Stück von der lebendigen Einheit unseres geistigen Lebens aufgeben. Wollen wir so, daß die humanistische Bildung durch wirksame Beziehungen zu verschiedenen Formen der Berufserziehung ein lebenskräftiger Bestandteil unserer Gesamtkultur bleiben soll, so müssen wir anderseits auch alles dafür tun, daß diese humanistische Bildung sich nicht selber isoliere, sondern daß sie mit der Ausgestaltung ihrer Unterrichtsmethoden, mit der Auffassung, mit der auswählenden Gestaltung ihres Stoffes sich den Forderungen des heutigen Lebens anpasse. Nur so können wir hoffen, aber so wollen wir auch hoffen, daß es schließlich gelingen möge, uns allen – im Deutschen Reiche wie in Österreich – diesen höchsten Schatz zu bewahren, auf daß er uns erhalten bleibe als die gemeinsame Grundlage unserer deutschen Kultur, über alle politischen Grenzen hinweg unser Stolz, unsere gemeinsame Ehre! |
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laton hat einmal gesagt, den einzig sicheren Lebensgrund eines Gemeinwesens bilde es, wenn alle seine Teilnehmer zu demselben ja und zu demselben nein sagen. Er faßt dabei das bejahende oder verneinende Urteil ebenso im praktischen wie im theoretischen Sinne, er meint die Einheit der Überzeugung, die sich ebenso im Werten wie im Vorstellen, in der Absicht wie in der Ansicht darstellen soll. Der große griechische Denker hat aber auch aus dieser Lehre die richtige Konsequenz gezogen: die Verwirklichung dieses Ideals setzt eine geringe Ausdehnung des Gemeinwesens voraus; er hat dabei den antiken Stadtstaat im Auge, auf den sich auch sonst sein politisch-soziales Ideal einschränkt. Er denkt an einen verhältnismäßig kleinen Bestand des Bürgertums, in welchem der einzelne nur zu den eigentlich technischen Arbeiten des Handwerkes oder des Landbaues besonderer Kenntnisse bedarf, im übrigen aber der geistige Lebensinhalt mit demokratischer Gleichheit für alle derselbe sein kann. Solche soziale Lebensformen hat die geschichtliche Menschheit längst ausgewachsen, sie hat sich in großen historischen und nationalen Komplexen entwickelt, die eine Fülle von mannigfachen Gestaltungen in sich zusammenfassen. Damit ist eine gewaltige Differenzierung der Bildungskreise für die einzelnen Berufe und Stände, eine weit auseinandergehende Entwicklung der Kenntnisse, der Interessen und der Wertungsformen erwachsen, und die Gesamtheit des geistigen Lebens hat intensiv eine Höhe | erreicht, welche die Vereinigung ihrer Inhalte und ihrer Betätigungsformen in dem Individuum unmöglich macht. Das, was wir im ganzen heute die Kultur einer Zeit, eines Volkes nennen, ist tatsächlich, wenn wir auf seine bewußte Existenz in den Gliedern der Gemeinschaft schauen, auf die verschiedenen sozialen Schichten zersplittert; jede davon hat in ihrem Wissen und ihren Interessen immer nur einen
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Teil des Ganzen, und wie die technischen Fertigkeiten, so sind auch die Künste und die Wissenschaften in einem fortschreitenden Prozeß der Besonderung begriffen, der bei der Lebhaftigkeit des Kampfes ums Dasein in immer stärkerem Maße dem einzelnen in seiner ganzen Bildung und Lebensbewegung die Beschränkung auf einen immer enger werdenden Teil des geistigen Gesamtlebens auferlegt. Und so stark ist die Gewöhnung an diesen Vorgang geworden, daß er den meisten als selbstverständlich gilt und daß einem großen Teile unserer Zeitgenossen selbst schon das Bedürfnis, über ihren Interessenkreis hinaus an dem Leben des Ganzen teilzunehmen, verloren gegangen ist. Wo bleibt da die Einheit unserer Kultur? Ist sie nur noch ein Sammelname, dem keine reale Konzentration, keine wirkliche lebendige seelische Einheit mehr entspricht, ein Kollektivname, der höchstens ein synthetisches Ideal, aber keine irgendwo tatsächlich bestehende Realität bedeutet? Denn wir werden nicht die phantastische Meinung von einer übergreifenden Substanz des »Volksgeistes« oder »Zeitgeistes« uns aneignen wollen, der den Träger und das einheitliche Bewußtsein für alle diese auf die verschiedenen Bildungsschichten verteilten geistigen Lebensformen und Lebensinhalte ausmachen sollte. Wir müssen uns in der Tat darauf einrichten, daß eine einheitliche Zusammenfassung des gesamten Kulturgehaltes in einem Bewußtsein nicht mehr möglich und deshalb erst recht eine einheitliche Gleichheit der Bildung | in allen Individuen durch unsere gegenwärtigen Zustände und für die absehbare Zukunft völlig ausgeschlossen ist. Der geistige Zustand unserer Kulturgemeinschaften muß vielmehr nach der Analogie der leibnizschen Monadenlehre aufgefaßt werden, wonach zwar in jedem Einzelwesen das gesamte Universum repräsentiert, aber dabei in jedem dieser gemeinsame Inhalt in einer besonderen und beschränkten Form verwirklicht sein sollte. Jedes einzelne Bewußtsein hat nur ein Stück, einen begrenzten Ausschnitt aus dem Gesamtbesitz zu seinem völlig klaren Eigentum; alles übrige bildet nur einen halbbewußten oder unbewußten Bestandteil seines inneren Lebens. In keinem einzigen aller der Sonderwesen, die eine solche geisti-
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ge Gesamtheit konstituieren, ist deren gemeinsamer Inhalt völlig verwirklicht; auch die großen Individuen bedeuten doch nicht ein vollständiges Inventar, sondern nur eine eigenartige Zusammenfassung des Wertvollsten aus dem geistigen Gesamtzustand, den sie für uns vertreten. Für das durchschnittliche Bildungsleben aber gilt durchaus die Zerstückelung der Gesamtkultur in die einzelnen Bildungsschichten, die einerseits durch die soziale Gliederung der Gesellschaft bedingt und andererseits durch die beruflichen Aufgaben bestimmt sind. Was dabei an theoretischem Wissensinhalt allen gemeinsam sein kann, ist und bleibt dem großen Umfang der Fachbildung gegenüber äußerst gering: es beschränkt sich der Natur der Sache nach auf das Elementare und Formale. Alle höheren Betätigungsformen des Intellekts und alle wertvolleren Inhalte des Wissens, gerade die Blüten des Kulturlebens, sind durch die Eigenart der einzelnen Bildungsschichten differenziert und stehen gesondert nebeneinander. Daher würde auch die sogenannte Einheitsschule diese schweren Probleme, die aus der Zersplitterung der Kultureinheit erwachsen, nicht einmal für die höheren Berufsbildungen zu lösen imstande sein. | Was sie in den unteren Klassen allen gleichmäßig böte, wäre die unerläßliche, meist formale und sachlich indifferente Vorbereitung: in den höheren Klassen aber ließe auch sie gerade die verschiedenen Bildungsschichten mit ihren bedeutsamen Methoden und mit ihren wertvollen Inhalten auseinandergehen. Wir müssen mit dieser formalen und sachlichen Scheidung der Bildungsschichten, mit diesem Auseinandergehen unseres geistigen Gesamtlebens als mit einer unabänderlichen Tatsache rechnen, und wir können deshalb die Einheit der Kultur, die doch ein ebenso unabweisbares Ideal bleiben muß, nicht etwa in einer Zusammenfassung des Wertvollsten aus allen Sphären, sondern immer nur in den lebendigen Beziehungen suchen, in denen diese verschiedenen Bildungsschichten mit ihren Denkformen und ihren Wissensgehalten zueinander bleiben müssen. Jede solche Bildungsschicht würde in sich verkümmern, sobald sie isoliert und aus dem Kontakt mit den übrigen gelöst würde: alle zusammen bilden sie eine Einheit, nicht mehr in einem einzigen, sie alle umspannen-
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den Bewußtsein, sondern nur in der stetigen Lebensgemeinschaft, worin sie mit ihrer Entwicklung und praktischen Betätigung zueinander stehen. So hat, um nur von den höheren Bildungskreisen zu reden, das humanistische Gymnasium stets zur Ergänzung der sprachlich-historischen Bildung das mathematische Denken gepflegt. So wird andererseits eine vorwiegend realistische Bildung niemals die Ergänzung durch die sprachlich-historische abstreifen dürfen, und es wird dabei nicht sowohl der utilistische Gesichtspunkt unmittelbarer praktischer Verwendbarkeit als vielmehr die Aufgabe maßgebend sein, daß alle die verschiedenen Bildungsschichten des gesellschaftlichen Ganzen so ineinandergreifen und so viele Gemeinsamkeiten bewahren müssen, daß eine gegenseitige Verständigung zwischen ihnen möglich bleibt. | Aber das Maß der Gemeinsamkeit im Vorstellen und Wissen wird bei der breiten Mannigfaltigkeit und der großen sozialen Abstufung der Bildungsschichten immer äußerst gering bleiben, und auch die große Ausbreitung der sogenannten allgemeinen Bildung, die gerade heutzutage in allen Volkskreisen angestrebt wird, kann doch das Ideal einer intellektuellen Kultureinheit, einer Ausgleichung jener verschiedenen Bildungsschichten niemals verwirklichen. Begreiflich ist es daher, daß das Bedürfnis nach Kultureinheit sich eher auf dem Gebiete des Wertens, als auf dem des Wissens, eher in der Gemeinsamkeit des Wollens, als in der der Erkenntnis erfüllen zu können meint: und vielleicht ist das ein Grundmotiv in der Richtung, welche die Reformen des Bildungswesens in unseren Tagen vielfach eingeschlagen haben. Man meint die Einheit des Lebens besser im Willen als im Verstande gewinnen zu können. Solche Einheit der Überzeugung und des Wertlebens über alle Verschiedenheiten der intellektuellen Bildung hinaus haben wohl frühere Zeiten der Religion verdankt, die gerade dadurch der wesentliche Halt der Kultureinheit war, daß sie für alle Stände und Berufe, für den Reichen und den Armen, für den Gebildeten und den Ungebildeten, denselben letzten und höchsten Wertinhalt des Lebens zu gewähren wußte. Aber die ungebrochene Einheit dieses Überzeugungslebens ist uns seit Jahrhunderten verloren gegangen, und deshalb ist unsere Religion angesichts der heutigen Verhältnis-
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se nicht mehr in der Lage, die Verschiedenheit der Bildungsschichten ausgleichend zu überwinden. Das mag man beklagen, aber man kann es nicht leugnen und zunächst nicht ändern. Das achtzehnte Jahrhundert, das große vernunftgewaltige Zeitalter, war allerdings auf dem Wege, über den Verschiedenheiten des intellektuellen Lebens eine neue Überzeugungseinheit für die Menschheit zu gewinnen; aber | in den rückläufigen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts hat das religiöse Leben selbst durch die Neuverschärfung und Zuspitzung der konfessionellen Gegensätze sich zu einem Moment der Zersplitterung für die Kultur gemacht. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, daß es diese Phase noch einmal überwinden und seiner großen Kulturaufgabe der Einigung und Verständigung wieder gerecht werden möge: aber in seinem gegenwärtigen, von Hader und Zwietracht zerrissenen Zustand ist es nicht berufen, die intellektuellen Verschiedenheiten und Gegensätze der Zeit durch ein übergreifendes Wertleben auszugleichen. So bleibt für die heutigen Zustände nur übrig, darauf zu vertrauen, daß trotz aller Verschiedenheit ihrer religiösen Ausprägung die sittlichen Wertinhalte unseres Volkswesens sich als ein Band kultureller Einigung kräftig genug erhalten und erweisen werden. Aber diese ethischen Momente – etwa gar als eine besondere Lehre – für sich isolieren und damit vielleicht einen letzten Rest von Kulturgemeinschaft, der intellektuellen Zersplitterung gegenüber, herauspräparieren zu wollen (es fehlt nicht an Versuchen und Vorschlägen dazu), ist doch nicht der Weg zur Lösung des schweren Problems. Denn nicht in der abstrakten Sonderung haben die sittlichen Mächte ihre Bedeutung als Ausdruck der inneren Kulturgemeinschaft, sondern vielmehr in den lebendigen Beziehungen, mit denen sie alle einzelnen Gestaltungen des sozialen Zusammenhanges, alle besonderen Sphären des Berufslebens und alle darin geltenden Überzeugungen durchdringen und befestigen. Ja, man darf sagen, daß die moralischen Wertungen erst dadurch lebendig und wirksam werden, daß sie sich in der Anpassung an die einzelnen Lebensformen, welche die Kulturentwicklung in ihrer ganzen Breite mit sich bringt, differenzieren und individualisieren. So besteht auch hier die Gemeinschaft der Bil|dungsschichten
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hinsichtlich ihrer ethischen Zusammengehörigkeit nicht in der abstrakten Formulierung allgemeiner, im begrifflichen Bewußtsein formulierter Maximen, sondern vielmehr in den verbindenden und ausgleichenden Beziehungen halbbewußter und unmittelbar geltender Gemeinsamkeiten. Die letzte Form des Wertlebens, die danach übrigbleibt, ist die ästhetische, und es ist begreiflich, daß wir in unseren Tagen zahlreiche Versuche erleben, das Bildungsproblem durch die Erziehung zur Kunst, zur künstlerischen Auffassung der Welt und des Lebens zu lösen. Denn wenn irgendwo, so können sich auf diesem Boden die mannigfachsten Arten der intellektuellen Ausbildung begegnen, und wenn die Musik als die speziell moderne Kunst gilt und gelten darf, so ist das im letzten Grunde vielleicht gerade darin begründet, daß die Eigenart ihrer Wirkung unter allen Künsten das geringste Maß spezifisch intellektueller Vorbereitung voraussetzt und deshalb für die verschiedensten Formen der theoretischen Bildung, für alle die nach Form und Inhalt theoretisch verschiedenen Bildungsschichten die gleiche Möglichkeit der Empfänglichkeit und des Verständnisses verspricht, wenn auch vielleicht nur zu versprechen scheint. Aber die größte Bedeutung für das einheitliche Bewußtsein des Kulturlebens wird doch unter allen Künsten immer der Poesie und der gesamten schönen Literatur beschieden sein. Sie ist recht eigentlich dasjenige Kulturprodukt, in welchem alle Bildungsschichten mit der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Interessen, ihrer Vorstellungsweisen, ihrer Wertgebilde und ihrer Charaktertypen zusammenkommen. Alle Arten des Vorstellens, des Fühlens und Wollens suchen hier ihre Vertretung, ihre künstlerische Gestaltung und den Ausdruck der Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen. Wie alle Lebensschichten überhaupt, so finden auch alle Bildungsschichten in der Literatur den Boden ihrer Ver|ständigung. Wenn die ganz großen Leistungen jenem Ideal des Romans gerecht werden, das dereinst die romantische Periode im Hinblick auf Goethes »Wilhelm Meister« umschrieb, nämlich ein Gesamtbild des Kulturlebens ihres Volkes und ihrer Zeit in den bewegten Gestalten der Individuen und der sich entwickelnden Charaktere darzubieten, so ist der letzte Sinn und Wert jedes einzelnen
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Literaturwerkes schließlich durch das Maß bestimmt, worin es in seiner Weise, mit der künstlerischen Formung seines begrenzteren Gegenstandes an jener Gesamtaufgabe der Literatur mitarbeitet. So dürfen wir sagen, daß, wenn irgendwo die zerstreuten Momente unserer durch die Mannigfaltigkeit der Gegenstände des Wissens und Wollens so weit auseinander getriebenen Kultur sich wenigstens noch zu einem gewissen Maße bewußter Einheit zusammenschließen sollen, dieses zunächst nur in der schönen Literatur möglich ist. Den Zugang zu ihr, zu ihrem Verständnis und zu ihrer liebevollen Aufnahme zu gewinnen, muß deshalb zu den vornehmsten Aufgaben aller besonderen Erziehungsweisen gehören. Jede Bildungsschicht muß für diesen zentralen Bestandteil unseres Kulturlebens gleichmäßig vorbereiten und darin ausmünden, das Bewußtsein der Bedeutung dieses Moments zu voller Lebendigkeit zu entwickeln. In den Schätzen unserer Literatur besitzen wir den intimen Zusammenhang mit dem traditionellen Grundwesen, mit der historischen Struktur unserer heutigen Bildung. Wer will die großen Leistungen unserer klassischen Literatur verstehen, der nicht zu dem innersten Wesen des griechischen Altertums eine persönliche Beziehung gewonnen hätte? Und andererseits, wer will dem vielgestaltigen Wesen der heutigen Literatur mit seinem Verständnis und seiner Wertung gerecht werden, der nicht mit dem Lebensinhalt der heutigen Zeit, mit den schweren Problemen ihres Fühlens und Begehrens vertraut wäre? | Erwägt man dies, so versteht man die hohe Verantwortlichkeit, die dem modernen Schriftsteller und allen Tätigkeitsformen, worin sich die Entwicklung der Literatur heute bewegt, durch unsere geistige Gesamtlage auferlegt wird. Auch für die Literatur aber trifft es zu, daß sie niemals für sich allein mehr Anspruch erheben kann, das volle Kulturbewußtsein ihrer Zeit in sich darzustellen: auch für sie bleibt es richtig, daß unsere Kultureinheit nicht mehr eine substantielle, sondern nur noch eine funktionelle ist, daß sie nur noch in den lebendigen Beziehungen gesucht werden kann, worin die verschiedenen Schichten des geistigen Lebens ihrer eigenen Natur und ihrem eigenen Bedürfnis nach miteinander stehen und stehen müssen. |
Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus
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an kann von einer Philosophie der Kultur in gar verschiedenem Sinne reden. Viele werden davon vielleicht die Aufstellung eines Ideals zukünftiger Kultur oder die Begründung einer allgemeingültigen Norm zur Beurteilung wirklicher Kulturzustände erwarten: alle namentlich, die sich haben einreden lassen, die Aufgabe des Philosophen sei, Werte nicht etwa zu suchen oder zu verstehen, sondern zu schaffen und zu befehlen, dürften geneigt sein, von der Philosophie einen Entwurf geforderter oder aufgegebener Kultur zu verlangen. Im Gegensatz dazu läßt sich die Kulturphilosophie auf das Verständnis der geschichtlich vorgefundenen oder gegebenen Kultur beschränken. Freilich wird das eine Philosophie nur dann sein, wenn die genetischen Untersuchungen psychologischer Analyse, soziologischer Vergleichung und historischer Entwicklung lediglich als Materialien für die Aufdeckung der Grundstruktur dienen, die alle kulturellen Tätigkeiten in dem zeitlosen, überempirischen Wesen der Vernunft selbst haben. Aber zwischen diesen beiden Arten von Kulturphilosophie spielen zahlreiche Vermittlungen. Das Zukunftsbild aufgegebener Kultur ist selbstverständlich in mehr oder minder bewußter Weise von der Auffassung der gegebenen Kultur abhängig: ja, diese Bestimmtheit ist | ungewollt um so entscheidender, je stärker der Kontrast ist, in den das Ideal zur Vergangenheit und zur Gegenwart treten soll; und schließlich muß doch immer die Frage sich einstellen, wie die Verwirklichung jenes Ideals aus den gegebenen Zuständen herausgearbeitet werden kann. Auf der andern Seite wird bei dem Gewinn des philosophischen Verständnisses der gegebenen Kultur der Ausblick auf ihre zukünftige Entwicklung nicht ausbleiben, gerade weil immer die gegenwärtige Kultur als
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etwas in geschichtlicher Bewegung Begriffenes über sich selbst hinausweist. Bei allen solchen Vermittlungen nun macht sich wiederum der Gegensatz des Aufgegebenen und des Gegebenen geltend: er hängt dabei an den prinzipiellen Verschiedenheiten der geschichtsphilosophischen Methode. Wer die historische Entwicklung nach Art der mathematischen und der begrifflichen Entwicklung behandelt, worin nach der Erkenntnis des Gesetzes der Reihe zu jedem Gliede das folgende muß konstruiert werden können, für den mag nach dem Gesetz des Fortschritts auch das Ziel als prinzipiell gegeben und bei richtiger Einsicht als vorauszusehen gelten. Wer dagegen das spezifische Wesen historischer Entwicklung gerade darin findet, daß sie in der fortschreitenden Gestaltung eines begrifflich nicht bestimmbaren, zeitlich tatsächlichen Geschehens besteht, für den sind aus dem Verständnis des Vergangenen und des Gegenwärtigen nur die Aufgaben zukünftiger Kultur herauszuarbeiten, und das Maß des Vertrauens in ihre dereinstige Verwirklichung kann in diesem Falle nicht mehr eine Sache der Erkenntnis, sondern nur der Überzeugung und der Weltanschauung sein. Es wäre nicht schwer, nach diesen Grundzügen und ihren Kombinationen die möglichen Grundtypen der Kulturphilosophie zu konstruieren und danach ihre Hauptvertreter von Rousseau und Condorcet bis zu unsern | Tagen zu charakterisieren. Aber es scheint mir wichtiger, auf das Gemeinsame aufmerksam zu machen, das sie alle erfüllen müssen, wenn sie wirklich eine Philosophie der Kultur, eine begriffliche Wissenschaft sein wollen. Gleichviel ob es sich um gegebene oder aufgegebene Kultur handelt, ihre Gründe müssen im innersten Wesen aller Vernunftbetätigung aufgezeigt werden. Denn philosophisches Verständnis beginnt erst hinter der psychologischen oder historischen Feststellung des tatsächlichen Bestandes und beantwortet die quaestio juris nach keinen anderen Gesichtspunkten als denen der immanenten sachlichen Notwendigkeit. Das aber ist und bleibt m. E. Kants kritische Methode, und die Grundauffassung, die sich daraus für das Verständnis aller Kulturfunktionen ergibt, ist der transzendentale Idealismus.
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In der Darstellung, die ich von der Geschichte der neueren Philosophie für die »Kultur der Gegenwart« (Bd. V S. 474 ff., 2. A. 521 ff.) gegeben habe, ist das System des Kritizismus als eine umfassende Kulturphilosophie charakterisiert: ich möchte besonders hervorheben, daß damit nicht Kants historische Problemstellung, sondern das Ergebnis seiner Lehre in ihrer Bedeutung für das heutige Geistesleben gekennzeichnet werden sollte. Es ist ja völlig unzweifelhaft, daß Kant bei seinen kritischen Analysen überall von der Frage ausgegangen ist, mit welchem Rechte in dem aus der Erfahrung erwachsenden individuellen Bewußtsein synthetische Urteile a priori, d. h. solche Vernunftfunktionen möglich sind, die allgemein und notwendig für alle Erfahrung gelten sollen: darin bestand das, was man später den subjektiven Charakter seines Idealismus genannt hat. Aber es ist ebenso unzweifelhaft, daß als Ergebnis der Kritik überall der Aufweis der Vernunftgründe für die großen Gebilde der Kultur heraussprang, aus der Kritik der reinen Vernunft die Grundstruktur der Wissenschaft, wie sie Kant vorfand und auf|faßte, aus der Kritik der praktischen Vernunft und der darauf gebauten Metaphysik der Sitten das Reich der Vernunftzwecke in Moral und Recht, aus der Kritik der Urteilskraft das Wesen der Kunst und der ästhetischen Lebensgestaltung: und erst nach all diesem konnte im Sinne der kritischen Methode gefragt werden, wieviel von jenen Kulturwerten aus bloßer Vernunft in der religiösen Lebensform der Gesellschaft enthalten sein könne. Dieser Weg Kants von der Problemstellung zum Ergebnis ist der Fortschritt der Philosophie vom 18. zum 19. Jahrhundert, von der Aufklärung zur Romantik gewesen. Es war sachlich der Fortschritt vom natürlichen zum geschichtlichen Menschen, methodisch die Vertauschung der Psychologie mit der Historie als dem Organon der Kritik. Es war derselbe Weg, den die Entwicklung der nachkantischen Philosophie von Fries zu Hegel beschrieben hat.1
1 Vgl. meine Heidelberger Akademie-Rede über die Erneuerung des Hegelianismus im ersten Bande dieser Sammlung S. 279 f.
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Was aber ist nun – darauf kommt es hier an – in diesem Übergange der springende Punkt gewesen? Es war Kants unsterbliche Leistung – die Entdeckung des synthetischen Bewußtseins. Seit der Kritik der reinen Vernunft ist es ein für allemal damit vorbei, daß ein gereiftes philosophisches Bewußtsein die Welt so als »gegeben« und in sich abgespiegelt denken dürfte, wie es dem naiven erscheint. In allem, was wir für gegeben erachten, steckt schon unsre Vernunftarbeit: und nur darauf beruht unser Erkenntnisrecht auf die Dinge, daß wir sie für uns erst schaffen. Daß wir die Welt, die wir erleben sollen, erst selbst uns zu eigen machen müssen, beruht darauf, daß wir immer nur eine Auswahl und diese immer nur in einem geordneten Zusammenhange erleben können, und daß die Prinzipien für die Auswahl wie für die | Ordnung nur in der Struktur unseres Bewußtseins selbst gesucht werden können. Die Welt, die wir erleben, ist unsre Tat. Das ist nun bis hierher noch keine hohe und neue Weisheit. Daß von der großen Welt nur ein kleiner Ausschnitt in das empirische Bewußtsein eingeht und daß sich dies in jedem Einzelnen nach der Vorgeschichte seines Erlebens in besonderer Weise formt, darüber hat man sich wohl von jeher allerlei Gedanken gemacht, und um das zu finden, brauchte Kant nicht zu kommen. Aber die weittragende Bedeutung seines kritischen Prinzips beruht doch auf einer im Grunde genommen erstaunlich einfachen Folgerung aus jener psychologischen Tatsächlichkeit. Wenn es danach überhaupt allgemeingültige und notwendige Urteile geben soll, wie sie tatsächlich die »Erfahrung« ausmachen, so ist das nur dadurch möglich, daß mitten in den empirischen Assoziationen und Apperzeptionen eine transzendentale Synthesis waltet, eine in den Sachen selbst begründete, von den Bewegungen des empirischen Bewußtseins unabhängige Zusammengehörigkeit der Elemente. Diese Zusammengehörigkeiten sind die Formen der »transzendentalen Apperzeption«, und die Lehre, daß es keine anderen Gegenstände gibt als die durch diese allgemeingültige Synthesis erzeugten, ist der transzendentale Idealismus. Es ist nicht nur für den Zweck dieser Untersuchung, sondern für den Fortbestand und die Fortentwicklung des transzenden-
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talen Idealismus unbedingt erforderlich, einerseits immer wieder einzuschärfen, daß der Kantische Begriff des »Bewußtseins überhaupt« weder im psychologischen noch im metaphysischen Sinne zu deuten, sondern lediglich auf die sachlichen Voraussetzungen allgemeingültiger Urteile zu beziehen ist, andrerseits aber über das Verhältnis der transzendentalen Apperzeption zu den menschlichen Vernunfttätigkeiten vollständige und eindeutige Klarheit zu schaffen. Bei Kant finden wir diese, | wenigstens dem Wortlaut nach, nicht sicher, und wir berühren damit die schwierigste Lebensfrage des Kritizismus. Denn es ist bekanntlich weit auseinander gehenden Deutungen unterlegen, ob und in welcher Ausdehnung jene apriorischen Formen der Vernunft durch das Wesen des Menschen bedingt sein sollen. In der theoretischen Philosophie hat Kant die in der Inauguraldissertation aufgestellte Lehre, Raum und Zeit seien die spezifisch menschlichen Anschauungsformen, dem wörtlichen Ausdruck nach bis zuletzt aufrechterhalten: und wie er ursprünglich gerade daraus psychologistisch ihre apriorische Geltung für alle »unsere« Erfahrung abgeleitet hatte, so begründete er auch in der Kritik der reinen Vernunft die Einschränkung der Kategorien auf »Erscheinungen« lediglich damit, daß für den Menschen die der kategorialen Synthesis unterliegende Mannigfaltigkeit nur in Raum und Zeit anschaulich gegeben sei: an sich sollten die Kategorien auch für andersartige Anschauungen gelten, wie denn auch andrerseits die Formen des analytischen Denkens von vornherein als vernunftgültig für jeden beliebigen Inhalt und für alles Denken überhaupt anerkannt werden mußten. Es bleibe dahingestellt, ob die Beziehung von Raum und Zeit auf »unser menschliches Anschauen« in dieser Weise aufrechterhaltbar ist, – ob Kant selbst in letzter Instanz mathematische Wahrheiten, die doch darauf beruhen sollen, auf diese anthropologische Basis hätte gründen wollen: sicher aber ist, daß die Deduktion der »Grundsätze« erst durch die Anwendung und zugleich Einschränkung der Kategorien auf die dem Menschen anschaulich in Raum und Zeit gegebene Mannigfaltigkeit die systematische Struktur der Wissenschaft, das Verständnis dieses Grundgebildes der theoretischen Kultur, zu gewinnen vermag.
