Princeps Legibus Solutus: Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre [1 ed.] 9783428444137, 9783428044139


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German Pages 238 [239] Year 1979

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Princeps Legibus Solutus: Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre [1 ed.]
 9783428444137, 9783428044139

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DIETER WYDUCKEL

Princeps Legibus Solutus

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 30

Princeps Legihus Solutus Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts· und Staatslehre

Von

Dr. Dieter Wyduckel

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

© 1979 Duncker & Humblot, Berlln 41

Gedruckt 1979 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04418 4

Inhaltsverzeichnis Erster Teil StaatIime Herrschaftsgewalt und Remt als Grundproblem frühmoderner Rechts- und Staatslehre §1

Die Entfaltung absoluter Herrschaft. . . .. . .. . . ... . . .. . . . .. . .. . . ...

11

§2

Die Grenzen herrschaftlicher Gewalt ............................

16

§3

Der Aufstieg frühmoderner 8taatlichkeit ........................

30

Zweiter Teil Das Verhältnis von Herrscher und Recht in der legistischen JurisprUdenz der Glossatoren §4

Das Recht und seine Verfügbarkeit .............................. A. Die Erneuerung des römischen Rechts ........................ B. Die Zuordnung von Herrscher und Recht ......................

35 35 41

§5

Die Legibus solutio des Princeps ................................ A. Ursprung und Entwicklung .................................... B. Die Auslegung durch die Glossatoren ..........................

48

§6

48

52

Legibus solutio und Bindung an das Recht ........................ 54 A. Die Herkunft der Bindungsvorstellung aus der stoisch-christlichen Philosophie ............................................ 54 B. Die Bindung des Herrschers an das Naturrecht in der Rechtslehre der Glossatoren ........................................ 60

Dritter Teil Grund und Grenzen herrschaftlicher Gewalt in der legistischen Jurisprudenz der Kommentatoren §7

Die Ausdifferenzierung herrschaftlicher Gewalt .................. A. Mittelalterliche Herrschaftsordnung und herrschaftliche Gewalt B. Herrschaftliche Gewalt und Jurisdiktion ...................... C. Herrscher, Herrschaftsverband und herrschaftliche Gewalt ....

63 63 68 71

6

Inhaltsverzeichnis

§8

Herrschaftliche Gewalt und Potestas legern condendi ............ 76 A. Die Ableitung der Rechtsetzungsbefugnis aus der Jurisdiktionsgewalt ........................................................ 76 B. Altes und neues Recht ........................................ 79

§9

Die vertragliche Bindung herrschaftlicher Gewalt ................ 82 A. Der Rechtsgrund vertraglicher Bindung ........................ 82 B. Die Einbeziehung vertragsmäßiger Elemente in den Rechtsetzungsprozeß .................................................. 85 Vierter Teil

Plenitudo potestatis und absolute Herrschaftsgewalt in der Kanonistik § 10 Papsttum und kirchliches Recht ..................................

A. Die kirchliche Rechtsbildung .................................. B. Der päpstliche Jurisdiktionsprimat ............................ § 11 Absolute Herrschaftsgewalt und Rechtsetzung ....................

A. Die Legibus solutio im Lichte päpstlicher Binde- und Lösegewalt

B. Die Plenitudo potestatis des Papstes als Potestas absoluta ......

88 88 90 94 94 97

§ 12 Die Verselbständigung der Lex humana .......................... 101 Fünfter Teil

Die Genese frühmodemer Rechts- und Staatslehre in der Scholastik § 13 Wiederaufnahme und Entwicklung der antiken Staatsidee ........ 105

A. Die Aristoteles-Rezeption der Hochscholastik .................. 105 B. Die Stellung des Herrschers im Gemeinwesen ................ 114 § 14 Die Positivität des Rechts ........................................ 120

A. Legeshierarchie und menschliche Satzung .................... 120 B. Der voluntaristische Rechtsbegriff ............................ 124 § 15 Das Verhältnis von Herrscher und Recht im Gemeinwesen ........ 130

A. Die Reichweite der Legibus solutio des Herrschers .............. 130 B. Positivität des Rechts und rechtliche Bindung des Herrschers .. 134 Sechster Teil

Die staatliche Rerrschaftsgewalt in der Publizistik des späten Mittelalters § 16 Die Verselbständigung des frühmodernen Staates ................ 138

Inhaltsverzeichnis

7

§ 17 Imperiale Herrschaftsgewalt und staatliche Souveränität ........ 147

A. Die Konzentration herrschaftlicher Gewalt .................... 147 B. Staatliche Herrschaftsgewalt als Rechtsetzungsbefugnis ...... 152 § 18 Konsensuale Grenzen staatlicher Herrschaftsgewalt .............. 155

A. Legitimation durch die Gesamtheit ............................ 155

B. Die Lex regia als lex fundamentalis .......................... 163

Literaturverzeichnis

169

Register

232

Ahkürzungsverzeichnis a. Abt. AESC AHR AKG Anm. AöR ARG ARSP Art. (art.)

=

ante Abteilung Annales. Eeonomies, Societes, CiviIisations Ameriean Historical Review Archiv für Kulturgeschichte Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Reformationsgeschichte Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel (artieulus)

Bd. (Bde.) Beih. BIDR BI.

Band (Bände) Beiheft Bullettino dell'Istituto di Diritto Romano Blatt

C.

eap. chap. Cl. Cod. CPH CSEL

Causa eapitulum chapter, chapitre Classe Codex Czasopismo Prawno-Historyezne Corpus Seriptorum Eeclesiastieorum Latinorum

DA De eons. Dig. Dist.

Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters De eonseeratione Digesta Distinctio

ed. EHR

editio, edidit English Historical Review

Fase.

FN

Fascieulus Fußnote

GGA GI.

Göttingische gelehrte Anzeigen Glosse

H.

Hg. (hg.) histor. HZ

Heft Herausgeber (herausgegeben) historisch Historische Zeitschrift

Inst. IPO IRMAE

Institutiones Instrumentum Pa eis Osnabrugense Ius Romanum Medii Aevi

JHI JMH

Journal of the History of Ideas The Journal of Modern History

KI.

Klasse

Abkürzungsverzeichnis

9

1. lib. liv.

lex liber livre

MGH

Monumenta Germaniae Historica

NF Nov.

Neue Folge Novellae

ÖZöR

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht

p. partic. philos. PL pr. PVS

post particula philosophisch Patrologia Latina principium Politische Viertelj ahresschrift

qu.

quaestio

R.

RE rec. Resp. RHDFE RIFD RSDI rubr.

Reihe, Reeks recto Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft recensuit Respondens, respondente Revue historique de droit fran~ais et etranger Rivista internazionale di filosofia deI diritto Rivista di storia deI diritto italiano rubrica

SDHI sect. Sp.

Studia et documenta historiae et iuris sectio Spalte

t.

tit. TRG

tome, tomo, tomus ti tul us, titre Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis

ult. uno

ultimus, ultima unicus, unica

v vb. vol. VSWG VVDStRL

verso verbum volume, volumen Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

ZKG ZRG -GA -KA -RA

Zeitschrift für Kirchengeschichte Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte Germanistische Abteilung Kanonistische Abteilung Romanistische Abteilung

r

Erster Teil

Staatliche Herrschaftsgewalt und Recht als Grundproblem frühmoderner Rechts" und Staatslehre § 1 Die Entfaltung absoluter Herrschaft Kaum ein anderes Problem hat die neuzeitliche Rechts- und Staatslehre so sehr beschäftigt wie die Frage nach dem Verhältnis von staatlicher Herrschaftsgewalt und Recht. In ihren Wurzeln reicht diese Thematik, die mit der Herausbildung des modernen! Staates auf das engste verbunden ist, bis in die Zeit des späten Mittelalters zurück. Sie hat auch in unseren Tagen ihre Relevanz durchaus nicht eingebüßt; denn zentrales Thema und Problem rechts- und staatstheoretischer Erörterung ist nach wie vor die prinzipielle Frage einer Begründung und Rechtfertigung 2 aller staatlichen Gewalt. Während die Auffassungen des 19. Jahrhunderts wegen ihrer Verfangenheit im Gesetzes- und Rechtspositivismuss in diesem Punkt bisweilen den erforderlichen kritischen Durchblick vermissen ließen, hat mit dem Abrücken von positivistischen Vorstellungen und dem Blick auf die Genese des Denkens über Recht und Staat zugleich die Frühphase moderner Rechts- und Staatslehre an Bedeutung gewonnen4 • In

1 Zur Problematik des Begriffs vgl. Skalweit, Der "moderne Staat", Opladen 1975, S. 12 ff. t Hierzu jetzt Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, Berlin 1977. Vgl. ferner Kriele, Einführung in die Staatslehre, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 19 ff., der eine eingehende Analyse des modernen demokratischen Verfassungsstaates und seiner historischen Legitimitätsgrundlagen vorgelegt hat. Siehe auch ders., Legitimitätserschütterungen des Verfassungsstaates, in: Fortschritte des Verwaltungsrechts. Festschrift für Hans J. Wolff zum 75. Geburgstag, hrsg. von Chr.-F. Menger, München 1973, S. 89 - 107 sowie ders., Legitimitätsprobleme der Bundesrepublik, München 1977. Ferner Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, Opladen 1976 (PVS, Sonderh. 7), wo der aktuelle politikwissenschaftliche Forschungsstand dargelegt ist. 3 Zur Kritik: Bärsch, Der Staatsbegriff in der neueren deutschen Staatslehre und seine theoretischen Implikationen, Berlin 1974, S. 34 ff. 4 Dazu Scheuner, Einleitung, in: Scupin / Scheuner (Hrsg.), AlthusiusBibliographie, Berlin 1973, S. XXI.

12

1. Teil: Staatliche Herrschaftsgewalt und Recht

einem bislang nicht gekannten Ausmaß wird damit die Aufmerksamkeit auf die Epoche des frühmodernen 5 Staates gelenkt. Genau hier haben sich die Grundlagen des modernen Staates ausgebildet. Die hiermit in den Blick genommene Epoche wird einerseits vom Zeitalter des modernen Nationalstaates des 19. und 20. Jahrhunderts abgehoben', zum anderen herkömmlicherweise vom Mittelalter und seinen Herrschafts formen abgegrenzt7. Die im Laufe des 16. Jahrhunderts sich ausformenden Lehren von Staatsräson8 und SouveränitätS lassen in der Tat einen - freilich häufig überschätzten! - Wandel in der Rechts- und Staats auffassung deutlich werden, der nicht nur die Tendenz zur Enttheologisierung der mittelalterlichen Vorstellung vom Gemeinwesen, sondern auch den Gedanken der Unterordnung politischer Herrschaft unter rationale Gesichtspunkte zum Ausdruck bringt 10• Während Niccolö Machiavelli im Begriff der Staatsnotwendigkeitll die Lehre von der Staatsräson12 grundlegte, 5 Zu dieser auf den internationalen Sprachgebrauch abgestimmten Bezeichnung für den Staat der frühen Neuzeit vgl. Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 5 f. e Vgl. Oestreich, S. 6. 7 Siehe earl Schmitt, Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954, Berlin 1958, S. 375 - 385 (375). Zur Problematik des überkommenen Periodisierungsschemas vgl. Walder, Zur Geschichte und Problematik des Epochenbegriffs "Neuzeit", in: Festgabe Hans von Geyerz, Bern 1967, S. 21 - 47 sowie Mieck, Periodisierung und Terminologie der Frühen Neuzeit. Zur Diskussion der letzten bei den Jahrzehnte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 19 (1968), S. 357 - 373. 8 Vgl. dazu den von Schnur herausgegebenen Sammelband: Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, Berlin 1975. 9 Dazu Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität, Stuttgart 1964, S. 56 ff. sowie Quaritsch, Staat und Souveränität, Frankfurt a. M. 1970, S. 243 ff. 10 Vgl. Scheuner, Staatsräson und religiöse Einheit des Staates, in: Schnur (Hrsg.), Staatsräson, S. 363 - 405. Ferner Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat und Gesellschaft. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 42 - 64 (49 ff.). 11 Vgl. hierzu aus dem um 1513 verfaßten "Principe" cap. XVIII, wo Machiavelli darlegt, daß der Fürst "non pu osservare tutte quelle cose per le quali gli uomini sono tenuti buoni, sendo spesso necessitato, per mantenere 10 stato, operare contro alla fede, contro alla carita, contro alla umanita, contro alla religione" (in: ders., Tutte de opere. A cura di F. Flora e di C. Cordie, 2. ed., Milano 1968, vol. 1, S. 1 - 64 [56]). Zum Begriff der Notwendigkeit vgl. Kluxen, Politik und menschliche Existenz bei Machiavelli. Dargestellt am Begriff der Necessita, Stuttgart 1967, S. 31 ff., 65 ff. 12 Nicht dem Wort, das erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts verbürgt ist, aber der Sache nach. Vgl. hierzu Meiriecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. Hrsg. und eingel. von W. Hofer, München 1957, S. 54 ff. sowie Polin, Le concept deRaison d'Etat avant la .leHre d'apres Machiavel, in: Schnur (Hrsg.), Staatsräson, S. 27 - 42.

§ 1 Die Entfaltung absoluter Herrschaft

13

kommt Jean Bodin das Verdienst zu, die Souveränität als das entscheidende Kriterium des Gemeinwesens bestimmt zu haben, indem er sie als die höchste, von den Gesetzen entbundene Gewalt über Bürger und Untertanen (summa in cives ac sub ditos legibusque soluta potestas) definierte 13 • Bodin erkannte die so umschriebene Gewalt dem Herrscher des staatlich organisierten Gemeinwesens zu14 und schuf auf diese Weise die Grundlage für eine absolutistische Staatslehre15 , die sich vor allem im Bereich des Kontinents 16 rasch ausbreiten konnte, aber auch im englischen Rechts- und Staatsdenken17 ihre Spuren hinterlassen hat. 13 Vgl. Bodin, De Republica libri sex, ed. Francofurti 1594, lib. I, cap. 8, S. 123. In der bereits 1576 erschienenen französischen Ausgabe wird die Souveränität als "puissance absolue" bezeichnet. Vgl. Les six livres de la Republique, I, 8, S. 122; hier zitiert nach dem 1961 erschienen Faksimiledruck der Edition Paris 1583. Dazu Ernst Hancke, Bodin. Eine Studie über den Begriff der Souverainetät, Breslau 1894, Neudruck Aalen 1969, S. 24 ff.; Landmann, Der Souveränitätsbegriff bei den französischen Theoretikern von Jean Bodin bis auf Jean-Jacques Rousseau, Leipzig 1896, S. 47 ff. Siehe nunmehr Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 333 ff. Zur Bedeutung des "Legibussolutus-Prinzips" Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Karlsruhe 1975, S. 40 f. Eine Gesamtwürdigung Bodins jetzt bei Denzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München, München 1973. 14 Siehe dazu Rebujfa, Jean Bodin e il "Princeps legibus solutus", in: Materiali per una storia della cultura giuridica, raccolti da Giovanni Tarello, vol. 2, Bologna 1972, S. 89 - 123 (105 ff.). Bodin läßt freilich eine zureichende Differenzierung zwischen Herrscher und Gemeinwesen vermissen, so daß letztlich offenbleibt, ob die Souveränität nur dem Herrscher oder auch der respublica zuzuerkennen ist. Das hat zutreffend Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität, S. 65, gesehen, der hervorhebt, daß Bodin die Konsequenzen des Souveränitätsprinzips nicht zu ziehen vermag, "weil sein rationales Denken den Einfluß der Anschauung noch nicht bewältigen kann". 15 Hierzu Franklin, Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory, Cambridge 1973, S. 41 ff. lS Für die Auseinandersetzung mit der Lehre Bodins im Reich vgl. Henkel, Untersuchungen zur Rezeption des Souveränitätsbegriffs durch die deutsche Staats theorie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Diss. Marburg 1967, S. 50 ff. Ferner Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit, Göttingen 1966, S. 360 ff.; Hoke, Bodins Einfluß auf die Anfänge der Dogmatik des deutschen Reichsstaatsrechts, in: Denzer (Hrsg.) Jean Bodin, S. 315 - 332 sowie Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die "Politica" des Henning Arnisaeus (ca. 1575 - 1636), Wiesbaden 1970, S. 170 ff., 118 ff. 17 Zum Einfluß Bodins in England vol. Mosse, The Influence of Bodin's Republique on English Political Thought, in: Medievalia et Humanistica 5 (1948), S. 73 - 83; ders., The Struggle for Sovereignty in England, East Lansing 1950, Nachdruck New York 1968, S. 28 ff.; Salmon, The French Religious Wars in English Political Thought, Oxford 1959, S. 109 ff., 181 ff.; Greenleaf, Order, Empiricism and Politics. Two Traditions of English Political Thought, 1500 to 1700, New York 1964, S. 125 ff. Zur Bedeutung der kontinentalen Souveränitätsvorstellung für die Lehre vom Divine Right of Kings siehe Gerhard A. Ritter, Divine Right and Prärogative der englischen Könige 1603 - 1640 (1963), in: ders., Parlament und Demokratie in Großbritannien, Göttingen 1972, S. 11 - 58 (31). Ferner Hansjochen Hancke, Die Lehre vom Divine Right of Kings bei Jakob 1., Diss. Münster 1969, S. 69 ff. und d'Avack, La ragione dei re, Il pensiero politico di Giacomo I, Milano 1974, S. 26.

14

1. Teil: Staatliche Herrschaftsgewalt und Recht

Darauf aufbauend, aber ausgehend von den veränderten Voraussetzungen der im Laufe des 17. Jahrhunderts sich durchsetzenden cartesianisch-rationalistischen Philosophie und deshalb schärfer als der im Grunde untheoretische Bodin entwickelte Thomas Hobbes seine Konzeption18 von der Absolutheit souveräner Herrschaftsgewalt und ihrer Bedeutung für das Gemeinwesen19• Indem Hobbes den Staat aus dem Vertragsschluß der Individuen20 herleitete und zugleich dessen Bestand auf die übertragung einer höchsten, nicht an Gesetze gebundenen Gewalt gründete, machte er den Begriff der Souveränität zum eigentlichen Kernstück einer systematisch aufgebauten Lehre vom Staat und seinen Funktionen. Anders als der in tradierten materialen Wertbindungen stehende Bodin faßte Hobbes die Souveränität als ein rationales und abstraktes Prinzip 21 und wurde so zum Schöpfer einer 18 Den grundsätzlichen Unterschied zwischen Bodin und Hobbes sowohl hinsichtlich der Methode als auch der geistesgeschichtlichen Voraussetzungen hat Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität, S. 73 ff., herausgearbeitet. Vgl. auch ders., Die ontologisch-aristotelische Politikwissenschaft und der Rationalismus, Berlin 1970, S. 167 ff. Ferner Dießelhorst, Ursprünge des modernen Systemdenkens bei Hobbes, Stuttgart 1968, S. 6 ff., 28 ff. und Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1970, S. 10 ff. 1D Vgl. De Cive (1642), ed. Molesworth, Opera latina, vol. 2, cap. 6, 13, S. 224: "Imperium autem quo majus ab hominibus in hominem transferri non potest, vocamus absolutum." Ebd. Nr. 18, S. 231: "Manifesturn est igitur, esse in omni civitate aliquem hominem unum, vel concilium sive curiam unam, quae potentiam in cives singulos jure habet tantam, quantam extra civitatem unusquisque habet in seipsum, id est, summam sive absolutam, viribus civitatis; neque ulla alia re limitandam." Ferner Leviathan (1651) ed. Molesworth, The English Works, vol. 3, part 2, chap. 18, S. 159 ff.: Of the Rights of Sovereigns by Institution. Vgl. ebd. chap. 20, S. 194 f.: "So that it appeareth plainly, to my understanding ... that the sovereign power, whether placed in one man, as in monarchy, or in one assembly of men, as in popular, and aristocratical commonwealths, is as great as possibly men can be imagined to make it." Dazu Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938, S. 47 ff., 79 ff. Zu neuen LeviathanInterpretationen vgl. ders., Die vollendete Reformation, in: Der Staat 4 (1965), S. 51 - 69; Polin, Politique et philosophie chez Thomas Hobbes, Paris 1953, S. 240 ff.; WiHms, Die Antwort des Leviathan, Neuwied 1970, S. 116 ff. Vgl. zur neueren Entwicklung der Hobbes-Forschung Keith C. Brown (Hrsg.), Hobbes Studies, Oxford 1965 und Koselleck / Schnur (Hrsg.), Hobbes-Forschungen, Berlin 1969. 20 Vgl. Leviathan, part 2, chap. 17, S. 158, wo Hobbes darlegt, daß die Einheit (unity) des Gemeinwesens hervorgebracht wird "by covenant of every man with every man". Dazu Gough, The Social Contract, 2. ed., Oxford 1957, S. 105 ff. Zum Zusammenhang von religiöser Bundesidee und politischem Vertragsdenken bei Hobbes siehe Förster, Thomas Hobbes und der Puritanismus, Berlin 1969, S. 74 ff. und KodaHe, Subjektivität und Staatskonstitution, in: Schnur (Hrsg.), Staatsräson, S. 301 - 323 (304 ff.). 21 Vgl. Leviathan, part 2, chap. 18, S. 169: " ... the power of sovereignty is the same in whomsoever it is placed". Siehe auch De cive, eap. 6, S. 216 ff.: De jure ejus, sive eonsilii sive hominis unius, qui in civitate eum summa potestate est. Dazu Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität, S. 73 ff.; Hinsley, Sovereignty, London 1966, S. 141 ff. Ferner Leo Strauss, On the

§ 1 Die Entfaltung absoluter Herrschaft

15

Lehre, die wie ein "technisches Utensil"22 bereitlag, geeignet, den Absolutismus des Königtums ebenso wie den anderer Herrschaftsgewalten zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund hat die ältere rechts- und staatswissenschaftliche ebenso wie die verfassungsgeschichtliche Forschung den früh modernen Staat, sei es zustimmend oder ablehnend, vielfach zu einseitig unter dem Aspekt der Entfaltung absoluter Herrschaft gesehen23 und diesen dabei zu Unrecht auf seine - gewiß vorhandenen! - absolutistischen Züge reduziert. Das heutige Bild frühmoderner Staatlichkeit und Staatslehre ist demgegenüber deutlich differenzierter24 . Zum einen sieht man die Lehre von der absoluten Herrschaftsgewalt stärker im Hinblick auf ihre konkrete Zeitbezogenheit, d. h. als den Ausdruck einer Ordnungsvorstellung, von der aus es möglich erschien, die Gegensätze des konfessionellen Bürgerkrieges zu überwinden und den inneren Frieden herbeizuführen und zu erhalten26 . Zum anderen wird die Entbundenheit herrschaftlicher Gewalt von den Gesetzen weniger unter dem Aspekt willkürlicher Machtausübung und tyrannischen Machtmißbrauchs beurteilt, denn als notwendige Voraussetzung Spirit of Hobbes's Political Philosophy, in: Brown (Hrsg.), Hobbes Studies, S. 1 - 29 (25); Hans Maier, Hobbes, in: ders. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. 1, 4. Aufl., München 1972, S. 351 - 375 (374). Zur Staatsformenlehre Hobbes' vgl. Erich Küchenhoff, Möglichkeiten und Grenzen begrifflicher Klarheit in der Staatsformenlehre, Berlin 1967, S. 512 ff. 22 Hans Maier, Hobbes, S. 374. Vgl. auch Menger, Verfassungsgeschichte, S.59f. 23 Hierzu Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, Neuwied 1967, S. 27 ff. 24 Dazu Hartung / Mousnier, Quelques problemes concernant la monarchie absolue, in: Relazioni deI X Congresso internazionale di scienze storiche, vol. 4, Storia moderna, Firenze 1955, S. 1 - 55. Zum Stande der AbsolutismusForschung siehe Vierhaus, Art. "Absolutismus", in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft Bd. 1, Freiburg/Br. 1966, Sp. 17 - 37; Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 179 -197. Vgl. ferner den von Hubatsch herausgegebenen Sammelband: Absolutismus, Darmstadt 1974 sowie von Aretin (Hrsg.), Der Aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974. 25 An der Ausarbeitung einer dahingehenden ordnungspolitischen Konzeption haben die als "Politiker" bekannten, staatsbezogenen französischen Juristen einen bedeutenden Anteil. Vgl. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, Berlin 1962, S. 15 ff., 26 ff., 65 ff. Die Relevanz der Ordnungsidee für Bodin hat Greenleaf betont (Bodin and the Idea of Order, in: Denzer [Hrsg.], Jean Bodin, S. 23 - 38). Kritisch zum Verhältnis von Herrschaftsdenken und Friedensidee bei Hobbes Kodalle, Thomas Hobbes. Logik der Herrschaft und Vernunft des Friedens, München 1972, S. 33 ff., 167 ff. Eine eingehende Würdigung der Ordnungsvorstellungen von Bodin und Hobbes gibt nunmehr Pr es ton King, The Ideology of Order. A Comparative Analysis of Jean Bodin and Thomas Hobbes, London 1974, S. 73 ff., 161 ff., 255 ff. Siehe ferner Treffer, Jean Bodin. Zum Versuch einer juristisch-philosophischen Bewältigung des allgemeinen religiösen Bürgerkrieges in Frankreich, München 1977, S. 76 ff.

