Preussens Verfassung und Verwaltung: Im Urteile rheinischer Achtundvierziger [Reprint 2020 ed.] 9783111697673, 9783111309460


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German Pages 145 [148] Year 1912

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Literatur-Verzeichnis
Einleitung
I. Urteile über die preussische Verfassung
II. Urteile über die preussische Verwaltung
Schluss
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Preussens Verfassung und Verwaltung: Im Urteile rheinischer Achtundvierziger [Reprint 2020 ed.]
 9783111697673, 9783111309460

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STUDIEN ZUR RHEINISCHEN GESCHICHTE HERAUSOEBER: DR. JUR. ALBERT AHN 3. Heft:

Preussens Verfassung und Verwaltung im Urteile rheinischer Achtundvierziger Von

Dr. phil. Helene Nathan

Bonn 1912 A. Marcus & E. Webers Verlag Dr. jur. Albert Ahn

Vorwort. Die vorliegende Arbeit, die ihre Entstehung einer A n r e g u n g v o n Herrn Professor Dr. Ziekursch in Breslau verdankt, wurde im Jahre 1911 von der Universität Bern als Dissertation angen o m m e n und erhielt durch Ergänzungen u n d Veränderungen, d i e ich auf Veranlassung von Herrn Dr. Hashagen in Bonn vorn a h m , ihre jetzige Gestalt. Für die freundliche Unterstützung, die mir H e r r Prof. Dr. Ziekursch und H e r r Qeheimrat Professor Dr. Kaufmann in Breslau sowie Herr Dr. Hashagen in Bonn bei meiner Arbeit zuteil werden ließen, sage ich hiermit meinen besten Dank. Ursprünglich sollten die im Frankfurter Parlament von 1 8 4 8 / 4 9 geäußerten Meinungen der rheinischen Abgeordneten die alleinige G r u n d l a g e des Ganzen bilden. Da aber das so gewonnene Material nicht ausreichte, richtete ich mein Augenmerk auch auf die dort nicht anwesenden bedeutenden rheinischen Politiker, die schon in den dreißiger und vierziger Jahren auf den Landtagen, in der Presse, in Büchern und Broschüren regen Anteil am öffentlichen Leben bekundet hatten. Erst indem ich ihre politische Wirksamkeit nach allen Richtungen verfolgte, gelang es mir, eine breitere Basis f ü r die Charakteristik der Beurteilung zu gewinnen, die das vormärzliche Preußen bei den rheinischen Politikern jener Jahre fand. W e n n nun auch das Frankfurter Parlament nicht mehr im Mittelpunkt stand, so blieb doch in der ganzen Arbeit erkennbar, daß das Jahr 1848 den Ausgangspunkt gebildet hatte, dieses Jahr, das eine Abrechnung mit dem alten Preußen brachte u n d die rheinischen Politiker, die im Kampfe gegen seine Gebrechen ihre Kräfte geübt hatten, zu bedeutungsvoller Mitarbeit

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auf den Plan rief. Dementsprechend ließ ich im Titel die E r w ä h n u n g des Frankfurter Parlaments fallen u n d gab der Beziehung zum Jahre 1848 Ausdruck. Bei der Bearbeitung des T h e m a s entstand f ü r den zweiten Teil, der die Beurteilung der preußischen Verwaltung behandelt, die Notwendigkeit, Kirchen- und Schulpolitik vorläufig auszuscheiden, weil hier der Stoff so reichhaltig u n d schwierig war, daß eine eigene Arbeit dafür in Aussicht g e n o m m e n werden mußte. Es fehlen fernerhin noch die rheinischen Urteile ü b e r Preußens Justiz, Heerwesen u n d äußere Politik, u m der u r s p r ü n g lichen Absicht gemäß ein vollständiges Bild von den Ansichten der rheinischen Politiker über die preußischen Zustände zu geben.

Inhaltsverzeichnis. E i n l e i t u n g . Die Grundlagen einer spezifisch rheinischen schauung der preußischen Politik Die rheinischen Politiker des Jahres 1848

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1. K a p i t e l . Urteile über die preußische Verfassung. A. B i s 1847. Der Absolutismus der Krone 2. Die politischen Rechte des Volkes a) Die provinzialständische Vertretung Vergleich der neuen politischen Rechte mit den alten und mit den seit 1810 gemachten Versprechungen der Krone. - Zusammensetzung der Provinziallandtage — Kompetenzen b) Die Kreisstände und Stadtverordnetenversammlungen . 3. Verhalten der Krone und des Volkes in der Verfassungsfrage B. 1847 und 1848. 1. Das Patent vom 3. Februar 1847 und der Vereinigte Landtag a) Der Kampf um die Wahrung und um die Erweiterung der alten Rechte b) Pressfreiheit und Judenemanzipation 2. Die Verfassungskämpfe des Jahres 1848 und die oktroyierte Verfassung 2. K a p i t e l . Urteile über die preußische Verwaltung. A. Die äußere Organisation der Verwaltung B. Geist und Wesen der Verwaltung C. Die einzelnen Verwaltungszweige 1. Steuer- und Finanzwesen 2. Wirtschaftspolitik Allgemeine Charakteristik - Zoll- und Handelspolitik Eisenbahnwesen - Post-, Bank- und Bergwesen — die soziale Frage — die Landwirtschaft

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Literatur-Verzeichnis. Die Abgeordneten zur ersten deutschen Reichsversammlung in Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. 1849. G . Adler: Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland. 1885. E. M. Arndt: Die rheinischen ritterbürtigen Autonomen. Leipzig. 1844. H. v. Beckerath: Über den Preußenhaß. Dtsch. Ztg. 1849. 2. Beil. zu Nr. 160 und 161. Derselbe: Die neuesten Landtagsabschiede für die preußische Monarchie. Kölnische Ztg. 1846. Nr. 28, Nr. 33 bis 63. G . v. Below: Territorium und Stadt. 1900. A. Bergengrün: Der Staatsminister August v. d. Heydt. 1908. Derselbe: David Hansemann. 1901. K. Biedermann: Erinnerungen aus der Paulskirche. 1849. Eine Anzahl Artikel der Allgemeinen Deutschen Biographie. Biographische Umrisse der Mitglieder der deutschen konstit. Nationalversammlung zu Frankfurt a M. 1848/49. E. Brandenburg: König Friedrich Wilhelms IV. Briefwechsel mit Ludolf Camphausen. 1906. J. W. J. Braun: Deutschland und die deutsche Nationalversammlung. 1849. K. H. Brüggemann: Preußens Beruf in der deutschen Staatsentwicklung und die nächsten Bedingungen zu seiner Erfüllung. 1843. Derselbe: Der deutsche Zollverein und das Schutzsystem. 1845. Derselbe: Meine Leitung der Kölnischen Zeitung und die Krisen d e r preußischen Politik von 1846—1855. 1855. L. Buhl: Die Gemeindeordnung der östlichen Provinzen des preußischen Staats und die Rheinprovinz. 1846. A. Caspary: Ludolf Camphausen. 1902. P. Darmstädter: Studien zur Napoleonischen Wirtschaftspolitik. Vierteljahrsschr. f ü r Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. II. 1904. K. Deutschmann: Die Rheinlande vor der französischen Revolution. 1902. W. Doenniges: Das System des freien Handels und der Schutzzölle mit vorzüglicher Rücksicht auf den deutschen Zollverein. 1847. Eisenmann: Die Parteyen der teutschen Reichsversammlung, ihre Programme, Statuten und Mitgliederverzeichnisse. 1848. [G. de Failly:] De la Prusse et de sa domination sous les rapports politiques et religieux, spécialement dans les nouvelles provinces. Paris. 1842. C. W. Ferber: Beiträge zur Kenntnis des gewerblichen und kommerziellen Zustandes der preußischen Monarchie. 1829. E. Gothein: Agrarpolitische Wanderungen im Rheinland. In: Staatswissenschaftliche Arbeiten. Festgabe für Knies. 1896.

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David Hansemann: Preußen und Frankreich. 2. Aufl. 1834. Derselbe: Die politischen Tagesfragen mit Rücksicht auf den rheinischen Landtag. Aachen 1846. Derselbe: Das preußische und deutsche Verfassungswerk. Berlin 1850. J. Hansen: Gustav v. Mevissen. 2 Bände, 1906. J. Hashagen: Das Rheinland und die französische Herrschaft. Bonn 1908. Rudolf H a y m : Die deutsche Nationalversammlung. Frankfurt a. M. und Berlin 1848—50. Derselbe: Reden und Redner des ersten Preußischen Vereinigten Landtags. Berlin 1847. Derselbe: Die Literatur des ersten deutschen Parlaments. Allg. Monatsschr. für Literatur. 1850. I. Bd. Karl Heinzen: Die Ehre. Köln 1841. Derselbe: Die preußische Bureaukratie. 1845. „ Öffentliche Dankadresse an die Herren von Itzstein und Hecker. 1845. „ Mehr als 20 Bogen. 1845. „ Ein Stück Beamtenleben oder staatsdienstliche Erfahrungen. 1846. „ Einiges über die teutsche Tagespresse in »Die Opposition." 1846. „ Teutsche Revolution. Oesammelte Flugschriften. Bern 1847. „ Erlebtes. I. Bd. Boston. 1864. „ . II. „ „ 1874. R. Heller: Brustbilder aus der Paulskirche. 1849. Werner Hesse: Geschichte der Stadt Bonn während der französischen Herrschaft. 1879. J. Heyderhoff: J. Fr. Benzenberg. 1909. Derselbe: Immermanns politische Ansichten. Preuß. Jahrb. 1909. Derselbe: Das Verhältnis der Rheinlande zum vormärzlichen Preußen. Kölnische Zeitung. 1907. No. 1041. Rheinische Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform. Herausgeg. von H. Püttmann. 1845. L. F. Ilse: Geschichte der politischen Untersuchungen. 1860. Karl Immermanns Werke. Berlin. 1883. K. Jürgens: Zur Geschichte des deutschen Verfassungswerks von 1848 — 49. 1856. Georg Kaufmann: Politische Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert. 1900. P. Kaufmann: Rheinpreußen und seine staatswirtschaftlichen Interessen. Berlin. 1831. Derselbe: Würdigung der Schrift: Preußen und Frankreich. 1834. » Das dringendste Bedürfnis der Rheinprovinz. 1835. „ Die Staatspflege der Landwirtschaft in Preußen. 1850. H. Kopstadt: H. v. Beckerath. 1875. R. Koser: Die Rheinlande und die preußische Politik. Westdeutsche Zeitschr. für Geschichte und Kunst 1892, Jahrg. 11. Fr. X. Kraus: August Reichensperger. Essays. Berlin. 1901. K. K u m p m a n n : Die Entstehung der Rheinischen Eisenbahngesellschaft 1830-1844. Essen 1910 H . Laube: Das erste deutsche Parlament. 1849. Verteidigung des Oberprokurators Leue in Koblenz gegen die neue und bis dahin unerhörte Anklage wegen Versuchs eines Preßvergehens. Leipzig 1847.

IX W. E. Lindner: Das Zollgesetz von 1818 und Handel und Industrie am Niederrhein. Westdeutsche Zeitschrift 1911. Jahrg. 30. Heft 2/3. Hans Mähl: Die Überleitung Preußens in das konstit. System durch den 2. Vereinigten Landtag. München 1909. F. Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. 1897/98. Band 1. E. v. Meier: Französische Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung Preußens im 19. Jhdt. 2 Bände, 1907. Fr. Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. 2. Aufl. 1911. Mollat: Reden und Redner des ersten deutschen Parlaments. 1895. Deutsche Monatsschrift, herausgeg. von Kolatschek. 1850 und 1851. Die deutsche Nationalversammlung. In D. Gegenwart, 1850, 52 und 54. Neigebaur: Darstellung der provis. Verwaltung am Rhein vom Jahr >813 bis 1819. Köln 1821. Derselbe: Die angewandte Cameralwissenschaft in der Verwaltung des Generalgouverneurs Sack am Nieder- und Mittelrhein. Leipzig 1823. Ph. A. Nemnich: Tagebuch einer der Kultur und Industrie gewidmeten Reise. Tübingen. 1809/10. S. Oelsner: Die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Verhandlungen des Frankfurter Parlaments. Preuß. Jahrb. 1897. H. Oncken: A. Reichensperger. H. Z. 1902. L. Pastor: A. Reichensperger. Freiburg 1899. Band 1. Cl. Th. Perthes: Politische Zustände und Personen in Deutschland zur Zeit der französischen Herrschaft. 1862. G. zu Putlitz: K- Immermann, sein Leben und seine Werke. 1870. Leop. Ranke: Zur Geschichte der deutschen, insbesondere der preußischdeutschen Handelspolitik von 1818 bis 1828. Hist.-polit. Zeitschr. II. Bd. 1833. Fr. Raveaux: Die Kölner Ereignisse vom 3. und 4. August nebst ihren Folgen. Mannheim, 1846. Derselbe: Die Ahr. 1844. Derselbe: Mitteilungen über die badische Revolution. 1850. Derselbe: Einzelne Artikel in der dtsch. Monatsschr. Fr. Raveaux: Sein Leben und Wirken. Köln. 1848. P. Reichensperger: Erlebnisse eines alten Parlamentariers im Revolutionsjahr 1848. 1882. P. Reichensperger: Die Agrarfrage aus dem Gesichtspunkte der Nationalökonomie, der Politik und des Rechts und in besonderem Hinblicke auf Preußen und die Rheinprovinz. Trier. 1847. Derselbe: Die Preußische Nationalversammlung und die Verfassung vom 5. Dezember. Berlin. 1849. Parlamentarische Reden der Gebrüder Reichensperger. Regensburg. 1858. Die erste deutsche Reichsversammlung und die Schriften darüber. Dtsch. Vierteljahrsschr. 1850. A. v. Reumont: Jugenderinnerungen. Herausgeg. von H. Hüffen 1904. Annalen des hist. Vereins für den Niederrhein. F. Rühl: Briefe und Aktenstücke zur Geschichte Preußens unter Friedrich Wilhelm III. 4 B ä n d e 1 8 9 9 - 1 9 0 4 . G. Rümelin: Aus der Paulskirche. 1892. L. Salomon: Geschichte des deutschen Zeitungswesens. Bd. 3. 1905. Fr. Schnabel: Der Zusammenschluß des polit. Katholizismus in Deutschland im Jahre 1848. Heidelberg 1910. Heidelb. Abhandl. zur mittl. und neueren Geschichte.

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Karl Schorn: Lebenserinnerungen. 1898. M. Schwann. Geschichte der Kölner Handelskammer. I. Bd. Köln. 1906. Joh. Seitz: Entstehung und Entwicklung der preußischen Verfassungsurkunde im Jahre 1848. Diss. Qreifswald. 1909. Ludwig Simon: Aus dem Exil. 1855. Derselbe: Ein Wort des Rechts für alle Reichsverfassungskämpfer. 1849. Derselbe: Meine Desertion. 1862. Derselbe: Einzelne Artikel in der dtsch. Monatsschr. B. E. v. Simson: Erinnerungen aus seinem Leben. 1900. Stenogr. Berichte über die Verhandlungen der deutschen konstit. Nationalversammlung in Frankfurt a. M. Herausgeg. von F. Wigard. Frankfurt a. M. 1 8 4 8 - 4 9 . 9 Bde. (zit. Sten. Ber.) . Stenographische Berichte der 1. Kammer. Berlin. 1849A. Stern: Die preußische Verfassungsfrage. 1817. Deutsche Zeitschr. für Geschichtswissenschaft. 1893. K. Stedmann: Beitrag zum Staatsrecht der Herzogtümer am Rhein. Berlin Î847. H. v. Sybel : Die politischen Parteien der Rheinprovinz Düsseldorf 1847. J. Temme: Erinnerungen. Herausgeg. von Stephan Born. 1883. H. v. Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrh. 1879ff. Veit Valentin: Frankfurt a. M. und die Revolution von 1 8 4 8 - 4 9 . 1908. Jacob Venedey: Preußen und Preußentum 1839. Derselbe: Der Rhein. 1841. Derselbe; La France, l'Allemagne et la Ste. Alliance des peuples. 1841. Derselbe: La France, l'Allemagne et les Provinces Rhénanes. 1840. Derselbe: John Hampden nebst einem Nachtrage: Flüchtlings Lehrjahre und Amnestie. 1843. Derselbe: England. 1845. Derselbe: 14 Tage Heimatluft. 1847. Derselbe: Vorwärts und rückwärts in Preußen. 1848. Derselbe: Die Wage. Deutsche Reichstagsschau. 1848-49. Derselbe: An H. v. Treitschke. 1866. Derselbe: Der Südbund. 1867. Derselbe: Die deutschen Republikaner unter der französischen Republik. 1870. Verhandlungen des deutschen Parlaments. Herausgeg. von Jucho, Frankfurt a. M. 1848. Verhandlungen der rheinischen Landtage. 1827-1846. Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der preußischen Staatsverfassung. Berlin. 1848. Verhandlungen des 1. Vereinigten Landtags in Berlin 1847. Hg. von Bleich. 4 Bde. Ferd. Walter: Aus meinem Leben. 1865. R. Walter: Parlamentarische Größen. 1850. J . Weitzel: Briefe vom Rhein. 1834. W. Wichmann: Denkwürdigkeiten aus der Paulskirche. 1888. O . Wiltberger: Die deutschen politischen Flüchtlinge in Straßburg 1830— 1849. Abhandlungen zur mittl. u. neueren Geschichte. 1910. A. Zimmermann: Geschichte der preußisch-deutschen Handelspolitik. 1892. Der neueste Zustand des linken Rheinufers in ökonomischer und politischer Rücksicht. 1804.

Einleitung. In den Maskengesprächen der „Düsseldorfer Anfänge" n e n n t Immermann die Vereinigung der Rheinlande mit Preußen „das größte u n d glücklichste Ereignis, das sich seit J a h r h u n d e r t e n in der deutschen Geschichte zugetragen h a b e ; eine mächtige historische Wahlverwandtschaft sei dadurch gestiftet, die n u r f r u c h t b a r sein k ö n n e . " W e n n wir auch die Superlative in diesem Urteil als subjektive Meinungsä u ß e r u n g beiseite schieben müssen, so bleibt doch bestehen, daß die Vereinigung der Rheinlande mit Preußen ein Ereignis von weittragender B e d e u t u n g w a r ; auch Treitschke würdigt im ersten Bande seiner deutschen Geschichte den Einfluß, den die V e r b i n d u n g „der alten Kulturlande des Rheins mit ihren mächtigen Städten u n d ihrem entwickelten Gewerbfleiß" 2 ) mit Preußen hatte. So bedeutend u n d wertvoll diese Verbind u n g auch war, so schwierig u n d kompliziert erwies sich die Aufgabe, die der preußische Staat durch die Verschmelzung dieser neuen Gebiete mit seinen alten Landesteilen zu lösen hatte. Schwierig war diese Aufgabe, weil es galt, eine Reihe tief einschneidender Gegensätze zu ü b e r b r ü c k e n : Stammescharakter, geschichtliche Entwicklung und bei einem großen Teil der Rheinländer konfessionelle Elemente trafen zusammen, um ihnen unter den Preußen eine besondere, isolierte Stellung zu geben, die sie schon äußerlich dadurch markierten, daß sie sich Rheinpreußen oder N e u p r e u ß e n zum Unterschied von den Altpreußen nannten. Ein natürlicher Gegensatz zwischen Rheinländern u n d Preußen e r w u c h s aus der Verschiedenheit des Stammescharakters. Eine leichtere und f r ö h lichere Veranlagung, ein lebhafteres u n d impulsiveres Temperament bewirken, daß sich der Rheinländer sein Leben ') Heyderhoff, Immermanns politische Ansichten, Augustheft 1909, S. 263. 2 ) Treitschke, Deutsche Geschichte. I, 675. N a t h a n , Freussische V e r f a s s u n g .

Preuß.

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Jahrb.

anders gestaltet als der Norddeutsche, daß es lichtere, reizvollere Farben annimmt. Mit seiner beweglichen, eindrucksvollen Art sieht er die Dinge a n d e r s an, nimmt lebhafter teil, ist leichter begeistert und entflammt, leichter zurückgestoßen u n d verletzt. Dem schwerfälligen und verschlossenen N o r d deutschen steht er g e g e n ü b e r als der flüchtigere, offene und fröhlichere Sohn eines von N a t u r reich ausgestatteten Landes. Welche große Kluft n o r d d e u t s c h e s u n d rheinisches Wesen trennte, können wir deutlich aus Briefen und Schriften Karl I m m e r m a n n s ersehen. Er, der eingefleischte, ernsthafte N o r d deutsche, dessen Temperament ja allerdings noch besonders schwierig war, fühlte sich zunächst in den Rheinlanden wie in einer f r e m d e n Welt, die er als etwas Neues, Sonderbares eifrig studierte. Schon der Willkommensbrief seines Bruders Ferdinand nach Düsseldorf zeigt uns eine scharfe Empfind u n g f ü r den Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Preußen, in das sich nun Karl Immermann einleben sollte. In diesem Briefe beglückwünscht ihn Ferdinand dazu, daß er sich „aus den leidigen Kornfeldern u n d den öden Festungsmauern, aus der Stadt der Regierungs-, Oberlandesgerichts-, Steuer-, Schul- u n d Hofräte gerettet habe in das freie, reinliche Element, in die helle bäum- u n d blütenreiche Stadt unter das f r o h e Volk blauäugiger Phäaken, das in seliger Trunkenheit leichten Herzens und raschen Blutes der G e g e n wart g e n i e ß t . " I n der ersten Zeit gibt I m m e r m a n n selbst in sehr lehrreicher Weise seine Eindrücke k u n d : „Alles lebt hier nach außen, die M ä n n e r sehen einander fast n u r in den Wirtshäusern . . . . der Mißmut kann hier nicht so tiefe Wurzeln schlagen, ein G a n g in die sehr heitre, f r e u n d l i c h e U m g e b u n g wäscht die Seele wieder rein. Desgleichen kann man über die Menschen zwar oft ärgerlich werden, allein es bleibt einem doch der tiefe Ingrimm gegen sie f r e m d . Man sieht nicht dies Verliebtsein in das Allerjämmerlichste am Menschen, nicht die Koketterie mit der eigenen Nichtigkeit. Dergleichen ist f ü r den Rheinländer zu spitz, er lebt v e r g n ü g t in den T a g hinein u n d will nicht mehr sein, als e r ist. W e n n *) K. Immermann, sein Leben und seine Werke, aus Tagebüchern und Briefen an seine Familie zusammengestellt. Herausgeg. von O. zu Putlitz, Berlin 1870. I, 165.

m a n einen Boden f ü r das H e r z hier hat, so ist das leichte, lustige Element, was einen umspielt, gerade recht angenehm." ') In G ö r r e s sieht I m m e r m a n n das Rheinland selbst mit seiner „Berührigkeit u n d Lebhaftigkeit, seinem schnellen Witz, seiner glänzenden Einbildungskraft, seinem schlagenden Verstand u n d seiner Advokatensuade." 2) Rühmlich erscheint ihm an den Rheinländern auch der rege politische Sinn. In den Epigonen heißt e s : „Im Westen herrscht mehr Qemeingefühl, mehr Sinn f ü r das Öffentliche, aber weniger Familiensinn als im Osten. Man kollektiert, petitioniert, stiftet Vereine aller A r t ; ein jeder sucht, w o irgend möglich, in das G a n z e mit einzugreifen." 3 ) Aber neben solchen freundlichen Urteilen finden wir auch a n d e r e weniger günstige. W e n n im Hause Medons in den Gesprächen über die Rheinlande u n d Preußen einer aus der Gesellschaft „das seichte, oberflächliche, unruhige Wesen, den H a n g zum Verleumden und Verkleinern, die Geistesdürre und die Gemütskälte der Rheinländer beklagt", 4) so spiegelt sich in diesem Urteil viel von dem Mißbehagen, das der sich stets nach Berlin sehnende Immermann im rheinischen Kreise e m p f a n d . Der Rheinländer wiederum liebte die schwerfällige Art des Norddeutschen nicht; „das starre, kalte Preußentum", 5 ) das er sich n u r unter strengem Militarismus und pedantischer Nüchternheit verkörpert dachte, schreckte ihn ab. D e r Schilderung I m m e r m a n n s von seinem Düsseldorfer Aufenthalt können wir die, w e n n auch weniger ausführliche, so doch ungemein charakteristische August Reichenspergers von seinem Berliner Aufenthalt im Jahre 1829 entgegenstellen. Er fühlte sich fremd, gleichsam verbannt, „das platte, langweilige Treiben" war ihm zuwider; er kann nicht begreifen, „daß hier eine kräftige Brust gedeihen kann und ein tüchtiges Herz dahinter, hier unter all der lächelnden Misere der d u f t e n d e n Alltagsmenschen"; kurz und vielsagend ist sein Stoßseufzer „Philisterei hinten und vornen".«) l

) ) ») 4 ) 5 ) «) !

Putlitz, Karl Immermann I, 167. Heyderhoff, Immermanns politische Ansichten S. 263. Immermanns Werke, VI. Bd. Die Epigonen, Buch VI, 155. Immermanns Werke, VI. Bd. Die Epigonen Buch VI, 155. Pastor, A. Reichensperger, Freiburg 1899, I, 10. Pastor, A. Reichensperger, Bd. I, S. 23, 24, 26. 1*



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Zu diesem Unterschied im Naturell des Rheinländers und des Preußen kam als ein zweites Moment, das dazu angetan war, eine innige V e r s c h m e l z u n g zu erschweren, die Verschiedenheit der geschichtlichen Entwicklung hinzu, die beide Stämme hinter sich hatten. W ä h r e n d im Osten Deutschlands ein großes, machtvolles Territorium entstanden war, hatte sich am Rhein im Laufe des Mittelalters ein Konglomerat kleiner und kleinster Staaten herausgebildet, deren Zahl vor der f r a n zösischen Invasion im Gebiet der heutigen Rheinprovinz ungefähr 200 betrug. Die Zustände, die sich in diesen Miniaturgebilden entwickelt hatten, werden in den allerschwärzesten Farben geschildert, u n d die schweren Schäden w u r d e n wohl nur deshalb o h n e allzu lautes Murren ertragen, weil die patriarchalische Art des Regiments manche Härten ausglich. Auf dieses patriarchalische Regiment folgte nach den wechselvollen Jahren der französischen Revolution die Herrschaft Napoleons, eine despotische u n d absolute Herrschaft, die aber auf demokratischer G r u n d l a g e beruhte. Alfred v. Reumont charakterisiert sie in seinen J u g e n d e r i n n e r u n g e n folgendermaßen : „Sie war gewaltsam, aber sie war kräftig, einsichtig, k o n s e q u e n t ; e s war ein Despotismus, aber ein mit seltenem Organisationstalent begabter." Die Rheinländer nahmen teil an einem Staat, welcher, bei allem Despotismus und Absolutismus des Herrschers doch eine Art von Verfassung besaß, die einige, wenn auch beschränkte, politische Rechte gewährte u n d also die am Rhein nie ganz ausgestorbene Tradition der ständischen Rechte fortbildete. In Preußen hatte sich dagegen im 18. J a h r h u n d e r t die absolute Staatsform durchgesetzt, in deren Zeichen der unbeschränkte König die Macht der Stände durch die Ausbildung des Beamtentums überwand. Verschieden geartet war auch die rechtliche u n d soziale Entwicklung im Westen und im Osten. Den Rheinländern hatte die französische Herrschaft die großen sozialen Errungenschaften der Revolution gebracht, die V e r n i c h t u n g aller Privilegien des Adels u n d des Klerus, die A u f h e b u n g der bäuerlichen Lasten, die Beseitigung der Z ü n f t e ; dazu kamen die rechtlichen Neuerungen, die Gleichheit aller vor dem Gel

) A. v. Reumont, Jugenderinnerungen. Herausgeg. von H. Hüffer, Annalen des hist. Vereins für den Niederrhein, Köln 1904, 77. Heft, S. 42.



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setz u n d vor dem Gericht, die E i n f ü h r u n g des mündlichen u n d öffentlichen Verfahrens u n d der Schwurgerichte, um in dem Lande Zustände hervorzubringen, hinter denen die altpreußischen nicht so sehr d u r c h das geringere Maß an politischer Freiheit, als durch d a s geringere Maß an Gleichheit zurückstanden. Im Osten blieb eine, wenn auch verminderte, so doch immerhin n o c h starke Privilegierung des Adels in sozialer u n d rechtlicher Beziehung noch lange bestehen. Wie in der Staatsform u n d in den sozialen Verhältnissen, so hatte sich auch im wirtschaftlichen Leben die Entwicklung in den Rheinlanden a n d e r s gestaltet als im Osten ; w ä h r e n d hier die Gutsherrschaft vorherrschte, war im Westen m e h r die G r u n d h e r r s c h a f t , der kleine bäuerliche Besitz zu f i n d e n . D u r c h den Verkauf der geistlichen Güter u n d der Staastgüter w ä h r e n d der französischen Zeit und durch die A u f h e b u n g der bäuerlichen Lasten hatte sich die Lage des Bauernstandes im Westen noch bedeutend verbessert, u n d der Gegensatz gegen den Osten, wo die Ablösung der bäuerlichen Lasten nur langsam und bedingt erfolgte, w u r d e immer schroffer. Endlich verschärfte sich der wirtschaftliche Gegensatz noch dadurch, daß in der französischen Epoche jene große Entwicklung der rheinischen Industrie einsetzte, die schließlich dahin führte, daß der Westen als vorwiegend industrielles Gebiet dem mehr agrarischen Osten gegenüberstand. Schwieriger als alle diese Differenzen gestalteten sich die Gegensätze, die aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses zwischen den überwiegend katholischen Bewohnern der Rheinlande und den protestantischen Preußen erwuchsen. Zu schildern, wie sich die Verhältnisse in dieser Beziehung entwickelten, würde bei der Kompliziertheit der D i n g e ein eigenes Kapitel erfordern. Von B e d e u t u n g f ü r die vorliegende Arbeit ist es nur, festzustellen, daß bei einem Teil der rheinischen Politiker der klerikale Standpunkt mitbestimmend bei ihrem Urteil über die preußischen Zustände war. Das, was die Rheinländer von den Preußen trennte, bildete f ü r sie untereinander ein einigendes B a n d ; bei M ä n n e r n Vgl. Q . v

Below, Territorium u n d Stadt, S. 1 ff.

der verschiedensten Parteirichtung tritt der Stammescharakter, das lebhafte, feurige Temperament hervor, das in vielen Erinnerungen aus der Paulskirche 1 ) als rheinische Eigenart bezeichnet wird. Waren auch die Meinungsverschiedenheiten unter ihnen noch so groß, so blieb doch immer die Gemeinsamkeit der geschichtlichen Erinnerungen, der Stolz auf die Errungenschaften der napoleonischen Zeit und vor allem der Stolz auf ihre schöne Heimat, die sie so oft die wertvollste, die wichtigste Provinz des preußischen Staates nannten, die ihnen besonders ausgezeichnet schien als eine Stätte alter, ruhmreicher Kultur. Den Preußenstolz kannten sie nicht, die preußische Tradition war ihnen weniger ans Herz gewachsen, und die dynastische Anhänglichkeit der Altpreußen war nur in geringem Grade oder gar nicht bei ihnen vorhanden. Mit starkem Selbstgefühl erfüllt und in vollem Bewußtsein all der Vorteile, die ihnen Natur und Geschichte verliehen hatte, glaubten die Rheinländer, den Altpreußen in manchem überlegen zu sein; daher die Klage E. M. Arndts im Frankfurter Parlament: „Die Rheinländer bilden sich ein, daß sie den Nordländern weit voran sind, daß sie geistreicher, witziger sind." 2 ) .Sie bildeten sich aber das nicht bloß ein, sondern sie hatten in der Tat manches voraus; ihnen war ja das Vollkommenste von zwei der größten Staaten Europas, von Preußen und Frankreich, mitgeteilt worden. 3 ) Mit der Eroberung der Rheinlande setzt Peter Reichensperger eine neue Epoche in der preußischen Geschichte an, und er orientiert die ganze innere Politik Preußens unter dem Gesichtspunkt dieser rheinischen Erwerbung.*) Als Bannerträger der freien französischen Institutionen fühlten sich die Rheinländer gewissermaßen zu einer großen Mission berufen; sie wollten „dem Landesherrn Brücken bauen zum Übergang von den älteren Zuständen zu den neueren", 5 ) Preußen in die Reihe ') vgl. Biedermann und Laube. ) Sten. Ber. I, 657. s ) P. Kaufmann, Rheinpreußen und seine staatswirtschaftlichen Interessen in der heutigen europäischen Staatenkrise Berlin 1831, S. 137. 4 > Die Agrarfrage, S. 2 9 - 3 2 . 5 ) Verhandl. des deutschen Parlaments, Frankfurt a. M. 1848, herausgeg. von Jucho, II, 18, Rede Stedmanns. a



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der Verfassungsstaaten einführen und in den deutschen Ideen bestärken; ihnen g e b ü h r t e nach Mevissens Meinung die Leit u n g des Staates. 1 ) In der B e w e g u n g der vierziger Jahre spielten die Rheinländer eine bedeutende Rolle; ihre politischen Führer taten sich auf dem Vereinigten Landtag und dem Frankfurter Parlament in ganz besonderem Maße hervor. Auch der König erkannte diese Überlegenheit der Rheinländer an, indem er bei der E r ö f f n u n g des Vereinigten Landtags von 1847 zu ihnen sagte: „Auf Euch rechne ich ganz b e s o n d e r s bei dem bevorstehenden großen Werke. Alle Eure bisherigen V e r h a n d l u n g e n zeugen von Eurem parlamentarischen Takt, von Eurem hohen, unbestechlichen G e f ü h l f ü r Schicklichkeit. Ihr seid in der politischen Bildung meinen übrigen Staaten vorausgeeilt. Ich rechne fest auf E u c h ; Ihr werdet ihnen mit gutern Beispiel v o r a n g e h e n . " 2 ) Unter diesen eben hier erörterten Gesichtspunkten sollen die rheinischen Politiker u n d ihre Urteile über Preußen betrachtet werden.

Die rheinischen Politiker des Jahres 1848. W e n n von der Parteiverteilung der rheinischen Abgeordneten im F r a n k f u r t e r Parlament ein Rückschluß auf die politischen S t r ö m u n g e n im Rheinland gezogen wird, so ergibt sich, daß zwei herrschende Richtungen vorhanden s i n d : Liberalismus u n d Radikalismus. Von 37 Abgeordneten gehören 2 zur äußersten Rechten, 19 zum rechten Zentrum (also zu den Gemäßigtliberalen), 16 zur vereinigten Linken (alsc zu den Radikalen). In der Tat steht ja die politische Ges i n n u n g des Rheinlandes in den dreißiger u n d vierziger Jahren im Zeichen des Liberalismus und des Radikalismus; dazu tritt aber nach dem Kölner Kirchenstreit die klerikale Bew e g u n g , die schnell zu ungeheurem Einfluß gelangte u n d ihre Vertreter sowohl ins Frankfurter Parlament als in die preußische Nationalversammlung sendet. Bei einem Bilde von der Parteiverteilung k o m m t sie nur deshalb nicht z u m Ausdruck, weil die Klerikalen sich 1848 noch nicht zu einer 1

) Brief Mevissens vom 9. II. 1848. Hansen I, 507. ) Nach Mevissens Bericht aus einem Brief vom 13. April 1847. Hansen II, 237. 2



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eigentlich gesonderten Partei zusammengetan hatten; sie gingen in den anderen Parteien auf, und der größte Teil von ihnen stimmte nur in Kirchenfragen zusammen, so wie sie sich in ihrem katholischen Verein zuvor darüber geeinigt hatten. Der Kommunismus ist damals erst in der Entwicklung begriffen und hat im Frankfurter Parlament noch keinen Vertreter. In einer Zeit, in der es noch keine festen Parteien u n d Programme gibt, fehlen natürlich auch die eingeschworenen. Parteipolitiker, und wenn im folgenden von den Meinungen der Liberalen, Radikalen und Klerikalen die Rede ist, so muß ganz besonders darauf aufmerksam gemacht werden, daß irt dieser oder jener Frage starke Abweichungen einzelner stattfinden, und daß es sich immer nur um durchschnittliche Ansichten handeln kann. Die Führer des rheinischen Liberalismus sind in den vierziger Jahren Camphausen, Hansemann, Mevissen und Beckerath. Alle vier sind die Vertreter des Bürgertums, das sich in der Revolution von 1848 den ihm gebührenden Platz im öffentlichen Leben zu erringen suchte; alle vier gehören derselben Parteirichtung an, und doch repräsentiert jeder von ihnen einen besonderen Typus. Der klarste Charakter unter ihnen ist zweifellos Gustav M e v i s s e n (1815—99), den Hansen durch seine Biographie uns ganz besonders nahe gebracht hat. In dem kleinen Städtchen Dülken bei Crefeld geboren, empfing er im Kölner Gymnasium seine Schulbildung, verließ es aber schon in Tertia, um in das väterliche Geschäft einzutreten. Mit einer starken intellektuellen Begabung, mit scharfem Verstand und eindringender Urteilskraft ausgestattet, arbeitete er sich als Autodidakt in sehr verschiedene Gebiete der Wissenschaft hinein und gewann eine vielseitige, umfassende Bildung. Dazu gesellte sich ein warmes, tiefes Gemüt und eine edle, humane Gesinnung. Die ganze Kraft seiner Persönlichkeit setzte dieser Mann ein, als er am politischen Leben seiner Zeit Anteil nahm, auch hier mit der ihm eigentümlichen gründlichen und gewissenhaften Art alles erwägend und prüfend und „keinen Schritt weitergehend, als der feste Boden unter ihm reichte." Stets w a r J

) K. Biedermann, Erinnerungen aus der Paulskirche, S. 256.

er dabei bemüht, praktische Resultate zu erzielen, auch den speziellsten Fragen des staatlichen L.ebens widmete er sein Interesse; aber er vergaß nie die g r o ß e n Gesichtspunkte, die ihn die U n t e r o r d n u n g des einzelnen unter das Ganze, Ausgleichung der Gegensätze, h a r m o n i s c h e s Zusammenwirken aller fordern ließen. Er gehörte zu d e n gefeierten Oppositionsmännern des Vereinigten Landtags, auf dem er auch rednerisch häufig hervortrat; doch es scheint, daß er als Redner u n d namentlich in der Debatte nicht sehr erfolgreich war. Daher beschränkte er im Frankfurter Parlament, nachdem er die Stellung eines Unterstaatssekretärs im Handelsministerium erhalten hatte, seine Wirksamkeit auf eine erfolgreiche Tätigkeit in den Kommissionen. Fr war einer der energischsten Vertreter der Erbkaiseridee, einer, der niemals m ü d e wurde, auf ein freies, einiges Deutschland unter Preußens F ü h r u n g zu hoffen. Am nächsten als Mensch u n d Politiker steht Mevissen sein treuer Freund H e r m a n n v o n B e c k e r a t h (1801—70). Er w u r d e in Crefeld geboren u n d trat ebenso wie Mevissen schon frühzeitig, mit 14 Jahren, in die kaufmännische Laufbahn ein, in der er es vom Lehrling zum Teilhabier eines großen Bankhauses b r a c h t e ; zuletzt g r ü n d e t e er ein selbständiges Bankgeschäft, das er mit großem Erfolg leitete. Schon auf den rheinischen Landtagen zeichnete er sich als einer der kühnsten politischen Kämpfer aus, u n d sein Auftreten auf dem Vereinigten Landtag e r w a r b ihm Popularität in den weitesten Kreisen Deutschlands. Den H ö h e p u n k t seiner politischen Wirksamkeit erreichte er, als er, ins Frankfurter Parlament gewählt, Finanzminister der provisorischen Reichsregierung w u r d e u n d in seiner einflußreichen Stellung mit unermüdlichem Eifer u n d dem Gewicht seiner bekannten Persönlichkeit f ü r die Ideale der Erbkaiserpartei stritt. W e n n an Mevissens Erscheinung eine gewisse Erdenschwere haftet, so zeichnet ihn die feine Ästhetik, das Stilgefühl u n d der Zartsinn des Schöngeistes aus. Mit Recht hebt Haym den starken Anteil hervor, den die ästhetische Kultur der Blütezeit unserer Literatur an seiner Bildung h a t ; 1 ) er teilt mit Mevissen den *) Haym, Reden und Redner des ersten Preuß. Vereinigten Landtags, S. 260.



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sittlichen Ernst, den Glauben an das Gute und Schöne im menschlichen Leben, aber bei ihm ist alles durch „den Schimmer der Poesie" verklärt. Wenn Mevissens Charakter ganz einheitlich vor uns steht, so werden wir bei Beckerath durch die Fülle entgegengesetzter Eigenschaften überrascht, die in ihm wohnten. Mit einem milden, versöhnlichen Wesen vereinte er Festigkeit und Entschlossenheit, und, obwohl die phantasievolle, poetische Ader überall bei ihm durchblickte, wußte er klar und unbeirrt zu entscheiden, wo es not tat. Gewiß ist, daß die Weichherzigkeit und Schwärmerei, die man ihm oft zum Vorwurf machte, ihn manchmal hinderte, so kraftvoll und rückhaltlos durchzugreifen wie Mevissen. Mehr als diesem war ihm oratorische Begabung zu eigen; stets waren seine Reden von „lyrischen P a t h o s " 2 ) getragen, und seine tief religiöse, etwas salbungsvolle Eigenart brachte es mit sich, daß sie oft den Eindruck von Kanzelreden machten. Fast noch mehr als Mevissen fühlte er sich ausschließlich als Deutscher, so daß Biedermann in seinen „Erinnerungen" von ihm sagt: „Deutscher gesinnt als er war wohl keiner in der Versammlung; in ihm, dem Preußen, war auch nicht ein Tropfen spezifischen Preußentums." 3 ) Er selbst nennt sich ja einen „der deutschesten P r e u ß e n " , 4 ) und in der Tat ging ihm Deutschlands Ehre, Einheit und Freiheit allem anderen voran. Als Mensch wie als Politiker steht Ludolf C a m p h a u s e n (1803—90) den beiden stets treu zusammenhaltenden Freunden, Mevissen und Beckerath, ferner Camphausen wurde in Hünshoven bei Geilenkirchen im Regierungsbezirk Aachen geboren und machte, nachdem er auf dem Gymnasium und auf Handelsschulen seine Ausbildung genossen hatte, seine Lehrzeit in Düsseldorf durch. 1826 gründete er in Köln ein Bankgeschäft und wurde bald einer der ersten Kaufleute der Stadt und später Präsident der Handelskammer, stets ausgezeichnet durch einen lebhaften Unternehmungsgeist, der ihn zu reger Anteilnahme an den Eisenbahn- und Dampfschiff1

) 1. c. S. 268.

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) Treitschke, Deutsche Geschichte, V, S. 620.

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) S. 254.

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) Kopstadt, H. v. Beckerath, S. 154.



