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German Pages 516 [520] Year 1912
Verfassung und Verwaltung des Deutschen Reiches nebst wichügen Nebengesetzen. (Ein Hilfsbuch für die Eramina in Justiz und Verwaltung sowie für die Doktorprüfung Von
Dr. jur.
M. Gebhardt
Gertchtsafsessor a. D.
Berlin 1912.
Z. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, G. nt. b. H.
Roßberg iche Buchdruckerei. Leipzig.
Vorwort. Ich übergebe die vorliegende Bearbeitung der wichtigsten staats rechtlichen Materien des Deutschen Reiches der Öffentlichkeit in einem neuen GewändeHatte sich meine frühere Veröffentlichung desselben Stoffes viele Freunde erworben, so erhoffe ich das noch mehr von diesem Buche. Es galt, viel Neues, sowohl auf dem Gebiete der Gesetzgebung wie auf dem der modernen Examensentwicklung, zu berücksichtigen. Das ist selbstverständlich in vollstem Maße geschehen. Insbesondere habe ich außer der Bearbeitung der heute geltenden Gesetze — vornehmlich der Reichsversicherungsordnung — den neuen Examenserlassen des Herrn Justizministers Rechnung getragen und den finanziellen Verhältnissen unseres Reiches große Sorgfalt ge widmet. Ich glaube nach meiner langjährigen Vorbereitungserfahrung und Examenspraxis dem ausgesprochenen Zwecke des Buches — ein Hilfs buch für die Examina sein zu sollen — gerecht geworden zu sein, und alles in dasselbe hineingetragen zu haben, was man billigerweise von den Examinanden, sowohl des ersten wie des zweiten Staatsexamens, als auch der Doktorprüfung verlangen kann. Berlin, Oktober 1912. VSurneltudftr. 2.
«ebhardt.
Inhaltsübersicht.
§ 1.
Erster Teil. Grundbegriffe des allgemeine« Staatsrechts
Seite .... 1
Staatsrecht. Berwaltungsrecht. Berfassungsrecht. Gegensätze. Völkerrecht. Privatfürstenrecht. Sozial-Genossenschast-recht. Mgemeines — besonderes, äußere- — innere-, Reichs- — Landes-Staatsrecht. Staat-wissenschaft.
§ 2.
Quellen des Staalsrechts........................................ Gesetz. Berfassungsurkunde. Gewohnheitsrecht. Staatsverträge. Staatsrechtliche Berträge.
§ 3.
5
Observanz.
Das Wesen des Staates.............................................
7
Ableitung des Namens „Staat". Staatserfordernisse: Land — Volk — Staatsgewalt. Objekt, Subjekt, Träger, Organe, Funk tionen der Staatsgewalt. Die Lehre von der Teilung der Ge walten. Rechtsgrund der Staatsgewalt. Theorien. Zweck des Staates. Theorien.
§ 4. Die Staatsformen............................................................. 16 Monarchie. Aristokratie. Demokratie. Abarten. Republik. Theokratie. Jdeokratie. Monarchie. Arten. Parlamentarismus. Bolkssouveränität. Aristokratie. Demokratie.
§ 5. Einheitsstaat und Staatenverbindung.............................. 21 Völkerrechtliche Verbindungen. Real-, Personalunionen. Staa tenbund. Allianzen. Staatsrechlliche Verbindungen. Bundes staat. Unterschied vom Bundesstaat und Staatenbund.
Zweiter Teil. StaatSrechtSgefchichtliche Übersicht.
§ §
6. Zeittafel zur Entwicklungdes Deutschen Reichs .... 25 7. Geschichtliche Einleitung.......................................................... 35 Vorfränkische Zeit. Fränkische Zeit. Chlodwig. Staatsverfas sung. Beamte. Majordomus. Volksversammlung. Immuni täten. DaS Lehnswesen. Benefizium. Basallität. Seniorat.
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8. Das alte Deutsche Reich.........................................................39 Verdun. Mersen. Karl der Dicke. Heinrich I.
§
9. Staatsgebiet und Grenzen......................................................40
VI
Inhaltsübersicht. Seite
§ 10.