16

1. Teil: Staatliche Herrschaftsgewalt und Recht

für eine sinnvolle und zukunftsorientierte Rechtsgestaltung begriffen, die über die engen Grenzen einer nahezu ausschließlich an Privilegien und erworbenen Rechten ausgerichteten feudalistischen Rechtsauffassung hinausgeht 26 • Die zentrale Stellung der Rechtsetzungskompetenz in der Souveränitätslehre sowohl Bodins als auch Hobbes' erweist sich damit als Ausdruck eines Rechts- und Staatsdenkens, in dem das als Befehl verstandene Gesetz eine neue Ortsbestimmung27 erfahren hat und als das wichtigste Instrument staatlicher Herrschaft erkannt ist28 • Die wesentliche Leistung des absoluten Staates, der selbst nur einen Teilaspekt des frühmodernen Staates darstellt, kann in rechts- und staatstheoretischer Hinsicht nach allem darin erblickt werden, daß hier erstmals über ein bloß partikularistisches Rechtsverständnis hinaus vor allem in und durch die Rechtsetzung die Grundlagen einer - jedenfalls von ihrem Anspruch her - universalistischen Rechtsordnung konzipiert worden sind. Das wirft freilich die Frage auf, worin die Schranken und Grenzen einer staatlichen Herrschaftsgewalt zu erblicken sind, die eine derart strukturierte Rechtsordnung trägt und aufrechterhält. § 2 Die Grenzen herrschaftlicher Gewalt

Es ist das Verdienst der von Otto Brunner ausgehenden sozial- und verfassungsgeschichtlichen Forschungsrichtung, das ältere Bild des absoluten Staates einer grundlegenden Kritik29 unterzogen zu haben. Das Verständnis absoluter Staatlichkeit hat hierbei charakteristische Veränderungen vor allem dadurch erfahren, daß die Grenzen absoluter Herrschaft stärker in den Blick getreten sind. Das Augenmerk der Rechts- und Staatslehre wird damit in besonderem Maße auf jene "retardierenden" Tendenzen und Strömungen gelenkt, die darauf hin26 Hierzu Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 337 ff.; Franklin, Jean Bodin and the End of Medieval Constitutionalism, in: Denzer (Hrsg.), Jean Bodin, S. 151 - 166. 27 Siehe dazu die Gesetzesdefinitionen von Bodin, De Republica, lib. I, cap. 8, S. 159: "Est enim lex nihil aliud quam summae potestatis jussum" und Hobbes, Leviathan, part 2, chap. 26, S. 257: " ... the law is a command, and a command consisteth in declaration, or manifestation of the will of hirn that commandeth ... ". 28 Dazu Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 333 ff. (339). Ferner Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Regime, in: lus Commune 4 (1972), S. 188 - 239, bes. 190 ff., 206. 29 Vgl. hierzu das zuerst 1939 erschienene, bahnbrechende Werk: Land und Herrschaft, 5. Aufl., Wien 1965, Neudruck Darmstadt 1973. Siehe ferner ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968 sowie Dietrich Gerhard, Regionalismus und ständisches Wesen als ein Grundthema europäischer Geschichte (1952), in: Kämpf (Hrsg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter, Darmstadt 1956, Neudruck ebd. 1974, S. 332 - 364.

§ 2 Die Grenzen herrschaftlicher Gewalt

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deuten, daß die absolute Monarchie ältere feudale und ständische Traditionen niemals vollständig zu überwinden vermochte30 • Nicht ohne Grund hat man daher in der internationalen BodinForschung31 betont, daß die absoluta potestas nicht grenzen- oder schrankenlos ist, sondern immanenten Beschränkungen unterliegt, die sowohl in der als verbindlich anerkannten Existenz göttlichen und natürlichen Rechts 32 zutage treten als auch in dem Rekurs auf die dauerhaften Grundlagen des Gemeinwesens sichtbar werden, wie sie in den Fundamentalgesetzen der Länder Alteuropas zum Ausdruck gekommen sind33 • Ausgehend von diesen Vorstellungen, die auch im absolutistischen Rechts- und Staats denken des 17. Jahrhunderts niemals ganz aus dem Blick geraten sind, konnte die absolute Monarchie von tyrannischen oder despotischen Herrschaftsformen abgegrenzt und als legitime Staats- und Regierungsform angesehen werden34 • Daß selbst dem vermeintlich allmächtigen Leviathan gewisse Begrenzungen nicht fremd sind, hat die neuere Hobbes-Forschung herausgearbeitet, in der den absolutistischen Tendenzen die individualistischen Züge Hobbes30 Dazu Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip (1956), in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 160 bis 186 (171 f.); ders., Das Zeitalter der Ideologien (1954), ebd., S. 45 - 63 (55); von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit (1958), in: H. H. Hofmann (Hrsg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, Kön 1967, S. 173 -199 (183); Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, S. 182 ff. 31 Zum Stand der Forschung nunmehr Schnur, Neue Forschungen über Jean Bodin, in: Der Staat 13 (1974), S. 111 - 122. 32 Die Bindung an göttliches wie natürliches Recht betonen Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 383 ff.; Polin, L'idee de Republique selon Jean Bodin, in: Denzer (Hrsg.), Jean Bodin, S. 343 - 357 (351 ff.) sowie Scheuner, Ständische Einrichtungen und innerstaatliche Kräfte in der Theorie Bodins, ebd., S. 379 - 397, der zutreffend unterstreicht, daß der "Begriff der Souveränität bei Bodin nicht rechtliche Bindungslosigkeit bedeutet" (S. 386, Anm. 28). Ferner Franklin, Jean Bodin, S. 70 ff. (79 ff.). 33 Eine wohlabgewogene Darstellung der Problematik bei Derathe, La place de Jean Bodin dans l'histoire des theories de la souverainete, in: Denzer (Hrsg.), Jean Bodin, S. 245 - 260 (250 f.). Vgl. ferner Franklin, Jean Bodin, S. 70 ff.; Scheuner, Ständische Einrichtungen, S. 388 ff.; Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 347 ff. Zu Wesen und Begriff des Fundamentalgesetzes in Frankreich immer noch: Lemaire, Les lois fondamentales de la monarchie fran!;aise d'apres les theoriciens de l'Ancien Regime, Paris 1907, insbes. S. 71 ff. Für England vgl. Gough, Fundamental Law in English Constitutional History, Oxford 1961, S. 2 ff., 12 ff. Zur gesamten Thematik siehe nunmehr den von Rudolf Vierhaus herausgegebenen Sammelband: Herrschafts verträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Göttingen 1977. 34 Dazu Ernst Hinrichs, Das Fürstenbild Bodins und die Krise der französischen Renaissancemonarchie, in: Denzer (Hrsg.), Jean Bodin, S. 281 - 302 (284 ff.). Zur Unterscheidung Bodins von legitimer "monarchie royale" und tyrannischer "monarchie seigneuriale" vgl. Denzer, Bodins Staatsformenlehre, ebd., S. 233 - 244 (240); Scheuner, Ständische Einrichtungen, ebd., S. 389 f. Zur Abgrenzung des absoluten Herrschers vom Despoten oder Tyrannen in Theorie und Praxis: Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, S. 171; Oestreich, Strukturprobleme, S. 188.

2 Wyduckel

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schen Denkens gegenübergestellt worden sind, so daß die liberalen Elemente seiner Staatslehre stärker als bisher hervortreten35 . Das überkommene Bild von Theorie und Praxis des absoluten Staates ist aber nicht nur durch diese mehr immanenten Korrekturen relativiert worden. Es hat vielmehr tiefgreifende Veränderungen auch von einem Forschungsansatz her erfahren, der über die Frage nach dem "Nichtabsolutitischen im Absolutismus"36 hinausweist und jenen Richtungen des Rechts- und Staatsdenkens zugewandt ist, die als Unterund Gegenströmung absolutistischer Doktrinen immer vorhanden waren und die ihrerseits den Ausgangspunkt weitreichender Lehren bilden, deren Wirkungen bis in die Gegenwart hinein spürbar sind37 • Die Tragweite dieser vor allem von der deutschen Forschung lange nicht genügend gewürdigten, den Staat in seinen genossenschaftlichen Aspekten von unten her erfassenden Denktradition38 ist erst in den letzten Jahrzehnten voll deutlich geworden. Ihre grundlegenden Strukturen sind - weitgehend unabhängig von den konfessionellen FrontsteIlungen - bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts sowohl im Bereich reformatorisch-calvinistischer Lehre 39 als auch in der überlieferung spanischer Spätscholastik40 im wesentlichen ausgebildet und 35 Vgl. Schnur, Individualismus und Absolutismus, Berlin 1963, S. 76 ff., 86 ff.; Mayer-Tasch, Thomas Hobbes und das Widerstands recht, Tübingen 1965, S. 83 ff.; Villey, Le droit de l'individu chez Hobbes, in: Koselleck I Schnur (Hrsg.), Hobbes-Forschungen, S. 173 -197. Zu weitgehend Cattaneo, Hobbes theoricien de l'absolutisme eclaire, ebd., S. 199 - 210, der die säkularisierte Ethik Hobbes' mit der Vernunftethik des späten Rationalismus verwechselt. 36 Vgl. Oestreich, Strukturprobleme, S. 183. 37 Grundlegend hierzu jetzt Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, Bd. 1, Freiburg/Br. 1972, S. 13 ff.; Scheuner, Einleitung, S. XXI ff. 38 Ausgenommen Otto von Gierke, der in seinem freilich unvollendeten - Genossenschaftsrecht (1868 - 1913) eine glänzende, auch heute noch wertvolle Darstellung dieses Forschungsansatzes geliefert hat. 39 Der Zusammenhang zwischen calvinistischer Soziallehre und demokratisch-konstitutioneller Staatsauffassung ist seit langem bekannt. Vgl. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1922, Neudruck Aalen 1961, S. 683 ff. (zuerst 1912); DeZekat, Die Umsetzung der Grundprinzipien der Reformation in die Grundprinzipien der konstitutionellen Demokratie, in: Evangelische Theologie 14 (1954), S. 485 - 498. Zum internationalen Stand der Problematik siehe Hunt I McNeill (Hrsg.), Calvini sm and the Political Order, Philadelphia 1965. Vgl. nunmehr den Forschungsbericht von VahZe, Calvinismus und Demokratie im Spiegel der Forschung, in: ARG 66 (1975), S. 182 - 212, der zu dem Ergebnis kommt, daß man "ohne Zweifel vorhandene, wenn auch rudimentär entwickelte demokratische Strukturen im Calvinismus des 16. Jahrhunderts nicht leugnen" kann (S. 205). 40 Auf die Bedeutung, die den spanischen Spätscholastikern, namentlich Didacus Covarruvias (1512 - 1577) und Fernando Vasquez (1512 - 1569), für die Ideengeschichte des demokratischen Rechtsstaates zukommt, hat Ernst Reibstein hingewiesen. Vgl. dazu seine Monographien: Die Anfänge des neueren Natur- und Völkerrechts. Studien zu den "Controversiae illustres" des

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haben, vermittelt durch die Monarchomachen41 , unter starker Akzentuierung des calvinistischen Elements im Werk des Johannes AUhuSiUS 42 um die Wende zum 17. Jahrhundert ihre Systematisierung und Fortbildung erfahren. Während die Souveränitätslehre Bodins vom Herrscher und dem aufsteigenden Fürstenstaat ausgeht, nimmt Althusius die nicht minder wichtigen lokalen und ständischen Gewalten in den Blick und gelangt auf der Grundlage einer christlich-religiös eingebundenen Vertragslehre 43 zu einer nicht herrschaftlich, sondern genossenschaftlich aufgebauten Staatstheorie44 • Auch Althusius kennt eine oberste HerrFernandus Vasquius (1559), Bern 1949, S. 19 ff. sowie: Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe 1955, S. 17 ff., 92 ff. Neuerdings auch ders., Volkssouveränität Bd. 1, S. 104 ff. 41 Die der calvinistischen wie der spät scholastischen Lehre ihren politischpraktischen Ausdruck gegeben haben. Vgl. dazu die von Dennert vorgelegte deutsche Ausgabe ausgewählter monarchomachischer Schriften mit ausführlicher Einleitung in die Problematik: Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchornachen, Köln / Opladen 1968. Das Interesse der neuesten Forschung gilt insbesondere Franr;:ois Hotman (1524 - 1590), dem Kronjuristen der Hugenotten (so Dennert, Einleitung, S. XXVI). Siehe hierzu jetzt die vorzügliche lateinisch-englische Textausgabe der Francogallia Hotmans (zuerst 1573) von R. E. Giesey und J. H. M. Salmon, Cambridge 1972 sowie Kelley, Franr;:ois Hotman, Princeton, N. J. 1973, S. 238 ff. - Zu den Lehren der katholischen Monarchornachen siehe Stricker, Das politische Denken der Monarchornachen, Diss. Heidelberg 1967, S. 243 ff. 42 Vgl. dazu das erstmals 1603 erschienene Hauptwerk des Althusius: Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, ed. 3., Herbornae Nassoviorum 1614, Faksimiledruck Aalen 1961. Hierzu wegen des darin verarbeiteten umfangreichen Quellenmaterials noch immer unentbehrlich: Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Ausg., Aalen 1968 (zuerst 1880). Obwohl Althusius der Naturrechtslehre der spanischen Spätscholastik in vielem verpflichtet ist, wie Reibstein, Althusius, S. 1 ff., 78 ff., richtig gesehen hat, bleibt doch die calvinistisch-religiöse Fundierung entscheidender Grundzug seines Rechts- und Staatsdenkens. Hierzu Winters, Die "Politik" des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg/Br. 1963, S. 153 ff., 256 ff. und neuestens Carl J. Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975, S. 40 ff., 46 ff. (mit Rez. Scupin, in: Der Staat 15 [1976], S. 427 - 431; vgl. auch die kritischen Bedenken von Stolleis, in: Zeitschrift für historische Forschung 4 [1977], S. 364 - 366). Ferner Skillen, The Political Theory of Johannes AIthusius, in: Philosophia reformata 39 (1974), S. 170 - 190. 43 Zu den Zusammenhängen zwischen alttestamentlicher Bundesidee und frühmoderner Vertragslehre siehe Oestreich, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag (1958), in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 157 - 178 (173 f.). 44 Dazu Carney, Associational Thought in Early Calvinism, in: Voluntary Associations. A Study of Groups in Free Societies. Essays in Honor of James Luther Adams, ed. by D. B. Robertson, Richmond 1966, S. 39 - 54 sowie Scupin, Demokratische Elemente in Theorie und Praxis des Johannes Althusius, in: A Desirable World. Essays in Honor of Professor Bart Landheer, ed. by A. M. C. H. Reigersman (u. a.), The Hague 1974, S. 67 -78, der betont, daß "Althusius seine Gesellschaftskonstruktion von der Basis her errichtet" (S. 74). Vgl. auch Friedrich, Johannes Althusius, S. 70 ff., 113 ff. Daß trotz des 2·

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schaftsgewalt (jus majestatis)45, begreift diese aber nicht als absolute, sondern als eine in ein material verstandenes Naturrecht eingebundene Macht46 , die der Gesamtheit zukommt und dem Herrscher nur zur Ausübung überlassen ist47 . Althusius kommt infolgedessen zur Ablehnung der Lehre Bodins von der absoluta potestas des Herrschers und stellt ihr seine Konzeption von der ursprünglichen Gewalt des ständisch gegliederten Volkes 48 entgegen. Anders als die absolutistische Doktrin, die in der rationalistischen Form, welche ihr Hobbes gegeben hatte, die kontinentale Staatstheorie weitgehend zu bestimmen vermochte49 , ist die in der Tradition des Althusius stehende und gegen den aufsteigenden Absolutismus gerichtete Staatslehre vor allem im angelsächsischen staatsphilosophischen und politischen Denken bewahrt und fortgeführt worden50 . Bedeutsame unterschiedlichen Denkansatzes die Gemeinsamkeiten zwischen Althusius und Bodin nicht übersehen werden dürfen, hat Scupin, Der Begriff der Souveränität bei Johannes Althusius und bei Jean Bodin, in: Der Staat 4 (1965), S. 1 - 26, dargelegt. Ebenso Friedrich, S. 66. 45 Auch als jus regni bezeichnet. Vgl. Politica, cap. IX, 13, S. 173. 46 Vgl. hierzu die Auseinandersetzung mit der absoluta potestas Bodins in Politica, cap. IX, 20, S. 177, wo es heißt, es sei kein Zivilgesetz vorstellbar, das nicht etwas von der unwandelbaren natürlichen und göttlichen Gerechtigkeit enthielte: "Nulla enim est, nec esse potest, lex civilis, quae non aliquid naturalis et divinae aequitatis immutabilis habeat admistum". 47 Politica, cap. IX, 4, S. 168: "Nam et regni proprietas est populi, et administratio regis." Zur praktischen Relevanz dieser Lehre für die in der deutschen Reichspublizistik der Jenaer Schule vertretene Konzeption der doppelten Majestät, d. h. der auf Kaiser und Reichsstände verteilten Herrschaftsgewalt vgl. Scupin, Die Souveränität der Reichsstände und die Lehren des Johannes Althusius, in: Westfalen 40 (1962), S. 186 - 196 sowie Hoke, Die Reichsstaatslehre des Johannes Limnaeus, Aalen 1968, S. 54 ff. (65 ff.). 48 Zur Bedeutung des ständisch-korporativen Elements in der Staatslehre des Althusius eingehend Mesnard, L'essor de la philosophie politique au 16e siecle, 3. ed., Paris 1977, S. 567 ff. Zutreffend hat neuerdings Hasso Hofmann, Repräsentation, Berlin 1974, S. 366 ff., darauf hingewiesen, daß der unindividualistisch-korporative Volksbegriff des Althusius nicht vom Horizont moderner Volkssouveränitätslehre her gedeutet werden darf. 49 Dazu WoIters, über die theoretische Begründung des Absolutismus im 17. Jahrhundert, in: Grundrisse und Bausteine zur Staats- und Geschichtslehre. Zusammengetragen zu den Ehren Gustav Schmollers, Berlin 1908, S. 201 - 222 (219 ff.). Zum Versuch einer Begründung und Rechtfertigung des aufsteigenden absolutistischen Territorialstaates in der sowohl an Hobbes als auch an Hugo Grotius anknüpfenden Rechts- und Staatslehre Samuel Pufendorfs siehe Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Pufendorf, München 1972, S. 160 ff. (180). Zur Frage absolutistischer Staatsauffassung bei Christi an Thomasius vgl. Rüping, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius, Diss. Bonn 1968, S. 64 ff., 167 ff. und neuestens Hoke, Die Staatslehre des jungen Thomasius, in: Festschrift Heinrich Demelius, Wien 1973, S. 111 bis 125 (125). Daß Christian Wolff seiner aufklärerischen Züge wegen diesem Kreis nur bedingt zugerechnet werden darf, hat mit guten Gründen Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, Berlin 1977, S. 73 ff., 136 ff., dargelegt. 50 Das hat insbesondere earl Joachim Friedrich, Johannes Althusius, S. 127 ff., herausgearbeitet.