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Ähnlich liegen die Verhältnisse in der praktischen Philosophie: nur geht Kants Darlegung hier den um|gekehrten Weg.2 Während er in der Analyse des Wissens von dem Anthropologischen, dem Empfinden und Anschauen, zum allgemein Vernünftigen, den Kategorien, aufsteigt, beginnt er (freilich nach der analytischen Vorbereitung in der »Grundlegung«) in der Kritik der praktischen Vernunft mit dem Gesetz des reinen Willens, das für »alle vernünftigen Wesen« gilt, gewinnt aber dann den Charakter dieses Gesetzes als des kategorischen Imperativs erst durch die Beziehung auf das sinnlich-übersinnliche Doppelwesen des Menschen und gar die Entwicklung der einzelnen Pflichten in der Metaphysik der Sitten erst durch die Beziehung jenes Grundgebots auf die empirischen Verhältnisse des individuellen oder gesellschaftlichen Menschenlebens. Auch hier also wird die Struktur der großen Kulturgebilde, der Sittlichkeit und des Rechts, aus dem Hereinragen einer übergreifenden allgemeinen Vernunftwelt in das menschliche Vernunftleben begriffen. Aus diesen Verhältnissen, deren Richtigkeit sich im Prinzip, soweit ich sehe, nicht bestreiten lassen wird, ergibt sich nun für die Transzendentalphilosophie ein klar bestimmtes methodisches Prinzip: es kommt darauf hinaus, nach der Aufdeckung der allgemeingültigen Voraussetzungen der Vernunfttätigkeiten, auf denen alles, was wir Kultur nennen, schließlich beruht, mit sachlicher Analyse festzustellen, was davon durch die spezifisch menschlichen, im weitesten Sinne empirischen Bedingungen bestimmt ist, und so den Rest herauszupräparieren, der in allgemeinen und übergreifenden Vernunftnotwendigkeiten begründet ist. Dies absolute Apriori ist das schlechtweg an sich Geltende in dem Lotzeschen Sinne des ὄντως ὄν: sobald es in das empirische Bewußtsein eintritt, bekommt es nicht nur die Färbung, daß es zur Norm für eine | erkennen, handeln, gestalten wollende Funktion wird, sondern auch die Spezifikation, die von der Bestimmtheit des empirischen Bewußtseins abhängt, und auch diese Spezifikation steigt von der 2 Vgl. hierzu die Abhandlung von Arn[old] Ruge, Die Deduktion der praktischen und der moralischen Freiheit, Heidelberg 1910.
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gattungsmäßigen zu der räumlich und zeitlich individualisierten Formung in kontinuierlicher Abfolge herab. In der letzteren Form erleben wir als Individuen alles, was von der Weltvernunft in unser endliches Bewußtsein eintritt, und von ihr aus müssen wir schrittweise durch aufsteigenden Ausschluß das allgemein Geltende zurückzugewinnen suchen. Es sei erlaubt, diese Verhältnisse an einer vielumstrittenen Frage der Logik zu erläutern. Es scheint mir einleuchtend, daß für ein absolutes, nur wahres und (im Sinne Spinozas) adäquates Denken die Verneinung (in der Bedeutung der Urteilsqualität) keinen Sinn hat; unter den konstitutiven Kategorien, den realen Beziehungen der Gegenstände suchen wir die Negation vergeblich. Aber sobald wir in die Sphäre des erkennenwollenden und deshalb irrensfähigen Denkens eintreten, gewinnt die Verneinung und ihr Verhältnis zur Bejahung die wesentlichste Bedeutung, und große Strecken der logischen Gesetzmäßigkeit erweisen sich in der bekannten Weise dadurch bedingt. Allein dieser ganze Umkreis gilt für jedes endliche, in der Bewegung befindliche Bewußtsein und zeigt noch gar keine Abhängigkeit von den Besonderheiten des menschlichen Denkens. Zu diesen gelangen wir erst, wenn es sich um gewisse sprachliche Formen der Verneinung handelt, um den Ausdruck der Unterscheidung (A ist nicht B), und das exklusive Urteil (kein S ist P) oder um den sog. negativen Begriff (Non-A) usw. Ohne die prinzipielle Scheidung dieser Bedeutungssphären gerät die Theorie der Negation in ein unentwirrbares Netz von Unbegreiflichkeiten. – Allein mit diesen Andeutungen über die methodische Ausführung des Prinzips der Transzendentalphilosophie | habe ich schon z. T. dem Aufweis der intimen Verwandtschaft vorgegriffen, die zwischen ihm und dem Problem der Kulturphilosophie besteht. Denn unter Kultur verstehen wir schließlich doch nichts anderes, als die Gesamtheit dessen, was das menschliche Bewußtsein vermöge seiner vernünftigen Bestimmtheit aus dem Gegebenen herausarbeitet: und den Springpunkt der Transzendentalphilosophie bildete Kants Einsicht, daß schon in dem, was wir als gegeben hinzunehmen gewöhnt sind, sobald es als allgemeingültige Erfahrung sich darstellt, eine Synthesis nach den Gesetzen des
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»Bewußtseins überhaupt«, nach übergreifenden, sachlich gültigen Vernunftformen vorliegt. Diese Einsicht gewann Kant an der Kritik der Wissenschaft, die ihm bei seinem metaphysischen Bedürfnis zunächst am Herzen lag; er baute darauf die Ablehnung der dogmatischen Metaphysik und die Begründung der Metaphysik der Erscheinungen in der Gestalt der »reinen Naturwissenschaft«: und das Prinzip, mit dem er zeigte, welches Wissen unmöglich und welches möglich ist, erweist sich als die dauernde Grundlage aller Erkenntnistheorie, indem es auch die einzelnen Wissenschaften in dem Sinne gegeneinander methodisch abzugrenzen erlaubt, wie sie ihre Gegenstände nach gesonderten Prinzipien der Auswahl und der Ordnung erzeugen. Diese Vernunfttätigkeit aber, die als Wissenschaft eine Neuschöpfung der Welt aus dem Gesetz des Intellekts bedeutet, ist von genau derselben Struktur, wie alles praktische und ästhetische Verhalten des Kulturmenschen. Darum liegt hier die sachliche Einheit des transzendentalen Idealismus als der Kulturphilosophie: und nur in dem Sinne sollte in ihr von einem Primat der praktischen Vernunft gesprochen werden, als die Erzeugung der Gegenstände aus dem Gesetz des Bewußtseins in keinem Gebiete so selbstverständlich und auch dem alltäglichen Bewußtsein so geläufig ist wie in diesem. Denn daß das sittliche | Handeln darauf gerichtet ist, die als Natur gegebene Welt (in der weitesten Bedeutung, wie sie auch das menschliche Trieb- und Gefühlsleben einschließt) nach dem Gebot des Vernunftwillens auswählend und ordnend zu einem neuen und höheren Gebilde umzuarbeiten, ist so selbstverständlich, daß es keiner Erläuterung bedarf: und ebenso schafft das Recht aus dem Vernunftbewußtsein heraus die neue Ordnung menschlicher Lebensverhältnisse, deren letzter Sinn aus dem kategorischen Imperativ, die Freiheit der Persönlichkeit in der Sphäre ihrer sozialen Betätigung zu gewährleisten, prinzipiell erwächst. Aber nicht minder walten die Grundformen der Isolation und der synthetischen Neuschöpfung auch im ganzen Umkreis des ästhetischen Lebens. Alle künstlerische Produktion erzeugt ihre Gegenstände aus der Aktivität des Bewußtseins, die Kant als die originale und exemplarische, damit aber der allgemeinen Mitteilung fähig
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werdende Einbildungskraft des Genies erkannt hat; selbst wo der Impressionist nur ein beliebiges Gegebenes wiederzugeben meint, ist er in der Umgrenzung des Stoffs und in der Art, wie er es »gesehen« hat, doch mit Auswahl und Gestaltung schöpferisch tätig gewesen. Aller Genuß aber des Kunstwerks ist doch nichts anderes als ein Nacherleben jenes Isolierens und Neukomponierens, das der Künstler ursprünglich vollzogen hat. Selbst der Genuß des Naturschönen zeigt in der Wahl des Standpunkts, in dem Aufsuchen der wirksamen Linien und Verhältnisse alle einzelnen Momente der synthetischen Erzeugung des Gegenstandes. Was endlich die Religion anlangt, so gilt von ihr in modifizierter Weise, was von Wissenschaft, von Sittlichkeit und Recht, von der Kunst gilt. Denn die Religion besitzt3 kein eignes Gebiet der Vernunftwerte: was sie von diesen enthält, gehört | einem der drei Bereiche des Wahren, des Guten oder des Schönen an. Sie hat ihre empirische Eigenart als Kulturform in der soziologischen Erweiterung des Seelenlebens über den Zusammenhang der empirischen Subjekte hinaus zu den mythischen Mächten, die je nach dem Entwicklungsstande in der verschiedensten Weise, von dem primitiven Animismus bis hinaus zum theologischen Supranaturalismus oder zur mystischen Unaussagbarkeit, erlebt werden. Ihre besonderen Funktionen, soweit sie ihre Vernunftgründe aus den logischen, ethischen oder ästhetischen Inhalten schöpfen, nehmen an deren transzendentalem Wesen teil, und der einzige Vernunftgrund, der der Religion selbständig eigen ist, besteht in dem Postulat, die Totalität aller Vernunftwerte in einer absoluten Einheit zu erleben, die von keiner der Formen unseres Bewußtseins erfaßt werden kann. Das sind die sachlichen Gründe, aus denen Kant neben dem formalen Schematismus seiner Problembildungen genötigt war, nachdem er das Prinzip der Synthesis als den Rechtsgrund aller Wissenschaft entdeckt hatte, es Schritt für Schritt auch auf die übrigen Gebilde der Kultur anzuwenden: so ist es aus der inneren Notwendigkeit der Sache dazu gekommen, daß der Kritizismus, der seiner Methode nach am Problem der Wissenschaft aufgerollt 3
Vgl. den folgenden Aufsatz über »Das Heilige«.
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worden war, ungewollt in seiner Leistung eine Kulturphilosophie – die Kulturphilosophie geworden ist. In dem Bewußtsein der schöpferischen Synthesis ist die Kultur zur Selbsterkenntnis gelangt: denn sie ist ihrem innersten Wesen nach nichts anderes. Es wird immer denkwürdig bleiben, daß eine so von der letzten Tiefe her den ganzen weiten Umfang des Kulturlebens umspannende und erleuchtende Einsicht in einem so schlichten und scheinlosen Manne wie dem Königsberger Weisen zum Durchbruch gekommen ist. Man hat wohl manchmal in moderner Weise gefragt, welches das | persönliche Erlebnis gewesen sein möge, das Kant zu dem Philosophen von so wuchtiger Eigenart, zu dem alles zermalmenden, alles durchdringenden, alles wieder aufrichtenden Denker gemacht habe: ich glaube, man braucht nicht weit danach zu suchen. Wenn je ein Philosoph, so hat Kant in der eignen, mächtig auf sich konzentrierten Innerlichkeit diese schöpferische Kraft der Vernunft an sich selbst erfahren. In seiner an »Umkippungen« reichen Entwicklung hat er ohne viel gelehrte Anregungen und Anlehnungen aus eigenstem Grübeln alle philosophischen Standpunkte mit ursprünglicher Genialität durchgemacht, hat Systeme gebaut und wieder eingerissen und wieder gebaut, und nicht umsonst hat er die philosophische Begriffsbildung immer wieder an der mathematischen gemessen, der es vergönnt ist, ihre Gegenstände, die Größen, rein aus produktiver Einbildungskraft zu erzeugen. Wenn er dann schließlich dabei geblieben ist, daß auch alle andre Wissenschaft die Welt nur so weit erkennt, als sie daraus ihre eignen Gegenstände nach dem Vernunftgesetz schafft, so war es das große persönliche Erlebnis des Denkerlebens, zu belauschen, wie er aus der eignen Tiefe heraus die Gegenstände bildete, – nicht als der Professor Immanuel Kant, – eher schon als der seiner vernünftigen Bestimmung bewußte Mensch, – zuletzt aber doch als »ein denkend Wesen überhaupt«. Das Licht, das so in der innersten Werkstätte des Philosophierens selbst aufging, beleuchtete mit überraschender Klarheit den ganzen Umfang des menschlichen Kulturlebens: es wurde eben damit zum Quell der modernen Weltanschauung – der Weltanschauung des Geistes. Es war die Grenze des antiken Bewußtseins
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gewesen, sich selbst immer nur als empfangend, als einen Spiegel zu wissen, dem der höchste wie der geringste Gegenstand, die Idee wie die Empfindung, einmal gegeben werden müsse. Und nun wagte aus der langen Erfahrung des | Erkenntnislebens der moderne Geist in dem für seine Person so bescheidenen Denker das stolze Wort: es ist der Verstand, der der Natur die Gesetze vorschreibt. Dies Selbstbewußtsein der schöpferischen Synthesis muß der zentrale Punkt sein für die Gestaltung der Weltanschauung, welche unsere heutige, so unübersehbar vielspältige und in sich zerrissene Kultur sucht und welche sie braucht, wenn sie sich zu großen und geschlossenen Leistungen ihrer geistigen Arbeit, wenn sie sich zu inneren Gemeinschaften dauernder und fruchtbarer Art zusammenfinden soll. Eine solche Weltanschauung kann aber niemals mehr aus der ganzen Masse des Einzelnen an Kenntnissen, Interessen, Tätigkeiten, Institutionen, Leistungen und Strebungen zusammengelesen werden. Dazu ist die Kultur zu weit und zu mannigfach geworden. Sie umspannt heute den Planeten, sie ist und ist mit Bewußtsein eine Gesamtkultur, oder sie will es werden. Mit rapidem Fortschritt der technischen Zivilisation hat das neunzehnte Jahrhundert die äußeren Bedingungen für die Verwirklichung des Humanitätsideals des achtzehnten Jahrhunderts herbeigeschafft. Aber dies Ideal schwebt uns nicht mehr in der verschwommenen Einheit des aufklärerischen Kosmopolitismus, sondern in der stärksten Differenzierung nationaler Sonderkulturen vor: und wenn wir hoffen, daß dies von demselben Jahrhundert ausgelöste Widerspiel der nationalen Kräfte die rohen Formen der Rivalität immer sicherer und vollständiger gegen höhere austauschen wird, so sollen doch diese differenzierten Kulturformen der Völker gerade so bestehen bleiben wie die der Individuen, mit denen sie die gleiche Pflicht und darin das gleiche Recht haben. Aber auch die Kultur jedes einzelnen Volkes birgt in sich eine Fülle von Tätigkeiten und Zuständen, von äußeren und inneren Lebensformen. Wer wollte sich heutzutage zutrauen, sie alle zu überschauen und in einem einheitlichen Bewußt|sein zu einem Ganzen zu verknüpfen? Dies Ganze besteht nicht mehr als eine aktuelle Einheit.
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Zersplittert in die einzelnen Bildungs- und Berufsschichten, stellt es nur vermöge der zahlreichen Punkte, an denen sich diese stetig berühren, ein Kontinuum funktioneller Zusammenhänge dar. Aus allen diesen Lebensinhalten aber eine sachliche Totalität zusammenzubuchstabieren, wäre ein vergebliches Unterfangen. Schon die Welt unsres Wissens allein wird nie mehr in Einen Kopf gehen, und die Philosophie der Brosamen und der Lesefrüchte, die aus allen Wissenszweigen das Allgemeinste zusammenlesen möchte, ist ein ebenso unfruchtbares wie langweiliges Geschäft. Und wenn man dereinst darauf hoffen wollte, die Ergebnisse des Wissens mit den Bedürfnissen des Gemüts zu einem stimmungsvollen Ganzen sich zusammenfügen zu lassen, so wird uns heute diese Verschmelzung der Weltbilder nur unbestimmte und verwaschene Konturen zu liefern imstande sein. In dieser Hinsicht haben wir uns bescheiden gelernt. Und dabei bedürfen wir, da alle Kulturarbeit bewußte Lebensgestaltung ist, zuletzt doch einer einheitlichen Überzeugung. Sie braucht darum nicht an jeder Stelle aktuell bewußt zu sein. So ist es ja auch mit jeder individuellen Lebenstätigkeit: mit ihren besonderen Funktionen ist sie an die Stoffe gebunden und hingegeben, es ist unmöglich und unnötig, in jedem Momente das Einzelne mit vollem Bewußtsein auf die Einheit der persönlichen Lebensaufgabe zu beziehen; aber dahinter muß doch, wenn ein Wert darin sein soll, diese Beziehung stecken, diese Einheit muß vorhanden sein. Ebenso vollziehen sich alle die unendlich verschiedenen Kulturfunktionen je in der Gebundenheit an ihre einzelnen Inhalte, und ihre Träger wissen vielfach von ihnen nur dies Besondere: aber ihren letzten Wert haben sie doch erst in ihrem Zusammenschluß zu einem einheitlichen System, das in einem Kultur|bewußtsein, einer Weltanschauung seinen Zusammenhalt haben muß. Eine solche bewußte Einheit kann deshalb nur noch durch die Erfassung des Wesens der Funktion selbst gesucht werden, die in allen besonderen, wie auch immer inhaltlich orientierten Kulturtätigkeiten das Gemeinsame ausmacht: und das kann nichts anderes sein als das Selbstbewußtsein der Vernunft, die ihre Gegenstände und in diesen das Reich ihrer Geltung selbst erzeugt.
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Genau dies ist die fundamentale Lehre des transzendentalen Idealismus. Diese Kulturphilosophie ist insofern eine immanente Weltanschauung, als sie sich ihrem Wesen nach auf das bescheidet, was wir als unsre Tat erleben. Jedes der Kulturgebilde, Wissenschaft, Lebensordnung, Kunst, gilt ihr als ein vernunftbestimmter Ausschnitt, eine Auswahl und Neubildung aus der unendlichen Wirklichkeit selbst: jedes stellt in dieser Hinsicht eine Art der »Erscheinung« dar, die in dieser Auswahl und dieser Komposition nur für das vernünftige Bewußtsein besteht, das darin seinen »Gegenstand« erzeugt hat, und der letzte Zusammenhang aller dieser »Erscheinungen« bleibt das Unerforschliche. Aber dieser letzte Zusammenhang ist doch nichts anderes als das Ganze dessen, was in einzelnen Teilgestalten die unserer Betätigung zugänglichen Vernunftwelten des Wissens, der Lebensordnung, des künstlerischen Gestaltens ausmacht. Es ist nur unaussagbar mehr, es ist lebendig entwickelte Einheit da, wo wir geschiedene, nur gelegentlich aufeinander hinweisende Stücke haben. Aber es bleibt uns der Trost, daß jedes dieser in uns neugeformten Stücke eben jenem allgewaltigen Zusammenhange wahrhaft eingeordnet ist. In diesem Sinne bedarf der transzendentale Idealismus auch nicht mehr einer »andern Welt«, wie sie Kant anfänglich im Begriffe des Ding-an-sich nötig finden wollte; er hat uns ja selbst nachher | durch die praktische Vernunft darin heimisch gemacht und damit die Grenzpfähle wieder eingerissen. Aber eines muß vor allem immer und immer wieder gegen unabsichtliche und absichtliche Mißverständnisse dieser Lehre hervorgehoben werden: daß niemals das Individuum wähnen darf, selbst als solches die schöpferische Kraft in der Erzeugung der Gegenstände zu sein: wir sind dabei, sofern es sich um echte Kulturwerte handelt, niemals als Individuen, ja nicht einmal als Exemplare unserer Gattung, sondern als Wohnstätte und Träger übergreifender und deshalb sachlich im Wesen der Dinge selbst begründeter Vernunftfunktionen tätig. Sie allein bestimmen die »Gegenstände«, die notwendig und allgemein gelten. Dies Teilhaben an einer überragenden Welt von Vernunftwerten, die doch
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den Sinn aller der Ordnungen ausmachen, auf denen sich unsre kleinen Welten des Wissens, Wollens und Gestaltens aufbauen, diese Einfügung unsres bewußten Kulturlebens in Vernunftzusammenhänge, die über uns und unser ganzes empirisches Dasein weit hinausreichen, – das ist das unbegreifliche Geheimnis aller geistigen Tätigkeit. Aber der ganze Prozeß der menschlichen Kultur, die Stärkung und Ausweitung, welche ihre werthaften Leistungen in der Geschichte erfahren, bestätigt uns immer wieder dies Emporwachsen unseres Lebens in Vernunftzusammenhänge, die mehr bedeuten als wir selbst. |
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roblem und Methode, Ziele und Wege der Religionsphilosophie lassen sich vom kritischen Standpunkt aus leicht und einfach bestimmen. Es handelt sich darum, die Stellung aufzuweisen, welche die Religion in dem zweckvollen Zusammenhange der Funktionen des vernünftigen Bewußtseins einnimmt, und von da aus alle ihre einzelnen Lebensäußerungen zu verstehen und zu bewerten. Und zwar ist der Gegenstand, der dabei kritisch untersucht wird, kein anderer als die wirkliche Religion – die Religion, wie wir sie alle kennen und erleben –, nicht etwa eine sog. wahre Religion, eine philosophische, eine erst durch die Philosophie zu schaffende Religion. So wie die Tage des Naturrechts vorüber sind, worin dem wirklichen Rechte das »wahre«, das »richtige« Recht gegenübergestellt wurde, d. h. das Recht, wie es nach der Meinung des Herrn Professors sein sollte, so denkt auch die Philosophie nicht mehr daran, aus der Wissenschaft heraus eine Religion erzeugen zu wollen, wie es die Neuplatoniker oder die Deisten der Aufklärung versucht haben: uns erscheint das heute gerade so weise, wie wenn die Logik, die kritische Theorie der Wissenschaft, selber erst das »richtige« Wissen machen, oder wenn die Ästhetik, die Philosophie der Kunst, von sich aus die »wahre« Kunst, wenn die Ethik erst die rechte Sittlichkeit erzeugen wollte. | Nur die wirkliche Religion also ist der Gegenstand, – aber diese nun auch in ihrer ganzen, allumfassenden Wirklichkeit, mit der sie allen Sphären des Lebens angehört und sich doch zugleich als ein Eigenes und Neues darüber zu erheben scheint. Wenn sie sich zunächst als Innenleben, als seelischer Vorgang im Menschen darstellt, so umspannt sie die Gesamtheit der psychischen Funktionen: sie ist nicht nur ein Vorstellen, ein Erkennen und Wissen, oder, kritischer gesagt, ein Meinen und Fürwahrhalten, sondern auch ein Wertbewußtsein, ein Fühlen, ein Ergriffen- und
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Hingegebensein und demgemäß auch ein Wollen und Vollbringen. Daraus aber folgt, daß sie zugleich ein Außenleben ist, nicht nur ein Handeln nach den einzelnen Werten des Fühlens und Wollens, sondern als äußere Gesamterscheinung jenes Innenlebens, als Kulthandlung und Gottesdienst. Und damit überschreitet sie auch den Lebenskreis des Individuums; sie erweist sich als Handlung der Gemeinde, als eine soziale Erscheinung, die, in jedem besonderen Falle historisch bedingt, auch als äußere Organisation in realen Institutionen sich darstellt. Immer aber will die Religion noch mehr sein als all dies empirisch Gegebene: sie greift stets über die irdische Erfahrung hinaus, sie ist ein Verhältnis zu höheren Mächten, zu dem innersten Wesen und Grunde aller Wirklichkeit, ein Leben mit Gott und in Gott – ein metaphysisches Leben. Alle diese Momente gehören zu dem begrifflichen Wesen der wirklichen Religion: aber in deren historisch mannigfachen Erscheinungsformen sind sie sehr verschieden betont und in ihrer Bedeutsamkeit gegeneinander abgestuft: ja, es kann kommen, daß bei der einzelnen positiven Religion das eine oder das andere dieser Merkmale bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt oder zurückgedrängt ist, um vielleicht in einer anderen historischen Gestalt der Religion das hervorstechende und beherrschende zu sein. So verschwindet z. B. in den mysti|schen Formen der Religion fast vollständig das Moment der äußeren Organisation, das dafür in den »statutarischen« Kirchenbildungen eine Hauptrolle zu spielen geneigt ist. Die wissenschaftliche Untersuchung der Religion hat allen diesen Momenten gleichmäßig gerecht zu werden, und die philosophische Betrachtung hat sie von ihrem einheitlichen Prinzip aus zu verstehen und zu würdigen. Daraus aber folgt, daß die Religionsphilosophie bei keiner von den drei philosophischen Grunddisziplinen1 allein untergebracht werden, daß sie nicht als Teil oder Anhang der Logik oder der Ethik oder der Ästhetik behandelt werden kann. Jene drei Grundwissenschaften entsprechen den Idealzwecken des Wahren, des Guten und des Schönen. Sie entspringen aus den 1
Vgl. Band I, S. 40.
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Fundamentaltatsachen der Beurteilung, die mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit und normative Notwendigkeit wahr und falsch im Urteilen, gut und böse im Wollen und Handeln, schön und häßlich im künstlerischen Produzieren und Genießen unterscheidet. Sie enthalten die kritische Verständigung der Philosophie über die großen Kulturfunktionen der Menschheit: Wissenschaft, – Moral, Recht und Geschichte, – Kunst. Nun aber steht neben diesen noch eine andere Kulturmacht, vielleicht die größte, die Religion. Ihren Zweck, ihre Norm, ihr Ideal nennen wir das Heilige. Ist dies, müssen wir fragen, noch ein besonderes neben jenen drei anderen? Tatsächlich greift ja die Religion in alle drei hinein: sie selbst tritt als Wahrheit, als sittliche Organisation, als künstlerisches Gebilde uns entgegen; sie ist ein Erkennen, ein Leben, ein Gestalten. Aber sie ist daneben doch ein Mehr, das sich darin nicht erschöpft; es steckt in ihr ein | Moment des Übergreifens, des Hinausragens über jene »weltlichen« Kulturfunktionen, die im geschichtlichen Verlauf ursprünglich von ihr umschlossen sind, aus ihr sich zu selbständigen Gebilden ablösen und dann doch wieder in sie zurückkehren. Zu deren Ergänzung verlangt die Religion einen übermenschlichen, überweltlichen Inhalt: das ist es, was sie das Heilige nennt, und dies muß aus dem inneren Wesen der Vernunft selbst, es kann nicht aus einer ihrer besonderen Funktionen allein begriffen werden. Die Geschichte der Religionsphilosophie bestätigt dies. Sie ist lange vom Standpunkt der theoretischen Vernunft aus behandelt worden. Die anfänglich feindliche Berührung zwischen Religion und Philosophie, der Umstand, daß diese berufen schien, jene zu ersetzen, und der geschichtliche Verlauf, welcher der Philosophie die wissenschaftliche Formung und Begründung des religiösen Bewußtseins auferlegte, – alles dies führte dazu, daß die Frage nach der »Wahrheit« der Religion in den Vordergrund trat und daß ihre philosophische Behandlung wesentlich auf die wissenschaftliche Richtigkeit der religiösen Vorstellungen gerichtet war. Dies blieb trotz einzelner Anregungen, die sich in der mittelalterlichen Philosophie, namentlich bei den Arabern und Juden einstellten, doch der leitende Gesichtspunkt für die Religionsphilosophie, bis von Spinoza an die Aufklärung mehr und mehr den
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ethischen Wert der Religion als das Wesentliche an ihr hervorhob und zuletzt Kant vollständig und mit begrifflicher Klarheit die »Umlegung des Standpunktes aus der theoretischen in die praktische Vernunft« vollzog. Unter Kants Nachfolgern aber war es Schleiermacher, der die Religion nicht als Wissen noch als Wollen und Handeln, sondern ihrer eigensten Bedeutung nach als das »fromme Gefühl« betrachtete und sich damit auf den Standpunkt der ästhetischen Vernunft stellte, welcher seinem per|sönlichen Wesen ebenso entsprach wie der romantischen Zeitströmung, in die er mit seinen »Reden über die Religion« so mächtig eingriff. Allein keine dieser Behandlungsweisen der Religionsphilosophie, weder die theoretische noch die ethische noch die ästhetische, hat sich dem Gegenstande völlig gewachsen gezeigt; es ist immer eine mehr oder minder einseitige Auffassung der Religion herausgekommen, indem, wie bei den historischen Formen der positiven Religion, bald diese bald jene Seite ihres Gesamtwesens zu Ungunsten der anderen beleuchtet wurde. Danach bleibt nur übrig, die Religionsphilosophie ihrem Prinzip nach von der Bestimmung durch eine einzelne jener drei Grundwissenschaften unabhängig zu machen. Allerdings wird sie immer alle drei voraussetzen müssen, eben weil die besonderen Funktionen der Religion notwendig und der Natur der Sache nach in die Sphären des logischen, des ethischen und des ästhetischen Lebens gehören, und in dieser Hinsicht wird eine ausgeführte Religionsphilosophie mannigfache Lehnsätze der Logik, der Ethik und der Ästhetik zu entnehmen haben: aber ihr sachliches Gesamtprinzip hat sie über oder hinter jenen Wissenschaften zu suchen, und nur so wird sie bestimmen können, worin das Wesen des Heiligen neben dem Wahren, dem Guten und dem Schönen besteht. Da nun aber mit jener Dreizahl des Logischen, Ethischen und Ästhetischen der Umfang der psychischen Funktionen im Vorstellen, Wollen und Fühlen erschöpft ist, so kann das »Heilige« nicht inhaltlich in einer besonderen, ihm eigens zugeordneten Sphäre des Seelenlebens gesucht werden: vielmehr muß die Religionsphilosophie ihren Ausgang von demjenigen Grundverhältnisse nehmen, welches dem logischen, dem ethischen und dem ästhe-
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tischen Bewußtsein gemeinsam ist, und sie setzt also jene drei philosophischen Grunddisziplinen auch in dem allgemeinen und prinzipiellen Sinne voraus, daß sie dasjenige zum | Problem macht, was jene in verschiedenen inhaltlich bestimmten Formen als Tatsache zugrunde legen. Dies kann aber nichts anderes sein, als jene Antinomie des Bewußtseins, welche in dem Verhältnis zwischen dem Sollen und dem Müssen, zwischen den Normen und den Naturgesetzen2 zutage tritt. Die drei philosophischen Grundwissenschaften zeigen auf den drei Gebieten des Seelenlebens überall den Gegensatz zwischen dem psychologisch Wirklichen und dem Normalen, zwischen dem Realen und dem Idealen, zwischen dem zeitlich Geschehenden und dem zeitlos Geltenden. Wir sehen unser Bewußtsein den beiden Gesetzgebungen unterstellt, die weder übereinstimmen noch vollständig differieren können, und zwischen denen doch ein notwendiger, im Wesen der Sache begründeter und unvermeidlicher Antagonismus besteht. Er kommt uns zunächst als Schuldgefühl, als Gewissen – in dem weiteren Sinne des Worts – zum Bewußtsein. Dies Gewissen ist seiner Natur nach das »zwiespältige Bewußtsein«. Denn es gehört wesentlich dazu, daß es dasselbe ist, dieselbe Person, dieselbe Vernunft, welche die Norm in sich trägt und ihr zuwiderhandelt, und zwar notwendig zuwiderhandelt. Und gerade darin besteht das Quälende des Gewissens, daß das Verfehlen nicht zufällig, sondern notwendig ist. Das gilt, wie es besonders Kant hervorgehoben hat, für die sittliche Selbsterkenntnis des Individuums, dessen Reue mit der Einsicht anhebt: »du hast so gehandelt, weil du so bist.« Nur ein leichtfertiges Gewissen betäubt sich mit dem Gedanken: »der Fehler ist mir nur so passiert, er geht mein Wesen nichts an, ich werd’s nicht wieder tun«. Der Ernst des Gewissens zeigt der Norm gegenüber die naturgesetzmäßige Notwendigkeit ihrer Verletzung. Wir müssen uns klar machen, daß das Normwidrige ebenso notwendig | unserem Wesen entspringt wie das Normgerechte: wir dürfen weder sagen wie die Leichtfertigen und die Optimisten, das Gute sei wesens2
Vgl. oben S. 64 ff.