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fahrtsangelegenheiten der Provinz veranlaßte. Auch er trat schon auf den rheinischen Landtagen f ü r eine Ausgestaltung der politischen Rechte des Volkes ein u n d gehörte auf dem Vereinigten Landtage zu den Mitgliedern der Opposition. Nach dem 18. März w u r d e er preußischer Premierminister, legte aber sein Amt nieder, als er einsah, daß zwischen dem König u n d der Berliner Nationalversammlung eine Vermittlung u n d E i n i g u n g in seinem Sinn nicht möglich war. D e n Eintritt ins Reichsministerium in Frankfurt lehnte er ab, n a h m aber d a n n die Stellung eines preußischen Bevollmächtigten bei der Zentralgewalt an. Als er seine G e s i n n u n g in der deutschen Frage mit den A n s c h a u u n g e n der Regierung nicht mehr f ü r vereinbar hielt, reichte er sein Entlassungsgesuch ein. Von Beckerath u n d Mevissen unterscheidet ihn die bedingungslose Vorherrschaft des Verstandes. Eine kühle, zurückhaltende u n d verschlossene Natur, liebte e r es, sich Reflexionen u n d philosophischen Grübeleien hinzugeben. H u manität u n d idealer Sinn waren auch ihm in hohem G r a d e eigen, aber seine vornehme Ruhe, seine abwägende, sehr gemessene Art erschwerten es ihm, die Herzen zu e r o b e r n . Von seinen G e g n e r n mußte er als Politiker oft den Vorwurf der Apostasie hinnehmen, u n d in der Schilderung eines Radikalen jener Zeit spielt „dieser Zweckmäßigkeitsmensch", der allen „absoluten Wahrheiten" so abhold war, eine üble Rolle. Diese Richtung, lieber das Mögliche zu ergreifen als unerreichbaren Idealen nachzujagen, teilt er mit Mevissen u n d Beckerath. G a n z sicherlich aber w a r er mehr zu Konzessionen bereit und in seinem Liberalismus weniger entschieden als diese beiden. W e n n Treitschke ihn einen „durch und d u r c h preußisch gesinnten Patrioten" 2 ) nennt, — ein Urteil, das etwas einzuschränken ist — so geht schon daraus hervor, daß er sich hier ziemlich weit von Mevissen u n d Beckerath entfernte ; die preußische G e s i n n u n g ist bei ihm stärker, die deutsche schwächer als bei diesen. Unter den Führern des rheinischen Liberalismus ist David H a n s e m a n n (1790—1864) unzweifelhaft die am wenigsten liebenswürdige u n d am wenigsten Sympathie einflößende 2

R. Walter, Parlamentarische Grössen, Bd. I, Camphausen, S. 2. ) Treitschke, Deutsche Geschichte, V, 646.



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Persönlichkeit. Er wurde in Finkenwerder bei Hamburg geboren, kam im 15. Jahr als Lehrling nach Rheda und eröffnete 1817 in Aachen ein Wollgeschäft, das er zu hoher Blüte brachte. Obwohl e r kein geborener Rheinländer war, lebte er sich doch völlig in die rheinische Atmosphäre ein und beteiligte sich mit regem Eifer an den großen industriellen Unternehmungen und Verkehrsanlagen der Provinz; stets unterstützte er gemeinnützige Anstalten und Einrichtungen mit seinem Interesse und seiner Tatkraft. Schon im Jahre 1830 tat er einen kühnen'und freimütigen Schritt ins politische Leben, indem er dem König in einer Denkschrift seine Ansichten über die damaligen Zustände in Preußen und seine Wünsche für die Zukunft mit großer Offenheit und mit klarem, scharfem Blick darlegte. Von da ab nahm er durch seine Schriften und sein Auftreten im Provinziallandtag Stellung zu allen die Zeit bewegenden politischen Fragen, bis auch er im Vereinigten Landtag unter den Männern der Opposition den Kampf gegen die Regierung in schärfster Form führte. Nach den Märztagen wurde er Finanzminister und nach Camphausens Austritt Premierminister. Er schied a u s diesem Amte im September 1848, als er sich, von der Linken befehdet, von der Rechten nicht genügend unterstützt, in seiner Stellung nicht mehr behaupten zu können glaubte. Hansemann unterscheidet sich von Mevissen, Beckerath und Camphausen dadurch, daß bei ihm der Idealismus mehr fehlt. Für ihn ist meist der Nützlichkeitsstandpunkt maßgebend; mit scharfem Verstand, imit Energie und Rücksichtslosigkeit und nicht ohne Selbstbewußtsein geht er seinen Weg, ungleich mehr geneigt zu raschem und entschlossenem Handeln als Camphausen. Haym sagt von i h m : „Sein Charakter ist ein wenig durch die Klugheit, sein Rechtssinn ein wenig durch den Z u g nach dem Nützlichen verfälscht." Eben das, daß e r stets nur so klug und stets nur so praktisch dachte -und .handelte, daß ihn selten eine Regung des Gefühls beirrte, daß er die idealen Motive beiseite schob, eben das macht seine der Zeit etwas fremde Eigenart aus. In der Politik ging er, von den Ideen des belgisch-französischen Liberalismus stärker be-

' ) Haym, Reden und Redner, S. 388.



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einflußt als seine Gesinnungsgenossen, i m m e r ein wenig seinen eigenen W e g , hatte seine b e s o n d e r e n Ideen u n d P l ä n e ; vor allem trennte er sich in der deutschen Frage von Beckerath u n d Mevissen, indem er m e h r n o c h als C a m p h a u s e n f ü r das preußische als f ü r das deutsche Interesse eintrat. Von vielen Seiten ist ihm der Vorwurf g e m a c h t w o r d e n , daß er die selbstsüchtige Politik des Bourgeois verfolgt habe, d e r glaube, daß auf seiner Kaste allein der Staat beruht. Haym bestätigt diesen Vorwurf und schwächt ihn zugleich ab, indem er von H a n s e m a n n sagt: „Seine Politik ist nicht frei von H e r r s c h s u c h t ; er sucht das Nützliche im Interesse der Sache, ein wenig vielleicht im eigenen, vor allem im Interesse d e s Vaterlandes." 0 Neben diesen hervorragendsten F ü h r e r n des rheinischen Liberalismus k o m m e n noch Karl S t e d m a n n u n d K. H. B r ü g g e m a n n in Betracht. Stedmann war Gutsbesitzer in H a u s Besselich bei Koblenz und hatte, als er ins Frankfurter Parlament eintrat, schon eine lange politische Tätigkeit auf den rheinischen Landtagen, im Vereinigten Landtag, auf der Heidelberger V e r s a m m l u n g und im Vorparlament hinter sich. Biedermann sowohl als Laube heben seine ehrliche Gesinnung, seinen wahrhaft deutschen Charakter hervor. Daß er „ein guter Preuße, aber ein noch besserer D e u t s c h e r " 2 ) war, stellt ihn dicht neben Beckerath u n d Mevissen, denen er auch durch seinen sehr entschiedenen Liberalismus ähnelt. K. H. B r ü g g e m a n n ist zwar ein geborener Westfale (1810 in Hopsten, Regbez. Münster geb.), bewegte sich aber als Mitarbeiter der Rheinischen Zeitung u n d als Chefredakteur der Kölnischen Zeitung, die er von 1846—55 leitete, in dem Ideenkreis der rheinischen Liberalen, zu denen e r auch in persönliche Beziehungen trat. Den Druck und die Härten der preußischen Reaktionszeit hatte er am eigenen Leibe erfahren. W e g e n Teilnahme an einer burschenschaftlichen V e r b i n d u n g u n d wegen seiner Reden auf dem H a m bacher Fest zum T o d e verurteilt, w u r d e er, nachdem das Todesurteil in Festungshaft umgewandelt w o r d e n war, d u r c h die Amnestie Friedrich Wilhelms IV. 1840 aus achtjähriger l

) Haym, Reden und Redner, S. 391. ') Biedermann, Erinnerungen, S. 343.



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Haft befreit. Trotz dieses Erlebnisses blieb ihm jede Spur von Bitterkeit fern; so klar er auch die Schwächen Preußens erkannte, so offen er sie darlegte, dennoch war gerade er besonders lebhaft davon durchdrungen, daß in Preußen „die wesentlichen Elemente des ersehnten Staates vorhanden seien" und daß es nur auf ihre Fortbildung und gegenseitige Durchdringung ankomme. — Während unter den rheinischen Liberalen die Männer des praktischen Erwerbslebens vorherrschten, spielten bei den Radikalen schriftstellernde Flüchtlinge und Advokaten die Hauptrolle. Wenn den Männern der Linken im allgemeinen von den meisten Seiten Haß und Verachtung entgegengebracht, wenn ihnen der Vorwurf der Selbstsucht, der Ungeberdigkeit und niederer Absichten gemacht wurde, so muß man die Mehrzahl der rheinischen Radikalen hiervon ausnehmen. Auch sie waren Theoretiker und Doktrinäre, auch sie hatten nur einen Gott, dem sie alles opferten: die Freiheit. Aber sie dienten diesem Gott in ehrlicher Anbetung, in selbstloser Hingabe und mit dem höchsten Enthusiasmus. Sie stritten für unmögliche, unerreichbare und verkehrte Ziele, aber deshalb darf die Reinheit ihrer Überzeugung und ihres Wollens nicht verkannt werden. Venedey, Raveaux und Simon, alle drei nahmen eine bedeutende Stellung in der Partei der Linken ein; sie gehörten nicht derselben Fraktion an, und zwischen Venedey und Simon besteht eine erhebliche Differenz; von Venedey zu Raveaux und von Raveaux zu Simon steigert sich der Radikalismus in sehr starkem Maße. Wenn ich sie im Folgenden als eine Gruppe zusammenfasse, so geschieht das, weil sie in ihren Ansichten über Preußen nicht so sehr voneinander abwichen. Jakob V e n e d e y (1805—71) wurde in Köln geboren und verbrachte seine Jugend unter Einflüssen, die f ü r seine spätere Entwicklung bestimmend waren. Sein Vater, der Advokat Michel Venedey, war ein eifriger Verehrer der französischen Freiheitsideen und betätigte sich bei ihrer Ausbreitung in den Rheinlanden in hervorragendem Maße. Der Knabe, dem der Vater die Marseillaise und Schillers „Lied an ') Preußens Beruf in der deutschen Staatsentwicklung, S. 72.



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die Freude" oft vorsang, w u r d e begeisterter Burschenschafter u n d erregte durch seine G e s i n n u n g bald Verdacht. Nach der Teilnahme am Hambacher Fest w u r d e er verhaftet, machte aber 1832 einen erfolgreichen Fluchtversuch und lebte von n u n an 13 Jahre in Frankreich, meist in Paris, w o er eine Zeitlang zu den Häuptern der hier versammelten Verschwörer und Geächteten aller Nationen zählte, und wo die Fäden so manchei politischen B e w e g u n g d u r c h seine H a n d liefen. 1848 kehrte er zurück, nahm am Vorparlament und am Frankf u r t e r Parlament teil. Er sprach u n d schrieb sehr viel, ja zuviel, u n d dies Zuviel schadete ihm. Die Urteile über ihn sind im allgemeinen nicht günstig u n d machen mehr seinem Herzen als seinem Verstände Ehre. W e n n man auch unbedingt zugestehen muß, daß ihm Schärfe, Klarheit u n d Konzentration mangelten, so ist doch Treitschkes hartes Urteil, daß er „von geringer Bildung u n d noch geringerem Verstand" ') war, nicht gerechtfertigt. Ein Mann von so schrankenlosem Idealismus, der mit seinen Beglückungsplänen Welt und Menschheit umfaßte, konnte nicht fähig sein, in praktischer, staatsmännischer Weise zu erwägen u n d logisch zu entscheiden. In einem Nekrolog wird er sehr richtig als „die typische Inkarnation des heißblütig u n d ungewiß hin- und hertappenden idealistischen Strebens des Jahres 1848" 2 ) bezeichnet. Wie leicht ihn die Beweglichkeit seines Temperaments zu M e i n u n g s ä n d e r u n g e n führte, wie sehr er Stimmungsmensch war, beweisen seine beiden Bücher „Vierzehn Tage Heimatluft" und „Vorwärts und rückwärts in Preußen". D e r U m s c h w u n g der preußischen Verhältnisse nach der T h r o n b e steigung Friedrich Wilhelms IV. verleitet ihn hier zu einer Hoffnungsseligkeit und einer Milde in der Beurteilung, die f ü r einen Mann von seinen G r u n d s ä t z e n u n d seiner Vergangenheit entschieden b e f r e m d e n d sind. Die Stürme des Revolutionsjahres verschärften seine Opposition wieder um ein Bedeutendes, u n d ein energischer G e g n e r des Preußent u m s blieb er im G r u n d e g e n o m m e n immer, n u r daß e r

*) Treitschke, Deutsche Geschichte IV, 542. 2 ) Allgem. Dtsch. Biogr. Aus dem Nekrolog in „Unsere Zeit", Leipzig 1871, S. 649.



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sich von den Ungerechtigkeiten u n d Übertreibungen der Schrift „Preußen und P r e u ß e n t u m " später fern hielt. Die entschiedenen Demokraten aber, denen sein Radikalism u s viel zu unbestimmt war, konnten ihm seine Schwankungen nicht verzeihen; sie erkannten auch seine sonstigen Schwächen sehr wohl, u n d wenn sie ihn „das blonde Gemüt", „die .Reichsträne" nannten, so bezeichneten sie damit seine H a u p t s c h w ä c h e : die sentimentale Schwärmerei. Unter dem Überschwang seiner Worte, unter den Aufwallungen seines edlen H e r z e n s verloren sich die wahren u n d richtigen Gedanken, die er oft ebensogut wie andere Parteigenossen hatte. Daß e r sich nicht beschränken konnte, war sein Fehler; aber alle Schwächen und Fehler treten zurück, wenn man bedenkt, daß der Edelmut seiner Gesinnung, sein lebendiger deutscher Patriotismus und sein felsenfester Glaube, der ihn nie an seinem deutschen Vaterlande verzweifeln ließ, trotz der bittersten E r f a h r u n g e n u n d Enttäuschungen nicht litt. Bedeutend kraftvoller als Venedey ist Franz R a v e a u x (1810—51). Er w u r d e in Köln als Sohn des a u s Frankreich stammenden Magazin- u n d Fourageverwalters Peter Raveaux geboren. Kühn u n d verwegen von J u g e n d an, f ü h r t e er ein abenteuerliches Leben, nahm an der belgischen Revolution teil, kämpfte mit großer Tapferkeit unter den Christinos in Spanien u n d kehrte dann in sein Vaterland zurück, wo er sich 1837 in Köln als K a u f m a n n niederließ. Hier e r r a n g er bald als populärer Redner in Vereinen große Erfolge, schürte die politische Opposition u n d beteiligte sich an allen Fragen des öffentlichen Lebens. Ins Vorparlament u n d dann auch ins Frankfurter Parlament gewählt, gewann er durch geschicktes u n d vermittelndes Eingreifen in wichtigen Momenten bald einen bedeutenden parlamentarischen R u h m ; er war, wie Biedermann in seinen Erinnerungen sagt, „ d e r Löwe des P a r l a m e n t s " . D a s Ansehen, das er auch bei der Rechten genoß, verblaßte aber, als er in seiner Stellung als Gesandter der provisorischen Reichregierung in Bern nicht das hielt, was die Rechte von ihm erwartet hatte. Bei der AufS. 386.



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lösung des Parlaments betätigte er sich ganz im Sinne der radikalen Linken, griff in den badischen Aufstand ein u n d wurde vom Stuttgarter Rumpfparlament zum Reichsregenten erwählt. Raveaux hatte, wie seine Zeitgenossen berichten, alles, was zum Volkstribunen gehört, eine anziehende, auch äußerlich gewinnende Persönlichkeit, ein ritterliches Wesen, ein gemütliches, einfaches Auftreten. Die „seltene Naivetät", die ihn auszeichnete, „die wunderbare Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der er meist das Richtige herausfand" und seine lebendige Beredsamkeit waren Eigenschaften, die ihm eine große Wirksamkeit sicherten. Ungleich schärfer und bestimmter als Venedey, war er mehr zu tätigem Eingreifen geneigt; er scheute auch die letzten Konsequenzen nicht, und wenn Biedermann ihm nachsagt, daß er etwas vom „Diktator Deutschlands" 2) in sich fühlte, so mag wohl eine gewisse Wahrheit in diesem Urteil liegen. In den über ihn vorhandenen Notizen wird meist seine Schweizer Tätigkeit als ein Wendepunkt seiner parlamentarischen Laufbahn bezeichnet; man will von nun an eine Abkehr von vermittelnden Tendenzen, eine immer stärkere Hinneigung zum Radikalismus bei ihm beobachten und im Gefolge davon ein Verbleichen seines Ruhmes. Mir scheint jedoch, als ob bei dieser Auffassung die Täuschung mitwirkte, in der sich die Rechte über ihn befand. Ich glaube, daß ihn von Anfang an derselbe schroffe Oppositionsgeist erfüllte und daß nur die kluge Mäßigung, mit der er manches zu erreichen dachte, über seine Grundsätze hinwegtäuschte. Sie waren die gleichen, als er, an der Möglichkeit ihrer völligen Durchsetzung zweifelnd, durch vermittelnde Tätigkeit ihnen wenigstens das Leben zu retten suchte; sie waren die gleichen, als er keinen anderen Ausweg mehr für sie fand als den revolutionären Kampf. Ihm wesensverwandt ist Ludwig S i m o n (1819—72), nur daß bei ihm die Eigenschaften Raveaux' ins Große gesteigert sind. In Trier als Sohn eines Gymnasiallehrers geboren, studierte er Jura und wurde in seiner Vaterstadt Advokat. Als solcher trat er, unbekannt im öffentlichen Leben, erst 29 Jahr L. Simon, Aus dem Exil I, 59. ) Erinnerungen, S. 389. N a t h a n , Preussische Verfassung. 2

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alt, ins Frankfurter Parlament und eroberte sich in dieser an bedeutenden Namen so reichen Versammlung durch seine glänzenden Gaben eine hervorragende Stellung, gewann sich eine Achtung, die ihm kaum einer, auch seiner erbittertsten Gegner, versagte. S o stark der Radikalismus und Fanatismus seiner Ideen abstößt, ebenso stark fesselt seine Persönlichkeit, um welche, wie einer seiner Zeitgenossen sagt, die Linke zu beneiden war. Er war nach Biedermanns Schilderung „der fanatischste, aber auch ehrlichste Apostel der Demokratie unter der ganzen Linken zu Frankfurt", er war „der reine logische Gedanke, der sich selbst d e n k t " . 2 ) In ihm wühlte das Feuer revolutionärer Leidenschaft mit verzehrender Glut, er war berauscht von der Macht der Ideen, die er mit der ganzen Überzeugungskraft seines starken Geistes vertrat. Eben dieser unerschütterliche Glaube an den Sieg der demokratischen Idee und die jedes Ausdrucks fähige Beredsamkeit, mit der er diesen Glauben predigte, packte seine Hörer und zwang auch Männer in seinen Bann, die seinen Ansichten weltenfern gegenüberstanden. Mit rücksichtsloser Offenheit deckte er seine Ideen und Pläne auf im Bewußtsein, daß sie richtig und gut seien; selbstische Gedanken mußten ihm, der nur seinem Glauben lebte, fremd bleiben. Die versöhnliche und vermittelnde Art Raveaux' fehlte ihm ganz, und doch verfiel er bei aller Schärfe seiner Reden nie in das wilde Wutgeschrei eines revolutionären Spießgesellen, sondern er behielt stets trotz stürmischer Leidenschaft und vernichtenden Hohns das Große eines von seiner Sache ganz beseelten und nur für die Sache sich aufopfernden Kämpfers. Neben ihm erscheint sein Fraktionsgenosse, der Advokat Otto W e s e n d o n k aus Düsseldorf, kalt und blutleer. Er ähnelt Simon an Radikalismus der Gesinnung, aber in seinen Reden dominiert gewandte juristische Dialektik; der sprühende Geist und die Wärme Simons gehen ihm völlig ab. An diese Radikalen muß K a r l H e i n z e n ( 1 8 0 9 — 8 0 ) angereiht werden, ohne daß damit eine andere Gemeinsamkeit als die des Eintretens für republikanische Freiheit a n g e Robert Heller, Brustbilder aus der Paulskirche, S. 172. 2

) Erinnerungen, S. 407, 408.



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deutet werden soll. Er w u r d e in Grevenbroich, Regierungsbezirk Düsseldorf geboren, besuchte das Gymnasium zu Cleve u n d begab sich 1827 zum Studium der Medizin nach Bonn. W e g e n toller Streiche u n d H ä n d e l von der Universität relegiert, ging er nach Holland, unternahm von d o r t aus eine Reise nach Batavia und kehrte 1831 zurück. Jetzt tat er jenen f ü r sein Leben so bedeutungsvollen Schritt, indem er als Steuerbeamter in den preußischen Staatsdienst eintrat. Nach unausgesetzten Reibereien mit seinen Vorgesetzten, nach endlosen Streitigkeiten nahm er 1839 seinen Abschied aus dieser Tätigkeit, die ihm „eine praktische Vorbildung f ü r die politische Opposition" bedeutete. Die Eindrücke, die e r während seines Staatsdienstes von der preußischen Bureaukratie erhalten hatte, reizten ihn dazu, mit scharfer Feder gegen sie zu Felde zu ziehen. Nachdem er seine publizistische Tätigkeit mit Broschüren und mit Artikeln f ü r die Mannheimer Abendzeitung, die Leipziger Allgemeine u n d die Rheinische Zeitung b e g o n n e n hatte, legte er im Jahre 1845 seine A n s c h a u u n g e n über die innerpreußischen Verhältnisse in dem Buch „Die preußische Bureaukratie" nieder. Dieses Buch w u r d e konfisziert u n d zog ihm eine Kriminalu n t e r s u c h u n g zu, der er durch die Flucht aus dem Wege ging. W ä h r e n d er bis jetzt zwar mit großer Schärfe, aber doch auf realem Boden sich bewegend, gekämpft hatte, begann n u n jene Periode, in der er schrieb, um zu leben und von der Schweiz u n d von Amerika aus eine maßlose republikanische u n d revolutionäre P r o p a g a n d a entfaltete. Im Jahre 1848 kehrte er nach Deutschland zurück und nahm sowohl an dem Heckerschen Putsch als an der badischen Revolution von 1849 teil, o h n e daß er seine Absicht, in der revolutionären B e w e g u n g eine große Rolle zu spielen, erreichte. W e n n vorhin von den V o r w ü r f e n die Rede war, welche den Männern der Linken gemacht w u r d e n , so verdient Karl Heinzen sie wohl wie kaum ein anderer. Geradezu abstoßend wirkt der Kultus, den er mit seinem eigenen Ich treibt; neben seiner Person u n d seinen Ideen läßt er nichts gelten; jede Selbsterkenntnis, jede Selbstkritik ist ihm f r e m d . Indem J

) K. Heinzen, Erlebtes I, 47.





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er als das spezifische Merkmal des wahren Revolutionärs Unheilbarkeit b e z e i c h n e t , g i b t er das Charakteristikum an, das auf ihn in ganz besonderem Maße paßt. Er war so unheilbar verrannt in seine Ideen, daß er für alle Leiden des Individuums und der Gesamtheit nur ein Heilmittel kennt: die Republik. Nach seiner Meinung kann derjenige, der weniger ist als Republikaner, unmöglich liberal sein. 2 ) Zu welcher Anarchie die konsequente Verfolgung seiner Ideen führte, beweisen seine Worte: „Wir setzen fest, daß kein Mensch einen Herrn haben dürfe, sondern nur sein eigener Herr sei." 3 ) ¡Wenn ihn auf der einen Seite seine gänzliche Unempfänglichkeit für vernünftige Erwägungen von den Führern der rheinischen Radikalen scheidet, so trennt ihn andrerseits vor allem seine Kampfesweise von ihnen. Während bei ihnen das Persönliche in der Polemik zurücktritt, ist es bei Heinzen der Haupthebel; persönliche Gereiztheit, persönliche Verstimmung und die Sucht, Aufsehen zu erregen, wirken stark bei ihm mit. Zügellos in seinen Angriffen, stößt er ohne den geringsten Anhalt die schwersten Verdächtigungen aus, und was das allerschlimmste ist, er labt sich geradezu an den Grobheiten und Beleidigungen, mit denen er seine Gegner überschüttet, „an dem Luxus, den er in Majestätsbeleidigungen treibt." 4 ) Dabei schürte er das revolutionäre Feuer mit einem Leichtsinn und einer Gier, die Männern wie Raveaux und Venedey ganz fern lagen. Sicherlich besaß er scharfen Witz und treffende Satire, aber er mißbrauchte diese Gaben, und es ist nicht zu verwundern, daß ¡er schließlich mit allen Menschen zusammenstieß und nirgends Freundschaft fand. — Unter den klerikalen Politikern des Rheinlandes ragen als die bedeutendsten und einflußreichsten die Brüder August und Peter Reichensperger hervor. A u g u s t R e i c h e n s p e r g e r (1808—95) wurde in Koblenz geboren, studierte Jura, ergriff die Staatskarriere und wurde Landgerichtsrat in Trier. Ins Frankfurter Parlament gewählt, gehörte er mit >) a ) 3 ) 4 )

K. Heinzen, Erlebtes I, 7. »Was und wer ist liberal?" In „Teutsche Revolution", S. 503. Ebenda, S. 500. „Teutsche Dummheiten." In „Teutsche Revolution", S. 536.



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zu den Führern des katholischen Vereins, in dem sich die entschiedenen Katholiken zusammenschlössen, um auf ein gemeinsames erfolgreiches Vorgehen in kirchlichen Fragen hinzuarbeiten. Als Politiker war er, wie F. X. Kraus sagt, „fast immer einigermaßen, meist gänzlich durch sein Verhältnis zur Kirche, zur Kirchenpolitik, zu den kirchlichen Tagesfragen bestimmt". 1 ) Er gehörte aber auch zu den aufrichtigen Konstitutionellen und stellt „den besten T y p u s der Verb i n d u n g dar, welche die Ausläufer der katholischen Romantik mit dem westdeutschen Liberalismus eingingen, um mit den von hier geschöpften Kräften die m o d e r n e ultramontane B e w e g u n g zu f ü h r e n . " 2) So vereinigte sich bei ihm die Abn e i g u n g des Katholiken gegen das protestantische Preußen mit der A b n e i g u n g des liberalen Rheinländers gegen den preußischen Polizeistaat und erreichte in vorrevolutionärer Zeit einen solchen Grad, daß er sich entschließen konnte, dem Franzosen Failly das Material zu seiner Schmähschrift „ D e la Prusse" zu liefern. 3 ) Ich möchte die in dieser Schrift ausgesprochenen Ansichten nicht d u r c h a u s und in allem mit denjenigen August Reichenspergers identifizieren; Schroffheiten u n d Gehässigkeiten, wie jie hier vorkommen, l i e ß ' e r sich vielleicht kaum oder n u r in Momenten höchster E r r e g u n g zu schulden k o m m e n ; daß aber diese Schrift im großen und ganzen seinen u n d den Ansichten der Klerikalen ü b e r h a u p t entsprach, ist wahrscheinlich. Als Mensch zeigt Reichensperger manchen liebenswürdigen Zug, eine vielseitige Bildung, ein lebhaftes Temperament und eine starke Empfänglichkeit f ü r das Schöne, die ihn zu einem eifrigen Förderer seiner heimischen Kunstbestrebungen machte. Sein Bruder Peter R e i c h e n s p e r g e r war ebenfalls Jurist u n d zwar seit 1843 Landgerichtsrat in Koblenz. Als Mitglied des Vorparlaments und der preußischen Nationalversammlung entfaltete er eine bedeutende Tätigkeit, die sich namentlich in der preußischen Nationalversammlung durch seinen hervorragenden Anteil an der Ausgestaltung des VerEssays, Berlin 1901, S. 408. ) H. Oncken, A. Reiehensperger, HZ, Bd. 88, S. 251. 3 ) Vgl. L. Pastor. August Reichensperger, Bd. I, S. 7 8 - 8 0 Kaufmanns Artikel in d. Allgem. deutsch. Biogr. 2

und



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fassungsentwurfs in der Kommission b e k u n d e t e . D i e Grundlagen seiner politischen Anschauungen sind dieselben wie die seines Bruders; im Kampfe für ihre Überzeugungen gaben sie beide an Eifer einander nichts nach, nur daß Peter vielleicht mit größerer Schärfe und Gewandtheit, aber mit weniger Liebenswürdigkeit und Humor auftrat als sein Bruder. I.

Urteile über die preussische Verfassung. A. Bis 1847. 1. Der Absolutismus der Krone. Die rheinischen Politiker sahen in dem Jahre 1848 einen entscheidenden Wendepunkt, und sie, die mitten in der Bewegung standen und ganz erfüllt waren von deren Bedeutung, glaubten, daß ein so tiefer Bruch mit der Vergangenheit stattgefunden hätte, wie er ihren Wünschen entsprach. Ihr Wunsch war, daß die absolute Staatsform mit allen ihren Konsequenzen ausgetilgt sein sollte. Für die Linke war ja Preußen der Typus, das Musterbeispiel des absoluten Staats; es war, wie Ludwig Simon sich ausdrückte, „so recht geeignet, um das Verwerfliche der Machtvollkommenheit eines Einzigen zu zeigen und so die erhabene Idee des Freistaats in das rechte Licht zu stellen." 2) Fast jeder von ihnen geißelte diese absolute Staatsform und wollte jede Erinnerung an sie ausgelöscht wissen. Beseitigung alles desjenigen, was aus dem Polizeistaat herrührte, wurde verlangt; man sprach nur omit Mißachtung von dem „alten Regime", „dem gebrochenen System", von den Polizeiideen vor dem 18. März. Man fühlte sich in einer großen Zeit, die hinausgehoben war aus dem jahrzehntelangen Druck, die auf das System „des Parademarsches und Gamaschendienstes" mitleidig und hohnvoll herabblickte. Es wurde als ein Brandmal jener Zeit betrachtet, daß man die Untertanen wie unmündige Kinder ansah, eine Ansicht, die sich am klarsten dokumentiert hatte in der Vgl. Joh. Seitz, Entstehung und Entwicklung Verfassungsurkunde im Jahre 1848, S. 76/77. 2 j Sten. Ber. V, 3449.

der preußischen



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-

b e r ü h m t e n Antwort des Ministers Rochow an die Elbinger Kaufleute, die den Göttinger Sieben eine Glückwunschadresse hatten senden wollen. In dieser Antwort hieß e s : „Es ziemt dem Untertanen nicht, die H a n d l u n g e n des Staatsoberhaupts an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen und sich in dünkelhaftem Übermut ein öffentliches Urteil über die Rechtmäßigkeit derselben a n z u m a ß e n , " e i n Satz, von dem Stedmann sagt, „daß er in jedem einzelnen seiner Bestandteile u n d Ausdrücke das G e m ü t des ganzen gebildeten Teiles der Nation in seinen innersten Tiefen empörte." 2) Man e m p f a n d es mit Bitterkeit, daß die Untertanen ferngehalten w u r d e n vom Leben des Staates, und das G e f ü h l der Mac'ntund Rechtlosigkeit in einem System, w o schließlich alles vom Willen des Königs abhing, reizte die G e m ü t e r auf. Einen scharfen Ausdruck dieses Gefühls finden wir in einer rheinischen Flugschrift, in der es heißt: „Bis jetzt gehören wir d e r Tat nach bloß der G n a d e anderer, also dem Sachenrecht a n . " 3 ) Dem selbstbewußten rheinischen Bürgersinn war es unerträglich, daß der König ohne bestimmte Regelung seiner Rechte und Pflichten nach seinem Willen schalten konnte. Man mißbilligte es, daß im G r u n d e g e n o m m e n alles seinem Belieben anheimgestellt war, daß er, um ein Beispiel a n z u führen, den Staatsrat bei Erlaß von Gesetzen berufen sollte, aber nicht dazu gezwungen war. Als sich der Düsseldorfer Landtag 1837 dem Gesetz über die Autonomie des Adels widersetzen wollte, weil es nicht dem Staatsrat vorgelegt worden war, hieß es diesbezüglich im f ü n f t e n rheinischen Landtagsabschied: „Es m u ß lediglich Unserm Ermessen anheimgestellt bleiben, von welcher Unserer Behörden W i r bei Erlassung einer V e r o r d n u n g ein Gutachten e n t g e g e n z u n e h men f ü r angemessen erachten." 4 ) Solche Bekenntnisse zur Willkür erregten in den Rheinlanden das stärkste Mißfallen. Man vermißte eine allgemeine O r d n u n g , allgemeine Gex

) Nach Treitschke, Deutsche Geschichte IV, 664. ) K. Stedmann, Beitr. zum Staatsrechte der Herzogtümer am Rheine, S. 30. 3 ) Das Gerücht von einer Konstitution in Preußen 1845. 4 ) Beckerath, Die neuesten Landtagsabschiede für die preußische Monarchie. Kölnische Zeitung 1846, Nr. 28. 2



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sichtspunkte bei der Gesetzgebung; in der so beliebten Regelung der Verwaltung und Gesetzgebung für ,.einzelne Fälle" sah man die Wurzeln des P o l i z e i s t a a t e s . H a n s e m a n n glaubte, daß man sich in Preußen gar keinen rechten Begriff von einer Verfassung machen könne. Im Jahre 1845 schrieb e r in einem Brief: „Was man in Preußen Verfassung nennt, ist ja nichts anderes als eine mehr oder weniger regularisierte Polizeigewalt. 2 ) Als ein trauriges Kennzeichen dieser absolutistischen Zeit galt das Vorherrschen der dynastischen Interessen. Beckerath spricht es im Frankfurter Parlament einmal aus, welches Glück es sei, daß die Zeit vorüber wäre, „wo in den Kabinetten die Stimme der Völker spurlos verhallte, wo durch diplomatische Verhandlungen über Land und Leute, wie man es nannte, verfügt wurde." 3 ) Die Linke legte nun speziell den Hohenzollern dynastische Politik zur Last. Venedey wirft den preußischen Königen öfters dynastische Eroberungspolitik vor, und eben darin sieht er die Scheidung zwischen der Zeit vor und nach dem 18. März, daß vorher dynastische und jetzt Volksinteressen den Ausschlag gaben. 4 ) Die ursprüngliche Abneigung der Rheinländer gegen den Absolutismus wurde noch dadurch verstärkt, daß sie in Preußen von 1815—48 den Absolutismus in einem äußerst ungünstigen Stadium kennen lernten, in dem es ihm an Kraft und Größe gebrach, in dem er kleinlich und allmählich zeugungsarm wurde. So wuchs in ihnen immer mehr die Überzeugung heran, daß sich dieses System überlebt habe, und daß der König nicht mehr einseitig Rechte geben und nehmen könne. Ihnen genügte die sittlich-religiöse Abhängigkeit des Königs, welche in der Theorie vom christlich-germanischen Staat als ausreichende Gewähr hingestellt wurde, nicht; es waren ja diese Prinzipien, die nach J. Venedey, Vierzehn Tage Heimatluft, S. 141. ) Hansemann an Beckerath, Bergengrün 334. s ) Sten. Ber. II, 1028. *) Venedey, Die Wage, Heft V, S. 26. Vgl. dazu K. Heinzens Satire »Künftige Kabinetsordres Olims des Großen": „Mein Volk ist bekanntlich bloß das Fundament Meines Königlichen Hauses, und der Glanz Meines Geschlechtes ist der Zweck des Staates." In „Teutsche Revolution» S. 156. 2



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H a n s e m a n n s M e i n u n g den Staat an den Rand des A b g r u n des gebracht h a t t e n . D a r u m stellten sie immer wieder die F o r d e r u n g der neuen Zeit auf, in e i n e r durch Vertrag mit den Ständen vereinbarten Konstitution die Rechte des K ö n i g s und die Rechte des Volkes festzusetzen. Bei ihrer Bitte um eine Verfassungsurkunde beriefen sie sich auf die V e r sprechungen, die Friedrich Wilhelm III. in der V e r o r d n u n g vom 2 2 . Mai 1815 und vom 20. März 1817 gegeben hatte; daß sie unerfüllt blieben, g a b den Rheinländern immer wieder G r u n d zur Klage.

2. Die politischen Rechte des Volkes. a) Die provinzialständische Vertretung. Weit mehr als für diese formeile Frage interessierten sie sich jedoch für die dem Volk tatsächlich gewährten politischen Rechte. Dieselben basierten auf dem Gesetz über die P r o vinzialstände vom 5. Juni 1823, welches die Verfassungsfrage in folgender Weise zu lösen suchte. Es wurden 8 P r o vinziallandtage geschaffen.; der Provinziallandtag der Rheinprovinz setzte sich nach dem Gesetz von 1824 aus 4 Ständen zusammen, den vormals unmittelbaren Reichsständen, der Ritterschaft, den Städten, den ländlichen Grundbesitzern. D e r erste Stand hatte vier, j e d e r der anderen drei Stände j e 2 5 Mitglieder. Die Wählbarkeit für den zweiten Stand knüpfte sich an den Besitz eines Ritterguts, für den dritten Stand an städtischen Grundbesitz, verbunden mit einem bürgerlichen G e w e r b e oder der Mitgliedschaft des Magistrats, für den vierten Stand an den Besitz eines im Hauptgewerbe bewirtschafteten Landguts. Dieselben Bedingungen galten für die W ä h lenden, nur daß nicht ein Alter von 31, sondern von n u r 24 Jahren nötig war, ferner daß nicht 10 jähriger, sondern nur eigentümlicher Besitz gewünscht wurde und daß keine bestimmte G r ö ß e desselben erforderlich war. Dieses G e s e t z blieb bis zum Jahre 1847 im wesentlichen unverändert bes t e h e n ; nach seinen Bestimmungen war also im wesentlichen die Teilnahme des Volkes am staatlichen Leben in Preußen geregelt, und ihnen galt daher die kritische Betrachtung der Sten. Ber. der 1. Kammer.

III, 1143.



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rheinischen Politiker in erster Linie. Sie gingen dabei begreiflicherweise von einem Vergleich des Gesetzes von 1823 mit der Vergangenheit aus und kamen zu dem Resultat, daß es ihnen weniger an ständischen Rechten brachte, als sie früher besessen hatten. Von der Richtigkeit dieser Überzeugung waren sie so durchdrungen, daß sie ihr in sehr scharfer Weise Ausdruck gaben, wie es z. B. Hansemann und Stedmann tun. Hansemann sagt in seiner Schrift „Preußen und Frankreich": „Erst seitdem die Rheinlande nach dem Sturze Napoleons preußisch wurden, gibt es in denselben kein politisches Recht mehr," 1 ) und Stedmann versteigt sich sogar zu der übertriebenen Behauptung, „daß die Rheinländer niemals ein geringeres Maß von persönlicher Freiheit und bürgerlicher Berechtigung genossen haben als seit der Wiedervereinigung mit dem großen deutschen Vaterlande nach kurzer Fremdherrschaft." 2) Hansemann geht in „Preußen und Frankreich" auf den am meisten erörterten Vergleichspunkt, auf das Steuerbewilligungsrecht, ein. Er weist darauf hin, daß bis zur französischen Revolution die Stände in den Rheinlanden das Steuerbewilligungsrecht gehabt hätten; im 17. Jahrhundert hätten sie es noch vollständig ausgeübt, im 18. hätte es zwar noch grundsätzlich, aber nicht mehr tatsächlich bestanden, indem es durch die Schwäche der Stände seiner Bedeutung verlustig gegangen war. 3 ) Auch unter der französischen Herrschaft sei die Erhebung jeder Steuer nach der Verfassung vom 13. XII. 1799 an die Zustimmung der gesetzgebenden Versammlung gebunden gewesen. Die Departementalbedürfnisse mußten zum Teil außerdem durch den Departementalrat vorgängig bewilligt worden sein. Für Gemeindebedürfnisse konnten ebenfalls keine Steuern ausgeschrieben werden, die nicht von den gesetzgebenden Versammlungen bewilligt worden waren. Napoleon habe zwar die Verfassung mehrfach verletzt und durch seinen Einfluß die Bewilligungen der Versammlung meistens zu einer leeren J

) S. 284. ) Beitr S. 31. Vgl. auch Beckerath, Die neuesten Landtagsabschiede. 3 ) Neuere Forschungen zeigen, dass die tatsächliche Macht der rheinischen Landstände auch im 18. Jahrhundert noch größer war, als Hanseraann annahm. 2



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Form gemacht, namentlich wenn es sich um seine größeren Zwecke handelte; indessen durfte sich kein Beamter unterstehen, den Herrn n a c h z u a h m e n . So kommt Hansemann zu dem Resultat, daß erst unter der preußischen Herrschaft die Stände das Besteuerungsrecht verloren hätten. In b e z u g auf allgemeine Landesabgaben sei es Monopol der Landeshoheit; nur bei Provinzialsteuern bestände ein allerdings sehr zweifelhaftes Recht der Provinz zur Teilnahme an der Steuerbewilligung. Nach P r ü f u n g der darauf bezüglichen Verordn u n g e n u n d nach Beobachtungen in der Praxis glaubt sich H a n s e m a n n zu der Ansicht berechtigt, daß die Regierung das Besteuerungsrecht ü b e r h a u p t einzig und allein f ü r sich in A n s p r u c h nehme.*) Zum Beweise f ü h r t e r folgende Tatsache a n : ,,Als im Jahre 1827 zur Sprache kam, ob eine von den f r ü h e r e n bergischen Ständen zu einem besondern (später weggefallenen) Zwecke dem G r u n d s t e u e r k o n t i n g e n t e zugeschlagene S u m m e von dem letzteren wieder abzusetzen sei, sprach das Staatsministerium die hernach allerhöchst ebenfalls bestätigte Meinung aus, daß durch die B e j a h u n g der in Rede stehenden Frage eine Beschränkung des unbedingt u n d unbestritten dem Landesherrn allein zustehenden Besteuerungsrechtes zugegeben werden w ü r d e . " 2 ) W a s also das Gesetz von 1823 in dieser wie auch in anderer Hinsicht geboten hatte, erschien als ein Zurückgehen in den politischen Rechten. N e b e n diesem einen Vergleich des Gesetzes von 1823 mit den f r ü h e r e n ständischen Rechten drängte sich den Rheinländern sogleich ein zweiter mit aller Macht a u f ; sie betrachteten das Gesetz von 1823 daraufhin, ob es eine E r f ü l l u n g der V e r s p r e c h u n g e n brachte, die dem Volke seit 1810 gemacht worden w a r e n . 3 ) Dabei s p r a n g als erster und erheblicher Mangel in die Augen, daß die Provinzialstände an die Stelle der Nationalrepräsentation getreten waren u n d daß die Ein1

) Preußen und Frankreich, S. 1 1 - 1 5 . ) Preußen und Frankreich, S. 16. 3 ) Diese Versprechungen sind in dem Finanzedikt vom 27. Oktober 1810, in der Verordnung vom 22. Mai 1815, in der Wiener Bundesakte (für die Rheinlande speziell in dem Besitzergreifungspatent vom 5. April 1815) und in dem Staatsschuldengesetz vom 17. I. 1820 enthalten. 2



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berufung dieser einer unbestimmten Zukunft vorbehalten wurde. Man muß wissen, wie lebhaft und allgemein der Wunsch nach einer Repräsentation für den ganzen Staat in den Rheinlanden während der ersten Jahre der preußischen Herrschaft war, um die gewaltige Enttäuschung über diesen Passus des Gesetzes zu v e r s t e h e n . A l s sich nun im Laufe der Jahre die Eingriffe der Regierung in die speziellen Institutionen der Rheinprovinz, namentlich in die rechtlichen, mehrten, verlor sich die Begeisterung für eine Nationalrepräsentation zeitweise, weil man durch den engen Anschluß an Preußen eine zu starke Einbuße der eigentümlichen provinziellen Einrichtungen besorgte. Diese Befürchtungen beschränkten sich jedoch allmählich wieder auf die feudalen Kreise, während sich das führende liberale Bürgertum dem Gedanken der Reichsstände zuneigte. Für den siebenten rheinischen Landtag von 1843 arbeitete Mevissen eine Petition wegen der Gewährung von Reichsständen aus. Der achte rheinische Landtag wurde mit Petitionen dieser Art bestürmt, und Camphausen formulierte einen schriftlichen Antrag. Eine Petition an den König kam jedoch nicht zustande, nur ein Auftrag an den Landesmarschall. Dieser sollte dem König mitteilen, daß der Landtag sich in seiner großen Majorität für eine reichsständische Verfassung erklärt habe. Wie Camphausen und Mevissen standen auch die anderen rheinischen Liberalen und die Radikalen auf dem Standpunkt, daß das Gesetz von 1823 die in bezug auf Nationalrepräsentation gegebenen Versprechungen bedauerlicherweise unerfüllt gelassen habe und daß die Provinzialstände keinen Ersatz dafür bieten konnten. Sowohl in Venedeys Schrift „Preußen und Preußentum", als in der Schrift „De la Prusse" 2 ) ist die Meinung ausgesprochen, daß die Regierung eine gespaltene provinzielle Vertretung statt einer allgemeinen nur angeordnet habe, um nach dem Grundsatze: „Divide et impera" leichter ihre Herrschaft ausüben zu können. 3 ) Diese deutliche Absicht der Regie*) Vgl. A. Stern, Die preußische Verfassungsfrage im Jahre 1817. Deutsche Ztschr. f. Geschichtswissensch. 1893, Bd. I. 2 ) s. oben S. 21. 3 ) De la Prusse, S. 221.



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rung, „die Provinzen zu trennen, um sie besser in der Einheit des Absolutismus beherrschen zu können", sieht Venedey schon in der Bestimmung, daß keinerlei Mitteilungen zwischen den einzelnen Landtagen stattfinden sollten. Eben weil eine große V e r s a m m l u n g mehr Autorität u n d eine kräftigere, kompaktere Opposition aufzuweisen hätte, heißt es in der Schrift „ D e la Prusse", habe die Regierung sie verpönt. Mit vollem Recht hebt Mevissen in seiner A b h a n d l u n g über die Provinzialstände 1847 hervor, daß n u r durch den nach Einheit strebenden Zeitgeist der zur Zeit der Abfassung des Gesetzes leitende Gedanke, soviel wie möglich provinzielle Verschiedenheiten wieder herzustellen, zurückgedrängt worden sei. 2 ) Zersplitterung der Kräfte, etwaige kleine, provinzielle Rücksichten bei allgemeinen Gesetzen und das egoistische Wettrennen der einzelnen Provinzen um die möglichst größten B e g ü n s t i g u n g e n u n d Vorteile, das war es, was den liberalen Geistern unsympathisch an dieser alleinigen Provinzialvertretung war. Auch Beckerath spricht es in seinen Artikeln in der Kölnischen Zeitung aus, welche Gefahr der E n t f r e m d u n g zwischen den einzelnen Teilen in diesen speziellen Provinzialvertretungen läge, wie der Staat zur L ö s u n g der großen sozialen, politischen u n d kirchlichen Aufgaben einer Konzentration seiner Kräfte in einem lebendigen Mittelpunkt b e d ü r f e . 3 ) Mit Sorge sahen die rheinischen Liberalen auf die Sondergelüste in ihrer Provinz, u n d als warnendes Beispiel f ü h r t H a n s e m a n n an, „daß in der Rheinprovinz die Idee einer eigentümlichen Verfassung oder eines Vizekönigreichs der westlichen Provinzen bei einigen klugen u n d einflußreichen Männern Wurzel schlage." 4 ) Eben solche Bestreb u n g e n bewiesen ihnen, daß „Preußen nicht fertig war", daß es zur E r f ü l l u n g seiner großen Aufgaben aus dem Stadium heraustreten müsse, in welchem es „nur in dem Könige ein einiges Preußen gab, nicht auch vom Standpunkte des Staatsbürgerlebens einen preußischen Gesamtstaat." 5 ) x

) ) ') 4 ) ') 2

Venedey, Preußen u. Preußenturn, S. 164. Hansen, II, 211. Beckerath, Die neuesten Landtagsabschiede. Köln. Ztg. 1846, Nr. 28. Preußen und Frankreich, S. 225. Venedey, 14 Tage Heimatluft, S. 125.