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Vermittlungs- und Transportfunktion für den Verbreitungsverlauf dieser den frühmodernen Staat in seinen ständischen und genossenschaftlichen Bezügen spiegelnden Lehre fällt dem über Schottland eingedrungenen Calvinismus zu. Calvinistisches Gedankengut hat nicht nur die politischen Auffassungen der Puritanischen Revolution51 in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts geprägt, wie sie etwa im Werk des bislang zu Unrecht wenig beachteten schottischen Presbyterianers Samuel Rutherford52 vorliegen, sondern ist darüber hinaus auch für das frühe amerikanische Rechts- und Staatsdenken von entscheidender Bedeutung gewesen53 • Auf der Grundlage dieser calvinistisch-puritanischen Tradition54, aber auch an Vorstellungen des zeitgenössischen kontinentalen Natur51 Zum Verhältnis von Calvinismus, Puritanismus und Revolution siehe HiU, Intellectual Origins of the English Revolution, Oxford 1965, S. 284 ff. Vgl. auch ders., Society and Puritanism in Pre-Revolutionary England, London 1964, Neudruck ebd. 1969, S. 212 ff., 220 ff. sowie Watzer, The Revolution of the Saints, Cambridge, Mass. 1965, S. 22 ff., 114 ff., 148 ff. Zu den demokratischen Aspekten des Puritanismus vgl. die Debatten um die "Agreement of the People" - Entwürfe der Leveller. Hierzu Woodhouse (Hrsg.), Puritanism and Liberty. Being the Army Debates (1647 - 1649) from the Clarke Manuscripts, London 1938, Neudruck ebd. 1965, S. 1 ff., 125 ff., 317 ff. Vgl. aber SoU, Saints in Arms. Puritanism and Democracy in Cromwell's Army, Stanford 1959, S. 6 ff., 73 ff., der auf die Ambivalenz der politischen Anschauungen in der Cromwellschen Armee aufmerksam gemacht hat. Die demokratischen Züge im Staats denken der Leveller hat jetzt Gralher betont: Demokratie und Repräsentation. Studien zur demoKratischen Repräsentation in der Pamphletistik der Leveller im England des 17. Jahrhunderts, Meisenheim am Glan 1973, S. 103 ff., 294 ff. 52 Vgl. seine 1644 in London anonym erschienene Schrift: Lex, Rex, the Law and the Prince. A Dispute for the Just Prerogative of King and People (im Auszug bei Woodhouse, S. 199 - 212, s. u.). Hierzu Madear, Samuel Rutherford. The Law and the King, in: Hunt / McNeiU (Hrsg.), Calvinism and the Political Order, Philadelphia 1965, S. 65 - 87 (66 ff., 74 ff.). Die Querverbindungen zur Lehre des Althusius sind bekannt, wenn auch bislang nicht im einzelnen nachgewiesen. Dazu Carl J. Friedrich, Preface, in: The Politics of Johannes Althusius. An abridged translation of the Third Edition of Politica Methodice Digesta. Translated by F. S. Carney, Boston 1964, S. XIIj ders., Johannes Althusius, S. 117. 53 Dazu grundlegend die klassische Darstellung von Ratph B. Perry, Puritanism and Democracy, New York 1944j deutsche Ausgabe unter dem Titel: Amerikanische Ideale, Nürnberg 1947, 2 Bde.j vgl. insbesondere Bd. 1, S. 74 ff., 97 ff., 226 ff. und Bd. 2, S. 49 ff., 87 ff. Vgl. zum Problemstand den knappen überblick von Ahtstrom, The Puritan Ethic and the Spirit of American Democracy, in: Hunt / McNeHl (Hrsg.), Calvinism and the Political Order, Philadelphia 1965, S. 88 - 107. Siehe ferner Ziff, Puritanism in America, New York 1973, S. 27 ff., 78 ff., 100 ff. sowie Oehter, Die Auswirkungen des reformatorisch-calvinistischen Naturrechts im Recht Amerikas, in: Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag, hrsg. von G. Stratenwerth (u. a.), Berlin 1974, S. 101 - 113. 54 Zur Frage der Fortwirkung calvinistisch-puritanischer Denktradition vgl. Foster, International Calvinism through Locke and the Revolution of 1688, in: AHR 32 (1926/27), S. 475 - 499 und Hudson, John Locke. Heir of Puritan Political Theorists, in: Hunt / McNeiH (Hrsg.), Calvinism and the Political Order, Philadelphia 1965, S. 108 - 129.

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rechtsdenkens anknüpfend, legte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts John Locke eine Staatslehre55 vor, die weniger rationalistischkonstruktiv als vielmehr empirisch-praktisch bestimmt war. Die Lehre Lockes stellt bereits methodisch eine Absage an Hobbes 56 dar, widerspricht ihm darüber hinaus aber auch inhaltlich in wesentlichen Punkten 57 • Zwar baut auch Locke auf der Vertragslehre auf 58 und geht wie Hobbes von der Notwendigkeit einer höchsten, rechtsetzenden Macht (Supream or Legislative Power) im Staate aus 59, begreift diese aber als eine auf dem Konsens der Gesamtheit beruhende, nur jeweils treuhänderisch übertragene Gewalt 60 , die keineswegs absolut oder unbeschränkt ist6 1, sondern deren Aufgabe im Gegenteil darin besteht, bestimmte grundlegende Werte der bürgerlichen Gesellschaft 62 wie Leben, 55 Two Treatises of Government. A critical edition with an Introduction by P. Laslett, 2. ed., Cambridge 1967 (zuerst anonym 1690). Zur bis 1679 zurückreichenden Entstehungsgeschichte vgl. Laslett, Introduction, S. 45 ff. Der erste Treatise setzt sich mit der absolutistisch-patriarchalischen Staatslehre des 1653 gestorbenen Sir Robert Filmer auseinander, dessen Werk "Patriarcha, or the Natural Power of Kings" posthum 1680 veröffentlicht wurde. Dazu Laslett, S. 67 ff. Zum Verhältnis von Naturrecht und politischer Ordnung siehe jetzt die eingehende Analyse von Euchner, Naturrecht und Politik bei John Locke, Frankfurt a. M. 1969, S. 7 ff., 192 ff. Für die neuere Entwicklung der Locke-Forschung vgl. Euchner, Locke zwischen Hobbes und Hooker. Zu neuen Interpretationen der politischen Philosophie John Lockes, in: Archives europeennes de sociologie 7 (1966), S. 127 - 157 sowie Yolton (Hrsg.), John Locke, Problems and Perspectives, Cambridge 1969. 56 Zum unterschiedlichen Erkenntnisbegriff von Hobbes und Locke vgl. Hermann Schmidt, Seinserkenntnis und Staats denken, Tübingen 1965, S. 97 ff., 121 ff., 142 ff., 198 ff. Siehe auch Duchesneau, L'empirisme de Locke, La Haye 1973, S. 119 ff., 172 ff. 57 Die Frage, inwieweit Locke nicht Hobbes, sondern Filmer als seinen eigentlichen Gegner angesehen hat, ist demgegenüber weniger bedeutsam. Dazu Dunn, The Political Thought of John Locke, Cambridge 1969, S. 58 ff., 77 ff. 58 Second Treatise, chap. VIII, §§ 95 ff., S. 348 ff. Dazu Gough, The Social Contract, S. 126 ff. 59 Second Treatise, chap. XI, §§ 134 ff., S. 373 ff. (§ 138, S. 379). 60 Second Treatise, chap. XIII, § 149, S. 385: " ... yet the Legislative being only a Fiduciary Power to act for certain ends, there remains still in the People a Supream Power to remove or alter the Legislative, when they find the Legislative act contrary to the trust reposed in them". Dazu Gough, John Locke's Political Philosophy, 2. ed., Oxford 1973, S. 52 ff., 154 ff. sowie jetzt Franklin, John Locke and the Theory of Sovereignty, Cambridge 1978, S. 87 ff. (90 ff.). 61 Second Treatise, chap. XI, § 137, S. 377 f. Daß der frühe Locke der sechziger Jahre in diesem Punkt noch weitgehend royalistisch-absolutistisch dachte, betont zutreffend Euchner, Locke, in: Hans Maier (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. 2, 2. Aufl., München 1969, S. 1 - 26 (6). Vgl. auch Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism, Oxford 1962, S. 258 ff., der aber den Wandel der politischen Auffassungen Lockes in den siebziger und achtziger Jahren unterschätzt. 6! Zur Ambivalenz des Begriffs der "Civil Society" bei Locke siehe Macpherson, S. 247 ff., der auf den Widerspruch hingewiesen hat, daß Locke einerseits alle Menschen, andererseits nur die (Grund-)Eigentümer zur bürgerlichen Gesellschaft zählt.

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Freiheit, Eigentum63 zu garantieren und vor staatlichen Eingriffen zu bewahren64 • Indem Locke auf dieser Grundlage alle Herrschaft als beschränkten Auftrag (trust)65 auffaßte, wurde er nicht nur zum Gegner jeglicher absoluten Gewalt im Staate, sondern darüber hinaus zum entscheidenden Wegbereiter moderner verfassungsstaatlicher Theorie68 . Er konnte daher mit Recht sagen, daß die absolute Monarchie mit der bürgerlichen Gesellschaft unvereinbar sei (that Absolute Monarchy ... is indeed inconsistent with Civil Society)87. Einer absolutistischen Rechts- und Staatslehre, wie sie Hobbes vertreten hatte, war damit bereits weitgehend der Boden entzogen. Ihre konsequente Zurückweisung auf der Basis rationalistischen Denkens sollte sie jedoch erst im Zuge der großen aufklärerischen Bewegung88 des 18. Jahrhunderts erfahren, in der die bürgerliche Intelligenz sich ihrer selbst kritisch bewußt wurde 89 . 83 Locke bezeichnet in Anlehnung an den Sprachgebrauch seiner Zeit freilich nicht durchgängig - Leben, Freiheit, Eigentum als property: "Man ... hath by Nature aPower ... to preserve his Property, that is, his Life, Liberty and Estate ... ". (Second Treatise, chap. VI, § 87, S. 341). Vgl. hierzu Macpherson, S. 197 ff., der aber den vielschichtigen Property-Begriff Lockes zu einseitig auf die modern-gegenständliche Bedeutung von (Privat-)Eigentum reduziert. Ebenso Rotermundt, Das Denken John Lockes, Zur Logik bürgerlichen Bewußtseins, Frankfurt 1976, S. 108 ff. (110). Zur Doppeldeutigkeit des Property-Begriffs zutreffend Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1973, S. 75 ff. 64 Second Treatise, chap. IX, §§ 123 ff., S. 368 ff.; chap. XI, §§ 134 ff., S. 373 ff. Zur Bedeutung Lockes für den Gedanken des Fortbestandes fundamentaler Rechte im Staatsverband vgl. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, Berlin 1968, S. 40 f. Ferner Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, hrsg. von R. Schnur, München 1972, S. 325 - 346 (342 f.). Unzutreffend Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 202, der auf der Grundlage des Macphersonschen Besitzindividualismus (siehe oben FN 63) zu dem rechts- und staatstheoretisch unhaltbaren Ergebnis kommt, daß Locke "wesentlich zur Zersetzung der Grundrechtsidee in England beigetragen" habe. 65 Siehe oben FN 60. 66 Daran ist aus rechts- und staatstheoretischer Sicht gegenüber Macpherson festzuhalten, der die progressiven Elemente der Lehre Lockes verkennt, wenn er in seinem Konstitutionalismus eher eine Verteidigung des sich ausdehnenden Eigentums als der Rechte des Individuums gegen den Staat erblickt (S. 257). 67 Second Treatise, chap. VII, § 90, S. 344. Dazu Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte Bd. 2, S. 75 ff. (76). Hinsichtlich der Parallelen zu den 1698 erschienen "Discourses Concerning Government" von Algernon Sidney (1622 - 1683) vgl. Reibstein, Bd. 1, S. 404 ff. 88 Dazu immer noch grundlegend Hazard, Die Krise des europäischen Geistes. La crise de la conscience europeenne 1680 - 1715, Hamburg 1948, S. 149 ff., 281 ff., 312 ff., 354 ff. (zuerst französisch 1935); ders., Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert, ebd. 1949, S. 31 ff., 60 ff., 173 ff. (zuerst französisch 1946). Siehe ferner: Forrnen der europäischen Aufklärung, hrsg. von Friedrich Engel-Janosi (u. a.), München 1976 sowie zur deutschen Aufklärung Franklin Kopitzsch (Hrsg.), Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, ebd. 1976. 69 Vgl. hierzu Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Aufl., Frankfurt 1976 (zuerst 1959), S. 41 ff., 132 ff.

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1. Teil: Staatliche Herrschaftsgewalt und Recht

In der Tat brachte die Aufklärung mit Jean-Jaques Rousseau einen Denker hervor, der zwar an die individualistische Vertragskonstruktion Hobbes' anknüpfte 7o, jedoch zu völlig anderen Schlußfolgerungen gelangte 71 • Rousseau geht wie Hobbes davon aus, daß der von den Individuen geschlossene Vertrag dem Gemeinwesen eine absolute Macht über seine Glieder verleiht (un pouvoir absolu sur tous les siens)12, versteht diese aber als unveräußerliche und unteilbare Gewalt des souveränen Volkes 73 , das jederzeit Herr seiner aus dem Gemeinwillen (volonte generale) hervorgegangenen Gesetze 74 bleibF5 und daher rechtlich 70 Vgl. Du Contrat Social, ed. B. de Jouvenel, Geneve 1947, liv. I, chap. 5 f., S. 187 ff. (zuerst 1762). Zur Stellung Rousseaus in der politiktheoretischen Tradition vgl. Derathe, Jean-Jaeques Rousseau et la seienee politique de son temps, 2. ed. mise a jour, Paris 1970, S. 7 ff., 172 ff. Zur Frage rationalistischer Politiktradition bei Rousseau siehe Dennert, Die ontologisch-aristotelische Politikwissenschaft und der Rationalismus, S. 199 ff. - Grundlegend für die Problematik des Rousseauschen Sozialvertrages: Etudes sur le Contrat Social de Jean-Jaeques Rousseau. Aetes des Journees d'etude sur le Contrat Social, Dijon, 3 - 6 mai 1962, Paris 1964. Zur Würdigung des Gesamtwerks vgl. Jean-Jaeques Rousseau et son oeuvre. Problemes et recherches. Commemoration et Colloque de Paris, 16 - 20 oet. 1962, Paris 1964; zur Bedeutung Rousseaus als Staatsphilosoph siehe: Rousseau et la philosophie politique, Paris 1965 (Annales de philosophie politique, 5). 71 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei der Denker sorgfältig abwägend Mayer-Tasch, Autonomie und Autorität. Rousseau in den Spuren von Hobbes?, Neuwied 1968, S. 58 ff., 85 ff., 117 ff. Die unterschiedlichen anthropologischen Grundlagen hat Friedrich MüHer, Entfremdung. Zur anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel, Marx, Berlin 1970, S. 23 ff. (29), herausgearbeitet. 72 Contrat Social, II, 4, S. 214. Vgl. auch I, 6, S. 192, wo aus dem Vertrag die totale Selbstentäußerung zugunsten der Gemeinschaft hergeleitet wird (I'alienation totale de chaque associe avee tous ses droits a toute la eommunaute). In diesem Punkt ist Rousseau mit Grund Schüler von Hobbes genannt worden. So schon scharf pointierend Georg Jellinek, Die Politik des Absolutismus und die des Radikalismus (Hobbes und Rousseau), in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. 2, Berlin 1911, S. 3 - 22 (13). Ferner Derathe, Jean-Jaeques Rousseau, S. 332 ff.; Mayer-Tasch, Autonomie und Autorität, S. 88; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 226. Vgl. auch Ian M. Wilson, The Influenee of Hobbes and Locke in the Shaping of the Coneept of Sovereignty in 18th Century Franee, Banbury/Oxfordshire 1973, S. 227 ff. 73 Contrat Social, I, 7, S. 194 ff.; II, 1, S. 205 ff.; II, 2, S. 208 ff. Zur Souveränitätslehre Rousseaus eingehend Derathe, Jean-Jaeques Rousseau, S. 248 ff. 7« Vgl. Contrat Social II, 6, S. 225, wo die Gesetze als "actes de la volonte generale" definiert werden. Siehe auch III, 12, S. 298. Dazu Derathe, JeanJaeques Rousseau, S. 294 ff.; Masters, The Politieal Philosophy of Rousseau, Prineeton, N. J. 1968, S. 354 ff. - Zu Funktion und Bedeutung der volonte generale vgl. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1975, S. 118 ff.; Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, Göttingen 1963, S. 244 ff.; Friedrich Müller, Entfremdung, S. 39 ff. 75 Contrat Social II, 12, S. 249: " ... en tout etat de eause, un peuple est toujours le maitre de changer ses loix, meme les meilleures". Eine Stellvertretung in der Gesetzgebung schließt Rousseau ausdrüc.~lich aus: "La Souverainete ne peut etre representee par la meme raison qu'elle ne peut etre alienee; elle eonsiste essentiellement dans la volonte generale, et la VQlQnte ne se represente point; elle est la meme, ou elle est autre; i1 n'y a

§ 2 Die Grenzen herrschaftlicher Gewalt

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nicht gebunden werden kann76 • Der Regierung kommt demzufolge kein eigenes Herrschaftsrecht zu, sondern lediglich die Befugnis zur Ausführung der durch das Volk beliebig änderbaren oder rücknehmbaren Aufträge 77 • Rousseau zog damit nicht nur die Legitimität absolut-monarchischer Herrschaft, sondern die Berechtigung staatlicher Herrschaft überhaupt in ZweifeF8. Seine Lehre ließ darüber hinaus den Aufstieg einer neuen, revolutionären Herrschaftsgewalt sichtbar werden, unter deren Ansturm das Ancien Regime bereits wenige Jahrzehnte später zusammenbrechen sollte79 • Der Weg von der absoluten Gewalt des Herrschers zur absoluten Gewalt des Volkes war damit - jedenfalls in rechts- und staatstheoretischer Hinsicht - durchmessen und ein gewisser Endpunkt in der Entwicklung erreicht. Die Lehre Rousseaus ließ sich, wie bereits Otto von Gierke betont hat, vielleicht in Einzelheiten, nicht aber im Prinzip überbieten 80 . Ebenso wie Hobbes die absolute Herrschergewalt Bodins point de milieu." (Contrat Social III, 15, S. 307). Hierzu Kurz, Volkssouveränität und Volksrepräsentation, Köln 1965, S. 269, 294 f. 78 Contrat Social III, 18, S. 317: " ... il n'y a dans l'Etat aucune loi fondamentale qui ne se puisse revoquer, non pas meme le pacte social". Vgl. auch I, 7, S. 194 f. Zur Problematik der auch von Rousseau in den Blick genommenen Grenzen souveräner Gewalt vgl. Contrat Social II, 4. Dazu Derathe, Jean-Jacques Rousseau, S. 344 f.; Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 284 ff. 77 Rousseau kennt neben dem Gesellschaftsvertrag keinen weiteren, herrschaftsbegründenden Vertrag. Vgl. Contrat Social III, 16, S. 312: ,,11 n'y a qu'un contract dans l'Etat, c'est celui de l'association; et celui-Ia seul en exclud tout autre. On ne saurait imaginer aucun Contract public qui ne füt une violation du premier." Vgl. auch II, 2, S. 208. Dazu Gough, Social Contract, S. 164 ff. (173 f.). Zum Verhältnis von Exekutive und Legislative vgl. Derathe, Les rapports de l'executif et du legislatif chez J.-J. Rousseau, in: Rousseau et la philosophie politique, Paris 1965, S. 153 - 169. 78 Vgl. hierzu Friedrich Müller, Entfremdung, S. 36, der unterstreicht, daß Rousseau ein "Gemeinwesen" anstrebt, das durch "beschränkte, zusammenhängende und sich selbst erhaltende ,primäre' Lebensverhältnisse gekennzeichnet ist". 79 Zum komplexen Problem des Verhältnisses der politischen Ideen Rousseaus zur Staatslehre der Französischen Revolution vgl. Joan McDonald, Rousseau and the French Revolution, 1762 -1791, London 1965, Neudruck ebd. 1968, S. 87 ff., 115 ff. und mit eher apologetischer Tendenz Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 258 ff. 80 Johannes Althusius, S. 204. So auch Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 283. Der in der neueren Rousseau-Diskussion unter dem Eindruck der Herrschaftsformen und Herrschaftsideologien des 20. Jahrhunderts erhobene Totalitarismusvorwurf (vgl. vor allem Talmon, The Origins of Totalitarian Democracy, London 1952, Neudruck ebd. 1955, S. 38 ff. und Crocker, Rousseau's Social Contract, Cleveland 1968, S. 115 ff.), läßt sich freilich nicht auf die Intention Rousseaus stützen. Hierzu Mayer-Tasch, Autonomie und Autorität, S. 85 ff. (115); Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 290 ff. (306 f.) sowie Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 14 ff., 254 ff., der aber die kleinbürgerlich-konservativen Züge Rousseaus überbewertet. Vgl. jetzt die eingehende Würdigung der Problematik von Polin, La politique de la

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1. Teil: Staatliche Herrschaftsgewalt und Recht

aus der rationalistischen Philosophie neu begründet und aufs höchste gesteigert hatte, setzte Rousseau die herrschaftliche Gewalt des Volkes frei, indem er sie aus den korporativen und naturrechtlichen Bindungen löste, die noch bei Althusius zu ihrer Mäßigung beigetragen hatten81 und wurde damit zum eigentlichen Begründer moderner Volkssouveränitätslehre82 • So bedeutsam die scharfe Herausarbeitung der Souveränitätsproblematik für die moderne Rechts- und Staats theorie geworden ist, so voreilig und damit verfehlt wäre es, wollte man die frühmoderne Rechtsund Staatslehre allein unter dem Gesichtspunkt einer antithetischen Entgegensetzung von Herrscher- und Volkssouveränität83 betrachten, wie sie sich in den rationalistischen Konstruktionen von Hobbes einerseits und Rousseau andererseits darstellt. Absolute Monarchie und absolute Demokratie sind angesichts einer von ständischen Denk- und Herrschaftsformen geprägten Epoche84 nicht als konkrete Alternative aufzufassen, sondern erscheinen vielmehr als die rationalistisch-abstrakten Extrempositionen einer breit gefächerten Skala, die durch eine Fülle von Variationsmöglichkeiten, Überschneidungen und Mischformen charakterisiert wird. Damit treten insbesondere jene Lehren in solitude. Essai sur la philosophie politique de Jean-Jacques Rousseau, Paris 1971, S. 135 ff. 81 Der Unterschiedlichkeit der Denkansätze ist von Gierke nicht genügend Rechnung getragen worden, der dazu tendierte, in Althusius den deutschen Rousseau zu sehen (Johannes Althusius, S. 9, S. 201, 332). Vgl. demgegenüber die differenzierende Sichtweise der neueren Forschung, die nicht verkennt, daß "Althusius den späteren Lehren von der Souveränität des Volkes den Weg geebnet" hat (so Scupin, Der Begriff der Souveränität, S. 3), aber zugleich die denkgeschichtlichen Unterschiede hervorhebt (Scupin, ebd.; ders., Demokratische Elemente, S. 75). Ferner Derathe, Jean-Jacques Rousseaus, S. 92 - 99; earl J. Friedrich, Johannes Althusius, S. 135 ff. 82 Vgl. Derathe, Jean-Jacques Rousseau, S. 48 ff.; Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, Bd. 2, S. 197. Siehe ferner Imboden, Rousseau und die Demokratie (1963), in: ders., Staat und Recht. Ausgewählte Schriften und Vorträge, Basel 1971, S. 75 - 91 (82 ff.). Zur heutigen Problematik einer Volkssouveränitätslehre vgl. Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, Darmstadt 1970. Ferner Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 111 ff., 224 ff., dem es vor allem um das Spannungsverhältnis zwischen Volkssouveränität und Verfassungsstaatlichkeit zu tun ist. 83 So noch Georg Jellinek, Die Politik des Absolutismus und die des Radikalismus, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2, S. 3 ff. 84 Zum Stand der europäischen Ständegeschichtsforschung siehe: Griffiths, Representative Government in the 16th Century, Oxford 1968; Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1969; ders., Ständische Vertretungen und Land, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 447 - 472; Gerhard Oestreich / Inge Auerbach, Ständische Verfassung, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd. 6, Freiburg 1972, Sp. 211 bis 236 (in leicht veränderter Fassung auch u. d. T.: Die Ständische Verfassung in der westlichen und in der marxistisch~sowjetischen Geschichtsschreibung, in: Anciens Pays et Assemblees d'Etats 67 [1976], S. 5- 54).