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notwendig und das Schlechte nicht, noch wie die Verzweifelten und die Pessimisten, das Schlechte sei notwendig und das Gute nur ein Glücksfall. Sollen wir uns des Normgerechten als des unsrigen freuen und rühmen, so müssen wir uns auch des Normwidrigen als des unsrigen schämen: keines von beiden ist uns nur so »passiert«. Aber diese Notwendigkeit der Antinomie von Sollen und Müssen reicht nun weit über das individuelle Schuldbewußtsein hinaus: Logik, Ethik und Ästhetik decken sie im ganzen Umfange unserer Vernunftbetätigung auf. Unsere Sinnesempfindungen und ihre Apperzeptionen, den ganzen Assoziationsmechanismus finden wir in ihrer natürlich naiven Entfaltung weit eher auf Täuschung und Irrtum als auf Wahrheit angelegt, und die Erkenntnistheorie überzeugt uns, daß zwischen den Voraussetzungen, welche als »Kategorien« in der normativen Gesetzmäßigkeit des Intellekts angelegt sind, und dem Tatsachenmaterial der Erfahrung, zu dessen Deutung und Verarbeitung sie berufen sind, eine niemals ganz auszufüllende Kluft besteht.3 Ähnlich erweist sich, daß der | natürliche Motivationsprozeß als solcher ethisch indifferent ist, daß er Gutes und Böses gleich notwendig hervortreibt, und daß die Natur des Menschen in diesem Sinne »jenseits von gut und böse« ist. Drittens aber ermöglicht der naturnotwendige Entwicklungsgang der Gefühle mit der Verschlingung der Interessen nur selten den 3 Als Beispiel sei hier nur auf die Kategorie der Dinghaftigkeit hingewiesen: sie tritt als unwillkürlich wirksame Apperzeptionsform in allem Wahrnehmen, besonders beim optischen auf, indem sie die Mannigfaltigkeit der Eindrücke nach ihrer Zusammengehörigkeit zu Dingen gliedert; aber jedes Nachdenken findet schnell, daß diese sinnlichen »Dinge« alle nur vorläufige sind und der Voraussetzung einer begrifflich in sich bestimmten Identität nicht Genüge tun. So begründet sich das Suchen nach den »wahren« Dingen, den eigentlichen »Substanzen«. Und mag nun die Metaphysik diese als Elemente, als Atome, als Ideen, als Entelechien, als Monaden, als Reale oder als Dinge-an-sich bestimmen, – immer kommt die Unzulänglichkeit der Erfahrung gegenüber der Kategorie darin zu Tage, daß die metaphysischen »Dinge« nicht Gegenstände der Erfahrung, sondern begriffliche Konstruktionen sind, die aus | der »Bearbeitung« der empirischen Dingvorstellungen entstehen, ohne ihren Zweck je völlig zu erreichen.
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freien Zustand des ästhetischen Gestaltens und Genießens und gefährdet ihn stets wieder durch den Ernst des Lebens in seinem dauernden Bestande. Diese Naturnotwendigkeit des Normwidrigen in den empirischen Funktionen der Vernunft ist die allgemeine Fundamentaltatsache, von der die kritische Philosophie in allen ihren Disziplinen ausgeht; sie ist, in dieser Allgemeinheit gefaßt, das Problem aller Probleme und zugleich der Springpunkt der Religionsphilosophie. Diese antinomistische Koexistenz der Norm und des Normwidrigen in demselben Bewußtsein ist die Urtatsache, welche nur aufgewiesen, aber nie begriffen werden kann: aus ihr entwickeln sich vielmehr alle Probleme der kritischen Philosophie. Denn es ist nicht möglich, diesen Antinomismus durch eine psychologische Erklärung zu umgehen, welche das Gewissen auf ein Verhältnis zwischen dem individuellen Tun und dem sozialen Gesamtbewußtsein zu reduzieren versucht, das mit zugleich tatsächlicher und normativer Geltung in jedem einzelnen Bewußtsein als entwicklungsgeschichtliche Grundlage vorhanden ist. Dies Verhältnis reicht für die psychogenetische Erklärung einer großen Anzahl von Tatsachen des Gewissens aus: durch die Gewöhnung des Hineinwachsens in eine bestehende Wertungsweise gewinnen wir zunächst die Maßstäbe für unsere Beurteilungen, und hätte es dabei sein Bewenden, so müßte die gesamte Lehre von den Normen und den all|gemeingültigen Werten im Rahmen der Sozialpsychologie und der Kulturgeschichte bleiben, und die Probleme der kritischen Philosophie wären gegenstandslos. Aber gerade die historische Bewegung und Wandlung des Normbewußtseins macht die Unzulänglichkeit dieser sozialpsychologischen Erklärung des Gewissens deutlich: denn auch da, wo sich eine fortschreitende Veränderung der Wertprinzipien nicht ruckweise, sondern mit allmählichem Austausch vollzieht, setzt sich dieser Vorgang aus der Anhäufung individueller Abweichungen zusammen, von denen jede eine mehr oder minder bedeutsame Emanzipation der einzelnen Persönlichkeit von der vorher bestehenden allgemeinen Wertungsweise bedeutet. Den Mut aber zu einer solchen Abweichung findet das Individuum nicht in seinen
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persönlichen Neigungen oder Interessen, sondern vielmehr darin, daß es von den tatsächlich geltenden Maximen an ein höheres Prinzip, vom »menschlichen Rechte« an das »göttliche«, von dem Zeitlichen an das Ewige, von der »Satzung« an die »Natur« appelliert, – oder wie die Wendungen dafür sonst lauten mögen. So unberechtigt unter Umständen im einzelnen geschichtlichen Falle diese Appellation sein mag, so sicher bleiben wir doch davon überzeugt, daß es ein solches Recht der absoluten Geltung gegenüber der historischen und relativen gibt.4 Nur unter dieser Voraussetzung reden wir von einem Kulturfortschritt in der Geschichte: jeder Schritt dabei, den der einzelne tut, ist dem zeitlich bestehenden Normbewußtsein gegenüber ein Sündenfall, ist eine Emanzipation des Individuums von einem unzulänglichen, beschränkten oder irrigen Gesamtbewußtsein seiner Umgebung. Solch ein »Sündenfall« ist jede neue Erkenntnis, die das Gefüge der geltenden Weltvorstellung sprengt, – jede sittlich-soziale Reform, welche Werte umwertet | und neue Ideale des Wollens schafft, – jede künstlerische Großtat des Genies, welche die Welt neu zu genießen und zu gestalten lehrt. Daraus versteht sich die Verwerfung und die Verfolgung des »Sünders« durch das von ihm durchbrochene Gesamtbewußtsein, – das Märtyrertum der Antigone. Aber jeder dieser führenden Dulder macht nicht seine Willkür und Laune gegen das Bestehende geltend, sondern ein Höheres und Ewiges: in ihnen greift das »Gewissen« über seine soziale Erscheinungsform hinaus zu seinem transzendenten, metaphysischen Wesen. Denn wie das Gewissen als soziale Erscheinung, als Kritik des individuellen Tuns durch das Gesamtbewußtsein, nur möglich ist durch die Realität des sozialen Zusammenlebens, so besteht das Gewissen als übergreifendes Normbewußtsein, wie es durch den Kulturfortschritt als Tatsache bewiesen wird, nur vermöge eines noch tieferen Lebenszusammenhanges: es enthüllt sich in ihm ein geistiger Lebensgrund, ein übererfahrungsmäßiger Zusammenhang der Persönlichkeiten, der sich zu dem sozialen Gesamtbewußtsein so verhält wie das, was gelten soll, zu dem, was 4
Vgl. oben Bd. I, S. 43 und Bd. II, S. 175 ff.
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tatsächlich gilt. In diesem Sinne setzt das Gewissen eine metaphysische Realität des Normalbewußtseins voraus, die freilich mit dem, was wir im empirischen Sinne Realität nennen, nicht gleichgesetzt werden darf: sie ist, sobald wir uns auf die Geltung der absoluten Werte besinnen, das gewisseste unserer Erlebnisse, und gerade in diesem Sinne ist das Normalbewußtsein das Heilige. Das war der Gedanke, aus dem Augustin von der menschlichen Unterscheidung des Wahren und des Falschen auf die Realität einer höchsten »Wahrheit«, oder Descartes von den Graden der Vollkommenheit und Unvollkommenheit, mit denen wir uns selbst und andere beurteilen, auf die Wirklichkeit des ens perfectissimum schloß. Das liegt im Grunde genommen schon in Platons Lehre von der ἀνάμνησις, | daß alle Erkenntnis »Erinnerung« sei, – der Glaube an das ὄντως ὄν, an die übermenschliche und überempirische Wirklichkeit der Norm und des Ideals, – die Überzeugung, daß die Norm der Vernunft nicht unsere Erfindung oder unsere Illusion ist, sondern ein Wert, der in den letzten Tiefen der Weltwirklichkeit selbst begründet ist. So ist also das Heilige inhaltlich nicht anders zu bestimmen als durch den Inbegriff der Normen, die das logische, ethische und ästhetische Leben beherrschen. Diese Normen sind ja das Höchste und Letzte, was wir in dem gesamten Inhalt unseres Bewußtseins besitzen: über sie hinaus wissen wir nichts. Heilig aber sind sie uns deshalb, weil sie nicht Produkte des einzelnen Seelenlebens, auch nicht Erzeugnisse des empirischen Gesellschaftsbewußtseins sind, sondern Wertinhalte einer höheren Vernunftwirklichkeit, an der uns teilzuhaben, die in uns zu erleben uns vergönnt ist. Das Heilige ist also das Normalbewußtsein des Wahren, Guten und Schönen, erlebt als transzendente Wirklichkeit. Insofern der Mensch in seinem Gewissen sich so durch ein Übergreifendes, Transzendentes bestimmt weiß, ist er religiös. Er lebt in der Vernunft und sie in ihm. Religion ist transzendentes Leben; das Wesentliche an ihr ist das Hinausleben über die Erfahrung, das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer Welt geistiger Werte, das Sichnichtgenügenlassen am empirisch Wirklichen. In diesem Sinne ist als das Gegenteil zur Religiosität der Positivismus zu
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betrachten. Sein eigentlicher Nerv ist, daß er das Überempirische nicht gelten lassen will. Daher beschränkt er sich theoretisch auf die Vorstellung rein empirischer Zusammenhänge, auf die räumliche und zeitliche Anordnung von Sinnesdaten: daher erscheint er praktisch als Utilismus, als Beschränkung auch des sittlichen Wollens auf sinnlich bestimmbare Werte. Es spricht darin eine scheinbare Bescheidung, die in Wahr|heit Übermut ist, – ein selbstgefälliges Einspinnen in den empirischen Lebensinhalt, das alle Abhängigkeit von einem Höheren, Übergreifenden leugnen und aufheben möchte. Demgegenüber beruht das transzendente Leben der Religion überall auf dem sehnsuchtsvollen Überschreiten jener vorgefundenen Grenze, auf dem Hinausstreben und Hinausleben ins Überempirische. Möglich wird dies durch eine Umformung und inhaltliche Umgestaltung der empirischen Funktionen, und es ist die Aufgabe der Religionsphilosophie, systematisch darzulegen, welche Steigerungen die immanenten Funktionen des Seelenlebens dadurch erfahren, daß sie in dem transzendenten Leben der Religion auf das Überempirische bezogen werden. Wenn es dabei methodisch erforderlich ist, an der Hand des psychologischen Zusammenhanges vom Unbestimmten zum Bestimmteren fortzuschreiten, so wird mit dem transzendenten Fühlen begonnen werden müssen. Hier hat nun zweifellos Schleiermacher das Wesentliche getroffen, indem er als das religiöse Grundgefühl das der »schlechthinigen Abhängigkeit« bezeichnete. Es ist zunächst eine Abhängigkeit von der unaussagbaren, unbestimmten Gesamtwirklichkeit der Dinge, vom Universum, von seiner unfaßbaren Totalität. Es ist ein ahnungsvolles Ergriffensein, das aus mannigfachen empirischen Anlässen sich ergibt. Wir erleben es der Natur gegenüber in der Einsamkeit, in der Mittagstille bei brütender Sonnenglut, mit dem »panischen« Schrecken, im Anblick des Meeres, – stets als ein dunkles Gefühl unserer Kleinheit und Ohnmacht, als ein unaussagbares Gebundensein und Beschlossensein in einem geheimnisvollen Gesamtleben. Es packt uns beim Anblick des bestirnten Himmels, und wenn diesen Kant mit dem Eindruck des Sittengesetzes vergleichen durfte, so lag das tertium comparationis in dem
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Abhängigsein von einem gewaltigen, alle unsere | Erfahrung übersteigenden, unausdenkbaren Lebenszusammenhange. So bringt denn auch das individuelle Leben in bewegten, feierlichen Momenten, »wo man dem Weltgeist näher ist als sonst«, die Gefühle von unbegreiflichen Fügungen, ein Bewußtsein, willenlos bestimmt und an das Unfaßbare gebunden zu sein, eine Ahnung der höheren Mächte, die über allem Leben walten, alle Berechnungen kreuzen und bald im neckischen Spiel, bald im tragischen Ernst alle Absichten vereiteln. Hier wie der Natur gegenüber ist das Abhängigkeitsgefühl teils optimistisch, teils pessimistisch gefärbt; es erscheint als dankbares Vertrauen oder als zagende Furcht. Deutlicher gestalten sich diese persönlichen Gefühle der Abhängigkeit vom Transzendenten da, wo das Verhältnis zwischen dem Normbewußtsein und dem individuellen Leben in Betracht kommt. Die Erkenntnis unserer Unzulänglichkeit der Norm gegenüber erscheint als das Gefühl hilfloser Ohnmacht, tiefster Erlösungsbedürftigkeit, als Zerknirschung, Reue und Buße: aber zugleich erleben wir in dieser Sinnesänderung, in diesem Brechen des selbstgenügsamen Stolzes das erste Wirken des Normalbewußtseins in uns. Es kommt wie eine Offenbarung, nicht als unsere Tat, als ein Lebendigwerden des Höheren in uns, wir fühlen es als Wunder und Gnade. Das Teilhaben an dem Transzendenten ist unbegreiflich als etwas, das wir erleben, ohne es aus eigener Kraft zu tun, – ein Geschenk, das höchste von allen. So ist die Kraft, welche als Gewissen richtet, auch die, welche hilft und erlöst. Jeder Genuß des Anschauens und Wissens, des Fühlens und des Arbeitens an hohen Zielen ist deshalb, da es wie eine Offenbarung über den Menschen kommt, mit dem erhebenden Dankgefühl für das Höhere verbunden, das uns darin zuteil wird. Die Normen werden in uns Motive5, sie werden unser Besitz, unser | besseres Selbst: das ist die Wiedergeburt und die Heiligung des empirischen Menschen, seine Erhebung in das Reich des Ewigen. Endlich verdanken wir jenes Gefühl der Abhängigkeit nicht zum wenigsten dem erschütternden Eindruck der großen Ge5
Vgl. oben S. 85.
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schicke des Menschengeschlechts, – sei es, daß man sie handelnd und leidend unmittelbar miterlebt oder daß man sie nacherlebt in der Gesamterinnerung der Menschheit. Auch hier fühlen wir das Unberechenbare, das allen Menschenwitz gebunden zeigt durch unfaßbare Ereignisse und Offenbarungen: unter dem verworrenen Getriebe empirischer Leidenschaften leuchten höhere Lebensordnungen hindurch. So erwachsen aus dem dunklen Eindruck des »Dämonischen« in Natur und Menschenleben jene Gefühle der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, vor den unergründlich übergewaltigen Mächten der Wirklichkeit, – jener »Ehrfurcht«, die Goethe in den »Wanderjahren« als den Kern aller Kulturerziehung dargestellt hat. Wer sie nicht hat, wer es nicht kennt, dies Sichbeugen und doch zugleich Sicherheben, der ist der wahrhaft Irreligiöse. Allein dies »fromme Gefühl« ist nun seinem objektiven Inhalt nach, d. h. in bezug auf seinen Gegenstand, für die Vorstellung völlig unbestimmt: wir wissen dabei nicht, wovon wir abhängig sind. Es gehört, psychologisch betrachtet, zu der großen Klasse der unbestimmten Gefühle, der Stimmungen und Allgemeingefühle, und es läßt sich doch nicht, wie sonst die meisten davon, als eine ausgeglichene Summation einzelner Gefühle erklären. Es ist vielmehr geradezu das Bewußtsein der Abhängigkeit von einem unfaßbaren, unaussagbaren Etwas, und es gehört zu dem Wesen des frommen Gefühls, daß dies Geheimnisvolle, Unerforschliche immer darin bestehen bleibt. Indessen kann es nun dabei doch sein Bewenden nicht haben, und gerade das Geheimnisvolle selbst enthält den|Stachel zu seiner Aufhellung. Da jenes Gefühl den realen Lebenszusammenhang des Bewußtseins mit dem Unaussagbaren bedeutet, so muß notwendig das Bewußtsein versuchen, diesen an sich völlig unbestimmten Gegenstand des transzendenten Gefühls zu einem bestimmten Vorstellungsinhalte zu machen. D. h. aus dem transzendenten Fühlen entwickelt sich notwendig ein transzendentes Vorstellen. Das ist nun die entscheidende Antinomie des religiösen Lebens: denn damit stellt das fromme Gefühl dem Vorstellen eine unlösbare Aufgabe. Das Unbestimmte soll im Bewußtsein bestimmt,
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das Unaussagbare soll ausgesagt, das Unfaßbare soll begriffen werden. Dieser Widerspruch entspringt dem endlichen Charakter der menschlichen Vernunft und ist ihm wesentlich: er gilt in dem Maße, daß, wenn jene Bestimmung durch das transzendente Vorstellen je gelingen könnte, eben damit das fromme Gefühl selbst, die Abhängigkeit von dem Unerforschlichen, aufgehoben würde. Deshalb ist allem religiösen Leben dieser Widerstreit wesentlich zwischen dem ursprünglichen Gefühl und der Unfaßbarkeit seines Gegenstandes durch das bestimmende Bewußtsein. Das Mysterium gehört zum Wesen der Religion. Wo man daher meint, irgendwie durch Mythos oder Dogma das Heilige vollständig für die Vorstellung bestimmt, d. h. es in seiner Wirklichkeit erkannt zu haben, da hat man bereits die Sphäre des religiösen Lebens wieder verlassen. Es ist das Interesse der Religion, daß Gott nicht völlig erkennbar ist: »ein Gott«, sagte Jacobi, »der gewußt werden kann, ist kein Gott mehr«. Deshalb muß das Bewußtsein der intellektuellen Unnahbarkeit des Heiligen aufrechterhalten bleiben, auch wenn das fromme Gefühl zu dem unausbleiblichen Versuche treibt, seinen Gegenstand für das erkennende Bewußtsein zu bestimmen. In dieser Antinomie wurzelt die Verschiedenheit der | positiven Religionen: da jene Aufgabe an sich unlösbar ist, so eröffnet sich, je nach den historischen Bedingungen, eine unabschließbare Mannigfaltigkeit von Versuchen dazu. Wäre der Gegenstand des frommen Gefühls bestimmbar und erkennbar wie der pythagoreische Lehrsatz, so gäbe es nur Eine Religion, – und das wäre keine Religion mehr, sondern Wissenschaft. Eben deshalb gehört zu jeder positiven Religion ein transzendentes Vorstellen, in diesem Sinne ein Glaube (πίστις), der Wissen (γνῶσις) sein und werden möchte. Dies religiöse Vorstellen stellt sich die doppelte Aufgabe, das Normalbewußtsein, das unserem Wissen nur zum Teil zugänglich ist, in seiner Totalität zu erfassen und außerdem über das Wesen seiner transzendenten »Geltung«, d. h. über die Art seiner metaphysischen Realität, Auskunft zu geben. Und da dies als allgemeingültige wissenschaftliche Erkenntnis nicht zu leisten ist, so tritt in diese Lücke der Mythos und in den organisierten Formen des religiösen Lebens das Dogma.
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Gemeinsam ist beiden eine Steigerung der Erkenntnis vom Bestimmten zum Unbestimmten, vom Erfahrbaren zum Unerfahrbaren, vom Bedingten zum Unbedingten, vom Endlichen zum Unendlichen: sie haben an sich den vollen Charakter der »Metaphysik«, und das transzendente Vorstellen der Religionen fällt daher durchaus unter die Kritik, welche Kant an dem »transszendentalen Schein« geübt hat. Auch hier handelt es sich um Ideen, welche aufgegeben, aber nicht gegeben sind – um eine Aufgabe, welche für die Vernunft notwendig, aber unlösbar ist. Die Lehre von dem transzendenten Vorstellen der Religion hat die Methode von Kants transzendentaler Dialektik auf den Gegenstand von Schleiermachers frommem Gefühl anzuwenden. Die metaphysische Steigerung der Erkenntnistätigkeit, um die es sich dabei handelt, ist nun der Natur der Sache nach in doppelter Richtung möglich, einerseits als Aus|weitung des Endlichen zum Unendlichen, andererseits als Verengerung des Unendlichen zum Endlichen, – beides so, daß eines immer das andere zugleich in gewisser Weise involviert, aber doch so, daß das eine der Momente überwiegt. Das erstere zeigt sich an den Formen der erkennenden Vorstellung, das zweite an deren Inhalt. Das erstere entwickelt sich hauptsächlich an den beiden konstitutiven Grundkategorien unserer Weltvorstellung: Substanz und Kausalität. In beiden Fällen nehmen die theoretischen Probleme, von denen die Logik zu handeln hat, eine metaphysische Tendenz, deren sich das transzendente Vorstellen der Religion bemächtigt. Die Kategorie der Substanz6 bedeutet in ihrer empirisch berechtigten Anwendung Urteil und Begriff von der konstanten Zusammengehörigkeit endlicher, bestimmter Erfahrungsinhalte, welche als Eigenschaften gemeinsam einem Dinge inhärieren. Das absolute Abhängigkeitsgefühl postuliert für seinen Gegenstand ein »Ding aller Dinge«, von dem, wie wir selbst, so auch alles andere empirisch Wirkliche Eigenschaft und Zustand sein soll. Aber dies absolute Ding, die unerfahrbare Substanz, enthält eine unlösbare Antinomie in sich: es ist einerseits das Ding, das durch keine empi6
Vgl. oben die Anmerkung zu S. 301.
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rische Qualität bestimmt und von anderen unterschieden wird, das qualitätslose Eine (θεὸς ἄποιος), andererseits das Ding, welches alle Wirklichkeit in sich als Qualitäten vereinigt (ens realissimum et perfectissimum). Das »Sein« der Eleaten, die »negative Theologie« der Alexandriner und aller von ihnen abhängigen Mystik, die »Substanz« Spinozas, das »Absolute« Schellings, – es handelt sich überall um das Ding, welches Alles und darum Nichts im besonderen sein soll: es ist die Vorstellungsform des Pantheismus, und ihr entspricht der ontologische Beweis für das Dasein Gottes. | Auf das »Unendliche« angewendet, hat die Kategorie die Fähigkeit ihrer ursprünglichen Bestimmung verloren, Gliederung und Ordnung in das Erfahrungsmaterial zu bringen. Diese »unendliche« Substanz ist von den endlichen generisch verschieden (das lehrt die Geschichte der Philosophie in dem Fortschritt von Descartes zu Spinoza und den Okkasionalisten): sie allein soll noch Unabhängigkeit, »Aseität« und – Kausalität bewahren. Das führt zu der anderen Kategorie. Kausalität in ihrer empirisch brauchbaren Bedeutung ist Urteil und Begriff von der Zusammengehörigkeit verschiedener Zustände des Wirklichen, wodurch die einen den anderen nach bestimmten allgemeinen Regeln in der Zeit folgen: alles Empirische ist Ursache nur in bezug auf seine Wirkung, Wirkung nur in bezug auf seine Ursache. Dies relative Verhältnis deutet das transzendente Vorstellen in ein absolutes, das zweiseitige in ein einseitiges um. Es postuliert eine Ursache, die nur Ursache und nicht Wirkung sei, und es bestimmt diese als Substanz, deren absolute Kausalität Allmacht heißt. Das ergibt den kosmologischen Beweisgang für das Dasein Gottes und die Vorstellungsform des Deismus. Die Begriffe der Schöpfung und des Wunders schließen sich als Nebenformen dieser Umbildung der Kategorie der Kausalität an. Die bekannten Schwierigkeiten, in welche sich diese Umbildung mit dem zeitlichen Merkmal der Kausalität verwickelt, macht auf einen ähnlichen Vorgang aufmerksam, den das transzendente Vorstellen an den Anschauungsformen ebenso wie an den Kategorien erlebt. Alles empirisch Wirkliche wird von unserer Vorstellung an irgendeine Stelle im Raum und in der Zeit gesetzt:
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es ist irgendwo und irgendwann. Dabei ist jede erlebbare Raumoder Zeitgröße endlich und relativ. Deshalb sind diese Anschauungsformen in ihrer empirischen Bedeutung auf den Gegenstand des frommen Gefühls nicht anwendbar: | er muß also als unabhängig von Raum und Zeit gedacht werden, und zwar entweder als davon überhaupt unabhängig, d. h. als raumlos und zeitlos, oder als unabhängig von jedem besonderen, begrenzten Raumund Zeitverhältnis, d. h. als allgegenwärtig und alldauernd. Beide Vorstellungsweisen pflegen unmerklich ineinander überzugehen. Überall und nirgends, immer und niemals, – das kommt im transzendenten Vorstellen fast auf dasselbe hinaus. Die andere Richtung der religiösen Metaphysik geht darauf aus, das Unendliche inhaltlich durch Verengerung zum Endlichen zu bestimmen, und sie verwendet dazu notwendig die erfahrungsmäßig gegebenen Wertbestimmungen des Menschen, so daß sich hieraus das in jeder positiven Religion unausweichliche Moment des Anthropomorphismus zur Genüge erklärt. Im frommen Gefühl tritt der Mensch zu dem Unendlichen in eine geistige Lebensgemeinschaft: eine solche aber kennen wir empirisch nur als ein Verhältnis von Person zu Person. Deshalb muß das Objekt des frommen Gefühls als Person vorgestellt werden. Freilich steckt darin wieder die dialektische Antinomie. Persönlichkeit ist erfahrungsmäßig als bestimmt und endlich gegeben, ja sie ist der höchste Typus des in sich Geschlossenen und Begrenzten. Das Ich setzt sich nur in der Abgrenzung gegen das Nicht-Ich. An sich müßte also das Überempirische, das Unendliche auch das Überpersönliche sein, so wie wir in allen absoluten Werten und Normen etwas Unpersönliches und damit Überpersönliches erleben: und doch soll nun das Unendliche als Persönlichkeit vorgestellt werden; ja, das religiöse Leben gerät, wie die Geschichte unweigerlich zeigt, in hilflose Verkümmerung, wenn es der persönlichen Auffassung des Göttlichen entraten zu können meint. Dieser nie ganz zu lösende Antagonismus steckt in dem Begriffe der absoluten Persönlichkeit. Denn was ist als ihr Inhalt | zu denken? Es kann nicht der rein formale Begriff des Weltbewußtseins (die νόησις νόεσεως bei Aristoteles) sein. Unter dem Inhalt, d. h. der qualitati-
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ven Bestimmtheit einer empirischen Persönlichkeit verstehen wir die synthetische Funktionseinheit der in ihr konstant gewordenen Grundmassen des Vorstellens, Wollens und Fühlens. Nach diesem Muster kann die absolute Persönlichkeit nicht gedacht werden: hier kann deshalb das Kriterium nicht das Tatsächliche, sondern nur der Wert sein. Den Inhalt der göttlichen Person bildet der Inbegriff der höchsten Werte, sie ist das reale Normalbewußtsein, diejenige Persönlichkeit, in der alles wirklich ist, was sein soll, und nichts ist, was nicht sein soll: die Wirklichkeit aller Ideale. Darin besteht die Heiligkeit Gottes.7 Sie involviert seine Weisheit, seine Güte, Liebe und Gerechtigkeit, seine Schönheit. Das ist die Vorstellungsform des Theismus, der unter den Beweisen für das Dasein Gottes der sog. physikotheologische oder teleologische entspricht. Aber gerade in dem letzteren Beweisgange, der sich auf die Spuren der göttlichen Persönlichkeit in der Zweckmäßigkeit und Vollkommenheit der Welt stützen will, tritt die Antinomie des religiösen Bewußtseins am stärksten zutage. Hier stoßen die formalen und die materialen Motive des transzendenten Vorstellens unvereinbar aufeinander. Die Identität des absoluten Seins und der absoluten Kausalität mit dem Normalbewußtsein der absoluten Persönlichkeit ist nicht durchzuführen: sie enthält den Widerspruch, daß ebendasselbe, was die Norm des Wirklichen sein soll, auch alles Wirkliche entweder sei oder erzeuge, und daß deshalb auch das Normwidrige zu seinen Erscheinungen oder seinen Erzeugnissen gehöre. | Das transzendente Vorstellen muß in Gott die Wirklichkeit und die Norm identifizieren, während das Erlösungsbedürfnis des frommen Gefühls sie scheidet. Das Heilige soll Substanz und Ursache seines Gegenteils sein. Hierauf beruht die völlige Unlösbarkeit der Probleme der Theodizee, der Fragen nach dem Ursprung des Übels in der Welt. 7 In diesem Sinne, aber auch nur in dieser Beschränkung, gilt die feuerbachsche »Theorie des Wunsches« [Das Wesen des Christentums, 1841]: das transzendente Vorstellen muß in Gott alles das als wirklich denken, was für den Menschen Norm, Gebot, Ideal ist.