Die Reichsverfassung..................................................................41 Der König. Titel. Herzogtümer. Fürsten — Landesherren. Kurfürsten. Königswahl. Vikariat. Insignien. Rechtsstellung, Regierungsrechte des Königs. Beamte. Bannrecht. Wahl kapitulationen. Reichstag. Reichsregiment. Reichskreise. Hof ämter. Reichskammergericht. Reichshofrat.
8 11. § 12. § 13.
Die Staatsform des altenDeutschen Reichs.......................... 53 Die Auflösung des Deutschen Reichs undder Rheinbund 53 Der Deutsche Bund.......................................................................57 Historisches. Tie Bundesakte. Wiener Schlußakte. Zweck des Bundes. Mitglieder. Bundesversammlung. Enger Rat. Ab stimmung. Kompetenz. Austrägalv erfahren. Jnterventionsrecht. Gesetzgebung. Finanzverwaltung. Bundesexekution.
§ 14.
Bundesreformversuche..................................................................63
§ 15.
Der Zollverein.................................................................................64
Karlsbader Konferenzen. Geschichtliches. Preußisches Zollgesetz von 1818. Süddeutsche Bestrebungen für die deutsche Handelseinheit. Zollanschlußverträge Preußens. Neujahrsnacht 1834. Krisen des Zoll vereins. Rechtscharakter und Organisation des Zollvereins. Tarifpolitik.
§ 16.
Der Deutsche Bund und das Jahr 1848
..........................
69
Frankfurter Attentat. Pariser Februarrevolution. Frankfurter Vorparlament. Siebzehnerentwurf. Teutsche Nationalversamm lung. Reichsverweser. Verfassung. Grundrechte. Kaiserwahl. Reichstag. Friedrich Wilhelm IV. Zusammenbruch. Rumps parlament.
§
17. Weitere Reformversuche.......................................................... 72 Treikönigsbündnis. Teutsche Union. Erfurter Parlament. Großdeutscher Reformverein. Nationalverein. Fürstentag.
§
18. Die Schleswig-Holsteinische Frage und die Auflösung des Bundes........................................................................................ 73 Dänemark und die Elbherzogtümer. „Offener Brief" Ehristians VIII. Londoner Protokoll. Bundesexekution gegen Dänemark. Dänischer Krieg. Gasteiner Vertrag. Lauenburg. Preußische Reformversuche. Österreichischer Krieg. Prager Friede. Bundesauflösung. Preußens Annexionen.
§
19. Die Augustbündnisse und der Norddeutsche Bund
...
77
Pactum de contrahendo. Bersassungsberatungen. Reichstags wahlen. 1. Juli 1867.
§
20. Rechtlicher Charakter des Norddeutschen Bundes
§
21. Verfassung des Norddeutschen Bundes............................ 80 Organe.
...
79
Inhaltsübersicht.
VH Seite
§ 22. Die süddeutschen Staaten. Französischer Krieg. Die Rovemberverträge......................................................................... 81 Berbindung von Nord uni) Süd. Preußens Bündnisverträge. Art. 79 B.-B. Gemeinsame Mobilmachung. Novembervertrüge. Deutscher Bund.
§ 23.
Deutsches Reich......................................................................... 82 Versailles. Reichsverfassung. Änderungen.
§ 24.
Der rechtliche Charakter des Reichs.................................... 84 Neuschöpfung oder Fortsetzung? Staatendund — Bundesstaat. Souveränität.
§ 25.
Verhältnis des Reichs zu den Bundesstaaten........................... 87 Zusammensetzung des Reichs. Allgemeine Rechte und Pflichten der Einzelstaaten. Reservatrechte. Grenzen der Reichskompetenz.
Dritter Teil. § 26. Die Organisation des Deutschen Reichs: I. Der Kaiser.............................................................................90 II. Der Bundesrat....................................................................94 III. Der Reichstag...................................................................... 102 § 27. Die Reichsbehörden..................................................
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Reichskanzler. Auswärtiges Amt. Reichsamt des Innern. Ressort desselben. Reichsmarineamt. Reichspostamt. Reichs justizamt. Reichsschatzami. Reichskolonialamt. 7 Staatssekre tariate. Reichseisenbahnamt. Reichsamt für die Verwaltung der Reichseisenbahnen. Reichsbankbehörden. Richterliche Reichs behörden. Das verstärkte Reichseisenbahnamt. Reichsrayon kommission. Patentamt. Oberseeamt. ReichSversicherungsund Reichsaufsichtsamt. Disziplinargericht.