§ 2 Die Grenzen herrschaftlicher Gewalt

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den Blickpunkt, in denen auf der Grundlage der Tradition gemischter Staats- und Regierungsformen gegenüber der Auffassung, daß die staatliche Herrschaftsgewalt unteilbar sei und nur jeweils einem Träger zugeordnet werden könne, auf die Notwendigkeit einer Begrenzung herrschaftlicher Machtbefugnisse durch Verteilung auf verschiedene Instanzen hingewiesen worden ist85 • Bekanntlich ist vor allem in England, wo neben dem Königtum das Parlament schon früh einen wichtigen politischen Machtfaktor darstellte86 , der Gedanke, daß sich beide Institutionen in die Macht teilen87 , besonders tief verwurzelt. Selbst in den Jahren der Puritanischen Revolution, in deren Verlauf das Parlament seine Rechte gegenüber der Krone erheblich zu erweitern vermochte und seinerseits Anspruch auf die Souveränität erhob 88 , hat diese im Begriff des "King in Parlia85 Zur Theorie der gemischten Staatsform siehe earl J. Friedrich, Der Verfassungs staat der Neuzeit, S. 197 f. Vgl. jetzt auch ders., Limited Government, Englewood Cliffs, N. J. 1974, S. 13 ff. Zum status mixtus im Reich vgl. Oestreich, Die verfassungspolitische Situation der Monarchie in Deutschland vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 253 - 276 (261 f.). Eine eingehende monographische Behandlung der Problematik für Schweden gibt Runeby, Monarchia mixta. Maktfördelningsdebatt i Sverige under den tidigare stormaktstiden, Stockholm 1962, S. 79 ff., 310 ff. - Zum Zusammenhang von Mischverfassungslehre und Gewaltenteilungsdoktrin vgl. ViZe, Constitutionalism and the Separation of Powers, Oxford 1967, Neudruck ebd. 1969, S. 33 ff. sowie jetzt Wember, Verfassungsmischung und Verfassungsmitte. Moderne Formen gemischter Verfassung in der politischen Theorie des beginnenden Zeitalters der Gleichheit, Berlin 1977, S. 18,56 ff. 88 Zu Struktur und Entwicklung des englischen Parlaments vgl. Loewenstein, Der britische Parlamentarismus, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 26 ff., 42 ff.; ders., Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. 1: Parlament, Regierung, Parteien, Berlin 1967, S. 7 ff., 11 ff. Immer noch nützlich McIZwain, The High Court of Parliament and its Supremacy, New Haven, Conn. 1910, der aber zu einseitig auf die rechtsprechende Funktion abstellt (S. 109 ff.). Siehe nunmehr E. B. Fryde / Edward MiZZer (Hrsg.), Historical Studies of the English Parliament, vol. 1: Origins to 1399, vol. 2: 1399 - 1603, Cambridge 1970. 87 Vgl. dazu Sir Thomas Smith (1513 - 1577), De Republica Anglorum. A Discourse on the Commonwealth of England, ed. by L. Alston, Cambridge 1906, Neudruck 1972 (in den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts verfaßt, 1583 posthum publiziert), book II, chap. 1, S. 48 f., der zwar dem Parlament "the most high and absolute power of the realm of Englande" zuschreibt, aber zugleich erläutert, jeder Parlamentsakt ("everie bill or lawe") sei "the Princes and the whole realms deede". Siehe zur Kompetenzverteilung im einzelnen John W. Allen, A History of Political Thought in the 16th Century, London 1928, Neudruck ebd. 1961, S. 263 ff. Ferner Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 424 ff. 88 Zu Bedeutung und Funktion der von den englischen Juristen namentlich Sir Edward Coke (1552 - 1634) und dessen weniger bekanntem, jüngeren Zeitgenossen Henry Parker (1604 - 1652) vertretenen Lehre von der Souveränität des Parlaments vgl. MacKay, Coke. Parliamentary Sovereignty or the Supremacy of the Law?, in: Michigan Law Review 22 (1923/24), S. 215 - 247; Beaute, Un grand juriste anglais: Sir Edward Coke, 1552 - 1634, Paris 1975, S. 156 ff., aber mit zu einseitiger Akzentuierung des Common Law; Judson,

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1. Teil: Staatliche Herrschaftsgewalt und Recht

ment"89 zum Ausdruck gekommene Vorstellung eines Zusammenwirkens von König und Parlament ihre Bedeutung niemals verloren 90 . In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beschrieb John Locke vor diesem Horizont das Modell einer an der Praxis abgelesenen Gewaltenteilung91, in dem die Rechte zwischen Königtum und Parlament entsprechend dem Kräfteverhältnis verteilt waren, wie es sich im England seiner Zeit zu stabilisieren begann 92 . Danach kommt die legislative Henry Parker and the Theory of Parliamentary Sovereignty, in: Essays in History and Political Theory. In Honor of Charles Howard McIlwain, Cambridge, Mass. 1936, S. 138 - 167. Vgl. ferner dies., The Crisis of the Constitution, New Brunswick, N. J. 1949, S. 274 ff., 349 ff. Die Lehre der englischen Juristen von der Parlaments souveränität darf freilich nicht im Sinne der rationalistisch-absolutistischen Souveränitätsdoktrin Hobbes' (s. o. S. 14 f.) mißverstanden werden (dazu Streifthau, Die Souveränität des Parlaments, Stuttgart 1963, S. 19 f.), sondern erhält ihre spezifische Bedeutung erst vor dem Hintergrund der Tradition des Common Law. Siehe hierzu Kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates. Hobbes und englische Juristen, Neuwied 1970, S. 15 ff., 57 ff. - Zur gegenwärtigen Relevanz der Parlamentssouveränitätslehre vgl. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. 1, S. 61 ff., 316 ff.; Jennings / Ritter, Das britische Regierungssystem, 2. Aufl., Köln / Opladen 1970, S. 164 ff. 89 Zu dieser offenbar in der Tudorzeit aufgekommenen Bezeichnung für die König und Parlament umschließende Regierungseinheit vgl. Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 428 ff. 90 Vgl. dazu den 1643 von Philip Hunton anonym publizierten Treatise of Monarchy (abgedruckt in: The Harleian Miscellany, Bd. 6, London 1810, S. 323 - 360), wo die Grundsätze der gemischten Verfassung dargelegt werden. Siehe hierzu McIlwain, A Forgotten Worthy, Philip Hunton, and the Sovereignty of King in Parliament (1935), in: ders., Constitutionalism and the Changing World, Cambridge 1939, Nachdruck New York 1969, S. 196 - 230. Siehe ferner West on, English Constitutional Doctrines from the 15th Century to the 17th, 11. The Theory of Mixed Monarchy Und er Charles land After, in: EHR 75 (1960), S. 426 - 443 (435); d'Avack, La teoria della monarchia mista nell' Inghilterra deI Cinque e deI Seicento, in: RIFD 52 (1975), S. 574 bis 617. Auch Cromwell war offenbar von dieser Vorstellung geprägt, als er im "Instrument of Government" von 1653 (abgedruckt bei Gar diner [Hrsg.], The Constitutional Documents of the Puritan Revolution, 3. ed., Oxford 1906, Neudruck ebd. 1962, S. 405 - 417) dem Lord Protector ein Mitwirkungsrecht an der Gesetzgebung zuerkannte (Art. 1, S. 405). Vgl. hierzu Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 40 ff., 47 f., 98 f. 91 Second Treatise (siehe oben FN 55), chap. XII f., S. 382 ff. Hierzu Rostock, Die Lehre von der Gewaltenteilung in der politischen Theorie von John Locke, Meisenheim am Glan 1974, S. 107 ff. (152). Ferner Oskar Werner Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, Diss. Zürich 1937, S. 45 ff.; Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 58 ff.; Tsatsos, Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewaltenteilung (1968), in: ders., Peri Politeias. Staatstheoretische Studien, Frankfurt 1972, S. 103 - 197 (128 ff.); Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 2. Aufl., München 1971, S. 106 ff.; Menger, Verfassungsgeschichte, S. 74 ff. 92 Dazu Kemp, King and Commons, 1660 - 1832, London 1957, S. 7 ff.; Clayton Roberts, The Growth of Responsible Government in Stuart England, Cambridge 1966, S. 155 ff., 245 ff.; Western, Monarchy and Revolution. The English State in the 1680s, London 1972, S. 5 ff., 284 ff., 326 ff. Zur Weiterentwicklung des Parlamentarismus in England vgl. Gerhard A. Ritter, Das britische Parlament im 18. Jahrhundert (1969), in: ders., Parlament und Demokratie in Großbritannien, Göttingen 1972, S. 69 - 121.

§ 2 Die Grenzen herrschaftlicher Gewalt

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Gewalt als die höchste Macht im Staate einer Repräsentativversammlung ZU93 , während dem Königtum neben dem Zustimmungsrecht zu den Akten der Legislative94 die von dieser abhängige und auf den Vollzug der Gesetze beschränkte Exekutive 95 , ferner die davon unterschiedene föderative (auswärtige) Gewalt 96 sowie bestimmte Prärogativrechte 97 verblieben. Locke leistete damit einen entscheidenden Beitrag zur Ausbildung jener Lehre von der Kontrolle und Balance staatlicher Macht, die in der modifizierten Gestalt, die ihr Montesquieu im 18. Jahrhundert gegeben hat9B, auch heute noch tragendes Prinzip allen konstitutionellen Denkens ist 99 • Die Frage nach dem Grund und den Grenzen herrschaftlicher Gewalt erweist sich vor diesem Hintergrund als eine äußerst vielschichtige, für das 16. bis 18. Jahrhundert grundlegende Problematik, die unter dem Gesichtspunkt absolutistischer Rechts- und Staatslehre allein nur unzureichend erfaßt werden kann. Sie bedarf vielmehr in stärkerem Maße 93 Vgl. hierzu Second Treatise, chap. XII, § 143, S. 382, wo dies als eine Grundvoraussetzung für "well order'd Commenwealths" entwickelt wird. Ferner XIII, §§ 154 ff., S. 388 ff. Zur Mitwirkung einer zweiten, auf erblicher Zugehörigkeit beruhenden Versammlung vgl. XIX, § 213, S. 426. Dazu Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 64. 94 Second Treatise, chap. XIII, § 151 f., S. 386 f. Hierzu Vile, S. 64 ff., der zutreffend darauf hinweist, daß Locke keine reine Gewaltenteilungslehre ("not the pure doctrine") entwickelt hat (S. 65). 95 Second Treatise, XII, § 144, S. 382 f.; XIII, § 149, S. 384 f. 98 Ebd., XII, § 145 f., S. 383. 97 Ebd., XIV, § 159 ff., S. 392 ff. 98 Vgl. dazu das berühmte 6. Kapitel des 11. Buchs seines "De l'Esprit des Loix" von 1748 (ed. Brethe de La Gressaye, Bd. 2, Paris 1955, S. 59 ff.), wo Montesquieu anders als Locke drei Gewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) unterscheidet. Zur Gewaltenteilungslehre Montesquieus vgl. Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung (1959), in: ders., Staat und Recht. Ausgewählte Schriften und Vorträge, Basel 1971, S. 55 -74. Ferner Kägi, Zur Entstehung, Wandlung, Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, S. 49 ff.; Vile, Constitutionalism, S. 76 ff.; Tsatsos, Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewaltenteilung, S. 132 ff.; Menger, Verfassungsgeschichte, S. 76 ff. Zur Stellung der Dritten Gewalt bei Montesquieu ders., Moderner Staat und Rechtsprechung, Tübingen 1968, S. 22. Eine umfassende Würdigung des "Esprit des Lois" unter Hervorhebung der freiheitssichernden Aspekte bietet jetzt Pangle, Montesquieu's Philosophy of Liberalism, Chicago 1973, S. 48 ff., 107 ff. Siehe neuerdings auch Kuhfuß, Mäßigung und Politik. Studien zur politischen Sprache und Theorie Montesquieus, München 1975, S. 79 ff., 131 ff., 193 ff. - Für die Beziehungen zur englischen Verfassungstheorie und -praxis vgl. Granpre MoUere, La theorie de la constitution anglaise chez Montesquieu, Diss. Leiden 1972, S. 204 ff., 271 ff., 290 ff., der indessen die Bedeutung des englischen Vorbildes zu gering einschätzt. 99 Hierzu Carl Joachim Friedrich, Der Verfassungs staat der Neuzeit, Berlin 1953, S. 196 ff. (201 ff.). Für die aktuelle Diskussion der Gewaltenteilungslehre vgl. den von Rausch herausgegebenen Sammelband: Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, Darmstadt 1969. Zur Fortbildung der überkommenen Gewaltenteilungsdoktrin in der Staatsfunktionenlehre siehe Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, München 1970, S. 107 ff.

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1. Teil: Staatliche Herrschaftsgewalt und Recht

als bisher der Ergänzung und Korrektur durch die Berücksichtigung der dem Absolutismus entgegengesetzten Kräfte und Tendenzen. Damit beginnt ein modifiziertes Bild der älteren Rechts- und Staatslehre sich abzuzeichnen. In ihm wird deutlich, daß bis zur Entfaltung des modernen Konstitutionalismus eine Reihe gedanklicher Vorentwicklungen durchlaufen werden mußten, welche in der frühmodernen Rechts- und Staatslehre aufgefunden und in ihrem funktionellen Zusammenhang bestimmt werden können. Die damit bezeichnete Thematik ist ihrerseits freilich nur Teilaspekt einer größeren Entwicklung, die mit der frühmodernen Staatwerdung unmittelbar verbunden ist und in diesen umfassenden Zusammenhang eingeordnet werden muß.

§ 3 Der Aufstieg frühmoderner Staatlichkeit In dem Maße, in dem die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung gegenüber der älteren, zu einseitig auf den monarchisch-konstitutionellen Staat fixierten Betrachtungsweise zu einer differenzierteren Beurteilung gefunden hat100 , ist neues Licht auf den gemeineuropäischen Prozeß der Staatsbildung gefallen. Zum einen ist deutlich geworden, daß dieser Prozeß einer Ausdifferenzierung staatlicher Ordnung, der sich gemeinhin als Vorgang der Konzentration herrschaftlicher Gewalt 101 einerseits, der sozialen Disziplinierung102 andererseits darstellt, keineswegs nur vom Herrscher und seinem Beamtentum, sondern, wie vor allem Gerhard Oestreich10s nachgewiesen hat, in verschie100 Vor allem im Anschluß an die methodologisch wegweisenden Untersuchungen von Otto BTunneT, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl. Wien 1965, Neudruck Darmstadt 1973 (zuerst 1939). Vgl. ferner Kämpf (Hrsg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter, Darmstadt 1956, Neudruck ebd. 1974 sowie BöckenfÖTde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, Berlin 1961. 101 Vgl. dazu Hanns HubeTt Hofmann (Hrsg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, Köln 1967, S. 15 ff. Ferner QuaTitsch, Staat und Souveränität, S. 255 ff., der die Konzentration öffentlicher Gewalt als entscheidendes Merkmal der Staats- und Souveränitätslehre Bodins herausgearbeitet hat. 102 Hierzu OestTeich, Strukturprobleme, S. 187 ff. Für die Ausbildung des bürgerlich-monarchischen Disziplinbegriffs kommt dem in der stoizistischspäthumanistischen überlieferung stehenden niederländischen Universalgelehrten Justus Lipsius (1547 - 1606) eine große Bedeutung zu. Dazu OestTeich, Strukturprobleme, S. 194. Zu Leben und Werk vgl. deTs., Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates (1956), in: deTs., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 35 - 79; deTs., Politischer Neustoizismus und Niederländische Bewegung in Europa und besonders in Brandenburg Preußen (1965), ebd., S. 101 - 156 (103 ff.); deTS., Justus Lipsius als Universalgelehrter zwischen Renaissance und Barock, in: Lunsingh ScheuTleeT (Hrsg.), Leiden University in the 17th Century, Leiden 1975, S. 177 bis 201. 103 Vgl.: Ständetum und Staatsbildung in Deutschland (1967), in: deTs., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 277 - 289, wo im Hinblick auf

§ 3 Der Aufstieg frühmoderner Staatlichkeit

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denster Weise auch von den ständischen und lokalen Kräften mitgetragen und mitbestimmt worden ist. Zum anderen sind die Grenzen einer Sichtweise hervorgetreten, die die Probleme der in den feudalen und ständischen Traditionen stehenden Adelswelt vom Standpunkt einer positivistischen Auffassung zu begreifen suchte, die Staat und Gesellschaft antagonistisch einander gegenüberstellt104 und daher die Eigenart frühmoderner Staatlichkeit notwendig verzeichnete 105. Bei alldem hat sich freilich der kategoriale Apparat der Allgemeinen Staatslehre für eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive, die den modernen Staat nicht einfach voraussetzt, sondern seine Genese in den Blick nimmt, auch weiterhin als unverzichthar erwiesen106. Damit gewinnt die von Rudolph Sohm (1841 - 1917) bis zu Heinrich Mitteis (1889 - 1952) gestellte Frage nach dem "deutschen Staat des Mittelalters" eine neue Relevanz 107. Schon Otto Hintze108 hat auf das "Frühstadium des modernen Staates" als das "Stadium des Aufbaus" hingewiesen und hervorgehoben, daß der "Idealtypus des modernen Staates" aus der "hierarchisch-feudalen Verfassung des Mittelalters"109 hervorgegangen sei. Werner Näf llO ist, die entwicklungsgeschichtliche Perspektive aufgreifend, den Frühformen des modernen Staates im späten das Reich genossenschaftlich-ständische und herrschaftlich-monarchische Aspekte sorgsam gegeneinander abgewogen werden. 104 Dazu Ehmke, "Staat" und "Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem (1962), in: ders., Politik der praktischen Vernunft. Aufsätze und Referate, Frankfurt a. M. 1969, S. 38 - 63 (39 f.). 105 Zur Kritik am positivistischen Staatsbegriff Jellinekscher Prägung vgI. Ernst Kern, Moderner Staat und Staatsbegriff, Hamburg 1949, S. 14 ff., 31 ff. Siehe ferner Otto Brunner, Land und Herrschaft, S. 111 f.; Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung, S. 17 ff.; Hanns Hubert Hofmann, Einleitung, in: ders., (Hrsg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 13 ff. 108 Das bleibt auch gegenüber den Forschungen Otto Brunners (dazu oben FN 29 und 100) festzuhalten. VgI. hierzu Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatslehre, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag, Tübingen 1962, S. 225 - 260 (252); ders., Zwei Darstellungen der Allgemeinen Staatslehre, in: Der Staat 13 (1974), S. 527 - 535 (529, 533 f.). 107 Die sich keineswegs als ein "Scheinproblem" erweist, wie Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 28, annimmt. 108 Wesen und Wandlung des modernen Staats (1931), in: ders., Staat und Verfassung, 2. AufI., Göttingen 1962, S. 470 - 496 (475). VgI. auch ders., Die Entstehung des modernen Staatslebens (1932), ebd., S. 497 - 502 (500 f.). 109 Zum Feudalismus-Begriff Hintzes siehe seinen Beitrag: Wesen und Verbreitung des Feudalismus (1929), ebd., S. 84 - 119. Zur gegenwärtigen Feudalismus-Diskussion vgI. den von Heide Wunder herausgegebenen Sammelband: Feudalismus, München 1974 sowie Kuchenbuch / Michael (Hrsg.), Feudalismus. Materialien zur Theorie und Geschichte, Frankfurt/M. 1977. 110 Werner Näf, Frühformen des "modernen Staates" im Spätmittelalter (1951), in: H. H. Hofmann (Hrsg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, Köln 1967, S. 101 - 114; ders., Die Epochen der neueren Geschichte, Bd. 1, München 1970, S. 47 ff., 108 ff., 119 ff.

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1. Teil: Staatliche Herrschaftsgewalt und Recht

Mittelalter nachgegangen, während Friedrich August von der Heydte die spätmittelalterliche "Geburtsstunde des souveränen Staates"111 auszumachen suchte. Auf dieser Grundlage hat sich in der internationalen verfassungs geschichtlichen Forschung inzwischen die Einsicht durchzusetzen begonnen, daß der Prozeß frühmoderner Staatsbildung in seinen Wurzeln - weit über die herkömmliche Zeitgrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert hinausgreifend - bis wenigstens ins 14. Jahrhundert und damit tief in die Zeit der spätmittelalterlichen respublica christiana zurückverfolgt werden kann112. Die Frage nach den Grundlagen der frühmodernen, die Problematik von Grund und Grenzen herrschaftlicher Gewalt reflektierenden Rechts- und Staatslehre stellt sich vor diesem Hintergrund durchaus neu. So folgenreich die Ausformung der Staats- und Souveränitätslehren des 16. Jahrhunderts für diese Thematik werden mußte, so wenig darf man übersehen, daß das Verhältnis von herrschaftlicher Gewalt und Recht den Gegenstand einer schon Jahrhunderte hindurch geführten Diskussion bildete, deren Kontinuität bis in die Zeit der Erneuerung römischer Jurisprudenz zurückreicht113. Mit Grund konnte daher Imboden feststellen, das Erscheinen der "Six livres de la Republique" Bodins im Jahre 1576 stelle im Hinblick auf die Ausbildung der Staats- und Souveränitätslehre nicht einen Anfang, sondern "eher eine 111 Siehe das gleichnamige Werk (Regensburg 1952). Vgl. hierzu aber die von fachhistorischer Seite durch H. Heimpel geäußerten kritischen Bedenken, in: GGA 208 (1954), S. 197 - 221. 112 Vgl. Strayer, On the Medieval Origins of the Modern State, Princeton, N. J. 1970, S. 57 ff. (jetzt auch deutsch u. d. T.: Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Staates, Köln 1975, S. 53 ff.); ders., Medieval Statecraft and the Perspectives of History, Princeton, N. J. 1971, S. 249 ff.; Guenee, Y a-t-il un Etat des 14e et 15e siecles?, in: AESC 26 (1971), S. 399 - 406; Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., hrsg. von H. Grundmann, Stuttgart 1970, S. 360 - 436 (361); ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 5 f., 179, 279. Vgl. ferner Menger, Moderner Staat, S. 3, der zwar den modernen Staat als eine spezifische Erscheinung der Neuzeit betrachtet, aber zugleich betont, daß die Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit nicht so klar ausgeprägt ist, wie es dem heutigen Betrachter scheine. Siehe jetzt ders., Verfassungsgeschichte, S. 4. Vgl. neuestens Charles Tilly, Reflections on the History of European StateMaking, in: ders., (Hrsg.), The Formation of National States in Western Europe, Princeton, N. J. 1975, S. 3 - 83 (25 ff.). 113 Siehe hierzu die zuerst 1903 - 1936 erschienene materialreiche Darstellung der Gebrüder Robert W. und Alexander J. Carlyle, A History of Mediaeval Political Theory in The West, Edinburgh 1960, 6 Bde., insbesondere die den Zeitraum vom 10. bis zum 16. Jahrhundert umfassenden Bde. 2 - 6. Ferner Gilmore, Argument from Roman Law in Political Thought, 1200 to 1600, Cambridge 1941, Neudruck New York 1967 sowie Post, Studies in Medieval Legal Thought. Public Law and the State, 1100 - 1322, Princeton, N. J.

1964.