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Bis zu einem gewissen Punkte können sie ja umgangen werden. Die Zwecklosigkeit und Unzweckmäßigkeit zahlreicher Naturgebilde, die ethische Indifferenz des Naturlaufs, die Grausamkeit des Tierlebens, die schlimmeren Greuel und das tiefere Elend der Menschheit, – das alles (das sog. physische Übel) kann noch als unvermeidliche Nebenwirkung oder als unerläßliches Mittel der Vorsehung angesehen, freilich niemals eingesehen oder erwiesen werden. Für die empirische Beobachtung ist das Dysteleologische ebenso Tatsache wie das Teleologische, ist in der Welt ebenso Unordnung, Unzweckmäßigkeit und Häßlichkeit wie das Gegenteil; eine Statistik des Mehr oder Minder von beiden ist sinnlos und unmöglich, und so ist rein theoretisch nicht abzusehen, weshalb das eine mehr als das andere zur inhaltlichen Begriffsbestimmung des Weltgrundes herangezogen werden sollte. Aber wenigstens der Möglichkeit nach sind diese Schwierigkeiten für das religiöse Bewußtsein noch zu umgehen, wenn es sich einmal überzeugt hat, in Gott das allmächtige und unerforschliche Normalbewußtsein zu verehren. Dann kann man mit dem Hinweis auf die Grenzen der menschlichen Erkenntnis und auf die Dunkelheit der Wege der Vorsehung oder mit allerlei unbestimmten Analogien aus dem menschlichen Leben sich dem Druck jener Fragen zu entziehen suchen. Das aber, worum die Theodizee nie herumkommen kann, ist die Realität des Bösen und damit des Normwidrigen überhaupt. Sie steht mit der absoluten Sub|stantialität und Kausalität der Gottheit in völlig unvereinbarem Widerspruche. Das kann nur einfach festgestellt werden als die letzte religiöse Tatsache, über die der Mensch nicht hinauskommen kann: denn von diesem notwendigen Widerspruche läßt sich auch nicht das Geringste abdingen. Das Böse für »nicht seiend«, für einen Schein zu erklären, den Irrtum nur als Nichtvorhandensein der Einsicht, die Sünde nur als Fehlen der Tugend zu betrachten, ist mit dem Ernst des Erlösungsbedürfnisses, mit der klaren Stimme des Gewissens nicht verträglich. Das Böse ist zweifellose Realität, das lehrt gerade das religiöse Bewußtsein selbst am deutlichsten und gewissesten. Wie aber ist diese Realität möglich in einer Welt, deren ganzes Sein, deren einzige
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Kausalität in der absoluten Persönlichkeit, in dem allmächtigen Normalbewußtsein beruht? Diese Frage ist für menschliche Einsicht völlig unbeantwortbar, das muß sie sich ehrlich eingestehen. In Gott selbst ist des Bösen Wesen und Ursache nicht zu suchen: wo also, wenn er das einzige Wesen, die einzige Ursache ist? Man versucht wohl durch das Wort »Zulassung« über das Problem sich hinwegzutäuschen: aber woher das Zuzulassende? Wenn es nicht selbst aus der Gottheit stammt, so hat es ein eigenes Sein und eigene Macht (auch unter dem Namen der »Freiheit«) neben ihr, und damit hört Gott auf, die einzige Realität und die einzige Kausalität zu sein. Dies Dilemma ist unanfechtbar: es ist so klar und deutlich, daß keine Wortklauberei es auf die Dauer verdunkeln kann. Wir stehen hier vor einem der Fälle, wo wir die Unmöglichkeit der Lösung einer doch unentfliehbaren Aufgabe mit aller Sicherheit einfach aufzuweisen vermögen; es ist die Quadratur des Kreises im religiösen Bewußtsein. Und es ist zugleich die metaphysische Form jener Antinomie, die als subjektive Erscheinung in der Naturnotwendigkeit des Normwidrigen den Ausgangspunkt dieser Untersuchung | bildete. Darin liegt also das große Geheimnis des Lebens, das Geheimnis aller Geheimnisse, das niemand gelüftet hat und niemand lüften wird, und die äußerste Grenze aller Erkenntnis. In der Bedrängnis dieser Gedanken hat schon Platon das lapidare Wort gesprochen: »Also kann Gott, da er gut ist, nicht der Urheber aller Dinge sein«, und hat schon er neben die gute Weltseele die böse gesetzt. So begründet sich die viele Religionen beherrschende Vorstellungsform des Dualismus, die Lehre von der doppelten Weltmacht: neben das Heilige tritt als eigene Macht das Böse, neben die Gottheit der Satan, neben die Engel die Teufel. Obwohl nun aber dieser Dualismus auf dem religiösen Wertbewußtsein und den darin gegebenen Gegensätzen beruht, so hat er doch vor der monistischen Tendenz des metaphysischen Vorstellens niemals standhalten können: immer hat er zu den phantasievollen Versuchen geführt, mit mythologischer Konstruktion das Hervorgehen des Bösen aus dem Guten oder des Guten aus dem Bösen als eine Entwicklung vorzustellen, für welche die anthro-
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pomorphen Beziehungen von Abfall, Schuld, Sühne u. s. f. den Rahmen zu bilden hatten. Nichts hat das religiöse Grübeln tiefer angezogen als das Rätsel, wie in Gott selbst die guten und die bösen Weltmächte miteinander verbunden sein können, und wir dürfen uns nicht wundern, wenn der modernste Gnostizismus uns wieder zu überzeugen sucht, das religiöse Leben des Menschen bestehe in seiner Mitarbeit an der Erlösung, mit der Gott in sich selbst durch die Vernunft das Normwidrige überwinde. Neben diesen vier Hauptformen des transzendenten Vorstellens geht endlich noch die einfachste und primitivste einher, welche den Gegenstand des Abhängigkeitsgefühls je nach den einzelnen Erlebnissen in besonderen Bestandteilen und Verhältnissen der Umgebung findet. Hier öffnet | sich die ganze Breite der Möglichkeiten, in denen das individuell gefärbte Gefühl mit einzelnen Erfahrungsinhalten und Wertbeziehungen sich assoziiert und so den Gefühlsgegenstand zu einzelnen göttlichen Persönlichkeiten, teils guten teils bösen, bestimmt. Das ist die Quelle des Polytheismus und Polydämonismus, der sich in unübersehbarer Mannigfaltigkeit durch alles religiöse Leben hindurchzieht. Denn wie die verschiedenen positiven Religionen zwar die eine oder die andere jener Vorstellungsweisen in den Vordergrund rücken, aber doch immer auch den übrigen Eintritt gewähren, so fügen sich bei der Mehrzahl der historischen Religionen insbesondere auch die polytheistischen Elemente jenen höheren Vorstellungsweisen mit größerer oder geringerer Bedeutsamkeit ein, und das Heilige erscheint im transzendenten Vorstellen der geschichtlichen Menschheit als eine bunte Mannigfaltigkeit von Gestalten, die, so stark ihre empirische Färbung im einzelnen sein mag, doch immer jenen Zug einer die Erfahrung überragenden, höheren Wirklichkeit in sich bewahren. Die Reihenfolge, in der hier die Grundarten aller religiösen Metaphysik entwickelt wurden, ist durchaus nicht die historische; sie ist eher deren Umkehrung, denn das Ursprüngliche in der transzendenten Weltvorstellung ist das Individuelle, empirisch Bestimmte, umfangen von jener gefühlsmäßigen Unbestimmtheit des Einheitlichen, die man in der neueren Religionswissenschaft wohl
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als Henismus oder Henotheismus bezeichnet hat. Aber es handelt sich hier nicht um geschichtliche Fragen, und die begriffliche Entwicklung führt ihrer Methode gemäß vom Unbestimmten zum Bestimmteren und damit immer mehr zu dem historisch Besonderen. Das tritt noch mehr hervor, wenn wir zu dem transzendenten Wollen übergehen, das sich mit psychologischer Notwendigkeit an das transzendente Vorstellen anschließt. Denn das Wissen von einer mehr oder minder geheimnisvollen Lebensgemein|schaft mit überweltlichen, aber in der Welt selbst tätigen Mächten führt selbstverständlich zu mannigfachen Verschiebungen und Umgestaltungen im Wertleben des Menschen, und hierin läßt sich ein ähnlicher Antagonismus verfolgen wie in den theoretischen Verhältnissen. Auf der einen Seite nämlich bedingt die religiöse Gesinnung eine Entwertung des Weltlichen im Gegensatz oder wenigstens im Verhältnis zum Göttlichen. Sie setzt alle empirischen Werte herab, – in extremer Konsequenz, indem sie geneigt ist, sie grundsätzlich zu verneinen und in Bausch und Bogen zu verwerfen, in milderer Anpassung, wenn sie die Güter des weltlichen Lebens aus absoluten Werten in relative verwandelt. Da die Dualität des religiösen Bewußtseins von vornherein eine Wertbestimmung bedeutet, so werden neben dem Göttlichen alle »weltlichen«, »irdischen« Werte gleichgültig, und es entwickelt sich eine Lebensansicht weltflüchtiger Moral, wie sie Platon in seinem Phaidon mit typischer und vorbildlicher Energie gezeichnet hat. Die Vergleichgültigung gegen die empirischen Werte wie Besitz und Ehre kann dabei zu den äußersten Folgerungen der Entsagung und Entweltlichung, schließlich zur vollen Selbstverleugnung und Selbstvernichtung, zur mystischen Hingabe der empirischen Individualität führen. Das Hinausstreben aus der Welt bedeutet die Verachtung ihrer Lust, aber unter Umständen auch ihrer höchsten und besten Güter. Das religiöse Verlangen gilt dann in fanatischer Steigerung über jede andere Rücksicht: Familie und Vaterland, Freundschaft und Berufspflicht verlieren ihre Macht über den Menschen. So entwickelt sich gelegentlich in religiösen Gemeinschaften (wie in der Theorie bei der stoischen ἀπάθεια) eine bedenkliche Gleichgül-
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tigkeit gegen alles Weltliche, auch gegen Wissenschaft und Kunst, gegen Staat und Sittlichkeit. An die Stelle des weltlichen Glückseligkeitstriebes setzt | diese weltflüchtige Religiosität das Trachten nach der Seligkeit. Das »Heil der Seele« wird zum einzigen Gegenstande des Wollens. In dieser Weise kann sich bei gleichzeitiger Entwertung aller weltlichen Beziehungen ein transzendenter Egoismus einstellen, der sich von dem gewöhnlichen nicht der Gesinnung nach, sondern nur durch den aus dem religiösen Vorstellen bestimmten Inhalt des persönlichen Glücksbedürfnisses unterscheidet. Dazu kommt, daß vermöge der sinnlichen Vorstellungen vom überirdischen Leben sich häufig genug in dieser Sehnsucht nach der ewigen Seligkeit verhüllte Triebe des sinnlichen Egoismus verstecken; aber auch in den reineren Formen asketischer, kontemplativer, ekstatischer Weltentfremdung liegt die Gefahr der Vernachlässigung irdischer Pflichten und der Verachtung aller Werte dieses Lebens nahe genug. Je stärker der religiöse Dualismus sich befestigt, um so entschiedener scheint das Wollen auf die Wahl zwischen dieser und jener Welt angewiesen zu sein, – wie es ein alter arabischer Denker mit echt muselmännischem Vergleich ausgesprochen hat: Hic enim mundus et alter tamquam duae sunt unius mariti mulieres, quarum si alteri placueris alteram ad invidiam revocaveris. Indessen ist diese Entweltlichung des Wollens keine unumgängliche Folgerung der religiösen Umwertung; ja die Natur hat selbst dafür gesorgt, daß damit sehr selten völlig Ernst gemacht wird, und im Wesen der Sache liegt es, daß diese negative Richtung, so konsequent sie zu sein scheint, doch in sich ebenso widerspruchsvoll ist, wie sie einseitig ist. Denn sie gründet sich nur auf die pessimistische, Gott und Welt auseinanderreißende Seite des religiösen Fühlens und Vorstellens: sobald die entgegengesetzte, die optimistische Seite des religiösen Bewußtseins in den Vordergrund tritt, ändert sich auch die Stimmung des Wollens. Dann wird man sich wieder bewußt, daß alle höchsten Werte des Menschenlebens selbst schon leben|dige Gottestaten sind und daß, sie zu erstreben, nach Gott trachten heißt. Wenn in den höchsten Lebenswerten die Gottheit selbst gegenwärtig ist, so heißt, ihnen gemäß leben,
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in Gott leben und ihm ähnlich werden. So wird das sittliche Ideal der Vollkommenheit in der religiösen Moral als Gottähnlichkeit gedacht. Damit erhalten die großen Ordnungen der empirischen Lebensgemeinschaft der Menschen den Wert göttlicher Institutionen, und was von der negativen Seite her als das Weltliche, das Profane erscheint, wird nun von dem Lichte des Heiligen durchleuchtet. Die Gesamtheit der allgemeingültigen Werte erlangt in solchem religiösen Zusammenhange gesteigerte und vertiefte Bedeutung, man könnte sagen metaphysischen Adel. So gelten zunächst die moralischen Gesetze als die Gebote Gottes. Damit verstärkt sich nicht nur die unmittelbare Evidenz des Pflichtbewußtseins zu erhöhter und standhafterer Motivationskraft, sondern es bekommen auch alle die Lebensverhältnisse, die danach bestimmt werden sollen, einen übergreifenden, in die letzten Zusammenhänge aller Wirklichkeit aufragenden Sinn und Wert. Indem sich der Mensch durch sein sittliches Handeln in den Dienst der Gottheit stellt, gehört er einer höheren Weltordnung an. Dieselbe Höherwertung im religiösen Licht gilt für die Erkenntnis: alle ihre einzelnen Errungenschaften stellen sich schließlich als die Wege zur Erfassung des göttlichen Wesens dar, und ihre wertvollsten Stufen erscheinen als Erleuchtung und Offenbarung, als das Wirken Gottes im menschlichen Geiste, als Entzündung des kleinen Lichts an dem großen, das die Welt erleuchtet. Die wahre Wissenschaft ist lebendige Einheit mit Gott. Und nicht anders ist es mit der Welt des Schönen. Von jeher galt der Künstler als der von Gott begeisterte Schauer und Gestalter, und auch der ästhetische Genuß stellt sich als eine selige Versenkung | in die harmonische Ruhe, in die weihevolle Erhabenheit des göttlichen Wesens dar: Erschütterung wie Befriedigung quellen aus der ahnungsvollen Berührung mit dem Unendlichen. So heben sich alle höchsten Werte des Menschenlebens in die religiöse Sphäre empor, sie treten als Formen der religiösen Betätigung nicht nur in den anfänglichen Zuständen, sondern gerade in den gesteigerten Epochen der geschichtlichen Bewegung auf: sie gewinnen eben damit eine über ihre zeitliche Erscheinung in eine höhere geistige Welt hinaufragende Würde. Und diese Dignität
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überträgt sich in der religiösen Wertung auch auf die metaphysische Stellung des Menschen. Die unmittelbare Lebensbeziehung, in die er durch die Religion zu dem Transzendenten tritt, bedeutet ein metaphysisches Hinausreichen über seine empirische, räumlich und zeitlich begrenzte Existenz. Auf die »Ähnlichkeit« der Seele mit den von ihr aufzunehmenden »Ideen« gründet sich seit Platon die Überzeugung von der übersinnlichen Realität der vernünftigen Persönlichkeit. Aber diese Überzeugung kann nicht zum Gegenstand wissenschaftlicher Beweisführung und Erkenntnis werden. Denn die Lebensinhalte, auf die sich dies Postulat stützt, sind unpersönlicher oder überpersönlicher Art: die allgemeingültige Norm, die »Vernunft« ist für alle Individuen dieselbe; sie kann für das Empirische und Zeitliche, wodurch allein die Personen sich für die Erkenntnis voneinander unterscheiden, nicht die Gewähr einer metaphysischen Bedeutung bieten. Den Ausweg aus diesem Dilemma bietet wiederum teils die Verengerung der metaphysischen Idee zu empirischer Bestimmtheit, teils die transzendente Ausweitung des in der Erfahrung Erlebten. Aus diesen Motiven erwächst der Unsterblichkeitsglaube in seinen mannigfachen historisch bestimmten Formen. Das zeitlos Überempirische des Normalbewußtseins verwandelt sich in end-| lose Zeitdauer empirischer Bestimmungen. Wenn dabei logisch Präexistenz und Postexistenz der Seele an sich gleich begründet erscheinen, so betont das religiöse Leben, da die Wertungen des Wollens und Handelns in die Zukunft weisen, durchgängig nur die Postexistenz, und nur gelegentlich prägt sich das Bewußtsein der Sündigkeit in der Vorstellung eines dem Erdenleben vorhergehenden Sündenfalles aus. In jene über die Erfahrung hinausreichende Existenz aber werden dann nicht bloß die idealen Güter des religiösen Postulats, sondern auch sehr reale Wertinhalte der empirischen Existenz verlegt, und mit zahllosen Abklängen erscheint das »ewige« Leben als die vollkommene Fortsetzung des zeitlichen. Auch den sinnlichen Genuß hat bekanntlich die Phantasie der Völker von den Freuden des Paradieses nicht ausgeschlossen, und selbst das Glück seligen Friedens, der Ruhe nach dem Kampf, hat solchen empirischen Anklang: nur im Wechsel des zeitlichen
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Daseins ist es ein Gut, sein Wert verschwindet mit der Dauer. Mit derselben Unausgeglichenheit zwischen metaphysischen und empirischen, übersinnlichen und sinnlichen Vorstellungen sind endlich in aller religiösen Ethik die Gedanken von der postmortalen Gerechtigkeit behaftet, in denen das Sündengefühl und das Erlösungsbedürfnis mit den Motiven der Furcht und der Hoffnung verwachsen. Schon in solchen Vorstellungen von Lohn und Strafe enthält die religiöse Motivation Analogien zu den empirischen Verhältnissen des Menschenlebens, und dasselbe zeigt sich im transzendenten Wollen überall bei der Beziehung der endlichen zu der unendlichen Persönlichkeit: sie gestaltet sich nach Art der erlebten Verhältnisse von Person zu Person. Das Grundverhältnis ist hier das der Unterordnung, der vertrauensvollen Hingabe des Menschen an das höhere Wesen. So erscheint der Glaube als fides und fiducia. Aus bestimmten sozialen Zuständen heraus | entwickelt sich diese Hingabe als die schlechthinige Abhängigkeit des Dieners vom Herrn: sie verlangt vom Menschen Gehorsam und Furcht, unter Umständen auch die äußeren Zeichen der Dienerschaft, sie erwartet von dem göttlichen Herrn Gerechtigkeit, Güte und Gnade. Verwandt mit dieser Analogie ist das Verhältnis des Mitkämpfers zum Kriegsherrn: es spricht sich in dem Bündnis des Gottes mit dem Menschen aus, wodurch dieser zur Teilnahme an dem Streite gegen das Böse in der Welt, wohl auch gegen die bösen Dämonen und fremden Götter verpflichtet wird: der Treue der Heeresfolge, die der Mensch dabei zu leisten hat, entspricht die Treue des Schutzes, den ihm der Gott gewährt. Weiterhin aber begegnen uns als Beziehungen zwischen Gott und Mensch alle Arten der Liebe, die zwischen Menschen selbst möglich sind, die geschlechtliche nicht ausgeschlossen: und die höchste und reinste Form dieser Hingabe von Person zu Person ist das Verhältnis des Kindes zum Vater, worin der bedürfenden Liebe die helfende Liebe segnend entgegenkommt. Alle diese Inhalte des transzendenten Wollens werden in den mannigfachsten Lagen des Lebens zu Motiven für die Willensentscheidung, und sie haben die Bestimmung, als religiöse Gesinnung
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alles Handeln des Menschen zu erfüllen und zu lenken. Sie sollen das ganze Leben durchdringen, nicht bloß zu besonderen Gelegenheiten und Zeiten. Es ist eine niedere Stufe der Religion, wenn der Mensch nur zu gewissen, etwa kalendermäßig bestimmten Zeiten sich auf seinen Gott besinnt, sich mit ihm auseinandersetzt und abfindet, sein Verhältnis zu ihm wieder regelt und im übrigen ihn einen guten Mann sein läßt. Aber die stetige Durchdringung des Wollens mit den religiösen Motiven prägt für sich allein den dadurch bestimmten Tätigkeiten des weltlichen Lebens noch nicht den Charakter eines transzendenten Handelns | auf. Von diesem kann erst da die Rede sein, wo der Sinn und Inhalt der Handlung selbst eine unmittelbare Beziehung des Menschen zur Gottheit ausdrückt. Solche Handlungen nennen wir Gottesdienst oder Kultus. Wir verstehen darunter dasjenige äußere Tun des Menschen, durch das er seinen Lebenszusammenhang mit dem Heiligen direkt bekräftigt. Im Kultus will der Mensch unmittelbar auf die Gottheit einwirken und von ihr eine unmittelbare Wirkung erfahren: er ist seinem Sinne nach ein metaphysisches Tun. Die Art dieser Wechselwirkung aber hängt selbstverständlich nicht nur von der religiösen Gesinnung, sondern, wie z. T. schon diese selbst, von den Vorstellungen ab, mit denen der Handelnde das Heilige auffaßt; und da das Handeln selbst nur eine empirische, einen endlichen Inhalt verwirklichende Funktion sein kann, so setzt gerade das Bedürfnis transzendenten Handelns die Verendlichung und Vermenschlichung der Gottesvorstellung voraus. Die Gottheit muß als ein Wesen gedacht werden, mit welchem der Mensch durch körperliche Tätigkeiten in unmittelbare Wechselwirkung treten kann. Daher ist das Erste dabei die Vergegenwärtigung Gottes im Gebet. Die Anrufung, zumal in ihren grob sinnlichen Formen, ignoriert freilich die Allgegenwart der Gottheit ebenso wie ihre Allwissenheit: der Gott soll seine Aufmerksamkeit dem Betenden zuwenden und erfahren, was dieser will. Erst auf hochentwickelter Stufe wird dieser Sinn des Gebetes umgekehrt und verinnerlicht, und es erhält als Zustand des Herzens die Bedeutung, daß der Mensch sich dazu bereitet, die Stimme Gottes in sich zu verneh-
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men, daß er den Gott sich vergegenwärtigt, sich zu ihm erhebt, in ihm zu leben sich bewußt sein will. In den primitiven Formen des Gebets wird der Gott angerufen, um ihn zu bitten: und zwar wird seine Hilfe bei allen Wünschen und in allen Nöten des | Lebens erbeten. Die eigene Gesundheit und Rettung, der Erfolg der Unternehmungen, das Wohl des Freundes, der Familie, des Volks und nicht minder das Unheil, die Niederlage, der Tod des Feindes – alle weltlichen Interessen werden Inhalte des Bittgebetes, aber ebenso auch und in gesteigertem Maße das Seelenheil in seinen verschiedenen Gestalten. Alle Hilfsbedürftigkeit des Menschen ergießt sich in diese Form des Kults, bis zu jener Bitte »um das rechte Wollen«, bei der das religiöse Bewußtsein ebensowenig wie bei dem Gebet, daß Gott die Herzen der Menschen lenken möge, sich Sorgen um ihre Vereinbarkeit mit der Freiheit, Verantwortung und Zurechnung zu machen pflegt. In der Tat ist das Bittgebet fast immer die Bitte um ein Wunder: im Vertrauen auf die wundertätige Kraft der Götter wird um Etwas gebetet, was nach dem vorauszusehenden Lauf der Dinge entweder gar nicht oder nicht sicher eintreten wird. So mannigfach sind, der ganzen Breite menschlicher Bedürftigkeit entsprechend, die inhaltlichen Abstufungen des Bittgebetes, die sich dann nach der Erfüllung in den Formen des Dankgebetes wiederholen. Aber wie schon Anrufen, Bitten, Danken ein Verhältnis zwischen Personen voraussetzt, so verbindet sich damit von selbst ein anderes: die Unterstützung der Bitte durch Handlungen. Der Mensch will von seinem Gott eine Leistung: er bringt ihm eine Gegenleistung dar. Das ist die ursprüngliche Bedeutung des Opfers: es ist bestimmt, den freundlichen Gott zu gewinnen, den feindlichen zu beschwichtigen. Im ersteren Sinne ist es das zur Unterstützung des Gebets bestimmte Bittopfer, das auch in der Form eines Versprechens der Gegenleistung, als Gelübde auftreten kann: nach Erfüllung der Bitte tritt dann das Dankopfer ein, sei es als Einlösung des Versprechens, sei es als sichtliche Betätigung dankbarer Gesinnung. In dem anderen Sinne wird der | fremde, entgegenstehende Gott durch das begütigende Versöhnungsopfer abgewendet, insbesondere aber die göttliche Macht, die der
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Mensch irgendwie verletzt zu haben sich bewußt ist oder befürchtet, durch das eigentliche Sühnopfer beschwichtigt. In allen Fällen ist der Gegenstand des Opfers selbstverständlich ein Wert – etwas, was der Mensch für sich selbst als einen Wert erachtet und von dem er andrerseits auch annimmt, daß es irgendwie auch für den Gott einen Wert ausmache oder wenigstens bedeute. In diesem Sinne werden Güter und Leistungen geopfert: jene bestehen in Früchten, Tieren, Menschen und anderen Besitztümern aller Art, insbesondere auch in Geld, – diese sind eigne und fremde Dienste, religiöse Handlungen wie Gebete, Wallfahrten usw. In der feinsten und durchgeistigtsten Form besteht das Opfer in dem Verzicht auf alles Erdenglück, in der Hingabe des Lebens und der Persönlichkeit selbst. So zeigt sich auch hier die ganze Skala vom grobsinnlichen Hergeben ungern entbehrten Erdenguts bis zur asketischen und mystischen Vergeistigung des Opfers. Alle diese transzendenten Handlungen werden zunächst als solche in ihrer unmittelbaren sinnlichen Bedeutung ausgeführt: aber selbst in der primitivsten und rohesten Form fehlt ihnen doch niemals das eigentlich transzendente Moment. Eine Ahnung wenigstens ist immer dabei von dem jenen sinnlichen Zusammenhang überragenden, übersinnlichen Wesen der Gottheit und des Verhaltens zu ihr. Selbst in der Art, wie der Neger seinen Fetisch behandelt, steckt doch dies unheimlich Unbekannte. Auf diese Weise gewinnen alle jene Handlungen den Sinn, daß sie neben ihrem unmittelbaren empirischen Inhalt noch etwas Anderes, Höheres bedeuten. Damit werden sie symbolisch oder wenigstens halbsymbolisch, und es gibt zahllose Abstufungen in solchem halb bewußten, halb unbewußten Symbolismus der Kultusformen. Sie | besitzen darin ihre Vieldeutigkeit, ihre Biegsamkeit und ihre staunenswerte Umbildsamkeit und Anpassungsfähigkeit. Das tritt besonders hervor, wenn entweder durch fortschreitende Vergeistigung der Vorstellungen vom Heiligen die Kulthandlung ihre ursprüngliche sinnliche Bedeutung verloren hat, oder wenn umgekehrt aus einer geistigeren Auffassung ein Rückfall in die sinnliche Behandlungsweise stattgefunden hat. Von beiden Möglichkeiten zeigt die Religionsgeschichte zahlreiche Beispiele: von größter
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Wichtigkeit aber wird dies Verhältnis in den Fällen, wo innerhalb derselben religiösen Gemeinschaft verschiedene Schichten des intellektuellen Verhaltens zu den Gegenstünden des religiösen Bewußtseins bestehen. In solchen Zuständen kann dieselbe Kulthandlung für die Einen ihre sinnlich unmittelbare Bedeutung, für die Anderen einen mehr oder minder übertragenen und sublimierten Sinn haben. In dieser Weise symbolisch und halbsymbolisch sind zunächst alle Handlungen, durch die der Mensch ausdrückt, daß er sich zum unmittelbaren Verkehr mit dem Heiligen vorbereitet durch das Abtun des alltäglichen Treibens, seines physischen Schmutzes und seiner sinnlichen Begehrlichkeit. Dahin gehören die Waschungen und Reinigungen aller Art, der Verzicht auf die Befriedigung leiblicher Bedürfnisse, das Fasten und die sexuelle Enthaltung. Dazu kommen als Ausdruck und Bekräftigung reuiger Gesinnung die Bußübungen, die Selbstpeinigungen, bei denen die nervöse Erregung durch die Erzeugung körperlichen Schmerzes bis zur pathologischen Steigerung der zerknirschten Stimmung führen kann. Und ebenso geht selbstverständlich das Symbolische in alle Formen des Opfers ein, so daß dadurch gerade dieser Teil des Kultus seine eigenartig schillernde, in jedem einzelnen Fall schwer mit Sicherheit zu deutende Erscheinung bekommt. Zum Symbolischen ist endlich auch die Verehrung | des Sitzes der Gottheit zu rechnen: Pflanzen und Tiere, Bäume und Steine, Flüsse und Berge, Bilder und Tempel und alles Zubehör, räumliche und zeitliche Momente der verschiedensten Art empfangen den Wert der Heiligkeit, der Geweihtheit: und der halbsymbolische Charakter zeigt sich dabei darin, daß es schwer auszumachen ist, ob für das religiöse Bewußtsein die Wunderwirkungen mehr von der göttlichen Persönlichkeit selbst oder von den ihr geweihten Dingen ausgehen. Die merkwürdigste Rolle aber spielt das Symbolische in allen Formen der Theurgie, die ja darauf hinausläuft, jene Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch, die das Wesen des transzendenten Handelns ausmacht, zu einem geheimnisvollen Zwange zu steigern, den der Mensch auf die göttliche Macht ausübe. Die dazu angewendeten Handlungen gelten nicht mehr als solche, in
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ihrer bloßen sinnlichen Konkretheit als wirksam: sie werden es erst durch die formelhaft genau bestimmte Art ihrer Ausführung, durch das wunderwirkende Wort, das sie geheimnisvoll begleitet (verbum mirificum) , durch symbolische, bis zur Fratzenhaftigkeit verzerrte Beziehungen auf einen transzendenten Zusammenhang. In Orakeln und mantischen Künsten, in allen Formen der Zauberei wird so das transzendente Handeln der Religion magisch. Der Mensch traut seinen nach gewissen Normen vorgenommenen Handlungen die Kraft zu, das göttliche Wesen zu zwingen. Darin steckt schließlich neben der Vorstellung einer überempirischen Weltordnung ein starker Glaube an die metaphysische Bedeutung der menschlichen Persönlichkeit. Auch die Gottheit als einzelne dämonische Gestalt gilt als gebunden unter ein ganzes System geheimnisvoller Beziehungen, deren der Mensch durch besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten Herr werden kann: unter dem Zwange der theurgischen Formel muß selbst der Gott, auch wenn er nicht will. Er muß erscheinen, | muß am bestimmten Orte zu bestimmter Stunde in sinnlicher oder halbsinnlicher Gestalt gegenwärtig sein; er muß leiden und tun, wandern und wirken, wie es der Wille des Beschwörers verlangt. So waltet in der religiösen Zauberei auch über Dämonen und Göttern eine einheitliche Weltmacht und eine Geisterordnung, in die der Mensch oder wenigstens der Zauberer, der Priester, der Weise als ebenfalls transzendente Persönlichkeit mit seinem Wissen und Können einzugreifen imstande ist. Die Bedeutung des Symbolischen im religiösen Handeln ist jedoch mit allen den einzelnen Auszweigungen, deren Grundformen hier angedeutet wurden, noch lange nicht erschöpft. Ein allgemeines Moment von höchster Wichtigkeit ist bei ihnen allen der ästhetische Charakter, den das transzendente Handeln seinem Wesen nach besitzt. Die sinnliche Form der in der Körperwelt auftretenden Gestaltungen und Bewegungen ist mit dem ideellen Inhalt des religiösen Bewußtseins in der Kulthandlung zu untrennbarer Einheit verschmolzen: deshalb bedarf selbst die vergeistigte, aller sinnlichen Ursprünglichkeit entwachsene Religiosität einer solchen sinnlichen Ausprägung des inneren, geistigen Vorganges.