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Bei dem Urteil der rheinischen Politiker über die provinzialständische Vertretung selbst kommt zunächst ihre Stellung zu dem ständischen Prinzip an sich in Betracht. Am wenigsten waren natürlich die Radikalen dafür eingenommen. Für eine allseitige „organische" Gliederung nach Berufsständen wären sie bei gleichmäßiger Rechteausstattung eventuell zu haben g e w e s e n ; aber diese unterschied sich ja wenigvon dem „Atomismus der Kopfvertretung". 1 ) Die Liberalen variierten in ihren Ansichten; im allgemeinen darf man ihren Standpunkt wohl dahin präzisieren, daß sie nicht die Stände überhaupt, sondern nur die preußischen Stände in ihrer Zusammensetzung verwarfen u n d daß sie, erst durch die Bew e g u n g von 1848 fortgerissen, sich auf die breitere Basis einer allgemeinen, nichtständischen Volksrepräsentation stellten. W e n n sie vor der Revolution an dem ständischen Prinzip festhielten, so wirkt dabei das ihnen in allen Fragen eigene Bestrebe® mit, sich an das Gegebene anzuschließen, auf dem Vorhandenen weiterzubauen. Auf diesem Boden standen namentlich Camphausen u n d Mevissen; „abstrakte Opposition" erschien Mevissen als etwas Unfruchtbares. H a n s e m a n n dagegen neigte in dieser Frage zu einem Bruch mit der alten Tradition, zur E i n f ü h r u n g eines Repräsentativsystems mit einem durch Zensus beschränkten Wahlrecht nach belgischem Muster; schon in seiner Denkschrift über „ P r e u ß e n s Lage und Politik am Ende des Jahres 1830" klagt er, daß zu der Zerstücklung des Staatsinteresses in provinzielles noch die Zergliederung in Stände h i n z u k o m m e . 2 ) Auch in der Schrift „ D e la Prusse" ist die Einteilung des Volkes in Kasten, die Ungleichheit der Rechte unter den Bürgern als eine Heiligung des antiliberalsten u n d v e r d a m m u n g s w ü r d i g s t e n Prinzips erklärt. 3 ) Am ausführlichsten hat sich Mevissen in dieser Frage geäußert; seine Ansichten über die V o r z ü g e des ständischen u n d des Repräsentativsystems u n d über die durch das Gesetz von 1823 geschaffenen Provinzialstände sind in mehreren Artikeln aus dem Jahre 1847 niedergelegt. Seine !) Ludwig Simon, Aus dem Exil II, 18 a ) § 32. Nach dem Abdruck in Hansemanns Buch: und deutsche Verfassungswerk, S. 16. a

) S 221.

Das preuß.

— 31 — Meinung ist, daß durch das Gesetz von 1823 Stände im alten Sinn des Wortes nicht wieder erweckt w e r d e n k o n n t e n ; denn ihre Existenzbedingung, das Vorhandensein von selbständigen Korporationen u n d Innungen, fehlte. Aber auch Stände im modernen Sinne seien nicht geschaffen worden, da das Gesetz von 1823 keine Rücksicht auf die in der neueren Zeit erfolgten sozialen U m b i l d u n g e n u n d V e r ä n d e r u n g e n gen o m m e n habe, welche namentlich in der Rheinprovinz außerordentlich groß waren. 1 ) So entsprach es also weder den alten noch den neuen Zuständen, mit denen nach einer im Rheinland weit verbreiteten M e i n u n g am besten eine berufsständische Vertretung zu vereinen war. Als einen der schwersten Fehler dieses Gesetzes sahen es Mevissen u n d seine Parteigenossen an, daß das Prinzip gleichmäßiger Berechtigung zur Standschaft u n d innerhalb der Standschaft nicht gewahrt worden sei. 2 ) In § 8 des Gesetzes von 1824 wegen A n o r d n u n g von Provinzialständen f ü r die Rheinlande heißt e s : In dem zweiten Stand wird die Wählbarkeit b e g r ü n d e t 1. durch den Besitz eines f r ü h e r reichsritterschaftlichen oder landtagsfähigen G u t s in der Provinz, von welchem jährlich an G r u n d s t e u e r n wenigstens 75 Taler entrichtet werden, 2. durch den Besitz eines anderen größeren Landguts, welches in den zweiten Stand a u f z u n e h m e n Wir f ü r angemessen erachten. Die Ungerechtigkeit, daß sich die Wählbarkeit f ü r den zweiten Stand nicht nach der G r ö ß e des Grundbesitzes richtete, sondern danach, ob es ritterschaftlich war, daß also die Standschaft als zufälliger V o r z u g an diesem oder jenem Flecken Erde haftete, ferner die willkürliche Befugnis der Krone, ein oder das andere L a n d g u t in den zweiten Stand a u f n e h m e n zu können, erregte scharfen W i d e r s p r u c h . Z w a r konnten die Grundbesitzer auf Verleihung der Rittergutsqualität f ü r ihre Besitzungen a n t r a g e n ; aber es ist bezeichnend f ü r den rheinischen Standpunkt, wenn Mevissen darüber s a g t : „Die Besitzer wurden dadurch genötigt, auf dem Wege d e r G n a d e ein Vorrecht zu suchen, das nicht aus der Gnade, sondern einzig aus einem allgemeinen Prinzipe, dem W o h l e aller Hansen, II, 209. Hansen, II, 214.

Die Stände in Preußen.



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gerechtfertigt werden kann." 1 ) E b e n s o mißbilligend w u r d e die große Ungleichheit in den Berechtigungen der einzelnen Städte und der Provinzen betrachtet. S o hatte Trier mit 2 0 000 Einwohnern eine Virilstimme und Aachen mit 50 0 0 0 Einwohnern ebenfalls nur eine. In der Provinz B r a n d e n b u r g kam auf 30 0 0 0 Einwohner 1 Abgeordneter, in P o m mern auf 23 0 0 0 Einwohner 1 Abgeordneter, in Schlesien auf 3 6 000 Einwohner 1 A b g e o r d n e t e r , in der Rheinprovinz auf 3 6 000 Einwohner 1 A b g e o r d n e t e r . 2 ) Als schlimmster Übelstand aber w u r d e allgemein d a s Mißverhältnis in der Stimmverteilung verurteilt. Hanseiiiann gibt in seiner Denkschrift v o n 1830 an, daß in der Rheinprovinz der Ritterstand, j e d e Familie zu dem hohen Durchschnitt von 20 Individuen ang e n o m m e n , a u s 6520 Seelen besteht. D e r Ritterstand hat 2 5 D e p u t i e r t e ; Köln und Aachen, die z u s a m m e n 9 4 027 Einwohner zählen, haben drei Deputierte. Die Mitglieder d e s Ritterstandes bezahlen zusammen ungefähr 77 390 Taler, Köln und Aachen zusammen 309 580 Taler direkte Staatssteuern, resp. Schlacht- und Mahlsteuer, welche als Äquivalent der Klassensteuer a n g e r e c h n e t werden muß. Ein Deputierter der Städte Köln u n d A a c h e n repräsentiert also 31 342 Seelen, ein Deputierter d e s Ritters t a n d e s 261 S e e l e n . 3 ) D u r c h diese Stimmverteilung entstand eine Majorität, die von den rheinischen Politikern als eine künstliche verworfen wurde, indem nämlich die Städte u n d die L a n d g e m e i n d e n g e g e n ü b e r den Standesherren und d e m in der Rheinprovinz d u r c h a u s nicht s o bedeutenden Ritters t a n d nicht die f ü r A n t r ä g e zur Kenntnis des K ö n i g s nötige Zweidrittelmajorität hatten. 4 ) Mit dem größten Mißtrauen sahen sie hier eine B e v o r z u g u n g des Ritterstandes, die ihnen eine N e i g u n g zur W i e d e r b e l e b u n g der verhaßten f e u d a l e n Institutionen anzudeuten schien. 5 ) S c h o n auf dem rheinischen M Hansen, II, 215. ) Hansen, II, 2 1 2 - 2 1 4 . ») Denkschrift von 1830 aaO. § 32. 4 ) Vgl. P. Reichensperger, Die Agrarfrage. Er weist noch darauf hin, daß in den alten Provinzen, in Brandenburg, Pommern, Schlesien und Posen die städtischen und ländlichen Vertreter zusammen nicht einmal die einfache Majorität hatten. S. 519. 5 ) Stedmann, Beitr., S. 8. 2



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L a n d t a g von 1845 w u r d e n Vorschläge zur Ä n d e r u n g des bestehenden Mißverhältnisses gemacht, u n d ein Antrag auf Erh ö h u n g der Abgeordneten des dritten u n d vierten Standes um je 10 Stimmen w u r d e gestellt. W e n n schon die Privilegierung des Ritterstandes gegenüber den Städten u n d Landgemeinden berechtigten Unwillen erregte, so w u r d e der Ausschluß ganzer Stände in den Städten aufs lebhafteste beklagt. D a nämlich die Wählbarkeit f ü r den dritten Stand an G r u n d besitz u n d an ein bürgerliches G e w e r b e g e b u n d e n war, w u r den Gelehrte, Künstler, Advokaten, Ärzte völlig ausgeschlossen, wenn sie sich nicht zufällig im Besitz von Rittergütern befanden. Ferner w u r d e n durch die Bestimmung, daß auf dem Lande n u r alle Ackerbautreibenden, in der Stadt n u r alle Gewerbetreibenden wählbar sein sollten, alle diejenigen ausgeschaltet, die ihre Fabriken auf dem Lande hatten, ein Fall, der in der Rheinprovinz ziemlich häufig vorkam. Diese beiden letzten Bestimmungen erklärt Mevisseri f ü r vollkommen unangemessen, u n d ihre A u f h e b u n g hält er f ü r d r i n g e n d n o t w e n d i g . E b e n s o waren er u n d wohl fast alle rheinischen Politiker gegen den Ausschluß der nichtchristlichen Staatsbürger von der Wählbarkeit; schon auf dem rheinischen Landtag von 1845 w u r d e die politische u n d bürgerliche Gleichstellung der Juden beantragt. Auch andere W a h l b e d i n g u n g e n erschienen ihm wie Hansemann gänzlich zweckwidrig, so die B e d i n g u n g der zehnjährigen Besitzzeit des Grundbesitzes. Die Regierung konnte zwar von dieser B e d i n g u n g dispensieren, aber das sah man eben .nicht gern, daß so vieles von ihrem Belieben abhing. Von diesem Gesichtspunkt aus w e n d e n sich H a n s e m a n n sowohl als der Verfasser von „ D e la Prusse" dagegen, daß die f ü r die Wählbarkeit gestellte B e d i n g u n g des unbescholtenen Rufs o h n e nähere B e s t i m m u n g bleibe u n d also der Regierung T ü r und T o r zur Chikane wegen politischer G e s i n n u n g geöffnet sei, wie es sich bei dem speziellen Falle des liberalen rheinischen K a u f m a n n s Brust gezeigt habe. 2 ) Von diesem Gesichtspunkt ausgehend spricht der Verfasser von „De la Prusse" die nachl ) Hansen, II, 217. ') Hansemann, D i e politischen Tagesfragen mit Rücksicht auf d e n rheinischen Landtag, S. 7 f.

N a t h a n , Preussische Verfassung.

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her als ungerechtfertigt erwiesene Befürchtung wegen der Bestimmung aus, daß die Regierung je nach der Verschiedenheit der Orte die Grundsteuerhöhe festsetzen konnte, welche Bedingung für die Wählbarkeit war.') Jedenfalls ergibt sich aus dem Vorangehenden, daß das Gesetz von 1823 in seinen Bestimmungen über die Zusammensetzung der Provinziallandtage von den rheinischen Politikern heftig angegriffen wurde, daß sie namentlich die konsequente D u r c h f ü h r u n g eines Prinzips und eine feste gleichmäßige Regulierung vermißten; der eine hatte dies, der andere jenes auszusetzen, aber keiner war recht zufrieden damit. Bei der Beurteilung der Kompetenzen, die den Landtagen durch das Gesetz von 1823 gewährt worden waren, bemängelten es die rheinischen Politiker zunächst, daß diese Kompetenzen unklar seien. Mevissen sagt schon von den 1815 bei der Besitzergreifung den Rheinländern gegebenen Versprechungen des Königs, daß es nicht ersichtlich sei, ob sie auf Beratung oder Bewilligung der Steuern hinausgingen. 2 ) In der Tat bot auch das Gesetz von 1823 durch den Paragraphen, nach welchem den Ständen die Entwürfe solcher allgemeinen Gesetze, welche Veränderungen in Personen- und Eigentumsrechten und in den Steuern zum Gegenstand haben, soweit sie die Provinz betreffen, vorgelegt werden sollten, Anlaß zu mancherlei Auslegungen und Konflikten. Als der rheinische Landtag von 1845 auf Aufhebung „der ohne verfassungsmäßigen Beirat der Stände erlassenen Gesetze vom 29. März 1844, betreffend das gerichtliche und Disziplinarverfahren gegen Beamte und das bei Pensionierung der Beamten zu beobachtende Verfahren" antrug, in der Meinung, daß er hier zweifellos kompetent sei, da es sich um Freiheit der Person handele, lehnte der König die Anträge ab, weil Gesetze wie das vom 29. März 1844 „bloß das Verhältnis Unserer Behörden zu Uns, folglich einen Gegenstand regulieren, der zum innern Staatsrecht gehört und auf den das Gesetz von 1823 keine Anwendung finden könne." 3 ) Zu verschiedenen Auslegungen gab auch der § 2 des Gesetzes De la Prusse, S. 223. ) Der 1. Vereinigte Landtag, II, 42. ') Hansemann, Die politischen Tagesfragen, S. 69/70.

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von 1823 Anlaß, welcher die Kommunalangelegenheiten der Provinz den Beschlüssen der Stände überließ unter Vorbehalt der königlichen Genehmigung und Aufsicht. Hansemann meint, man könne aus diesem Paragraphen ein Steuerbewilligungsrecht herauslesen, insofern Bezirksstraßen, Bettelund Irrenhäuser und durch ähnliche Einrichtungen verursachte Ausgaben als Kommunalangelegenheiten der Provinz zu betrachten seien. Er hält aber diese Auslegung für zweifelhaft, da bisher beträchtliche provinzielle Ausgaben ohne Beschlußnahme der Stände gemacht worden s e i e n . D i e Kompetenzen, die das Gesetz von 1823 den Landtagen gab, erschienen den rheinischen Abgeordneten jeder Parteirichtung als völlig unzureichend und ungenügend. Für die Radikalen war die ganze Institution schon dadurch abgetan, daß sie nur das Recht zu beraten gewährte, „worauf man höheren Orts beschließt, was man für gut findet. Wer aber in dem Recht zu beraten überhaupt ein Recht sieht, das von der Staatsgewalt erteilt werden muß, zeigt dadurch, daß er auf der Stufe des Tyrannen oder Sklaven steht." 2 ) Namentlich wurde ja dieses Fehlen des Beschlußrechts in Steuerangelegenheiten mit Rücksicht darauf beklagt, daß man es früher besessen hatte. „Der denkende Mann lacht oder schämt sich dieser Leerheit, dieser hohlen Form," 3) sagt Venedey mit Bezug auf die Provinzialstände, und in der Tat ist es sehr begreiflich, daß Landtagsmitglieder wie Hansemann, Beckerath und Camphausen die Ohnmacht dieser Institution, die erst 1841 die Periodizität erhielt, die das Recht der Gesetzesinitiative garnicht, das Petitionsrecht nur in sehr beschränktem Umfange, nämlich nur für provinzielle Angelegenheiten, besaß, schmerzlich empfanden. In seiner Schrift „14 Tage Heimatluft" weist Venedey an der Hand einzelner Landtagsabschiede nach, wie ängstlich die Regierung besorgt war, die Provinzialstände in die allerengsten Schranken zu bannen, wie sie ihnen bei Änderungen im Prozeßverfahren, bei Modifikationen des inneren Staatsrechts usw. keinerlei Einfluß gestatten wollte und wie die Stände die Schranken überall zu *) Preußen und Frankreich, S. 14. s ) J. Venedey, Preußen und Preußentum, S. 163. ! ) J. Venedey, 14 Tage Heimatluft, S. 157.

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d u r c h b r e c h e n s u c h t e n . D i e g a n z e Unhaltbarkeit dieser Institution als alleiniger V o l k s v e r t r e t u n g zeigt sich deutlich, w e n n V e n e d e y die vielen Petitionen a n f ü h r t , die die allerd r i n g e n d s t e n Interessen der Stände aussprachen, aber als unzulässig abgewiesen w u r d e n , so z. B. Petitionen u m Errichtung eines H a n d e l s m i n i s t e r i u m s , um V e r ä n d e r u n g der Zölle u s w . 2 ) Z u d e m bestritt die R e g i e r u n g den Ständen das Recht, einmal a b g e s c h l a g e n e Bitten wieder v o r z u b r i n g e n . E b e n s o w e n i g wie die rheinischen A b g e o r d n e t e n dieser kleine Kreis von K o m p e t e n z e n befriedigte, sagte ihnen die G e s c h ä f t s o r d n u n g zu, welche dem L a n d t a g nicht einmal seinen V o r s i t z e n d e n u n d die V o r s i t z e n d e n der Ausschüsse zu ern e n n e n gestattete, welche bestimmte, daß der L a n d t a g s m a r schall n u r a u s d e m F ü r s t e n - u n d Ritterstande g e n o m m e n werden durfte. Aufs lebhafteste beklagten sie es, d a ß die Publizität n o c h i m m e r n u r in beschränktem U m f a n g g e w ä h r t w o r d e n war. Bis z u m J a h r e 1841 d u r f t e n n u r die Resultate der L a n d t a g e publiziert w e r d e n ; erst Friedrich Wilhelm IV. gestattete eine etwas a u s g e d e h n t e r e V e r ö f f e n t lichung der L a n d t a g s b e r i c h t e ; a b e r es d u r f t e n u r eine ged r ä n g t e D a r s t e l l u n g unter V e r m e i d u n g aller Spezialitäten u n d o h n e N e n n u n g der R e d n e r n a m e n e r f o l g e n . G e g e n diese Bes c h r ä n k u n g e n m a c h t e sich auf den rheinischen L a n d t a g e n von 1843 u n d 45 eine starke S t r ö m u n g geltend, u n d in den V e r h a n d l u n g e n traten Beckerath, C a m p h a u s e n u n d H a n s e m a n n lebhaft f ü r volle Öffentlichkeit ein. In einer Adresse des 7. Rheinischen L a n d t a g e s heißt es, daß „Öffentlichkeit f ü r jeden R h e i n l ä n d e r ein a n g e b o r e n e s Bedürfnis", daß sie *) vgl. auch Beckerath, Die neuesten Landtagsabschiede. ) Auf den Antrag der schlesischen Stände um Errichtung eines Handelsministeriums erklärte die Regierung: „Was die Art und Weise betrifft, wie die Regierung sich in fortwährender Kenntnis der wahren Bedürfnisse des Handels und der Industrie erhalten und die darauf bezüglichen Geschäfte führen lassen wolle, so muss dies der Entschließung der Regierung vorbehalten bleiben « Die sächsischen Stände erhielten auf ihre Bitte, dem nächsten Provinziallandtag eine genaue Zusammenstellung über den Ertrag des Salzverkaufes vorzulegen, den Bescheid, daß diese Forderung »die den Provinzialständen angewiesene Stellung und Wirksamkeit übersteige." Diese und andere Beispiele mehr bei Venedey „14 Tage Heimatluft« S. 145 - 59. 2



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„die stärkste, ja fast die einzige Bürgschaft im Staatsleben" sei; mit Bedauern wird auf die immer noch vorkommenden Fälle von Beschränkungen a u f m e r k s a m gemacht. *) Hansemann unterstützte die allgemeine F o r d e r u n g nach Öffentlichkeit mit dem Hinweis darauf, wie günstig sich im Königreich Sachsen ihre W i r k u n g erwiesen habe, wie dort „in 15 Jahren die Intelligenz u n d der praktische Verstand sich durch etwas Öffentlichkeit u n d Freiheit ausgebildet haben."2) Der schlimmste Fehler lag aber in den Augen der rheinischen Politiker darin, daß die Regierung selbst diese beschränkten Kompetenzen nicht achtete. Sowohl Hansemann als Venedey u n d der Verfasser von „De la Prusse" sprechen ihre E n t r ü s t u n g darüber aus und kritisieren einzelne Fälle. 1823 war den Ständen das Petitionsrecht f ü r provinzielle Angelegenheiten gewährt worden, 1837 w u r d e dieses Recht durch folgende Bestimmung beschränkt: „ W e n n ein Mitglied gegen die Petition ist, wird o h n e Diskussion abgestimmt, o b die Petition im Ausschuß diskutiert werden soll oder nicht. Die Petition soll kurz und übersichtlich sein, und die Motive sollen der mündlichen Diskussion vorbehalten w e r d e n . " 3 ) Das Schicksal vieler Petitionen w u r d e es, daß sie in den meist der Regierung ergebenen Ausschüssen verändert oder begraben ¡wurden. Mit Bezug darauf, daß das Recht der Bitte „alten H e r k o m m e n s und mit der innersten N a t u r des Menschen u n d seinen Verhältnissen zum Staat innig verb u n d e n sei" u n d mit dem Hinweis, daß namentlich im absoluten Staat die Regierung die Bitten der Untertanen ungehindert an den T h r o n gelangen lassen müsse, fordert Hansemann die volle Aufrechterhaltung des Petitionsrechtes. Ebenso wünscht er, daß die Regierung „die echt deutsche G e w o h n heit", in Versammlungen die öffentlichen Angelegenheiten zu *) Verhandlungen des 7. rheinischen Provinziallandtages S. 451 und 453. »Der Vortrag eines Abgeordneten der Ritterschaft über den 29. Titel des Strafgesetzbuchentwurfs und das ganze Protokoll der 29. Sitzung musste von dem Herrn Landtagskommissarius infolge erhaltener Instruktion höherer Einsicht und Genehmigung vorgelegt werden." 2 ) Die politischen Tagesfragen, S. 15. 3 ) D e la Prusse. S. 221.



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beraten, nicht e i n s c h r ä n k e . E r äußert sich höchst unwillig über das Verhalten der Regierung, welche in den Rheinlanden, z. B. in Trier, mit Verboten gegen Versammlungen vorging, die zum Zwecke der gemeinschaftlichen Beratung von Petitionen veranstaltet wurden und erklärt das Recht zur Abhaltung solcher Versammlungen als das Minimum, das die Staatsregierung gewähren müsse. 2 ) Vor allem aber hielt sich die Regierung nicht an die beiden im Gesetz von 1823 den Provinzialständen gemachten Zugeständnisse, in Kommunalangelegenheiten der Provinz beschließen und bei allen .Gesetzen, welche Person, Eigentum und Steuern angingen, soweit sie die Provinz betrafen, mitberaten zu dürfen. Am klarsten finden wir die Beschwerden über diesen Punkt, die auch bei Venedey, Hansemann und in der Schrift „De la Prusse" vorgebracht werden, in der Adresse des rheinischen Landtags von 1837 ausgesprochen. Hier heißt es, daß man sich nicht auf eine Untersuchung einlassen wolle, ob durch das Gesetz von 1823 die Versprechungen des Art. 13 der Bundesverfassung erfüllt worden seien; die Provinzialvertretung sei als nützlich anerkannt worden, und man habe mit der Zeit eine Ausdehnung der konstitutionellen Rechte erwartet. „Aber eine Verminderung dieser Rechte hielt man nicht für möglich, und dennoch hat nicht eine Ausdehnung, sondern eine Verminderung stattgefunden." Es werden dann eine Reihe von Gesetzen angeführt, die entgegen den Bestimmungen des Gesetzes von 1823 den Ständen nicht zur Beratung vorgelegt worden waren, so das Gesetz über die Fideikommisse im Großherzogtum Berg 1828, über die Vormundschaft 1834, über die autonome Sukzession des Adels 1837, über die Aufhebung der Zivilehe; bei letzterem durften sie nur über die Art der Ausführung des Gesetzes, nicht über das Gesetz selbst beraten. 3 ) Nach Hansemann wurden die Stände auch sehr oft nicht zur Beratung bei Steuersachen zugezogen. Daß die Regierung tatsächlich die Stände nicht immer in Steuersachen zur Beratung zuzuziehen gedachte, geht aus einem rheinischen Landtagsabschied her1

) Die politischen Tagesfragen, S. 17 und 20. ) Die politischen Tagesfragen, S. 20 3 ) De la Prusse, 298/99.

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vor, in dem sie von der Absicht spricht, bei Steuerveränderungen „die Stimme der Provinzen jederzeit insoweit zu vernehmen und zu beachten, als sie dies mit den allgemeinen Interessen des Landes verträglich halte". 1 ) Scharf wird in der Adresse von 1837 hervorgehoben, was auch Hansemann, Venedey und der Verfasser von „De la Prusse" besonders mißbilligen, 2 ) daß den rheinischen Landtagen noch kein einziges vollständiges Provinzialbudget zur Beschlußnahme vorgelegt worden sei, keine Rechnung über die Verwendung der Provinzialgelder. Die Stände hätten bisher kaum über etwas anderes zu beraten gehabt als über das Irrenhaus in Siegburg und das Arbeitshaus in Brauweiler. Venedey charakterisiert das Mißliche dieser Sachlage, indem er sagt, „daß freilich manches durch die Stände zur Entscheidung kommt, daß aber gerade das, dessen Entscheidung sie befördern, durch die gewöhnlichen Provinzialbehörden und eine Kommission von etlichen Sachverständigen viel einfacher und viel schneller verhandelt werden könnte; wogegen gerade das, was der Beratung von Volksvertretern würdig ist, ohne Entscheidung bleibt und durch eine sanfte königliche Floskel beiseite geschoben wird." 3 ) b) Die Krelsstfinde und Stadtverordnetenversammlungen. Neben diesen durch das Gesetz von 1823 geschaffenen Provinziallandtagen bestanden in Preußen noch andere Institutionen, die dem Volk eine Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglichen sollten; es waren die Kreisstände und die Stadtverordnetenversammlungen. Über die Beurteilung der Kreisstände durch die rheinischen Politiker kann man sich kurz fassen, da ja die Kreisordnungen der Jahre 1827 und 28, aus demselben Geist geboren wie das Gesetz über die Provinzialstände, auch dieselben Gesichtspunkte zur Kritik lieferten. Auch hier wird die Zusammensetzung als ungerecht beklagt, da Rittergutsbesitzer, städtische Deputierte, die meist ') Beckerath, Die neuesten Landtagsabschiede, Kölnische Ztg. 1846, Nr. 28. 2 ) Venedey, Preußen u. Preußentum, S. 164. De la Prusse, S. 298 (also noch im Jahre 1842). 3 ) Preußen und Preußentum, S. 165.



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als Magistratspersonen O r g a n e der Staatsgewalt waren u n d Deputierte des bäuerlichen Standes, d. h. meist Schulzen und Richter, die das z u m Landstand nötige G r u n d e i g e n t u m besaßen, die Vertreter waren. Also auch diese Versammlung stellte nicht eine w a h r e Vertretung des Volkes d a r ; denn n u r die Besitzenden u n d die Beamten waren die Erwählten. Bei der Stimmverteilung war der ritterliche Großgrundbesitz dermaßen bevorzugt, daß B r ü g g e m a n n die Vertretung der anderen Stände in den meisten Kreisen f ü r rein nominell erklärt. !) In der Schrift „ D e la Prusse" werden außer der gänzlich ungerechten Z u s a m m e n s e t z u n g der Kreisstände auch ihre geringen Befugnisse u n d ihre Rechtlosigkeit bedauert. -'} Alle Kreistagsbeschlüsse bedurften zu ihrer A u s f ü h r u n g der Bestätigung von seiten der Regierung. Venedey will in d e r K r e i s o r d n u n g f ü r die Rheinprovinz noch besondere Sicherheitsmittel zur V e r h ü t u n g einer Opposition entdecken, „da die Rheinprovinz noch lange nicht auf der Stufe des echten preußischen Gehorsams, der demütig christlichen Untertänigkeit angelangt war." Er sieht diese Sicherheitsmittel darin, daß anstelle der Wahl auf Lebenszeit, wie sie in den alten Provinzen stattfand, 6 jährige Wahl angeordnet wurde, u n d daß bei den Wahlen die Behörden, „die meist schon weit besser in das Geheimnis des preußischen Staats, des passiven Gehorsams, eingeweiht sind", stark herangezogen w u r d e n . D u r c h alle diese Bestimmungen sind nach seiner M e i n u n g die V o r z ü g e der Kreisversammlungen, die er an sich f ü r ein sehr nützliches Institut hält, wieder a u f g e h o b e n . 3 ) Aus einer V e r t r e t u n g der Bedürfnisse der Bauern w u r d e n sie „einseitig zu einem Mittel, die Bauern durch die Beamten des Staates, die Landräte an der Spitze, nach Lust, L a u n e und Willkür hof- und schulmeistern zu k ö n n e n . " 4 ) Über die preußischen Stadtparlamente haben sich namentlich Venedey und der Verfasser von „ D e la Prusse" eingehend geäußert. Beide stimmen fast völlig überein; beide stellen sich g a n z u n d gar auf den Standpunkt der Stein*) 2 ) 3 ) 4 )

Preußens Beruf in der deutschen Staatsentwicklung, S. 68. De la Prusse, 228 ff. Preußen und Preußentum, S. 169. Vorwärts und rückwärts in Preußen, S. 77.



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sehen S t ä d t e o r d n u n g von 1808 u n d betrachten die Bestimm u n g e n der revidierten S t ä d t e o r d n u n g von 1831 als eine wesentliche Verschlechterung. Eine solche erblicken sie vor allem in der A n k n ü p f u n g der Wählbarkeit an einen bestimmten u n d ziemlich hohen Zensus, welchen die Städteordnung von 1808 nicht kannte. 1 ) Wir wissen, daß in dieser Beziehung H a n s e m a n n und mit ihm wohl überhaupt die Liberalen einen anderen Standpunkt vertraten,; ihrer M e i n u n g nach war ein gewißer Zensus berechtigt. Als ein Rückschritt w u r d e auch die Zulassung der Wahl nach Klassen angesehen, ein Modus, der 1S08 abgeschafft w o r d e n war. Venedey erblickt darin n u r die Absicht, die Eintracht und Selbständigkeit der Bürgergemeinden zu vernichten. 2 ) Wie bei den Kreisständen ist ihm u n d dem Verfasser von „De la Prusse" auch in der städtischen Vertretung der Einfluß und die Macht der Regierung zu groß. D a h e r verwarfen sie es, daß der König bei fortwährender Vernachlässigung oder bei Parteiungen in der Stadtverordnetenversammlung dieselbe auflösen, die Bild u n g einer neuen v e r o r d n e n u n d die Schuldigen auf eine gewisse Zeit oder f ü r immer ausschließen konnte, daß der König sich vorbehielt, den Gemeinden, die sich einer ganz besonderen Pflichtverletzung schuldig machten, die in der S t ä d t e o r d n u n g verliehene Verfassung zu entziehen, daß die Stadt alles dasjenige, was nach den Festsetzungen der Staatsbehörden erforderlich ist, o h n e weiteres zu leisten hatte. 3 ) Bürgermeister und Magistrat sahen sie als O r g a n e der Regierung an, die vollkommen unter dem Einfluß derselben standen. Aus diesem G r u n d e beargwöhnten sie es, daß dem Bürgermeister die Befugnis zustand, Beschlüsse des Magistrats, die er f ü r gesetzwidrig oder gemeinschädlich hielt, auf seine eigene Verantwortlichkeit zu suspendieren; ebenso mißbilligten sie die Bestimmung, daß der Magistrat an das Gutachten der Stadtverordnetenversammlung in Angelegenheiten. in welchen es auf Erfüllung von Pflichten gegen den Staat, gegen Institute und Privatpersonen ankam u n d wobei M Preußen und Preußentum, S. 180. 2 ) Preußen und Preußentum, S. 182. 3 ) Preußen und Preußentum, S. 174 und 176.

D e la Prusse, S. 231.



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örtliche Verhältnisse Einfluß hatten, nicht gebunden war. 1 ) In einem Artikel der Rheinischen Zeitung von 1842 wird noch auf einen anderen Punkt zu weitgehender Bevormundung von seiten des Staates aufmerksam gemacht, indem auf den § 121 der revidierten Städteordnung hingewiesen wird, durch welchen die Einführung von Gemeindeauflagen von der Genehmigung der vorgesetzten Staatsbehörde abhängig gemacht wurde. 2 ) Diese Meinung, daß die Gefahr einer Einmischung des Staates in die Kommunalangelegenheiten zu groß geworden und daß eine möglichste Beschränkung nötig sei, teilten die Liberalen mit den Radikalen; nur verlangten diese ein größeres Maß von Beschränkung als jene.

3. Verhalten der Krone und des Volkes in der Verfassungsfrage. Wenn wir zusammenfassen, was die rheinischen Abgeordneten über die preußischen Verfassungszustände bis zum Jahre 1847 dachten, so können wir den Standpunkt der Linken mit den Worten charakterisieren, die Otto Wesendonk im Frankfurter Parlament sprach: „Für mich und meine Partei existiert ein Rechtsboden noch nicht; er hat in Preußen f ü r uns auch früher nicht existiert. Auch das Gesetz vom 22. Mai 1815, auch die Gesetze von den Jahren 1819, 1816 und 23, auf welche man sich früherhin so viel berufen hat, stellen in Preußen den Rechtsboden nicht dar. Es blieb das absolute System in Preußen das herrschende, und die Krone konnte, wie sie etwas gegeben, es auch wieder zurückziehen." 3) Die Liberalen glaubten ebenfalls nicht, daß das absolute System durch diese Gesetze gebrochen sei; aber sie hofften, es auf dieser Grundlage brechen zu können, sie wollten auf derselben weiterbauen. Sie erkannten gewisse konstitutionelle Tendenzen in Preußen, sie schätzten einzelne' freiheitliche Institutionen, wie z. B. die Landwehr, und, wenn ihnen auch die zahlreichen Einrichtungen, die der konstitutionellen Tendenz widersprachen, nicht verborgen blieben, so war doch in ihnen die H o f f n u n g lebendig, daß sich der Staat immer 1

) Preußen und Preußentum, S. 176/77. ) Die Reform der rheinischen Gemeindeordnung, 1. XII. 1842. ») Sten. Ber. VI, 4433.

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mehr auf die neuen Kräfte stützen werde. Vor allem bestand zwischen ihnen und der Linken ein grundlegender Unterschied. Die Liberalen glaubten an den guten Willen der Krone; sie sahen, wie es Hansemann in den „Politischen Tagesfragen" mehrfach ausspricht, in dem König den Anreger und Spender aller fortschrittlichen Gaben. Das Volk erschien ihnen bis zu den 40er Jahren „politisch unmündig"; sie vermuteten in ihm nicht den genügenden Willen, noch die genügende Reife für eine Konstitution. Die lebhafte Bewegung, die sich in den 40 er Jahren im Volke zeigte, würdigten sie zwar; aber dennoch führten sie alle Neuerungen einzig und allein auf den freien und guten Willen der Krone zurück. Die Linke dagegen schob die Schuld an der ganzen Misère der Krone zu, sie glaubte und erwartete von ihr nie irgendwelche wahrhaft konstitutionelle Gesinnung. In seiner Schrift „Preußen und Preußentum" sagt Jacob Venedey, die Herrscher Preußens hätten nie eine wahre, wirksame Vertretung des Volkes gewollt. Schon 1815 war nach seiner Meinung nicht an eine wirkliche Volksvertretung, sondern nur an eine Provinzenvertretung gedacht. Auch diese Provinzialvertretung habe nur ein Scheinrecht gehabt. Alle anderen Versprechungen und Verordnungen scheinen ihm nur auf Täuschung berechnet, so auch die Kabinettsorder von 1820, die für die Regulierung der Staatsschulden den Beirat der Stände versprach. Bereits 1822 habe sich gezeigt, daß die Seehandlung die Zuziehung der Reichsstände unnötig mache, und daß sie ebensogut, wie früher der Staat selbst, Staatsschulden kontrahieren könne. Venedey und seine Parteigenossen sahen alle fortschrittlichen Regungen nur im Volk, und von diesem allein erwarteten sie alles Heil. Ihr Urteil war ebenso einseitig und ausschließlich wie das der Liberalen. Wenn diese in vielem die Schuld auf die politische Unmündigkeit des Volkes vor den 40 er Jahren schoben, so berücksichtigten sie nicht, daß bei den damaligen Zensur- und Preßverhältnissen die politische Bildung kaum anders sein konnte. Wenn sie die Krone als den Urquell aller guten, fortschrittlichen Gaben ansahen, so betrachteten sie dabei wohl ») Preußen und Preußentum, S. 160 - 62.



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die teilweise Unfreiwilligkeit der Gaben allzu wenig; sie unterschätzten den starken Druck, den die Zeitverhältnisse und die Bewegung im Volk auf die Krone ausgeübt hatten. Dagegen übersah die Linke die Schuld gänzlich, die das Volk an den Verhältnissen trug, indem es allzu lange geduldig und teilnahmslos zugeschaut und sich mit einer sehr bescheidenen Rolle begnügt hatte. Sie beging ferner den Fehler, daß sie durchaus nicht das Opfer ermaß, welches die Krone bringen mußte, daß sie sich gar nicht in die Lage der Krone versetzte, während die Liberalen das sehr wohl verstanden. In dieser Frage wie in allen anderen zeigt sich in ihrer Betrachtungsweise der preußischen Zustände derjenige wesentliche Unterschied, den Ludwig Simon einmal im Parlament so richtig mit den Worten charakterisiert: „Wir sind von Anfang an von zwei wesentlich verschiedenen Gesichtspunkten ausgegangen, die einen von dem Gesichtspunkt des Vertrauens, die andern von dem des Mißtrauens."

B. 1847 und 1848. 1. Das Patent vom 3. Februar 1847 und der Vereinigte Landtag. a) Der Kampf um die Wahrung und um die Erweiterung der alten Rechte. Mit dem Patent vom 3. Februar 1847 setzt die letzte Phase des großen Kampfes um die Verfassung in Preußen ein ; gewiß brachte dieses Patent manche Zugeständnisse und eröffnete neue Bahnen, aber das, was es gewährte, blieb weit hinter dem Geforderten zurück „und in den Basen der 1823 begründeten ständischen Verfassung Preußens wurde durchaus nichts geändert" 2) Auch zu diesem Schritt der Regierung nahmen die Rheinländer Stellung, auch hier traten sie bald mit ihrer Kritik auf den Plan. Ihre Stellung resultiert ganz klar aus ihren vorher erörterten Meinungen über das Gesetz von 1823. Demgemäß mußten ja die Radikalen dieses Patent ablehnen, das wieder n u r halbe Rechte brachte; sie mußten den Vereinigten Landtag ablehnen, der aus jenen Provinzialland2

Sten. Ber. IX, 6556. ) Mevissen, „Die Stände in Preußen", Hansen II, 208.



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tagen hervorging, welche sie als d u r c h a u s mangelhafte und nichtige Vertretungen ansahen. Für Karl Heinzen ist dieses Patent, das ohne B e f r a g u n g des Volkes erlassen worden ist, „plötzlich, wie es einem einfällt, eine Pfeife a n z u z ü n d e n oder eine P r o m e n a d e zu m a c h e n " , ! ) ein so elendes Machwerk, daß es f ü r ihn n u r den einen Wert hat, zu beweisen, wie sich die Zustände in Preußen entwickeln w ü r d e n , wenn man sich auf die Krone verließe. Etwas milder als die Mehrzahl der Radikalen berurteilt Venedey das P a t e n t ; bei aller „Beschneid u n g des guten alten Rechts" 2 ) erkennt er doch einen gewissen Fortschritt an, u n d auch dem Vereinigten Landtag läßt er eine gerechtere W ü r d i g u n g zu teil werden als die übrigen Radikalen. Die Liberalen begrüßten das Patent im allgemeinen als ein wichtiges, hoffnungsvolles Ereignis, wie es der gehobene T o n in Mevissens ersten Artikeln über den Vereinigten Landtag bezeugt. Geteilt waren die Meinungen unter ihnen n u r darüber, wie man sich in der Sache selbst verhalten solle. H a n s e m a n n war zuerst f ü r eine Inkompet e n z e r k l ä r u n g ; Beckerath erklärte sich f ü r die A.nnahme, wollte jedoch dem König g e g e n ü b e r die E r w a r t u n g auf weitere Zugeständnisse n u r in sehr s c h o n e n d e r Form ausgesprochen wissen, w ä h r e n d die meisten sich n u r auf den Boden des Patents stellten, in der H o f f n u n g , das hier Gegebene als Basis benützen zu können, um mit Bestimmtheit Rechtsv e r w a h r u n g einzulegen und erweiterte F o r d e r u n g e n zu stellen. Auf dem Glauben, daß es ihnen gelingen werde, durch eine Rechtsverwahrung diejenigen Rechte zu erlangen, die ihnen ihrer Meinung nach gemäß den früheren Gesetzen nicht vorzuenthalten waren, beruhte ihre anfänglich freudige Stimm u n g . Die E m p f i n d u n g e n , die C a m p h a u s e n damals in einem Brief ausspricht, werden wohl die der meisten rheinischen Liberalen gewesen sein; es heißt h i e r : „Als ich die preußische Konstitution las, war allerdings mein erstes G e f ü h l : Wie ist es möglich, mit diesem verklausulierten Geschenke etwas zu m a c h e n ? Mein zweiter w a r : Es wird schon g e h e n . " 3 ) Bei der Beurteilung des Februarpatents tritt die Periodi»Das Patent". In „Teutsche Revolution", S. 460. ) „Vorwärts und rückwärts in Preußen", S. 147. 3 ) Brief vom 9. II. 1847. Caspary, Ludolf Camphausen, S. 116. 2



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zitäts- und die Kompetenzfrage in den Vordergrund; Urteile, Pläne und Wünsche über die Zusammensetzung des Vereinigten Landtags treten zurück; sie hängen ja naturgemäß mit den Wünschen der Rheinländer über die Zusammensetzung der Provinziallandtage zusammen. Alle Liberalen stimmten überein in dem Bedauern, daß hinsichtlich der Kompetenzen die Versprechungen der Gesetze von 1820 und 23 nicht gehalten worden seien. In seinem Artikel „Die Kompetenz des Vereinigten Landtags" meint Mevissen, daß die formelle Rechtsbeständigkeit gewahrt sei, indem gemäß den früheren Gesetzen eine Repräsentation des Volkes, zwar nicht aus Wahl, sondern aus der Vereinigung der Provinzialstände, gebildet worden sei. Dagegen sei die materielle Rechtssphäre, die durch die früheren Gesetze den Reichsständen verheißen worden war, nicht verwirklicht.') Zu beweisen, inwiefern diese Rechtssphäre nicht verwirklicht worden sei, war sein und seiner Parteigenossen eifrigstes Bemühen auf dem Vereinigten Landtag. Am meisten vermißten sie alle die Gewährung der Periodizität, welche sie nach der Verordnung von 1820 als Recht beanspruchen zu dürfen glaubten. Ohne dieselbe schien ihnen ein gesicherter Rechtszustand nicht möglich zu sein, weil dann die Versammlung „ein Kind des Zufalls" 2) bliebe und weil „nicht ohne Gefahr für den Staat die Vorstellung genährt werden dürfe, man rufe und brauche die Stände nur in Zeiten des Geldbedürfnisses." s ) Erfüllte sie schon dieses schwankende Fundament des Landtags mit lebhafter Besorgnis, so mußte es sie noch mehr beunruhigen, daß neben dem Vereinigten Landtag die Vereinigten Ausschüsse und die Staatsschuldendeputation stehen sollten und ein kompliziertes System von Berechtigungen geschaffen wurde, das der einheitlichen Gestaltung des Verfassungswerkes hinderlich sein, zu Eifersüchteleien und zur Schwächung der Stände wie der Regierung führen würde.*) ') Mevissen, »Die Kompetenz des Vereinigten Landtags 1847». Hansen, II, 228/29. 2 ) Mevissens Rede. S. der 1. Vereinigte Landtag, II, 43. a ) Camphausen, Antrag auf Periodizität. S. der 1. Vereinigte Landtag in Berlin 1847, I, 624. 4 ) Vgl. Camphausens Rede. Ebenda II, 24.