§ 3 Der Aufstieg frühmoderner Staatlichkeit

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Mitte"114 dar. Damit rückt eine Epoche in den Blickpunkt, deren Rechtsund Staatsauffassungen nicht in fachspezifisch ausdifferenzierten Systemen in Erscheinung treten, sondern in verschiedenartigen Zusammenhängen nicht nur rechtlicher, sondern auch theologischer und philosophischer Art aufgesucht und erschlossen werden müssen. Schon im 19. Jahrhundert hatte Otto von Gierke gesehen, daß der legistischen und kanonistischen Jurisprudenz grundlegende Bedeutung für die Ausbildung der Lehren über Recht und Staat zukommt115 • Daß darüber hinaus von der Theologie entscheidende Impulse ausgegangen sind, ist von earl Schmitt betont worden, der - freilich ohne daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen - bemerkt hat, "alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre" seien "säkularisierte theologische Begriffe"116. Legistische wie kanonistische Jurisprudenz einerseits und Theologie andererseits sind indessen im Hinblick auf die Grundlegung der frühmodernen Rechts- und Staatslehre wiederum nur als Teilaspekte eines viel umfassenderen, von der hoch- und spätmittelalterlichen Scholastik gebildeten Zusammenhanges ll7 zu sehen, in dem die zunächst unverbunden nebeneinander stehenden Elemente aus verschiedenen Teilbereichen gleichsam ins Mosaik rücken. Vor dem hier entwickelten Problemhintergrund will die vorliegende Arbeit mit der Analyse der stets prekären Frage nach Grund und Grenzen herrschaftlicher Gewalt einen Beitrag leisten zum Rechts- und Staatsdenken einer in ihrer Bedeutung für die frühmoderne Rechtsund Staatslehre bisher nicht hinreichend gewürdigten Epoche. Diese vermag unter rechts- und staatstheoretischem Aspekt in ihrer Eigenart nur dann zureichend erfaßt zu werden, wenn man sie - was den zeitlichen Beziehungsrahmen angeht - nicht länger als ein Phänomen be114 Johannes Bodinus und die Souveränitätslehre (1963), in: ders., Staat und Recht, S. 93 - 110 (94). Vgl. auch Scheuner, Zwei Darstellungen der Allgemeinen Staatslehre, S. 534, der in seiner Kritik der Krügerschen Staatslehre vor einer "Verengung der Erscheinung politischer Gemeinwesen auf die Neuzeit" warnt und zugleich auf die Gefahr hinweist, die "Bedeutung der Theorie des 16. Jh. (Bodin) für die Ausbildung der neueren Auffassungen" zu überschätzen; ders., Ständische Einrichtungen, S. 379. Ferner Giesey, Medieval Jurisprudence in Bodin's Concept of Sovereignty, in: Denzer (Hrsg.), Jean Bodin, S. 167 - 186 (186). 115 Die Staats- und Korporationslehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland, Berlin 1881, Neudruck Darmstadt 1954, S. 186 ff., 238 ff., 416 ff. 118 earl Schmitt, Politische Theologie, 2. Aufl., München 1934, S. 49. Vgl. jetzt auch ders., Politische Theologie H. Die Legende von der Erledigung der Politischen Theologie, Berlin 1970. Zu den Ursprüngen politischer Theologie im Mittelalter siehe Ernst H. Kantorowicz, The King's Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton, N. J. 1957, Neudruck ebd.1970. 117 Siehe hierzu das monumentale Werk von Georges de Lagarde, La naissance de l'esprit laique au declin du moyen-age, Louvain 1956 - 1970, 5 Bde. (zuerst 1934 - 1946 in 6 Bdn.).

3 Wyduckel

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1. Teil: Staatliche Herrschaftsgewalt und Recht

trachtet, das als bloße Teilerscheinung im "Herbst des Mittelalters"118 angesiedelt ist. Vielmehr wird man den hier sich anbahnenden, vielschichtigen Entwicklungen erst dann in vollem Maße gerecht, wenn man den das hohe und späte Mittelalter umfassenden Zeitabschnitt, um mit Werner Näf zu sprechen, dem "Frühling"l1O der Moderne zurechnet und damit als Beginn eines neuen Zeitalters begreift. Ein vertiefter Zugang zu dem hiermit verknüpften gedanklichen Neuansatz soll im folgenden dadurch erschlossen werden, daß das komplexe Verhältnis von herrschaftlicher Gewalt und Recht in einer kritischen rechts- und staatstheoretischen Rekonstruktion zunächst unter dem Aspekt der Legistik (Teil II und III) und der Kanonistik (Teil IV) behandelt wird. Daran schließt sich, der Systematik des gedanklichen Zusammenhangs folgend, die Problemsicht der hoch- und spätmittelalterlichen Rechts- und Staatsphilosophie (Teil V) sowie der Publizistik (Teil VI).

118

So genannt nach dem Werk des niederländischen Kulturhistorikers

Huizinga, Der Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistes-

formen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hrsg. (und übersetzt) von K. Köster, 8. Aufl., Stuttgart 1961 (zuerst niederländisch 1919). m Frühformen des "modernen Staates" im Spätmittelalter, S. 101.

Zweiter Teil

Das Verhältnis von Herrscher und Recht in der legistischen Jurisprudenz der Glossatoren § 4 Das Recht und seine Verfügbarkeit

A. Die Erneuerung des römischen Rechts Einer auf Fritz Kern l zurückgehenden, auch heute noch vertretenen Auffassung 2 zufolge ist das mittelalterliche Recht durch den Vorrang der Überlieferung und eine daraus sich ergebende "prinzipielle Unveränderlichkeit"3 gekennzeichnet. Kern war davon ausgegangen, das Recht des Mittelalters, worunter er den gesamten Zeitraum von 500 bis 1500 verstand4, sei seinem Wesen nach gutes altes und unveränderbares Recht 5• Er konnte so zu dem Schluß kommen, daß es an einer Unterscheidung zwischen idealem und positivem Recht fehle, weil das Recht des Mittelalters "göttlich, natürlich, moralisch und positiv" zugleich, mithin allumfassend sei6 • Die Bedeutung, die der Erneuerung des römischen Rechts für das mittelalterliche Rechtsdenken zukommt, hatte Kern zwar nicht geleugnet7, aber doch gering geschätzt und darauf hingewiesen, daß das "lebendige Rechtsbewußtsein der Zeit den toten Sätzen des Corpus Iuris und den juristischen Kontroversen (trotzte)"8. Dieses von zeitgebundener Überbewertung und Idealisierung germanischer Vorstellungen nicht freie Bild des mittelalterlichen Rechts hat inzwischen mit Grund wesentliche Korrekturen erfahren. Dabei ist einerseits betont worden, man dürfe die Kennzeichnung des mitteIl Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, in: HZ 120 (1919), S. 1 bis 79. Selbständig erschienen Darmstadt 1952, Neudruck ebd. 1958 (danach die folgenden Zitate). Ferner ders., Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter (zuerst 1914), 3. Aufl. Unveränderter Nachdruck der 2. Aufl. von 1954, hrsg. von R. Buchner, Darmstadt 1962. 2 Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 117 ff. (119 f.). 3 Ebd., S. 121. 4 Recht und Verfassung, S. 106 ff. (108). 6 Ebd., S. 11 ff. I Ebd., S. 17. 7 Ebd., S. 40, Anm. 1, S. 60 ff. 8 Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, S. 265.

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2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

alterlichen Rechts als eines in der Unvordenklichkeit gegründeten nicht absolut nehmen, sondern habe sie vielmehr im Sinne einer vorherrschenden Tendenz zu verstehen 9 • Andererseits hat man, ausgehend vor allem von rechtsterminologischen Erwägungen10 , auf die Notwendigkeit der Unterscheidung von verschiedenen Schichten oder Typen mittelalterlichen Rechts nicht nur dem Alter, sondern auch der Geltungsweise l l nach hingewiesen. Ferner wird heute die in ihrer Bedeutung von Kern unterschätzte Erneuerung und Ausbreitung des römischen Rechts 12 gerechter beurteilt. Dabei erscheint, seit die für die ältere rechtsgeschichtliche Forschung kennzeichnende Auffassung vom Kampf zweier in sich geschlossener Rechtsordnungen, der einheimischen nationalen auf der einen, der fremden römischen auf der anderen Seite, zugunsten einer stärker differenzierenden Sichtweise weitgehend aufgegeben worden ist, jener gemeineuropäische Vorgang, der herkömmlicherweise als Rezeption des römischen Rechts bezeichnet zu werden pflegt, in neuem Licht1 3 • Sowohl die Preisgabe rechtspositivistischer 9 So Hermarm Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: ZRG GA 75 (1958), S. 206 - 251 (209). 10 Dazu Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts. Reichenau-Vorträge 1965 - 1967, Konstanz 1968 (Vorträge und Forschungen, Bd. 12), S. 309 - 335 (314). Vgl. für das frühe Mittelalter die wortgeschichtliche Untersuchung von Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter. Untersuchungen zu Herkunft und Inhalt frühmittelalterlicher Rechtsbegriffe im deutschen Sprachgebiet, Köln 1971, der jedoch in der Ablehnung der Kernschen Lehre zu weit geht, wenn er feststellt, daß die "Lehre einer germanisch-deutschen Vorstellung vom unveränderlichen guten alten Recht aus den gesamten frühmittelalterlichen Quellen nicht zu rechtfertigen" sei (S. 226). Dazu jetzt Trusen, Gutes altes Recht und consuetudo. Aus den Anfängen der Rechtsquellenlehre im Mittelalter, in: Recht und Staat, Festschrift für Günther Küchenhoff zum 65. Geburtstag, hrsg. von H. Hablitzel und M. Wollenschläger, Berlin 1972, S. 189 - 204, der mit Recht bemerkt, das Fehlen bestimmter Terminologien in den weltlichen Rechtsquellen bedeute nicht, "daß die genannten Eigenschaften keine wesentliche Rolle im Rechtsleben gespielt hätten" (S. 194). 11 Vgl. hierzu Friedrich Ebel, Über Legaldefinitionen. Rechtshistorische Studie zur Entwicklung der Gesetzgebungstechnik in Deutschland, insbesondere über das Verhältnis von Rechtsetzung und Rechtsdarstellung, Berlin 1974, der im Auftreten von Legaldefinitionen im hohen und späten Mittelalter mit Recht ein Anzeichen dafür erblickt, "daß der Text sich selbst Geltungsautorität beimißt" (S. 147). 12 Hierzu im Hinblick auf seinen Materialreichtum nach wie vor grundlegend Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, 3. Ausg. Unveränd. Nachdruck der 2. Ausg. 1834 - 1851, Darmstadt 1956, 7 Bde. (zuerst 1815 - 1831 in 6 Bdn.). Vgl. jetzt das im Erscheinen begriffene internationale Sammelwerk: Ius Romanum Medii Aevi, Mediolani 1961 ff. (IRMAE). Dazu Merzbacher, Römisches Recht und Romanistik im Mittelalter. Zum gegenwärtigen Stand der Forschung, in: Historisches Jahrbuch 89 (1969), S. 1 - 32. Siehe neuestens Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1: Mittelalter (llOO - 1500), München 1973. 13 Dazu Peter Bender, Die Rezeption des römischen Rechts im Urteil der deutschen Rechtswissenschaft, Diss. Freiburg 1956, S. 77 ff., 181 ff.; Kunkel, Das Wesen der Rezeption des römischen Rechts, in: Heidelberger Jahrbücher

§ 4 Das Recht und seine Verfügbarkeit

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Vorurteile des 19. Jahrhunderts als auch die zunehmende Bereitschaft der beteiligten Forschungsdisziplinen zur Zusammenarbeit haben wesentlich dazu beigetragen, den Weg frei zu machen für ein neues Rezeptionsverständnis, das nicht nur die Zusammenhänge mit der mittelalterlichen Geistesgeschichte 14 verdeutlicht, sondern auch die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Implikationen15 einbezieht. Die Wiedergeburt des römischen Rechts stellt sich damit als Teil einer allgemeinen, weit über den Bereich des Rechts hinausreichenden antiken Erneuerungsbewegung dar, die mch vor dem Horizont einer tiefgreifenden Umgestaltung der mittelalterlich-europäischen Welt vollzieht. In der Tat lassen im Verlaufe des 11. Jahrhunderts die Intensivierung der politischen und kulturellen Romidee 16 ebenso wie der auf dieser 1 (1957), s. 1 - 12; Wieacker, Zum heutigen Stand der Rezeptionsforschung, in: Festschrift für Joseph Klein zum 70. Geburtstag, hrsg. von E. Fries, Göttingen 1967, S. 181 - 201; ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., ebd. 1967, S. 97 ff.; Bardach, Recepja w historii panstwa i prawa (La recepti on dans l'histoire du droit et des institutions), in: CPH 29/1 (1977), S. 1 - 62. 14 So vor allem Koschaker, Europa und das römische Recht (zuerst 1947), 4. unveränd. Aufl., München 1966, S. 55 ff. Vgl. ferner Genzmer, Das römische Recht als Mitgestalter gemeineuropäischer Kultur, in: Gegenwartsprobleme des Internationalen Rechtes und der Rechtsphilosophie. Festschrift für Rudolf Laun zu seinem 70. Geburtstag, hrsg. von D. S. Constantopoulos und H. Wehberg, Hamburg 1953, S. 499 - 535 sowie jetzt Coing, Einleitung, in: ders., (Hrsg.), Handbuch Bd. 1, S. 3 - 35, der die Entstehung und Ausbreitung der gelehrten Rechte als Teilerscheinung der lateinischen Kultur des Mittelalters, d. h. eines primär "geistesgeschichtlichen Phänomens", versteht (S. 26). Ähnlich Bardach, Recepja, S. 1 ff., der die Rezeption als ein allgemeines Kulturphänomen begreift. 15 Vgl. etwa die Ansätze rechtssoziologischer Betrachtungsweise der Rezeption bei Ernst E. Hirsch, Die Rezeption fremden Rechts als sozialer Prozeß, in: Festgabe für Friedrich Bülow zum 70. Geburtstag, hrsg. von O. Stammer und K. C. Thalheim, Berlin 1960, S. 121 - 137 (123) sowie vor allem die von der japanischen Rezeptionsforschung erzielten Ergebnisse. Dazu Katsuta, "Was ist die Rezeption des römischen Rechts?", in: Hitotsubashi Journal of Law & Politics 4 (1965), S. 31 - 44 (40). Siehe ferner Wieacker, zum heutigen Stand der Rezeptionsforschung, S. 188 ff., der unterstreicht, der Historiker der Rezeption müsse außer den Rechtsquellen und -normen auch den "politischen, gesellschaftlichen und sozialen Zustand" des von ihm behandelten Zeitalters einbeziehen (S. 189). Hinsichtlich der Bedeutung wirtschaftlicher Fragestellungen vgl. z. B. die auf der Untersuchung von Wiener Vertragstraktaten des 14. Jahrhunderts basierenden Bemerkungen von Trusen, Spätmittelalterliche Jurisprudenz und Wirtschaftsethik, Wiesbaden 1961, S. 3, 72 ff., 193 f. 16 Hierzu Fedor Schneider, Rom und Romgedanke im Mittelalter. Die geistigen Grundlagen der Renaissance. Unveränderter Nachdruck der Aufl. von 1926, Darmstadt 1959, S. 179 ff., 204 ff.; Percy Ernst Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio. Studien und Texte zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit, 2. Aufl., Darmstadt 1957, bes. S. 275 ff. Vgl. ferner Dupre Theseider, L'idea imperiale di Roma nella tradizione deI medioevo, Milano 1942, S. 109 ff.; Folz, L'idee d'Empire en Occident du 5e au 14e siecle, Paris 1953, S. 102 ff. sowie Irmscher, Die Wandlungen der antiken Staatsidee infolge der Zerschlagung der antiken Staatsmacht, in: Grazer Beiträge 4 (1975), S. 137 bis 143.

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2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

Grundlage sich konkretisierende Gedanke der Translatio Imperii 17, d. h. der Vorstellung, daß das Imperium Romanum nicht untergegangen sei, sondern in seiner okzidentalen Gestalt ungespalten fortbestehe, allenthalben das Bestreben erkennen, die im übrigen nie ganz abgerissenen Verbindungen zur Antike 18 wieder aufzunehmen. Während die ältere rechtsgeschichtliche Forschung auf der Grundlage des Translationsgedankens eine theoretische sowie eine zeitlich darauf folgende praktische Rezeption19 unterschieden hatte, so sind demgegenüber neuere Arbeiten zu differenzierteren Auffassuttgen des hochkomplexen Rezeptionsvorgangs gekommen. Insbesondere seit Hermann Krause in seiner bahnbrechenden Untersuchung über "Kaiserrecht und Rezeption"20 nachweisen konnte, daß die Vorstellung vom römischen Recht als dem kaiserlichen Recht erst relativ spät im 15. Jahrhundert sich durchzusetzen vermochte!!, beginnt ein durchaus gewandeltes Bild der Rezeption Gestalt anzunehmen. In ihm werden die hochmittelalterlichen Anzeichen einer theoretischen Rezeption als Auswirkungen des salischstaufischen Weltkaisertums begriffen22 , die spätmittelalterlichen hingegen als Ausdruck einer Frührezeption23, auf die das Interesse der neueren Forschung sich zusehends konzentriert hat. Hierbei ist deutlich geworden, daß der Rezeptionsvorgang auf der Grundlage des monokausalen und zu einseitig auf die Verhältnisse im Reich abstellenden Ursache-Wirkungs-Denkens, wie es für die Rezeptionsforschung des 19. Jahrhunderts charakteristisch war24, nicht zureichend erfaßt werden 17 Vgl. Werner Goez, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958, S. 77 ff., 104 ff. 18 Eine durchtragende römischrechtliche Kontinuität, wie sie seinerzeit von Fitting (Die Anfänge der Rechtsschule von Bologna, Berlin 1888, bes. S. 68 ff.) behauptet wurde, ist freilich nicht mit Sicherheit nachweisbar. Dazu sowie zum Kontinuitätsbegriff jetzt Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 38 ff., 43 ff. 19 Im Anschluß an Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, Leipzig / Braunschweig 1860 -1864, 2 Bde., Neudruck Aalen 1965, der zu dem Ergebnis gekommen war, das römische Recht sei bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts gemeines Recht "mehr der Theorie, als der Praxis nach" (Bd. 2, S.7). 20 Heidelberg 1952. 21 Krause, S. 84 ff., 116 ff., 146 f. Vgl. hierzu auch Kunkel, Das Wesen der Rezeption, S. 3 f. 22 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 140, A. 52. 23 Zu Begriff und Problematik der Frührezeption siehe Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption, Wiesbaden 1962; Coing, Römisches Recht in Deutschland, Mediolani 1964 (IRMAE V, 6), § 13: Die letzten Jahrhunderte des Mittelalters (sog. Frührezeption), S. 45 ff. Vgl. auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 114 ff.; ders., Zum heutigen Stand der Rezeptionsforschung, S. 189 ff. sowie Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte 1 (bis 1250), Reinbek bei Hamburg 1972, S. 239 f. 24 Vgl. etwa von Below, Die Ursachen der Rezeption. des Römischen Rechts in Deutschland, München 1905, Neudruck Aalen 1964.

§ 4 Das Recht und seine Verfügbarkeit

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kann. Wie acker hat daher mit gutem Grund vorgeschlagen, angesichts der Inhaltsleere der "Ursachen-Folge-Relation" die "Erklärung aus Ursachen durch die sorgfältige Beschreibung zu ersetzen"25. Vor diesem Horizont wird die Grundlage der Erneuerung und Ausbreitung des römischen Rechts weniger in positiven Einführungsgesetzen gesehen als vielmehr in vielschichtigen sowohl sozial- als auch bildungsgeschichtlichen Zusammenhängen26 mit der Folge, daß heute nicht so sehr die Frage nach der juristischen Konstruktion, sondern vor allem die nach den Trägern des Rezeptionsvorgangs gestellt wird, wobei Bedeutung und Funktion des Juristenstandes zunehmend in den Vordergrund getreten sind 27 • Der Blick richtet sich damit in besonderem Maße auf die nach der Art ihrer Erläuterungstechnik als Glossatoren bezeichneten mittelalterlichen Juristen, die das Justinianische Gesetzgebungswerk auf der Grundlage der im 11. Jahrhundert wiederentdeckten vollständigen Digestenhandschrift in seiner Bedeutung erkannt und exegetisch erschlossen haben. Indem sie das Corpus Iuris28 ihrem Unterricht an den Rechtsschulen der kulturell und wirtschaftlich aufblühenden oberitalienischen Stadtkommunen zugrundelegten, haben sie zugleich entscheidend zur europäischen Verbreitung des römischen Rechts beigetragen29 • Ohne die Wiederentdeckung der Texte ist der Aufschwung der römischen Jurisprudenz zwar nicht vorstellbar, doch hätte diese Tatsache allein kaum ausgereicht, dem römischen Recht zum Durchbruch zu verhelfen, wären die komplexen, in der Hauptsache kasuistisches Materal enthaltenden und entgegen der Versicherung Justinians keines25 Zum heutigen Stand der Rezeptionsforschung, S. 197. Zur Kritik der Ursachenlehre auch Katsuta, "Was ist die Rezeption des Römischen Rechts?", der zutreffend bemerkt, die Rezeption sei ein "zu komplizierter und langer geschichtlicher Vorgang, als daß man leicht zu einer Schluß kombination kommen könnte" (S. 33). 28 Die bildungsgeschichtlichen Aspekte sind vor allem von Coing herausgearbeitet worden (Einleitung, S. 21 ff.; ders., Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm, in: deTS. [Hrsg.], Handbuch, Bd. 1, S. 39 - 128). 27 Hierzu jetzt Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena, Köln 1974. 28 Zur offenbar auf die Glossatoren zurückgehenden Bezeichnung des Justinianischen Gesetzgebungswerks als "Corpus Iuris" vgl. Weimar, Die legistische Literatur, S. 156, FN 29. 29 Dazu Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, Leipzig 1938, bes. S. 42 ff. Vgl. aber Genzmer, Kritische Studien zur Mediaevistik I, in: ZRG RA 61 (1941), S. 276 - 354. Ferner ders., Die justinianische Kodifikation und die Glossatoren, in: Atti deI Congresso Internationale di Diritto Romano, vol. 1, Pavia 1934, S. 345 - 430. Siehe jetzt Weimar, Die legistische Literatur und die Methode des Rechtsunterrichts in der Glossatorenzeit, in: Ius Commune 2 (1969), S. 43 - 83; ders., Die legistische Literatur der Glossatorenzeit, in: Coing (Hrsg.), Handbuch Bd. 1, S. 129 - 260.