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Die Verknüpfung mit dem künstlerischen Bedürfnis der Selbstdarstellung ist dem religiösen Leben gerade deshalb eigen, weil es mitten im Empirischen und Endlichen das Transzendente und Unendliche zu gestalten bestimmt ist. Daher schreibt sich die stetige Beziehung zwischen Kunst und Religion, die von beider Beginn her durch ihre ganze Geschichte sich hindurchzieht und gerade an den Höhepunkten ihrer Entwicklung greifbar zutage tritt. Durch dies sachliche Verhältnis hat sich auch Hegel genötigt gesehen, in seiner begrifflichen Konstruktion der Ästhetik und der Religionsphilosophie einen weithin reichenden Parallelismus walten zu lassen. Die Einheit der Idee mit der Erscheinung, der Norm mit der Wirklichkeit, die | in aller Religion als ewig unlösbares Problem aufgegeben ist, stellt sich in der Kunst und nur in der Kunst mit der Unmittelbarkeit des Lebens gegeben dar. An das ästhetische Moment im Symbolischen knüpft sich endlich noch ein anderes, das soziale. Indem der Mensch das innere Verhältnis, wodurch er sich in Wechselwirkung mit dem Heiligen weiß, zum äußeren Ausdruck bringt, folgt er nicht nur dem Triebe, das Innere im Äußeren auszuleben, sondern er erfüllt zugleich das Bedürfnis, seinen religiösen Zustand seiner Umgebung mitzuteilen und verständlich zu machen. Er setzt bei dem Nebenmenschen die Möglichkeit gleicher religiöser Stimmung voraus; er will sie in ihm erwecken oder bestärken. So hat die Kulthandlung ihren wertvollsten Sinn darin, das religiöse Erlebnis des Einzelnen und seine Beziehung auf das Heilige zu einem Gesamterlebnis der Gemeinde zu steigern. Sie ist der allein adäquate Ausdruck der Gemeinsamkeit des religiösen Lebens, eine Handlung nicht des Einzelnen, sondern der Gemeinschaft. In diesem Sinne besteht der symbolisch-halbsymbolische Charakter des transzendenten Handelns darin, daß die gemeinsame Kulthandlung des Gottesdienstes zunächst für jedes Individuum das unmittelbare Verhältnis zur Gottheit herstellt, dabei aber zugleich der ästhetisch gestaltete Ausdruck dafür wird, daß die Gemeinde als Ganzes sich im Lebenszusammenhange und in Wechselwirkung mit der Gottheit fühlt und daß eben darin auch eine religiöse Lebensgemeinschaft der Individuen untereinander gegeben ist. Das ist der Sinn der Sa-
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kramente und die eminent soziale Bedeutung aller großen Formen des öffentlichen Gottesdienstes. In solchen Zusammenhängen wird es begreiflich, daß die Religion, ihrem Wesen nach transzendentes Leben, in ihrer empirischen Erscheinung sich als historisch-gesellschaftliches Gebilde darstellt. Ihre Lebensformen, deren Grund|züge in den Sphären des Fühlens, Vorstellens, Wollens und Handelns hier begrifflich aus der Einheit ihrer in den letzten Gründen der Vernunft beruhenden Bestimmungen abgeleitet werden sollten, vollenden sich zu konkreter Lebendigkeit erst in den geschichtlichen Organisationen der positiven Religionen. Denn so wenig es zu bezweifeln ist, daß es völlig individuelle Gestalten der Religiosität gibt, so erwachsen diese doch immer nur auf dem Untergrunde des gemeinsamen, in geschichtlicher Entwicklung begriffenen religiösen Lebens der Menschheit. |
Sub specie aeternitatis Eine Meditation
οἶδα γὰρ ὅτι ὀλίγοις τισὶ ταῦτα καὶ δοκεῖ καὶ δόξει. Platon.
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ei Geburt und Tod, wenn des Lebens Gestalten kommen und gehen, da sprechen die Menschen von Wechsel und Vergänglichkeit, von Zeit und Ewigkeit, – da wundern sie sich, wie in das Tageslicht der Wirklichkeit die Dinge heraufdämmern und wie sie in die Nacht des Nichtseins wieder zurücksinken. Aber am grausigsten fühle ich diesen dunklen Strom, mit dem wir alle treiben, dann, wenn nichts geschieht und nichts sich ändert. Wenn ich in der Einsamkeit den Zeiger der Uhr sinnlos von Strich zu Strich fortschreiten sehe, oder wenn ich in stiller Nacht den Schlag meines Pulses zähle, dann schaudere ich davor, wie die Tropfen der Gegenwart aus unbekannter Höhe vor mir niederrieseln in unbekannte Tiefe. Aber das Dämonische in dem Eindruck der leeren Zeit und ihres vernunftlos gleichmäßigen Abflusses liegt doch, wenn ich es recht bedenke, darin, daß ich weiß, welch eine Gewalt des Zerstörens, des Zerfressens und Zerbröckelns in diesem steten Fall der Zeittropfen wohnt. Zwar erkenne ich, daß all das Entstehen und Vergehen, all das Zeugen und Vernichten nicht durch die Zeit, sondern nur in der Zeit vorgeht: aber ich weiß auch, daß, wie der leere Raum, so die leere Zeit ein rätselhaftes Nichts ist, ohne welches für mich kein Etwas erscheint. Je mehr ich diesen gleichgültigen und sinnlosen Hinter|grund alles dessen, was mir lieb ist, betrachte, um so unbegreiflicher und unheimlicher wird er mir. Anfangslos und endlos dehnt er sich hinter mir und vor mir aus, und ich bin – ohne zu wissen, weshalb – davon überzeugt, daß daran nicht die Blödigkeit meines Blicks schuld ist, der nicht weit genug reichte, sondern daß nie ein
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Anfang und nie ein Ende dieses immer gleichen Abflusses gewesen sein und werden könne. Dem Endlosen gegenüber verschwinden die Maße, mit denen ich das Endliche zu vergleichen gewöhnt bin. Tausend Jahre sind wie Ein Tag vor dem Blicke, der den ganzen Zeitablauf – vergebens – zu umspannen sucht. Wie töricht erscheint da alles, was wir tun, um dem Vergänglichen größere Dauer zu leihen! Ist es nicht gleichgültig, ob wir in das Endlose hinein eine geringere oder eine größere Strecke bauen? Es wird doch alles wieder dahingerafft! Was hilft es uns, zu hoffen, daß das Andenken an uns und an das, was wir gewollt, eine Spanne Zeit unser Leben überdauere? Der Zeitenlauf, der die Sonnen nicht schont, wird auch mit unseren Pyramiden fertig werden. Rettungslos gleitet alle Herrlichkeit der Menschengeschichte in den Abgrund endloser Zukunft. Unsere Schriften und Denkmäler, all unsere Vorrichtungen, mit denen wir der Vergessenheit ein paar Jahrzehnte oder ein paar Jahrtausende abzugewinnen hoffen, – sind sie nicht dem endlosen Wechsel gegenüber ungeschickte Versuche, ein Meer auszuschöpfen? All unsere stolzen Werke, die für die späteste Zukunft fest und sicher gefügt sein sollen, – Pfahlbauten sind sie über dem Strome der Vergänglichkeit. Man hat mich gelehrt, all diesen Wechsel werde meine Seele überdauern, sie sei unzerstörbar wie die Zeit selbst. Ich weiß nicht, ob es so ist; noch niemand hat’s bewiesen und niemand widerlegt. Aber eines weiß ich bestimmt: das ist, daß die bloße endlose Dauer mir nicht helfen | würde! In mir wechselt die Welt wie um mich. Was als Gehalt meines Vorstellens, meines Fühlens, meines Wollens in mir ist, das tritt in der Zeit auf und verschwindet in der Zeit. Wenn ich unzerstörbar sein soll, – bin ich vielleicht auch ungeworden? aber was weiß ich von dem, was vor meiner Geburt mir geschehen ist? Und wenn ich so, ein Ahasverus, durch die endlosen Tage mich hinschleppen, immer Neues in mir wie um mich entstehen und vergehen sehen soll, – ist das die Mühe und die Last des Seins wert? Was denken sich die Menschen bei dieser Vorstellung einer endlosen Dauer ihres Lebens? Wenn der gemeine Mensch in seinem
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Glückseligkeitsbedürfnis sich in dem Gedanken dieser Unvergänglichkeit gefüllt, so wünscht er nur, aus der endlosen Tiefe der Zeiten endlose Lust zu schöpfen. Wenn der bessere Mensch, unbefriedigt von dem, was ihm hier zu leisten vergönnt war, den ganzen Ablauf der Zeiten für sich verlangt, so liegt der Wert eines künftigen Lebens für ihn nicht in jener unbegrenzten Dauer, sondern in der Fülle rastloser Betätigung, die sie ihm ermöglichen soll: wertlos würde die endlose Existenz auch ihm werden, wenn er ohne diesen Inhalt nur so einfach weiter existieren sollte. Die bloße endlose Dauer befreit mich nicht von der Macht der Zeit, sie stürzt mich nur tiefer unter sie. Die bloße Dauerhaftigkeit meines Seins ist mir für sich allein wertlos. Nur ein elementares und rohes Empfinden hat Respekt vor der brutalen Haltbarkeit, in welcher jeder Stein dem besten meiner Gedanken überlegen ist. Von der Vergänglichkeit des zeitlichen Wesens komme ich auch durch eine endlose Existenz nicht frei. Wenn ich mich darüber soll erheben können, so ist es nur durch den Inhalt, durch den Wert meiner Existenz möglich, – nur dadurch, daß es mitten in dem zeitlichen Abfluß meines Lebens etwas gibt, was über alle zeitliche Bestimmung | erhaben ist, wenn ich dies erfassen und es zum Inhalt meines Seins machen kann. Ein unbegrenztes Weiterleben hat für mich nur insofern Wert, als es mir – vielleicht in höherer Form – dasselbe ermöglicht, was ich, wenn es überhaupt möglich ist, schon jetzt zu gewinnen vermag. Die Befreiung von der Zeit und ihrem Wechsel winkt nicht in der unausdenkbaren Ferne des Zeitverlaufs, sondern in jedem Augenblick, wo ich in mir selbst die Zeit zu vernichten weiß. Wenig tröstlich scheint mir daher, was sich die meisten Menschen denken, wenn sie der Zeit die Ewigkeit gegenüberstellen. Aus vielen Redewendungen, die mir alle Tage begegnen, sehe ich, daß sie unter Ewigkeit nur eine unbegrenzte Zukunft denken. Ihre Ewigkeit ist, im Grunde genommen, die Zeit selbst im Gegensatze zu den einzelnen Zeitgrößen, die sich nur in beschränkter Dauer darstellen. Darum aber soll man nicht sagen, daß mit jener Vorstellungsweise die Zeit überwunden sei, welche vielmehr mit der ganzen Endlosigkeit, die zum Wesen ihrer Anschauung gehört, die
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Grundlage davon bildet. Ich aber frage jetzt nicht nach der Dauer meines Lebens, sondern nach der Möglichkeit einer zeitlosen Existenz. Aber hüte ich mich, mein Verlangen zu hoch zu stellen! In der Zeitlosigkeit, in der Vernichtung der Zeit suche ich die Ewigkeit: ist das nicht ein törichtes, ein unmögliches Begehren? Stehe ich doch selbst mit allen meinen Kräften und Tätigkeiten mitten in der Zeit; und wenn sie die allgewaltige Macht in allen Dingen ist, wie kann ich sie in mir vernichten? Ein Weg scheint sich mir zu bieten, den schon mancher betreten hat. Es wurde mir schwer, etwas so völlig Inhaltloses und Sinnloses wie die leere Zeit für den Boden alles dessen, was wirklich ist, zu halten. Aber der Anblick der Dinge nötigte mich dazu; denn nichts hab’ ich je erfahren, nicht in mir noch außer mir, was nicht | irgendeine Stelle in dieser leeren Zeit eingenommen hätte und nicht durch das Verhältnis zu dem Vorhergehenden und dem Nachfolgenden bestimmt gewesen wäre. Aber diese Nötigung, jeden Inhalt meiner Vorstellungen in zeitlicher Einordnung aufzufassen, – sollte sie vielleicht nicht im Inhalt, sondern nur in einem Gesetz meiner Vorstellungstätigkeit begründet sein? Sollte jenes endlose Ganze, welches ich noch dazu mit den einzelnen Zeitgrößen in kein irgendwie aussprechbares und fest bestimmbares Verhältnis setzen kann, und welches selbst, wie ich mich besinne, nicht einmal ein Gegenstand meiner Erfahrung ist, sollte es vielleicht nur eine Form meiner Vorstellung sein, der keine Wirklichkeit entspricht? So wäre das Schreckbild der Vergänglichkeit, vor dem ich schauderte, nur ein Wahnbild, mit dem ich mich selber ängstigte. Wäre es an dem, so fiele eine große Last von mir auch in anderer Hinsicht. Denn die schwersten Zweifel, die mich oft beunruhigt haben, sind gerade dadurch hervorgerufen worden, daß man mir hat zeigen können, es sei in all den Erscheinungen, welche im Ablauf der Zeit sich vor mir abrollen, ein geheimer Rhythmus, wonach die Form der Bewegung sich immer wiederholt, und nach diesem Rhythmus könne alles, was da auftaucht in der Reihenfolge der Dinge und ihrer Tätigkeiten, so begriffen werden, daß man einsieht, wie es hat kommen müssen und wie es ebenso auch
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wieder verschwinden muß. Zu dem, was auf diese Weise, dem Rhythmus gemäß, kommt und geht, dazu gehöre, hab’ ich weiter zugeben müssen, auch jeder Wunsch und jedes Wollen, das in mir oder einem anderen oder in vielen anderen erwacht und sich geltend macht als Beurteilung der Dinge und ihrer Zustände, der Menschen und ihrer Tätigkeiten. All dieses Begehren und Beurteilen also, welchen Inhalt es auch habe, sei gleich notwendig; manches sei in engerem, manches in weiterem Kreise verbreitet, manches erhalte | sich länger und manches kürzer: und eines löse in diesem Rhythmus immer schließlich das andere ab. Ich aber hatte bis dahin geglaubt, daß es Ideale gäbe, die nicht nur ich, sondern jeder andere auch, immer wollen müsse; es war mir ganz gleichgültig gewesen, wie ich dazu gekommen war, an sie zu glauben; ich wußte nur, daß ich sie begehrte, solange ich von ihnen weiß, und daß es leider mir selbst nur selten gelang, ihnen gemäß zu tun. Wenn das nun aber alles auch nur so Wünsche sind, wie sie als Zeitgebilde tausendfach in dem Rhythmus der Seelentätigkeiten zustande kommen, woher nehme ich dann das Recht, andere nach diesen Wünschen zu beurteilen, und weshalb soll ich mich eigentlich selbst noch in einer mich häufig so kränkenden und hemmenden Weise an sie gebunden fühlen, wie ich das vorher tat? Wenn ich meine Ideale nur als Produkte betrachte, die in der endlosen Wellenbewegung der Erscheinungen kommen und gehen wie alles andere, – und wie oft habe ich gehört, daß dies die einzige wissenschaftliche Betrachtung sei –, so höre ich auf, sie für wertvoller zu halten, als die ganze Masse der übrigen Wünsche. Wenn einer so notwendig ist wie der andere, so kommt es nur darauf an, welcher gerade mit der größten Energie hervorgetrieben wird. Wenn die zeitliche Auffassung und die Einsicht in den notwendigen Vorgang des zeitlichen Entstehens das letzte Wort ist, welches die Wissenschaft über diese Dinge zu reden vermag, so weiß ich nicht, wie für sie noch eine Pflicht übrig bleiben kann, die für alle ausnahmslos und immer gelten soll. In die Zeitanschauung gebannt zu sein, das ist, fürchte ich, die Erbsünde des Intellekts. So will ich denn versuchen, von diesem Fehler mich frei zu machen. Wie ein Schleier lag es um meine Augen, und die flimmernde
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Unruhe des Entstehens und Vergehens umspielte mir täuschend das reine Bild der Wirklichkeit: | ich werde es ganz klar sehen, wenn ich alle Zeitform von dem wahren Wesen der Dinge entferne. Wohlan! ich nehme den Schleier ab, – und ich stehe geblendet: ich sehe nichts mehr. Verschwunden ist mit einem Schlage die reizvolle Lebendigkeit, mit der sich vorher die Dinge an mich herandrängten, – verschwunden der ordnende Rhythmus, in dem sie sonst sich vor mir bewegten: in kalter Ruhe liegt ein Chaos vor mir. Für das Licht dieser Ewigkeit sind meine Augen nicht gemacht. Jetzt erst wird es mir klar, daß ich die verwirrende Mannigfaltigkeit der Eindrücke, die mich bestürmen, nur deshalb ertragen habe, weil sie sich zeitlich vor mir ausbreiteten und anordneten. Nur dadurch ward ich ihrer Herr, daß ich sie in Bewegung und Veränderung begriffen dachte. Widersprechendes konnte ich mir vereinen, wenn ich es auf verschiedene Zeiten verteilte: es schien mir erlaubt zu sein, anzunehmen, daß ein Ding eine Eigenschaft im Laufe der Zeit erst erwerbe oder eine andere verliere. Jetzt, wo ich alle diese Zustände in eine zeitlose Gesamtvorstellung zusammenschauen soll, muß ich dem Dinge dieselbe Eigenschaft zusprechen und doch auch absprechen. Damit aber hört meine Fähigkeit, über die Dinge nachzudenken, auf: ich bin der ganzen Verwirrung meiner Eindrücke preisgegeben. Nun verstehe ich auch, warum diejenigen, welche eine zeitlose Erkenntnis der Welt gesucht haben, dahin gelangten, die Wirklichkeit des Widersprechenden zu behaupten, und dem verstandesmäßigen Denken, das im Satz des Widerspruchs befangen sei, den Krieg erklärten. Wer alles, was uns anderen nur durch die Differenz der zeitlichen Bestimmungen vereinbar ist, in zeitloser Vereinigung zusammendenken will, für den sind die Dinge, was sie nicht sind, und sind nicht, was sie sind. Aber lieber will ich auf die Zeitlosigkeit der Welterkenntnis verzichten als auf das Gesetz meines Denkens. | Soll ich trotzdem die Welt erkennen, wie sie in zeitloser Ewigkeit ist, so bleibt mir nur übrig, alle diese Bestimmungen, die mir nur in besonderer zeitlicher Vermittlung bekannt geworden sind, mit der Zeitanschauung zusammen von mir zu weisen. Dann
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gewinne ich freilich die erhabene Vorstellung von einem ewigen, veränderungslosen, still in sich ruhenden Etwas. Aber ich habe dann keinen Inhalt mehr, den ich in dies Etwas hineindeuten dürfte: denn jede Qualität, die ich vorstelle, gehört der zeitlichen Erscheinungswelt an. Das zeitlose Sein kann ich nur als die abstrakte Substanz denken, die nichts ist und aus der nichts werden kann. Dann freilich steht das zeitlose Etwas weit über dem Gewoge der Einzeldinge meiner Erfahrung; die Welt ist unter ihm verschwunden: aber es führt auch von ihm kein Weg zurück in diese farbige Erscheinungswelt, deren Sonne meinem Leben leuchtet. Eine Welt, in der nichts geschieht, ist auch für mich nichts mehr: ich kann sie nicht erkennen, ich kann sie nicht einmal vorstellen. Alle Formen meines Denkens sind auf die zeitlichen Verhältnisse angewiesen, in denen allein Bewegung und Veränderung möglich sind, die aber auch Bewegung und Veränderung unumgänglich mit sich führen. Ich schauderte vorhin vor dem Bilde der Welt, in deren rollender Flut nichts besteht: aber ich schaudere noch mehr vor dem Bilde einer Welt, in der nichts geschehen, nichts getan und nichts verändert werden kann. Gegen diese Ansicht sträubt sich mit widerlegender Gewalt mein Wille; und selbst wenn ich allen Wechsel der Außenwelt nur für eine Vorstellungsform halten dürfte, – der Wechsel meiner Vorstellungen selbst ist nicht mehr ein bloß vorgestellter. Will ich von meiner Erkenntnis alle die zeitlichen Verhältnisse ausschließen, auf welche allein die Formen meines Denkens angewendet werden können, so bleiben | nur entweder die Massen unverarbeiteter Eindrücke oder die leeren Abstraktionen zurück. Mein Denken ist, wie es mir selbst nur als zeitlicher Vorgang bewußt ist, unweigerlich an die Zeit gebunden. Es gibt keine Welterkenntnis sub specie aeternitatis. Durch alle Kraft meines Denkens kann ich von der Zeit nicht in dem Sinne frei werden, daß ich ein Zeitloses zu erkennen vermöchte. Alle meine Urteile beziehen sich auf eine zeitlich bestimmte Welt, in der die einzelnen Gestalten werden und vergehen. Selbst die allgemeinen Urteile, die ich Naturgesetze nenne und die jenen bleibenden Rhythmus der Zeitbewegung zu erkennen bestimmt sind, enthalten sämtlich
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Formen der Sukzession von Ereignissen; sie hätten ihren Sinn verloren, wenn ich die Möglichkeit zeitlicher Reihenfolge aufgehoben denken wollte, und auch sie lehren mich nicht, wie wohl manchmal behauptet worden ist, ein zeitloses Sein. Und so wäre ich denn also wirklich in den endlosen Fluß des Zeitgeschehens gebannt und müßte auf den Wunsch verzichten, mich darüber zu einem Zeitlosen zu erheben? Die Ewigkeit ist meiner Erkenntnis verschlossen. Aber besitze ich denn nichts anderes? und trage ich kein anderes Bewußtsein in mir als dasjenige, welches die mir gegebenen Bestimmungen der Wirklichkeit in Urteilen miteinander verknüpft? Mich selbst müßte ich vergessen, wenn ich verleugnen wollte, daß ich all der Wirklichkeit gegenüber, welche den Gegenstand meines Urteilens bildet, das Bewußtsein dessen in mir trage, was wirklich sein soll, – was wirklich sein soll vor allem in mir selbst. Danach beurteile ich das, was ist, und in erster Linie das, was ich als meine eigene Tätigkeit erkenne. Freilich ist auch diese meine Überzeugung und die darauf gegründete Beurteilung in mir geworden, und ich kann auch sie der zeitlichen Betrachtung unterwerfen, | um festzustellen, durch welche Veranlassungen ich, dem Rhythmus alles Geschehens gemäß, dazu gekommen bin, sie mir zum Bewußtsein zu bringen. Aber der ganze sehr verwickelte Verlauf, den ich für diese Erklärung aufsuchen muß, ist gänzlich gleichgültig dem absoluten Werte gegenüber, welcher dem Inhalt dieses Bewußtseins innewohnt und vermöge dessen ich überzeugt bin, daß er als Norm für alle Wirklichkeit gilt. Alles, was ich als wirklich erkenne, verdankt irgendeinem anderen Wirklichen seinen Ursprung und ist durch die Mächte der Wirklichkeit bedroht: es ist entstanden und wird vergehen. Auch das, was unter besonderen Umständen der Wirklichkeit um besonderer, aus der zeitlichen Bewegung heraus entstandener Zwecke willen gewollt und gewünscht wird, unterliegt lediglich der genetischen Betrachtung. Aber ich weiß, es gibt Zwecke, die absolut gelten, – Bestimmungen, die sein sollen, gleichviel ob die Wirklichkeit in ihrem zeitlichen Verlaufe sie erfüllt oder nicht.