§ 28.
Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten...................................132
§ 29.
Reichsgesetzgebung.................................................................. 139
§ 30. Zuständigkeit des Reichs für Gesetzgebung und Verhältnis der Reichsgesetze zu denLandesgesetzen.................................147 Kompetenz des Reichs. Art. 4 RB. „Aufsicht".
§ 31.
Das Reichskriegswesen......................................................... 150 Wehrpflicht. Militärpflicht. Dienstpflicht. Landsturm. Friedens präsenzstärke. Marine. Das Heer. Bayern im Heeresetat. Befugnisse des Kaisers. Bayern. Württemberg. Sachsen. Kon ventionen. Rechtsverhältnisse der Militärpersonen. Pensions verhältnisse der Offiziere und Unteroffiziere. Witwen und Waisen. Kriegs-, Friedensleistungen. Rayons. Luftdienstzulage.
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Inhaltsübersicht. Seite
§ 32. Die Reichsfinanzen................................................ ....
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Finanzwirtschast des Reichs. Reichssiskus. Reichsvermögen und -schulden. Reichsanleihen. Reichsausgaben und -ein nahmen. Gebühr- und Steuerbegriff. Steuerterminologie. Steuerarten. Quellen des Reichszollrechts. Finanz-, Schutz zölle. Freihandel. Ara Delbrück. Zolltarif 1879. Handels verträge. Zolltarif 1901. Zollerhebung. Zoll- und Gebiets grenze. Frellager. Identitätsnachweis. Retorsionszölle.
§ 33.
Die einzelnen Verbrauchsabgaben.......................................185 Salzsteuer. Biersteuer. Tabaksteuer. Zuckersteuer. Brannt weinsteuer. Schaumweinsteuer. Zünd Warensteuer. Leuchtmittel steuer.
§ 34.
Die einzelnen Berkehrsabgaben............................................193 Wechselstempelsteuer. Spielkartensteuer. Reichsftempelsteuer. Totalisatorsteuer. Lotterie-, Frachturkunden-, Fahrkarten-, Kraft sahrzeugsteuer. Vergütungen. Schecks. Grundstücksübertragun gen. Zuwachssteuer. Erbschaftssteuer. Banknotensteuer. Sta tistische Gebühr.
§ 35. Das finanzielle Verhältnis des Reichs zu den Gliedstaaten. Franckensteinsche Klausel. Matrikularbeiträge. Reichs finanzreform .................................................................................208 § 36. Das Etatwesen im allgemeine» und das Reichsbudgetim besonderen............................................................................... 216 § 37. § 38. § 39.
Doppelbesteuerung; Verbot derselben..............................233 Rechtsverhältnisse der Reichsangehörigen.................... 234 Wohnrecht; Reichs- und Staatsangehörigkeit............... 235 Erwerb, Verlust der Staatsangehörigkeit. Aufnahme, Naturali sation. Entlassung. Bancroftverträge.
§ § § § § § §
40. 41. 42. 43. 44. 45. 46.
Freiheit der Niederlassung und des Umherziehensusw. . 242 Unterstützungswohnsitzgesetz............................................ 244 Fortfall polizeilicher Beschränkungen der Eheschließung . 245 Reichspersonenstandsgesetz 1875 ........................................... 246 Paßwesen.............................................................................. 247 Auswanderungswesen......................................................248 Preßwesen.............................................................................. 249 Geschichtliches. Zensurbeschränkung und Freiheit. Preßgesetzgebung. Preßverwaltungs-, Preßstrasrecht. Druckschrift. Be schlagnahmen usw.
§ 47.
Vereins- und Bersammlungsrecht...................................259 Begriffliches. Geschichtliches. Gesetzgebung. Reichsveremsgejetz. Landesrecht.
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Inhaltsübersicht.
Seite
§ 48.
Glaubensfreiheit und Gleichberechtigung der Konfessionen 268 Geschichtliches. der Kirche.
§ 49.
Emanzipationsgesetz von 1869.
Austritt aus
Gewerbe.................................................................................. 271 Begriff. Arten. Polizeiliche Beschränkungen. Konzessionierungsverfahren. Approbation. lSonzession. Entziehung. Taxen. Wanderlager. Marktverkehr.