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2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

wegs widerspruchsfreien Rechtstexte30 von den Glossatoren nicht aufbereitet und auf der Grundlage der dialektisch-scholastischen Methode ihrer Zeit zu einer Einheit geformt worden, die den einzelnen Teilen der Justinianischen Kodifikation in dieser Weise ursprünglich nicht eigen warSt. Die gegenwärtige rechtsgeschichtliche Forschung beurteilt demnach die Rezeption nicht mehr ausschließlich von ihren materiellen Folgen her, sondern begreift sie vor allem als einen tiefgreifenden Wandel in der Struktur des mittelalterlichen Rechts und Rechtsdenkens selbst. Die Veränderungen im Bestande der positiven Rechtsnormen stellen sich von daher, wie Kunkel zutreffend bemerkt, als eine "sekundäre, erst von jener grundlegenden geistigen Wandlung aus deutbare Erscheinung" dar32 • Nicht ohne Grund wird deshalb zunehmend auf den der Ausbreitung des römischen Rechts parallel gehenden Prozeß der Verwissenschaftlichung des Rechtswesens hingewiesen33, in dessen Verlauf das Corpus Iuris und die Glosse, indem sie der Bibel als die erste 30 Vgl. dazu Genzmer, Die justinianische Kodifikation, S. 353, der die Behauptung Justinians, das Werk enthalte keinen Widerspruch (vgl. Const. Tanta pr., § 15) zutreffend einen "Selbstbetrug" genannt hat. 31 Gegenüber der im älteren Schrifttum verbreiteten Lehre von der methodologischen Unabhängigkeit der legistischen Jurisprudenz gegenüber der mittelalterlichen Scholastik (vgl. etwa Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien, S. 20 f., 42) werden heute die Zusammenhänge stärker herausgearbeitet. So schon Genzmer, Kritische Studien, S. 302 ff., in direkter Erwiderung auf Engelmann; ders., Die justinianische Kodifikation, S. 385 ff. und Brugi, 11 metodo dei glossatori bolognesi, in: Studi in onore di Salvatore Riccobono nel XL anno deI suo insegnamento, vol. 1, Palermo 1936, S. 21 - 31. Vgl. nunmehr Paradisi, Osservazioni dell'uso deI metodo dialettico nei glossatori deI sec. XII, in: Atti deI Convegno internazionale di studi Accursiani, vol. 2, Milano 1968, S. 619 - 636; Coing, Trois formes historiques d'interpretation du droit. Glossateurs, pandectistes, ecole de l'exegese, in: RHDFE 48 (1970), S. 531 - 543 (534 ff.); ders., Die juristische Fakultät, S. 69 f.; Otte, Dialektik und Jurisprudenz. Untersuchungen zur Methode der Glossatoren, Frankfurt a. M. 1971, S. 7 ff., 17 ff. sowie neuestens Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. 1, Tübingen 1975, S. 377 ff., 384 ff. 32 Das Wesen der Rezeption, S. 2 f. 33 So auf der Grundlage der bereits von Max Weber (Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., besorgt von J. Winckelmann, Tübingen 1972, S. 491 ff.) erzielten Erkenntnisse vor allem Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 131 ff.; ders., Zum heutigen Stand der Rezeptionsforschung, S. 198 f. Siehe ferner Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, S. 239; Diestelkamp, Rezeption und römisches Recht, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hrsg. v. A. Görlitz, München 1972, S. 371 - 379 (372); Gerbenzon, Veranderingen in het recht en de rechtswetenschap bij de overgang van de Middeleeuwen naar de Nieuwe Tijd, in: Bijdragen en mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 87 (1972), S. 26 - 43 (36 ff.); Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 2. Aufl., Berlin 1978, S. 28; Schmelzeisen, über die Ideen in der Rechtsgeschichte, in: Historisches Jahrbuch 94 (1974), S. 118 - 130 (127 f.); Molitor, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 2. völlig neubearb. AutJ. vQn R. Sc;hlosser, Karlsruhe 1975, S. 5.

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"weltliche ratio scripta in der Hand von Laien"34 an die Seite traten, der Juridifizierung und Rationalisierung des öffentlichen Lebens den Weg bereitet haben. Daß das römische Recht auf diese Weise zum "geistigen und gedanklichen Common Law Europas"35 werden konnte, das nicht nur die Voraussetzungen für eine rationale Rechtsprechung und Verwaltung zu schaffen vermochte, sondern in der Bereitstellung einer lingua franca 36 des Rechts auch die Verständigung unter den Juristen der verschiedenen Nationen zu gewährleisten imstande war, beruht nicht zuletzt auf der rechtsdogmatischen wie rechtstheoretischen Leistung der Glossatoren. Diese haben von Irnerius 37 an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert bis hin zu Accursius 38 , der in der Glossa ordinaria 39 während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Summe der glossatorischen Jurisprudenz zog, den Grund gelegt nicht nur für die Ausbreitung des römischen Rechts, sondern des gelehrten Rechts überhaupt und sind daher nicht zu Unrecht die "Väter der europäischen Jurisprudenz"40 genannt worden. B. Die Zuordnung von Herrscher und Recht

Fritz Kern war auf der Grundlage seiner Vorstellung vom guten alten mittelalterlichen Recht davon ausgegangen, daß alle Rechtserneuerung letztlich nur Wiederherstellung dieses Rechts sei, das nicht geschaffen, sondern gefunden41 werde. Er gelangte so zu der Auffas34 Vgl. Carl Schmitt, Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten, in: Deutschland-Frankreich 1 (1942), S. 1 - 30 (3). Zu Wesen und Begriff der ratio scripta vgl. Wieacker, Ratio scripta. Das römische Recht und die abendländische Rechtswissenschaft, in: ders., Vom römischen Recht, Leipzig 1944, S. 195 - 284; ders., Privatrechtsgeschichte, S. 55 f. Ferner Coing, Trois formes historiques d'interpretation du droit, S. 535 f. 35 Carl Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/44), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954, Berlin

1958, S. 386 - 429 (396).

36 Zur Entwicklung einer "universal lingua franea of law" in der glossatorischen Jurisprudenz siehe Yntema, Legal Seien ce and the Development of Civil Law Doctrine, in: Estudios juridico-sociales. Homenaje al Profesor Luis Legaz y Lacambra, t. 1, Santiago de Compostela 1960, S. 523 - 536 (523 f.). 37 Zur historischen Gestalt des Irnerius, der als Begründer der Rechtsschule von Bologna gilt, vgl. Spagnesi, Wernerius Bononiensis iudex, Firenze 1970, bes. S. 10 ff., 109 ff. 38 Vgl. hierzu das Sammelwerk: Atti deI Convegno internationale di studi Aecursiani, Bologna 1963. A eura di G. Rossi, Milano 1968, 3 Bde. Vgl. ferner Kisch, Aceursius-Studien, in: ders., Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz, Berlin 1969, S. 15 - 97. 39 Dazu Astuti, La "Glossa" accursiana, in: Atti, vol. 2, S. 287 - 379. 40 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 69. Vgl. auch Coing, Die ursprüngliche Einheit der europäischen Rechtswissenschaft, Wiesbaden 1968, S. 5 ff. Siehe nunmehr Berman, The Origins of Western Legal Science, in: Harvard Law Review 90 (1977), S. 894 - 943 (898 ff.). 41 Recht und Verfassung, S. 23 ff., 37 ff. Zur im übrigen damals wie heute höchst problematischen - Vorstellung, daß Recht "gefunden" werden

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2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

sung, der Herrscher sei in der Anschauung des Mittelalters dem Recht in "seiner ganzen Weiträumigkeit, Allgewalt und fließenden, fast grenzenlosen Unbestimmtheit" unterworfen, das er zwar habe anwenden und schützen, nicht aber gestalten können42 • Kern hatte damit, gestützt vor allem auf germanische Vorstellungen, einen wichtigen Grundzug mittelalterlichen Denkens über Herrschaft43 und Recht erfaßt, aber zugleich überzeichnet. Zwar hatte Kern durchaus gesehen, daß das römische Recht als eine "geistige Macht" in die Auseinandersetzung um Herrschaft und Recht eingreift, seine Relevanz aber nicht sehr hoch eingeschätzt und ihm allenfalls Bedeutung als "Rüstkammer" im politischen Meinungskampf zuerkennen wollen44 • Ebenso wie dieses einseitig germanistisch bestimmte Bild von Herrschaft und Recht im Mittelalter ist der Kernsche Rechtsbegriff inzwischen durch neuere Forschungen 45 modifiziert worden. Zum einen ist dabei hervorgetreten, daß bereits dem frühen Mittelalter ein über das Recht verfügender Herrscher keineswegs fremd ist46 • Des weiteren sind könne, vgl. Kroeschell, "Rechtsfindung". Die mittelalterlichen Grundlagen einer modernen Vorstellung, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag, Bd. 3, Göttingen 1972, S. 498 - 517, der jeden terminologischen wie inhaltlichen Zusammenhang mit modernen Anschauungen leugnet (S. 517), während demgegenüber Schmelzeisen, Rechtsfindung im Mittelalter?, in: ZRG GA 91 (1974), S. 73 - 89, mit Recht stärker auf die historische Kontinuität abstellt (S. 89). 42 Fritz Kern, Recht und Verfassung, S. 65 ff. (65); ders., Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, S. 122 ff., 262 ff. 43 Zum Begriff der Herrschaft als zentraler Kategorie mittelalterlichen Denkens vgl. Otto Brunner, Land und Herrschaft, S. 240 ff., 357 ff. Siehe ferner die von Hellmut Kämpf (Hrsg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter, Darmstadt 1956, Neudruck ebd. 1974, zusammengestellten Beiträge. Vgl. auch Kroeschell, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht, Göttingen 1968, bes. S. 17 ff. Zur aktuellen Relevanz des Herrschaftsbegriffs siehe Hondrich, Theorie der Herrschaft, Frankfurt a. M. 1973. 44 Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, S. 214. 45 Einen überblick über den Stand der Forschung gibt Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium iuris. Rechtsaufzeichnung und Rechtsbewußtsein in Norddeutschland vom 8. bis zum 16. Jahrhundert, Köln 1968, S. 19 ff. Vgl. ferner Armin Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, in: Coing, (Hrsg.), Handbuch, Bd. 1, München 1973, S. 517 - 800 (520 ff.) und Grawert, Gesetz, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. O. Brunner (u. a.), Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 863 - 922 (870 ff.). 48 Hierzu vor allem Sprandel, über das Problem neuen Rechts im früheren Mittelalter, in: ZRG KA 48 (1962), S. 117 - 137. Siehe ferner Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit, S. 211 ft; ders., Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher, in: ZRG GA 82 (1965), S. 1- 98 (62 ff.); ders., Gesetzgebung, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. von A. Erler (u. a.), Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 1606 - 1620 (1608 ff.) sowie Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechtes im frühen und hohen Mittelalter, in: Lex et sacramentum im Mittelalter, hrsg. von P. Wilpert, Berlin 1969, S. 157 - 188 und neuestens Gerhard Dilcher, Gesetzgebung als Rechtserneuerung. Eine Studie zum Selbstverständnis der

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die seit der Jahrtausendwende von der erneuerten römischen Jurisprudenz ausgehenden, die Beziehungen von Herrscher und Recht intensiver und zugleich aktiver gestaltenden Impulse differenzierter gewürdigt worden47 • Das den Glossatoren vorliegende justinianische Gesetzgebungswerk aus der ersten Hälfte des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts spiegelte in der Tat das Bild einer Rechtsordnung, in der Herrscher und Recht bereits länger als ein halbes Jahrtausend in höchst lebendiger und aktiver Weise einander zugeordnet gewesen waren. Schon in der Zeit des frühen Prinzipats 48 hatte eine rege, im Laufe des zweiten Jahrhunderts sich intensivierende rechtsschöpferische Tätigkeit der römischen Principes eingesetzt und sich in einer stetig wachsenden Zahl einseitiger Anordnungen und Verfügungen unterschiedlichster Art49 niedergeschlagen. Diesen von der juristischen Lehre zusammenfassend als Konstitutionen (constitutiones) bezeichneten Rechtsakten war spätestens seit der Zeit der Severerkaiser50 um die Wende zum dritten Jahrhundert Gesetzeskraft (legis vigor) zugesprochen worden51 • Man mittelalterlichen Leges, in: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, hrsg. von H. J. Becker (u. a.), Aalen 1976, S. 13 - 35. 41 Dazu Krause, Kaiserrecht und Rezeption, S. 26 ff.; ders., Dauer und Vergänglichkeit, S. 231 ff. Siehe ferner Ernst H. Kantorowicz, Kingship under the Impact of Scientific Jurisprudence (1961), in: ders., Selected Studies, Locust Valley, N. Y. 1965, S. 151 - 166 (154 ff.); KroescheH, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, S. 149 ff., 310 f. und jetzt Armin Wolf, S. 517 ff. 48 Zu Wesen und Begriff dieses allein mit rechtlichen Kategorien nicht faßbaren, vor allem auf die überragende auctoritas des Herrschers gestützten Regierungssystems vgl. Magde!ain, Auctoritas principis, Paris 1947, S. 37 ff.; Jean Beranger, Recherches sur l'aspect ideologique du principat, Basel 1953, bes. S. 29 ff.; ders., Principatus. Etudes de notions et d'histoire politiques dans l'Antiquite grecoromaine, Geneve 1973, bes. S. 135 ff. Siehe ferner Kar! Loewenstein, The Governance of Rome, The Hague 1973, S. 235 ff. sowie jetzt aus dem umfassenden Sammelwerk: Principat, Berlin 1974 ff. (Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, hrsg. von H. Temporini) den Beitrag von Wickert, Neue Forschungen zum römischen Principat, in: Principat, Bd. I, S. 3 - 76. Zur Rechtswissenschaft der Principatszeit vgl.: Principat, Bd. 15, Berlin 1976. Dazu Wieacker, Juristen und Jurisprudenz im Prinzipat, in: ZRG RA 94 (1977), S. 319 - 358. 49 z. B. Edikt, Mandat, Reskript, Dekret. Vg!. hierzu Wenger, Die Quellen des römischen Rechts, Wien 1953, S. 424 ff. 50 Hierzu jetzt Wa!ser, Die Severer in der Forschung 1960 - 1972, in: Principat, Bd. 2, hrsg. von H. Temporini, Berlin 1975, S. 614 - 656 (617 ff.). 51 So, nachdem bereits um die Mitte des zweiten Jahrhunderts Gaius die Kaiserkonstitutionen als gesetzesgleich (Inst. I, 5: legis vicem optinere) bezeichnet hatte, U!pian, Dig. I, 4, 1: "Quod principi placuit, legis habet vigoren. ... Quodcumque igitur imperator per epistulem et subscriptionem statuit vel cognoscens decrevit vel de plano interlocutus est vel edicto praecepit, legern esse constat. Haec sunt quas vulgo constitutiones appellamus. " Im Gegensatz zur älteren romanistischen Forschung, die hierin im Anschluß an Mommsen, Römisches Staatsrecht, 3. Auf!., Bd. H, 2, Leipzig 1887, Neudruck Darmstadt 1971, S. 905 ff., und seine Auffassung vom Prinzipat als Magistratur sowie unter dem Eindruck übertriebener Interpolations-

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2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

berief sich dabei auf die sogenannte Lex regia, einem auf die Lex de imperi0 52 der frühen Prinzipatszeit zurückgehenden Volksgesetz, nach dem das Volk alle Gewalt (omne suum imperium et potestatem) auf den Kaiser übertragen habe 53 • Mit dem Ausbau der kaiserlichen Stellung im Zuge der Entwicklung vom Prinzipat zur unbeschränkten Monarchie des Dominats54 nahm die Bedeutung des vom Kaiser geschaffenen Rechts ständig zu, so daß die ursprünglich noch erhalten gebliebenen Formen republikanischer Rechtschöpfung schließlich vollends zurücktraten und das kaiserliche Recht zum entscheidenden Faktor nachklassischer Rechtsentwicklung 55 wurde. Als nach dem Untergang des Reiches im Westen Justinian auf oströmischem Boden im Codex das Fazit kaiserlicher Rechtschöpfung zog, konnte er davon ausgehen, daß allein der Kaiser (solus imperator) sowohl Begründer als auch vermutungen nur die Befugnis des Princeps zur authentischen Interpretation des Rechts sehen wollte (so noch von Lübtow, Das römische Volk. Sein Staat und sein Recht, Frankfurt a. M. 1955, S. 461 ff.), werden heute demgegenüber mit Grund die rechtschöpferischen Aspekte kaiserlicher Konstitutionengebung stärker herausgearbeitet. Vgl. hierzu jetzt de Francisci, Per la storia della legislazione imperiale durante il principato, in: Annali di storia deI diritto, 12/13 (1968/69), S. 1 - 41 sowie MiHar, The Emperor in the Roman World (31 BC - AD 337), London 1977, S. 252 ff. 52 Vgl. dazu auch § 5 A, S. 49. 53 Vgl. Ulpian, Dig. 1, 4, 1, pr.: " ... utpote cum lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei in eum omne suum imperium et potestatem conferat". Vgl. hierzu Magdelain, Auctoritas principis, S. 107 ff. Nur die Bezeichnung der lex als "regia" ist offenbar interpoliert. Darauf hat unter Hinweis auf Cod. 1, 17, 7 ("Cum enim lege antiqua, quae regia nuncupabatur, omne ius omnisque potestas populi Romani in imperatoriam translata sunt potestatem ... ") bereits Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. 11, 2, S. 876 f., Anm. 2, aufmerksam gemacht. Vgl. ferner Henri Morel, La place de la Lex regia dans l'histoire des idees politiques, in: Etudes offertes a Jean Macqueron, Aix-en-Provence 1970, S. 545 - 555 (545 f.). Zu weitgehend der Interpolationsverdacht bei von Lübtow, Das römische Volk, S. 466 f., der zu Unrecht die ganze Stelle als justianianisch ansieht. 54 Dazu noch immer Otto Th. Schulz, Vom Prinzipat zum Dominat. Das Wesen des römischen Kaisertums des dritten Jahrhunderts, Paderborn 1919. Siehe ferner A. H. M. Jones, The Later Roman Empire 286 - 602. A Social Economic and Administrative Survey, Oxford 1964, vol. 1, S. 321 ff.; Gaudemet, Institutions de l'Antiquite, Paris 1967, S. 661 ff.; de Martino, Storia della costituzione romana, vol. 5, Napoli 1967, S. 1 ff., 185 ff. sowie jetzt Mazza, 11 principe e il potere. Rivoluzione e legittimismo costituzionale nel 111 sec. d. C., in: Istituzioni giuridiche e realta politiche nel tardo impero (III-V sec. d. C.). Atti di un incontro tra storici e giuristi, Firenze 1974. A cura di Gian G. Archi, Milano 1976, S. 1 - 62. 55 Vgl. hierzu de Francisci, Storia deI diritto romano, vol. III, 1, ed. riveduta, Milano 1940, S. 175 ff. Ferner Wieacker, Allgemeine Zustände und Rechtszustände gegen Ende des weströmischen Reiches, Varese 1963 (IRMAE I, 2 a), S. 20 ff.; ders., Recht und Gesellschaft in der Spätantike, Stuttgart 1964, S. 54 ff.; ders., Zur Effektivität des Gesetzesrechts in der späten Antike, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag, Bd. 3, Göttingen 1972, S. 546 - 566 (560 ff.); Kaser, Gesetz und Recht in der privatrechtsgeschichtlichen Erfahrung, in: Gedächtnisschrift für Rolf Dietz, hrsg. von G. Hueck und R. Richardi, München 1973, S. 3 - 33 (29 f.).

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Interpret der Gesetze (tam conditor quam interpres legum) sei56 • Entsprechend den spezifischen Voraussetzungen und Implikationen des antike und christliche Elemente verschmelzenden oströmisch-byzantinischen Rechts- und Staatsdenkens57, wie sie in den zum gesamten Gesetzgebungswerk ergangenen Novellen hervortreten, erblickte er darüber hinaus im Herrscher das von Gott gesandte verlebendigte Gesetz (lex animata)58 und betrachtete ihn damit als die Inkarnation der Rechtsordnung. Im Zuge der Erneuerung des römischen Rechts im 11. Jahrhundert gewinnen auch die dem römischen Kaiserrecht entstammenden Formeln und Maximen neue Relevanz. Ausgehend von den wiederentdeckten Texten vermochten die Glossatoren, geleitet durch die Translationsvorstellung, im Kaiser ihrer Zeit mit Grund den rechtmäßigen Nachfolger der antiken Imperatoren zu sehen, der das Recht als lex animata sichtbar darstellte und wie diese als conditor et interpres legum die Einheit von Reich und Recht gewährleistete59• Wenn auch die alleinige Rechtsetzungsbefugnis des Kaisers in der glossatorischen Jurisprudenz keineswegs unumstritten60 war, so wird doch spürbar, daß mit der 56 Cod. 1, 14, 12, 5. Hierzu Gaudemet, L'empereur interprete du droit, in: Festschrift für Ernst Rabel, Bd. 2, hrsg. von W. Kunkel und H. J. Wolff, Tübingen 1954, S. 169 - 203 (199 f.), der zutreffend auf die absolutistischen Implikationen dieser Stelle hinweist. Zur Würdigung der gesetzgeberischen Leistung Justinians vgl. Archi, Giustiniano legislatore, Bologna 1970, S. 181 ff. sowie Spruit, De Justiniaanse Wetgeving, in: Coniectanea neerlandica iuris romani. Inleidende opstellen over Romeins recht. Onder redactie van J. E. Spruit, Zwolle 1974, S. 55 - 99. 57 Vgl. hierzu Dvornik, Early Christi an and Byzantine Political Philosophy. Origins and Background, Washington, D. C. 1966, vol. 2, S. 611 ff., 724 ff. Siehe ferner die von Hunger (Hrsg.), Das byzantinische Herrscherbild, Darmstadt 1975, zusammengestellten Beiträge sowie Ahrweiler, L'ideologie politique de l'Empire byzantin, Paris 1975, S. 19 ff. 58 Nov. 105, 4. Zu Herkunft und Bedeutung dieser Vorstellung siehe Steinwenter, NOMO~ EM'PYXO~. Zur Geschichte einer politischen Theorie, in: Anzeiger. Akademie der Wissenschaften in Wien 83 (1946), S. 250 - 268; Aalders, NOMO~ EM'PYXO~, in: Politeia und Res publiea. Beiträge zum Verständnis von Politik, Recht und Staat in der Antike. Dem Andenken Rudolf Starks gewidmet, hrsg. von P. Steinmetz, Wiesbaden 1969, S. 315 - 329. 59 Vgl. etwa Vacarius, The Liber Pauperum, ed. by F. de Zulueta, London 1927, der um die Mitte des 12. Jahrhunderts feststellt: "Conditor autem et interpres legum solus est imperator" (lib. I, tit. 8, ad rubr., S. 13) und Pla.::entinus, der in seiner in den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts entstandenen Codex-Leetura (In Codicis Iustiniani libros IX summa, Moguntiae 1536, Neudruck Torino 1962) davon ausgeht, allein dem Kaiser komme die Rechtsetzungsmacht (potestas eondendi iura et interpretandi) zu (lib. I, tit. 14: De legibus et eonstitutionibus prmeipum, S. 17). 60 So weist Azo, Ad singulas leges XII librorum Codieis Iustiniani Commentarium, Parisiis 1577, Neudruck Augustae Taurinorum 1966 (nachfolgend zitiert "Leetura Codicis"), darauf hin, die übertragung der Rechte auf den Kaiser schließe nur einzelne, nicht hingegen alle von der Rechtsetzung aus: "Die ergo quod hie non excluditur populus, sed singuli de populo" (lib. I, tit. 14, 1. 12, Nr. 51, S. 44). Vgl. ferner das Wortspiel der Glosse des Accursius