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Zeitlos-ewig ist nichts von dem, was – im Sinne der empirischen Erkenntnis – ist. Denn ich erfahre kein Sein und kann keins erkennen, das nicht geworden und vergänglich wäre. Ewig-zeitlos ist für mein Denken und Verstehen nur dasjenige, was gilt, ohne sein zu müssen. Wenn man dies »ideale Sein« die »höhere« Wirklichkeit, das wahre Sein, das ὄντως ὄν, wenn man es das Ding-an-sich genannt hat, – immer hat man nur das gemeint, was da gilt, auch wenn es sich vor unserer Erfahrung nicht als das Wirkliche darstellt. Mein Wissen ist auf das, was wirklich ist, beschränkt; aber ich habe ein Bewußtsein von dem, was sein soll. Mein Gewissen ist es, was mich die zeitlosen Bestimmungen lehrt, die über aller Bewegung der in die Zeit getauchten Wirklichkeit gelten. Das Licht der Ewigkeit leuchtet mir nicht im Wissen, sondern im Gewissen. | Wenn ewig für mein Denken nicht das ist, was in der erfahrbaren Wirklichkeit ist, sondern das, was sein soll, so verstehe ich, weshalb es meiner Erkenntnis nie gelingt, die Welt als zeitlos zu denken, und weshalb ich doch überzeugt bin, daß es für mich eine Befreiung von der Zeit gibt. Die Ewigkeit will nicht erkannt, – sie will erlebt sein. Wenn ich mich auf das besinne, was sein soll, wenn ich den zeitlos gültigen Zweck zu dem meinigen mache, dann hebe ich mich empor über die Welt, die ich erkennen kann; dann stehe ich, mitten in der Zeit, doch im Zeitlosen und Ewigen. Indem mein Bewußtsein an dem Ewigen Teil gewinnt, erhebe ich mich selbst über alle Zeit und Zeitbewegung; dann herrscht in mir etwas, was keine Zeit erzeugen und keine Zeit vernichten kann, etwas, was zwar in mir als einem zeitlich bestimmten Wesen mit der Zeit erscheint und mit der Zeit selbst wieder verschwindet, was aber seinem Inhalt nach zeitlos gilt. So kann in mir, mitten im Getriebe der Zeitwellen, das Ewige geboren werden. Wenn das, was sein soll, in meinem Bewußtsein ans Licht tritt, so ist mir in meinem an die Zeit gebundenen Denken so zu Mut, als sei jenes schon längst, »vom Anbeginn der Zeiten« her vorhanden, und als hätte ich mich seiner nur zu »entsinnen« gehabt. In den Weihestunden dieser Besinnung vergesse ich die wirkliche Welt, und in mir breitet sich die zeitlose Ewigkeit aus. Ihr anzugehören, mit meinem ganzen Sein in dies ewige Sollen auf-
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zugehen, – das ist meine wahre und vollkommene, meine einzige Seligkeit. Allein selten genug sind freilich diese Momente, in denen die zeitliche Welt mir entschwindet und mein Dasein in die Ewigkeit sich emporhebt. Ihr Wert entschädigt für die Kürze ihrer Dauer. Aber wenn ich Umschau unter den Menschen halte und ihr Leben und Treiben betrachte, so verberge ich mir nicht, daß der Genuß dieser Ewigkeit uns allen nur wenig und vielen gar nicht zuteil wird. | Wer in das Triebleben der alltäglichen Bedürfnisse, in das Gewebe seiner auf Zeitliches, auf Vergängliches gerichteten Wünsche und Leidenschaften eingesponnen ist, oder wer in dumpfer Gleichgültigkeit den Faden seiner Tätigkeit abspinnt, der erhebt sich vielleicht niemals zu diesem Bewußtsein eines über alle Zeiten hinausragenden Wertes. So allein wird es mir verständlich, daß ich der Lehre begegnet bin, die Unsterblichkeit sei kein Geschenk, das uns allen in die Wiege gelegt würde, sondern ein Gut, das wir erwerben müssen und das nicht allen zuteil werde. Ich kann nicht absehen, wie man eine solche Lehre mit der gewöhnlichen Vorstellung von der Unsterblichkeit in Übereinstimmung bringen kann. Gehört es zum Wesen der Seele, endlos weiter zu leben, so verstehe ich nicht, wie das nur für einige zutreffen soll und für andere nicht; und gehört es nicht zu ihrem Wesen, so weiß ich nicht, durch welche Mittel die einzelne Seele eine Dauerhaftigkeit erwerben soll, die anderen abgeht. Will man aber unter Unsterblichkeit die Befreiung vom zeitlichen Wesen, die Erhebung in das Bewußtsein des Ewigen verstehen, so begreife ich, wie man dieser Zeitlosigkeit mitten im Laufe des Lebens teilhaftig sein kann, und ich weiß zugleich, daß diese Erhebung vielen von der Wiege bis zur Bahre unbekannt bleibt. Sie treiben dahin in dem großen Strome, und sie kennen das Ufer nicht, an dem sie ankern könnten. Mitten also in dem Wechsel meines Lebens kommt das Wandellose, Ewige in der Gestalt des Wertbewußtseins zum Durchbruch. Dann fällt meine eigene kleine Existenz mit allen ihren in dem zeitlichen Ablauf der Dinge begründeten Interessen von mir ab, und ein Allgemeingültiges, ein Überindividuelles kommt in der
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Tiefe meines Lebens zum Vorschein. In solchem Augenblick werde ich aus der Ewigkeit heraus neu geboren: in meine zeitliche Existenz | tritt das Ewige ein. Darin also, sehe ich, besteht das Rätsel der »Wiedergeburt«, daß ich mich selbst vergesse. Solange mein Denken, Fühlen und Wollen nur in meiner zeitlich bestimmten Individualität seine Ursache hat, rauscht es in dem großen Lärm der Dinge dahin; sobald es aber in dem Bewußtsein des Allgemeingültigen begründet ist, hebt es sich aus dem trüben Gewirr der Zeit empor in den Äther der Ewigkeit. Ich muß sterben, um unsterblich zu sein. Das Beste, was ich als Individuum tun kann, besteht darin, mich zu vergessen und das Allgemeingültige zu ergreifen, das über uns allen als Maß und Ziel waltet. Dies Ewige, Allgeltende, daran ich mich klammere, um über dem Zeitstrom den festen Halt zu gewinnen, – die Menschen mögen es sich vorstellen und es nennen, wie sie wollen! Ich nahe mich ihm, wenn ich mit ernster Forschung meine Gedanken der strengen Norm unterwerfe und den Rhythmus des Geschehens zu verstehen suche, der, als das Bleibende im Wechsel, ein Abglanz der Herrlichkeit des Ewigen ist: – ich erlebe es, wenn die höchsten Güter der Menschheit mein Herz höher schlagen lassen und wenn siegreich über alle meine Wünsche das ewige Gebot in mir sich bestimmend erhebt: – ich genieße es, wenn ich mit begierdeloser Anschauung das reine Bild der Dinge, wie es allen erscheinen sollte, in mich sauge. Immer kommt es darauf an, daß das Zeitliche sich mir in das Zeitlose, das Seiende in das Seinsollende verwandle. Der Ewigkeit sind wir gewiß, wenn aus dem Gewirr der Meinungen wir uns retten in die ruhige Klarheit der Wissenschaft, – wenn all das leidenschaftliche Drängen unserer Wünsche auszittert vor dem willensstarken Bewußtsein der Sittlichkeit, – wenn, allen Wunsches bar, wir das problembekümmerte Haupt zu seliger Ruhe niederlegen in den Schoß der Kunst.
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S. 5 Vereinbarung] vgl. Windelband an Paul Siebeck vom 17. 5. 1907 (Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL 488): »Nun hat Herr Heitz auch mir, auf meine Veranlassung erklärt, dass meine Rectoratsrede aus seinem Verlag in den Ihrigen übergegangen ist und er nur noch den Rest der dritten Auflage verkaufen wird. Damit wird ja die Sache hoffentlich zu aller Teile Zufriedenheit erledigt sein«; sowie den 2. Nachtrag zur 3. Aufl. zum Verlagsvertrag der Präludien vom 5. 6. 1907: »1) Das Buch wird erweitert durch 2 Vorträge und durch die Strassburger Rectoratsrede ›Geschichte und Naturwissenschaft‹, deren Verlagsrecht die Verlagsbuchhandlung von dem bisherigen Verleger der Rede, Herrn Ed. Heitz in Strassburg, käuflich erworben hat«; sowie die Abschrift des Bestätigungsschreibens Siebecks an den Verlag Heitz & Mündel, Straßburg, vom 11. 5. 1907: »Die Vorräte der 3. Auflage der Rektoratsrede des Herrn Geheimrat Windelband verkaufen Sie noch aus, während Sie mir das Verlagsrecht gegen eine einmalige Entschädigung von M. 240.— zum sofortigen Abdruck in den Präludien und für die Zukunft ganz abtreten«; ferner die Mitteilung der Firma J. H. Ed. Heitz an Siebeck vom 20. 1. 1914 (Abschrift): »Hierdurch benachrichtige ich Sie ergebenst, dass die Restauflage der Rede von W. Windelband Geschichte und Naturwissenschaft vergriffen ist und ich nunmehr unserem s. Zt. Abkommen gemäss keine Neuauflage mehr herstelle« (Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL 488 B 1, 6, M. 1). S. 7 Windelband.] danach folgen zwei S. Inhaltsverzeichnis über die beiden Bände, mit Angabe des Abfassungszeitraums der einzelnen Texte. 1. Bd.: 1. Was ist Philosophie? (Über Begriff und Geschichte der Philosophie) 1882 | 2. Über Sokrates. (Vortrag) 1880 | 3. Zum Gedächtnis Spinozas. (An seinem zweihundertjährigen Todestage gesprochen an der Universität Zürich) 1877 | 4. Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie. (Vortrag) 1881 | 5. Nach hundert Jahren. (Zu Kants
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Anmerkungen
hundertjährigem Todestage) 1904 | 6. Aus Goethes Philosophie. (Rede aus Anlaß des Straßburger Denkmals für den jungen Goethe) 1899 | 7. Goethes Faust und die Philosophie der Renaissance. (Vortrag) 1904 | 8. Schillers transzendentaler Idealismus. (Zu seinem hundertjährigen Todestage) 1905 | 9. Über Friedrich Hölderlin und sein Geschick. (Vortrag) 1878 | 10. Fichtes Geschichtsphilosophie. (Vortrag) 1908 | 11. Die Erneuerung des Hegelianismus (Heidelberger Akademierede) 1910 | 12. Von der Mystik unserer Zeit. 1910. 2. Bd.: 1. Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie. (Vortrag) 1907 | 2. Über Denken und Nachdenken. (Freiburger Antrittsrede) 1877 | 3. Normen und Naturgesetze. 1882 | 4. Kritische oder genetische Methode? 1883 | 5. Geschichte und Naturwissenschaft. (Straßburger Rektoratsrede) 1894 | 6. Vom Prinzip der Moral. 1883. | 7. Über Mitleid und Mitfreude. (Vortrag) 1911 | 8. Pessimismus und Wissenschaft. (Vortrag) 1876 | 9. Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben. (Vortrag) 1908. | 10. Bildungsschichten und Kultureinheit. 1908. | 11. Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus. 1910 | 12. Das Heilige. (Skizze zur Religionsphilosophie) 1902 | 13. Sub specie aeternitatis. (Eine Meditation) 1883. S. 10 alchemistische] im Druck: alchymistische S. 11 »Begriffsdichtungen«] Bezeichnung für den quasi urwüchsigen Versuch jedes Individuums, das ihn umgebende Mannigfaltige von sich aus, d. h. zunächst ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu begreifen; vgl. Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart Bd. 2. 8. Aufl. Leipzig: Baedeker 1908, S. 540. S. 12 ἐπιστήμη] episteme S. 12 δόξα] doxa S. 13 »Geschichte der menschlichen Irrtümer«] Topos der Kritik an der Geschichte der Philosophie bzw. der Philosophiegeschichtsschreibung, von Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, ins Positive gewendet. Er spricht von »großartigen Irrtümern« des »Materialismus im Altertum«, die die Philosophie vorangebracht haben. S. 19 φιλοσοφία] philosophia
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S. 20 »Spieltrieb«] nach Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). S. 20 Okzidentalismus] im Druck: Occidentalismus S. 24 Teilung der Welt] vgl. Friedrich Schiller: Die Teilung der Erde (1795). S. 24 König Lear] vgl. William Shakespeare, The Tragedy of King Lear (um 1605). S. 25 »Wissenschaftslehre«] Anspielung auf Johann Gottlieb Fichte, Die Wissenschaftslehre (verschiedene Fassungen 1804–12); ders., Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794). S. 30 quaestio facti . . . quaestio juris] aus dem juristischen Sprachgebrauch, in Anlehnung an Kant, Kritik der reinen Vernunft A84: »Die Rechtslehrer, wenn sie von Befugnissen und Anmaßungen reden, unterscheiden in einem Rechtshandel die Frage über das, was Rechtens ist (quid iuris), von der, die die Thatsache angeht (quid facti), und indem sie von beiden Beweis fordern, so nennen sie den erstern, der die Befugniß oder auch den Rechtsanspruch darthun soll, die Deduction. Wir bedienen uns einer Menge empirischer Begriffe ohne jemandes Widerrede und halten uns auch ohne Deduction berechtigt, ihnen einen Sinn und eingebildete Bedeutung zuzueignen, weil wir jederzeit die Erfahrung bei der Hand haben, ihre objective Realität zu beweisen. Es giebt indessen auch usurpirte Begriffe, wie etwa Glück, Schicksal, die zwar mit fast allgemeiner Nachsicht herumlaufen, aber doch bisweilen durch die Frage: quid iuris, in Anspruch genommen werden; da man alsdann wegen der Deduction derselben in nicht geringe Verlegenheit geräth, indem man keinen deutlichen Rechtsgrund weder aus der Erfahrung, noch der Vernunft anführen kann, dadurch die Befugniß ihres Gebrauchs deutlich würde.« S. 38 habeat sibi] meinetwegen; nach 1. Mose 38,23. Vgl. Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes gesammelt u. erläutert v. Georg Büchmann. Fortgesetzt v. Walter Robert-tornow [!]. 22. Aufl. bearb. v. Eduard Ippel. Berlin 1905, S. 9. S. 43 anerkannt] im Druck: anerkennt S. 50 intellektualer Anschauung] intellektuelle, nichtsinnliche Anschauung, deren Möglichkeit von Kant verworfen wird (Diskussion
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des Ding-an-sich). Abweichend bei Fichte und Schelling Terminus für das Begreifen des Absoluten als zentraler philosophischer Kategorie (Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1). S. 60 Perorationen] eindrucksvoll vorgetragene Reden. S. 60 homerisches Lachen] wie das sprichwörtliche »unauslöschliche Gelächter der Götter« nach Homer. S. 63 kaustischem] scharfem, ätzendem S. 64 »Erkenne dich selbst«] γνῶθι σεαυτόν, Inschrift am Apollontempel in Delphi. S. 66 Idee des Wissens] vgl. Friedrich Daniel Schleiermacher: Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen. In ders.: Sämtliche Werke Abt. III, Bd. 2. Berlin: G. Reimer 1838, S. 300: »Dieses Erwachen nun der Idee des Wissens und die ersten Aeußerungen derselben, das muß zunächst der philosophische Gehalt des Sokrates gewesen sein«. S. 68 »mäeutische«] d. h. die »Hebammenkunst« des Sokrates, durch geschicktes Fragen die Philosophierenden die Antworten im eigenen Denken finden zu lassen. S. 69 πολυμαθίη νόον οὐ διδάσκει] »Vielwisserei lehrt keine Vernunft«, nach einem dem Heraklit zugeschriebenen Fragment (überliefert von Diogenes Laertius). S. 71 »vollendeten Sündhaftigkeit«] vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806). S. 72 – –] so im Druck S. 72 Dekokt] Abkochung, Absud S. 73 Silenenhülle] Silen: Fabelwesen der griechischen Mythologie, hier auch in Anspielung auf Sokrates’ angebliche Häßlichkeit. S. 74 Daimonion] warnende innere Stimme eines persönlichen Gottes. S. 74 ἔρως] eros S. 74 Antigone] nach der mythologischen Figur (Tochter von Ödipus), stirbt in Folge der Übertretung des menschlichen zugunsten des göttlichen Gesetzes; zur Tragödie gestaltet z. B. von Sophokles. S. 75 »Wolken« des Aristophanes] αἱ νεφέλαι, Komödie von Aristophanes um die Figur des Sokrates. S. 76 platonische Apologie] vgl. Platon: Apologie des Sokrates (᾿Απολογία Σωκράτους).
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S. 77 Geschworenengerichten] im Zuge der Reichsgründung von 1871 eingeführt, 1877 im Gerichtsverfassungsgesetz geregelt. An den Landgerichten für Tötungsdelikte und andere schwere Delikte zuständig, u. a. Presserechtsachen. Getrennte Befindung (bis 1924) über Strafe und Prozessführung (Richter) und über Schuld und mildernde Umstände (Geschworene), vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918 Bd. 2. Machtstaat vor der Demokratie. München: Beck 1992, S. 184–185 u. 188–190. S. 78 Prytaneion] dem Sitz der Regierungsbeamten. S. 79 Doktrinarismus] im Druck: Doktrinarismus’ S. 79 Karikatur] im Druck: Karrikatur S. 80 Intrigen] im Druck: Intriguen S. 82 »Mit . . . Notwendigkeit.«] vgl. Schiller, Die Künstler (Gedicht 1789). S. 83 Grundstein für ein Denkmal] zu der Bronzestatue Spinozas von Frédéric Hexamer, 1880, Paviljoensgracht, Den Haag. S. 84 »gottrunkener Mann«] nach einem Fragment des Novalis (Friedrich von Hardenberg): »Spinoza ist ein gottrunkener Mensch.« S. 86 van den Enden] im Druck: van den Ende S. 88 Johannes – der Prediger in der Wüste] redensartliche Anspielung auf Johannes den Täufer, vgl. Matthäus 3,1. S. 89 cartesianischen] im Druck: kartesianischen S. 89 cartesianischen] im Druck: kartesianischen S. 90 Okzidentalismus] im Druck: Occidentalismus S. 93 cartesianischen] im Druck: kartesianischen S. 98 sub specie aeternitatis] im Druck: sub specie aeterni; unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit. S. 98 natura naturans] u. a. bei Spinoza: die schaffende Natur. S. 99 »omnis determinatio negatio«] jede Begrenzung ist eine Art Verneinung, Satz über die das Unendliche beschränkende Funktion von Definitionen nach Spinoza (Epistolae, Nr. L [50]), von Hegel in dieser Form zitiert (vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik (1812), 1. Teil, 1. Buch, 1. Abschnitt, 2. Kap., B., 3., c: Negation). S. 99 Schrift über die negativen Größen] vgl. Kant: Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen (1763).
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S. 100 amor intellectualis quo deus se ipsum amat] (intellektuelle) Gottesliebe als Teil der Liebe Gottes zu sich selbst, vgl. Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata, Teil V, propositio 35 f. S. 100 »Weisheit letzten Schluß«] nach Goethe, Faust II, 5. Akt. S. 100 ἔρως] eros S. 100 νοῦς ποιητικός] schaffender, produktiver, aktiver Geist bzw. Intellekt, Terminus der Kommentare zu Aristoteles, De Anima. S. 100 eroico furore] vgl. Giordano Bruno, De gli eroici furori (Über die heroischen Leidenschaften, 1585). S. 101 »noli turbare circulos meos!«] störe meine Kreise nicht (Archimedes). S. 101 »Selig . . . schauen«] vgl. Matthäus 5,8. S. 102 »er . . . bekehren«] vgl. Goethe, Faust I, Vers 372 f. S. 102 Reich ist nicht von dieser Welt] Anspielung auf Johannes 18,36. S. 102 Ataraxie] (stoische) Unerschütterlichkeit, Gleichmut, Seelenruhe S. 103 Erhabenheit seiner stillen Größe] nach Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in Malerei und Bildhauerkunst, 1745/55 (edle Einfalt, stille Größe). S. 105 neue Grabstätte] Kant war 1880 innerhalb des Königsberger Doms in eine eigene Grabkapelle umgebettet worden (erneute Umbettung nach 1904 in das derzeitige Grab an der Außenwand des Domes), vgl. Fritz Bessel-Hagen: Die Grabstätte Immanuel Kants mit besonderer Rücksicht auf die Ausgrabung und Wiederbestattung seiner Gebeine im Jahre 1880. Königsberg in Pr.: Rosbach 1880 (Sonderdruck aus Altpreussische Monatsschrift 17, Heft 7). S. 105 Rösselsprung] Silben- bzw. Buchstabenrätsel. S. 105 Philosophenkongreß nach Concord] im August 1881, veranstaltet von der Concord School of Philosophy, einer privaten Initiative in Concord (Mass.), vgl. den Bericht des Sekretärs Franklin Benjamin Sanborn: The Kant Centennial at Concord. In: The Journal of Speculative Philosophy 15 (1881), S. 303–320. S. 107 protestantischen Peripatetizismus] protestantische Schulphilosophie (nach dem Wandelgang, Peripatos der Schule des Aristoteles). S. 108 Jean Paul gesagt hat] brieflich gegenüber Pfarrer Vogel in Rehau vom 13. Juli 1788.
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S. 108 strahlendes Sonnensystem auf einmal] in brieflicher Mitteilung vom 13. 7. 1788: »Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal.« S. 108 hat man behaupten dürfen] toposartig mindestens seit Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808). S. 110 fand sie sich ein Fremdes, Übermächtiges gegenüber] so wörtlich S. 111 »zerrissene Bewußtsein«] vgl. Hegel, Phänomenlogie des Geistes (1807), Abschnitt Der Glaube und die reine Einsicht. S. 111 in saecula saeculorum] in alle Ewigkeit (religiöse Formel). S. 115 Tropen] Trope: bildlicher Ausdruck, Wort im übertragenen Sinne. S. 117 oft zitierten Wort] nach Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie (1714), § 56. S. 118 »mit dem Freunde selbst vergleicht«] als Zitat nicht ermittelt. S. 122 realiter, in natura rerum] in Wirklichkeit, in der Natur der Sache. S. 122 »worauf . . . beruhe«] vgl. Kant an Markus Herz, 1772. S. 129 – –] so im Druck S. 133 Kant recht verstehen, um über ihn hinauszugehen] Selbstzitat Windelbands aus dem Vorwort (datiert Straßburg i. E., im Oktober 1883) zur Erstausgabe (1884) der vorliegenden Präludien: »Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen.« S. 134 der Alles Zermalmende] nach einem Diktum von Moses Mendelssohn, Morgenstunden (1785) über Kant. S. 139 »zum Range einer Wissenschaft«] vgl. z. B. Adolf Rhomberg: Die Erhebung der Geschichte zum Range einer Wissenschaft. Oder die historische Gewissheit und ihre Gesetze. Wien u. a.: Hartleben 1883. S. 139 »Künstlern«] vgl. Schillers Gedicht Die Künstler (1789). S. 140 Terminologie von Heinrich Hertz] vgl. die Einleitung von Heinrich Hertz: Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt. Leipzig: Barth 1894 (Gesammelte Werke Bd. 3), S. 1–49, wo von Scheinbildern, Symbolen bzw. Bildern der äußeren Gegenstände die Rede ist, die wir aufstellen und um deren Angemessenheit es geht. Hertz diskutiert drei Bilder der Mechanik.
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S. 141 vermögen: – genau wie es Kant gelehrt hat.] im Druck Satzfehler: »ver-| zwischen den Tatsachen macht.« Text ergänzt nach dem Erstdruck in: Kant-Studien 9 (1904), S. 5–20, hier S. 12 (vgl. den zweiten Abdruck in: Zu Kants Gedächtnis. Zwölf Festgaben zu seinem 100jährigen Todestage. Hg. v. H. Vaihinger u. B. Bauch. Berlin: Reuther & Reichard 1904, S. 5–20). S. 142 von Rickert] vgl. Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1902. S. 142 »Kritik der historischen Vernunft«] Anspielung auf Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Leipzig: Duncker & Humblot 1883, worin Dilthey sein Projekt in Anlehnung an Kant mit den zitierten Worten charakterisiert. S. 145 »eine . . . können«] vgl. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783). S. 148 von Lotze formulierten Aufgabe] vgl. den Schlußsatz von Lotze: Logik. 2. Aufl. 1880, § 365. S. 150 »der . . . mir.«] vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Beschluß: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« S. 151 . . . ] Auslassung im Druck S. 151 »ewig jungen Goethe«] Topos der Goethe-Verehrung. S. 151 hinauspilgert in die Campagna] womöglich aus eigener Anschauung geschildert: Windelband hat sich 1871 zur Kur einer Lungenerkrankung in Rom und Venedig aufgehalten, vgl. Jörn Bohr/Gerald Hartung (Hg.): Forschungsgrundlagen Wilhelm Windelband. Hamburg: Meiner 2020. In der Formulierung möglicherweise Anspielung auf Goethe, Italienische Reise (1816/17). S. 152 freundlichen Aufforderung] nicht ermittelt; wahrscheinlich durch Ernst Martin (1841–1910), Germanist an der Universität Straßburg, Dekan der philosophischen Fakultät Straßburg im fraglichen Zeitraum. Vgl. den Erstabdruck u. d. T. Aus Goethes Philosophie. In: Straßburger Goethevorträge. Zum Besten des für Straßburg geplanten
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Denkmals des jungen Goethe. Straßburg: Karl J. Trübner 1899, S. 87– 114. S. 152 Durch . . . Tag –] vgl. Goethe, Der Musensohn (1799): »Durch Feld und Wald zu schweifen, | Mein Liedchen wegzupfeifen, | So geht’s von Ort zu Ort!« S. 153 Grau . . . Baum.] Goethe, Faust I, Vers 2038 f. S. 154 »philosophie irresponsable«] verantwortungslose Philosophie; vgl. Elme-Marie Caro: La philosophie de Goethe. Paris: L. Hachette 1866, S. VI: »Il a une philosophie pourtant, mais une philosophie irresponsable, pour ainsi dire, puisqu’elle décliné toute autorité, insaisissable à la dialectique par la légèreté même de sa démarche et par sa souple liberté.« S. 155 Höchstes . . . Persönlichkeit.] vgl. Goethe, Volk und Knecht . . . , in ders.: West-östlicher Divan (1814–16). S. 155 »Schwager Kronos«] vgl. Goethe, An Schwager Kronos (Gedicht 1774). S. 157 »das Unerforschliche still verehren«] vgl. Goethe, Maximen und Reflexionen (1833), Nr. 718: »Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.« S. 157 Frau Aja] Spitzname der Mutter Catharina Elisabeth Goethe, geb. Textor (1731–1808). S. 157 Aperçu] ç aus Antiqua in den Fraktursatz eingesetzt S. 158 »Jede . . . betrachten.«] Goethe gegenüber Johann Peter Eckermann im Gespräch vom 11. März 1828. S. 158 »Gott war nicht darin.«] nicht ermittelt, womöglich Variation auf ein Heraklit zugeschriebenes Zitat: Nam et hic dii sunt. S. 158 Im . . . Genuß.] Goethe, Eins und Alles (Gedicht 1821). S. 158 »Was . . . offenbare?«] Goethe, In Betrachtung von Schillers Schädel (Gedicht 1826). S. 158 der sie nicht belachen noch begeifern will, sondern nur begreifen] vgl. Spinoza: Tractatus politicus, Kap. 1, § 4. In: Opera quae supersunt omnia Bd. 2, 1844, S. 52: »non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere«. S. 158 »grenzenlose Uneigennützigkeit«] vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit, 14. Buch.
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S. 159 Tout comprendre c’est tout pardonner.] Alles verstehen heißt alles verzeihen, geflügeltes Wort (Büchmann) nach Madame de Staël. S. 159 »Jenseits von gut und böse«] Anspielung auf Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Leipzig: Naumann 1886. S. 159 »Alles . . . Macchiavellismus.«] Goethe, Maximen und Reflexionen (1833), Nr. 281. S. 159 »ewigen Juden«] Gestalt der christlichen Legende des Mittelalters, als Spötter Jesu zur ewigen Wanderung verdammt. S. 159 Irrungen von Wetzlar] gemeint ist Goethes berufliche Episode als Praktikant am Reichskammergericht Wetzlar 1772. S. 159 Schuld von Sesenheim] Goethe hat als Student in Straßburg (1768–71) der Sessenheimer Pfarrerstochter Friedrike Brion falsche Hoffnungen gemacht. S. 160 Unsterbliche . . . empor.] Goethe, Der Gott und die Barjadere (Ballade 1797). S. 160 Von . . . überwindet –] Goethe, Die Geheimnisse. Ein Fragment (Gedicht 1816). S. 161 kein Gott, »zu sagen, was er leide«] vgl. Goethe, Torquato Tasso (1790), Vers 3432 f.; als Selbstzitat in ders., Marienbader Elegie (1827). S. 161 Und . . . zerscheitern.] Goethe, Faust I, Vers 1770–75. S. 162 »der Weisheit letzten Schluß«] vgl. Goethe, Faust II, 5. Akt. S. 162 Ich . . . Haaren.] Goethe, Faust II, Vers 11433 f. S. 164 »Brüdergemeine«] mit Gründung von Herrnhut (1722), Sachsen: protestantisch-pietistische Religionsgemeinschaft. S. 164 »Am . . . Leben.«] Goethe, Faust II, Vers 4726. S. 164 »Phänomenologie des Geistes«] Anspielung auf Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807). S. 164 »auf . . . stehen«.] vgl. Goethe, Faust II, Vers 11580. S. 165 Brettern, die die Welt bedeuten] vgl. Schiller, An die Freunde (Gedicht 1803). S. 165 »Volk der Dichter und Denker«] geflügeltes Wort nach Bulwer, Ernest Maltravers (1783; Büchmann). S. 165 Wer . . . erlösen.] Goethe, Faust II, Vers 11936 f. S. 166 Werd’ . . . getan.] Goethe, Faust I, Vers 1693 f.