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Gemäß der V e r o r d n u n g von 1815 forderten sie es als Recht, bei allgemeinen Gesetzen stets gehört zu w e r d e n ; sie wollten nicht, wie das Patent bestimmte, hie u n d da z u r Beratung zugezogen werden u n d meist hinter den Vereinigten Ausschüssen, einem altständischen Residuum, zurückstehen. Ebenso lehnten sie es ab, das ihnen durch das Gesetz von 1820 eingeräumte Recht der Mitgarantie bei A u f n a h m e von Anleihen mit der Staatsschuldendeputation zu teilen; sie verlangten dieses Recht f ü r „jedes neue Darlehn, nicht n u r f ü r Anleihen, f ü r welche das gesamte Vermögen des Staates z u r Sicherheit bestellt wird oder welche zu Friedenszwecken dienen." G e r a d e die Ü b e r t r a g u n g des Mitgarantierechts f ü r Kriegsanleihen an die Staatsschuldendeputation bildete einen P u n k t heftigster Opposition. Die Liberalen sahen darin die schwächliche und e n t w ü r d i g e n d e Voraussetzung, „daß ein Land wie Preußen jemals so unglücklich sein könnte, nicht einen ständischen Beirat beisammen zu haben, um Anleihen zu k o n t r a h i e r e n " ; 2 ) die Radikalen erblickten darin die Gefahr, daß die äußere Politik Preußens nur eine Hofpolitik sein w ü r d e . 3 ) Nicht g a n z einverstanden waren die rheinischen Politiker mit den Bestimmungen über die Steuerbewilligung; sie wünschten das Recht der Z u s t i m m u n g zu allen Steuern, auch zu den im Paragraphen 9 des Patents ausgeschlossenen Eingangs-, D u r c h g a n g s - u n d Ausgangszöllen, sowie denjenigen indirekten Steuern, deren Sätze auf Übereinkommen mit anderen Staaten beruhten. Ebenso wie diesen P a r a g r a p h e n hielten sie auch den folgenden, welcher im Kriegsfall außerordentliche Steuern ohne Z u s t i m m u n g des Vereinigten Landtags auszuschreiben erlaubte, f ü r unvereinbar mit der Vero r d n u n g vom 22. Mai 1815. Sie traten ferner f ü r das Recht des Vereinigten Landtags auf Feststellung des H a u p t f i n a n z etats und Kontrolle des Staatshaushaltes ein und zwar deshalb, weil sie es f ü r eine Notwendigkeit hielten, daß die Stände eine ihren Ansichten widersprechende Finanzverwalt u n g hindern könnten u n d weil der Regierung durch E r *) Adressentwurf Beckeraths. S. der 1. Vereinigte Landtag, II, 13. 2 ) Hansemanns Rede. Ebenda III, 1383. s ) Venedey, Vorwärts und rückwärts in Preußen. S. 135.



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leichterung .ihrer Verantwortlichkeit eine bedeutende moralische Stärkung erwuchs.*) Als einen der größten Fehler des Patents betrachteten sie es endlich, daß das Petitionsrecht, „das Minimum aller ständischen Rechte, das, als im Jahre 1815 auf dem Wiener Kongreß sämtlichen deutschen Staaten eine ständische Verfassung zugesichert worden, als von einer jeden ständischen Verfassung unzertrennlich gedacht u n d in offiziellen Erklärungen anerkannt worden ist", 2 ) noch immer nicht ganz unbeschränkt gewährt worden war. Auf f r ü h e r e Perioden der rheinischen Geschichte zurückgehend, bewiesen sie, wie alt eingebürgert dieses Recht bei ihnen sei, wie schon ein Vertrag des Großen Kurfürsten mit den kleveschen Landen eine V e r w a h r u n g desselben enthalte. 3 ) Sie verlangten das Petitionsrecht in vollem Umfange, nicht n u r f ü r innere, sondern auch f ü r äußere Angelegenheiten. W i e n o t w e n d i g diese F o r d e r u n g war, drängte sich ihnen von n e u e m mit aller Macht auf, als auf dem Vereinigten Landtag die von Beckerath und anderen eingereichten Petitionen wegen Aufrechterhaltung der nationalen Selbständigkeit Schleswig-Holsteins, also eine Angelegenheit, die nach ihrer Meinung mit Deutschlands u n d Preußens Interesse in innigem Z u s a m m e n h a n g stand, als unzulässig abgewiesen w u r d e n . In der festen Ü b e r z e u g u n g , daß aus einer lebhaften B e r ü h r u n g zwischen der Regierung u n d der Nation nur G u t e s erwachsen könne, strebten sie nach Beseitigung der Bestimmung, die eine V e r b i n d u n g der Abgeordneten mit ihren Kommittenten untersagte. Mit Bedauern w u r d e darauf hingewiesen, daß Beratungen von Kommunalvertretern über ihre a n die Deputierten zu richtenden W ü n s c h e f ü r unstatthaft erklärt worden waren. 4 ) Unter allen auf dem Vereinigten Landtag gestellten Anträgen betreffs A b ä n d e r u n g dieser Zustände ging derjenige H a n s e m a n n s am weitesten, indem er es u m der Gerechtigkeit willen f ü r nötig erklärte, daß allen Klassen erlaubt würde, sich mit Petitionen a n die Stände zu

2

) Hansen s ) 4 )

Hansemanns Rede. S. der 1. Vereinigte Landtag, II, 2245/46. Mevissen, „Die Kompetenz des Vereinigten Landtags 1847", II, 240. Stedmanns Rede. S. der 1. Vereinigte Landtag, III, 847. v. d. Heydt, S. der 1. vereinigte Landtag, III, 836.



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wenden, damit diejenigen, welche nicht vertreten seien, wenigstens ihre W ü n s c h e äußern k ö n n t e n . V o r allem war es eine Bestimmung, die das in dem Patent gewährte Petitionsrecht stark beeinträchtigte; wenn nämlich Bitten und Beschwerden n u r d a n n zur Kenntnis des Königs gebracht werden sollten, sobald sich in jeder der beiden Versammlungen (der Herrenkurie und der Dreiständekurie) i j i der Stimmen dafür entschieden hatten, so war damit einer kleinen Minderheit große Macht in die H a n d gegeben. „Es genügten also 24 .Herren', um durch ihr Veto den Anträgen d e r 2. Kammer das O h r der Krone zu schließen." 2) Was die Z u s a m m e n s e t z u n g des Vereinigten Landtags anbelangt, so erregte natürlich die neueingerichtete Herrenkurie das lebhafteste Interesse. Für die Radikalen, die Anh ä n g e r des Einkammersystems und fanatischen Adelshasser, war ein solches Institut selbstverständlich ein U n d i n g , und wenn sie sich überhaupt auf eine E r ö r t e r u n g darüber einließen, wie z. B. Venedey, so taten sie es nur, um es mit Spott und H o h n zu überschütten. In den Augen der Liberalen dagegen hatte ja eine erste Kammer ihre volle Berecht i g u n g ; aber mit der im Februarpatent geschaffenen waren auch sie nicht einverstanden. Mevissen bedauert es, daß nicht die Intelligenz aus dem Beamten- u n d Gelehrtenstande, die Vertreter von Universitäten herangezogen worden seien, und daß die Herrenkurie n u r solche Mitglieder habe, die sich im Besitz persönlicher, dem Bewußtsein der Rechtsgleichheit aller widersprechender Privilegien u n d Rechte befänden. Er macht auf die schlimmen Konsequenzen aufmerksam, die daraus entstehen könnten, wenn diese Herren n u r auf ihre Sonderrechte bedacht sein w ü r d e n . 3 ) Eben diesen Punkt greift auch Venedey auf, und er weist nach, daß im ganzen Landtag zum größten Teil n u r die Rechte des Adels gewahrt werden würden, wenn nach des Königs Worten die Stände n u r Vertreter ihrer eigenen Rechte wären. Nach seiner Berechnung kommen nämlich auf die ungefähr 600 Abgeordneten des Vereinigten Landtags 70 Herren, 231 Ritter ') Der 1. vereinigte Landtag III, 840. 3 ) Venedey, „Vorwärts und rückwärts in Preußen". ') »Der Herrenstand". Hansen II, 227. K a t h a n , Preussische Verfassung.

S. 180. 4

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und dazu noch die adligen Vertreter vom Stande der Landgemeinden. In seinem ja nach der Tagung des Vereinigten Landtags erschienenen Buch „Vorwärts und rückwärts in Preußen" zeigt er, wie der üble Einfluß der Herrenkurie sich bereits erwiesen habe, z. B. beim Bescholtenheitsgesetz, beim Judengesetz, bei dem Antrag auf Aufhebung der Vereinigten Ausschüsse. „Wir haben gesehen, daß diese Herren kein Herz fürs Volk haben; wir sehen, wie sie über der Korn- u n d Kartoffelbrennerei den eigenen Herrenstand, den Staat u n d das Volk vergessen; wir sehen, wie sie stets in Massen gegen die Rechte des Volks und der Stände stimmten." 2 ) Einer der größten Fehler der ganzen Institution lag nun aber nach Meinung der rheinischen Politiker darin, daß sie ganz abhängig von der Krone war, welche den Herrenstand nach ihrem Belieben organisieren und verstärken konnte. Dadurch war er in eine bedeutungslose Stellung herabgedrückt, in der er nach Mevissens Ansicht nicht mehr fähig war, seine eigentliche Aufgabe, vermittelnd, mäßigend, retardierend zu wirken, im wahren Sinne zu erfüllen. Wenn die rheinischen Politiker bei der Zusammensetzung der Herrenkurie eine Vertretung von Sonderinteressen befürchteten, so schien ihnen eine solche Gefahr ebenfalls durch die Bestimmung der itio in partes gegeben zu sein. Mit aller Energie trat Beckerath für Aufhebung dieses Paragraphen des Patents ein, der den Einheitsidealen der rheinischen Liberalen aufs schroffste widersprach. Die anfangs so hoffnungsvolle Stimmung der rheinischen Liberalen war bald verflogen. Die erste Enttäuschung, den ersten schweren Schlag hatte die Thronrede gebracht; welchen Eindruck sie auf die rheinischen Liberalen machte, läßt sich aus einem Briefe Beckeraths ersehen, der folgenden Passus enthält: „Soll ich jetzt aussprechen, was mir als Inbegriff der Rede erschien, so könnte ich sie nur eine Verteidigung des preußischen Absolutismus nennen, verbunden mit der nachdrücklich gegebenen Erklärung, daß derselbe in unserem Vaterland dauernd fortbestehen soll . . . . Wie sich aber auch die Sache wenden möge, den Absolutismus unter2

»Vorwärts und rückwärts in Preußen". ) S. 463.

S. 242/43.

— 51 — schreibe ich nicht; ich werde als Untertan auch einem absoluten Monarchen, soweit mein Gewissen es zuläßt, Gehorsam leisten, aber als Vertreter des Volks würde ich die mir anvertrauten Interessen und meine eigene Überzeugung verraten, wenn ich schwiege, wo klar in den Gesetzen begründete Volksrechte, die das Vaterland als eine Bürgschaft seiner Zukunft betrachtet, als nicht bestehend angesehen werden." Durch die Thronrede, durch die Reden der Regierungskommissare mußte den Rheinländern wieder die Divergenz zwischen ihren Ansichten und denjenigen der Regierung klar werden. Der König wollte „keine Charte, keine periodischen Fieber", 2 ) ihm waren moderne Konstitutionen mit ihren rechtlichen Garantien und dem Mitregieren der Stände verhaßt, er und seine Anhänger sahen in allen solchen Gewährungen eine Schwächung der Krone. Die rheinischen Liberalen drangen auf Sicherung der Volksrechte, sie sahen in der Anteilnahme der Bürger am staatlichen Leben etwas Notwendiges und durchaus Nützliches; aber sie erblickten in diesen Rechten durchaus nicht eine Gefährdung des monarchischen Prinzips, sie wollten eine starke, aber konstitutionelle Monarchie. Im Laufe der Verhandlungen offenbarte es sich immer mehr, daß eine Einigung mit der Regierung nicht möglich sei, daß sich zwei Faktoren nicht verständigen konnten, von denen der eine im Februarpatent gewissermaßen einen Abschluß, der andere nur eine Stufe in der Entwicklung der ständischen Gesetzgebung sah. Infolgedessen erschien den Rheinländern jetzt auch das Patent in einem ungünstigeren Lichte; Mevissen erklärt in einer Rede, daß selbst bei Gewährung aller reklamierten Rechte die Verfassung Preußens noch nicht mit der Verfassung anderer konstitutioneller Länder auf gleicher Stufe stehen würde; aber „er wolle nicht in das Gebiet der Wünsche, die durch diese Differenz begründet werden können, hinüberschweifen." 3 ) Solche Wünsche, wie z. B. die Gewährung des Beschlußrechts für alle Gesetze, stellten die Rheinländer nur zurück, weil sie es für nötig hielten, ihr ganzes Streben zunächst auf die *) Brief Beckeraths an seinen Bruder 1847. Kopstadt, S. 29. 2 ) Brief an Metternich aus dem Jahre 1844. Treitschke V, 272. *) Rede aus der Adreßdebatte. S. der 1. Vereinigte Landtag, II, 4 3 . 4*



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W a h r u n g der alten versprochenen Rechte zu konzentrieren. Wieviel schärfer ihre Ansichten dadurch geworden waren, daß sie selbst in diesem Streben auf heftigen Widerstand stießen, beweist ein nach Schluß des Landtags geschriebener Artikel Mevissens. Hier heißt es : „Der innere Riß zwischen Regierung und Volk, der seit Jahren in einer Reihe unvolkstümlicher Gesetze teils sich ausgeprägt, teils in den in dem Widerspruche des Volkes vor der Geburt erstickten Gesetzentwürfen sich dokumentiert hatte, fand seinen vollen historischen Ausdruck in der neuen Verfassung, u n d man darf wohl sagen, daß kaum je einem Volke mit größerer Offenheit, festerer Überzeugung von ihrer Güte eine mit seiner Kulturstufe im grellsten Widerspruch stehende Verfassung geboten worden ist." b) Pressfreiheit und Judenemanzipation. Diese Verfassung hatte ja, von den schon erwähnten Mängeln abgesehen, eine ihrer dringendsten Forderungen, nämlich die Aufhebung der Zensur, f ü r die sie stets ebenso lebhaft wie für die Erweiterung der ständischen Rechte gekämpft hatten, unerfüllt gelassen. Mit seltener Einmütigkeit hatten die rheinischen Radikalen, Liberalen und Ultramontanen zusammen gestritten, um den bisherigen Zustand, den sie eines Volkes von so großer Intelligenz unwürdig hielten, zu beseitigen. Die Zensur als herrschendes Prinzip war ihnen verhaßt; denn sie war ihnen gleichbedeutend mit Willkür. Es erfüllte sie mit tiefster Erbitterung, wenn sie sahen, wie die Fülle der Gedanken, die im deutschen Volke lebte, erst der Gnade eines Zensors, der Meinung eines einzelnen preisgegeben wurde, ehe sie ans Licht treten durfte. Und vergrößert wurde diese Erbitterung noch dadurch, daß die Männer, die als Richter über die deutsche Intelligenz berufen waren, oft höchst unfähige Beamte waren, die bei Ausübung ihrer Tätigkeit manchmal wahre Heldenkunststücke vollbrachten. s ) Um aus der Menge von Nachrichten über äußerst seltsame Zensurstriche wenigstens eine herauszugreifen, sei hier die Hansen II, 233. ) Der Oberpräsident sagte selbst einmal zu Brüggemann: »Ja, denken Sie denn, ich könnte meine besten Regierungsräte zu Zensoren hergeben»? L. Salomon, Geschichte des deutschen Zeitungswesens. III, 361. a



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Erzählung Karl Heinzens angeführt, daß ein Zensor eine Buchhändleranzeige über Dantes „Göttliche Komödie" strich, weil er „die Gottlosigkeit nicht dulden wollte, mit göttlichen Dingen Komödie zu spielen". 1 ) Die E r w ä g u n g , daß gegen V a g a b u n d e n u n d Strandläufer ein gesetzliches, gegen die Zeit u n g e n aber polizeiliches Verfahren bestand, mußte natürlich eine aufreizende, verletzende W i r k u n g a u s ü b e n . 2 ) Man machte Front gegen einen Zustand der Rechtlosigkeit, in dem auch die allerstrengste H a n d h a b u n g der Zensur, wenn sie d e r Regierung beliebte, f ü r gesetzlich erklärt werden konnte. 3 ) Man verwahrte sich gegen eine Regellosigkeit, die es e r m ö g lichte, daß in der einen Provinz zum D r u c k erlaubt, was in der anderen verboten w a r ; dabei hatte man z. B. im Auge, daß in Berliner Zeitungen die Artikel, die aus ost- u n d westpreußischen Zeitungen abgedruckt werden sollten, nicht die Zensur passierten. 4 ) Mit unermüdlichem Eifer wiesen die rheinischen Politiker auf die schlimmen Folgen einer solchen Zwangsherrschaft hin, auf die Demoralisation, die sie bewirkte. Jakob Venedey schildert, wie man sich an kleine halbe Lügen, an ein w e n i g Hinterlist, ein wenig Heuchelei, an ein wenig geistigen Meuchelmord gewöhnte, um doch noch etwas von der Wahrheit durchzubringen, und er behauptet, daß „jedes Blatt Deutschlands auf jeder Spalte sein Schock Notlügen habe." 5) Mit Recht konnte die Rheinische Zeitung den Vorwurf, daß es in der Presse an faktischen Wahrheiten mangle, mit der B e g r ü n d u n g zurückweisen, daß der Deutsche seinen Staat ja n u r vom Hörensagen k e n n e u n d daß man nicht zu einem Fehler der Zeitungen machen dürfe, was ein Fehler des Staates sei. 6 ) In der Tat konnten die Zeitungen infolge der strengen Zensur nichts a n d e r e s tun, als sich den ausländischen Verhältnissen z u z u w e n d e n , spaltenlange Berichte über China, Nordamerika usw. zu bringen oder sich betreffs der heimischen Verhältnisse in M D i e preußische Bureaukratie, S. 117. ) Rheinische Zeitung, 5. I. 1843.

2 3

4 6

) Heinzen, D i e preuß. Bureaukratie, S. 115. ) Rheinische Zeitung, 10. VII. 1842. ) »Vorwärts u n d rückwärts in Preußen.

') 8. I

1843.

S. 4 4 4 / 4 5 .



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Spekulationen und Übertreibungen zu ergehen, was wiederum ein starkes Mißtrauen des Publikums in die Richtigkeit der Zeitungsnachrichten zur Folge hatte. In derartigen traurigen Wirkungen der Zensur sahen die rheinischen Politiker aber nicht nur einen Schaden für das Volk, sondern auch einen Nachteil für den Geist und das Ansehen der Regierung. Die öffentliche Meinung war verfälscht, indem die Zensur danach strebte, sie so zu gängeln, daß sie dem Kurse der Staatsgewalt folgte. Dadurch aber, daß die Regierung nicht die Verbindung mit dem lebendigen Strom der öffentlichen Mein u n g suchte, daß sie der Kritik auswich, anstatt ihr Trotz zu bieten, entbehrte sie nach Ansicht der Rheinländer eins der wichtigsten Mittel zu ihrer Kräftigung und Gesundung und gab nur ein beklagenswertes Zeichen von Schwäche und Verknöcherung. Vor allem entging es den rheinischen Politikern nicht, daß die Zensur trotz aller Künste ohnmächtig blieb, daß sie auf alle Arten umgangen wurde. Unter solchen Verhältnissen konnte der von ihnen allen so beklagte Zustand eintreten, bei dem einerseits Männer wie Dahlmann sich veranlaßt fühlten, von der Betätigung in der Presse abzusehen, während andrerseits die Ausbreitung der extremsten politischen und sozialen Lehren sowie der verbotenen Bücher nicht verhindert werden konnte. Zwar hatte bald nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. eine bessere Zeit für die Presse begonnen, und mit Freuden hatten die Rheinländer den Erlaß von 1841 begrüßt, der bestimmte, daß eine „eines edlen Zwecks" bewußte Kritik der staatlichen Verhältnisse und Einrichtungen in den Zeitungen zugelassen werden sollte. Aber die Freude war nur kurz; die kräftige Regung der öffentlichen Meinung, die energische Opposition, die sich infolge dieser neuen Freiheit kundgab, erschreckte die Regierung, und so erfolgten 1843 verschärfte Zensurvorschriften. Die im Jahre 1842 entstandene Rheinische Zeitung, die mit scharfen Waffen gegen Bureaukratie und Ständewesen, gegen die Theorien der Restauration zu Felde gezogen war, mußte dem Haß der Bureaukratie weichen, die hilflos und angsterfüllt den Geist, der 1 ) Aus den Anträgen Mevissens auf Landtag. Hansen II, 255 ff.

Preßfreiheit im

Vereinigten

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ihr hier entgegentrat, betrachtet hatte. 1843 wurde die Rheinische Zeitung verboten, u n d die Regierung setzte mit dieser Maßregel ebenso alles in Harnisch, wie es einst im Jahre 1816 durch das Verbot des Rheinischen Merkurs geschehen war. D a r ü b e r schrieb N e i g e b a u r : „Die Suppression des Rheinischen Merkurs brachte einen sehr üblen Eindruck unter den Bewohnern der Rheinprovinz hervor, u n d manche im Finstern schleichende V e r l e u m d u n g der Regierungspläne ward d a d u r c h bei einem großen Teile derselben akkreditiert, und seit dieser Zeit verlor der treffliche Geist in der Rheinprovinz, den der edle Generalgouverneur geweckt hatte, bedeutend u n d sichtbar." Von dem Publikandum über die Unterd r ü c k u n g der Rheinischen Zeitung sagt Heinzen, daß es „der Totenzettel der freieren Geistesrichtung sei", und er führt den Brief eines Abonnenten, eines schlichten L a n d m a n n e s an, in dem es heißt: „Bis hierhin hatte ich alle H o f f n u n g auf unsern K ö n i g ; aber jetzt ist alles vorbei; Zensur und doch verboten, das will mir nicht in den Kopf." 2 ) Die auswärtigen Zeitungen, welche preußische Zustände freier besprachen u n d von der preußischen Zensur nicht erreicht werden konnten, wurden verboten, so die Leipziger Allgemeine Zeitung, die Bremer- u n d die Weserzeitung. Eine scharfe U n t e r d r ü c k u n g der öffentlichen Meinung setzte wieder ein, und es kam so weit, daß in einer Adresse des 8. Rheinischen Landtags der Zustand der Presse als ein „höchst trostloser" bezeichnet werden konnte. 3 ) N u r wenige große Zeitungen wagten es noch, einen liberaleren Ton a n z u s c h l a g e n ; der tägliche Kampf mit der Zensur hatte sie m ü r b e gemacht. Das Entstehen einer freimütigen Lokalpresse war vollends unmöglich, da die Landräte die Zensoren in den Kreisstädten waren. Wie sie z. B. in der Moselgegend eine offene Darlegung der Verhältnisse verhinderten, schildert ein Artikel der Rheinischen Zeitung. 4 ) Die Härte der Zensur w u r d e aber nicht n u r von der Tagespresse, sondern von der ge-

Die angewandte Cameralwissenschaft, S. 75. ) D i e preußische Bureaukratie, S. 113 u. 121. 3 ) Der 8. rheinische Landtag, S. 196/97. *) 20. I. 1843.

2



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samten literarischen Produktion empfunden. Daß ein Buch wie Brüggemanns „Preußens Beruf in der deutschen Staatsentwicklung", ein so ausgesprochenes Dokument preußenfreundlicher Gesinnung, ein so hoffnungsfroher Hymnus auf Preußens Zukunft, Schwierigkeiten bei der Zensur fand, scheint kaum glaublich. Als eine „höchst drückende und die Härte der Zensur noch überschreitende Maßregel" wurde die Bestimmung empfunden, daß die zensurfreien Zwanzigbogenschriften 24 Stunden vor ihrem Erscheinen der Polizei vorgelegt werden mußten, die sie beschlagnahmen konnte. 1 ) Karl Heinzen schildert, wie man in Berlin auf immer neue Mittel zur Unterdrückung des Geistes sann. Anklagen wegen Beleidigung des verstorbenen Königs wurden üblich und erregten großes Aufsehen; Hausdurchsuchungen, Bücherverbote waren alltäglich. Man ging schließlich mit Verlagsverboten vor, verpflichtete die Buchhändler, nur von bekannten oder bestimmten Firmen Bücher zum Verkauf anzunehmen, und „die allerneuste und allergenialste Erfindung des Berliner Polizeigeistes" bestand darin, den Buchhändlern das Ehrenwort abzufordern, daß sie keine verbotenen Bücher verkauften. 2 ) Bei solcher Lage der Dinge gewann die schon 1830 von Hansemann geäußerte Meinung, daß „in bezug auf Preußen eine ernste Diskussion über die Nützlichkeit o d e r Schädlichkeit der Preßfreiheit janz überflüssig sei", 3 ) erneute und erhöhte Geltung. Immer lauter und zahlreicher wurden die Stimmen, die Preßfreiheit forderten; Beckerath berief sich auf die in der Bundesakte gegebene Zusicherung der Preßfreiheit für alle Bundesstaaten; 4 ) wiederholt gingen von den rheinischen Landtagen Petitionen um Preßfreiheit aus, u n d auf dem Rheinischen Landtag von 1845 erklärte sich kein Mitglied mehr für Zensur dem Prinzip nach. In seinem dem Vereinigten Landtag eingereichten Antrag begründete Mevissen die Notwendigkeit der Preßfreiheit mit der ihm eigenen Tiefe

2

) lution«, a ) *) Zeitung

Der 8. rheinische Landtag, S. 196/97. Eine Mahnung an die teutschen Liberalen". In „Teutsche RevoS. 208. Denkschrift von 1830, aaO. § 27. Die neuesten Land tagsabschiede. (Über die Preßfreiheit). K ö l n . 1846, Nr. 33.



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u n d Großzügigkeit, indem er sagte: „ D i e Reformation hat ihr W e r k n u r halb vollendet, solange noch eine Präventivzensur dem G e d a n k e n Fesseln anlegen, das Kind des Geistes im Mutterleibe töten darf. Glaubens- u n d Gedankenfreiheit sind erst d a n n wahrhaft vorhanden, w e n n es jedem unben o m m e n ist, das Geglaubte u n d E r k a n n t e frei zu verkünden, f ü r seine Ü b e r z e u g u n g J ü n g e r zu w e r b e n und ihre Wahrheit im freien Kampfe zu erproben." D e r Kampf um Preßfreiheit war ja nur ein Teil des großen Kampfes um Öffentlichkeit des staatlichen Lebens, den schon der erste Vorkämpfer des rheinischen Liberalismus Fr. Benzenberg mit seiner Devise „Alles m u ß öffentlich sein" b e g o n n e n hatte u n d den die rheinischen Politiker der vierziger Jahre unermüdlich fortführten. V o n der Rechnung, die sie der Regierung in dieser Hinsicht auf dem Vereinigten Landtag präsentiert hatten — Öffentlichkeit der Landtagsverhandlungen, der Stadtverordnetenversammlungen, A u f h e b u n g der Zensur —, blieb manches u n b e g l i c h e n ; Positives erreichten sie in diesen wie in, anderen Fällen wenig. Sie mußten sich damit begnügen, ihre G r u n d s ä t z e klarzulegen und zu verfechten; das taten sie auch in einer Frage, in der sie bei der Regierung sehr wenig E n t g e g e n k o m m e n fanden, nämlich in der Frage der Judenemanzipation. B r ü g g e m a n n weist nach, wie sich in den Diskussionen über Judenemanzipation der wahre, praktische Kern eines Prinzipienstreits zeige, wie es im G r u n d e ein rein politischer Streit sei um Friedrich 1!. und sein Landrecht oder Herrn von Haller und seine Restauration. 2 ) Die rheinischen Liberalen u n d Radikalen betrachteten die in Regierungskreisen gehegte Idee vom christlich-germanischen Staat als eine unhaltbare Theorie, die zu Konflikten, zum Verlust vieler f ü r den Staat nützlicher Kräfte f ü h r e und namentlich auch f ü r die freie Wissenschaft geradezu verd e r b e n b r i n g e n d sei. Eben weil sie die Verquickung von religiösen u n d staatlichen D i n g e n f ü r schädlich ansahen, verlangten sie die Unabhängigkeit bürgerlicher u n d politischer Rechte vom religiösen Bekenntnis u n d traten f ü r völlige J u d e n emanzipation ein. Gegen den Gesetzentwurf, den die Regie») Hansen II, 255 ff. 2 ) Preußens Beruf in der deutschen Staatsentwicklung, S. 104.



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r u n g zur Regelung der Judenfrage dem Vereinigten Landtag vorlegte, opponierten sie aber noch aus anderen Gründ e n ; als Freunde der Gleichheit, als Verehrer des Prinzips vom allgemeinen Staatsbürgertum wandten sie sich gegen die neuen Sonderungen, die dieser Gesetzentwurf plante. Ihr Bestreben war es ja, Trennungen zu beseitigen und durch Ausstattung aller mit politischen Rechten eine innigere Verbind u n g zwischen dem Staat und jedem seiner Glieder zu erlangen. Trotz der geringen Ergebnisse, die sie erreicht hatten, bedauerten die Liberalen nicht, daß sie auf das Patent eingegangen waren; sie würdigten „die großen moralischen Resultate, die der Vereinigte Landtag f ü r die politische Entwicklung Preußens und mehr oder weniger auch für Deutschland gehabt hatte." Der G a n g der Ereignisse bewies ihnen, daß sich keine ihrer Erwartungen realisieren sollte. Ihre Stimm u n g wurde immer skeptischer, und Camphausen schrieb im September 1847: „Ich fange an zu ahnen, daß ich mit meinen mäßigenden Tendenzen in Berlin ein großer Sünder gewesen bin." 2)

2. Die Verfassungskämpfe des Jahres 1848 und die oktroyierte Verfassung. In diesen traurigen Zustand des Hinschleppens, des Abwartens, des Zögerns schleuderte die Pariser Februarrevolution ihren Zündstoff hinein. In den Rheinlanden entstand eine lebhafte E r r e g u n g ; Adressen, Deputationen, Versammlungen waren an der Tagesordnung, alles, was im Jahre 1847 gefordert worden war, wurde weit überboten; demgegenüber fanden die Rheinländer das unverändert langsame, zögernde Tempo der Regierung verfehlt und unzeitgemäß. Von der am 5. März erfolgten Gewährung der vierjährigen Periodizität an den Vereinigten Landtag sagt Hansemann, daß sie „ein merkwürdiger Beleg der Täuschung und Unkunde der Regierung über die Bedeutung der Pariser Ereignisse und den politischen Zustand des Landes gewesen sei." 3 ) Das Patent !) Beckerath, Sten. Ber. VI, 4446. 2 ) Brief Camphausens an seinen Bruder Otto, Caspary, S. 143. 8 ) Das preußische und deutsche Verfassungswerk, S. 83.



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v o m 14. März, welches Beratungen über eine Reform des deutschen B u n d e s auf einem Fürstenkongreß verhieß und d e n Vereinigten L a n d t a g auf den 27. April berief, um bei der A u s f ü h r u n g der erforderlichen Maßregeln mitzuwirken, erregte überall Mißbilligung. H a n s e m a n n schreibt darüber an Mevissen: „Das Gewährte g e n ü g t nicht, es sind n u r allgemeine Redensarten. Keine Zusage einer freien Verfassung, noch nichts von den freiheitstötenden Maßregeln z u r ü c k g e n o m m e n . D e r Landtag auf den 27. April, der Kongreß auf den 25. März berufen, — wir sollen also keinen Einfluß haben auf den letzteren. Alles das ist das alte System der preußischen Pfiffigkeit, was niemals klug war, jetzt aber sehr d u m m ist." ') Mit dem Patent vom 18. März waren die Rheinländer im allgemeinen nicht ganz einverstanden, weil es ihnen zu wenig Positives enthielt. Der Standpunkt der Liberalen hatte sich verschoben ; durch langes vergebliches Warten enttäuscht, hatten sie ihre H o f f n u n g e n auf die Regierung bis auf ein Minimum reduziert; sie waren m e h r in die Opposition gedrängt worden, sie urteilten schärfer u n d skeptischer. Aus diesem Gesichtsp u n k t heraus erklären sich ihre Urteile über die Revolution. Sie erkannten, wie es Beckerath im Frankfurter Parlament ausspricht, die E r h e b u n g des Volkes in der Revolution zu Recht an, 2 ) u n d sie stimmten wohl alle mit ihm in der B e g r ü n d u n g überein, die er dieser Ansicht gab, indem er sagte: „ W e n n einem Volke die heiligsten Rechte verk ü m m e r t werden, w e n n die Presse nicht frei ist, die persönliche Freiheit nicht geschützt wird, die Volksvertretung gar nicht oder n u r unvollkommen vorhanden ist, dann hat die Bewegung, die diese unveräußerlichen G ü t e r zu erlangen strebt, eine große Berechtigung zur Seite." 3 ) Auch in den Liberalen hatte sich jetzt die Erkenntnis durchgesetzt, die Venedey schon 1839 in seiner Schrift „Preußen u n d Preußent u m " ausgesprochen hatte, daß in Preußen eine wahre Volksvertretung, eine V e r f a s s u n g n u r durch eine Revolution m ö g lich gemacht werden könnte. 4 ) Trotzdem war ihnen der !) Brief v. 16. III. 1848; Hansen II, 344. 2 s

) Sten. Ber. III, 1899.

) Sten. Ber. I, 416.

4

) S. 160.



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revolutionäre Weg; die revolutionären Mittel nicht angenehm, und darin unterschieden sie sich von den Radikalen, die sich im großen und ganzen darüber keinerlei Skrupel machten und nur in Tönen höchster Begeisterung von der Revolution sprachen. Den Standpunkt dieser Männer legt Ludwig Simon einmal im Frankfurter Parlament dar, indem er sagt, daß sich in Preußen keine rechtliche Entwicklung vollziehen konnte, daß ein Druck stattfinden mußte. Die Schuld an dem Blutvergießen schiebt er der Hartnäckigkeit zu, mit der man vom alten System keinen Finger breit nachgab. Er betont ausdrücklich, daß das Volk nichts geschenkt erhalten, sondern sich seine Rechte errungen habe. Von der Bewegung ergriffen, erkannten die Liberalen, daß der W e g langsamen Weiteraufbaus nicht mehr gangbar sei. Wenn Mevissen in einem Briefe vom 21. März schreibt: „Mit einzelnen Zugeständnissen ist in Preußen nichts mehr getan. Wir müssen jetzt den Augenblick ergreifen und eine Konstitution mit der Krone vereinbaren, worin alle Freiheiten des Volkes Garantie finden," 2) so geht daraus hervor, wie ihn die Gewalt der Ereignisse vorwärts treibt, und wie er es für nötig hält, den neuen, alle früheren Ansprüche weit übersteigenden Forderungen des Volkes Rechnung zu tragen. Im Lichte der neuen Ereignisse erschien auch ihnen jetzt eine auf ständischer Gliederung aufgebaute Institution wie der Vereinigte Landtag als überholt, und es erhoben sich im Rheinland viele Stimmen f ü r Auflösung des Vereinigten Landtags und für Erlaß eines Wahlgesetzes zwecks Einberufung einer neuen Versammlung. Demgegenüber erklärte sich eine große Anzahl für Aufrechterhaltung der Rechtskontinuität, also für ein nochmaliges Zusammentreten des Landtags, allerdings nur zu dem Zweck, daß er das Wahlgesetz berate. 3 ) Dabei bestand nach Stedmanns Worten im Fünfziger-Ausschuß die Voraussetzung, daß die Stände als Männer des Volks von der Gewalt der herrschenden und entfesselten Ideen durchdrungen seien und freiwillig auf ein Mandat verzichten würden, das ihnen durch die Wahl verschiedel

) ) ') System, a

Sten. Ber. 3446. Brief Mevissens an Hansemann. Hansen II, 348. Vgl. Mähl, Die Überleitung Preußens in das S. 60 - 62 und S. 66.

konstitutionelle



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ner Stände beigelegt war. l ) Um die Herstellung der Ordnung und eine allgemeine Beruhigung zu erreichen, vor allem auch, um für das Ministerium einen festen, gesetzlichen Boden zu gewinnen, entschlossen sich die damaligen Minister, Camphausen und Hansemann, dem Landtag nicht nur das Wahlgesetz, sondern auch „den Entwurf einer Verordnung über einige Grundlagen der künftigen preußischen Verfassung" vorzulegen. Bei Beratung der einzelnen Punkte traten namentlich Mevissen und Beckerath für eine Ausgestaltung im liberalsten Sinne ein, und überhaupt trug ja der 2. Vereinigte Landtag den Forderungen der neuen Zeit in weitgehendem Maße Rechnung. Trotz alledem blieb doch ein gewisses Mißtrauen gegen ihn bestehen, das einen erneuten und allgemeinen Ausdruck fand, als das Ministerium die von den Rheinländern höchst abfällig beurteilte Bestimmung traf, der Landtag solle die Wahlen zum Frankfurter Parlament vornehmen. Mit größter Entschiedenheit sprach sich Pagenstecher aus Elberfeld im Fünfzigerausschuß dagegen aus, indem er betonte, daß der preußische Vereinigte Landtag „keine Volksrepräsentation, sondern nur eine Versammlung von reichen Gutsbesitzern sei, die unmöglich maßgebend sein könne für die Männer, deren Stimme da gehört werden soll, wo es sich um Interessen des großen Volkes handelt." 2) Mit der oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember 1848 wurden die Verfassungskämpfe in Preußen damals in der Hauptsache abgeschlossen. Um die Beurteilung dieser Verfassung durch die Rheinländer richtig zu verstehen, wird es nötig sein, auf ihre Vorgeschichte -und ihren Ursprung etwas näher einzugehen. Die Einberufung der preußischen Nationalversammlung zur Vereinbarung einer Verfassung erregte bei den rheinischen Politikern zunächst eine gewisse Mißstimmung. Man fürchtete Kollisionen mit dem Frankfurter Verfassungswerk und hegte Mißtrauen, wie es Beckerath und Mevissen in einem Schreiben an das Berliner Ministerium offen aussprachen. 3 ) Gelegentlich des Raveauxschen Antrags wurde die Frage über die Stellung der Regierungen und Verhandl. des deutschen Parlaments. ) Verhandl. I. c. II, 14. ») Hansen II, 373. 2

H g . von Jucho I, 18.



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Versammlungen der Einzelstaaten zu der deutschen Nationalversammlung im Frankfurter Parlament ventiliert, und nach langen Debatten kam ein Beschluß zustande, nach welchem „alle Bestimmungen einzelner deutscher Verfassungen, welche mit dem von der Nationalversammlung zu gründenden allgemeinen Verfassungswerke nicht übereinstimmten, nur nach Maßgabe des letzteren als gültig zu betrachten" sein sollten. A l s nun bekannt wurde, daß die preußische Regierung dies im § 79 ihres Verfassungsentwurfs schon vorher anerkannt habe, waren die rheinischen A b g e o r d n e t e n sehr befriedigt und sprachen ihre Genugtuung darüber mehrfach im Parlament aus. D e r Berliner Versammlung brachten sie zuerst einiges W o h l w o l l e n entgegen, aber das immer stärkere Überhandnehmen der radikalen Richtung in ihr bewirkte es, daß die Liberalen sich allmählich ablehnender verhielten, während die rheinischen Radikalen sie mit Begeisterung als H o r t der Freiheit priesen und ihre ganze H o f f n u n g auf sie setzten, nachdem die Position der Linken in Frankfurt so stark erschüttert worden war. Sie stellten sich auch bei den N o v e m berereignissen im Jahre 1848 vollkommen auf die Seite der Berliner Versammlung und sprachen der Regierung das Recht ab, die Nationalversammlung zu vertagen und zu verlegen. Die Liberalen nahmen einen vermittelnden Standpunkt e i n ; als aber der Steuerverweigerungsbeschluß erfolgte, zählten sie zu denjenigen, die ihn für nichtig erklärten, während die rheinischen Radikalen auch ihn für Recht erkannten. L u d w i g Simon erklärte ihn nicht nur für einen Akt des Rechts, sondern für einen Akt der N o t w e h r . B a l d nach diesem Ereignis faßte das Ministerium Brandenburg den Plan zur O k troyierung einer Verfassung. In Anbetracht der geringen H o f f n u n g e n , die noch auf die Berliner Versammlung zu setzen waren, mit Rücksicht auf die Gefahren, die v o n einer eventuell neugewählten Versammlung drohten, sah das Ministerium für die Stärkung der Krone und die Beruhigung des Landes kein besseres Mittel als die Oktroyierung einer liberalen Verfassung. Daß der Plan zur Ausführung kam, dazu trugen die Beschlüsse von Kremsier und nach Meineckes Ansicht v o r allem ! ) Sten. Ber. V, 3449.



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die Z u s p i t z u n g des Verhältnisses zu Frankfurt bei. Die Frankf u r t e r Beschlüsse, welche von der preußischen R e g i e r u n g verlangten, die Verlegung der Nationalversammlung nach B r a n d e n b u r g zurückzunehmen und das unpopuläre Ministeriuni B r a n d e n b u r g zu entlassen, die Bestrebungen des G a g e r n schen Kreises, mit der Verleihung der O b e r h a u p t s w ü r d e an Preußen zugleich die A u f l ö s u n g P r e u ß e n s in seine Provinzen zu erreichen, verstärkten in der Regierung den W u n s c h nach Konsolidierung des preußischen Staatswesens.') So erfolgte am 5. Dezember die Oktroyierung. Die konsequente V e r f o l g u n g ihrer A n s c h a u u n g e n e r g a b f ü r die rheinischen Radikalen, daß sie die O k t r o y i e r u n g der Verfassung verwarfen u n d sie f ü r null u n d nichtig erklären wollten. Die Liberalen dagegen sahen die Notwendigkeit der O k t r o y i e r u n g ein in der Erkenntnis, daß sich f ü r die Krone trotz redlichster Mühe die Unmöglichkeit der V e r e i n b a r u n g herausgestellt hatte. Beckerath gibt dieser Meinung im Frankfurter Parlament Ausdruck, indem er sagt, daß es „die Pflicht des Königtums war, die Nation zu retten". 2 ) Zwar war ihm, wie den meisten seiner Parteigenossen, die Tatsache der Oktroyier u n g nicht angenehm, aber sie hielten es f ü r falsch, die Verf a s s u n g n u r aus dem G r u n d e nicht a n z u n e h m e n , weil sie verliehen war. Sie gingen auch hier von dem Gesichtspunkt aus, den Beckerath einmal mit folgenden Worten charakterisierte : „Wir müssen uns da, wo es uns nicht gelingen will, unsere Ideale vollständig zur Verwirklichung zu bringen, mit einer annähernden Verwirklichung b e g n ü g e n . " 3 ) Mit ihnen wandten sich auch weiter links stehende Politiker wie Raveaux, Böcking, Schorn und Bresgen gegen die von den Radikalsten geplante Nichtigkeitserklärung, weil sie unter Verurteilung der Oktroyierung und Festhaltung des Vereinbarungsprinzips sich der Tatsache fügten, daß das preußische Volk die oktroyierte Verfassung als G r u n d l a g e anerkannt habe. Nach der Betrachtung dieser Vorgeschichte erscheint es erklärlich, daß die radikale Linke die Verfassung, die a u s einem ihrer Meinung nach verwerflichen Akt entstanden war, ') Vgl. Meinecke, Weltbürgertum 3 ) Sten. Ber. VI, 4446. 3 ) 1. c. 4447.

und Nationalstaat, S. 399 - 448.



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schon mit dem scheelen Auge des Mißtrauens ansah. Was konnte sie von einer Verfassung halten, „die ein König, einige Junker, Bureaukraten und Pietisten dem Volke wie Bettlern als Almosen vor die Füße warfen ?" J ) In ihrem Auge haftete ein Makel an ihr, und Wesendonk erklärte, daß für ihn und seine Partei durch diese Verfassung kein Rechtsboden geschaffen sei, weil der Standpunkt der Vereinbarung verlassen worden sei und die Verfassung nicht dem Willen der Mehrheit des Volkes entspreche. Er unterwarf im Frankfurter Parlament die Verfassung einer eingehenden Kritik, welche den Standpunkt der Radikalen klarlegt; dabei taucht wieder eine alte, von den Radikalen oft gebrauchte Wendung auf. Auch bei dieser Verfassung glaubt Wesendonk nur an einen „Schein freisinniger Institutionen", nicht an eine gute und freisinnige Grundlage. Zur Rechtfertigung dieser Ansicht führt er die Punkte auf, die er und die Seinen als unvereinbar mit einer freisinnigen Verfassung bezeichnen: das absolute Veto, das Zweikammersystem und das bedingte Gesetzgebungsrecht der Kammern. Dazu kommt noch, daß er auch in Beziehung auf die Festsetzung der Zivilliste, auf das Steuerbewilligungsrecht, auf das Prüfungsrecht des Staatsbudgets die Verfassung nicht so freisinnig finden kann, wie sie gerühmt wird. Endlich weist er noch auf einen anderen, für die Radikalen erheblichen Fehler hin, nämlich auf die in einigen Punkten zwischen ihr und den Frankfurter Grundrechten bestehenden Differenzen. Zum Beispiel gewähre die preußische Verfassung das Petitionsrecht nur einzelnen und Korporationen, aber nicht denjenigen Vereinen, die kein Korporationsnecht besitzen; ferner sei das Recht, Volksversammlungen unter freiem Himmel zu halten, an eine vorherige Anzeige gebunden. Daß in dieser Verfassung wichtige Freiheiten, wie das Vereins- und Versammlungsrecht, Preßfreiheit, das Recht, seinem gewöhnlichen Richter nicht entzogen zu werden, gegeben sind, kann Wesendonk nicht leugnen; aber er denkt natürlich nicht daran, es anzuerkennen. Er erwähnt diese Freiheiten nur in dem Zusammenhange, daß er seiner Empörung über ihre ') Ludwig Simon, Sten. Ber. VI, 4589.