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2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

Wiederaufnahme der kaiserlich-römischen Vorstellungswelt eine neue, aktive Phase in den Beziehungen von Kaiser und Recht einsetzt, in der beide auf der Basis rationaler Diskussion stärker als bisher aufeinander bezogen und einander zugeordnet werden. Die für das Mittelalter in dieser Weise durchaus neuartige Zuordnung von Herrscher und Recht gewinnt im Laufe der Hohenstaufenzeit, in der mit der römischen Jurisprudenz und den imperialen Prätentationen der staufischen Dynastie zwei historische Mächte in Berührung kommen, deutliche Konturen 61 . Sie findet ihren sichtbaren Ausdruck in der Begegnung von Kaisertum und Legistik auf dem Reichstag von Roncaglia 1158, zu dem Friedrich 1.62 die als quattuor doctores bekannten Irnerius-Schüler Bulgarus, Martinus, Jacobus und Hugo herangezogen hatte, um sich ihres Rats im Hinblick auf die Feststellung seiner Hoheitsrechte (Regalien)63 in Oberitalien zu vergewissern64 • Diese versichern einem zeitgenössischen Bericht zufolge dem Kaiser ihrerseits, daß ihm als dem leibhaftigen Gesetz (lex viva) die Macht zukomme, Gesetze zu geben (condere leges)65. Als ein Dreivierteljahrhundert späin: Corpus Iuris Civilis IustinianeL Studio et opera Ioannis FehL Reimpressio phototypica editionis 1627, t. IV, Osnabrück 1966, GI. "Solus imperator" zu Cod. 1, 14, 12, Sp. 223, der nicht allein den Kaiser, wohl aber den Kaiser allein, d. h. keinen anderen singulus zur Rechtsetzung für berechtigt ansieht und damit ebenso wie Azo theoretisch die Möglichkeit offenläßt, daß auch Volk und Senat Gesetze geben. Hierzu Dupre Theseider, L'idea imperiale, S. 255 ff. 81 Hierzu Hermann Krause, Kaiserrecht und Rezeption, S. 26 ff. (34); Coing, Römisches Recht in Deutschland, S. 30 ff. VgI. auch Baaken, Recht und Macht in der Politik der Staufer, in: HZ 221 (1975), S. 553 - 570, der aber den Aspekt rechtlicher Gebundenheit überbetont. 82 Zur Würdigung des Staufenkaisers siehe jetzt den von Gunther Wolf herausgegebenen Sammelband: Friedrich Barbarossa, Darmstadt 1975. 63 Zu Begriff und Funktion der Regalien vgl. Hans Thieme, Die Funktion der Regalien im Mittelalter, in: ZRG GA 62 (1942), S. 57 - 88; Irene Ott, Der Regalienbegriff im 12. Jahrhundert, in: ZRG KA 35 (1948), S. 234 - 304 (272 ff.); Fried, Der Regalienbegriff im 11. und 12. Jahrhundert, in: DA 29 (1973), S. 450 - 528 (453 ff.). 84 Dazu Finsterwalder, Die Gesetze des Reichstags von Roncaglia vom 11. November 1158, in: ZRG GA 51 (1931), S. 1 - 69 (64 ff.); Appelt, Friedrich Barbarossa und das römische Recht (1961/62), in: Wolf (Hrsg.), Friedrich Barbarossa, S. 58 - 82 (75 ff.); ders., Die Kaiseridee Friedrich Barbarossas, Wien 1967, S. 30 ff.; Katsuta, Friedrich Barbarossa und die sogenannte "theoretische Rezeption des römischen Rechts", in: Hitotsubashi Journal of Law & Politics 5 (1967), S. 20 - 37, 25 ff. Daß Art und Ausmaß des römischrechtlichen Einflusses auf die roncalischen Beschlüsse offenbar bedeutsamer sind als man bisher annehmen konnte, haben jetzt die Forschungen von Colorni ergeben, der die drei bislang als verschollen geltenden Gesetze von Roncaglia wiederaufgefunden und publiziert hat (Le tre leggi perdute di Roncaglia [1158] ritrovate in un monoscritto parigino, in: Scritti in memoria di Antonino Giuffre, vol. 1, Milano 1967, S. 111 - 170; deutsche übersetzung von G. Dolezalek, Aalen 1969). 65 VgI. Gottfried von Viterbo, Gesta Friderici, in: MGH, ed. G. H. Pertz, Scriptorum t. 22, Hannoverae 1872, Neudruck Stuttgart 1963, S. 307 - 334 (316). Hierzu Thomas Szab6, Römischrechtliche Einflüsse auf die Beziehung

§ 4 Das Recht und seine Verfügbarkeit

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ter Friedrich II. 66 auf dem Höhepunkt staufischer Machtentfaltung mit dem Liber Augustalis, dem 1231 ergangenen und dem römischen Vorbild verpflichteten Gesetzbuch für das Königreich Sizilien61, das Gesetzgebungsrecht (condendae legis ius)68 der Nachfolger Justinians für sich in Anspruch nahm und zugleich in einem Teil seines Reichs praktisch verwirklichte, konnte er das in dem Bewußtsein tun, nicht lediglich Beschützer und Verteidiger, sondern vielmehr Ausgangspunkt und Quelle des Rechts (origo iuris) zu sein und damit über die rechtsbewahrende Funktion des rex iustus hinaus die rechtschöpferische Aufgabe des legum conditor wahrzunehmen 69 • Die neuen Vorstellungen über Herrschaft und Recht, wie sie im Liber Augustalis in besonderer Verdichtung zutage treten, sind freilich des Herrschers zum Recht. Eine Studie zu vier Autoren aus der Umgebung Friedrich Barbarossas, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 53 (1973), S. 34 - 48 (39 ff.). Vgl. auch Gottfried Koch, Auf dem Wege zum Saerum Imperium. Studien zur ideologischen Herrschaftsbegründung der deutschen Zentralgewalt im 11. und 12. Jahrhundert, Wien 1972, S. 230 ff. (238 f.), der mit Recht darauf hinweist, daß die römischrechtlichen Lehren erst im 13. Jahrhundert, d. h. in der spätstaufischen Periode, voll ausgebildet in Erscheinung treten. ee Hierzu grundlegend, wenngleich nicht ohne überschätzung der modernen Züge: Ernst H. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927 - 1931, 2 Bde., Nachdruck Düsseldorf 1963. Zum Forschungsstand siehe jetzt Gunther Wolf (Hrsg.), Stupor mundi. Zur Geschichte Friedrichs Ir. von Hohenstaufen, Darmstadt 1966 und Fleckenstein (Hrsg.), Probleme um Friedrich 11., Sigmaringen 1974. 87 Vgl. die lateinisch-deutsche Ausgabe: Die Konstitutionen Friedrichs H. von Hohenstaufen für sein Königreich Sizilien. Nach einer lateinischen Handschrift des 13. Jahrhunderts herausgegeben und übersetzt von H. Conrad, Th. von der Lieck-Buyken und W. Wagner, Köln 1973 (zitiert: Liber Augustalis). Dazu die eingehende Untersuchung von Hermann Dilcher, Die sizilische Gesetzgebung Kaiser Friedrichs 11. Quellen der Constitutionen von Melfi und ihrer Novellen, Köln 1975, bes. S. 760 ff., wonach der Anteil römischer Quellenvorbilder zwei Drittel des Ganzen ausmacht (S. 816). es Liber Augustalis, lib. I, tit. 31, S. 44. Vgl. auch das Prooemium zum sogenannten Krönungsgesetz von 1220 (Constitutio in Basiliea Beati Petri, in: MGH, Constitutiones, t. 11, Hannoverae 1896, Neudruck ebd. 1963, Nr. 85, S. 106 -109, 107): " ... euravimus ... edere quasdam leges, quas presenti pagina iussimus annotari per totum nostrum imperium publieandas ... ". Hierzu, jedoch zu stark die absolutistischen Züge betonend, de Vergottini, Studi sulla legislazione imperiale di Federico 11 in Italia. Le leggi deI 1220, Milano 1952, S. 97 ff., 210 ff. Bezüglich der Unterschiede zum Liber Augustalis siehe Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 148 f. 69 Vgl. Liber Augustalis I, 31, S. 44/46: "Ideoque convinci potest non tarn utiliter quam neeessario fuisse provisum, ut in eiusdem persona eoneurrentibus his duobus, iuris origine seilieet et tutela, a iustitia rigor et a rigore iustitia non abesset. Oportet ergo Caesarem fore iustitiae patrem et filium, dominum et ministrum, Patrem et dominum in edendo iustitiam et editam eonservando. Sie et iustitiam venerando sit filius et ipsius eopiam ministrando minister." Zu den christologischen Grundlagen der Vorstellung des das Recht als Herr und Vater hervorbringenden sowie als Diener und Sohn schützenden und bewahrenden Herrschers vgl. Ernst H. Kantorowicz, The King's Two Bodies, S. 97 ff.

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2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

noch nicht verselbständigt, sondern vielfach eingebunden in den bisherigen Struktur- und Begründungszusammenhang. Das zeigt sich nicht nur in der vorsichtig abwägenden Gegenüberstellung von neuem und altem Recht, wie sie in der glossatorischen Diskussion von lex und consuetudo hervortritt7°, sondern hat treffenden Ausdruck auch in dem bekannten Wort Friedrichs 1. gefunden, wonach das Reich der kaiserlichen Gesetze ebenso bedürfe wie des guten Brauchs der Vorfahren 71 • Erweist sich damit die glossatorische Lex-Vorstellung als durchaus eingebettet in die überkommene mittelalterliche Vorstellungswelt, so wird gleichwohl deutlich sichtbar, wie die frühmodern-rationalen Züge des Gesetzesbegriffs Gestalt anzunehmen beginnen und in dem Maße, in dem die Elemente von Willen und Macht als seine Bestandteile in den Vordergrund treten, sich zugleich präzisieren und konkretisieren. Das Corpus Iuris und auf seiner Grundlage die glossatorische Jurisprudenz haben diesen Vorgang, indem sie Kaiser und Recht zueinander in Beziehung setzten, wesentlich gefördert und, wenn auch nicht ausschließlich, so doch als "eines der bewegenden Momente"72 dazu beigetragen, daß die Möglichkeit rationaler Schaffung und Gestaltung von Recht über die Grenzen reiner Rechtsbewahrung hinaus bewußt und die Vorstellung vom Gesetz als eines Willens- und Herrschaftsinstruments wirksam werden konnte. § 5 Die Legibus solutio des Princeps A. Ursprung und Entwicklung

Zugleich mit der Wiederaufnahme der Formeln des römischen Kaiserrechts wird dem mittelalterlichen Rechtsdenken jene entwicklungsgeschichtlich eng mit der Vorstellung vom Herrscher als dem legum conditor verbundene und im Corpus Iuris mehrfach in Bezug genommene Auffassung vermittelt, daß der Herrscher von den Gesetzen entbunden (legibus solutus) seF3. Bereits im älteren rechtsgeschichtlichen Schrifttum ist darauf hingewiesen worden, daß diese für die frühmoderne Problematik des Verhältnisses von herrschaftlicher Gewalt 70 Hierzu noch immer Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht. Eine historisch-dogmatische Untersuchung. 1. Teil: Geschichtliche Grundlegung, Breslau 1899, Neudruck Frankfurt a. M. 1968, S. 96 ff. 71 Vgl. dazu aus seinem Schreiben an die deutschen Bischöfe Anfang 1158: "Duo sunt, quibus nostrum regi oportet imperium, leges sanctae imperatorum et usus bonus predecessorum et patrum nostrorum" (nach MGH, Constitutiones et Acta publica imperatorum et regum, t. l, Hannoverae 1893, Neudruck 1963, Nr. 167, S. 233) .Dazu Krause, Kaiserrecht und Rezeption, S. 35 f. 72 So treffend Krause, Kaiserrecht und Rezeption, S. 46. 73 Dig. 1, 3, 31: Princeps legibus solutus est. Vgl. ferner Dig. 32, 23; Cod. 6, 23, 3; lnst. 2, 17, 8 (7).

§ 5 Die Legibus solutio des Princeps

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und Recht grundlegende Maxime ihre zukunftsweisende Bedeutung einem Mißverständnis verdankt7 4• Dieses - freilich höchst produktive! - Mißverständnis beruht auf der allmählichen Ausweitung und Sinnveränderung des ursprünglich punktuell begrenzten Instituts der legum solutio, die als in Kompetenzkonkurrenz von Senat und Volksversammlung erteilte Dispensation von bestimmten Vorschriften für einzelne Fälle und Personen schon dem Recht der republikanischen Zeit bekannt war75 . Nach dem Übergang zum Prinzipat blieb das Institut der legum solutio erhalten, so daß nunmehr auch der Princeps für seine Person davon Gebrauch machen konnte. Bekanntlich hat schon Augustus diese Möglichkeit in Anspruch genommen, indem er sich durch den Senat, auf den die Dispensationsbefugnis inzwischen allein übergegangen war, von den erbrechtlichen Beschränkungen der im Rahmen seiner Sozial- und Bevölkerungspolitik ergangenen Leges Iulia et Papia76 aus den Jahren 18. v. bzw. 9 n. Chr. befreien ließ77. Ebenso wie Augustus selbst haben offenbar auch seine Nachfolger bei den verschiedensten Gelegenheiten auf das Rechtsinstitut der Dispensation zurückgegriffen78 , Caligula und Nero freilich in so mißbräuchlicher Weise, daß schließlich in das die Amtsbefugnisse des Princeps übertragende Gesetz, die Lex de imperio, anläßlich des Regierungsantritts Vespasians im Jahre 69 n. Chr. eine Bestimmung aufgenommen wurde, wonach dieser nur von denjenigen Gesetzen (iis legibus) entbunden sein sollte, von denen auch seine Vorgänger - die beiden tyrannischen in beredtem Schweigen ausgenommen - entbunden gewesen waren79 . 74 Vgl. Esmein, La maxime "Princeps legibus solutus est" dans l'ancien droit public franc;ais, in: Essays in Legal History, ed. by. P. Vinogradoff, London 1913, S. 201 - 214 (202 f.). 75 Hierzu nunmehr eingehend Bleicken, Lex publica. Gesetz und Recht in der römischen Republik. Berlin 1975, S. 131 ff. 78 Dazu Jörs, über das Verhältnis der Lex Iulia de maritandis ordinibus zur Lex Papia Poppaea, Diss. Bonn 1882, S. 28 ff., 46 ff.; Spruit, De lex Iulia et Papia Poppaea. Beschouwingen over de bevolkingspolitiek van Augustus, Deventer 1969, S. 9 ff., 32 ff.; Astolfi, La lex Iulia et Papia, Padova 1970, S. 77 ff., 97 ff., 271 ff.; ders., Note per una valutazione storica della ,lex Iulia et Papia', in: SDHI 39 (1973), S. 187 - 238; Kaser, Das römische Privatrecht I, 2. Aufl., München 1971, § 75, S. 318 ff., § 178, S. 723 ff. sowie Dieter Nörr, Planung in der Antike. über die Ehegesetze des Augustus, in: Freiheit und Sachzwang. Beiträge zu Ehren Helmut Schelskys, hrsg. von H. Baier, Opladen 1977, S. 309 - 334, der die augusteischen Ehegesetze in den Zusammenhang gesellschaftlicher Anschauungen und Verhaltensweisen der Zeit einordnet. 77 Vgl. den Bericht des Historikers Cassius Dio (dazu unten FN 82), 56, 32, 1. Zu den rechtlich nicht restlos geklärten Modalitäten der Dispensation siehe Jörs, S. 33 ff., 41 f.; Kaser, § 75 III, S. 320. 78 Siehe dazu die von Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. II, 2, S. 883 ff. zusammengestellten Fallgruppen. 79 Vgl. hierzu das Fragment der Lex de imperio Vespasiani (abgedruckt in: Fontes iuris romani antejustiniani. Pars prima, ed. S. Riccobono, Florentiae 1941, Neudruck ebd. 1968, S. 154 - 156): " ... utique quibus legibus plebeive

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2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

Die restriktive Auffassung der legibus solutio hat sich indessen im Laufe der Fortentwicklung von Prinzip at und Prinzipatsverfassung nicht durchsetzen können. Entscheidend dafür sollte der Umstand werden, daß in dem Maße, in dem in der Folgezeit aufgrund der Zuordnung von Herrscher und Recht dem Princeps auch die Dispensationsbefugnis zufiel, jeder seiner Rechtsakte, der einem Gesetz oder einer Formvorschrift zuwiderlief, aufrechterhalten werden konnte als die Dispensation von der betreffenden Bestimmung in sich tragendso. Damit wurde eine spezielle Befreiung für den einzelnen Fall entbehrlich und das "iis uS1 der Lex de imperio allmählich beziehungslos. Bereits an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert konnte daher die zeitgenössische Historiographie der Severerepoche den Kaiser für schlechthin legibus solutus erachtens2 . Aber auch die Severerkaiser selbst haben sich offenbar als von den Gesetzen entbunden (legibus soluti) betrachtet S3 • Wenn auch der ursprüngliche Kontext der legibus solutio weiterhin erkennbar bleibt, wird doch zugleich deutlich, daß die Vorstellung der Entbundenheit des Herrschers von den Gesetzen nicht zuletzt unter dem Einfluß der in dieser Zeit zusehends vordringenden hellenistischorientalischen Denk- und Herrschaftsformens4 in eine neue Entwicklungsphase eintritt, in der sie sich grundlegend wandelt und den Charakter eines allgemeinen Prinzips von öffentIichrechtIicher BedeutungS6 scitis scripturn fuit, ne divus Aug(ustus), Tiberiusve lulius Caesar Aug(ustus), Tiberiusque Claudius Caesar Aug(ustus) Germanicus tenerentur, iis legibus plebisque scitis imp(erator) Caesar Vespasianus solutus sit ... " (S. 156). Dazu Magdelain, Auctoritas principis, S. 90 ff. (101). 80 Das hat bereits Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. II, 2, S. 751, gesehen, wo die Dispensation jedoch zu eng als Institut des Privatrechts aufgefaßt ist. 81 Vgl. oben S. 49. Siehe hierzu auch Goez, Translatio imperii, S. 391 f., Anm.4. 82 Vgl. Cassius Dio, 53, 18, 1, der sich ausdrücklich auf die römische Terminologie stützt: AH.uV1:aL YUQ 1>7) Tmv 'VOf1WV, w~ UUTU TU AUTivu eTJf1UTU 'AEYEL· TOÜT' EaTLV EAEut}EQOL uno na.aT]~ UVUYX.ULU~ vOIl[aEw~ EtaL X.UL OiillE'VL Tmv YEYQUIlIlE'VW'V EvEXO'VTUL. Die Annahme des Cassius Dio, das habe bereits für Augustus gegolten, ist freilich unzutreffend. Dazu Millar, A Study of Cassius Dio, Oxford 1964, S. 96; Magdelain, Auctoritas principis, S. 90 ff. (101, Anm. 2). 83 So sollen nach lnst. 2, 17, 8 (7) Septimius Severus (193 - 211) und Antoninus (211 - 217) "saepissime" festgestellt haben, daß sie von den Gesetzen

entbunden seien ("legibus soluti sumus"). Vgl. ferner Cod. 6, 23, 3, wo freilich nur die solutio von den Förmlichkeiten des Rechts (sollemnia iuris) in Bezug genommen ist. Siehe aber unten § 6, FN 118. 84 Vgl. hierzu Beranger, Grandeur et servitude du souverain hellemistique, in: Etudes de Lettres, Serie II, 7 (1964), S. 3 - 16 sowie die Studien über die kaiserlichen Machtsymbole und Herrschaftszeichen von Andreas Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, Darmstadt 1970, S. 186 ff. 8. Nicht von ungefähr werden in der juristischen Lehre seit der Severerzeit ius publicum und ius privatum einander gegenübergestellt. Vgl. Ulpian, Dig. 1, 1, 1, 2 = lnst. 1, 1, 4, wonach "publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem". Hierzu Kaser, "lus publicum" - "lus privatum", in: SDHI 17 (1951), S. 267 - 279 und Martin

§ 5 Die Legibus solutio des Princeps

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anzunehmen beginnt. Der dem spätklassischen Juristen Ulpian86 mit Grund zugeschriebene Satz "Princeps legibus solutus est" gewinnt vor diesem Horizont eine bislang nicht hinreichend gewürdigte, weit über den zivil rechtlichen Bezug auf die von ihm kommentierten augusteischen Leges lulia et Papia87 hinausweisende, öffentlichrechtliche Relevanz und wird zugleich zum Ausdruck eines neuen Rechts- und Staatsverständnisses. In ihm bildet die legibus solutio als das Gegenstück der kaiserlichen Rechtsetzungsmacht den Ansatzpunkt für eine gewandelte, mit den Traditionen des Prinzipats brechende Auffassung des Verhältnisses von Herrscher und Recht88 , der im Hinblick auf die Legitimation der spätantiken absoluten Monarchie des Dominats8D grundlegende Bedeutung zukommt. In eben jener Fassung, die ihr Ulpian gegeben hat, ist die legibus solutio nach dem Untergang des weströmischen Kaisertums schielßlich in das Gesetzgebungswerk Justinians eingegangen und hat dort ihre für die Folgezeit verbindliche rechtliche Gestalt gefunden. BulZinger, Öffentliches und Privatrecht, Stuttgart 1968, S. 13 ff., der jedoch

die epochale Bedeutung der von Ulpian getroffenen Unterscheidung verkennt, wenn er in ihr "kaum mehr als eine Möglichkeit begrifflicher Betrachtungsweise" sehen will (S. 16). Zu Bedeutung und Funktion der gegenwärtigen Unterscheidung siehe Menger, Zum Stand der Meinungen über die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht, in: Fortschritte des Verwaltungsrechts. Festschrift für Hans J. Wolff zum 75. Geburtstag, hrsg. von Chr.-F. Menger, München 1973, S. 149 - 166. 88 Zu Leben und Werk vgl. Jörs, Domitius Ulpianus, in: RE Bd. 5, Stuttgart 1905, Sp. 1435 - 1509; Fitting, Alter und Folge der Schriften römischer Juristen von Hadrian bis Alexander, 2. Aufl., Halle 1908, S. 99 - 120; Kunkel, Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen, 2. Aufl., Graz 1967, S. 245 - 254. Siehe ferner Honore, The Severan Lawyers. A Preliminary Survey, in: SDHl 28 (1962), S. 162 - 232 (188 f., 207 ff.) sowie nunmehr Crifo, Ulpiano. Esperienze e responsabilita deI giurista, in: Principat, Bd. 15, hrsg. von H. Temporini, Berlin 1976, S. 708 - 789. 87 Vgl. hierzu die von Lenel (palingenesia iuris civilis. Unveränd. Abdruck der 1889 in Leipzig erschienenen Ausg., Graz 1960, vol. 2, Sp. 939 - 950, 948), vorgenommene Rekonstruktion. Zum zivilrechtlichen Verständnis der Formel schon Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. H, 2, S. 751, Anm. 3. Ferner Messina Vitrano, Il fr. 31 "De legibus" I, 3, in: Studi in onore di Biagio Brugi nel XXX anno deI suo insegnamento, Palermo 1910, S. 323 - 337; Daube, Princeps legibus solutus, in: L'Europa e il diritto romano. Studi in memoria di Paolo Koschaker, vol. 2, Milano 1954, S. 461 - 465 (463) sowie von Lübtow, Das römische Volk, S. 460, dessen Interpolationsannahme ("lege" statt "legibus" solutus) indessen nicht zwingend ist, da für die beiden in Frage stehenden Gesetze auch die Bezeichnung "leges" üblich war (hierzu Jörs, Über das Verhältnis der Lex lulia zur Lex Papia, S. 56 ff. und Kaser, Das römische Privatrecht I, § 75 I, S. 319). 88 Das hat vor allem de Francisci, lntorno alla massima "Princeps legibus solutus est", in: BlDR 34 (1925), S. 321 - 343 (327 ff.), herausgearbeitet, der in der Maxime die juristische Formulierung der neuen politischen Tendenz erblickt (S. 327). Vgl. ders., Storia deI diritto romano, vol. H, 1, 2. ed., Milano 1938, S. 442. Siehe auch Bretone, Pensiero politico e diritto pubblico, in: ders., Tecniche e ideologie dei giuristi romani, Napoli 1971, S. 1 - 71 (34 ff.). 89 Dazu oben § 4 B, S. 44.