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S. 166 »Der . . . er.«] vgl. Jean Paul, Hesperus oder 45 Hundposttage (1795), 4. Hundsposttag. S. 166 Ihrer . . . mag.] im Stammbuch für Walther Goethe, 1825. S. 167 Der . . . drüber.] Goethe, Prometheus-Fragment (1773). S. 167 Alle . . . Wesen.] Goethe, Metamorphose der Tiere (1795). S. 167 »die . . . anzueignen«] Goethe, Maximen und Reflexionen (1833), Nr. 273. S. 168 »Die . . . existiere«] Goethe gegenüber Eckermann im Gespräch vom 3. März 1830. S. 168 »soll . . . vermag.«] Goethe gegenüber Eckermann im Gespräch vom 4. Februar 1829. S. 168 »Ich . . . böte.«] Goethe gegenüber Friedrich von Müller, 1825. S. 168 »Wir . . . sein.«] Goethe gegenüber Eckermann im Gespräch vom 1. September 1829. S. 168 »Das . . . sind.«] Goethe gegenüber Falk im Gespräch vom 25. Januar 1813. S. 168 Wer . . . hin!] Goethe, Faust II, Vers 9981 f. S. 169 Nicht . . . Person.] Goethe, Faust II, Vers 9985 f. S. 169 Wie . . . entwickelt.] Goethe, Urworte. Orphisch (1817/20). S. 169 »Dein Wesen stampfe nieder«] Meister Eckhart zugeschrieben. S. 170 Sagt . . . Erde.] Goethe, Selige Sehnsucht (Gedicht 1814/15). S. 171 Abklatsche] im Druck: Abklätsche S. 171 Merck] im Druck: Merk S. 172 der rückwärts schauende Prophet] vgl. Heinrich Heine: Letzte Gedichte und Gedanken. Aus dem Nachlasse des Dichters zum ersten Male veröffentlicht [durch Adolf Strodtmann]. 2. Aufl. Hamburg: Hoffmann und Campe 1869, S. 228: »Der Historiker ist immer ein Merlin, er ist die Stimme einer begrabenen Zeit, man befragt ihn und er giebt Antwort, der rückwärts schauende Prophet« (Gedanken und Einfälle III. Kunst und Literatur). S. 172 Höhepunkt der Gründung des Reiches] Deutsches Reich seit 1871. S. 174 es stellt . . . Wendungen] im Druck Zeilen verstellt: es stellt ein | fahrung im größten Stil. Was in kleineren Wendungen | Gesamterlebnis der historischen Menschheit dar, eine Er-; danach Seitenwechsel S. 175 Habe . . . zuvor.] Goethe, Faust I, Vers 354–359.
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S. 175 Und . . . verbrennen.] Goethe, Faust I, Vers 360 f. S. 176 kleinen Büchlein] vgl. Francisco Sanchez, Quod nihil scitur (1581). S. 177 O . . . baden!] Goethe, Faust I, Vers 386–397. S. 177 Ihr . . . Riegel.] Goethe, Faust I, Vers 668–671. S. 178 Wie . . . Schauspiel!] Goethe, Faust I, Vers 447–454. S. 178 Aber . . . Natur?] Goethe, Faust I, Vers 454 f. S. 179 Instauratio magna] große Erneuerung (der Wissenschaften). S. 180 Regnum hominis] Reich/Herrschaft des Menschen. S. 182 Schrift »über die Ungewißheit und Eitelkeit der Wissenschaften«] vgl. Agrippa von Nettesheim, De incertitudine et vanitate scientiarum et artium atque excellentia verbi Dei declamatio (1530). S. 183 »Es ist eine Lust zu leben«] vgl. Ulrich von Hutten an Pirckheimer vom 25. Dezember 1518: »o saeculum, o literae, juvat vivere!« (O Jahrhundert, o Wissenschaften, es ist eine Lust zu leben). S. 183 Auch . . . ergeben.] Goethe, Faust I, Vers 21–24. S. 184 »Die Hölle auch hat ihre Rechte«.] vgl. Goethe, Faust I, Vers 1413: »Die Hölle selbst hat ihre Rechte?« S. 185 Da . . . genas.] Goethe, Faust I, Vers 1042–1049. S. 185 Intrige] im Druck: Intrigue S. 186 »Am . . . Leben.«] Goethe, Faust II, Vers 4726. S. 186 Una poenitentium] eine der Büßenden; Goethe, Faust I, Vers 12058. S. 187 Denkt . . . haben.] Goethe, Faust I, Vers 3106 f. S. 187 kastalische Quell] nach der Nymphe Kastalia: Sinnbild der dichterischen Begeisterung. S. 187 Lethe] mythischer Strom des Vergessens. S. 188 gezeigt worden] z. B. von Carl Neumann: Byzantinische Kultur und Renaissancekultur. Vortrag, gehalten auf der Versammlung Deutscher Historiker zu Heidelberg am 16. April 1903. Berlin u. Stuttgart: W. Spemann 1903. S. 194 »Bestimme dich aus dir selbst«] Schillers Übertragung des sapere aude (Horaz) nach Kant, Was ist Aufklärung? (1784). S. 194 Kalliasbriefen] vgl. Schiller, Kallias-Briefe (über die Schönheit) an Christian Gottfried Körner (1792/93).
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S. 194 »diese große Idee der Selbstbestimmung«] Schiller an Körner vom 19. Februar 1793. S. 194 »Was . . . nie.«] Schiller, Wallensteins Tod III, 15. S. 195 Praerogative] Vorrecht S. 195 übersinnlichen Substrat der Menschheit] vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 57. S. 197 Heautonomie] Selbstgesetzgebung S. 198 »Künstlern«] vgl. Schillers Gedicht Die Künstler (1789). S. 203 Königsberger] im Druck: königsberger S. 206 »unüberwindlich von ihm dependiere«] vgl. Hölderlin an Schiller vom 20. Juni 1797: »Ich habe Mut und eigenes Urteil genug um mich von andern Kunstrichtern und Meistern unabhängig zu machen, aber von Ihnen dependier’ ich unüberwindlich«. S. 206 29. Mai 1770] so im Druck; recte: 20. März 1770. S. 207 Ein Gesetz] Anspielung auf Haeckels »biogenetisches Grundgesetz«, s. u. im vorliegenden Aufsatz über Hölderlin. S. 207 Ossianschen Phantasie] der schottische Dichter James Macpherson gab 1762 mit Fingal und 1763 mit Temoria eigene Dichtungen als von dem angeblich keltischen Barden Ossian stammend heraus. Diese Dichtungen lösten eine große Ossian-Begeisterung aus, die unberührt von der baldigen Enttarnung des wahren Autors andauerte. S. 207 Aldermannstagen] Freundschaftsbund um Hölderlin, benannt nach Klopstocks Gelehrtenrepublik. S. 208 Jakobiner] Radikale der Französischen Revolution. S. 208 »Götter Griechenlands«] Gedicht von Schiller (1788.) S. 209 Marquis Posa] Charakter in Schillers Drama Don Karlos (1787). S. 213 Sinclair] im Druck: Sinklair S. 213 Zeit des Kongresses] des Wiener Kongresses, 1815. S. 214 Matthisson] im Druck: Matthison S. 214 Gebärden] im Druck: Geberden S. 215 Biographen Schwab] vgl. Christoph Theodor Schwab: Hölderlins Leben. In: Hölderlin Sämtliche Werke (1846) sowie in: Hölderlin Ausgewählte Werke (1874). S. 216 Perorieren] eine Rede nachdrücklich und eindrucksvoll vortragen.
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S. 216 für den Psychologen] über Windelband als Psychologen vgl. Horst Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Heidelberg: University Publishing 2017; sowie Jörn Bohr: Windelbands Psychologie-Projekte. Das Scheitern eines ambitionierten Programms an seinen Kontexten. In: Thomas Kessel (Hg.): Philosophische Psychologie um 1900. Stuttgart: Metzler 2019, S. 17–38. S. 216 die gebildete Sprache für sie dichte und denke.] vgl. Schiller, Dilettant (Tabulae votivae 1797): »Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache, | Die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein.« S. 218 Grundgedanken] im Druck: Grundgedankens S. 220 Sammlung seiner Werke] 1826 erschien: Gedichte von Friedrich Hölderlin, hg. von Ludwig Uhland und Gustav Schwab. S. 221 »Es . . . hinabzustürzen.«] Goethe, Torquato Tasso (1790). S. 221 »problematischen Naturen«] vgl. Goethe, Maximen und Reflexionen (1833): »Es gibt problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genugtut. Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt.« S. 222 tödliche] im Druck: tötliche S. 222 mit Posa] vgl. Schiller, Don Karlos, 5. Akt, 9. Auftritt, der König spricht über Marquis Posa: »Der Freundschaft arme Flamme | Füllt eines Posa Herz nicht aus. Das schlug | Der ganzen Menschheit. Seine Neigung war | Die Welt mit allen kommenden Geschlechtern.« S. 224 Darstellung der romantischen Schule als einen Seitensproß] vgl. Rudolf Haym: Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Berlin: Gaertner 1870, S. 289 f. S. 226 Gestalt des Volksredners] womöglich Anspielung auf die Bildungsbemühungen der SPD für Arbeiter. S. 227 ex officio] von Amts wegen. S. 228 »biogenetische Grundgesetz«] vgl. Ernst Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen. 2 Bde. Berlin: Reimer 1866. S. 229 Panacee] mythisches Allheilmittel. S. 229 »die Entsagenden« der »Wanderjahre«.] vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1821/29). S. 231 »Weltbürgertum und Nationalstaat«] vgl. Friedrich Meinecke:
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Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates. München: Oldenbourg 1908. S. 232 »daß . . . aufgeht«] vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre IV, 18. S. 234 Jacobi] im Druck: Jakobi S. 236 vollendeten Sündhaftigkeit] vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806). S. 237 Das] im Druck: Da S. 239 aufzuführen] so im Druck, ebenfalls im Erstdruck; kann auch auszuführen meinen. S. 240 »sich aufzugeben ist Genuß«] Goethe, Eins und Alles (Gedicht 1821). S. 242 »Begriffsdichtung«] vgl. Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart Bd. 2. 8. Aufl. Leipzig: Baedeker 1908, S. 540. S. 243 gezeigt hat] vgl. Hermann Lotze: Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen und vom Erkennen. 2. Aufl. Leipzig: S. Hirzel 1880, § 329 u. 346–365. S. 243 das πρότερον τῇ φύσει ist das ὕστερον πρὸς ἡμᾶς.] (proteron te physei; hysteron pros hemas) das der Natur nach Frühere ist das Spätere im Erkennen, nach Aristoteles, Analytica posterioria I, 2, 71b34. S. 245 Verschiefungen] so wörtlich S. 245 »großen Charlatan«] Schopenhauers Verdikt gegen Hegel, z. B. in: Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Abhandlung: Ueber das Fundament der Moral (1841). S. 245 Prätensionen] Anmaßungen, Ansprüche. S. 250 νοῦς . . . αἴσθησις . . . ὄρeξις] nous, aisthesis, orexis: Geist (Vernunft), Wahrnehmung, Verlangen (Begierde). S. 252 ὄντως ὄν] ontos on, das wirklich Seiende (nach Platon). S. 252 Schlußwendung seiner Logik] vgl. Lotze: Logik. 2. Aufl. 1880, § 365: »Diese Aufgabe synthetischer und dennoch nothwendiger Entwicklung synthetischer Wahrheiten aus einem höchsten Princip ist vielleicht schon in noch unbestimmter Ahnung die Aufgabe Platonischer Dialektik gewesen; mit Recht kann man sie für das Ziel halten, dem Hegel’s Erneuerung dieser antiken Bestrebung galt. Ueber diese
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Versuche, welche Deutschland einst begeisterten, ist die Gegenwart sehr nüchtern zur Tagesordnung übergegangen, zu der unablässigen empirischen Forschung, deren Unvollkommenheit den gewagten Flug dieses Idealismus lähmte; auch hatte er darin ohne Zweifel Unrecht, für vollendet und vollendbar anzusehen, was wir nur als das letzte Ziel einer der Vollendung sich nähernden Erkenntniß betrachten können. Aber im Angesicht der allgemeinen Vergötterung, die man jetzt der Erfahrung um so wohlfeiler und sicherer erweist, je weniger es noch Jemanden gibt, der ihre Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit nicht begriffe, im Angesicht dieser Thatsache will ich wenigstens mit dem Bekenntniß, daß ich eben jene vielgeschmähte Form der speculativen Anschauung für das höchste und nicht schlechthin unerreichbare Ziel der Wissenschaft halte, und mit der Hoffnung schließen, daß mit mehr Maß und Zurückhaltung, aber mit gleicher Begeisterung sich doch die deutsche Philosophie zu dem Versuche immer wiedererheben werde, den Weltlauf zu verstehen und ihn nicht blos zu berechnen.« S. 253 »übersinnliche Substrat der Menschheit«] vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 57. S. 254 κοινωνία τῶν ἰδεῶν.] koinonia ton ideon: Gemeinschaft der Ideen, nach Platons Ideenlehre. S. 259 Böhme] im Druck: Boehme S. 259 Geschichte der Metaphysik] vgl. Eduard von Hartmann: Geschichte der Metaphysik. 2 Bde. Leipzig: Haacke 1899–1900. S. 259 Adolf Lasson in den neuen Auflagen des Überweg-Heinzeschen Grundrisses] vgl. Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie 2. Teil. Die mittlere oder die patristische und scholastische Zeit. 9. Aufl. hg. v. Max Heinze. Berlin: Mittler u. Sohn 1905, Anmerkung zu § 38, S. 350: »Diesen Paragraphen hat für eine frühere Auflage des Grundrisses Herr Dr. Adolf Lasson, Prof. in Berlin, verfasst, ihn auch für die achte Auflage in dankeswerter Weise einer Durchsicht unterzogen.« S. 259 »Ich . . . bekommen.«] vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Aufl. S. 259 Jacobi] im Druck: Jakobi S. 261 certum . . . ist.] nach Tertullian, De carne Christi (um 203–206). S. 262 »Unbewußten« . . . Fechner . . . Hartmann] vgl. Gustav Theo-
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dor Fechner: Elemente der Psychophysik. 2 Bde. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1860; Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin: C. Duncker 1869. S. 263 Pierre Poiret . . . Leichnam der Natur] als Zitat nicht nachgewiesen. S. 264 bringen. |] am Beginn des 2. Bandes sind die Inhaltsverzeichnisse des 2. und des 1. Bandes (in dieser Reihenfolge) erneut abgedruckt. S. 268 metaphysische Bedürfnis] vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 2, 1844. Ergänzungen zum ersten Buch, 2. Hälfte, Kap. 17: Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen. S. 270 »Kraft und Stoff«] Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemein-verständlicher Darstellung. Frankfurt a. M.: Meidinger 1855. Zahlreiche Auflagen. S. 271 große Erlebnis des Jahres 1870] gemeint ist der Deutsch-französische Krieg 1870/71 und die anschließende Gründung des Deutschen Reiches. Windelband gehörte zu den Kriegsteilnehmern im zur Infanterie gehörigen preußischen Reserve-Jäger-Bataillon I. Dieses Bataillon unter Befehl von Major Paczinsky-Tenczin (vom 4. Westfälischen Infanterie-Regiment) stieß am 2. 1. 1871 zu den Etappentruppen des 14. Armee-Korps unter August von Werder. Nach Eroberung Straßburgs seit November 1870 im Kampf um die Festung Belfort, 15.–17. 1. 1871 Schlacht an der Lisaine westlich Belfort mit Sieg des 14. Armee-Korps. Vgl. Ludwig Löhlein: Die Operationen des Korps des Generals von Werder. Nach den Akten des General-Kommandos dargestellt. Berlin: Mittler u. Sohn 1874, S. 154 u. 271. S. 272 Darstellung Kuno Fischer’s] vgl. Kuno Fischer: Immanuel Kant und seine Lehre. 2 Teile als: Geschichte der neuern Philosophie. Jubiläumsausgabe Bd. 4 u. 5. Heidelberg: C. Winter 1898–99. Beide Teile zuerst 1860 u. d. T.: Immanuel Kant Entwicklungsgeschichte und System der kritischen Philosophie Bd. 1: Entstehung und Begründung der kritischen Philosophie. Die Kritik der reinen Vernunft; Bd. 2: Das Lehrgebäude der kritischen Philosophie. Das System der reinen Vernunft. S. 272 Geschichte des Materialismus] vgl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866). Zahlreiche Auflagen.
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S. 272 Zermalmung] nach einem Wort von Moses Mendelssohn über Kant. S. 272 Timidität] Scheu, Furchtsamkeit. S. 277 systematisch geleitete Betrieb] möglicherweise Anspielung auf Adolf von Harnack: Vom Großbetrieb der Wissenschaft. In: Preußische Jahrbücher 119 (1905), S. 193–209. S. 278 in . . . ist] vgl. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), Vorrede: »Ich behaupte aber, dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.« S. 278 Historik] Begriff nach Johann Gustav Droysen. S. 279 unwillkürliche Aufmerksamkeit] Begriff aus der Psychologie Johann Friedrich Herbarts. S. 283 »Grundsätze des reinen Verstandes«] vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft 2. Buch, 2. Hauptstück. S. 285 erleben] so im Druck; kann auch erheben meinen S. 285 sogenannte wertfreie Forschung] vgl. den besonders bekannt gebliebenen Diskussionsbeitrag von Max Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904), S. 22–87; sowie die anläßlich der Affäre um den »Fall Spahn« um die oktroyierte Besetzung einer Professur mit einem katholischen Historiker an der Straßburger Universität geführte Zeitungs- und Broschürendebatte um »voraussetzungslose Wissenschaft« von 1901/02, als Windelband noch dort lehrte: Theodor Mommsen: Universitätsunterricht und Konfession. In: Münchner Neueste Nachrichten vom 15. u. 24. November 1901; o. A.: Der sogenannte Fall Spahn. Erste Hälfte. Leipzig: Verlag der Buchhandlung des Evangelischen Bundes von Carl Braun 1902 (Kirchliche Aktenstücke Nr. 10); dass.: Zweite Hälfte. Leipzig 1902 (Kirchliche Aktenstücke Nr. 11). Zum Kontext: Christoph Weber: Der »Fall Spahn« (1901). Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Kulturdiskussion im ausgehenden 19. Jahrhundert. Rom: Herder 1980. S. 288 als »mythologisch« bezeichnete Operation] vgl. Johann Friedrich Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Psychologie (1816), Einleitung § 3: »Wenn nun zu den unwissenschaftlich entstandenen Begriffen von dem, was in uns geschieht, die Voraussetzung von Vermögen,
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die wir haben, hinzugefügt wird, so verwandelt sich die Psychologie in eine Mythologie; von der zwar Niemand bekennen will, daß er im Ernste daran glaube, von der man aber gleichwohl die wichtigsten Untersuchungen dergestalt abhängig macht, daß nichts Klares davon übrig bleibt, wenn jene Grundlage weggenommen wird.« S. 289 »wie . . . wollen«.] nicht als Zitat nachgewiesen. S. 301 Popularphilosophie unserer Tage] Anspielung auf Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschaung. Berlin: C. Duncker 1869. Zahlreiche Auflagen. S. 302 Mißbrauch . . . Unbewußten] vgl. die spätere ausführliche Erörterung Windelbands: Die Hypothese des Unbewußten. Festrede gehalten in der Gesamtsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 24. April 1914. Heidelberg: C. Winter 1914 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1914, 4. Abh.). S. 309 nomun prematur in annum] bis ins neunte Jahr muß sie verborgen bleiben, geflügeltes Wort nach Horaz, Episteln (Büchmann). S. 321 eudämonistischen Rücksichten] in bezug auf philosophische Lehren des Glücks als Ziel des menschlichen Daseins (Eudämonie: Glückseligkeit). S. 322 assertorische] behauptende S. 322 »Axiom der Begreiflichkeit der Natur«] womöglich in Anlehnung an Hermann von Helmholtz: Über die Erhaltung der Kraft (1847). In ders.: Wissenschaftliche Abhandlungen Bd. 1. Leipzig: Barth 1882, S. 16, wo von der »Bedingung der vollständigen Begreiflichkeit der Natur« die Rede ist. S. 324 toto coelo] himmelweit (lat. Redensart). S. 328 hedonischen] hedonisches Bewusstsein: vom Angenehmen, Lustvollen. S. 334 »– den . . . macht –«] vgl. Goethe, Faust II, Vers 8746–8758. S. 343 post hoc . . . propter hoc] danach; deswegen. S. 343 »die . . . bestimmt.«] kein direktes Zitat. Bei Kant, Kritik der reinen Vernunft A 199 heißt es: »Wenn es nun ein notwendiges Gesetz unserer Sinnlichkeit, mithin eine formale Bedingung aller Wahrnehmungen ist: daß die vorige Zeit die folgende nothwendig bestimmt (indem ich zur folgenden nicht anders gelangen kann, als durch die vor-
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hergehende); so ist es auch ein unentbehrliches Gesetz der empirischen Vorstellung der Zeitreihe, daß die Erscheinungen der vergangenen Zeit jedes Dasein in der folgenden bestimmen, und daß diese als Begebenheiten, nicht stattfinden, als sofern jene ihnen ihr Dasein in der Zeit bestimmen, d. i. nach einer Regel festsetzen. Denn nur an den Erscheinungen können wir diese Kontinuität im Zusammenhange der Zeiten empirisch erkennen.« S. 350 »Neue Glaube« von Strauß] vgl. David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. Leipzig: S. Hirzel 1872. S. 355 »glückliche Tatsache«] vgl. Hermann Lotze, Logik (1874), § 65. S. 357 Allgemeineren] Sperrung des Wortteils so im Druck S. 361 »ins Gewissen hinein«] vgl. Schiller, Die Philosophen (Gedicht aus den Xenien, Musenalmanach 1797): »Ein Achter. Auf theoretischem Feld ist weiter nichts mehr zu finden, | Aber der praktische Satz gilt doch: Du kannst, denn du sollst! | Ich. Dacht ichs doch! Wissen sie nichts Vernünftiges mehr zu erwidern, | Schieben sie’s einem geschwind in das Gewissen hinein.« S. 363 »Schwimmen lernen, ehe man ins Wasser geht«.] vgl. Hegel, Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817, 3. Aufl. 1830), Einleitung § 10: »Erkennen wollen aber, ehe man erkenne, ist eben so ungereimt, als der weise Vorsatz jenes Scholasticus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage.« S. 366 πάντων χρημάτον μέτρον ἄνθρωπος.] panton chrematon metron anthropos, vgl. Platon, Theaitetos 152a: πάντων χρημάτων μέτρον ἄνθρωπος τῶν μὲν ὄντων ἔστι, τῶν δὲ μὴ ὄντων ὡς οὐκ ἔστι. »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind.« Protagoras zugeschrieben. S. 367 Aberglaube an die Majorität] vgl. neben der Parallelstelle auf den letzten S. des Aufsatzes »Über Friedrich Hölderlin und sein Geschick« die unverhohlene Äußerung der antidemokratischen bzw. antiparlamentarischen Ressentiments Windelbands anläßlich seiner Übersiedlung nach Freiburg i. Br. gegenüber dem Freunde Georg Jellinek vom 28. Dezember 1877 (Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/56): »Ich bin um manche äußere und innere Erfahrung reicher aus der Schweiz wieder fortgegangen. Wenn ich kurz sagen soll,
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weshalb, so war es aus dem unveräußerlichen und dort geschärften Aristokratismus meines Denkens. ich habe in der Republik gelernt, den Segen der gegliederten Gesellschaft zu begreifen. Es hat mich nach wenigen Wochen ein Depit ergriffen vor dieser selbstgefälligen Tyrannei des breitmäuligen Pöbels, der nach seinem Ellenmaße auch die geistige Arbeit mißt und jenes vielleicht forcirte ›deutsche Professorenbewußtsein‹, das wir von Jugend auf einsaugen und das den Lehrer der Wissenschaft zu den ›Besten‹ rechnet; bäumte sich dagegen auf, von jedem Bummler, der 1000 fr jährlich mehr auszugeben hat, als ›nur e Professörle‹ über die Achsel angesehen zu werden. [. . . ] Der nivellirende Unsinn der Züricher Demokratie ist es gewesen, der mich forttrieb; ich hatte Heimweh nach einer monarchischen Regierung, unter der es eine Freiheit giebt, von der man dort Nichts weiß. Es giebt in der Schweiz nur Eine, allerdings eine sehr werthvolle Freiheit, – diejenige der Rede, d. h. des Schimpfes. Man hat dort immer die Leber frei. [. . . ] So bin ich denn [. . . ] doch auf den heimatlichen Boden meiner Bildung zurückgekehrt, und ich bereue es nicht.« S. 369 »Kritik der historischen Vernunft«] Anspielung auf Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Leipzig: Duncker & Humblot 1883, worin Dilthey sein Projekt in Anlehnung an Kant mit den zitierten Worten charakterisiert. S. 370 völkerpsychologischen Behandlung] Völkerpsychologie (Sozialpsychologie): Name der Projekte von Moritz Lazarus und Heyman Steinthal auf der einen sowie Wilhelm Wundt auf der anderen Seite, eine entweder kulturwissenschaftliche bzw. -soziologische oder eine psychologische Wissenschaft vom »Volksgeist« bzw. des »geistigen Völkerlebens« zu begründen. Die von Lazarus und Steinthal herausgegebene Zeitschrift für Völkerpsychologie und allgemeine Sprachwissenschaft (ab 1860) war offen für die Mitarbeit unterschiedlich ausgerichteter Wissenschaftler. Von Windelband erschien dort: Die Erkenntnisslehre unter dem völkerpsychologischen Gesichtspunkte. Mit Rücksicht auf Sigwart, Logik I. Tübingen. Laupp’sche Bchhdlg. 1873. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 8 (1875), 2. Heft 1874 [!], S. 166–178. S. 372 Zirkel . . . soll.] vgl. Lotze, Logik (1874), § 322.
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S. 384 nur deren Geschichte gebe] vgl. gegen diese Behauptung des Eintretens eines bloß noch literarischen Stadiums der Philosophie nach Hegel Kuno Fischer: Einleitung in die Geschichte der neuern Philosophie. 5. Aufl. Heidelberg: C. Winter o. J. [1902], S. 4: »Bei dieser Trennung des historischen und kritischen Standpunktes wird die Aufgabe, welche die Geschichte der Philosophie stellt, nicht gelöst und die Schwierigkeit, welche in der Sache liegt, bloß umgangen. Wir erhalten von den einen Geschichte ohne Philosophie, von den andern Philosophie ohne Geschichte. Geschichte der Philosophie ist begreiflicher Weise auf keinem dieser Standpunkte möglich. Und hier kehrt uns die Frage zurück: wie ist Geschichte der Philosophie als Wissenschaft möglich?« sowie, in Nachfolge hegelscher Bestimmungen, dass. S. 7: »Was also kann die Philosophie in dieser Rücksicht [als Selbsterkenntis des menschlichen Geistes] anderes sein, als Geschichte der Philosophie?« S. 385 ihre Geschichte die der menschlichen Irrtümer] Topos der Kritik an der Geschichte der Philosophie bzw. der Philosophiegeschichtsschreibung, von Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, ins Positive gewendet. Er spricht von »großartigen Irrtümern« des »Materialismus im Altertum«, die die Philosophie vorangebracht haben. S. 387 facultas artium] d i. die alte Philosophische Fakultät, die außer der Theologie und der Rechtswissenschaft sämtliche Wissenschaften (und Künste) umfaßte und auf den Besuch der beiden anderen Fakultäten vorbereitete. S. 388 cartesianischen] im Druck: kartesianischen S. 389 »Naturwissenschaft des inneren Sinnes« . . . »geistige Naturwissenschaft«] z. B. bei Friedrich Eduard Beneke: Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft. Berlin 1833; Theodor Waitz: Psychologie als Naturwissenschaft. Braunschweig 1849. S. 391 nomothetisch . . . idiographisch] Gesetze setzend (aufbauend; stiftend) – Einzelnes beschreibend. Der Begriff nomothetisch findet sich bereits bei Kant, vgl. die Einleitung der Herausgeber. S. 392 »Abenteuers der Vernunft« . . . »Archäologen der Natur«] vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 80. S. 392 φύσις] physis
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S. 393 Historik] auch Titel von Vorlesungen des Berliner Historikers Johann Gustav Droysen, vgl. dessen Grundriß der Historik (1858). S. 394 »Interpolationsmaximen«] vgl. den Abschnitt Die theoretischen Interpolationsmaximen der Erfahrungswissenschaft in Otto Liebmann: Die Klimax der Theorien. Eine Untersuchung aus dem Bereich der allgemeinen Wissenschaftslehre. Straßburg: Trübner 1884. S. 397 antikes Wort] womöglich Anspielung auf Aristoteles’ Rede vom Menschen als zoon logon echon (Wesen, das Sprache/Logos hat). S. 399 sogenannte Geschichtsphilosophie des Positivismus] prominentester Vertreter: Arthur de Gobineau: Essai sur l’inégalité des races humaines (Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen), 4 Bde. 1853–55. S. 399 »Sie ist die erste nicht«] Goethe, Szene Trüber Tag. Feld (1808), zu Faust I. S. 400 große Weltjahr] astronomisch: Umlauf um den Fixsternhimmel, hier im übertragenen Sinne gemeint. S. 401 vérités de fait . . . vérites éternelles] faktische bzw. ewige Wahrheiten, vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais sur l’Entendement humain (1765), Livre IV. S. 402 in infinitum.] ins Unendliche. S. 406 conditio sine qua non] (notwendige) Bedingung, ohne die nichts anderes eintreten kann. S. 408 »Heterogonie der Zwecke«] von Wilhelm Wundt geprägte und öfter gebrauchte Bezeichnung für die Abweichung der Ergebnisse einer Handlung von ihrem ursprünglichen Ziel auf Grund von Nebenabsichten und Nebenfolgen, u. a. formuliert in seiner Ethik (1886). S. 413 virtus] Tugend S. 415 Robinson] nach Daniel Defoe (Roman Robinson Crusoe, 1659– 1731). S. 437 Soziologen Benjamin Kidd] vgl. Kidd: Social Evolution. London: Macmillan 1894. S. 438 posthume Entwurf zur Moralphilosophie] vgl. Ludwig Feuerbach: Aus dem Nachlass. Zur Moralphilosophie. In: Karl Grün (Hg.): Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlass sowie in seiner Philosophischen Charakterentwicklung dargestellt. [Bd. 2] 1850–1872. Leipzig/Heidelberg: C. F. Winter 1874, S. 253–304, hier
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304: »Die Tugend ist die eigene Glückseligkeit, die aber nur im Bunde mit fremder Glückseligkeit sich glücklich fühlt, die selbst bereit ist, sich aufzuopfern, aber nur weil und wenn es das Unglück so fügt, dass das Glück der Andern, die mehr sind als ich, mir mehr gelten als ich mir selbst allein, nur von meinem eigenen Unglück, das Leben der Andern nur von meinem eigenen Tode abhängt, aus tragischer, schmerzlich empfundener, aber gleichwohl ohne Widerstreben übernommener Notwendigkeit, aus, wenn auch nicht eigenem Glückseligkeitstrieb, doch aus dem mit Liebe angeeigneten Glückseligkeitstriebe der Andern – eine Glückseligkeit, die aber der Selbstaufopferer wenigstens in der Vorstellung und Hoffnung mitgeniesst.« S. 439 schwanken] so im Druck S. 440 On . . . autres.] frz. Sprichwort: Man beweint sich selbst, indem man andere beweint, vgl. Ludwig Feuerbach: Nachgelassene Aphorismen 3. Moralphilosophie und Moralitäten. In: Karl Grün (Hg.): Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlass sowie in seiner Philosophischen Charakterentwicklung dargestellt. [Bd. 2] 1850–1872. Leipzig/Heidelberg: C. F. Winter 1874, S. 316–324, hier 319 f.: »Zum Mitleid. So offen, so populär ist der in ihm enthaltene Glückseligkeitsstrieb, dass es selbst im Lexikon, wie im Mozin heisst: on se pleure soi-même, en pleurant les autres. [. . . ] Mitleid ist eine freiwillige Herablassung und Konzession des Glücklichen gegen den Unglücklichen; ich will nicht glücklich sein, wenn Du es nicht bist.« S. 441 »Pathologie des Mitleids«] vgl. zur Pathologie der Gefühle Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1. Aufl. S. 133, zum Mitleid dass., S. 213. S. 442 »tat-twam asi«] vgl. Arthur Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik [1841]. 2. Abhandlung. Ueber das Fundament der Moral. 2., verb. u. verm. Aufl. Leipzig: Brockhaus 1860, S. 271: »Diese Erkenntniß, für welche im Sanskrit die Formel tat-twam asi, d. h. ›dies bist Du‹, der stehende Ausdurck ist, ist es, die als Mitleid hervorbricht, auf welcher daher alle ächte, d. h. uneigennützige Tugend beruht und deren realer Ausdruck jede gute Tat ist.« S. 443 William Stern in seiner »Kritischen Grundlegung der Ethik«] vgl. Wilhelm Stern: Kritische Grundlegung der Ethik als positiver Wissenschaft. Berlin: Dümmler 1897.