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Suspension im Falle des Kriegs oder Aufruhrs Ausdruck gibt. Nach dem ganzen Verhalten der Regierung glaubt er sich zu dem Schluß berechtigt, daß sie weder die Absicht noch den Willen gehabt hätte, eine freisinnige Verfassung zu g e b e n ; schon das allgemein desavouierte Ministerium widerspreche einem konstitutionellen System. 1 ) Die Liberalen, die das Verhalten der Regierung und der Berliner Versammlung ganz anders beurteilten als die Radikalen, stellten sich auch natürlich zu der Verfassung anders. Mevissen erklärt sich in zwei Briefen vom 8. Dezember 1848 mit ihr zufrieden und meint, „daß sie gerechten Ansprüchen ganz entspreche". 2 ) Auch Beckerath erkennt im Frankfurter Parlament an, daß durch diese Verfassung dem preußischen Volke „in vielen Beziehungen ganz bedeutende Bürgschaften seiner Freiheit gegeben worden sind". 3 ) Trotzdem empfanden sie wohl alle „die Mängel eines Werkes, das Preußen in Eile vollenden mußte, weil es dasselbe 40 Jahre lang nicht in Angriff nehmen wollte". 4 ) Sie waren ja durchaus Gegner des in der Verfassung gegebenen gleichen Wahlrechts, mit dem nach ihrer Meinung Preußen gar nicht bestehen konnte. 6 ) Wenn Hansemann die schweren Mängel der Verfassung darin erblickte, daß „auf der einen Seite die ultrademokratischen Begriffe und Schlagwörter aufgenommen und die staatlichen Ordnungsprinzipien außer acht gelassen worden, dagegen auf der anderen Seite als trauriges (wenn auch bei einer solchen Nichtbeachtung notwendiges) Hilfsmittel die wahren konstitutionellen Grundsätze mit Umwegen (Art. 105 und 108) beseitigt seien," 6 ) so stimmten wohl bezüglich des letzten Punktes die meisten rheinischen Liberalen mit ihm überein. Dagegen variierten ihre Ansichten sicherlich betreffs der zu starken Übertreibung des Freiheitsprinzips, je nachdem sie in ihrem Liberalismus mehr oder weniger entschieden waren. ' ) Sten. 2

Ber. VI, 4 4 3 4 ff.

J Hansen II, 4 4 8 .

3

) Sien. Ber. VI, 4 4 4 6 .

4

) Hansemann, Sten. Ber. der I. K a m m e r

6

) Vgl. Camphausen. E b e n d a II, 6 1 4 .

IV, 2 0 4 8 .

Hansemann. Ebenda III, 1 1 4 3 .

•) Das preußische und deutsche Verfassungswerk, S. 163. N a t h a n , Preussische Verfassung.

5



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Für die Stellungnahme der rheinischen Klerikalen zu der oktroyierten Verfassung wurde ja der glänzende Sieg von Bedeutung, den die Katholiken bezüglich der Kirchenangelegenheiten in der Preußischen Nationalversammlung errangen. Sie setzten die Gewährung großer kirchlicher Freiheiten durch und zwar ohne die Einschränkungen, die die Frankfurter Verfassung vorsah. So kam es, daß die bewußten Artikel der Verfassung im Munde der rheinischen Klerikalen höchstes Lob fanden, daß Peter Reichensperger Art. 11 als den Scheiterhaufen des Polizeistaates bezeichnet, 1 ) während der Bonner Professor Ferdinand Walter Art. 12 den besten in der ganzen Verfassung, ja die Perle derselben nennt. 2 ) Bei einer solchen Erfüllung ihrer innigsten Wünsche ist es erklärlich, daß die rheinischen Klerikalen im allgemeinen eine große Geneigtheit für diese Verfassung empfanden, und daß sie der Regierung zur Seite standen, als sie dieselbe ins Leben setzen wollte. *) Parlamentarische Reden der Gebrüder Reichensperger, S. 250 2 ) Sten. Ber. der I. Kammer II, 999.

II.

Urteile über die preussische Verwaltung. A. Die äussere Organisation der Verwaltung. Weit mehr als bei der Beurteilung der preußischen Verf a s s u n g boten den Rheinländern bei der Betrachtung der preußischen Verwaltung die Zustände ihrer Heimat unter der französischen Herrschaft den Maßstab dar. O e r a d e auf dem Gebiete der Verwaltung hatte sich die französische Regier u n g durch ihre Leistungen besonders große Verdienste in den Rheinlanden errungen, so daß alle Autoren ihr ein fast uneingeschränktes Lob z u k o m m e n lassen. Fest organisiert, tatkräftig geleitet, einfach und wenig kostspielig, hatte sie Ruhe, O r d n u n g und gesetzliche Zustände in das Land gebracht u n d seinen Wohlstand in mancher Beziehung zu heben gesucht. Die Organisation der französischen Behörden, das Präfektensystem, war in den Rheinlanden allgemein beliebt gewesen und demzufolge in guter E r i n n e r u n g geblieben. Auch ein großer Teil der rheinischen Politiker g a b ihm den V o r z u g vor dem Kollegialsystem, d a s die preußische Regier u n g eingeführt hatte. So erklärte namentlich H a n s e m a n n mehrfach, daß mit dem Präfektensystem einfacher, billiger u n d schneller gearbeitet würde. Als Beispiel dafür, wie viel komplizierter die preußische Verwaltung sei, f ü h r t er in „Preußen und Frankreich" an, daß in Aachen jetzt 3 Behörden, Landrat, Polizeidirektor und Oberbürgermeister u n ter mannigfachen, die Verwaltung h e m m e n d e n Kollisionen und mit verdoppelten oder verdreifachten Kosten die n ä m lichen Funktionen ausübten wie zur Zeit der französischen Herrschaft der Maire. Auch Beispiele f ü r die in den *) S. 168. Vgl. auch eine Petition der Moselbauern von 1836: »Wo früher 27 angestellt waren mit 29000 Talern, sind jetzt 63 Beamte ohne Pensionierte mit 105 000 Talern besoldet.» Rheinische Zeitung 20. I. 1843. 5*



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Rheinlanden weit verbreitete Ansicht, daß die preußische Verwaltung bedeutend teurer sei als die französische, sind bei Hansemann, Venedey und in der Schrift „ D e la Prusse" zahlreich zu finden. Wie feht Hansemann von den Vorzügen des französischen Systems überzeugt war, erhellt daraus, daß er, als er 1848 ans Ruder kam, das Kollegialsystem in Preußen fast völlig beseitigen und das Präfektensystem einf ü h r e n wollte. Der schlimmste Nachteil schien jedoch den Rheinländern die Ungleichheit in den Verwaltungsformen von Stadt u n d Land zu sein, die die preußische, auf der Steinschen S t ä d t e o r d n u n g und der alten L a n d g e m e i n d e o r d n u n g ber u h e n d e Verwaltungsorganisation mit sich brachte. Die Steinsche S t ä d t e o r d n u n g w u r d e ja von den Rheinländern im allgemeinen als ein herrliches Zeugnis jener Epoche verehrt und gewürdigt, die den Angelpunkt aller ihrer W ü n s c h e u n d H o f f n u n g e n bildete. W e n n auch durch die Revision von 1831 der Wert der städtischen Verwaltung in den Augen der Radikalen sehr gesunken war, wenn er sich in der M e i n u n g der Liberalen ebenfalls verringert hatte, so wußten doch die meisten liberalen Politiker des Rheinlandes ihre immerhin noch bedeutenden Vorzüge, ihre aus jener großen Epoche geretteten d u r c h a u s guten G r u n d l a g e n zu schätzen. Aber Preußen war eben bei der A u s f ü h r u n g dessen, was das von ihnen gewissermaßen als petition of rights betrachtete Stein') Einer der eifrigsten Lobredner des preußischen Systems, der Bonner Professor Peter Kaufmann, bestreitet die größere Einfachheit, Schnelligkeit und Folgerechtigkeit des Präfektensystems nicht; der Ansicht, daß die französische Verwaltung durch ihre geringere Kostspieligkeit Vorteile gewährt habe, tritt er jedoch mit Entschiedenheit entgegen. Er weist darauf hin, wie infolge der äußerst geringen Beamtenbesoldungen der Bestechung Tür und Tor geöffnet gewesen sei, und wie das Volk, das diese Bestechung mit Geld und Naturalien auszuüben genötigt war, ja nur scheinbar Ersparnisse gemacht habe. Dagegen sei unter der preußischen Verwaltung infolge der höheren Beamtenbesoldung nicht nur die Rechtlichkeit und Gewissenhaftigkeit der Beamten größer geworden, sondern das Volk habe durch den größeren Konsum der besser Besoldeten auch noch direkte materielle Vorteile. »Rheinpreußen und seine staatswirtschaftlichen Interessen", S. 1 9 - 2 2 und S. 44/45.



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sehe Testament 1 ) geplant hatte, im Halben stecken geblieben, u n d so stand der städtischen Selbstverwaltung eine Kreis- u n d Q e m e i n d e o r d n u n g gegenüber, die ihnen mit dem Zeitgeist ganz u n d gar zu kontrastieren schien. Ihr charakteristisches Merkmal war die maß- und ausschlaggebende Stellung des Großgrundbesitzers, welchem auch Polizei und niedere Gerichtsbarkeit zustand. Eine derartige B e v o r z u g u n g des G r o ß g r u n d besitzes war aber f ü r die Rheinländer unerträglich; sie sahen darin eine schreiende Ungerechtigkeit, eine Privilegienwirtschaft, die ihren Gleichheitstendenzen auf das Ärgste widersprach. Nach ihrer Meinung war der moralische Einfluß der größeren Gutsbesitzer schon groß genug, und sie befürchteten, daß er in ein drückendes Übergewicht ausarten würde, wenn noch materielle Bevorzugung hinzukäme. 2 ) Als abschreckenden Beweis f ü r die ohnehin schon v o r h a n d e n e starke Abhängigkeit der Landbewohner von der adligen Ritterschaft f ü h r t ein Artikel der Rheinischen Zeitung an, daß die Ritterschaft in einzelnen Kreisen die Wahl ihr blind ergebener Abgeordneter des 4. Standes durchgesetzt habe und daß 4 Abgeordnete dieses Standes auf dem Rheinischen Landtag f ü r die Autonomie der Ritterschaft gestimmt hätten. 3 ) W e n n nun gar nach der östlichen L a n d g e m e i n d e o r d n u n g der Ritterschaft das Vorrecht eingeräumt war, daß aus ihren Kreisen allein der Landrat g e n o m m e n werden sollte, so erweckte das bei den rheinischen Politikern den schärfsten W i d e r s p r u c h . Z u d e m waren ihrer Ansicht nach die Befugnisse der Landräte zu weitgehend, und sie strebten daher nach einer Beschränk u n g derselben. Aber ganz abgesehen von diesen Mängeln, die sie an der L a n d g e m e i n d e o r d n u n g des Ostens fanden, waren die Rheinländer gegen das Prinzip der T r e n n u n g von Stadt u n d Land an sich. Sie gingen bei Beurteilung dieser Frage von den Verhältnissen ihrer Provinz aus, die doch von den östlichen so verschieden waren. In der Rheinprovinz, wo der Großgrundbesitz fast ganz fehlte, wo die wirtschaftliche Vor*) Brüggemann, Preußens Beruf in der deutschen Staatsentwicklung. Vorwort, S. VII. a ) Der 7. rheinische Landtag, S. 303. *) Die Reform der rheinischen Gemeindeordnung, 13. XI. 1842.



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herrschaft des Adels und des Klerus gebrochen war, wo durch das französische Recht alle Bürger vor dem Gesetz gleichgestellt waren, hatte sich, wie schon erwähnt, in rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Beziehung eine viel größere Gleichheit herausgebildet als im Osten. Weder bestand dort eine so schroffe T r e n n u n g der Stände, noch ein so scharfer Unterschied zwischen Stadt und Land; die Industrie hatte sich auch auf das Land ausgedehnt, und das Land war also nicht speziell durch den Ackerbau, die Stadt nicht speziell durch die Industrie charakterisiert. Dementsprechend war die Verwaltung f ü r Stadt und Land gleich, bot allerdings wenig Selbständigkeit. In dieser bei ihnen bestehenden Einheitlichkeit der Kommunalverfassung sahen die Rheinländer ein wohl zu beachtendes historisches Moment und eine Bürgschaft intensiver Kraft. 2 ) Wenn es in einem Artikel der Rheinischen Zeitung bezüglich der für die Rheinprovinz geplanten, für Stadt und Land getrennten Kommunalo r d n u n g heißt: „Hört nicht auf die Lockungen der Arglist, die Euch trennen möchte, um Euch leichter zu beherrschen", 3 ) so muß man an Venedey denken, der eben dieselben Worte des Mißtrauens gegen die Zerplitterung in Provinzialstände anwendet. Die Trennung von Stadt und Land, von Bürger und Bauer bedeutete den Rheinländern eine Schwächung und widersprach überdies ihrem höchsten Ideal, ihrer Auffassung vom allgemeinen Staatsbürgertum. Indem sie all diese Gesichtspunkte in Erwägung zogen, waren sie gegen die Verleihung der revidierten Städteordnung an einzelne Städte auf besonderen Wunsch. Sie wollten keine Exzeptionen, und aus der Befürchtung Mevissens, daß in einem Staate, wo Privilegien für Orte gegeben sind, Privilegien für Personen nicht lange ausbleiben können, 4 ) klingt das ganze *) E. Gothein weist in seinen »Agrarpolitischen Wanderungen im Rheinland« daraut hin, wie schon im späteren Mittelalter zwischen den rheinischen Dörfern und den Städten lebhafte Beziehungen bestanden, •wie ein reger Verkehr herrschte und »das bäuerliche Leben frühzeitig einen halbstädtischen Charakter annahm", S. 244 - 46. 2 ) Der 7. rheinische Landtag, S. 301/02. 3 ) Die Reform der rheinischen Gemeindeordnung, 13. XI. 42. *) »Zur rheinischen Kommunalordnung" 1842, Hansen II, 103.



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Mißtrauen der Rheinländer heraus, die mit der preußischen Landgemeindeordnung die Wiederkehr aristokratisch-feudaler Bevorrechtigungen kommen sahen. Zur Rechtfertigung der rheinischen Wünsche ergriff auch Camphausen das Wort, indem er sich folgendermaßen äußerte: „Wir verlangen eine gleiche Verfassung für Stadt und Land in der Hoffnung, daß das Land etwas von dem Mehr erhalten werde, was den Städten gegeben werden muß. Unter allen Umständen aber weisen wir die Ungleichheit aus dem G r u n d e zurück, weil wir niemals aufhören wollen, gegen das System zu protestieren, nach welchem die Formen des Mittelalters, aber nicht die Rechte (Stände, aber keine ständischen Rechte) eingeführt werden sollen lediglich zu dem Zwecke, die Idee des Staatsbürgertums zu vernichten und die Despotie in das heuchlerische Gewand einer angeblichen Gliederung einzuhüllen." Das Streben der Rheinländer war auf größere Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Gemeinden gerichtet, aber dieser Ausbau der Verwaltungsformen sollte auf der alten Grundlage vor sich gehen, weil sie neben der Einheitlichkeit der Kommunalverfassung auch hier wieder die Einfachheit, Wohlfeilheit und die Konzentration der Exekutive in der Hand eines Beamten als Vorzüge ansahen, die ihre nach französischem Muster eingerichtete Verwaltung gegenüber der altpreußischen hatte. 2 ) Mit dem Erlaß der rheinischen Gemeindeordnung im Jahre 1845 war der lange Kampf beendet; bezüglich der Einheitlichkeit der Kommunalverfassung war die Regierung den Wünschen der Rheinländer nachgekommen. Wie angemessen diese einheitliche Organisation auch für den Westen gewesen sein mag, für den Osten eignete sie sich durchaus nicht in gleichem Maße, und es zeigt nur, wie wenig die Rheinländer die östlichen Verhältnisse kannten, wenn Hansemann 1848 auch diese Institutionen auf den Osten ausdehnen wollte.

*) Caspary, S. 81. 2 ) Die Rheinische Zeitung führt eine Petition der Stadt Krefeld an, in der von der »einfachen, wenig kostspieligen Form" der bestehenden Verwaltung gesprochen und um eine „die Vorzüge der bisherigen Verfassung in sich schließende Kommunalordnung" gebeten wird. 28. XI. 42.



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B. Geist und Wesen der Verwaltung. Schwerwiegender u n d wichtiger als das Urteil der rheinischen Politiker über die äußere Organisation der Verwalt u n g ist ihre Stellungnahme zu dieser Verwaltung selbst, ihre Ansicht über Geist und Wesen derselben. In allen ihren Urteilen über die preußische Verwaltung im allgemeinen treten mit großer Ü b e r e i n s t i m m u n g dieselben Beobachtungen, dieselben Schlagworte h e r v o r ; bei stets wiederkehrenden gleichen G r u n d z ü g e n ist nur der eine Unterschied bemerkbar, daß die Radikalen schärfere Ausdrücke anwenden und die Schattenseiten übertreiben. Allgemein findet bei den rheinischen Politikern die Redlichkeit, die O r d n u n g und der Fleiß der preußischen Verwaltung A n e r k e n n u n g ; der mechanische u n d formelle Teil der G e s c h ä f t s f ü h r u n g erschien ihnen in vorteilhaftem Lichte. Dagegen konnten sie sich mit dem Geist dieser Verwaltung nicht b e f r e u n d e n ; sie charakterisierten ihn immer wieder mit dem einen W o r t e „bureaukratisch" u n d faßten dabei alle die Übelstände und Schattenseiten ins Auge, die im folgenden geschildert werden sollen. Zwei große preußische N a m e n dienten ihnen zur U n t e r s t ü t z u n g , wenn sie mit diesem bureaukratischen Geist scharf ins G e richt gingen, die N a m e n Steins und Schöns. Das preußische Beamtentum glich in ihren Augen einer mächtigen, a b g e schlossenen Kaste, die wie eine „Phalanx" zwischen T h r o n u n d Volk stand. Überall bevorzugt und hohes Ansehen genießend, kam sie nach ihrer Meinung zu einer ganz übertriebenen Vorstellung von ihrer B e d e u t u n g u n d ihrem W e r t e . H a n s e m a n n und auch Heinzen machen ihr wiederholt den Vorwurf, sie glaube, das Volk sei nur um ihretwillen da. In bitterem Ton klagt H a n s e m a n n darüber, daß „es Leute gibt, die im Staate nicht viel mehr sehen als einen zur Verwaltung geeigneten G e g e n s t a n d , " u n d er bedauert es, daß die Leute entfernt werden, „die einsehen, daß die R e g i e r u n g n u r der Regierten wegen da ist." 2) W e n n dieses Beamtentum

2

Preußen und Frankreich, S. 228. ) Hansemann an Aders, 1822; Bergengrün, S. 51.



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im Bewußtsein seiner stolzen Hoheit und unergründlichen Weisheit nie U n r e c h t zu h a b e n , alles besser zu verstehen und besser zu wissen glaubte, so mußte das den selbstbewußten Rheinländern unerträglich d ü n k e n . U n d wenn sich aus diesem G e f ü h l e des Alleswissens wiederum das B e s t r e b e n u n d die S u c h t entwickelte, alles regieren, alles b e v o r m u n d e n zu wollen, so war damit für die R h e i n l ä n d e r eine neue Q u e l l e des Ärgernisses g e g e b e n . Die E i n m i s c h u n g in alles und jedes, das viele Gebieten und Verbieten, das ewige Administrieren entsprang gewiß der besten und löblichsten Absicht, a b e r die Rheinländer waren eben „ j e d e r patriarchalischen und vigilanten B e h a n d l u n g von G r u n d der S e e l e a b h o l d . " F ü r die Richtigkeit dieser B e h a u p t u n g ist das, was V e n e d e y in seiner Schrift „14 T a g e Heimatluft" über den T o n der preußischen L a n d t a g s a b s c h i e d e sagt, außerordentlich überzeugend. Er findet, daß die zurechtweisende, bald lobende, bald tadelnde Art derselben, die „dem T o n des V a t e r s zu seinen Kindern, des V o r m u n d s zu seinen Mündeln, des S c h u l m e i s t e r s zu seinen S c h u l k n a b e n " e n t s p r i c h t , den Rheinländern g e g e n ü b e r völlig u n a n g e b r a c h t sei. Mit E n t r ü s t u n g spricht sich C a m p hausen im J a h r e 1844 über „die w e g w e r f e n d e G e r i n g s c h ä t z u n g , den H o h n und Ü b e r m u t a u s , " 3 ) durch den sich der letzte Landtagsabschied auszeichnete. D a n a c h läßt sich leicht ermessen, wie tief der G e g e n s a t z zwischen solchen M ä n n e r n und einem K ö n i g sein mußte, der 1 8 4 0 in einem S c h r e i b e n an S c h ö n ausdrücklich betonte, daß „er u n m ü n d i g e Kinder leiten, entartete züchtigen, würdigen, wohlgeratenen a b e r an der V e r w a l t u n g seines G u t e s teilgeben, ihnen ihr eigenes Patrim o n i u m anweisen und sie darin v o r D i e n e r a n m a ß u n g schützen wollte." *) Die Rheinländer fühlten sich dieser väterlichen, wohlwollenden Art entwachsen, sie glaubten, tatkräftig g e n u g zu sein, um sich selbst zu regieren soweit möglich, und die vielen Eingriffe von o b e n waren ihnen nur lästig. In seinen

') Immermann,

Maskengespräche

der

„Düsseldorfer

Heyderhoff: „Immermanns politische Ansichten", S. 263. 2

) S. 128.

») Caspary, S. 79. *) Treitschke, deutsche Geschichte V, 58.

Anfänge".



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„Briefen vom Rhein" beklagt der rheinische Publizist Weitzel „das unglückselige Vorurteil der Regierungen, alles befehlen, alles erzwingen zu können und die traurige Meinung, daß mit einer hohen, höchsten und allerhöchsten Verfügung jedem Mißbrauch begegnet, der Gehorsam gesichert, die Sache abgetan sei." Die rheinischen Politiker betrachteten es als eine überaus schlimme Folge der einsamen Hoheit und Abgeschlossenheit der Beamtenwelt, daß ihr jede Fühlung mit dem Leben fehlte, daß sie ein ganz falsches Bild von der Lage der Dinge hatte, daß sie die Veränderungen übersah, die im Volke vorgingen. Die Herrschaft dieser „unpraktischen Leute, dieser Examinierten ohne Vermögen" 2) hielt Hansemann für sehr bedenklich in einem Zeitalter, das großen sozialen und politischen Veränderungen entgegenging. Bei ihrer Ausbildung wurde ihm viel zu viel Wert auf Examina gelegt, und er meint ironisch, in Preußen wäre das Examinieren dergestalt an der Tagesordnung, daß, wenn die Examinationen allein den Maßstab zu dem Verstände, der Tüchtigkeit und den Kenntnissen der Verwaltungs- und höheren Staatsbeamten bildeten, Preußen die größten Staatsmänner und die geschicktesten Administratoren besitzen müßte. 3 ) In seiner Denkschrift von 1830 schildert er, wie die Beamten sich dem praktischen Leben entfremdeten, sich in ihre Akten vergruben und wie sie die Geschäfte behandelten. „Alles muß da administriert werden; alles muß auf Aktenheften beruhen, das lebendige Wort und die rasche Handlung weichen den schriftlichen weitläufigen Formen, sodaß in dem vielen Schreiben die Kraft des Denkens und Handelns wesentlich geschwächt wird; eine Masse Gelehrsamkeit wird erworben und angewendet, um über einfache Gegenstände zu diskutieren und zu bescheiden, die der schlichte Menschenverstand, verbunden mit einiger Erfahrung, schnell begreift und zu ordnen versteht; die Bündigkeit und Gedrungenheit in der Abfassung der Bescheide und Verordnungen macht der Weitschweifigkeit und Kasuistik,

S. 199. ) Brief Hansemanns aus dem Jahre 1831; Bergengrün, S. 120. 3 ) Preußen und Frankreich, S. 191. 2



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folglich der Undeutlichkeit und Unbestimmtheit Platz; die Öffentlichkeit der V e r h a n d l u n g e n über G e g e n s t ä n d e des Gemeinwesens, w o d u r c h Kenntnisse ü b e r dasselbe u n d die T e i l n a h m e daran sich auch außer der Beamtensphäre verbreitet, wird v e r h i n d e r t ; die Zahl der Kandidaten zu dem privilegierten Beamtenstande, in welchem allein n u r zu Ehre u n d Ansehen im Staatsdienste zu gelangen ist, nimmt in großem Maße jährlich zu, und ungeachtet der großen Beamtenzahl kann doch eine Menge der Kandidaten nicht untergebracht w e r d e n ; die ersten Staatsbehörden erhalten ihre Berichte über die mancherlei Interessen der Nation u n d über die S t i m m u n g der letzteren nur durch das O r g a n der Beamten, deren Berichte n o t w e n d i g von dem Wunsche, den Vorgesetzten, von deren Z u n e i g u n g ja größtenteils Beförd e r u n g im Dienste oder Gehaltszulage abhängt, nichts Una n g e n e h m e s z u sagen, influenziert w e r d e n . " l ) Alles, was H a n s e m a n n hier verurteilt, ist auch von anderen rheinischen Politikern der Bureaukratie zum Vorwurf gemacht worden. Auch Mevissen klagt, daß die Beamtenwelt in Berlin „zum Verzweifeln pedantisch u n d formalistisch, buchstabenkrämerisch in einem G r a d e sei, wie es ihm noch nicht vorgek o m m e n sei;" 2 ) „die komplizierte Bureaukratie, die über lauter Akten nicht zur Einsicht, nicht zu G e d a n k e n kommt," 3) erscheint ihm als der Krebsschaden Preußens, und Berlin n e n n t er „das wahre Pflaster der Resignation". 4 ) Eine ähnliche wenig günstige Ansicht von der preußischen Bureaukratie spricht aus der Ä u ß e r u n g Camphausens, „daß die nähere Einsicht in die Staatsmaschine f ü r ihn nicht sehr erfreulich gewesen sei," 5 ) u n d ebenso klingt aus den Worten, daß er in Berlin „mitunter g e s u n d e n Menschenverstand g e f u n d e n h a b e , " 6 ) eine gewisse G e r i n g s c h ä t z u n g heraus. Über die Fähigkeiten des preußischen Beamtentums dachten die rhei1

) Aus dem in Hansemanns Buch „Das preußische und deutsche Verfassungswerk" abgedruckten Auszug, S. 9, 10, § 19. 2 ) Hansen I, 326. *) Hansen I, 387. 4 ) Hansen I, 326. 5 ) Bericht an Krüger in Münster 1836; Caspary, S. 38. •) Brief von 1836; Caspary, S. 37.



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nischen Politiker ziemlich skeptisch; namentlich bei den höchsten Staatsbeamten vermißten sie oft Sachkenntnis und überlegenes Talent. Camphausen verurteilt „die preußische Mode, Leute zu Ministern zu machen, die erst mit dem Augenblick der Portefeuilleübernahme ihre apprentissage übernähmen," und er kann den Wunsch nicht unterdrücken, „einmal einen preußischen Minister mit entschiedener Superiorität in seinem Fache das Amt antreten zu sehen". 2 ) Die Rheinländer erkannten wohl, daß es nicht an Tüchtigkeit und Begabung fehlte, aber großer staatsmännischer Blick war selten oder gar nicht vorhanden, und das ängstliche Streben des Beamtentums, jede Störung seiner althergebrachten Kreise durch das Eindringen anders gearteter Elemente zu verhüten, schien ihnen ein Kennzeichen für die Flachheit des Niveaus zu sein. Auch hierin erwarteten sie eine Besserung erst von dem konstitutionellen System, zu dessen Hauptvorteilen es Hanseinann rechnete, daß es die großen Talente in die Höhe brächte. 3 ) In Schriften damaliger Zeit ist der Vergleich zwischen der Bureaukratie und der katholischen Kirche ziemlich häufig; auch von seiten zweier rheinischer Radikalen wird er angewandt. Dewes nennt im Frankfurter Parlament den Klerus ein würdiges Gegenstück zur Bureaukratie, weil er das Volk niederdrückt und es glauben macht, daß es nur dafür da wäre, einer kleinen Minderheit das Leben angenehm zu machen und ihre Ansprüche zu befriedigen. 4 ) Heinzen findet eine Ähnlichkeit darin, daß beide nur bestehen können, wenn ihr System unverändert bleibe. 5 ) Er weist damit ganz richtig auf ein Lebensprinzip der Bureaukratie hin, dessen Konsequenzen von allen Rheinländern als verderblich angesehen wurden. Wenn sich diese Macht nur durch Aufrechterhaltung ihres Systems behaupten konnte, so mußte sie unbedingt zur Gegnerin aller Neuerungen werden. In seinem Buch „Das preußische und deutsche *) Brief an seinen Bruder Otto 1844; Caspary, S. 84. 2 ) Brief von 1844; Caspary, S. 85. 3 ) Preußen und Frankreich, S. 209. Vgl. auch Mevissens Der 1. vereinigte Landtag III, 1355. *) Sten. Ber. III, 2174. 5 ) Die preußische Bureaukratie 1845, S. 176.

Rede.



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Verfassungswerk" spricht H a n s e m a n n sein Bedauern darüber aus, daß Preußens Staatsmänner nicht s o weise gewesen sind, die Versuche zur B e k ä m p f u n g der neuen Kräfte u n d Ideen zu u n t e r l a s s e n . D i e s e neuen Kräfte und Ideen waren die konstitutionellen, und die H o f f n u n g e n u n d Erwartungen, welche die Rheinländer auf sie setzten, lassen sich nicht besser formulieren als mit den Worten K- H. B r ü g g e m a n n s : „Es gilt die H i n ü b e r f ü h r u n g des bureaukratischen Staats in den öffentlichen, den auf der anerkannten Mündigkeit der Stände des Volkes beruhenden Staat. Es gilt also, den Staat, das Gemeinwesen, das bisher gewissermaßen außer und über den Bürgern stand und von n u r wenigen Wissenden, von einer abgeschlossenen Beamtenschaft g e h a n d h a b t wurde, einem jeden Gliede des Staates nahe zu bringen und einem jeden Gliede zum gewußten und geliebten Zwecke zu g e b e n . . . " 2 ) Bei der Verwirklichung dieses von ihnen so sehr gewünschten Umbildungsprozesses des absoluten Staats in den konstitutionellen sahen die rheinischen Politiker in der Bureaukratie eins der schwersten Hindernisse. Diese begriff sofort, daß die neuen S t r ö m u n g e n , die von der Ü b e r z e u g u n g getragen waren, „Beamtenherrschaft könne nicht Lebensprinzip eines Staats sein", 3 ) ihrer Macht gefährlich werden mußten, daß es sich hier gewissermaßen um ihre E n t t h r o n u n g handelte, und so konnten die Rheinländer beobachten, wie sie sich zur W e h r setzte u n d sich überall „als Hauptgegnerin des wahren Fortschritts zeigte." Heinzen f ü h r t an, wie die Bureaukratie alle Bestrebungen zur E i n f ü h r u n g einer Verfassung zu hindern suchte, weil sie, durch das Repräsentativsystem in den süddeutschen Staaten gewarnt, erkannte, welche Gefahren ihr mit demselben drohten. 4 ) Sie fürchtete das, was die Rheinländer wünschten, daß sie aus ihrer stolzen Selbstherrlichkeit h e r a u s zur Rechenschaft gezogen u n d ihre Mängel an die Öffentlichkeit kommen würden. Als Beweis, wie sich die Bureaukratie gegen die E i n f ü h r u n g von ReichsS. 26. ) Preußens Beruf in der deutschen Staatsentwicklung nächsten Bedingungen zu seiner Erfüllung, S. 7. 3 ) Aus Hansemanns Denkschr. von 1830, § 20. 4 ) Die preußische Bureaukratie, S 53. 2

und

die



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ständen wehrte, berichten Karl Heinzen und ebenso einige andere rheinische Politiker die Verhandlungen der Regierung mit den Vereinigten Ausschüssen über den Bau der projektierten Eisenbahn. Nachdem sich ein großer Teil der Ausschußmitglieder für den Bau durch die Regierung ausgesprochen hatte, erklärte die Regierung, sie würde in keinem Falle bauen. Bei einem Bau von Eisenbahnen wäre nämlich die Kontrahierung einer neuen Staatsschuld nötig und zu dieser die Zustimmung der Reichsstände erforderlich gewesen. Aus Angst, daß infolge des .Staatseisenbahnbaus an die Einführung von Reichsständen gedacht werden müßte, versagte sich die Bureaukratie den nützlichsten und bedeutendsten Plänen. l ) Heinzen beschuldigt die Bureaukratie und Diplomatie direkt, daß sie Friedrich Wilhelm III. an der Erfüllung seines Verfassungsversprechens gehindert habe. 2 ) Aber selbst bei der so bescheidenen ständischen Vertretung des Volks in den Provinziallandtagen mußten die Rheinländer die Gegnerschaft der Verwaltungsbehörden beobachten; beständige Eingriffe und Bevormundungsversuche derselben öffneten ihnen die Augen darüber, von welcher Gesinnung die Bureaukratie erfüllt war. Wie die rheinischen Politiker in der Bureaukratie die Gegnerin der Verfassungsbestrebungen sahen, so betrachteten sie sie auch als Feindin der Städteordnung, als Feindin der Preßfreiheit. Hansemann findet es nur natürlich und verzeihlich, daß die Beamteninstitution wünscht, „solange es nur angeht, außer dem Thron keine Kraft formell ausgebildet zu sehen". 3 ) Infolge der Städteordnung sah sie aber in der tätigen Anteilnahme des Bürgertums am öffentlichen Leben mit Mißtrauen eine neue Kraft heranwachsen, und all ihr Streben richtete sich darauf, dieser bedrohlichen Macht die Flügel zu beschneiden. Auf diese Tendenz des Beamtentums schoben die Rheinländer die beschränkenden Bestimmungen der Städteordnung von 1831. Viel schlimmer aber empfanden sie die Gegnerschaft der Bureaukratie, als in Preußen der Kampf um die freie Entfaltung der öffentlichen Meinung Heinzen, Die preußische Bureaukratie, S. 58. ) Die preußische Bureaukratie, S. 51. 3 ) Denkschrift von 1830, § 27. 2



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entbrannte. Es war ganz natürlich, daß sich die Bureaukratie verzweifelt zur W e h r setzte; sie mußte die Kraft der öffentlichen Meinung fürchten, sie konnte keine Opposition dulden, wenn sie in ungetrübter Machtfülle weiterherrschen wollte. Mit Entrüstung sahen die rheinischen Politiker, wie die Bureaukratie sich hauptsächlich des ihnen verhaßten Mittels der Zensur bediente, um die sich kräftig regende öffentliche Meinung zu unterdrücken. Indem sie zu den Zensurgesetzen geheime Instruktionen erließ, schuf sie sich eine Art willkürlicher Nebenzensur, die ihren Zwecken dienen sollte. Weder die Freiheit der Presse, noch die Öffentlichkeit der Landtagsverhandlungen war nach dem Sinne der Bureaukratie; überall g a b sie zu erkennen, daß sie zur Erh a l t u n g ihrer Macht eins f ü r unbedingt nötig ansah, nämlich vollkommene Heimlichkeit. Diese Heimlichkeit und G e heimniskrämerei wird ihr von den Rheinländern vielfach zum Vorwurf gemacht. Venedey beklagt sie in „Preußen und P r e u ß e n t u m " , u n d Heinzen macht auf die schlimmen Folgen dieses Verheimlichungssystems aufmerksam, wenn er ihm, allerdings nur in gewissem Maße, die unglückliche Lage der schlesischen Weber zuschiebt. 2 ) Die Rheinländer, die Publizität des staatlichen Lebens neben der Gleichheit als das höchste G u t ansahen, die in ihren politischen Führern, Mevissen, H a n s e m a n n , Beckerath, C a m p h a u s e n , die unermüdlichsten V o r k ä m p f e r für diese Ideale hatten, konnten sich mit einem System nicht befreunden, das so viel mit geheimen Kabinettsordern u n d geheimen Instruktionen, so viel mit Denunziationen, Gesinnungsschnüffelei u n d Spionage arbeitete. Daß mit diesen Mitteln sehr stark gearbeitet wurde, geht u. a. auch aus den Tatsachen hervor, die Heinzen in seinem Buch „Die preußische Bureaukratie" anführt, wie sehr dieselben auch sonst aufgebauscht sein m ö g e n . Unbestritten ist ja ferner, daß die Regierung ein Spionagesystem einrichtete, das der Landrat Schnabel leitete u n d das dazu dienen sollte, die Gesinnungen der Rheinländer zu erforschen und eventuelle Verbindungen mit Frankreich an den T a g zu legen. Außer») S. 82. ) Die preußische Bureaukratie, S. 250.

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— 80

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ordentlich bezeichnend f ü r die bei der Regierung damals herrschende Gesinnungsschnüffelei und f ü r die Meinung der Rheinländer darüber ist die Erzählung Camphausens, wie ihn der Minister Bodelschwingh fragte, o b sein Bruder, der Geheime Finanzrat, protestantisch oder katholisch wäre, da man ihn nie in einer Kirche sehe. C a m p h a u s e n bemerkt dazu in einem Brief an seinen B r u d e r : „Beginnen etwa solche Sachen in unserem Staate mehr als lächerlich zu werden ?" Manche wenig erfreulichen Züge glaubten die Rheinländer auch in dem Verhalten der Bureaukratie gegen das Volk, gegen die Regierung und in dem Verhalten ihrer einzelnen Glieder zu einander zu entdecken. Venedey sieht in den Beamten n u r fanatisch der Regierung ergebene O r g a n e ; Kriecherei, Augendienst u n d Demut nach oben werfen er u n d Heinzen ihnen vor. 2 ) Die Ursache dieses Verhältnisses sehen sie in der 'Abhängigkeit, in der die Beamten sich infolge der mangelhaften Pensionsgesetzgebung von der Regierung bef a n d e n . Venedey f ü h r t in „Preußen und P r e u ß e n t u m " aus, daß die Unabsetzbarkeit der Beamten nicht, wie man glauben möchte, ein Palladium f ü r die Freiheit sei, sondern eine Lüge, ein Gesetz, das die Regierung u m g e h e n könne, 3 ) u n d auch der Verfasser von „ D e la Prusse" erörtert diesen P u n k t sehr eingehend. 4 ) Als eine Einrichtung von der schlimmsten W i r k u n g auf den Charakter des Beamtenstandes geißeln Venedey und Heinzen die geheimen Konduitenlisten. Heinzen sagt von i h n e n : „Sie stehen hinter dem Beamten wie vehmartige Gespenster, die stets das gezückte Richterbeil über sein H a u p t strecken, u n d die ihn eben dann am meisten bedrohen, wenn sein Benehmen zu einem geheimen Verfahren am wenigsten Veranlassung gibt." 5) Als traurige Folgen die1

) Brief Ludolf Camphausens an seinen Bruder Otto 1842; Caspary,

S. 67. 2

) Preußen und Preußentum, S. 77 u. 80. ) Preußen und Preußentum, S. 92. 4 ) S. 237/38. 5 ) Die preußische Bureaukratie, S. 167. Vgl. dazu die Worte des Ministers Kühlwetter in der preußischen Nationalversammlung: „Der früheren Regierung ist meiner Ansicht nach mit Recht zum Vorwurf gemacht worden, daß sie die Oesinnungen zu erforschen und auf diese 3

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81

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ser Konduitenlisten, von welchen die Beamten keine Kenntnis erhielten und gegen die es keine Reklamation gab, bezeichnen sie das Überhandnehmen von Heuchelei, Mißtrauen, Ungerechtigkeit; durch sie und durch die Amtsverschwiegenheit wurden die Beamten nach Heinzens Meinung in Abhängigkeit und Gehorsam erhalten. Mit Mißbilligung sprechen sich Venedey und Heinzen über den militärischen Subordinationsgeist aus, den sie im Beamtentum Platz greifen sahen; sie weisen nach, wie sich eine Kette von Abhängigkeiten bildete, wie sich der Druck, der von oben auf die höheren Beamten ausgeübt wurde, immer weiter fortpflanzte und wie sich dadurch im Verhältnis der höheren zu den Unterbeamten manche Schäden einstellten. 1 ) Nicht in allen Verwaltungen findet Heinzen dieses Verhältnis gleich; im allgemeinen mußten jedoch seiner Ansicht nach die geheimen Konduitenlisten, die die untergebenen Beamten ganz in die Hand der Vorgesetzten gaben, dahin wirken, daß die unteren Beamten kriechende und unterwürfige G e schöpfe der Vorgesetzten wurden, daß sie ihre Selbständigkeit verloren und ihre Direktive von den Augen der Vorgesetzten ablasen. Schädlich erscheint Heinzen auch das Übermaß an Kontrolle, das ängstliche Mißtrauen, die „vexatorische Kleinigkeitskrämerei," die sich eingebürgert hatte. 2 ) Endlich sieht er in den übertriebenen Anforderungen und in dem Mißverhältnis zwischen den Gehältern der hohen und der niederen Beamten einen schweren Übelstand in der Stellung der preußischen Unterbeamten. Als Beispiel für die Macht der oberen Verwaltungsbehörden und die klägliche Stellung der Unterbeamten ist bei Heinzen und in der Schrift „ D e la Prusse" unter scharfer Mißbilligung die Verordnung angeführt, wonach Regierungspräsidenten und Provinzialsteuerdirektoren ihren Unterbeamten als Ordnungsstrafe ohne gerichtliche Vermittelung 8 Tage Gefängnis zuweise eine Inquisition einzuführen gesucht hat, wie sie in einem freien Staate

nicht ausgeübt werden darf. . . . Die geheimen Konduitenlisten

sind abgeschafft worden, in denen die Beurteilung der Gesinnungen eine grosse Rolle spielte." Verhandl. II, 222. *) Preußen u. Preußentum, S. 80. Die preußische Bureaukratie, S. 104. 2) Die preußische Bureaukratie, S. 164. N a t h a n , Preussische Verfassung.