2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

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B. Die Auslegung durch die Glossatoren In dem Maße, in dem die Glossatoren sich den wiederentdeckten Texten zuzuwenden begannen, knüpften sie an den von Justinian überlieferten Problemstand und damit zugleich an die zahlreichen Formeln und Maximen des spät- und nachklassischen römischen Kaiserrechts an. Sie gingen demnach davon aus, daß auch die legibus solutio auf die Kaiser ihrer Zeit Anwendung finde. Als problematisch erwies sich hierbei, daß das Corpus Iuris in diesem Punkt - wie in vielen anderen - keineswegs widerspruchsfrei war, sondern eine Reihe von Textstellen enthielt, die - vor allem von stoisch-christlicher Überlieferung geprägt - auf die Verpflichtung des Herrschers Bezug nahmen, sich den Gesetzen zu unterwerfen. In gleichsam konzentrierter Form ist diese Vorstellungswelt in einer in den Codex aufgenommenen kaiserlichen Konstitution aus der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts deutlich geworden, in der es heißt, es sei des Herrschers würdig zu erklären, daß er an die Gesetze gebunden sei, so sehr hänge von der Autorität des Rechts die eigene Autorität ab: "Digna vox maiestate regnantis legibus alligatum se principem profiteri: adeo de auctoritate iuris nostra pendet auctoritas 90 ." Den die Texte erschließenden Glossatoren kommt das Verdienst zu, den darin liegenden Widerspruch zur legibus solutio des Herrschers erkannt und, wie etwa Azo zu Beginn des 13. Jahrhunderts, darauf hingewiesen zu haben, daß die der Lex digna entsprechende Aussage "Ego sum legibus obligatus" unter den Bedingungen der Entbundenheit des Herrschers von den Gesetzen nicht zugleich Geltung beanspruchen könne 91 • Die Glossatoren sind dabei freilich nicht stehengeblieben, sondern haben versucht, auf der Basis des Textverständnisses ihrer Zeit eine Lösung des Widerspruchs zu finden, die es ermöglichte, die vorgegebenen Texte aufrechtzuerhalten und sie zugleich für ihre Zeit fruchtbar werden zu lassen. Indem sie von Vacarius 92 um die Mitte des 12. bis zu Azo und Accursius in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts das die verschiedenen einschlägigen Textstellen verbindende Elemente im herrscherlichen Willen erblickten93, gelangten sie zu der AufCod. 1, 14,4. Zu den Grundlagen dieser Vorstellung siehe unten § 6 A. Azo, Lectura Codicis, lib. I, tit. XIV, 1. 4, Nr. 18, S. 40. 92 Hierzu jetzt: Peter Stein, Vacarius and the Civil Law, in: Church and Government in the Middle Ages. Essays Presented to Christopher Robert Cheney on His 70th Birthday and ed. by C. N. L. Brooke (u. a.), Cambridge 1976, S. 119 - 137. 93 Vg1. Vacarius, Liber Pauperum, lib. I, tit. 8 zu Dig. 1, 3, 31, S. 15: ",legibus solutus': id est, non necessitate subditus, sed voluntate." Ferner Azo, Lectura Codicis lib. I, tit. XIV, 1. 4, Nr. 18, S. 40: ",Se principem profiteri': subaudi, velle". Dazu NicoZini, La proprieta, il principe e l'espropriazione per pubblica utilita. Studi sulla dottrina giuridica intermedia, Milano 1952, S. 127 ff. Zu Accursius siehe FN 94. 90 91

§ 5 Die Legibus solutio des Princeps

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fassung, daß der Princeps tatsächlich, wie es zusammenfassend in der Glossa ordinaria heißt, von den durch einen anderen oder durch ihn selbst gegebenen Gesetzen (ab alio conditis vel a seipso) entbunden sei und diesen demzufolge nicht notwendig (de necessitate), sondern aufgrund freien Willensentschlusses unterstehe: "Voluntate tarnen sua seipsum subiicit94 ." In der älteren rechtsgeschichtlichen Forschung hat man vor allem die absolutistischen Implikationen dieser Auffassung von Herrschaft und Recht herausgearbeitet und infolgedessen auf die in ihr angelegten Möglichkeiten der Legitimation willkürlicher und unbeschränkter Machtausübung hingewiesenu5 • Demgegenüber sind im neueren Schrifttum mit Grund auch jene Aspekte gewürdigt worden, die erkennen lassen, daß die Glossatoren bei allem Bemühen, dem Herrscher weitgehende Machtbefugnisse einzuräumen, sich der Tatsache stets bewußt geblieben sind, daß die Freiwilligkeit seiner Unterwerfung unter die Gesetze letztlich darauf beruhe, daß er seine Macht aus einem grundlegenden Gesetz, der Lex regia, herleite und damit auf das Recht stützeua • Auf diesem Hintergrund stellt sich gegenwärtiger Betrachtung die legibus solutio der Glossatoren weniger unter dem Aspekt der Ermächtigung zu absolutistisch-willkürlichen Eingriffen in das bestehende Recht, sondern vielmehr als Ausdruck dafür dar, daß, wie die Glosse ausdrücklich feststellt, der Herrscher als die höchste Instanz im Gemeinwesen rechtlich zu einem Tun oder Unterlassen weder durch andere u7 noch durch sich selbstUS bestimmt werden könne und somit lediglich einer Zwangsgewalt nicht unterliegeUg • 94 VgI. die Glosse des Accursius in: Corpus Iuris Civilis Iustinianei, ed. 1627, t. I, Osnabrück 1965, "Princeps legibus" zu Dig. 1, 3, 31, Sp. 40; ders., ebd., t. IV, ebd. 1966, GI. "Digna vox" zu Cod. 1, 14, 4, Sp. 217: "Resp. digna est si dicat se velle, non quod sit"; ders., ebd., t. V, ebd. 1966, GI. "Vivimus" zu Cod. 6, 17,8, Sp. 238: "id est,vivere volumus". Dazu Nicolini, S. 129 f. 95 Vgl. Esmein, La maxime "Princeps legibus solutus est", S. 202 f. 98 Vgl. GI. "De auctoritate" zu Cod. 1, 14, 4 (Corpus Iuris Civilis Iusitinianei, ed. 1627, t. IV, Sp. 217), wo die Unterwerfung des Princeps unter die Autorität des Rechts mit der Abhängigkeit von der Lex regia begründet wird: "et quod dicit iuris, s(cilicet) legis regiae." Vgl. hierzu vor allem Tierney, "The Prince is not Bound by the Laws." Accursius and the Origins of the Modern State, in: Comparative Studies in Society and History 5 (1962/63), S. 378 - 400 (392 f.), der aber Accursius insgesamt zu sehr vom modernen Konstitutionalismus her deutet. 97 VgI. hierzu die von der Glosse zu Dig. 1, 3, 31 "Princeps legibus", Corpus Iuris Civilis, t. I, Sp. 40, gegebene Verweisung auf Dig. 4, 8, 4, wonach der ranghöhere Magistrat der Koerzition durch den rangniederen oder ranggleichen nicht unterliege: "Nam magistratus superiore aut pari imperio nullo modo possunt cogi." 98 Siehe hierzu die Verweisung der Glosse auf Dig.4, 8, 51, wonach niemand Richter in eigener Sache sein könne: "Si de re sua quis arbiter factus sit, sententiam dicere non potest, quia se facere iubeat aut petere prohibeat: neque autem imperare sibi neque se prohibere quisquam potest" (ebd.). 99 Dazu Tierney, "The prince is not Bound by the Laws", S. 31;!1;! ff. (390).

2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

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Wenn damit die glossatorische Auffassung der legibus solutio als eine Vorstellung erscheint, die eher negativ unter dem Gesichtspunkt der Freiheit von äußerem Zwang verstanden denn positiv als eine notwendige Voraussetzung gesetzgeberischen Handeins begriffen wird, so darf die Bedeutung des in ihr angelegten voluntaristischen Elements gleichwohl nicht unterschätzt werden. Die in der Entbundenheitsvorstellung der Glossatoren begründete Sprengkraft im Hinblick auf das bestehende Recht sollte ihre volle Wirksamkeit freilich erst in dem Moment entfalten, in dem im Zusammenwirken von Legistik, KanonistikiOD und scholastischer Rechts- und -Staatsphilosophie101 die gedanklichen Voraussetzungen für eine unmittelbare und ausschließliche Zuordnung von herrschaftlicher voluntas und lex geschaffen waren. Die Glossatoren haben, wenngleich sie die Folgerungen ihres voluntaristischen Ansatzes nicht in vollem Maße zu ziehen vermochten, diesen Prozeß in der Betonung der rationalen Züge des Rechts entscheidend gefördert. Sie haben damit zugleich einen wichtigen Beitrag zu jener umfassenden Entwicklung geleistet, in deren Verlauf dem Herrscher infolge der Lösung aus überkommenen Bindungen schließlich jene Handlungsfreiheit gegenüber dem Recht zufiel, die sich als notwendig erweisen sollte, wollte man "neuen Lagen durch angemessene Normen begegnen"102, in deren Konsequenz freilich unbezweifelbar auch die Gefahren sichtbar wurden, die in ihrer absolutistischen übersteigerung liegen konnten. § 6 Legibus solutio und Bindung an das Recht

A. Die Herkunft der Bindungsvorstellung aus der stoisch-christlichen Philosophie

Fragt man nach der Genese der Vorstellung einer Bindung des Herrschers an das Recht, so bedarf es des Rückgriffs über die romanistische Tradition hinaus in die Vorstellungswelt griechischen Rechts- und Staatsdenkens. Zwar ist auch römischrechtlicher überlieferung der Gedanke, der Herrscher sei ungeachtet seiner Entbundenheit von den Gesetzen gleichwohl an das Recht gebunden, niemals vollkommen fremd gewesen, doch reichen die Ursprünge dieser Auffassung weit in die frühe griechische Philosophie zurück. Hier haben sie auf der Grundlage der Idee vom v6!lo~ als dem eigentlichen Herrscher (v6!lo~ ßalhAEu~)103 Dazu unten Teil IV. Dazu unten Teil V. 10Z Um mit Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 70, zu sprechen. 103 Zu dieser auf Pindar (Carmina cum fragmentis. Pars altera. Fragmenta, ed. B. Snell, Lipsiae 1964, fr. 169, S. 122 ff., 123) zurückgeführten Vorstellung vgl. Stier, NOMOl: BAl:IAEYl:, in: Philologus 83 (1928), S. 225 - 258; Gigante, NQMQl: BAl:IAEYl:, Napoli 1956, S. 56 ff.; Erik Wolf, Griechisches Rechts100

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§ 6 Legibus solutio und Bindung an das Recht

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einerseits, der platonisch-aristotelischen Naturrechtsphilosophie10 4 andererseits, vor allem in der die Grenzen der Poliswelt geistig überwindenden Lehre der Stoa 105 Niederschlag gefunden, daß das Gesetz nicht verselbständigt, sondern vielmehr Bestandteil des den ganzen Kosmos durchwaltenden 'J...6yor" der Weltvernunft sei, die von Natur bestehe und an der der Mensch kraft seiner Natur teilhabe 106 • Dem römischen Denken ist diese Natur, Recht und Vernunft zueinander in Beziehung setzende Lehre vor allem durch Cicero 107 vermittelt worden, der in Wiedergabe und Weiterführung stoischer Gedanken im Gesetz die der Natur eingeprägte und auch im Geiste des Menschen gefestigte und ausgebildete höchste Vernunft erblickte (ratio summa, insita in natura ... in hominis mente confirmata et perfecta)1°8. Als wahres Gesetz (vera lex) erschien ihm auf diesem Hintergrund die rechte Vernunft (reeta ratio), die mit der Natur im Einklang steht109 • Aber nicht nur in das römische Rechts- und Staatsdenken, auch in die römische Jurisprudenz hat der stoische Rechtsgedanke Eingang gefunden llO und sich in der überformung des ius civile als des für die römidenken, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1952, S. 190 ff.; Treu, NOMOl: BAl:IAEYl:: alte und neue Probleme, in: Rheinisches Museum für Philologie 106 (1963), S. 193 - 214. Siehe auch RomiHy, La loi dans la pensee grecque des orgines a Aristote, Paris 1971, S. 63 ff. 104 Dazu Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962, S. 21 ff., 28 ff. 105 Hierzu Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 4. Aufl., Göttingen 1970 - 1972, 2 Bde. 108 So im dritten vorchristlichen Jahrhundert der Stoiker Chrysipp, Fragmenta moralia, in: Stoicorum veterum fragmenta. Collegit 1. ab Arnim, vol. 3, Lipsiae 1903, Neudruck Stuttgart 1968, S. 1 - 205, Nr. 4, 308 ff., S. 3 f., 76 ff. Hierzu Lesky, Zum Gesetzbegriff der Stoa, in: OZöR NF 2 (1950), S. 587 - 599. Siehe ferner Flückiger, Geschichte des Naturrechts, Bd. 1: Altertum und Frühmittelalter, Zollikon / Zürich 1954, S. 186 ff., 190 ff.; Wetzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 37 ff. 107 Vgl. insbesondere seine Werke: De re publica libri. Vom Gemeinwesen. Lateinisch und deutsch, ed. K. Büchner, 2. Aufl., Zürich 1960 (dazu Pöschl, Römischer Staat und griechisches Staats denken bei Cicero, Nachdruck der 1. Aufl., Berlin 1936, Darmstadt 1974, bes. S. 150 ff.; siehe ferner die von Richard Klein [Hrsg.], Das Staatsdenken der Römer, Darmstadt 1966, S. 289 ff., zusammengestellten Beiträge) und vor allem: De legibus, ed. K. Ziegler, 2. Aufl., Heidelberg 1963. Siehe hierzu Peter L. Schmidt, Interpretatorische und chronologische Grundfragen zu Ciceros Werk "De legibus", Diss. Freiburg 1959, bes. BI. 163 ff. sowie zur Fortwirkung der ciceronischen Rechtslehre ders., Die überlieferung von Ciceros Schrift "De legibus" in Mittelalter und Renaissance, München 1974, bes. S. 199 ff. Zur Gesamtwürdigung Ciceros vgl. Kart Büchner (Hrsg.), Das neue Cicerobild, Darmstadt 1971. 108 De legibus, I, 6, 18, S. 29. 109 De re publica, lib. UI, 22/33, S. 278. 110 Zur Relevanz Ciceros für diesen Vorgang vgl. Knoche, Ciceros Verbindung der Lehre vom Naturrecht mit dem römischen Recht und Gesetz. Ein Beitrag zu der Frage: Philosophische Begründung und politische Wirklichkeit in Ciceros Staatsbild, in: Radke (Hrsg.), Cicero. Ein Mensch seiner Zeit,

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2. Teil: Das Verhältnis von Herrscher und Recht

schen Bürger geltenden Rechts durch ein zu diesem in vielfältigen Beziehungen stehendes und für alle Menschen Gültigkeit beanspruchendes ius gentium ll1 oder ius naturale 112 niedergeschlagen. Gleichviel, ob man dabei das ius gentium und das ius naturale einander annäherte, indem man jenes als den Inbegriff der naturalis ratio 113 auffaßte, dieses als Ausdruck der Gerechtigkeitsidee im Sinne des "semper aequum et bonum"114 wertete, oder ob man beide zu unterscheiden suchte, indem man das ius gentium nur auf die Menschen, das ius naturale hingegen auf alle Lebewesen bezog 115 , allenthalben wird seit der späten PrinziBerlin 1968, S. 38 - 60. Vgl. jetzt Dieter Nörr, Cicero als Quelle und Autorität bei den römischen Juristen, in: Beiträge zur europäischen Rechtsgeschichte und zum geltenden Zivilrecht. Festgabe für Johannes Sontis, hrsg. von Fritz Baur (u. a.), München 1977, S. 33 - 52, der aber lediglich den - bekanntlich geringen - manifesten Einflüssen Ciceros auf die römische Jurisprudenz nachgegangen ist und deshalb seine eigentliche Bedeutung, die in den mehr latenten Wirkungen für das rechtliche Denken eines ganzen Zeitalters liegt, zu gering einschätzt (S. 50). 111 Siehe hierzu Lombardi, Sul coneetto di "ius gentium", Roma 1947, dessen These von der Einheitlichkeit des lus-gentium-Begriffs (S. 59 ff., 114 ff.) der Vielfalt der in den Quellen vertretenen Auffassungen allerdings nicht gerecht wird. 112 Dazu Voggensperger, Der Begriff des "Ius naturale" im Römischen Recht, Basel 1952, der zutreffend auf die philosophischen Implikationen der römischen Naturrechtslehre hingewiesen hat (S. 129 ff.). Zum Verhältnis von Naturrecht und römischem Recht siehe Hans Thieme, Naturrecht und römisches Recht, in: La formazione storiea deI diritto moderno in Europa, Firenze 1977 (Atti deI Terzo Congresso Internazionale della Societa italiana di storia deI diritto), vol. 1, S. 95 - 111. 113 So offenbar bereits Gaius, Inst. 1, 1 (vgl. auch Dig. 1, 1, 9 und Inst. 1, 2, 1), der dem ius eivile als dem Recht der einzelnen Gemeinwesen das allen Menschen gemeinsame, mit der natürlichen Vernunft identifizierte ius gentium gegenüberstellt: "Omnes populi, qui legibus et moribus regunter, partim suo proprio, partim eommuni hominum iure utuntur: nam quod quisque populus sibi ipse ius eonstituit, id ipsius proprium est voeaturque ius eivile, quasi ius proprium eivitatis: quod vero naturalis ratio inter omnes homines eonstituit, id apud omnes populos peraeque custoditur voeaturque ius gentium, quasi quo iure omnes gentes utuntur". Zur naturalis ratio bei Gaius vgl. Voggensperger, Der Begriff des "Ius naturale", S. 101 ff.; Lombardi, Sul eoneetto di "ius gentium", S. 120 ff. Zu Gaius vgl. jetzt Di6sdi, Gaius, der Rechtsgelehrte, in: Principat, Bd. 15, hrsg. von H. Temporini, Berlin 1976, S. 605 - 631. 114 Siehe hierzu die dem spätklassischen Juristen Paulus Dig. 1, 1, 11, zugeschriebene Unterscheidung zwischen dem mit der Gerechtigkeitsidee gleichgesetzten ius naturale auf der einen, dem ius eivile der einzelnen Gemeinwesen auf der anderen Seite: "Ius pluribus modis dicitur: uno modo, eum id quod semper aequum ae bonum est ius dieitur, ut est ius naturale. Altero modo, quod omnibus aut pluribus in quaqua civitate utile est, ut est ius civile." Dazu Voggensperger, S. 85 ff. Zu Paulus siehe nunmehr Maschi, La eonclusione della giurisprudenza classiea all' eta dei Severi. lulius Paulus, in: Principat, Bd. 15, S. 667 - 707. 115 So Ulpian, auf den Dig. 1, 1, 1 die Dreiteilung des gesamten privatrechtlichen Rechtsstoff zurückgeführt wird: "Privatum ius tripartiturn est: eollecturn etenim est ex naturalibus praeceptis aut gentium aut civilibus. lus naturale est, quod natura omnia animalia doeuit: nam ius istud non human i generis proprium, sed omnium animalium, quae in terra, quae in mari nas-

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patszeit in der juristischen Lehre das Bestreben sichtbar, den Naturrechtsgedanken in die römische Jurisprudenz einzubeziehen und ihm bei aller Skepsis gegenüber rechtsphilosophischen Reflexionen einen Platz im Rechtssystem zuzuweisen. Darüber hinaus waren stoische Elemente auch in die römische Gesetzesauffassung eingegangen, wo sie in der Aufnahme der Lehre vom v6!1o~ als dem eigentlichen Herrscher über alle göttlichen und menschlichen Angelegenheiten Ausdruck gefunden haben116. Eine generelle legibus solutio des Herrschers mußte angesichts dieses durchaus philosophisch reflektierten Rechts- und Gesetzesverständnisses überaus problematisch sein, hätte sie doch zugleich eine Entbindung von den Grundsätzen der von Natur bestehenden rechten Vernunft bedeutet. In der spätklassischen römischen Jurisprudenz wird daher nicht von ungefähr darauf hingewiesen, es zieme sich für den Prineeps, die Gesetze zu beachten (servare leges)117, während die Kaiser selbst sich zu der Versicherung veranlaßt sehen, ungeachtet ihrer Entbundenheit von den Gesetzen gleichwohl diesen entsprechend zu leben (legibus vivere)118. Als außerordentlich folgenreich für die Vorstellung rechtlicher Gebundenheit des Herrschers sollte sich überdies die Tatsache erweisen, euntur, avium quoque commune est .... Ius gentium est, quo gentes humanae utuntur. Quod a naturali recedere facile intellegere licet, quia illud omnibus animalibus, hoc solis hominibus inter se eommune sit." Vgl. auch lnst. 1, 2 pr. Zur Problematik dieser äußerst folgenreichen Begriffsbestimmung siehe Voggensperger, S. 63 ff.; Flückiger, Geschichte des Naturrechts, S. 267!f. 118 Vgl. etwa die von dem Spätklassiker Marcianus gegebene Gesetzesdefinition, der in Übernahme der Vorstellungen Chrysipps (dazu oben S. 55) in der lex den Herrscher über alle göttlichen und menschlichen Angelegenheiten erblickt: ·OVOf.lo