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S. 443 crux metaphysica] i. S. v. metaphysisches Hauptproblem, große Schwierigkeit. S. 445 συνείδησις] syneidesis S. 445 »der . . . andern.«] vgl. Feuerbach: Aus dem Nachlass. Zur Moralphilosophie. In: Karl Grün (Hg.): Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlass sowie in seiner Philosophischen Charakterentwicklung dargestellt. [Bd. 2] 1850–1872. Leipzig/Heidelberg: C. F. Winter 1874, S. 253–304, hier 298. S. 446 Darwin . . . nachgewiesen.] vgl. Charles Darwin: The expression of the emotions in man and animals. London: Murray 1872. S. 447 La Rochefoucauld] im Druck: Larochefoucauld S. 447 Il . . . partout] in der Not unserer besten Freunde finden wir immer etwas, das uns überhaupt nicht gefällt, vgl. François de La Rochefoucauld, Réflexions ou Sentences et Maximes morales (1664): »Dans l’adversité de nos meilleurs amis, nous trouvons toujours quelque chose qui ne nous déplaît pas.« S. 447 La . . . lui] das Mitleid ist süß, weil wir, während wir uns in die Lage des Leidenden versetzen, dennoch das Wohlgefühl genießen, nicht wie er zu leiden, vgl. Jean-Jacques Rosseau, Émile (1788), Tome 2, S. 141. S. 449 cum grano salis] i. S. v.: mit Einschränkung. S. 452 das] im Druck: des S. 452 Πρακτὸν ἀγαθον] prakton agathon, in der Ethik des Aristoteles das dem Menschen erreichbare Gute. S. 459 unter . . . sei.] nach der Behandlung der Frage der Theodizee (nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts der Übel in der Welt) durch Leibniz, vorgetragen in der Monadologie (1714). S. 459 vorgeschlagen worden ist.] vgl. Eduard von Hartmann: Die Religion des Geistes. Berlin: Duncker 1882, S. 258 f.: »Das religiöse Bewusstsein postulirt also ebensosehr den eudämonologischen Malismus (ungenau, aber herkömmlich, als Pessimismus bezeichnet) wie den teleologischen Bonismus, welcher mit Rücksicht auf die ebenfalls postulirte Allweisheit Gottes sich superlativisch zum Optimismus steigert; eudämonologischer Pessimismus und teleologischer Optimitismus decken sich in der religiösen Weltanschauung haarscharf mit der Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungsfähigkeit der Welt.«
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S. 460 kleine Schrift] vgl. Kant, Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (1759). S. 460 »Alles was ist, ist vernünftig«] vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), Vorrede. S. 460 Hartmann . . . vernichten.] vgl. Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschaung. Berlin: C. Duncker 1869. Kap. C, Abschnitt XII (Die Allweisheit des Unbewussten und die Bestmöglichkeit der Welt) u. XIII (Die Unvernunft des Wollens und das Elend des Daseins). S. 462 Heine . . . kann.] vgl. Heinrich Heine: Die Harzreise. In: Heinrich Heine’s sämmtliche Werke Bd. 1. Hamburg: Hoffmann u. Campe 1867, S. 1–123, hier 105–106: »Was mich betrifft, so habe ich in der Naturwissenschaft mein eigenes System, und demnach theile ich Alles ein: in Dasjenige, was man essen kann, und in Dasjenige, was man nicht essen kann.« S. 466 Hartmannianer] d. h. der Anhänger Eduard von Hartmanns. S. 466 Schopenhauer . . . müßte.] vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), Bd. 1, § 56: »Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein mußte, um mit genauer Not bestehen zu können: wäre sie aber noch ein weniger schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen.« S. 466 Lehre von der »Sempiternität« der Materie] über die Beharrlichkeit der Substanz handelt Schopenhauer in § 20 von Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813). S. 469 Hartmann fünf anthropologische Argumente] vgl. Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Berlin: C. Duncker 1869. Kap. C, Abschnitt XIII, 13. S. 470 Aperçu] ç aus Antiqua in den Fraktursatz eingesetzt S. 472 »Wir . . . tun.«] Wanderzitat, Kant zugeschrieben, oft in der Form »wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um unsere Pflicht zu tun« (vgl. z. B. Windelband: Ueber die Gewissheit der Erkenntniss. Berlin: F. Henschel 1873, S. 58), hier im Worte Schuldigkeit der Variante angeglichen, die auf Bismarck zurückgeführt wird (nach einem Brief vom 26. 6. 1851). Bei Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Zweiter Teil VIII. Exposition der Tugendpflichten als weiter Pflichten, b) Cultur der Moralität in uns, heißt es: »Die größte
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moralische Vollkommenheit des Menschen ist: seine Pflicht zu tun und zwar aus Pflicht (daß das Gesetz nicht bloß die Regel sondern auch die Triebfeder der Handlungen sei).« S. 474 sittlichen] im Druck: sittliches S. 474 in suspenso] unentschieden, in der Schwebe. S. 474 »wie unsere Weisen sagen«] vgl. Schiller, Die Götter Griechenlands (Gedicht 1788): »Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen, | Seelenlos ein Feuerball sich dreht, | Lenkte damals seinen goldnen Wagen | Helios in stiller Majestät.« S. 474 . . . ?] so im Druck S. 475 . . . ] Auslassung im Druck S. 476 »Rembrandt als Erzieher«] vgl.: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen [Julius Langbehn]. Leipzig: Hirschfeld 1890; bis 1892 39 Auflagen. S. 477 Abwerfen der Last der historischen Tradition] vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874). S. 478 Nietzsches . . . Bildung] vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872). Dionysisch: rauschhaft, apollinisch: geordnet. S. 479 »Die Massen avancieren«.] Sentenz, Hegel zugeschrieben. S. 481 »Es . . . spotten.«] nach Lessing, Nathan der Weise (1779). S. 483 »Wer . . . gedacht?«] vgl. Goethe, Faust II, Vers 6807 f. S. 485 »Ein Narr auf eigne Hand!«] vgl. Goethe, Den Originalen (Gedicht, Ausgabe letzter Hand 1827). S. 486 οἰκουμένη] oikoumene S. 486 Berichte . . . Vereins] vgl.: Eine Stimme aus Amerika. In: Mitteilungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums. In zwanglosen Heften. Heft 5. Wien/Leipzig: Carl Fromme 1908, S. 39– 42. S. 486 Amerika . . . Basalte«] vgl. Goethe, Den vereinigten Staaten (Gedicht 1827). S. 488 Idola fori] Idole des Marktes, d. h. falsche Begriffe, die der Verstand durch den Gebrauch der Sprache bildet, nach Francis Bacon: Novum organum scientiarum (1620). S. 491 Wer da hat, dem wird gegeben] Matthäus 25,29.
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S. 495 als Schüler . . . Gräcisten . . . Mathematiker] Die Rede ist von dem Philologen Friedrich Anton Rigler (1797–1874), Direktor des königlichen Gymnasiums in Potsdam 1836–1868 (vgl. Richard Hoche: Rigler, Friedrich Anton. In: Allgemeine Deutsche Biographie 28 (1889), S. 609–610) und dem Mathematiker Carl Ferdinand Meyer (1807– 1877, vgl. Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz Bd. 1. Braunschweig: Vieweg 1902, S. 12). Hermann von Helmholtz (1821–1894) besuchte 1829–1838 dieselbe Schule wie Windelband, das königliche Gymnasium in Potsdam. Windelbands Schulzeit war 1857–1866, vgl. die Mitteilung über Windelbands Abitur in: Bericht über das Gymnasium zu Potsdam für das Schuljahr 1865–1866. Potsdam: Gedruckt bei C. Krämer 1866; sowie Windelbands eigene Schilderung über Schule und Lehrer in: Alfred Graf (Hg.): Schülerjahre. Erlebnisse und Urteile namhafter Zeitgenossen. Berlin-Schöneberg: Fortschritt (Buchverlag der »Hilfe«) 1912, S. 107–112. Dass. ist mit »seiner Erlaubnis« wiederabgedruckt in: Königliches Viktoriagymnasium in Potsdam. Festschrift zur Feier der 100jährigen Anerkennung als Gymnasium am 10. und 11. November 1912. Unter Mitwirkung des Lehrerkollegiums hg. v. Gymnasialdirektor Dr. H. Rassow. Potsdam: Druck von Edmund Stein 1912, S. 36–39; dort S. 33–35 auch der Abdruck des Abitur-Zeugnisses über Helmholtz vom 19. September 1838. S. 497 Platon . . . sagen.] vermutlich Anspielung auf Platon, Politeia 461e–466d. S. 506 Geschichte . . . Gegenwart«] vgl. Windelband: Die neuere Philosophie. In: Allgemeine Geschichte der Philosophie. Leipzig: Teubner 1909 (Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre Ziele. Hg. v. Paul Hinneberg. Teil I, Abt. 5, Bd. 7), S. 382–541; dass. in: Allgemeine Geschichte der Philosophie. 2., verm. u. verb. Aufl. Leipzig: Teubner 1913 (Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre Ziele. Hg. v. Paul Hinneberg. Teil I, Abt. 5, Bd. 7), S. 432–585. S. 508 Inauguraldissertation] vgl. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770; »Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen«). S. 508 »Grundsätze«] vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Zweites Buch: Die Analytik der Grundsätze.
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S. 509 »Grundlegung«] vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). S. 509 ὄντως ὄν] ontos on, das wirklich Seiende (nach Platon), vgl. Lotze: Logik. 2. Aufl. 1880, § 365. S. 510 Abhängigkeit] im Druck: Abhängigkit S. 513 scheinlosen] so wörtlich S. 513 alles zermalmenden] von Moses Mendelssohn, Morgenstunden (1785) geprägtes Wort über Kant. S. 516 »andern Welt«] vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft A 852– 853. S. 518 Religionsphilosophie] zu diesem Themenkomplex gibt es eine Parallelüberlieferung im Teilnachlaß Windelbands im Besitz der Universitätsbibliothek der Tohoku Universität Sendai, Japan: Notizbuch mit Fadenheftung und schwarzem Leineneinband, mit eigenhändigem Titel: Religionsphilosophie. Abriß für Vorlesungen 1891., Umfang: 106 S., davon beschrieben: 80, Textbeginn auf Bl. 1r, hs. (dt. Schrift), schwarze Tinte, Maße: 16,8 × 10,6 cm, Universitätsbibliothek der Tohoku Universität Sendai (Japan), Signatur: II, A 2–2 WW 1, 17. Vgl. Jörn Bohr/Gerald Hartung (Hg.): Forschungsgrundlagen Wilhelm Windelband. Onlineressource, Universitätsbibliothek Wuppertal. S. 521 »Umlegung . . . Vernunft«] Selbstzitat, vgl. Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften Bd. 2. Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1880, S. 346. Entsprechend in weiteren Auflagen (2. von 1899 etc.). S. 521 »Reden über die Religion«] vgl. Friedrich Daniel Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). S. 523 »jenseits von gut und böse«] Anspielung auf Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Leipzig: Naumann 1886. S. 525 Märtyrertum der Antigone.] mythologische Figur (Tochter des Ödipus), stirbt in Folge der Übertretung des menschlichen zugunsten des göttlichen Gesetzes; vgl. die Tragödie von Sophokles. S. 526 ens perfectissimum] das allervollkommenste Sein.
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S. 526 ἀνάμνησις] anamnesis (Wieder-) Erinnerung der Seelen an das Reich der Ideen, zentraler Begriff in Platons Seelenlehre (Dialoge Menon, Phaidon und Phaidros). S. 526 ὄντως ὄν] ontos on, das wirklich Seiende (nach Platon). S. 527 »schlechthinigen Abhängigkeit«] vgl. Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsäzen [!] der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt Bd. 1. Berlin: Reimer 1821, S. 33: »Das gemeinsame aller frommen Erregungen, also das Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott.« S. 527 »panischen« Schrecken] nach dem antiken Gotte Pan, dem die Fähigkeit zugeschrieben wurde, plötzlichen und heftigen Schrecken zu verbreiten – vorzugsweise unter ruhenden Herden in der Mittagsstunde. S. 527 Kant . . . vergleichen] vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Beschluß: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« S. 528 »wo man dem Weltgeist näher ist als sonst«] vgl. Schiller: Wallensteins Tod II, 3 (Wallenstein spricht): »Es gibt im Menschenleben Augenblicke | wo er dem Weltgeist näher ist als sonst | und eine Frage frei hat an das Schicksal.« S. 529 »Wanderjahren«] vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1821/29). S. 530 »ein . . . mehr«.] vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, Sendschreiben an Fichte (1799), Vorrede: »Ein Gott könne nicht gewußt, sondern nur geglaubt werden. Ein Gott der gewußt werden könnte, wäre gar kein Gott.« S. 530 πίστις . . . γνῶσις] pistis, gnosis S. 531 »transszendentalen Schein«] daß die Logik zur Erweiterung der Erkenntnis dienen könnte, und nicht lediglich ihrer Überprüfung, vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 353: »Der logische Schein, der in der bloßen Nachahmung der Vernunftform besteht, (der Schein der Trugschlüsse) entspringt lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel.«
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S. 531 aufgegeben, aber nicht gegeben] Anspielung auf Kant, Kritik der reinen Vernunft B 526 f. u. B 536; auch Topos der Marburger Schule des Neukantianismus. S. 532 θεὸς ἄποιος] theos apoios: bestimmungsloser, eigenschaftsloser Gott (nach Philon von Alexandria). S. 532 ens realissimum et perfectissimum] das allerwirklichste und allervollkommenste Sein. S. 532 »Aseität«] das Von-sich-selbst-sein, Aus-sich-selbst-sein. S. 533 Das . . . Nicht-Ich.] vgl. die drei »Grundsätze der gesammten Wissenschaftslehre« in: Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95). S. 533 νόησις νόεσεως] noesis noeseos, Sich-selbst-denken, vgl. Aristoteles, Metaphysik 1074 b 34. S. 536 »Also . . . sein«] nach dem Begriff des Demiurgen bei Platon, Timaios. S. 537 modernste Gnostizismus] vermutlich Anspielung auf Eduard von Hartmann bzw. seine populärphilosophischen Nachfolger, vgl. Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 4., durchges. Aufl. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1907, S. 558: »Deshalb fand Hartmann das Wesen des ›vernünftigen‹ Bewusstseins in dem Durchschauen der ›Illusionen‹, mit denen der unvernünftige Drang des Willens gerade das hervorbringt, was ihn unglücklich machen muss, und er entwickelte aus diesem Verhältnis die sittliche Aufgabe, dass ein jeder durch die Verneinung der Illusionen an der Selbsterlösung des Weltwillens mitzuarbeiten habe, und den geschichtsphilosophischen Grundgedanken, dass alle Kulturarbeit auf dieses Ziel der Erlösung gerichtet sei. Ja, seine Religionsphilosophie will das tiefste Wesen der Erlösungsreligion darin sehen, dass durch den Weltprozess Gott selbst von dem ›alogischen‹ Momente seines Wesens erlöst wird. Die Entwicklung des unvernünftigen Willens soll seine eigene Vernichtung zu ihrem vernünftigen Ziele haben. Deshalb bejaht Hartmann alle Kulturarbeit, weil ihr letzter Zweck die Verneinung des Lebens und die Erlösung des Willens von der Unseligkeit des Seins ist. In dieser Hinsicht berührt er sich mit Mainländer, der neben und nach ihm Schopenhauers Lehre zu einer asketischen ›Philosophie der Erlösung‹ ausbildete; aber bei Hartmann nehmen diese Gedanken
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Anmerkungen
die Färbung eines evolutionären Optimismus an, der für den Ernst und den Reichtum der historischen Entwicklung ein sehr viel tieferes Verständnis zeigt als Schopenhauer«; sowie dass. S. 530 f.: »E. v. Hartmann, der durch seine ›Philosophie des Unbewussten‹ (1869) grosses Aufsehen machte und sodann durch eine grosse Reihe von Schriften hindurch [. . . ] zu immer mehr geschlossener Wissenschaftlichkeit sich durchgearbeitet hat, während er hinter sich eine teils pessimistische, teils mystische Popularphilosophie entfesselte, als deren Typen einerseits Mainländer (›Philosophie der Erlösung‹, 1874 f.), andererseits Du Prel (›Philosophie der Mystik‹, 1884 f.) gelten können.« S. 538 Henismus oder Henotheismus] bedeutet die angeblich am Ursprung jeder Religion liegende Ahnung bzw. Vorstellung, das alles seine Einheit in Gott bzw. einem höherem Wesen habe; in die religionswissenschaftliche Diskussion eingebracht von Friedrich Max Müller: Vorlesungen über den Ursprung und die Entwicklung der Religion: mit besonderer Rücksicht auf die Religionen des alten Indiens. Strassburg: Trübner 1881, S. 291–355: Ueber Henotheismus, Polytheismus, Monotheismus und Atheismus. S. 538 ἀπάθεια] apatheia; (stoische) Gelassenheit. S. 539 Hic . . . revocaveris.] etwa: »Mit dieser Welt und der anderen verhält es sich nämlich wie mit zwei Ehefrauen eines Mannes, d. h. wenn die eine gefällt, erregt dies bei der andern Neid«, als lateinisches Zitat nicht ermittelt. Unter dem Titel »Hier und Dort« stehen bei Wolf Alois Meisel: Prinz und Derwisch oder die Makamen Ibn-Chisdais [Abraham ben Samuel Ha-Levi Ibn Haisdai, jüdischer Dichter und Übersetzer im Barcelona des 13. Jahrhunderts]. 2., umgearb. Aufl. Pest: Johann Hertz 1860, S. 170 die Verse: »Willst das Verhältniß du von dieser Welt zu jener schauen, | Denk dir’s wie das von zweien neid’schen Frauen; | Jemehr du vorzugsweis’ die Eine ehrst und liebst, | Der Andern du zum Zorne Anlaß giebst.« Zur Entstehung dieses Werkes, einer Bearbeitung eines älteren Werks durch Ibn Hasdai, die Windelband vermutlich beide nicht kannte, vgl. die Vorrede von Meisel. Die Sentenz selbst geht laut Auskunft von Fouad Ben Ahmed (Rabat, Marokko) vom 24. 2. 2020 auf eine Überlieferung durch Wahb ibn Munabbih (ca. 645–728/732) zurück. S. 542 fides und fiducia] Glauben und Vertrauen.
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S. 546 Theurgie] rituell-religiöse Praktiken zur Herstellung einer Verbindung mit Gottheiten. S. 547 verbum mirificum] wundertätiges Wort, vgl. Johannes Reuchlin, De verbo mirifico (1494); bei ihm lautet es IHSVH (»Jesus«). S. 547 mantischen Künsten] Wahrsagekünste S. 550 οἶδα . . . Platon.] denn ich weiß, dass nur wenige Leute diese Meinung haben und haben werden, vgl. Platon, Kriton 49d. S. 551 Ahasverus] der »ewige Jude«, Gestalt der christlichen Legende des Mittelalters, als Spötter Jesu zur ewigen Wanderung verdammt. S. 556 sub specie aeternitatis] unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit S. 558 ὄντως ὄν] ontos on, das wirklich Seiende (nach Platon). S. 560 Kunst.] es folgen nach Seitenwechsel noch 2 S. Verlagsanzeigen über Werke Windelbands: Einleitung in die Philosophie; Lehrbuch der Geschichte der Philosophie; Die Prinzipien der Logik; Über Willensfreiheit; Die Philosophie im deutschen Geistesleben des XIX. Jahrhunderts; Vom System der Kategorien; Fichtes Idee des Deutschen Staates.
Personenregister Das Register berücksichtigt nur ausdrückliche Erwähnungen von Personen durch Windelband. Formen wie Hegelsch usw. sind unter dem jeweiligen Namen mitvermerkt. Nicht berücksichtigt sind Herausgeber und Übersetzer sowie Namen, die nur in den Titeln der zitierten Literatur enthalten sind. Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 182 f. Alexander der Große 486 Alkibiades 61 Aristophanes 57, 75 f. Aristoteles 12, 20 f., 66, 73, 85, 94, 100, 107, 116, 131, 167, 243, 250, 354, 390, 392, 435, 440, 451, 533 Augustin 526 Baader, Franz von 460 Bacon, Francis 86 f., 94, 107, 175, 179 f., 385, 487 Bayle, Pierre 110 Beneke, Friedrich Eduard 352 Bergmann, Julius 35 Bergson, Henri 263 Bismarck, Otto von 494 Böhme, Jakob 100, 259 Brentano, Franz 35 Bruno, Giordano 86, 90, 94, 98, 100, 107, 116, 175, 177, 181 Bunsen, Robert Wilhelm 277
Campanella, Tommaso 179– 181 Comte, Auguste 239 Condillac, Étienne Bonnot de 107, 488 Condorcet, Marie Jean Antoine 505 Creskas, Chasdai 85 Darwin, Charles 446 Descartes, René 10, 35, 86, 88– 95, 99, 107, 120, 175, 388, 526, 532 Eucken, Rudolf 148 Euripides 57 Fechner, Gustav Theodor 262 Feuerbach, Ludwig 438, 443– 447, 534 Fichte, Johann Gottlieb 7, 71, 88, 135, 143, 153, 165 f., 191– 193, 196, 199, 210, 231, 233– 241, 246 f., 273, 304, 373 f., 460, 472–474 Fischer, Kuno 15, 50, 272, 277 Fries, Jakob Friedrich 35, 248 f., 251, 273, 352, 506
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Personenregister
Galilei, Galileo 178, 385, 481 Gassendi, Pierre 181 Gersonides (Levi ben Gershon) 85 Göring, Karl 302 f., 352 Goethe, Johann Wolfgang von 151–172, 178 f., 181, 183– 187, 209–211, 217, 221 f., 398, 485, 487, 494, 502, 529 Gottsched, Johann Christoph 232 Grillparzer, Franz 487 Grün, Karl 438 Hartley, David 261 Hartmann, Eduard von 259, 262, 460, 469 Haym, Rudolf 224 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 10, 50, 96 f., 111, 135, 144, 146, 149, 153, 198, 203, 206, 208–210, 218 f., 222, 234 f., 245–255, 262, 273, 304, 350, 380, 388, 479, 506, 548 Heine, Heinrich 462 Heinze, Max 259 Heitz, Eduard 5 Helmholtz, Hermann 277, 495 Herbart, Johann Friedrich 18, 32, 135, 246, 304 Herder, Johann Friedrich 171, 210, 486 Hertz, Heinrich 140 Hobbes, Thomas 87, 99, 120, 488
Hölderlin, Friedrich 205–213, 216–225, 229 Homer 59, 108 Horaz 309 Humboldt, Alexander von 276 Humboldt, Wilhelm von 276 Hume, David 107, 116, 144, 365, 437, 445 Hutten, Ulrich von 182 f. Jacobi, Friedrich Heinrich 110, 143, 209, 234, 259, 365, 530 Jean Paul (Friedrich Richter) 108, 166, 221 Kalb, Charlotte von 210, 221 Kant, Immanuel 4 f., 11, 14, 17 f., 27–33, 39, 46, 88, 94, 99, 104–108, 111–114, 116, 118–125, 127–148, 152, 159, 165, 168, 190–203, 209, 222, 231–233, 236, 242–245, 247– 249, 251, 253 f., 259 f., 272– 274, 277–279, 282, 319, 336, 343 f., 351–353, 359, 361, 374, 384, 386, 392, 403, 405, 409 f., 414, 441, 459, 482, 505–513, 516, 521 f., 527, 531 Kepler, Johannes 385, 481 Kidd, Benjamin 437 Kirchhoff, Gustav Robert 277 Kleon 61 Klettenberg, Susanne von 157 Klopstock, Friedrich Gottlieb 207 f. Körner, Christian Gottfried 198, 200
Personenregister
Kopernikus, Nikolaus 129, 177 La Rochefoucauld, François de 447 Lange, Friedrich Albert 200, 272 Lasson, Adolf 259 Lavater, Johann Caspar 155 Leibniz, Gottfried Wilhelm 97–99, 107, 116 f., 167 f., 242, 306, 401, 403, 459 f., 469, 493 f., 498 Lessing, Gotthold Ephraim 88, 209, 239, 440 Liebig, Justus 277 Locke, John 107, 120, 364, 388, 488 Lotze, Rudolph Hermann 35, 140, 146, 148, 153, 243, 251 f., 299, 355, 372, 375, 509 Magenau, Rudolf von 207 Maimonides, Moses 85 Mandeville, Bernard 444 Matthisson, Friedrich 214 Meinecke, Friedrich 231 Meister Eckhart 100 Merck, Johann Heinrich 171 Meyer, Ludwig 87 Mommsen, Theodor 277 Montaigne, Michel de 176 Mozart, Wolfgang Amadeus 158 Müller, Adam 260 Napoleon Bonaparte 158 Neuffer, Christian Ludwig 207
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Newton, Isaac 138, 232, 249, 278 Nietzsche, Friedrich 226, 247, 477 f. Nikolaus Cusanus 116 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 238, 260 Occam, Wilhelm von 119 Oldenburg, Heinrich 87 Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim) 184 Patrizzi (Patrizi, Francesco) 177 Perikles 56, 61 Pindar 155, 211, 214, 217 Platen, August von 487 Platon 12, 19, 55, 68, 73–76, 85, 90, 93 f., 97, 100, 107, 115, 131, 170, 177, 202, 209, 240, 252, 254, 390, 396, 398, 427, 442, 497, 526, 536, 538, 541, 550 Plotin 259 Plutarch 208 Poiret, Pierre 263 Pythagoras 107, 530 Raffael Santi (Raphael) 158 Ranke, Leopold von 277 Reinhold, Karl Leonhard 192 Reuchlin, Johannes 182 Richelieu, Armand Jean Duplessis 182 Rousseau, Jean-Jacques 112, 155, 163, 208, 232, 447, 505
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Personenregister
Sanchez, Francisco 94, 120, 176 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 146, 153, 198, 206, 208–210, 234, 246 f., 273, 304, 388, 460, 532 Schiller, Friedrich 81, 112, 139, 143, 152 f., 157, 161, 166, 190–203, 206, 208, 210 f., 216, 221–223, 237, 239, 361, 487 Schlegel, Friedrich 153, 238, 260 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 143, 156, 260, 353, 365, 521, 527, 531 Schopenhauer, Arthur 12, 135 f., 153, 244 f., 247, 268, 270–272, 303 f., 398, 438, 442–444, 449, 459 f., 466 f., 469 f., 474 Schwab, Christoph Theodor 215 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 444 Shakespeare, William 158 Siebeck, Paul 4
Sigwart, Christoph 35 f., 140 Sinclair, Isaak von 213 f. Smith, Adam 437, 445 Sokrates 55 f., 60–81, 102, 108, 238, 390 Sophokles 57, 214, 218 Spinoza, Baruch de 83–102, 107, 158–160, 167, 209, 261, 388, 399, 402, 441, 510, 520, 532 Stäudlin, Gotthold Friedrich 207 Stein, Charlotte von 161 Stern, William 443 Thales von Milet 20 Ueberweg, Friedrich 259 van den Enden, Frans 86 Vischer, Friedrich Theodor 434 Vives, Juan Luis 175 Voltaire (François Marie Arouet) 232 Wagner, Richard 226 Waiblinger, Friedrich 215 Wolff, Christian 16 Xenophon 55 Zeller, Eduard 36, 277