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diktieren können. Hatten die rheinischen Politiker schon an dem Verhalten der Beamten nach oben und untereinander manches auszusetzen, so war ihnen doch das Auftreten der Beamten gegen das Volk der wundeste Punkt. Venedey, Schorn, Reumont und Heinzen kl;;gen übereinstimmend ü b e r das stolze, h o c h f a h r e n d e Wesen der preußischen Beamten. Joh. W . J. Braun stellt die schlechte B e h a n d l u n g des einfachen Mannes mit unter die Kennzeichen des Beamtentums vor 1848,2) u n d Heinzen m e i n t : „Die D e m u t der Beamten nach oben und ihr H o c h m u t nach unten hat der preußischen Verwaltung den Ausdruck „hochmütiger preußischer Servilismus" zugezogen." 3 ) Die Schroffheit in der Form hatte f ü r die Rheinländer etwas Abstoßendes; man erkannte die Vorzüge der preußischen Verwaltung, man schätzte das Gute, das sie brachte, aber man konnte sich nicht in die Sinnesart d e r nordischen Deutschen versetzen, „die im Bewußtsein, daß sie Gutes bringen wollen, es verschmähen, ihm einen feinen Mantel u m z u h ä n g e n u n d die Herzen durch Äußerlichkeiten heranzuziehen." 4 ) Alfred von Reumont schildert diese Mängel des preußischen Beamtentums in folgender W e i s e : „ D a s spezifisch preußische Beamtentum hat auch les défauts de ses qualités. Es ist in ihm etwas Starres, Abstoßendes, Pedantisches, ein Ü b e r m a ß von Selbstbewußtsein, das auf dem inneren Zeugnis redlichen Willens und erfüllter Pflicht beruht, sich aber zu oft selbst in verletzendem Maße ausspricht. Höflichkeit liegt schon nicht in den Formen, und dieser Mangel wird um so empfindlicher, wenn er zu dem entschiedenen Tone der Superiorität hinzutritt. Selbst der schriftliche Verkehr krankt an diesem Fehler, der bis in die höchsten Kategorien hinauf dermaßen zur anderen Natur g e w o r d e n ist, daß es einem Staatsminister nicht einfällt, sich der g e w ö h n Die preußische Bureaukratie, S. 123. — De la Prusse, S. 238. ) Deutschland und die deutsche Nationalversammlung. Aachen 1850, 2. Abdruck, S. 12. Braun, Professor aus Bonn, war Abgeordneter des Frankfurter Parlaments, ebenso Karl Schorn, Landgerichtsassessor aus Essen. 3 ) Die preuß. Bureaukratie, S. 143. 4 ) Werner Hesse, Geschichte der Stadt Bonn während der französischen Herrschaft, S. 319. 2

— 83 — lichsten, in jedem anderen Lande üblichen Höflichkeitsformel zu bedienen, selbst wo es sich um außerordentliche Dinge und in keinem Dienstverhältnis zu ihm stehende Personen handelt, denen gegenüber die gewohnte Schablone keineswegs passend erscheint."*) Man m u ß sich' die von Selbstbewußtsein erfüllten, auf ihre freiheitlichen Institutionen u n d ihre wirtschaftliche Entwicklung stolzen Rheinländer in Ber ü h r u n g mit diesem preußischen Beamtentum denken, u n d man wird verstehen, wie schwer die beiden Faktoren zusamm e n k o m m e n konnten. Auch Karl Schorn beklagt es, daß bei allem Eifer der Beamten f ü r ihr Amt und bei dem besten Bestreben doch die 'Wahl ihrer Mittel u n d ihr Auftreten verfehlt war. 2 ) Er und seine Genossen urteilten natürlich meist von ihren provinziellen E r f a h r u n g e n aus, u n d hier waren ja erschwerende Umstände im Spiel. In dem Verkehr zwischen den altländischen Beamten u n d den Rheinpreußen machte sich der Unterschied zwischen der rheinischen und der norddeutschen Art g a n z besonders bemerkbar, so daß alle Eigenarten des spezifisch preußischen Beamtentums hier schärfer zutage traten. Die Beamten verstanden das rheinische Naturell nicht, dem in manchen Dingen die französische Art mehr zugesagt hatte. Einer Bevölkerung, die den Glanz der napoleonischen Präfekten und ihre Kunst de se faire valoir gekannt und wohl gern gesehen hatte, 3 ) die sich an den großen festlichen Veranstaltungen des französischen Regimes erfreut hatte, behagte der einfache, zurückhaltende, oft schroffe T y p u s des preußischen Beamten, die nüchterne, f a r b lose Art des neuen Regiments weniger. Karl Schorn gibt ein Beispiel, wie das unglückliche preußische Regierungssystem durch seine Verständnislosigkeit f ü r den rheinischen Volkscharakter, wie das „barsche Auftreten altpreußischer höherer u n d niederer Polizeiorgane das Volk erbitterte," indem er einen Vorfall, der sich auf der soviel besprochenen Kölner Martinskirmes von 1846 ereignete, berichtet. 4 ) W e n n auch *) Jugenderinnerungen von Alfred v. Reumont, herausgeg. von H. Hüffer, S. 59. 2 ) Lebenserinnerungen, Bd. II, 276. 3 ) A. v. Reumont S. 57. *) Vgl. Karl Schorn, Lebenserinnerungen I, 317/18.

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die gemäßigtliberalen Rheinländer bei solchen Konflikten die Schuld nicht einseitig den Behörden zuschoben, so sahen sie doch die Maßnahmen der Regierungsorgane zum mindesten als ungeeignet und als einen Beweis von Kurzsichtigkeit u n d falschem Eifer an. Besonders der Ersatz alter beliebter rheinländischer Beamter durch stramme preußische Bureaukraten w u r d e lebhaft beklagt. Diese Methode, durch ein Heer von altpreußischen Beamten ihr System in den Rheinlanden d u r c h z u f ü h r e n , w u r d e von der Regierung namentlich im Anfang, in geringerem Maße auch später verfolgt; die rheinischen Politiker hielten das f ü r einen schweren Mißgriff, der n u r dazu beitragen konnte, die Empfindlichkeit der Rheinländer zu verletzen u n d eine A n n ä h e r u n g zu erschweren. Wie heikel die Verhältnisse in dieser Hinsicht waren, geht daraus hervor, daß die Rheinische Zeitung im Jahre 1842 noch Klagen über die große Anzahl altländischer Beamter enthält 1 ) und daß sich Stedmann sogar in einer Schrift von 1847 nicht versagen kann, einen wehmütigen Seitenblick auf „den behaglichen Zustand der Rheinlande" in der Zeit zu werfen, in der noch das Indigenatsprivileg bestand. 2 )

C. Die einzelnen Verwaltungszweige. 1. Steuer- und Finanzwesen. Von den rheinischen Urteilen über die preußische Verwaltung im allgemeinen w e n d e ich mich nun zu den Ansichten der Rheinländer über die einzelnen Verwaltungszweige u n d zwar zunächst zum S t e u e r - u n d F i n a n z w e s e n . Als wichtigste Quelle diente mir hier H a n s e m a n n s Buch „Preußen u n d Frankreich", ein Werk, das seiner Zeit großes Aufsehen erregte, einerseits lebhafte Proteste hervorrief, andererseits von vielen Autoren als g r u n d l e g e n d angesehen w u r d e ; sowohl Venedey als der Verfasser von D e la Prusse stützen sich auf dasselbe. In seiner Biographie H a n s e m a n n s erörtert Bergengrün eingehend die Streitigkeiten, die um dieses 2

17. IV. 1842. ) Beitr. aaO., S. 29, 30.

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B u c h e n t b r a n n t e n ; er gibt zu, daß einzelne W i d e r l e g u n g e n berechtigt waren und zwar insofern, als sich H a n s e m a n n s Zahlenmaterial als a n f e c h t b a r erwies u n d er sich m a n c h e r Irrtümer, sowie in gewissen D i n g e n eines falschen Maßstabs schuldig g e m a c h t hatte. F ü r die vorliegende U n t e r s u c h u n g konnte a b e r das B u c h o h n e weiteres benützt werden, indem hier zum größten Teil nur diejenigen M e i n u n g e n H a n s e m a n n s w i e d e r g e g e b e n werden, die auch von seinen rheinischen P a r teigenossen und ü b e r h a u p t in weiten rheinischen Kreisen geteilt wurden. Ü b e r die V e r w a l t u n g der Steuern in Preußen äußert sich H a n s e m a n n sehr g ü n s t i g ; er meint, daß sie besser als in irgend einem großen europäischen Staat eingerichtet sei; „sie ist einfach und wohlfeil, ungeachtet die B e a m t e n gut bezahlt sind. Diese letzteren stehen in der bürgerlichen G e sellschaft höher, und Bestechlichkeit g e h ö r t bei ihnen m e h r zur A u s n a h m e als in anderen S t a a t e n . " H a n s e m a n n hatte schon deshalb eine b e s o n d e r e V o r l i e b e für die Steuerverwaltung, weil bei der O b e r b e h ö r d e das von ihm bevorzugte Prinzip der Einheit anstatt der Kollegialität durchgeführt w a r ; er stellt mit F r e u d e fest, daß dieser erste Versuch gelungen zu sein scheint. Karl Heinzen, der selbst Steuerbeamter gewesen war, macht hier wieder auf die schlechte Stellung der U n t e r b e a m t e n , ihre elende B e s o l d u n g , ihre Arbeitsüberlastung a u f m e r k s a m . V o r allem r ü g t er die überstarke K o n trolle und das Mißtrauen ihnen g e g e n ü b e r ; dadurch würde nur Heuchelei und Unehrlichkeit g r o ß g e z o g e n , wie z. B . schon daraus hervorginge, daß die T a g e b ü c h e r , in welchen die Steuerbeamten die zehnstündige Arbeitszeit nachweisen mußten, allgemein als L ü g e n b ü c h e r bezeichnet wurden. 2 ) Einen Fehler des ganzen S y s t e m s erblickt Heinzen darin, daß die Provinzialsteuerchefs durch die Rücksicht auf den Fiskus und auf die Auszeichnungen und Gratifikationen, die ihnen bei erhöhter E i n n a h m e zuteil wurden, zu g e r i n g e r e r Rücksichtn a h m e auf die Beamten und das Publikum veranlaßt würden.

' ) Preußen und Frankreich, S. 163. 2)

Die preuß. Bureaukratie, S. 194.



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Namentlich gegen die Industrie zeiht er die Steuerbehörden in m a n c h e n Fällen eines direkt feindlichen Auftretens. 1 ) Bei der Steuergesetzgebung beklagt Hansemann, daß infolge des Konkurrierens so vieler Behörden der G a n g ein sehr langsamer u n d schwieriger sei. Der Staatsrat, das Finanz-, das Staatsministerium, das Geheime Kabinett, die Provinzialstände wirkten mit, also 4 Zentral- und 8 Provinzialbehörd e n ; „natürlich eilte die Regierung mit der Vollziehung derjenigen Gesetze nicht, welche einer solchen P r ü f u n g unterworfen wurden," oder sie legte die Gesetze nicht allen diesen Behörden vor. 2 ) Über das preußische Steuersystem selbst herrschte in den Rheinlanden allgemeine Klage; fast alle Politiker, welcher Partei sie auch angehörten, zeigen sich' solidarisch in ihren Vorwürfen, alle üben scharfe Kritik und gehen dabei von den Zuständen der französischen Herrschaft als Basis aus. O b es richtig ist, daß die Steuern zur Zeit der französischen Herrschaft in den Rheinlanden geringer waren, wie in der Rheinprovinz allgemein behauptet wurde, ist zweifelh a f t ; unbedingt richtig ist, daß das französische Steuersystem zwei Vorzüge vor dem preußischen hatte, die Gleichmäßigkeit u n d Einheitlichkeit. W ä h r e n d die französische Herrschaft auch den Rheinlanden die A u f h e b u n g aller Exemtionen gebracht hatte, bestanden in Preußen noch zahlreiche Steuerprivilegien. Daß die Rheinländer, denen die Gleichheit so viel bedeutete, derartige Verhältnisse mißbilligend betrachteten, ist erklärlich. Venedey entrüstet sich in „Preußen und P r e u ß e n t u m " wiederholt über diese Bevorzugungen, H a n s e m a n n verurteilte sie ganz u n d gar und bestrebte sich, sofort als er 1848 preußischer Minister geworden war, ihre A u f h e b u n g zu erreichen, da sie „weder mit der natürlichen Gerechtigkeit, noch mit dem Geist der Zeit in Einklang ständen" u n d da „der G r u n d g e d a n k e der neuen preußischen Verfassung, die gleiche Berechtigung und Verpflichtung aller Staatsbürger dem Staatsverbande g e g e n ü b e r auch in diesem Teile der Gesetzgebung zur Wahrheit werden müßte." 3) Mit Erbitterung x

) Die preuß. Bureaukratie, S. 197/98. ) Preußen u. Frankreich, S. 7. 3 ) Motive zum Gesetzentwurf v. 20. Juli 1844 über die Aufhebung der Grundsteuerbefreiungen, Bergengrün, S. 510/11. 2



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u n d Befremden blickten sie auf den altpreußischen Geist, der ihnen in der starren Opposition der Großgrundbesitzer gegen die A u f h e b u n g der Exemtionen entgegentrat. Wenn Raveaux im Frankfurter Parlament die Schwäche des preußischen Staats dokumentieren will, so weist er u. a. darauf hin, daß in diesem Staat das ganze Verfassungswerk scheiterte, als in den alten Provinzen die steuerfreien Grundbesitzer Steuern zahlen sollten. 1 ) Er erinnert damit an die Hardenbergsche Zeit von 1810, in der die Regierung durch ein Edikt den G r u n d s a t z der A u f h e b u n g der Exemtionen aussprach, den sie aber dann infolge des stürmischen W i d e r s p r u c h s der Großgrundbesitzer nicht d u r c h f ü h r t e . An dieses Edikt vom 27. Oktober 1810 knüpften die Rheinländer an, um ihrer G e w o h n h e i t gemäß die Kontinuität der Gesetzgebung herzustellen und den Rechtsstandpunkt zu fixieren. Hansemann erörtert in den „Politischen Tagesfragen", wie die positiven Zusicherungen des Edikts betreffs A u f h e b u n g der Exemtionen nicht gehalten worden seien, indem die Domänen, viele G ü t e r usw. steuerfrei blieben; der Rechtsanspruch bestehe aber dennoch u n g e m i n d e r t fort. 2 ) Auf dieses Edikt und auf das Gesetz vom 30. Mai 1820 g r ü n d e t e n die Rheinländer auch ihre Ansprüche auf G r u n d steuerausgleichung. Damit ist der zweite Punkt berührt, der den Rheinländern bei dem preußischen Steuersystem verwerflich schien, nämlich die ungleichmäßige Verteilung und die H ö h e der G r u n d s t e u e r . Zunächst kamen ihnen die Zustände in Preußen insofern sehr rückständig vor, als dort keine einheitliche Grundsteuer, sondern, wie sich H a n s e m a n n ausdrückt, „ein wahres Chaos" vorhanden war. Mit G r u n d steuer wurden hier noch viele Reste mittelalterlicher Abgaben, Servituten u n d Prästationen bezeichnet, so z. B. Judenschutzgelder, Giebelschoß, Offizierhafer, Ritterakademiegeld e r ; es gab 16 Hauptgrundsteuersysteme mit 120 Unterabteilungen. 3 ) Innerhalb jeder einzelnen Provinz bestanden U n gleichmäßigkeiten in der Grundsteuerveranlagung, u n d zwiSten. Ber. VIII, 6321. ) S. 148/49. 3 ) Preußen und Frankreich, S. 91/92. 2



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sehen den einzelnen Provinzen herrschten in dieser Hinsicht die größten Unterschiede. Diese ungerechte Verteilung, dieses ungleichmäßige Steuersystem, das einer einheitlichen Gestaltung der Staatsverwaltung im Wege stand, bekämpften die Rheinländer mit der größten Heftigkeit und Ausdauer. In einem Antrag des 3. Rheinischen Landtages auf Grundsteuerrevision heißt es: „Der Staat ist zu einer gleichmäßigen Steuererhebung aus demselben Grunde verpflichtet wie zu einer gleichen gesetzlichen Rechtspflege; es steht so wenig in seiner Willkür, den einen hoch, den andern niedrig zu besteuern, als es seinem Ermessen überlassen ist, dem einen Recht zu sprechen, dem andern es zu verweigern." Zu der Klage über die ungleichmäßige Steuerverteilung überhaupt kam noch die über besondere Höhe der Grundsteuer in der Rheinprovinz hinzu. In diese Klage stimmten fast alle rheinischen Politiker ein, und die Radikalen, wie z. B. Venedey, wichen nur darin von den Liberalen ab, daß sie in der besonders hohen Grundsteuer der Rheinprovinz eine absichtliche Benachteilig u n g gegenüber den alten Provinzen erblickten. 2 ) Über diese Steuerausgleichung und die Ü b e r b ü r d u n g der Rheinprovinz mit Grundsteuern ist unendlich viel gestritten und geschrieben worden, ohne daß, wie Hansen in seiner MevissenBiographie sagt, diese Streitfrage jemals zu klarem Austrag gebracht werden konnte. 3 ) Jedenfalls herrschte bei den Rheinländern die Meinung vor, daß ihre Provinz im Vergleich zu den östlichen Provinzen unverhältnismäßig hohe Steuern zahle, daß die Grundsteuer unter der französischen Herrschaft niedriger gewesen sei, und daß in dem reicheren Frankreich immer noch eine geringere Grundsteuer gezahlt werde als in der Rheinprovinz. Völlig durchdrungen von der Richtigkeit dieser Meinung, erklärte Hansemann als Referent in einem Ausschußbericht auf dem rheinischen Landtag von 1845: „Bei jedem in der Finanzwirtschaft und in der Statistik erfahrenen Staatsbeamten ist kein Zweifel mehr darüber vorhanden, daß die Rheinprovinz jährlich im Verhältnisse ') Der 3. rheinische Landtag, S. 50. 2 ) Preußen und Preußentum, 145/46. 3 ) I, 218.



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gegen die östlichen Provinzen eine sehr bedeutende S u m m e zuviel an G r u n d s t e u e r entrichtet, eine S u m m e , welche höchstwahrscheinlich mehr als die Hälfte derjenigen beträgt, welche von der Rheinprovinz an Klassensteuer aufgebracht wird." Trotz aller Widersprüche und E i n w e n d u n g e n gegen diese Klagen der Rheinländer ist doch die Behauptung, daß ihre Provinz ziffernmäßig eine zu hohe G r u n d s t e u e r zahlte, noch u n w i d e r l e g t ; auch Treitschke sagt im G r u n d e g e n o m m e n nichts dagegen. Auf welcher Seite nun auch Recht oder U n r e c h t liegen mag, in den Augen der Rheinländer bedeutete diese unverhältnismäßig h o h e G r u n d s t e u e r eine Schattenseite der preußischen Verwaltung. Ebensowenig wie die G r u n d s t e u e r fand die Klassensteuer, die an Stelle der französischen Personal- und Mobiliarsteuer getreten war, G n a d e vor den Augen der Rheinländer. Einmal galt sie als zu hoch, dann bemängelte man, daß sie zu Ungleichheiten zwischen den einzelnen Kreisen und Orten führte und daß sie f ü r Offiziere, Geistliche und Lehrer Exemtionen gewährte. An die A b s c h a f f u n g der letzteren ging H a n s e m a n n sofort, als er Minister wurde. W a s aber hauptsächlich bei dieser Steuer von allen, von Simon, Venedey, H a n s e m a n n , beklagt wurde, war, daß sie die Reichen schonte u n d besonders drückend auf den Ärmeren lastete. 2 ) Diesen Mangel der Klassensteuer erkennt auch Treitschke an, und er gibt offen zu, daß sich der Schöpfer der Steuergesetze J. G. H o f f m a n n fürchtete, die Reichen höher zu besteuern. 3 ) D u r c h ihre fortwährenden Beschwerden erlangten die Rheinländer wenigstens, daß immer mehr Steuerklassen nach oben aufgesetzt w u r d e n . Die unbeliebteste und am meisten angefeindete Steuer aber war wohl die Mahl- u n d Schlachtsteuer. Sie sollte in 132 Städten an Stelle der Klassensteuer erhoben w e r d e n ; schon das Prinzip, auf dem sie aufgebaut war, sagte den Rheinländern nicht zu. Sie w u r d e nämlich nicht nach dem Verhältnis der Steuerfähigkeit, sondern da erhoben, „ w o die 1

) Die Politischen Tagesfragen, S. 157. ) Vgl. auch Camphausen. Der 1. Vereinigte Landtag III, 1591. 3 ) Deutsche Geschichte III, 90. 2

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Örtlichkeit die Erhebung zuließ, in der Absicht, der Staatskasse eine größere Einnahme als vermittelst der Klassensteuer zu beschaffen," x ) sie wurde also z. B. in Orten eing e f ü h r t wo alte Festungswälle die Erhebung erleichterten, ungeachtet dessen, daß diese Orte oft an Reichtum hinter anderen, die Klassensteuer zahlten, zurückstanden. Im Ausschußbericht des 8. rheinischen Landtags heißt es, daß die Mahl- und Schlachtsteuer die Bewohner im Durchschnitt doppelt so stark treffe als die Klassensteuer. 2 ) Hansemann führt an, daß das sehr wohlhabende Elberfeld bei 29 255 Einwohnern 23 642 Reichstaler Klassensteuer und das viel ärmere Aachen bei 36 730 Einwohnern 60 780 Reichstaler Mahl- und Schlachtsteuer bezahlte, Düren mit 6364 Einwohnern 4843 Reichstaler Klassensteuer, Burtscheidt mit 4928 Einwohnern 7910 Reichstaler Mahl- und Schlachtsteuer. 3 ) Im Jahre 1844 war das Verhältnis so, daß Krefeld, Elberfeld und Barmen bei zusammen 96 000 Einwohnern 58 000 Taler Klassensteuer, Aachen bei 50 000 Einwohnern 80 000 Taler Mahl- und Schlachtsteuer bezahlte. Außer durch diese ungerechte Verteilung erregte die Steuer namentlich dadurch Erbitterung, daß sie die unteren Klassen besonders schwer traf, daß sie, wie Venedey klagt, Brot und Fleisch besteuere, aber alle Luxusspeisen, Wild, Geflügel usw. steuerfrei lasse.1) Die schon damals aufgestellte und auch später von Treitschke aufgenommene Behauptung, daß durch Erhöhung der Arbeitslöhne die Steuerlast wieder auf die Wohlhabenden abgewälzt würde, 5 ) wiesen die Rheinländer als größtenteils unrichtig zurück. Ein anderer Nachteil dieser Steuer, den Mevissen besonders hervorhebt, zeigte sich darin, daß sie den freien Austausch hemmte und „Zollschranken im Innern" herstellte. In dem Entwurf einer Rede für den Vereinigten Landtag gibt Mevissen dem allgemeinen Urteil über sie Ausdruck, indem er sagt: „Genug, die Ansicht, daß die Schlacht- und

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) 3 ) 4 ) 5 )

Hansemann, Preußen und Frankreich, S. 119. Die politischen Tagesfragen, S. 137. Preußen und Frankreich, S. 120. Preußen und Preußentum, S. 151. Deutsche Geschichte III, 95.

— 91 — Mahlsteuer drückend, ungerecht u n d kostspielig und demoralisierend in der Erhebungsweise ist, besteht." Neben diesen Hauptsteuern bestanden noch andere, darunter eine Gewerbesteuer, die nach H a n s e m a n n große Mängel zeigte, eine Steuer auf Bier, Branntwein usw. und eine Salzsteuer, gegen die besonders Venedey eifert, weil sie wiederum eins der notwendigsten Lebensmittel traf u n d weil in den meisten Provinzen Z w a n g bestand, ein gewisses Q u a n tum abzunehmen. 2 ) Bei den K o m m u n a l a b g a b e n w u r d e lebhaft über H ö h e u n d f o r t w ä h r e n d e s Steigen derselben geklagt. Auch Treitschke gibt die Berechtigung dieser Klagen zu u n d erkennt an, daß bei der Kommunalsteuergesetzgebung große Fehler gemacht worden sind. 3 ) Die Rheinländer e m p f a n d e n dies um so mehr, als die K o m m u n a l a b g a b e n in der französischen Zeit verhältnismäßig niedrig gewesen waren. *) W e n n wir nach diesen Kritiken über die einzelnen preußischen Steuern die Gesamtstellung der Rheinländer zum preußischen Steuersystem charakterisieren wollen, so können wir sagen, daß sie hauptsächlich an der ungleichmäßigen, ungerechten Steuerverteilung u n d der zu starken Belastung der unteren Klassen Anstoß n a h m e n . In diesen beiden Punkten ist wohl ihr Tadel auch als berechtigt a n z u e r k e n n e n ; ihren sonstigen Klagen gegenüber muß man die schwierige Lage der Regierung in der B e h a n d l u n g dieser undankbarsten und ') Entwurf einer Rede zur Frage der Einkommensteuer. Hansen II, 304/5. 2 ) Preußen u. Preußentum, S. 155. 3 ) Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 96/97. 4 ) In allen Steuerfragen hat P. Kaufmann ebenso wie Benzenberg eine von der herrschenden rheinischen Meinung abweichende Ansicht. K. hält den Steuerjammer für ungerechtfertigt und bestreitet namentlich, daß der Steuerdruck in Preußen größer sei als in Frankreich. Die Ausführung des Edikts von 1810, das die Rheinländer als Grund- und Eckstein ihrer Forderungen betrachteten, sieht er als unmöglich an, weil sie mit einem Unrecht gegen die östlichen Grundbesitzer verbunden sein würde. Vgl. dazu seine Schriften „Rheinpreußen und seine staatswirtschaftlichen Interessen" S. 1 8 5 - 9 1 und „Würdigung der Schrift Preußen und Frankreich" S. 9 etc.



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verpöntesten aller staatlichen Fragen berücksichtigen und dabei besonders in Betracht ziehen, daß sich die Rheinländer nach dem harten Steuerdruck der napoleonischen Kriegszeit mit unerfüllbaren H o f f n u n g e n auf eine goldene Steuerzeit im Frieden trugen. Die Steuerlast, die der verarmte preußische Staat auflegte u n d bis zu einem gewissen G r a d e dem von der napoleonischen N o t weit weniger berührten Rheinland auferlegen mußte, war gewiß schwer, u n d den rheinischen Politikern entgingen die Gefahren nicht, die aus der schon e r w ä h n ten allzustarken B e d r ü c k u n g der unteren Klassen hervorgingen. Sie sahen Unzufriedenheit, Not, E r r e g u n g u n d T u m u l t e ; sie sahen das Anwachsen des Proletariats u n d die z u n e h m e n d e politische Begehrlichkeit der unteren Klassen. D a r u m plädierten sie alle energisch f ü r V e r m i n d e r u n g d e s Steuerdrucks, f ü r ' A b s c h a f f u n g der Mahl- u n d Schlachtsteuer, sowie ü b e r h a u p t der Steuern auf die notwendigsten Lebensund Genußmittel. H a n s e m a n n sieht in der ungerechten Besteuerung geradezu eine Ursache der Revolution. 1 ) Aus politischer Klugheit und um der Gerechtigkeit willen drängten also die rheinischen Politiker auf eine Besserung der bisherigen Zustände. Das wirksamste Mittel dazu schien ihnen neben der S t e u e r v e r m i n d e r u n g die E i n f ü h r u n g einer progressiven Einkommensteuer zu sein, u n d n u r in einer Beziehung differierten die Meinungen der Liberalen u n d der Radikalen; die letzteren waren f ü r Ausschließlichkeit der Einkommensteuer, die ersteren hielten neben derselben auch indirekte Steuern f ü r nötig. Schon auf den letzten Landtagen waren die rheinischen Politiker lebhaft f ü r die Einkommensteuer eingetreten, und den auf dem Vereinigten Landtag eingebrachten Gesetzentwurf der Regierung auf A u f h e b u n g der Mahl- und Schlachtsteuer, B e s c h r ä n k u n g der Klassensteuer u n d E i n f ü h r u n g d e r Einkommensteuer begrüßten sie mit größter F r e u d e ; er w a r ihnen willkommen als „ein sozialer Fortschritt", als A u s f l u ß der Idee von der ausgleichenden Gerechtigkeit. 2 ) Die rheinischen Politiker schätzten an dieser Steuer, daß sie die Reichen 1

) Das preußische und deutsche Verfassungswerk, S. 103. ) Camphausen, Der 1. vereinigte Landtag III, 1592.

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stärker heranzog; daneben legten aber einige von ihnen noch besonderen Wert auf das Prinzip der Selbsteinschätzung, weil es ihre Ansprüche auf „politische Bildung und Öffentlichkeit" unterstützte. Camphausen hebt hervor, wie bei der Selbsteinschätzung der einzelne genötigt würde, sich seine Pflichten im Staate klar zu machen, wie sein Interesse durch seine Selbstbetätigung wachse und wie die Selbsteinschätzung dazu beitrage, das Verhältnis zwischen Regierung und Volk angenehmer zu gestalten. 1 ) Trotz des energischen Eintretens der meisten Rheinländer f ü r die Einkommensteuer scheiterte der Antrag der Regierung am Widerstand der östlichen Gutsbesitzer und einiger altländischen Liberalen. Was das F i n a n z w e s e n anlangt, so erschienen die preußischen Finanzbehörden den meisten Rheinländern eifrig und von dem besten Willen beseelt; aber praktische Geschäftsmänner wie Hansemann, Mevissen und Camphausen empfanden, wenn sie mit den preußischen Finanzbeamten zu tun hatten, oft einen Mangel an Sachkenntnis, ein geringes Verständnis für Finanzoperationen bei ihnen. Einen Hauptfehler sahen sie schon in der Organisation der preußischen Finanzverwaltung; dadurch daß sie sich in fünf koordinierte Ministerien zersplitterte, ließ sie die so wichtige und förderliche Einheit in Finanzmaßnahmen vermissen. Große gemeinsame Zwecke wurden vernachlässigt, und das Finanzministerium sank, wie Hansemann 1842 sagt, zum „Steuerempfangsministerium" herab. 2 ) Zu dieser unvorteilhaften Organisation trat in den Augen der Rheinländer noch ein zweites Gebrechen hinzu, nämlich die Heimlichkeit der Finanzoperationen. Zwar hatte die Verordnung vom 17. Januar 1820 die Veröffentlichung der Budgets für alle 3 Jahre versprochen; aber bis 1842 waren erst 5 Budgets in unregelmäßigen Abständen veröffentlicht worden. Auch Treitschke, der die Nichtveröffentlichung in der ersten Zeit mit der Absicht der Regierung entschuldigt, durch Aufdeckung der

*) Der 1. vereinigte Landtag III, 1592. 2 ) Bergengrün, S. 244. Vgl. auch Hansemanns Rede. einigte Landtag III, 1507.

Der 1. ver-



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schlechten Finanzzustände das Publikum nicht zu b e u n r u h i g e n , findet, daß das Verheimlichungssystem f ü r die spätere Zeit einen großen Fehler bedeutete. 1 ) Die Rheinländer, Venedey, Hansemann, der Verfasser von „ D e la Prusse", die ja alle lebhafte F r e u n d e der Öffentlichkeit waren, bedauerten es sehr, daß über die finanziellen Verhältnisse im allgemeinen ein so geheimnisvolles Dunkel gebreitet war. Als Beweis dafür, wie die Verhältnisse lagen, sei angeführt, daß der Nationalökonom K r u g im Jahre 1824 nicht die Erlaubnis erhielt, seine Geschichte der preußischen Staatsschulden drucken zu lassen und daß die Staatsschuldenverwaltung zum ersten Male im Jahre 1834 einen Verwaltungsbericht veröffentlichte. So konnte H a n s e m a n n mit Recht d a r ü b e r klagen, daß er sich infolge der geringen Anzahl vorliegender Bekanntmachungen über Steuerverhältnisse in seinem Buch „Preußen u n d Frankreich" oft auf M u t m a ß u n g e n beschränken mußte. Die Etats, die von der Regierung veröffentlicht wurden, befriedigten die rheinischen Politiker nicht, und zwar hielten sie sie deshalb f ü r ziemlich wertlos, weil sie n u r in großen Zügen gehalten waren und keine näheren Einblicke gewährten. Einnahmen und Ausgaben waren n u r in einigen H a u p t r u b r i k e n angef ü h r t ; was sollte man aber, wie H a n s e m a n n richtig bemerkt, daraus ersehen, daß 1829 z. B. die Gesamtausgaben des Ministeriums des Innern o h n e jede Spezialisierung mit 4 883 000 Talern angegeben w u r d e n ? 2 ) Auch in dem 1847 dem Vereinigten Landtag vorgelegten Etat vermißt er genauere Angaben, z. B. über die A u f w e n d u n g e n f ü r Festungsbauten, über die Besoldungen in der Zivilverwaltung usw. 3 ) Sowohl er als die anderen rheinischen Politiker erachteten es f ü r nötig, daß diejenigen, die neue Steuern bewilligen sollten, über die V e r w e n d u n g derselben genau orientiert w ü r d e n , u n d daß sie, um Vorschläge u n d Einflüsse geltend machen zu können, genaue Angaben erhalten müßten. Es war n u r die natürliche Folge dieser unzureichenden Pauschalrechnerei, wenn sie Mißtrauen gegen die preußischen B u d g e t s h e g t e n ; sie mußten

M Deutsche Geschichte III, 73 und IV, 190 und 544. 2 ) Preußen und Frankreich, S. 17. 3 ) Der 1. vereinigte Landtag III, 982.



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Zweifel in eine R e c h n u n g setzen, bei der es, wie Raveaux im Frankfurter Parlament sagt, immer „auf Heller u n d Pfennig übereinstimmt". 1 ) Dazu kam, daß sie Unrichtigkeiten u n d Irrtümer entdeckten; z. B. wird in „Preußen und Frankreich" und in der Schrift „De la Prusse" darauf aufmerksam gemacht, daß der Etat des Kriegsministeriums von 1832, obwohl nach der Julirevolution große Bewaffnungen stattgef u n d e n hatten, nicht viel höher als der von 1829 war. 2 ) Hansemann erörtert, daß die R e c h n u n g in den Budgets schon deshalb nicht stimmen könne, weil einzelne Steuererträge nicht a n g e f ü h r t seien und weil neben dem Etat noch die Geldoperationen der Seehandlung hergingen. 3 ) Auch Venedey stößt bei seinen B u d g e t p r ü f u n g e n auf mancherlei Befremdliches, so vermißt er z. B. in den Etats die A n f ü h r u n g e n der Überschüsse, aus denen der Staatsschatz gesammelt wurde. 4 ) Diesen Staatsschatz sahen sowohl Venedey als Hansemann f ü r gänzlich unzweckmäßig an. H a n s e m a n n ist der Ansicht, daß die Entziehung des Kapitals vom Nationalvermögen, die U n m ö g lichkeit, bei der jetzigen Massenkriegsführung die Kosten damit zu decken, die Versuchung, sich f ü r reicher zu halten als man ist, G r ü n d e g e n u g seien, um zu beweisen, wie u n angebracht die S a m m l u n g eines Staatsschatzes sei. Der zukünftige Nutzen desselben tritt ihm zurück vor der augenblicklichen praktischen V e r w e n d u n g , die das Geld finden könnte. 5 ) Über die Finanzlage selbst sind die aus den dreißiger und vierziger Jahren stammenden Urteile der rheinischen Liberalen günstig. In der Tat hatten sich ja die Finanzen Preußens, die 1815, als die Rheinlande an Preußen kamen, sehr im argen lagen, erheblich gebessert. Die Staatsschuld war von 217 Millionen im Jahre 1818 auf 137 Millionen im Jahre 1847 h e r a b g e s u n k e n ; die Zinsenlast betrug n u r noch 5 Millionen, die Staatsschuldenscheine standen hoch im Kurse, und die Erträge der D o m ä n e n hatten sich gehoben. 6 ) Als !) 2 ) 3 ) 4 ) 5 ) «)

Sten. Ber. VIII, 6321. De la Prusse, S. 259. Preußen und Frankreich 187. Preußen und Frankreich, S- 17. Preußen und Preußentum, S. 140. Preußen und Frankreich, S. 183. Treitschke, Deutsche Geschichte V, 494.



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Beckerath sich entschloß, aus dem Frankfurter Parlament auszuscheiden und an seinen Vater über die G r ü n d e zu diesem Schritt schrieb, h o b er u. a. die redliche Verwaltung und die geordnete Finanzlage als diejenigen gesunden Elemente hervor, von denen er bestimmt hoffte, daß sich Preußen, auf sie gestützt, zu seiner Bestimmung emporraffen w ü r d e ; deshalb hielt er es f ü r frevelhaft, in diesen O r g a n i s m u s die Brandfackel der Revolution hineinzuschleudern. 1 ) Auch Hansem a n n lobt schon in „Preußen und Frankreich" den guten Finanzzustand Preußens, der allgemein bekannt und unzweifelhaft sei; er r ü h m t die O r d n u n g und Sparsamkeit, die Rechtlichkeit u n d Pünktlichkeit bei Erfüllung der Verbindlichkeiten gegen Gläubiger. Einen hohen Lohn d a f ü r sieht er in dem großen Staatskredit, den Preußen besitzt u n d in der Bew e r t u n g der preußischen Kassenanweisungen in den Nachbarstaaten. 2 ) In der preußischen Nationalversammlung widmete er der alten Finanzverwaltung ein ehrenvolles Gedenken, indem er sein Urteil bei aller Kritik im einzelnen dahin zusammenfaßte, „daß die alte Zeit, im Ganzen betrachtet, eine gute H a u s h a l t u n g geführt und die Mittel überliefert habe, Preußen durch die schwere Zeit ruhmvoll durchzubringen." 3) Von radikaler Seite ist mir nur das Urteil Raveaux' ü b e r die preußische Finanzlage bekannt geworden, ein Urteil, d a s sich auf irrige Angaben stützt und weniger von Verständnis als von der Sucht der Radikalen zeugt, die preußischen Zustände grau in grau zu malen. Er sieht die Finanzlage f ü r schlecht an, weil der preußische Staat durch die D o m ä n e n verkäufe um 110 Millionen ärmer geworden ist u n d weil die A b t r a g u n g der Staatsschulden, von der er die richtige S u m m e übrigens nicht kennt, keinen Ausgleich d a f ü r bedeute. 4 )

Kopstadt, S. 128. ) Preußen u. Frankreich, S. 17 u. S. 184. ') Bergengrün. S. 520. Vgl. dazu auch das sehr günstige Urteil des rheinischen Abgeordneten Arntz in der Preußischen Nationalversammlung. Verhandl. I 443. 4 ) Sten. Ber. VIII 6321. 2



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2. Wirtschaftspolitik. Bei der Betrachtung der rheinischen Urteile über die preußische W i r t s c h a f t s p o l i t i k m u ß man sich vergegenwärtigen, daß es sich um eine Zeit handelt, in der das wirtschaftliche und soziale Interesse erst in der Entwicklung begriffen war. Im V o r d e r g r u n d e standen damals die politischen Interessen, u n d auch den rheinischen Politikern, den Radikalen wie den Liberalen, galt die E r l a n g u n g politischer Rechte und die Festlegung derselben in einer Verfassung als die momentan alles z u r ü c k d r ä n g e n d e F o r d e r u n g . Die Mein u n g Karl Heinzens, daß eine gute Verwaltung die Verf a s s u n g nicht ersetzen k ö n n e , d i e s e von dem französischen Liberalismus ausgehende, ungeheuer hohe Bewertung der Konstitution, war damals in weiten Kreisen verbreitet. Es war n u r die Konsequenz dieser Anschauungen, daß die rheinischen Politiker, Radikale und Liberale, sich ablehnend gegen diejenige Richtung verhielten, die n u r die sozial-wirtschaftlichen Interessen in Betracht zog, gegen den Kommunismus, der damals in den Rheinlanden seine ersten Anhänger gewann. Können wir soweit eine Gemeinsamkeit in den Anschauungen von Radikalen und Liberalen konstatieren, so macht sich bald wieder ein erheblicher Unterschied bemerkbar. Bei den rheinischen Radikalen nahmen die politischen Forderungen solche Dimensionen u n d ein solches Maß an, daß alle anderen neben ihnen fast verschwanden. Diese Demokraten, die doch überall besonders f ü r die Interessen der unteren Klassen eintraten, die eigentlich gerade f ü r wirtschaftliche und soziale Fragen sich hätten ins Z e u g legen müssen, standen derartigen Dingen ziemlich fern. In der „deutschen Monatsschrift", die als O r g a n der demokratischen Partei anzusehen ist und deren eifriger Mitarbeiter Ludwig Simon war, ist in mehreren Artikeln von den Vorwürfen die Rede, die der Demokratie o b ihrer Passivität g e g e n ü b e r den wirtschaftlichen u n d sozialen Bestrebungen gemacht w u r d e n . In einem dieser Artikel heißt es, daß der G r u n d nicht böser Wille, sondern Unkenntnis der materiellen Verhältnisse u n d des Volkslebens *) D i e preußische Bureaukratie, S. 61. N a t h a n , Preussische Verfassung.

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sei. 1 ) W i e w e n i g man sich in diesen Fragen Rat wußte, g e h t daraus hervor, daß die deutsche Monatsschrift in ihrem P r o spekt erklärte, sie erkenne in materiellen Fragen noch keinen Parteistandpunkt an. Man muß sich nur das L e b e n der F ü h r e r der rheinischen Demokratie, Raveaux', V e n e d e y s und S i m o n s vergegenwärtigen, um ihre geringen B e z i e h u n g e n zu praktischen F r a g e n erklären zu können. Raveaux und V e n e d e y gerieten beide s c h o n in ihrer J u g e n d in Konflikt mit d e r Staatsgewalt, lebten jahrelang als Flüchtlinge im Ausland, H a ß u n d G r o l l in sich aufspeichernd, und konnten auch nach ihrer R ü c k k e h r in die Heimat keine feste W u r z e l fassen. Sie stießen i m m e r wieder mit der Staatsgewalt zusammen, und so kam es, daß sie sich m e h r und m e h r in die politische T h e o r i e verbissen, die ihr hauptsächlichstes L e b e n s e l e m e n t w u r d e . J a k o b V e n e d e y schreibt ein dreibändiges W e r k ü b e r E n g l a n d , daß, wenn es auch in den eigenen Ansichten und V o r s c h l ä g e n des Verfassers über allgemeine Redensarten nicht hinauskommt, doch eine eingehende S c h i l d e r u n g der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse E n g l a n d s g i b t ; a b e r in all seinen zahlreichen sonstigen W e r k e n findet sich ü b e r d a s wirtschaftliche L e b e n seiner Heimat nur sehr wenig, und n o c h g e r i n g e r als bei ihm ist bei seinen Parteigenossen die A u s b e u t e an Material über diese D i n g e . In den Reihen der rheinischen Liberalen dagegen findet sich j e n e r K r e i s von Männern, die die g r o ß e B e d e u t u n g wirtschaftlicher Angelegenheiten sehr wohl verstanden und ihnen lebhaftes Interesse e n t g e g e n b r a c h t e n . E s sind die bei diesen F r a g e n so s e h r hinter beteiligten rheinischen Kaufleute und Industriellen, denen die führenden Schichten des liberalen rheinischen B ü r g e r t u m s standen und von denen hier namentlich Mevissen, Hansemann und C a m p h a u s e n sowie der ebenfalls durch starkes wirtschaftliches Interesse ausgezeichnete K. H . B r ü g g e mann in B e t r a c h t k o m m e n . Bei ihnen war das politische Interesse durch das wirtschaftliche bedingt, w e l c h e s als treibendes Element f ü r ihr Verlangen nach dem konstitutionellen Staat hinzutrat. E b e n hierin zeigt sich der praktische Liberalismus,

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S. 333.

Siehe d. Art.,

„Die Fraktionen der demokratischen Partei" 1851.

Ähnliches in den beiden Artikeln, „Die Demokratie",

1850.

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dessen sie sich rühmten, und wenn sie die politischen Forder u n g e n voranstellten, so geschah es nur, weil sie erst von dem mit konstitutionellem Geist erfüllten Staate, in dem alle Bürger am öffentlichen Leben teilnahmen, eine F ö r d e r u n g der wirtschaftlichen Interessen in ihrem Sinne erhofften. In B r ü g g e m a n n s W o r t e n : „Die ökonomischen Verhältnisse bilden das F u n d a m e n t der p o l i t i s c h e n " l i e g t der schroffste Gegensatz zu den Ansichten der Radikalen, die von rein theoretischen Gesichtspunkten aus ihre F o r d e r u n g e n aufstellten und die wirtschaftlichen Momente als unbestimmte Z u k u n f t s h o f f n u n g e n beiseite schoben. Im allgemeinen versagten die Rheinländer der Tätigkeit der Regierung auf wirtschaftlichem Gebiet ihre A n e r k e n n u n g nicht. Vielleicht bestand auf keinem Gebiet eine so enge Ann ä h e r u n g zwischen den Rheinlanden und Preußen wie auf diesem, vielleicht fühlten sich die Rheinländer in keinem anderen Falle zu einem so u n u m w u n d e n e n Eingeständnis der Vorzüge der preußischen Herrschaft bewogen als in diesem. Natürlich waren sie auch hier in ihrem Lobe sehr vorsichtig, u n d wenn sich z. B. selbst der Verfasser von „ D e la Prusse" das Zugeständnis abzwingt, daß sich der Wohlstand der Rheinprovinz unter der preußischen Herrschaft bedeutend gehoben hat, so erklärt er doch gleich, daß der Regierung hier sehr glückliche U m s t ä n d e zu Hilfe g e k o m m e n seien. 2 ) Auch Hansemann meint in „Preußen u n d Frankreich", man habe in den Rheinlanden der Staatsregierung in Anbetracht der H e b u n g des Wohlstandes manches zugerechnet, was eigentlich gar nicht auf ihr Konto, sondern teils auf die Errungenschaften der französischen Zeit, teils auf die neueren Erfindungen zurückzuführen sei. 3 ) Aber sie waren sich doch bewußt, wieviel die Regierung durch Aufrechterhaltung des Friedens, durch F ö r d e r u n g u n d Pflege der Industrie, durch Sorge f ü r Straßen u n d Verkehrseinrichtungen getan hatte; n u r meinten sie, daß die Regierung auf dieser Bahn nicht gleichmäßig fortgeschritten sei. Man kann sagen, daß sie Der deutsche Zollverein, S. 168. ) S. 316. 3 ) Preußen u. Frankreich, S. 284. 2

7*



100



von 1815 an gewissermaßen zwei Perioden in der Wirtschaftspolitik des preußischen Staates unterschieden, die erste, die ihren Glanz von der wirtschaftlichen Einigung Preußens durch das Zollgesetz von 1818 und von der Gründung des deutschen Zollvereins 1834, von der Tätigkeit hervorragender Beamter wie Maaßen und Motz empfing, die zweite, die Ende der dreißiger Jahre begann und ein Abflauen, einen Stillstand bedeutete. In einer Rede auf dem Vereinigten Landtag 1847 erklärt Mevissen, daß seiner Meinung nach Preußen in den letzten sieben Jahren kommerziell und industriell nicht so fortgeschritten sei, wie es hätte fortschreiten sollen, und er wirft die Frage a u f : „Welche großen Resultate werden diese verflossenen sieben Jahre der Zukunft überliefern, mit welchen großen unvergeßlichen Taten werden sie in das Buch der Geschichte eingetragen sein? Ich will nicht behaupten, daß Preußen in dieser Zeit gar nicht fortgeschritten sei, aber ich behaupte, es ist nicht in der naturgemäßen Progression fortgeschritten, es ist nicht in gleichem Verhältnis fortgeschritten wie andere Völker." x ) Auf diese zweite, weniger erfolgreiche Epoche der preußischen Wirtschaftspolitik beziehen sich die Urteile der rheinischen Politiker hauptsächlich; sie werden also erkennen lassen, inwiefern die Rheinländer die Regierung für die Lage des Wirtschaftslebens verantwortlich machten, welchen Umschwung, welche Mängel sie in der Leitung desselben wahrnahmen. Es erschienen ihnen hier dieselben Züge tadelnswert, die sie bei der Verwaltung im allgemeinen rügten. Das absolutistische, bureaukratische Wesen mit der Neigung zur Überwachung und Bevormundung mußte sie, die im Wirtschaftsleben an der Spitze standen und sich durch hervorragende Tatkraft auszeichneten, ganz besonders stören. Sie verkannten nicht, daß die Regierung für die Beförderung des Wohlstandes, des Handels und der Industrie vieles tat und zu tun gewillt war, aber sie sahen doch, daß ihr Gesichtskreis in der Auffassung der Verhältnisse beschränkt war, daß sie sich aus den engen Bahnen, die ihr gut dünkten, nicht herausreißen lassen wollte; ihnen, den mächtig Vorwärtsstrebenden war das T e m p o der Regierung zu langsam, ihr Der 1. Vereinigte Landtag III 1016. 1. Vereinigte Landtag III 1509.

Vgl. auch Hansemann.

Der



101



W a g e m u t zu g e r i n g ; sie sahen, wie die Entwicklung ü b e r die Ideen der Regierung hinweg- und hinausging. H a n s e m a n n charakterisiert das Verhalten der Regierung mit folgenden W o r t e n : „An gutem Willen hat es auch nie gefehlt, aber in den Mitteln und W e g e n reift der Entschluß sehr schwer." Überall suchte die Regierung diese stürmisch vorschreitende Entwicklung zu zügeln, zu beaufsichtigen; überall wollte sie eingreifen und Vorschriften m a c h e n ; überall bildeten ihre Kommissare das retardierende Moment. Den Rheinländern war dieses Verhalten der Regierung lästig; sie hielten es f ü r völlig unangebracht, ebenso wie sie es als eine kränkende Nichtachtung ansahen, wenn die Regierung bei wichtigen U n t e r n e h m u n g e n die Interessenten nicht befragte oder, o h n e ihre Meinung zu hören, Verträge abschloß. Welch verletzenden H o c h m u t die Regierung den Industriellen g e g e n ü b e r manchmal an den T a g legte, läßt sich aus der Weisung ersehen, die der preußische Finanzminister infolge einer Schrift Beckeraths über den Schiffahrtsverkehr des Zollvereins mit den außereuropäischen Ländern an die rheinischen Industriellen ergehen ließ. Es heißt darin, „sie sollten sich in Z u k u n f t mit derartigen Vorschlägen, als über ihre politischen Kenntnisse hinausgehend, nicht weiter befassen und mit Vertrauen den Maßnahmen der betreffenden höchsten Behörden als allein dazu befähigt e n t g e g e n s e h e n ; sie ihrerseits sollten n u r Sorge d a f ü r tragen, durch größere V e r v o l l k o m m n u n g ihrer Fabrikate die Konkurrenz mit der ausländischen Industrie ertragen zu k ö n n e n . " 2 ) A u s dieser Ä u ß e r u n g spricht die ganze Selbstherrlichkeit einer Bureaukratie, die sich f ü r alleinwissend und auserwählt hielt. Die Rheinländer waren sich vollkommen bewußt, daß diese Leute auf den K a u f m a n n mit scheelen Augen herabsahen, u n d daß sie sein Eindringen in ihre Kreise verhindern wollten. In einem Briefe von 1846 spricht H a n s e m a n n „von der A b n e i g u n g der höheren Beamtenwelt gegen solche Vorschläge, die nicht von zunft-

1

) D i e politischen Tagesfragen, S. 108. ) Kopstadt, S. 20. Vgl. den ähnlichen Bescheid, den die Königsberger Kaufleute auf ihre Bitte, den Handelsvertrag mit Rußland nicht zu erneuern, erhielten. Treitschke, V 170. 2



102



mäßigen Beamten, sondern von Kaufleuten ausgehen." Es ist bekannt, wie schwer Rönne, der Präsident des Handelsamts, mit solchen Abneigungen zu kämpfen hatte. Als er im Jahre 1844 zu einem Gutachten über eventuelle Änderungen in den Zoll- und Schiffahrtsabgaben aufgefordert wurde, erhielt er die Weisung, daß von einer Befragung Gewerbetreibender abgesehen werden solle, um die damit verbundene Aufregung zu vermeiden. 2 ) In diesem Verhalten der Bureaukratie sahen die Rheinländer um so mehr einen schweren Schaden, als sie erkennen mußten, wie fern die Beamten den wirtschaftlichen Fragen standen. Hansemann beklagt es, „daß sie so gar kein Fundament weder zur Beurteilung noch zur Führung der neueren volkswirtschaftlichen Interessen, daß sie so gar keine Kenntnis von der Sache hätten." 3 ) Wie berechtigt diese Klagen waren, geht aus einer Anordnung des Königs vom 7. März 1846 hervor, in der es unter anderem heißt: „Längere Beobachtungen hatten Mich wahrnehmen lassen, daß in den obersten Behörden, ungeachtet ihrer seltenen Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit, welche Ich vollkommen anerkenne, die Kenntnisse und Erfahrungen des Handels- und Gewerbestandes nicht so, wie es gewünscht werden müßte, vertreten w a r e n . " l ) S o kam es, daß sich die rheinischen Industriellen zum Kampfe gegen eine Macht gedrängt sahen, die ihnen überall im W e g e stand und die ihnen bei ihren Unternehmungen derartige Schwierigkeiten bereitete, daß sie, wie sie wiederholt äußern, sehr oft nahe daran waren, Mut und Geduld zu verlieren. Sie wünschten dringend die Beteiligung sachverständiger Persönlichkeiten bei der Leitung des Wirtschaftslebens und eine ebenso energische vollwertige Vertretung und Pflege der wirtschaftlichen Interessen, wie sie die anderen Gebiete des Staatslebens genossen. *) Schreiben a. d. Oberst von Willisen vom 27. März 1846.

Bergen-

grün, S. 306. 2

) A. Zimmermann,

Geschichte

der preußisch-deutschen

Handels-

politik, S. 194. 3

) Schreiben

Hansemanns an J. Mendelssohn

Bergengrün, S. 3 0 5 . 4

) A. Zimmermann aaO., S. 208.

vom

17. März 1846.



103



In der Organisation der zur Leitung der wirtschaftlichen Angelegenheiten bestimmten Behörden sahen sie die größten Mängel. Handel und Industrie hatten seit 1838 keine spezielle ausreichende V e r t r e t u n g ; von 1817 bis 25 und von 1835 bis 38 hatte ein Handelsministerium b e s t a n d e n ; seit dieser Zeit waren die Handels- u n d Oewerbeangelegenheiten dem Ministerium des Innern und dem Finanzministerium zugeteilt w o r d e n . Aus dieser Situation ergaben sich Zustände, die von den Rheinländern sehr beklagt w u r d e n und f ü r deren Abä n d e r u n g sie auf mehreren Landtagen plädierten. Die Errichtung eines Handelsamts 1844 war nur eine halbe Maßregel, die nicht von richtigem Erfolg begleitet sein konnte. Auf dem 8. rheinischen L a n d t a g w u r d e die Meinung laut, daß „in allen Handelsstaaten der Handel u n d die Industrie kräftiger und wirksamer vertreten seien, als es in der höheren Staatsverwaltung P r e u ß e n s der Fall sei", 1 ) u n d v. d. H e y d t beantragte, dem Handelsamt freiere B e w e g u n g u n d ein selbständigeres Wirken einzuräumen, damit es m e h r von Nutzen sein könne. 2 ) In einem Gutachten u n d einer Rede im Vereinigten Landtag von 1847 setzt Mevissen die Gesichtspunkte auseinander, die ihn u n d wohl auch seine Parteigenossen in dieser Frage beherrschten. Er f ü h r t aus, wie durch die U n t e r o r d n u n g unter das Finanzministerium die Handels- u n d G e w e r b e a n g e legenheiten litten, wie dieses so wichtige und ausgedehnte Gebiet die selbständige Vertretung 'und die volle Tatkraft eines Mannes erfordere, wie die Interessen des Finanzministers mit den Handels- und Gewerbeinteressen in Konflikt kämen, wie er oft von Gesichtspunkten ausgehe, die f ü r Handel u n d G e w e r b e nicht zuträglich seien. 3 ) Dieses Vorherrschen des fiskalischen Interesses, das sich infolge der U n t e r o r d n u n g unter das Finanzministerium ergab, verstärkte in den Rheinländern den W u n s c h nach einem Handels- u n d Gewerbeministerium, einer Einrichtung, gegen die sich die Bureaukratie heftig sträubte, da ihr schon das Handelsamt und kaufmännische Sachverständige

') Der 8. Rheinische Landtag. Aus dem Antrag Baums. -) Aus dem Antrag v. der Heydts, S. 267. 3 ) Der 1. Vereinigte Landtag III 1014—1016.

S. 268.



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zuwider waren. 1 ) D a ß ein solches Ministerium nicht v o r h a n d e n war, daß die F i n a n z v e r w a l t u n g zersplittert war und kein Ausgleich zwischen den einzelnen Interessen stattfand, das sah Mevissen als ein H a u p t ü b e l an. „ E s liegt," wie er im V e r einigten L a n d t a g sagt, „bei u n s in dem Mangel an Einheit, in dem M a n g e l der k o n s e q u e n t e n D u r c h f ü h r u n g eines g r o ß e n Prinzips." 2 ) E r vermißte das politische und industrielle System, eines Premierministers. D a s wirtschaftliche System, das die leitenden B e h ö r d e n verfolgten, hielten Mevissen und seine F r e u n d e für verfehlt. Mevissen kennzeichnet es in einem Briefe von 1845 als f a l s c h er klagt, „daß sich eine graue Indifferenz der G e m ü t e r bemächtigt h a b e und den U n t e r n e h m u n g s g e i s t der Nation wie der einzelnen l ä h m e " . 3 ) Ihn und die Mehrzahl der rheinischen Liberalen trennte von der Regierung, von der B u r e a u k r a t i e eine in den wirtschaftlichen G r u n d f r a g e n g a n z verschiedene Auffassung, wie im Laufe der U n t e r s u c h u n g in den einzelnen Punkten bewiesen werden wird. In der Hauptsache b e r u h t e dieser G e g e n s a t z auf f o l g e n d e r Basis. Die Rheinländer gingen von der Industrie als einem sehr wesentlichen Element des. Staates a u s ; sie maßen ihr eine g a n z außerordentliche B e d e u t u n g bei, wie es aus f o l g e n d e n W o r t e n Mevissens hervorg e h t : „ E r s t mit der E n t w i c k l u n g der Industrie steigert sich der K o n s u m , bilden sich volkreiche Städte, tritt die K u n s t bildend und v e r s c h ö n e r n d in das Leben, emanzipiert der Mensch sich und seine Bedürfnisse von der S c h o l l e . " Mit d e r E n t w i c k l u n g der Industrie sieht er „das Bedürfnis freierer B e w e g u n g , lebendigere T e i l n a h m e am staatlichen L e b e n " hervortreten, sieht er B i l d u n g und Intelligenz sich in weitem Maße verbreiten.*) D i e R e g i e r u n g dagegen g i n g m e h r von den agrarischen Interessen aus, wie sie im Osten v o r h e r r s c h Hansemann stellt eine Reihe von Fällen zusammen, in denen ein Ministerium erreichten. 2

wahrscheinlich

bessere Resultate erzielt

hätte als die bisher

S. Der 1. Vereinigte Landtag III 1 0 2 3 / 2 4 .

) Rede

über

die Frage der Errichtung eines Handelsministeriums

auf dem Vereinigten Landtag von 1847. Hansen II. 2 9 2 . 3 ) Mevissen an Q. Mallinckrodt. Hansen I, 3 8 8 . 4

) Aus Mevissens Abhandlung,

Hansen II, 141 u. 139.

„Scftutzzoll und Freihandel", 1845 i



105



ten ; sie schätzte zwar die Industrie, betrachtete sie aber d o c h n o c h als etwas F r e m d e s und sah ihre E n t w i c k l u n g m e h r mit unheimlichem Staunen als mit der richtigen Erkenntnis ihrer B e d e u t u n g an. Die R h e i n l ä n d e r beurteilten nun natürlich vollk o m m e n von ihrem S t a n d p u n k t aus und aus ihrem Gesichtskreis heraus die wirtschaftlichen M a ß n a h m e n der Regierung, in erster Linie ihre Zoll- und Handelspolitik. In dem Zollgesetz von 1818 und dem darauf basierenden Zollverein von 1834 sahen die Rheinländer aller Parteien eine g a n z hervorragende Leistung, der sie ihre A n e r k e n n u n g in vollem Maß zuteil werden ließen. Sie wußten die u n g e h e u ren Vorteile zu schätzen, die die A u f h e b u n g der B i n n e n z ö l l e gewährte, indem sie den von ihnen ,so s e h r gewünschten freien V e r k e h r f ö r d e r t e ; in der E n t w i c k l u n g der Industrie, in dem Steigen des W o h l s t a n d e s traten ihnen die günstigen Resultate des großen W e r k e s täglich vor A u g e n . V e n e d e y bezeichnet es als ein Glück, daß durch den Zollverein Deutschland f ä h i g wurde, g e g e n den überlegenen Handel E n g l a n d s in K o n k u r renz zu treten und sich der W e l t h e r r s c h a f t E n g l a n d s zu. w i d e r s e t z e n ; d a m i t hebt er eine segensreiche F o l g e des Zollvereins hervor, die sicher von allen rheinischen Politikern geschätzt wurde. Mevissen würdigt die G r ü n d u n g des Zollvereins in einer E r ö r t e r u n g von 1 8 4 0 in f o l g e n d e n W o r t e n : „ P r e u ß e n g e b ü h r t das g r o ß e Verdienst, das tiefste B e d ü r f n i s deutscher L a n d e zuerst gewürdigt und erkannt zu haben. D e r Zollverein schützte die deutsche Industrie gegen das Ausland und g a b ihr Mittel, in dem befreiten Inland ruhig und ungestört zu gedeihen und zu erstarken. Erst ein J a h r zehnt ist seit der S c h a f f u n g des Zollvereins verflossen, und schon heute sind seine W i r k u n g e n u n b e r e c h e n b a r . D i e Industrie ist zur selbständigen M a c h t inmitten des deutschen L e b e n s erstarkt, und nicht eine v e r g ä n g l i c h e Handelsindustrie, sondern eine weit bleibendere, dem Inlande zugekehrte Industrie." 2 ) V o r allem erschien den rheinischen Politikern, die von dem nationalen G e d a n k e n in so starkem Maße bewegt waren, eine Seite des Zollvereins von unvergleichlicher W i c h t i g keit, nämlich die einigende Kraft, die er bewies. W e n n V e n e Der Rhein 1841, S. 7 2 . 2

) Hansen II, 84.



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dey ihn ein Mittel nennt, „das notwendig die Idee einer deutschen Einheit verbreiten helfen mußte,"*) wenn Camphausen ihn als „einen der mächtigsten Hebel zur Einigung, zur nationalen Kräftigung des Volkes" 2 ) bezeichnet, so sprechen sie beide damit die Ansichten und W ü n s c h e aller ihrer rheinischen Parteigenossen aus, welche hofften, daß sich der Zollverein allmählich über ganz Deutschland ausdehnen würde. Schon 1820 äußerte sich Hansemann dahin, daß die Maßregel einer allgemeinen deutschen Mauth wesentlich dazu beitragen würde, die Stämme weniger zu entfremden und in dieser Beziehung eine höhere Tendenz habe. Bezeichnend für die damalige Zeitströmung fügt er hinzu, er wolle aber diese Tendenz nicht drucken lassen, „denn so etwas riecht nach Deutschtum, und das ist bedenklich hoch v e r p ö n t . . . . " 8 ) Hansemann war ja überhaupt derjenige, der an den Zollverein alle Ideen und Pläne für eine Einigung Deutschlands knüpfte, der ihn direkt als Basis dazu benützen wollte. In Anbetracht dieser großen Vorzüge des Zollvereins traten etwaige Schattenseiten zurück, und es vereinigten sich in seiner Anerkennung merkwürdigerweise zwei Parteien von ganz entgegengesetzten Prinzipien in den wirtschaftlichen Grundfragen, nämlich Freihändler und Schutzzöllner. Zu den Freihändlern rechneten sich die Radikalen und von hervorragenden Liberalen Camphausen, der Präsident der Kölner Handelskammer, welche im Interesse der in Köln vorherrschenden Handelsund Verkehrstätigkeit seit Jahren einen freihändlerischen Standpunkt einnahm. Camphausen sowie der ebenfalls freihändlerisch gesinnte Brüggemann befürchteten von den Schutzzöllen eine Beeinträchtigung des Handels, und beide glaubten für die Beförderung des Gewerbfleißes bessere Mittel als Schutzzölle zu kennen. Die weitaus größte Zahl der Liberalen dagegen gehörte zur schutzzöllnerischen Partei; „bei der gedankenlosen Menge galt für Schutzzölle sein und liberal gesinnt sein fast für g l e i c h b e d e u t e n d . " I m Grunde genomPreußen u. Preußentum, S. 218. ) Denkschr. über die Beförderung der Schiffahrt im Zollverein, 1846 Caspary, S. 107. 3 ) Hansemann an Schwenger, 1820; Bergengrün, S. 43. ') Brüggemann, Der deutsche Zollverein, S. 133. 2



107



men hielten zwar die Liberalen ebenso wie die Radikalen Handelsfreiheit f ü r die beste und wahrste G r u n d l a g e des Wirtschaftslebens entsprechend ihrer Gesamtanschauung, f ü r welche freie Betätigung auf allen Gebieten das wesentliche Bedürfnis war. Trotz dieser theoretischen Übereinstimmung trennten sie sich jedoch, sobald die praktische Wirklichkeit in Frage kam, ganz von einander. Die Radikalen hielten fest an der Theorie und wünschten, ihr unbedingte G e l t u n g in der Wirklichkeit zu verschaffen. W e n n sich auch Venedey zu der Einsicht bekennt, daß die Ausführbarkeit der Theorie ihre Grenzen habe, daß Schutzgesetze in manchen Fällen nötig seien, so hat er doch immer n u r ganz mäßige Schutzzölle im Auge, und er und seine weiter links stehenden Genossen noch viel mehr waren sicher der Ansicht, daß ihr Prinzip in Kürze sich realisieren und den Sieg davon tragen müsse. Den Liberalen dagegen erschien die Handelsfreiheit mehr wie ein ziemlich unerreichbares Ideal aus G r ü n d e n , die H a n s e m a n n als Industrieller 1843 in folgender Weise kundg i b t : „Ein mächtiger Staat kann die Handelsfreiheit nur als Ideal lieben, aber nicht vollständig besitzen, weil ihr normaler Zustand d u r c h die feindseligen Zölle anderer großer Staaten gestört i s t . " B e i d e , sowohl Radikale als Liberale, konnten das Zollgesetz von 1818 anerkennen, weil es weder die Prinzipien der einen noch der anderen scharf verletzte. Im Laufe der Zeit trat aber eine Entwicklung ein, die es sowohl bei den Freihändlern als bei den Schutzzöllnern in ein anderes Licht setzte. In der langen Friedensperiode war die Bevölkerung stark gewachsen, in einzelnen Landesteilen, wie z. B. in der Rheinprovinz, war an manchen Stellen schon Übervölkerung eingetreten. Die Industrie hatte sich sehr gehoben, aber doch nicht in dem Maße, wie es die Z u n a h m e der Bevölkerung und die starke Konkurrenz industriell hoch entwickelter Länder, namentlich Englands und Belgiens, erfordert hätte. Bei dieser Lage der Dinge fanden die rheinischen Industriellen liberaler Richtung, daß zwar das Zollgesetz von 1818 in den ersten Zeiten seines Bestehens seine A u f g a b e

„Über die gewerblichen Verhältnisse von Aachen und Burtscheid am Schlüsse des Jahres 1843", (1845); Bergengrün, S. 287.



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sehr gut erfüllt habe, daß es aber jetzt nicht mehr genüge. Sie empfanden es nun als einen schweren Fehler, daß der Zollverein einzelne Industriezweige garnicht geschützt hatte, und es erschien ihnen dringend notwendig, daß einzelne Industrien noch mehr geschützt würden, als es bisher geschehen war. S o verlangten sie, in den meisten Fällen mit den Süddeutschen zusammengehend, eine Zollerhöhung für Leinen und Baumwolle. Sie wollten eine Ausdehnung des Schutzsystems, um eine nationale kräftige Industrie zu schaffen und Unabhängigkeit vom Ausland zu erreichen. Daß ihnen die Regierung in diesem Bestreben so wenig entgegenkam, ja oft in direkten Gegensatz zu ihnen trat, das betrachteten sie als ein schweres Manko der preußischen Wirtschaftspolitik. Jetzt erst trat in den wirtschaftlichen Grundfragen der Gegensatz zur Regierung, der so lange nur verhüllt gewesen war, weil die Regierung nicht einheitlich, konsequent und geschlossen mit ihren Prinzipien hervorgetreten war, offen zu Tage. Zu welchen für die Regierung gewiß überraschenden Schlüssen die bisherige Unklarheit der Situation Veranlassung gab, beweist Mevissens Meinung, daß die rheinischen Forderungen „nur die Entwicklung eines bestehenden Systems auf Grund erreichter R e s u l t a t e " s e i e n ; in Anbetracht der tatsächlichen Verhältnisse konnte er ganz vergessen, daß ja die Regierung ein gemäßigtes Freihandelsystem geschaffen zu haben glaubte. 2 ) Der rheinische Landtag von 1845 war sich dessen wohl bewußt; darum verlangte er auch ausdrücklich die Annahme eines neuen Systems. 3 ) Solchen immer lauter werdenden Stimmen gegenüber erklärte die Regierung in einer Zirkularnote von 1846 an die Zollvereinsstaaten, daß die Bestrebungen der Süddeutschen, denen sich die Rheinländer größtenteils anschlössen, auf Einrichtung eines nationalen Handelschutzsystems abgesehen zu sein schienen und daß man sich damit von den Grundlagen des alten Systems entferne. Sie aber halte an demselben fest,

l

) Mevissen, „Schutzzoll und Freihandel", Hansen II, 156. ) Vgl. W . E. Lindner, Das Zollgesetz von 1818. Westdeutsche

a

Zeitschr. 1911, Heft 2 / 3 . 3

) Der 8. rheinische Landtag, S. 273.



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indem sie den Freihandel als die Basis u n d einzelne Industriezölle nur als n o t g e d r u n g e n e Konzessionen ansehe. Zwar machten sich auch im Schöße der Regierung einzelne schutzzöllnerische Ansichten geltend, aber im allgemeinen blieb die Bureaukratie überwiegend freihändlerisch gesinnt. Von ihrem Standpunkt aus mußte den rheinischen Liberalen das Verhalten der Bureaukratie und der Regierung als verkehrt erscheinen. Sie hielten Schutzzölle f ü r eine nötige Repressalie gegen das Ausland, und ein System, das den Ausschluß oder die hohe Verzollung seiner eigenen Produkte im Auslande duldete, aber seinen Markt der ausländischen Industrie fast unbeschränkt öffnete, machte ihnen den Eindruck der Schwäche u n d Kraftlosigkeit. Sie erkannten an, daß die Regierung f ü r die F ö r d e r u n g der Industrie zu wirken suchte, aber die Mittel, die sie dazu anwenden wollte, wie z. B. das Prämiensystem, hielten sie f ü r falsch. Die Bedenken, die die Regierung und mit ihr die Freihändler gegen die E i n f ü h r u n g von Schutzzöllen hegten, wiesen sie als ungerechtfertigt zurück. W e n n die Regierung meinte, daß durch h o h e Schutzzölle eine Treibhausindustrie erzeugt werden würde, so erklärt Mevissen, daß dazu alle V o r b e d i n g u n g e n fehlten, und gegenüber der Ansicht, daß die verstärkte Industrie das Anwachsen des Proletariats zur1 Folge haben würde, kann er zwar ein Zugeständnis nicht zurückhalten, spricht aber die H o f f n u n g aus, daß dieses Übel ein Heilmittel finden werde und daß man aus falscher Sentimentalität die Entwicklung der deutschen Industrie nicht h e m m e n dürfe. 2 ) In der Uberzeugung, daß der Industrieschutz unzureichend geworden sei, lag f ü r die rheinischen Liberalen ein triftiger G r u n d , die Zollpolitik der Regierung ungünstiger anzusehen als früher. Aber nicht nur die Liberalen, auch die Radikalen waren unzufrieden, j e d e r Schritt, den die Regierung den schutzzöllnerischen Liberalen entgegenkam, bedeutete f ü r die Freihändler eine Verletzung ihres Prinzips; jede geringe Zolle r h ö h u n g , die sie gewährte, machte es ihnen unmöglich, die 1

) A. Zimmermann, Geschichte der preußisch-deutschen Handelspolitik, S. 500 ff. 2 ) „Schutzzoll und Freihandel", Hansen II, 147 u. 152.



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Zollpolitik der R e g i e r u n g a n z u e r k e n n e n , ihre Taktik g u t zu heißen. D a ß anstelle einer V e r m i n d e r u n g d e r ersten Schutzzölle i m m e r n e u e E r h ö h u n g e n , i m m e r n e u e Bewilligungen erfolgt waren, schien ihnen ein Zeichen von Mattigkeit d e r R e g i e r u n g u n d ein trauriger Beleg d a f ü r zu sein, daß m a n sich von den alten Zollvereinsgrundlagen e n t f e r n t habe. S o wie V e n e d e y es in seiner Schrift „ P r e u ß e n u n d P r e u ß e n t u m " tut, so v e r d a m m t e n die F r e i h ä n d l e r alle die R ü c k s i c h t n a h m e der R e g i e r u n g auf die Fabrikanten u n d reichen G r u n d b e s i t z e r bei der Z o l l f e s t s e t z u n g ; so wie er f ü h r t e n sie i m m e r wieder d a s A r g u m e n t an, daß die Fabrikanten u n d Gutsbesitzer d u r c h die Zölle bevorteilt w ü r d e n u n d daß die K o n s u m e n t e n die W a r e n u m so teurer zahlen müßten. 1 ) — B e m e r k e n s w e r t ist die H a l t u n g der Klerikalen in dieser F r a g e ; sie schlössen sich w o h l im allgemeinen den Schutzzöllnern an, trennten sich a b e r im F r a n k f u r t e r P a r l a m e n t von Mevissen u n d seinen A n h ä n g e r n insofern, als sie die freihändlerischen T e n d e n z e n P r e u ß e n s ausbeuteten, u m in der O b e r h a u p t s f r a g e a u c h von diesem G e s i c h t s p u n k t aus g e g e n P r e u ß e n zu o p p o n i e r e n . Mit d e r Ü b e r n a h m e der F ü h r u n g D e u t s c h l a n d s d u r c h P r e u ß e n b e f ü r c h t e t e n sie den Sieg d e s von ihnen b e k ä m p f t e n Freihandelssystems, wie aus J. W . J. B r a u n s Schrift „ D e u t s c h l a n d u n d die d e u t s c h e N a t i o n a l v e r s a m m l u n g " hervorgeht. 2 ) Den rheinischen Liberalen hatte sich a b e r mit der Zeit n o c h ein a n d e r e r Nachteil des Zollvereins i m m e r m e h r b e m e r k b a r gemacht, nämlich d a s Fehlen von H a n d e l s s c h u t z z ö l l e n . D a ß nichts geschah, u m diesen Mangel auszugleichen, bedauerten sie außerordentlich. Mevissen erklärt einen Handelsschutzzoll als Schiffahrtsdifferenzialzoll und als P r ä m i e o d e r Steuerrabatt bei direktem I m p o r t in die H ä f e n des Zollvereins f ü r die B o d e n p r o d u k t e A m e r i k a s als d a s d r i n g e n d s t e B e d ü r f n i s des A u g e n b l i c k s . 3 ) Die Liberalen h o f f t e n , d u r c h Differenzialzölle die Beseitigung d e r ausländischen Vermittelung, direkte Importation auf eigenen Schiffen u n d d a d u r c h V e r b i l l i g u n g des R o h s t o f f e s f ü r die M S. 156.

2

) S. 118/19.

3

) »Schutzzoll und Freihandel" Hansen II, 164.



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Fabrikanten zu erlangen. Ferner glaubten sie, daß eine H e b u n g der Schiffahrt im allgemeinen und der Reederei und des H a n dels in den Ostseeprovinzen im besonderen die Folge sein werde, daß die Nordseestaaten, indem sie vom Zwischenhandel ausgeschlossen würden, zum Anschluß an den Zollverein veranlaßt werden w ü r d e n . Nicht ganz mit Recht schoben die meisten rheinischen Politiker der Regierung die Schuld an dem bisherigen Mißlingen der V e r h a n d l u n g e n mit den Nordseestaaten über den Anschluß an den Zollverein zu. Hansemann meint, nur dadurch, daß die Beamten nicht verständen, die kleinere Rücksicht der größeren und höheren unterzuordnen, daß man das O p f e r von ein paarmal hunderttausend Talern höher rechnete als die A u s d e h n u n g des Zollvereins bis an die Nordsee und als die G e w i n n u n g der M ü n d u n g e n von drei schiffbaren Strömen, sei das Scheitern der Vereinbarungen zu erklären. 1 ) Auch Mevissen war der Ansicht, daß man den Anschluß durch fiskalische Rücksichten erschwert habe, während beide nicht berücksichtigten, wie ablehnend und selbstsüchtig sich die Nordseestaaten verhielten. Lebhaft u n d klar tritt in dem W u n s c h der rheinischen Politiker nach Ausgestaltung der deutschen Schiffahrt wieder ihr G r u n d gedanke zu Tage, durch alle Mittel die deutsche Einheit zu f ö r d e r n . In einer von H a n s e m a n n inspirierten Besprechung der Camphausenschen Denkschrift über die B e f ö r d e r u n g der Schiffahrt im Zollverein wird die H o f f n u n g ausgesprochen, „daß man erkennen möge, wie es sich hier nicht n u r um materielle Interessen, sondern um die Einheit Deutschlands, um die H e b u n g der nationalen G r ö ß e handle, die u n s so sehr n o t tut." 2) Auch f ü r den Handel f a n d e n sie eine in stärkerem Maße schützende u n d f ö r d e r n d e Tätigkeit der Regierung nötig, weil die alten Bedingungen nicht m e h r genügten, um den Anteil am Welthandel zu erobern, den Preußen ihrer Meinung nach beanspruchen konnte u n d mußte. Die Regierung verabsäumte es aber, zu den von den rheinischen Liberalen e m p fohlenen Mitteln zu greifen; der Zwiespalt zwischen freihändlerischen u n d schutzzöllnerischen Ansichten innerhalb der Re1 2

) Brief Hansemanns an Rönne, 1845. A. Zimmermann, aaO. S. 449. ) Caspary, S. 109.



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gierung endete damit, daß die Freihändler die Oberhand behielten, und das System des Handelsschutzzolles wurde zurückgewiesen, „weil es der idealen Theorie nicht entsprach". 1 ) Eben weil es die Regierung unterließ, die nach ihrer Meinung nötigen Maßregeln zu ergreifen, weil sie weder ausreichende Industrieschutzzölle noch Handelsschutzzölle einführte, genossen die heimischen Interessen nicht die richtige Vertretung gegenüber dem Ausland. So konnten die rheinischen Politiker mit Bedauern wahrnehmen, daß „das Ausland von der Macht und der Handelspolitik Preußens und des Zollvereins eine sehr geringe Meinung hegte". 2 ) Hansemann findet es betrübend, „daß die großen Opfer, welche Deutschland zur Erhaltung eines beträchtlichen Heeres in anhaltender Friedenszeit bringen muß, dem Ausland nicht einmal so viel Respekt einflößen, um gegen die ärgsten Verletzungen wesentlicher Interessen von seiten eines Staates dritten Ranges gesichert zu sein". 3 ) Schüchtern, zögernd und schwankend in ihrem Vorgehen gelangte die Regierung selten zu einem günstigen Resultat; es mußte auf die Rheinländer einen trostlosen Eindruck machen, wenn sie fast überall zu spät kam und sich von anderen Staaten die besten Chancen wegnehmen ließ. Die Schuld daran maßen sie in erster Linie der ausschließlich bureaukratischen Leitung der Industrie- und Handelsangelegenheiten zu, die keine Fühlung mit den beteiligten Kreisen nahm und demzufolge oft Handelsverträge abschloß, die dem Interesse des preußischen Handels direkt zuwiderliefen. Hansemann zählt in seinem Antrag auf dem 8. rheinischen Provinziallandtag alle Fehler schonungslos auf, die die Bureaukratie in der Handelspolitik begangen hat. Es heißt darin: „Dies Schwanken und die Ungewißheit hinsichtlich des zu befolgenden Handelssystems des Zollvereins; die Schwierigkeit, dasselbe national auszubilden; die begangenen großen Fehler in den Verhandlungen über den Anschluß von Hannover; die mangelhafte Vertretung des Zollvereins im

„Schutzzoll und Freihandel", Hansen II, 164. a

) Hansemann,

Eingabe

der

Aachener

Handelskammer

Bergengrün, S. 296. 3

) Hansemann, Eingabe.

Bergengrün, S. 296.

von 1 8 4 6 .



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Auslande; die nachteiligen Verträge mit Holland vom 21. I. 39, mit England vom 2. III. 41 und mit Rußland vom 2 0 . V . 4 4 ; die Unzulänglichkeit des am 1. I X . 44 mit Belgien abgeschlossenen Vertrages s o w o h l hinsichtlich der Ausd e h n u n g desselben als der erlangten V o r t e i l e ; alles dies und m a n c h e s a n d e r e bekundet, daß das B e a m t e n t u m nicht der g r o ß e n A u f g a b e gewachsen ist, die gewerblichen Interessen von 2 8 Millionen Menschen allein zu leiten und daß es dring e n d notwendig wird, eine T e i l n a h m e des V o l k s an dieser Leitung a n z u o r d n e n . " Z u diesem Z w e c k verlangten die rheinischen Politiker die Zuziehung von ständischen Deputierten bei der periodischen Revision und Feststellung des Zolltarifs. Einen schweren Nachteil sahen sie in dem ungünstigen Verhältnis P r e u ß e n s und Deutschlands zu H o l l a n d ; gerade f ü r die Rheinländer waren j a die B e z i e h u n g e n zu diesem Land von weitgehendstem Interesse. Sie e m p f a n d e n mit B e s c h ä m u n g die schimpfliche Abhängigkeit des preußischen und deutschen H a n d e l s von diesem kleinen Staat. 2 ) A b e r trotz aller ihrer W a r n u n g e n konnten sie die R e g i e r u n g nicht von einem Handelsvertrag mit diesem Lande zurückhalten, gegen das sie alle den lebhaftesten Unwillen hegten. D e r V e r t r a g mit Holland vom J a h r e 1839 g a b zu heftigen V o r w ü r f e n gegen Preußen Anlaß, weil er den Holländern sowohl die Aufrechterhaltung ihrer hohen Flußzölle als die H i n d e r u n g des freien A u s g a n g s der Rheinschiffe in die S e e e r m ö g l i c h t e und überhaupt höchst ungünstige B e d i n g u n g e n enthielt. 3 ) E s blieb also die holländische Vermittlung bei der A u s f u h r bestehen, von der Mevissen sagt, daß sie schlimm sei durch die h ö c h s t bedeutenden baren Opfer, die sie koste und noch schlimmer durch den moralischen Druck, den Holland mit der H e m m u n g des direkten Seehandels dem deutschen U n t e r n e h m u n g s g e i s t e n t g e g e n s t e l l e . 4 ) Dieser V e r t r a g von 1 8 3 9 wurde zwar im

x

) N a c h dem Abdruck in Hansemanns B u c h , „Das preußische und

deutsche Verfassungswerk", S. 69. 2

) Ü b e r Preußen und Holland

in der Zeit von

1815—31

vgl. M .

S c h w a n n , Geschichte der Kölner Handelskammer, I 3 7 2 — 8 9 etc. 3

) Hansen I, 170.

4

) „Flachsausfuhr aus Deutschland nach E n g l a n d " 1 8 3 9 ; Hansen II, 4 8 .

N a t h a n , Preussische Verfassung.

8



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Jahre 1841 nicht mehr erneuert, aber die Beziehungen z u Holland gestalteten sich wenig günstig. Die Regierung n a h m sich der Sache nicht genügend an, und Camphausen klagt darüber, daß er auf alle seine Berichte in dieser Angelegenheit nicht einmal eine Empfangsanzeige b e k o m m e ; er findet, daß „die Liederlichkeit, mit welcher die Verhältnisse zu Holland u n d Belgien behandelt werden, etwas stark sei". 1 ) Dieselbe Klage klingt aus einem Brief Mevissens von 1841, in dem er schreibt: „Hoffentlich macht man diesmal endlich Ernst jenem fatalen Volk gegenüber, ich wünsche es von Herzen." 2) Wie unerquicklich die Verhältnisse noch im Jahre 1844 lagen, geht aus einem Brief H a n s e m a n n s an Rönne hervor, in welchem es heißt, die niederländische Staatsschrift beweise, wie richtig die Meinung sei, „daß Deutschland Hollands melkende Kuh sei und bisher dies Verhältnis mit einer Geduld ertragen habe, die f ü r ein Volk höchst unehrenhaft und schädlich ist". 8 ) Ebenso dringend wie die Emanzipation von Holland erschien den rheinischen Liberalen die Loslösung von E n g l a n d ; auch hier wünschten sie Befreiung von der englischen Vermittlung, durch die die Zollvereinsländer erst sämtliche Rohprodukte, Baumwolle usw. erhielten. Das Verhalten der Regierung gegen England war ihnen zu ängstlich, zu schwächlich; sie meinten, daß bei kräftigerem Auftreten auch d a s mächtige England nicht zu fürchten sei; sie hielten es f ü r unrichtig, daß die Regierung nicht Gleiches mit Gleichem vergalt u n d alle h e m m e n d e n Maßregeln Englands nicht mit ebensolchen Gegenmaßregeln beantwortete, um den Westen vor der schweren Bedrängnis durch die englische Konkurrenz zu schützen. Der Handelsvertrag von 1841 fand geteilte Aufn a h m e ; wir wissen, daß Camphausen und Mevissen ihn ziemlich günstig beurteilten, während v. d. Heydt seine sofortige A u f h e b u n g wünschte. Nicht minder drückend als in der N o r d see lagen die Handelsverhältnisse in der Ostsee; hier erschwerte der dänische Sundzoll den Handel der Ostseestädte 1

) Brief Camphausens von 1841; Caspary, S. 65. ) Brief Mevissens von 1841; Hansen I, 240. 3 ) A. Zimmermann, Geschichte der preußisch-deutschen Handelspolitik, S. 267. 2



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derartig, daß sie sich unausgesetzt mit Bitten um Befreiung von dieser Fessel an die Regierung wandten. In einer Adresse des rheinischen Landtags von 1843 wird dargelegt, wie die H ö h e des Sundzolles f ü r Sirup u n d Zucker dem Verkehr zwischen den westlichen u n d östlichen Provinzen der Monarchie sehr nachteilig sei und wie von den deutschen Schiffen ausnahmsweis hohe Sätze erhoben wurden. Französische Weine zahlten 18 bis 24 Stüber per Oxhoff, deutsche Weine 57 3 / 8 Stüber per Oxhoff. 1 ) Aber auch in dieser Frage ließ es die Regierung nach Ansicht der Rheinländer an der nötigen Festigkeit und Bestimmtheit fehlen. Die Verhandlungen schleppten sich sehr lange hin, ohne den gewünschten Erfolg zu bringen. Ein aktives Eingreifen der Regierung schien ihnen ferner zugunsten der östlichen Provinzen gegenüber Rußland nötig zu sein, da diese Provinzen unter der russischen Grenzsperre stark litten. W a s sie an der Handelspolitik verurteilten, das waren nur Züge des von ihnen ü b e r h a u p t verworfenen absolutistischen Systems, wie es sich in der schon erwähnten ausschließlichen Herrschaft der Bureaukratie und u. a. auch in dem Hervortreten legitimistischer Grundsätze zeigte. Diese letzteren äußerten sich z. B. darin, daß sich innerhalb der Regierung Ström u n g e n gegen eine H a n d e l s v e r b i n d u n g mit dem revolutionären Belgien geltend machten. General Rochow spricht die Befürchtungen eines echten Altpreußen aus, wenn er sagt, „daß eine nähere V e r b i n d u n g mit Belgien die radikalen Tendenzen in der Rheinprovinz befördern und in letzterer den W u n s c h erwecken werde, mit Belgien zusammen ein eigenes Reich zu bilden." 2 ) Die rheinischen Liberalen betrachteten eine H a n d e l s v e r b i n d u n g mit Belgien als außerordentlich g ü n stig, und sie mißbilligten es, wenn die Regierung aus legitimistischen Rücksichten materielle Vorteile aufgab, wie es z. B. auch in bezug auf Spanien geschah. Auf dem Vereinigten Landtag machten die rheinischen Abgeordneten darauf aufmerksam, wie durch den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Spanien die rheinische Industrie starke Ver») Der 7. Rheinische Landtag, S. 526/27. ) A. Zimmermann, Geschichte der preußisch-deutschen Handelspolitik, S. 275. 2





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luste erlitten habe, indem andere Länder inzwischen günstige Handelsverträge abgeschlossen und z. B. die belgischen Manufakturerzeugnisse die rheinischen verdrängt hätten; die früher lebhaften Geschäftsbeziehungen mit Spanien seien auf Null reduziert. 1 ) So wie in der Zoll- und Handelspolitik vermißten die rheinischen Liberalen die richtige, großzügige und fördernde Tätigkeit der Regierung namentlich auch auf dem Gebiete der Transportmittel und des Verkehrs. Sie erkannten an, daß die Regierung durch die Anlage von Kunststraßen, Brücken, durch die Einrichtung von Schnellposten unendlich viel für die Verbesserung des Verkehrs getan hatte. Aber sie fanden auch, daß die Regierung die beginnende Entwicklung des neuen Verkehrsmittels der Eisenbahn nicht in dem Maße unterstützte, wie sie es für nötig erachtet hätten. Es war natürlich, daß ihnen bei ihrer tiefen Einsicht in die Bedingungen des Wirtschaftslebens, bei ihrer tätigen Anteilnahme an demselben die unermeßliche Bedeutung der Eisenbahnen sofort klar war, daß sie sich mit all ihrem Unternehmungsgeist für die Förderung des neuen Verkehrsmittels in die Schanzen warfen. Sie wußten, welche ungeheuren Vorteile für Industrie und Ackerbau aus dem beschleunigten und verbilligten Austausch der Produkte, aus dem erleichterten Austausch des Arbeitermaterials erwachsen würden; sie begrüßten es mit Freude, daß sich hier wieder ein neuer Faktor zeigte, der ihrer Lieblingsidee, der Annäherung und Vereinheitlichung der einzelnen Landesteile dienen mußte, und sie vergaßen auch die militärischen Vorteile nicht. Daß die Regierung diese Vorzüge nicht in vollem Umfang würdigte und ihnen nicht Rechnung trug, erfüllte die Rheinländer mit lebhaftem Bedauern. In seinem Buch „Preußen und Frankreich" setzt Hansemann auseinander, wie es für die Macht des Staates „unendlich ersprießlicher sein würde, wenn an Stelle der übermäßigen Ausgaben für Administration, Justiz, Militär und Staatsschatz" 2) das Geld für Eisenbahnen, Kanäle und Kunststraßen verwendet würde. Die rheinischen Liberalen 2

Der 1. Vereinigte Landtag III 920, 21 u. 22.

) S,- 281.



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sahen mit Bedauern, daß zur Zeit Friedrich Wilhelms III. bei den meisten Mitgliedern der Regierung gar kein Verständnis für die Bedeutung der Eisenbahnen vorhanden war. Der Standpunkt Rothers und Naglers, die aus Sorge für ihre eigenen Schöpfungen, die Kunststraßen und Schnellposten, sich schroff ablehnend verhielten und alle möglichen Zweifel und Besorgnisse hegten, fand vor ihren Augen keine Gnade. Zu allererst beklagten sie es, daß die Regierung sich nicht zum Staatsbau entschließen konnte, den sie in Anbetracht der mannigfachen Mängel der Privatunternehmungen für das einzig Richtige hielten; bei ihrer ganzen Anschauungsweise ist es leicht erklärlich, daß sie die Gründe der Regierung, nämlich den Widerwillen gegen die Berufung der Reichsstände zur Garantie der erforderlichen Anleihen, nicht billigten. Wenn sie sich nun auch zeitweilig in den Verzicht auf diesen ihren Hauptwunsch ergaben, so konnten sie doch mit ihrer Kritik der Mittel, die die Regierung zur Förderung der Eisenbahnangelegenheiten ergriff und der Stellung, die sie den Privatunternehmungen gegenüber in Anspruch nahm, nicht zurückhalten. Sie fanden, daß die Regierung sich zu ausgedehnte Kompetenzen iiehme und den G e sellschaften zu wenig Bewegungsfreiheit und Rücksichten angedeihen lasse. Camphausen äußert sich im Jahre 1833 einmal folgendermaßen: „ E s läuft ein großer Irrtum durch alles, was in Eisenbahnsachen bei uns geschieht; !man glaubt, daß es nur darauf ankommt, den zu bildenden Gesellschaften Verpflichtungen aufzulegen und vergißt, daß einer Verpflichtung eine Berechtigung zur Seite stehen soll. Negationen werden auf Negationen gehäuft und nicht einmal eine positive Forderung läßt sich ableiten. . . . " A l s die Regierung im Jahre 1837 die Konzession für die Eisenbahn Köln-Antwerpen erteilte, behielt sie sich einen sehr wesentlichen Einfluß vor und fügte eine von der Gesellschaft äußerst lästig empfundene Klausel bei, wonach die Rheinische Eisenbahngesellschaft „allen Bestimmungen und Bedingungen, welche in betreff des Verhältnisses zum Staat und zum Publikum für die Eisenbahunternehmungen im allgemeinen und für das in Rede stehende U n Caspary, S. 40.



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ternehmen insebsondere ergehen werden, ebenso nachzukommen verbunden bleibt, als wenn solche in der gegenwärtigen Urkunde enthalten w ä r e n . " A l s Dokument eines solchen, die Staatshoheit stark betonenden Geistes fand das Eisenbahngesetz von 1838 bei den Interessenten im Rheinland wenig Beifall. Man bemängelte namentlich die Festsetzung eines Gewinnmaximums, nach dessen Überschreitung dem Staat einseitig das Recht zu beliebiger Herabsetzung der Transportpreise zustehen sollte. Bei aller Hoffnung, die Hansemann auf eine wohlwollende Auslegung des Gesetzes durch die Regierung hegt, hätte er doch lieber ein festgesetztes Recht als eine Abhängigkeit von der Billigkeit der Regierung gesehen, und er nennt „den bestehenden Zustand rechtlos, weil die gesetzlichen Bestimmungen so geschaffen sind, daß der Ertrag der Unternehmung von dem Maß der Billigkeit der Behörden abhängig gemacht wird." 2 ) So wie er hier die Berechtigungen der Regierung zu weitgehend fand, so mißbilligten er und seine Genossen auch die Bevormundung, die die Regierung durch Einsetzung von staatlichen Eisenbahnkommissaren bei den Gesellschaften ausüben wollte, die Eingriffe, die sie sich manchmal in die Verwaltung gestattete. Wurden in dieser Weise die Rechte der Unternehmer beschränkt, so waren auf der anderen Seite die Verpflichtungen und die Verantwortlichkeit für die Bahnverwaltungen so groß, daß man sie für unbillig erachtete. Solche übermäßigen Lasten sah man in der fast unbeschränkten Entschädigungsund Haftpflicht und in den durch das Gesetz geregelten, von der Post geforderten Leistungen, welche sich auf Beförderung von Gütern, Briefen usw. ohne Entgelt und auf Entschädig u n g für ihre Verluste erstreckten. Lebhaft trat besonders auch Hansemann gegen die Bestimmung auf, daß nach einer Frist von 3 Jahren die Konkurrenz anderer Unternehmer auf den Schienen einer Gesellschaft zugelassen sein sollte. So berechtigt und nützlich auch manche Maßregeln der ReKumpmann, »Die Entstehung der Rheinischen Eisenbahngesellschaft,« S. 164. 2 ) Kritik des preuß. Eisen bah ngesetzes vom 3. Nov. 1838, 1841; Bergengrün, S. 207.



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gierung waren, so läßt es sich doch leicht verstehen, daß Männer wie Hansemann und Mevissen, die in so hohem Maße schöpferisch bei den E i s e n b a h n u n t e r n e h m u n g e n gewirkt und so viel kraftvolle Tätigkeit bei Privaten gesehen hatten, den Gesellschaften ein großes Q u a n t u m von Unabhängigkeit bewahren wollten, wenn sie auch das auf Z u r ü c k d r ä n g e n der Lokal- und Privatinteressen gerichtete Streben der Regierung f ü r gut und richtig ansahen. Welche G e s i n n u n g im allgemeinen in der Staatsverwaltung g e g e n ü b e r den Eisenbahnuntern e h m u n g e n herrschte, geht am besten aus folgender Äußer u n g H a n s e m a n n s h e r v o r : „Man darf sich nicht wundern, wenn untergeordnete Staats-, Kreis- und K o m m u n a l b e h ö r d e n mitunter die Ansicht der Staatsregierung zu befolgen glaubten, wenn sie die Eisenbahnunternehmungen nicht sonderlich liebten und unterstützten und zu deren Nachteil andere kleine Interessen höher stellten." Unter solchen erschwerenden Umständen war man um 1840 mit dem Bahnbau in Preußen noch sehr im Rückstand. Größere Unterstützungen von Seiten des Staates gab es nicht, eine Erfahrung, die ja die Rheinische Eisenbahngesellschaft machen mußte, als ihre Bitten um staatliche Beihilfe in ihren Geldkalamitäten von der Regierung abgewiesen wurden und n u r die Bereitwilligkeit der belgischen Regierung den Weiterbau ermöglichte. Mit der T h r o n b e s t e i g u n g Friedrich Wilhelms IV., der schon als Kronprinz f ü r die F ö r d e r u n g des Eisenbahnbaus eingetreten war, begann eine Zeit lebhafteren Interesses und größeren Entg e g e n k o m m e n s f ü r Eisenbahnangelegenheiten bei der Staatsregierung. Allerdings konnte die Teilnahme der Regierung noch immer nicht der Kühnheit, der Beweglichkeit und dem S c h w ü n g e der rheinischen Pläne g e n ü g e n ; eigene Initiative oder wirklich kraftvolles, energisches Eingehen auf die Absichten der U n t e r n e h m e r fehlte. Die Regierung ging auch jetzt noch sehr langsam vor u n d stellte den Gesellschaften gegenüber so gewaltige Forderungen, daß H a n s e m a n n bei den Verhandlungen über die Konzession f ü r die Köln-Mindener Eisenbahn die größten Schwierigkeiten hatte. 2 ) Sehr bald beKritik, aaO., Bergengrün. S. 208. ) Vgl. Kumpmann, „Die Entstehung gesellschaft", S 294 ff. 2

der Rheinischen Eisenbahn-



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gannen auch die K ä m p f e mit den Z o l l b e h ö r d e n ; ihr Verhalten wurde als lästig u n d schikanös e m p f u n d e n , und es fanden endlose Reibereien statt, an denen aber die Gesellschaften ebenfalls Schuld trugen. Wenn die Regierung jetzt mehr als f r ü h e r zur Unterstützung des Eisenbahnbaues geneigt war, so fand jedoch das Hilfsmittel, das sie den Eisenbahnunternehmungen gewährte, die unbedingte Zinsgarantie, nicht den Beifall aller. H a n s e m a n n meinte, daß die Regierung dadurch zum Teil den Aktienschwindel verursacht habe, der später überhand nahm, den sie aber nach seiner Ansicht wieder durch ein falsches Mittel, nämlich durch eine unangebrachte Beschränkung, bekämpfte, indem sie 1844 die E r ö f f n u n g von Aktienzeichnungen f ü r E i s e n b a h n u n t e r n e h m u n g e n von der G e n e h m i g u n g des Finanzministers abhängig machte. Durch ihr falsches Verhalten t r u g die Regierung seiner Meinung nach auch zu der schweren Geldkrise bei, die zum großen Teil durch Spekulation in Eisenbahnaktien hervorgerufen w u r d e . A l s die Regierung im Jahre 1847 den von den Rheinländern so sehr gewünschten Schritt tat u n d sich zum Staatsbau entschloß, war es ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß die rheinischen Abgeordneten des Vereinigten Landtags im Hinblick auf h ö h e r e politische Gesichtspunkte ihre Mitwirkung zur A u s f ü h r u n g der Regierungspläne versagen mußten. Auch im Postwesen hielten die rheinischen Liberalen einige Reformen f ü r nötig, obwohl sie anerkannten, daß Preußen hier viel bessere Einrichtungen getroffen hatte als manche anderen deutschen Staaten, in denen noch das Postprivileg einer Familie bestand. Im Interesse von Handel und G e w e r b e und der Zivilisation ü b e r h a u p t wünschten sie die Beschleunigung der B r i e f b e f ö r d e r u n g und die H e r a b s e t z u n g des Briefportos, die auch 1844 erfolgte. Hier wie in anderen Verwaltungszweigen beklagten sie namentlich ein Überwiegen des fiskalischen Interesses u n d die schlechte Lage der Unterbeamten, ihre geringe Besoldung, ihre übermäßigen Dienststunden. Als Übelstand w u r d e ferner die weitgehende Berücksichtigung ausgedienter Offiziere >) Bergengrün, S. 258/59.



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empfunden, die nach einem Artikel der Rheinischen Zeitung 2 / 3 aller Postämter inne hatten. 1 ) Sehr wenig einverstanden zeigten sich die rheinischen Industriellen mit der preußischen Bankpolitik. Auch hier mußten sie empfinden, daß die sehr bedächtige und vorsichtige Regierung dadurch, daß sie selbst passiv war und den Unternehmern wenig Entgegenkommen zeigte, mehr hemmend als fördernd wirkte. Sie zeigte allzu große Angst vor Spekulationssucht und schob den Unternehmern oft egoistische Gewinnsucht unter, wo sie gar nicht vorhanden war. So sahen die rheinischen Industriellen, wie ihre meisten Projekte abgelehnt wurden und wie das System der Regierung fast unerschüttert blieb. Dieses System verwarfen sie insofern, als es das Bankwesen wie ein staatliches Monopol betrachtete und nach der Äußerung Frieses, des ehemaligen Präsidenten der Königlichen Bank, die Forderung vertrat, „daß der Staat das Heft über das Geldwesen des Landes in Händen behalte." 2 ) Sie fanden, daß der Staat sein Monopol aufgeben müsse, da die stark erschütterte Preußische Bank, die seit 1836 die Notenausgabe eingestellt hatte, den Bedürfnissen des gesteigerten Verkehrs nicht mehr genügte. Mit Mevissen stimmten sie überein in der Ansicht, daß „nur ein gesundes System gut fundierter und ineinandergreifender Privatbanken neben der Staatsbank dem Lande wahrhaft helfen k ö n n e . " 3 ) Sie bedauerten das Fehlen eines ausgebreiteten Kreditsystems und machten wiederholt Vorschläge zur Gründung von Privatbanken, die sie fern von staatlicher Bevormundung halten wollten. Brüggemann meint, man könne nicht ohne Grauen daran denken, „wie unsäglich viele Produktivkräfte des Bodens, der Arbeit und der Gütervorräte oder Kapitalien infolge eines nicht hinlänglich entwickelten Kreditwesens unproduktiv tot liegen." 4 ) In der Bankreform, zu der sich die Regierung 1846 entschloß, sahen sie allerdings einen Fortschritt, aber andererseits fanden sie, daß die Maßregel doch nur halb sei. Die Gründung von Privatbanken wurde zwar M 26. VI. 4 2 . ) Bergengrün, S. 85.

2 3

) Mevissen an O . Mallinckrodt, 1846.

*) Der deutsche Zollverein, S. 102.

Hansen I, 383.



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erlaubt, aber in der A u s f ü h r u n g durch Rother so erschwert, daß bis 1848, solange er dem Bankwesen vorstand, keine einzige zustande kam. Auch Venedey erklärt sich mit dieser Bankreform nicht einverstanden, ja er bezeichnet sie „im wesentlichen als einen Rückschritt", aber seine G r ü n d e sind ganz andere als die der Liberalen. Er sieht in dieser Reform n u r eine Konzession des Staates an die F o r d e r u n g e n der Kapitalisten; seine W ü n s c h e gehen dahin, daß das ganze Bankwesen staatlich sei, jedoch nicht in der Art des preußischen vor 1846, das jeglicher volkstümlichen G r u n d l a g e entbehrte, sondern so, daß Staatsbanken im Interesse der Arbeit in Ackerbau, Industrie u n d Handel eingerichtet u n d vom Volke überwacht werden sollten. Eine nähere Angabe, wie er sich dieses System ausgeführt denkt, v e r m a g er allerdings nicht zu machen. 1 ) Denselben Z u g von Mißtrauen, mit dem die Regierung im Bankwesen der schöpferischen Tätigkeit von Privaten hemmend entgegentrat, denselben kleinlichen, engen Standpunkt mußten die Rheinländer bei dem Verhalten der Regierung gegenüber den Aktiengesellschaften beklagen. Mevissen und seine Freunde sahen in der Aktiengesellschaft oft die einzige Möglichkeit zur E r ö f f n u n g großer industrieller U n t e r n e h m u n gen und mußten wiederum erfahren, daß die Regierung aus allzu großer Ängstlichkeit auf ihre Ideen nicht einging. In einer Denkschrift von 1856 spricht Mevissen noch von „dem Mißtrauen gegen die neue Erscheinung, deren richtige Eino r d n u n g in das Leben der Gegenwart noch nicht überall gef u n d e n worden." Er möchte „an Stelle dieses Mißtrauens die Staatsregierungen von dem Bestreben geleitet sehen, die Entwicklung der neuen Form teilnehmend zu begleiten, ihre Ziele ihr vorzuzeichnen und ihre Kraft zum Besten des Staatszweckes zu verwenden." 2) Die Aktiengesellschaft erschien den rheinischen Industriellen als ein unabweisbares Bedürfnis namentlich f ü r ein Gebiet des Wirtschaftslebens, auf dem nach J

) „14 Tage Heimatluft», S. 266—70. ) »Über Wesen, Aufgabe und Rechtsverhältnis der Aktien-Oesellschaften" im Jahresbericht der Kölner Handelskammer für 1855; Hansen II, 534. 2



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ihrer Meinung die Regierung ü b e r h a u p t hatte, nämlich f ü r das Bergwesen.

noch

viel zu

tun

W e n n sie hier die Verhältnisse des linken Rheinufers, wo das freie französische Berggesetz herrschte, mit denen jenseits des Rheins verglichen, so fanden sie manchen Anlaß zu einer ungünstigen Kritik. Sie wollten A b s c h a f f u n g der existierenden etwa 20 Bergordnungen, die nicht mehr f ü r ihre Zeit paßten, da sie f ü r kleinere Verhältnisse gegeben waren. Sie wiesen darauf hin, daß die Bergwerkssteuern noch auf Gesetzen aus dem 16. J a h r h u n d e r t beruhten, also in einer Zeit festgesetzt worden waren, in der noch Gegenleistungen des Landesherren bestanden ; diese (Gegenleistungen seien o h n e K ü n d i g u n g a u f g e h o b e n worden, die Steuern aber waren geblieben. Auf dem 7. rheinischen Landtag w u r d e um Ermäßigung der Bergwerksabgaben gebeten und darauf aufmerksam gemacht, daß diese Steuer ja wieder besonders die Armen träfe, da sie die hohen Kohlenpreise am schlimmsten empfänden. Es wurde ferner um Befreiung des Bergbaues von lästigen Fesseln gebeten und gegen den von der Regierung vorgelegten Berggesetzentwurf Protest erhoben, weil er noch zu stark am Bevormundungssystem festhalte u n d bestimme, „daß die Grubeneigentümer n u r eine beratende Stimme haben, daß aber die Festsetzung und A u s f ü h r u n g der Betriebspläne lediglich und unbeschränkt der Bergwerksbehörde gegeben seien, kurz, daß die Gewerke, außer einem geringen Anteil am Haushalt n u r Z u b u ß e zu zahlen und Ausbeute in E m p f a n g zu nehmen hätten, während das W o h l u n d W e h e ihres Bergeigentums lediglich von der Gewissenhaftigkeit, der Tätigkeit und Geschicklichkeit ihnen nicht verantwortlicher Staatsbeamter a b h ä n g e . " 2 ) Infolgedessen war die Lage so, daß Mevissen klagen konnte, die reichen Schätze in der Tiefe der Erde seien noch zum Teil „totes Kapital, das Leben u n d Bewegung von direkter Einwirkung des Staates erwarte." 3 ) Er und seine Genossen vermißten eine direkte staatliche Bei*) S. Die Reden der rheinischen Abgeordneten Ritz und Hambloch in der Preußischen Nationalvers. Sten. Ber. 1, 706 u. 710. 2 ) Der 7. Rheinische Landtag, S. 388, 393, 398. 3 ) »Schutzzoll und Freihandel"; Hansen II, S. 170.



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hilfe, ein Berggesetz, das der Betätigung freien Spielraum gewährte. Wenn wir auf die Urteile der Rheinländer über die Regierungstätigkeit auf den einzelnen Gebieten des Wirtschaftslebens einen Rückblick werfen, so werden wir finden, daß sie jeden einzelnen Zweig des Wirtschaftslebens in seiner Beziehung zu Industrie und Handel und seiner Wichtigkeit für dieselben betrachteten. Eisenbahn und Post, Bank- und Bergwesen sollten zu vollkommenen Mitteln für die Förder u n g der Industrie und des Handels ausgebildet werden. Sie standen mitten in einem stark entwickelten Wirtschaftsleben und sahen, wie alle die einzelnen Gebiete ineinandergriffen, wie z. B. ein ausgebreitetes Eisenbahnsystem zur schnelleren und billigeren Kohlenbeförderung nötig war, wie von dieser wieder die Konkurrenzfähigkeit der Eisenindustrie abhing. Sie fanden nun zwar die Regierung nicht unwillig, der Industrie zu helfen, aber doch viel zu zögernd und bedenklich, viel zu wenig eindringlich in ihrem Verständnis und viel zu wenig nachdrücklich in ihrer Unterstützung. Ein frisches, freudiges Wagen und Vorwärtsblicken fehlte. Die Ursache dieses Übels lag ihrer Meinung nach in dem Mangel an jener Kraft, die der Schwierigkeiten und Gegensätze Herr geworden wäre und die zwischen den verschiedenen Interessen des Wirtschaftslebens den ausgleichenden, vermittelnden Weg gefunden hätte. Dieses Regime aber sahen sie von Gegensätzen hin- und hergeworfen ohne die Fähigkeit, durch dieselben hindurch zu steuern. Weder vermochte es, den lokalen Interessen des Wirtschaftslebens gegenüber das allgemeine Interesse energisch zur Geltung zu bringen, ohne lebensvolle Keime zu ersticken, noch vermochte es nach ihrer Meinung das Richtige zur Ausgleichung der wirtschaftlichen Gegensätze von West und Ost zu tun. Es waren nur die Folgen eines solchen Systems, wenn die beiden wirtschaftspolitischen Parteien die Staatsgewalt, die „nicht verstand mit bewußter Politik die Dinge zu leiten, sondern die Politik der Gewalt der Dinge preisgab", die die „verschiedensten Privatinteressen gegen sich hatte stark werden lassen und sich in die Defensive zurückgezogen hatte", 1 ) anx

) Brüggemann, „Der deutsche Zollverein", S. 131.



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griffen, so daß sie an keiner eine feste Stütze hatte. Dabei m u ß jedoch beachtet werden, daß die rheinischen Politiker die Schwierigkeiten, in die die Regierung dadurch versetzt wurde, daß sie von industriellen u n d agrarischen, von schutzzöllnerischen und freihändlerischen Interessen bedrängt wurde, nicht g e n ü g e n d würdigten. Auch darf nicht übersehen werden, daß sie von Einseitigkeit in gewissem Sinne nicht freizusprechen sind, daß ihnen die agrarischen Interessen des Ostens ferner lagen und sie ihnen weniger Verständnis entgegenbrachten. Andererseits aber m u ß man sagen, daß sie vielleicht n u r die Zeichen der Zeit richtig verstanden, daß sie sie besser begriffen als die Regierung, wenn sie die industriellen Probleme in den V o r d e r g r u n d drängten. Sie sahen hier neue, in der ersten Entwicklung begriffene, aber ungeheuer zukunftsreiche Kräfte nach Ausgestaltung ringen, u n d sie hielten es f ü r die dringendste F o r d e r u n g ihrer Zeit, ihnen den W e g zu ebnen u n d sie zu unterstützen. Vor allem durften sie von der Regierung mit Recht verlangen, daß sie über der Sache stand,, daß sie sich nicht einseitig zeigte u n d ihren Maßstab vorwiegend nach den Verhältnissen des Ostens stellte. In seiner A b h a n d l u n g „Schutzzoll und Freihandel" setzt Mevissen der Regierung ein ganzes Sündenregister auf, worin er ihr vorhält, was sie hätte tun müssen, um der Ausbildung eines derartigen Gegensatzes zwischen Westen u n d Osten vorzubeugen u n d worin er die Identität der westlichen und östlichen Interessen nachweisen will. Er verficht hier wieder eine seiner Grundideen, nämlich die, daß die Regierung die d u r c h a u s nötige Dezentralisation der Industrie versäumt habe u n d daß sie die Industrie irrigerweise da gefördert habe, wo es nicht m e h r nötig war. Gerade in dem vorwiegend agrarischen Osten hätte sie durch direkte Beihilfe die Industrie pflegen u n d die indirekten Bedingungen f ü r dieselbe durch A n l e g u n g von Eisenbahnen, Chausseen, durch ein ausgebreitetes Kreditsystem verbessern müssen. Durch Handelszölle und H e b u n g der Schiffahrt hätte sie den Handel kräftigen und so die Freihändler des Ostens von ihrer Feindschaft gegen die Schutzzölle heilen sollen. 1

) Hansen II, S. 152/53.



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Im ganzen stellte sich den rheinischen Liberalen die wirtschaftliche Lage wohl so dar, daß der industriereiche Westen unter H e m m u n g e n und B e v o r m u n d u n g e n von seiten der Regierung leide, während es dem industriearmen Osten an der nötigen direkten Beihilfe des Staates fehle. 1 ) G e r a d e f ü r P r e u ß e n aber erachteten sie eine umfassende Fürsorge der R e g i e r u n g f ü r das materielle W o h l als besonders nötig, weil hier die politischen Rechte des Volkes so gering waren, namentlich im Vergleich zu seinen westlichen N a c h b a r n . E n g zusammen mit der industriellen Frage hing d a s soziale Problem. In der Ansicht, daß durch die erweiterte industrielle Tätigkeit die soziale Not sich steigere, das Proletariat immer mehr wachse und sein Leben unter immer elenderen Bedingungen verbringen müsse, stimmten Regierung u n d Rheinländer ü b e r e i n ; ebenso war in beiden der W u n s c h nach Abhilfe dieses G e b r e c h e n s sehr lebhaft. N u r in der Frage, welche Mittel zur Besserung dieser Verhältnisse ergriffen werden sollten, offenbarten sich Differenzen. W e n n die Regierung aus Angst vor den schlimmen sozialen Folgen der gesteigerten Industrie die Schutzzölle nicht erhöhen wollte oder sich ablehnend gegen die E i n f ü h r u n g des Maschinenbetriebs verhielt, so konnten ihr, wie schon erwähnt, die rheinischen Liberalen nicht zustimmen. Sie sahen hier ebenso reaktionäre Beweggründe wie in dem Vorhaben der Regierung, die z u n e h m e n d e G ä r u n g im Proletariat durch Aufh e b u n g der Freizügigkeit und E i n f ü h r u n g des Z u n f t w e s e n s zu unterdrücken. Zwar erkannten sie an, daß die Regierung d u r c h das Gesetz von 1839 über Regelung der Kinderarbeit u n d durch andere Bestimmungen schon einiges Positive geleistet hatte, und über die tätige Anteilnahme der Regierung an dem Verein zum W o h l der arbeitenden Klassen waren sie sehr erfreut. Aber sie sahen doch zugleich, wieviel noch zu tun übrig blieb, u n d sie erklärten sich nicht mit der T e n d e n z der Regierung einverstanden, alles dem Volk gewissermaßen mit gnädiger H a n d von oben herab zu gewähren, alles bev o r m u n d e n u n d in eine bestimmte Richtung zwängen zu wollen. Über die Art u n d Weise, wie die Hilfe geleistet wer*) Vgl. über die Notwendigkeit der staatlichen Beihilfe für den Osten auch Brüggemann, »Der deutsche Zollverein", S. 169.



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den sollte, bestanden jedoch auch unter den rheinischen Liberalen selbst Differenzen. Die freiesten Anschauungen vertrat in diesem Punkt Mevissen, dessen Ansichten hier sicher von den Radikalen geteilt wurden. Dem alten Prinzip der Regierung „alles f ü r das Volk, nichts durch das Volk," „ d a s nicht imstande gewesen war, das Rätsel zu l ö s e n , " s t e l l t e er in vollem U m f a n g die F o r d e r u n g der Selbstbetätigung, Selbsthilfe, gemeinsamer Arbeit aller an der V e r b e s s e r u n g der Zustände entgegen. Er wollte Assoziation der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, Teilnahme der Arbeiter an den Hilfsvereinen, nicht nur Spar- und Prämienkassen, sondern Einrichtungen zur geistigen Ausbildung der Massen, „ A u s b i l d u n g des Volksbewußtseins durch öftere Besprechungen in G e n e ral- und Bezirksversammlungen." 2 ) Während Camphausen und Beckerath in diesen Forderungen nicht so weit gingen wie Mevissen, finden wir dieselben fast alle bei B r ü g g e m a n n u n d Peter Reichensperger wieder, die beide sehr u m f a s s e n d e soziale P r o g r a m m e aufstellten. Von den Wünschen, die sie hier der Regierung darlegten, seien n u r einige e r w ä h n t : verbesserte Organisation der Armenpflege, Kassenvereine zu gegenseitiger Versicherung, Verringerung der Arbeitszeit u n d eine allgemeine Fabrikordnung. Brüggemann tritt noch g a n z besonders f ü r den Schutz der Kinder ein; er will Verbot der Kinderarbeit in den Fabriken, verdoppelte Pflege des A r m e n schulwesens und Fürsorge f ü r verwahrloste Kinder. 3 ) Ein ganz allgemeines Verlangen der rheinischen Politiker an die Regierung war die Regelung der A u s w a n d e r u n g . Sie vermißten ein warnendes, schützendes und leitendes Eingreifen der Reg i e r u n g zugunsten der doch größtenteils nur durch die eigenen „mangelhaften sozialen Einrichtungen mit leichtem Beutel und schwerem Herzen hinausgestoßenen B r ü d e r . " 4 ) Wiederholt machten sie darauf aufmerksam, welche Vorteile die Regierung gewinnen könne, wenn sie systematisch vor-

„Über den Allgemeinen Hilfs- und Bildungsverein" 1845; Hansen II, 132. 2 ) «Über den Allgemeinen Hilfs- und Bildungsverein"; Hansen II, 136. 3 ) „Der deutsche Zollverein«, S. 180/81. 4 ) Ebenda, S. 164.



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ginge u n d dafür sorgte, daß die Ausgewanderten mit dem Mutterland in V e r b i n d u n g blieben. Ü b e r die Tätigkeit des preußischen Staats auf dem Gebiete der Landwirtschaft sind die Urteile der rheinischen Politiker ziemlich spärlich. Diejenigen unter ihnen, die sich f ü r wirtschaftliche Dinge interessierten, waren meist Kaufleute und Industrielle. Sie erkannten zwar die Wichtigkeit der Bodenkultur an, und namentlich Mevissen, der sich stets bemühte, alle Seiten des wirtschaftlichen L e b e n s mit seinem Blick zu umfassen, betonte immer wieder, daß n u r eine Vereinigung von Handel, Industrie und Ackerbau ein gesundes Wirtschaftsleben ergeben könne, daß sich die Interessen dieser drei Faktoren b e d i n g t e n ; aber sie glaubten doch, daß erst mit d e m Eintreten der Industrie eine höhere Stufe des Wirtschaftslebens erreicht w e r d e ; auf den Agrarstaat sahen sie etwas mitleidig herab, und die landwirtschaftlichen Interessen traten bei ihnen gegen die momentan dringlicheren industriellen zurück. Zu dieser geringeren Intensität des Interesses k o m m t noch hinzu, daß die landwirtschaftlichen Zustände in ihrer Provinz ziemlich befriedigend waren, sodaß ihnen der unmittelbare Anlaß zur Kritik fehlte. Diese günstige Lage der rheinischen Landwirtschaft sahen sie hauptsächlich als eine Folge der freien Agrar-Verfassung an, welche ihnen die französische Herrschaft gebracht hatte. Die Ü b e r z e u g u n g von ihren unschätzbaren Vorteilen war bei ihnen eingewurzelt wie kaum eine andere, u n d Peter Reichensperger weist in einem umfangreichen W e r k e „aus dem Gesichtspunkt der Nationalökonomie, der Politik und des Rechts" ihre Vorzüglichkeit nach. Er sowie alle rheinischen Politiker erkannten rühmend an, daß auch die preußische Regierung in ihrer Landeskulturgesetzgebung dasselbe bewährte System zur Durchf ü h r u n g brachte u n d daß sie große Fortschritte damit erreicht habe. G e r a d e darum aber wachten sie ängstlich über die Aufrechterhaltung dieses Systems u n d opponierten gegen jede B e s c h r ä n k u n g . J ) Eine solche Beschränkung erblickten *) P. Reichensperger weist auf Kabinettsordres von 1833, 36 und 42 hin, die ihm eine partielle Reaktion gegen die bestehende Agrargesetzgebung zu bedeuten scheinen. Die Agrarfrage, S. 24.



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sie in der Einrichtung von Fideikommissen, und sie bedauerten lebhaft, als im Jahre 1826 dieses Privilegium im Rheinlande wiedererweckt wurde. Mevissen weist darauf hin, wie durch diese Einrichtung die allgemeine Erwerbsfreiheit geschmälert w ü r d e und wie ungünstig sie auf die Tüchtigkeit der Erben wirke. Die sekundären Nachteile zieht Peter Reichensperger in Betracht, indem er von „der Auflösung des wahrhaften, auf rechtlicher Gleichheit aller Kinder und auf unbefangener, uneigennütziger 'Liebe b e r u h e n d e n Familienverbandes" und von dem bisherigen Brauch spricht, den nachgeborenen Kindern zum Schaden der Gesamtheit vorzugsweise oder ausschließlich die besten Staatsstellen zu überweisen. 2) Von solchen Gesichtspunkten ausgehend, verurteilten es die Rheinländer aufs schärfste, als die Regierung durch die Bestimmungen vom 16. Jan. 1836 und vom 23. Jan. 1837 die sogenannte Autonomie der rheinischen Ritterschaft schuf. Ein Sturm des Unwillens brach über diese „schwer zu erklärende Anomalie" 3 ) los; auf dem rheinischen Landtag w u r d e mit den heftigsten Worten dagegen g e k ä m p f t ; die Ritterschaft w u r d e beschuldigt, durch die unwahre Angabe, daß sie vor der französischen Revolution diese Rechte besessen habe, die Bewilligung vom König erschlichen zu haben u n d schließlich w u r d e auf Suspension der Gesetze angetragen. In seiner Schrift von 1844 „die rheinischen ritterbürtigen A u t o n o m e n " behandelt E. M. Arndt diese Angelegenheit, die so großes Aufsehen erregt hatte, ganz eingehend ; er schildert vor allem, mit welcher E n t r ü s t u n g das vom König bewilligte Statut der Ritterschaft a u f g e n o m m e n worden war. „Eigenes, vom Volksgericht herausgehobenes, unappellabeles Schiedsu n d Revisionsgericht über ihre bedeutendsten politischen und privaten Rechte, völlige Willkür über die Bestimmung des künftigen großen Gutserben ; dazu die u n b e g r e n z t e Fähigkeit, Majorate zu stiften", eine solche Machtfülle, meint Arndt, sei bisher noch von keinem Landesherrn einer Genossenschaft auf ähnliche Weise übertragen w o r d e n . 4 ) Der Geist des 2

»Stände u n d Majorate", Hansen II, 223. ) P. Reichensperger, D i e Agrarfrage, S. 5 9 6 / 9 7 .

•) P. Reichensperger, L. c., S. 600. ) D i e rheinischen ritterbürtigen A u t o n o m e n , S. 49.

4

N a t h a n , Preussische Verfassung.

9



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Hochmuts und der Absonderung, wie er sich in dem Kapitel von den ebenbürtigen Ehen, in den Bestimmungen über die ritterschaftliche Erziehungsanstalt zu Bedburg aussprach, verletzte die Rheinländer aufs tiefste, und das Gebot, der Adel solle sich des Handels und Gewerbes enthalten, erregte, wie Arndt berichtet, in dem stolzen Industrielande begreiflicherweise böses Blut. Es war ein herber Schlag für den auf Einheitlichkeit und Gleichheit gerichteten Sinn der Rheinländer, und mit Recht sagt H a n s e m a n n : „Der Gegensatz zwischen den Ansichten der Rheinländer und den Ansichten der Regierung ist in keinem Punkte stärker als über feudale Verhältnisse und Einrichtungen." 2 ) Das Streben der rheinischen Politiker ging darauf hin, alle noch bestehenden Hemmungen des freien Eigentums zu beseitigen; sie wollten Aufhebung der Jagdgerechtigkeit und Ablösung aller etwa im Osten noch bestehenden Servituten. Sie beklagten es, daß der Stand der kleinen Eigentümer im Osten nicht genügend zugenommen habe, weil die Regierung die völlige Durchf ü h r u n g der Stein-Hardenbergschen Agrarreform unterlassen hatte. Was die direkte Förderung und Pflege der Landwirtschaft durch die Regierung anbelangt, so waren die rheinischen Politiker der Meinung, daß die Regierung in dieser Beziehung gegen die Nachbarländer und namentlich gegen Süddeutschland im Rückstand sei. 3 ) Eine höhere Entwicklung der Landkultur schien ihnen unter der geeigneten Einwirkung der Regierung durchaus möglich zu sein. Aber es fehlte, wie P. Kaufmann klagt, bei den Beamten an dem nötigen Verständnis und den erforderlichen Kenntnissen, weil bei ihrer Anstellung auf kameralistische Ausbildung nicht genügend geachtet wurde. Es fehlte an den nötigen Unterrichtsanstalten; 1835 kam nur die eine Anstalt von Möglin in Betracht und erst in den vierziger Jahren wurden einige neue gegründet. An den Hochschulen waren auch die allereinfachsten Lehr- und Anschauungsmittel nicht vorhanden, und der ökonomische Teil der Bibliotheken war sehr unvollJ

) »Die rheinischen ritterbürt Autonomen", S. 74. ) „Die Politischen Tagesfragen", S. 24.*) P. Kaufmann, Das dringendste Bedürfnis der Rheinprovinz, S. 53. 2



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ständig. 1 ) Die Rheinländer waren durch G r ü n d u n g von Vereinen und Zeitschriften eifrigst bemüht, für die Pflege der Landwirtschaft zu wirken und die Regierung anzuspornen. Anfang der dreißiger Jahre gab es nach Kaufmanns Bericht noch keinen Fonds für landwirtschaftliche Zwecke, 2 ) 1839 erhielt die Rheinprovinz den ersten Staatszuschuß bewilligt, aber die Beihilfe war doch noch sehr spärlich, und Peter Reichensperger weist darauf hin, wie sehr Preußen Anfang der vierziger Jahre mit seinem Fonds von 2500 Talern jährlich für landwirtschaftliche Zwecke, also mit kaum 15 Sgr. für die Quadratmeile, hinter anderen Ländern zurückstehe. 3 ) Mit der Einsetzung des Landesökonomiekollegiums kam die Regierung einem lang gehegten Wunsch der Rheinländer nach; sie hofften von diesem Zentralinstitut Förderung und Belebung der Landkultur. Aber bald tauchten neue Wünsche zur intensiven W a h r n e h m u n g der landwirtschaftlichen Interessen auf, die in der Einrichtung eines Ministeriums für Handel, Gewerbe und Ackerbau und in der Einsetzung von Landwirtschaftskammern gipfelten.

Schluss. Wenn so die Urteile der rheinischen Politiker über die preußische Verfassung und Verwaltung im einzelnen erörtert worden sind, so mag es vielleicht scheinen, als ob der Eindruck, den sie vom preußischen Staatswesen hatten, ziemlich ungünstig war, ungünstiger, als er in der Tat gewesen ist. Es liegt dies hauptsächlich daran, daß sich die rheinischen Politiker stets eingehend über das ausgesprochen haben, was sie für tadelnswert und verbesserungsbedürftig hielten, daß sie in ihrem Lob jedoch einsilbiger und sparsamer waren. So kommt es, daß auch in dieser Arbeit die Schattenseiten in dem Bilde, das sie sich von der preußischen Verfassung und Verwaltung machten, bedeutend stärker hervortreten als die Lichtseiten und daß man ein wenig ausgleichen muß, *) P. Kaufmann, D. dringendste Bedürfnis der Rheinprovinz S. 4/5. ) Die Staatspflege der Landwirtschaft in Preußen, S. 36. 3 ) Die Agrarfrage, S. 396. 2



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wenn man sich eine richtige Vorstellung von dem machen will, was sie über die preußischen Zustände dachten. Zudem steht noch die einer späteren Bearbeitung vorbehaltene Ergänzung durch die Urteile über Preußens Justiz, Heerwesen, Kirchenpolitik und auswärtige Politik aus. Ich möchte aber nicht versäumen, schon hier durch einen Hinblick auf die Stellung der Rheinländer im Jahre 1848 und ihre Zukunftsideen über Preußen auf das Fazit hinzuweisen, das sie aus der Beurteilung der Einzelverhältnisse in Preußen zogen. Noch im Jahre 1848 nahm die Rheinprovinz eine ziemlich isolierte Stellung in Preußen ein; die revolutionäre Bewegung war hier mit am stärksten, und die Regierung sah mit besonderer Angst wie auf ein Sorgenkind nach ihr hin. Daß Camphausen in der Adresse des Kölner Gemeinderats vom 15. März von einer Gefahr der Isolierung und Abtrennung der Rheinprovinz sprechen konnte, 1 ) daß Raumer, der Regierungspräsident von Köln, am 27. März von einer nahen Auflösung des Zusammenhangs der Provinz mit Preußen berichtete, 2 ) daß derselbe Gedanke von den verschiedensten Seiten wiederholt wurde, ist ein Zeichen dafür, wie in der Rheinprovinz Stimmungen und Ideen aufkommen konnten, die in einer anderen Provinz — mit Ausnahme Posens — unmöglich waren. Noch immer bestand also kein innerer Zusammenhang, noch immer bestand kein warmes, herzliches Verhältnis zwischen den Rheinlanden und Preußen. Dagegen ist es nicht richtig, von Preußenhaß zu sprechen; die Rheinländer waren nicht Feinde Preußens, sondern des Preußentums, wie es auch Venedey und der Verfasser von „De la Prusse" aussprechen. Was sie unter Preußentum verstanden, ist wohl hinlänglich klar geworden; „die verletzenden Wunden, welche von einer hochmütigen Bureaukratie, einem alles überwachenden Polizeistaat, einei bürgerängstlichen Verwaltung, einer menschenverachtenden Bevormundung herrührten," das war es, was als Preußentum in bösem Ruf bei ihnen stand, das waren „die Nadelstiche des echten Preußenturns," die sie fürchteten. 8 ) Sie hatten Angst davor, ganz x

) Hansen II, 342. ) Hansen II, 354. 3 ) Venedey, „14 Tage Heimatluft", S. 78/79. 2



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und gar in die Netze dieses Preußentums gezogen zu werden, ihm mit der Zeit unterliegen und in ihm aufgehen zu müssen. Sie waren nicht Preußen durch und durch, „sie waren noch nicht dafür gewonnen, alles zu verteidigen, was Preußen getan," *) sie waren gewissermaßen nur Preußen auf Bedingung. Diese Bedingungen, unter denen die Masse der Rheinländer Preußen sein wollten, war die Umwandelung Preußens in einen Verfassungs- und Rechtsstaat und der nationale Zusammenschluß Deutschlands. Die erste Forderung war für sie — mit Ausnahme der Radikalen — durch das J a h r 1848 erfüllt w o r d e n ; auf die Einlösung der zweiten Bedingung harrten sie noch. D e r Abgeordnete W e r n h e r aus dem hessischen Nierstein formulierte diese Bedingung klar, indem er im Frankfurter Parlament sagte: „Von dem T a g e an, wo die deutsche Geschichte wahre G r ö ß e hat, wo sie dem Selbstgefühle des Volkes genügt, wo sie die napoleonischen Erinnerungen überbietet, wird das Reich keine treueren Bürger haben als die Bewohner des linken Rheinufers." 2 ) Den Rheinländern, bei denen die Traditionen des alten Reichs sehr lebendig waren, bedeutete das Wiedererstehen eines einigen Deutschlands unendlich viel. Stolz auf ihre deutsche Gesinnung betonten sie häufig ihr reines Deutschtum im Gegensatz zu den Bewohnern des slavischen O s t e n s ; Äußerungen wie die Venedeys, „ich bin kein Preuße, sondern ein Deutscher," 3 ) waren nicht selten. Sie wollten also nur Preußen sein, wenn Preußen ihre Hoffnung auf die Neugestaltung Deutschlands befriedigte; daher konnte Ludwig Simon im Frankfurter Parlament mit deutlicher Anspielung und nicht ohne einen gewissen Grund s a g e n : „Wenn Preußen aufhören sollte, deutsch zu sein, dann werden viele Preußen aufhören, Preußen zu sein." 4 ) Darin aber, daß Preußen seine Interessen eng mit denen Deutschlands verknüpfte, sahen sie nicht nur idealistische W ü n s c h e und Hoffnungen ihrerseits, sondern eine dringende Notwendigkeit für Preußen selbst. Den meisten rheinischen Politikern erschien dieser Staat nicht Stedmann, Sten. Ber. III, 2 1 3 9 . 2 3

) Sten. Ber. VI, 4 7 7 3 .

) „14 Tage Heimatluft", S. 4 0 .

4

) Sten. Ber. III, 1903.



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mehr lebenskräftig genug, um allein weiter zu bestehen; sowohl von radikaler als von liberaler und von ultramontaner Seite wird dieser Ansicht Ausdruck gegeben; ja Raveaux geht soweit, ihm nur noch knapp 10 Jahre Lebensfrist zu geben. Die Schwäche Preußens sahen die rheinischen Politiker in seiner Zersplitterung, in dem immer noch losen Zusammenhang zwischen den westlichen und östlichen Provinzen, die durch so manche Gegensätze geschieden waren. Ein zweites Moment seiner Schwäche fanden sie in den schlechten Grenzen und der ungünstigen Lage, welche Preußen nötigten, ein Heer aufrecht zu erhalten und demzufolge dem Volk eine Steuerlast aufzubürden, die es unmöglich tragen könne. Unter dem Druck solcher Lasten und bei dem Mangel an materiellen Kräften schien ihnen Preußen nicht imstande zu sein, die Rolle einer Großmacht so zu vertreten, wie es sie vertreten wollte; daher der Abstand zwischen Wille und Kraft, der in vielen Fällen zutage trat. Aus solchen Erwägungen heraus entschlossen sich Männer wie Raveaux, denen ja überhaupt der Staat nichts und die Freiheit alles galt, dem aus dem Gagernschen Kreise stammenden Gedanken der Auflösung Preußens zuzustimmen. Venedey will den Untergang der preußischen Monarchie sogar in der Logik der deutschen Geschichte und in der Logik der Ereignisse in Preußen klar angedeutet sehen;») er und seine Parteigenossen hielten ja nicht allzuviel von der Leistungsfähigkeit des preußischen Staats, und vor allem glaubten sie nicht an die Möglichkeit des Aufgehens der preußischen Monarchie im deutschen Kaisertum. Auch die Liberalen sahen die Schwächen Preußens und hielten seinen Anschluß an Deutschland f ü r dringend nötig. Sie erkannten aber mehr als die Radikalen seine Vorzüge, seine militärischen und wirtschaftlichen Leistungen und vor allem auch den unversiegbaren Quell seiner geistigen und moralischen Kräfte. Eben darin, daß Preußen die Freiheit des Glaubens und der Wissenschaft fast ununterbrochen aufrecht erhalten hatte, daß es der größte, reindeutsche Staat war und sich am meisten f ü r den deutschen Gedanken betätigt hatte, lag ihnen eine

Die Wage, Heft 6, S. 7.



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Gewähr für weiteren Fortschritt und die Erkenntnis beschlossen, daß ebenso wie Preußen ohne Deutschland, auch Deutschland ohne ein starkes Preußen nicht sein konnte. Sie dachten daher nicht an eine Auflösung Preußens, und die Klerikalen gingen mit ihnen zusammen. In diesem Eintreten der meisten Rheinländer für den preußischen Staat und in der lebhaften Unterstützung, die das preußische Erbkaisertum bei der Mehrzahl der rheinischen Liberalen fand, liegt der Beweis, daß Preußen, wenn auch nicht Liebe, so doch Achtung im Rheinland gefunden hatte; darin, daß die meisten Rheinländer von der Wahrheit des Dahlmannschen Wortes: „Es ist gar keine Zukunft in Deutschland möglich ohne Preußen durchdrungen waren, liegt die wichtigste Eroberung, die Preußen in 33 jähriger Herrschaft im Rheinlande gemacht hatte. Sten. Ber. VII, 4821.

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Die Rhein- und Mosel - Zeitung Beitrag zur Entstehung

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