§ 50. Innungen.................................................................................. 281 Geschichtliche Entwicklung. Heutige Rechtslage. Aufgaben der Innungen. Organe. Aufsicht. Zwangsinnungen. Jnnungsausschüsse. Handwerkerkammern. Jnnungsverbände. Schutz ge werblicher Arbeiter. Koalitionsrecht. Lehrlingsverhältnisse. Be triebsbeamte, Werkmeister, Techniker. Fabrikarbeiter. Jugend liche und Frauen in Fabriken.
§ 51.
Arbeiterfürsorge........................................................................... 289
§ 52.
Lex Trimborn.......................................................................... 290
§ 53.
Die neue Reichsversicherungsordnung.................................... 291
Geschichtliche Entwicklung.
Aufbau und Inkrafttreten.
§ 54.
Allgemeines zur Reichsverficherungsordnung......................292
§ 55.
Erstes Buch der Reichsverficherungsordnung......................293 Einteilung. Träger der Reichsversicherung. Organe. Bersicherungsämter. Oberversicherungsämter. Reichsversicherungsamt. Landesversicherungsämter. Gemeinsame Vorschriften.
§ 56.
Zweites Buch. Krankenversicherung....................................300 Einteilung. Umfang der Versicherung. Bersicherungspflicht und -berechttgung. Gegenstand der Versicherung-leistungen. Träger der Krankenversicherung. Atten der Kassen. Organe der Kran kenkassen. Mittel der Kassen, Aufbringung und Verwaltung. Knappschaftskassen. Ersatzkassen. Schluß-, Strafvorschriften.
§ 57.
Unfallversicherung...................................................................310 Geschichtliche Entwicklung. Reichs-Haftpflichtgesetz. Spätere Ge setze. Heutiges Recht. Gewerbeunfallversicherung. Umfang. Gegenstand. Träger. Berufsgenossenschaften. Aufsicht. Mittel aufbringung und Zahlung der Entschädigungen. Unfallver hütung. Haftung von Unternehmern und Angestellten. Haftung gegenüber Krankenkassen usw. Strafvorschriften. Landwirtschaflliche Unfallversicherung. Seeunfallversicherung.
§ 58. Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung................... 321 Bersicherungspflicht und -recht. Lohnklassen. Altersrente. Träger der Versicherung.
Invalidenrente.
X
Inhaltsübersicht. Seile
§ 59.
Fünftes Buch: Beziehungen der Bersicherungsträger zu einander und zu anderen Verpflichteten.............................. 329 § 60. Verfahren. (Sechstes Buch.)................................................ 330 § 61. Angestelltenversicherung.........................................................335 Ruhegeld. Hinterbliebenenrenten. Träger der Bersicherung. Deckung der Leistungen. Verfahren.
§ 62.
Schutz der Gesundheit......................................................... 344 Reichsimpfgesetz. Nahrungsmittelgesetz. Arzneimittelgesetz. Margarinegesetz. Beterinärwesen. Schutz des Weinbaues.
§ 63.
Urheberrecht........................................................................... 346
§ 64. § 65. § 66.
Literarisches Urheberrecht..................................................... 349 Verlagsrecht............................................................................ 354 Urheberrecht an Werken der bildendenKünste und der Photographie............................................................................ 359 Der Musterschutz...................................................................363 Schutz von Gebrauchsmustern............................................ 364 Schutz der Warenbezeichnungen (Marken).......................... 365 Patentrecht.............................................................................366
Begriff. Geschichtliche Entwicklung.
§ § § §
67. 68. 69. 70.
Anhang: Internationale Übereinkunft (Berner Konvention, Berliner — Pariser Zusatzakte).
§ 71. Unlauterer Wettbewerb.......................................................... 374 § 72. Einrichtungen des Reichs zur Förderung des Verkehrs . 381 Auswärtige Angelegenheiten. Gesandtschaften. Reichskonsulate. Konsulargerichtsbarkeit. Post-, Telegraphenwesen. Handels marine. Eisenbahnwesen. Münzgesetzgebung und Bankwesen. Bankgesetz von 1875, 1909. Maße. Gewichte. Elektrische Mes sungen.
§ 73. Das Reichsland Elsaß-Lothringen.....................................428 Entwicklung der Staatsverhältnisse. Heutige Verhältnisse. Die neue Verfassung. Gesetzgebung. Kammern.
§ 74. Das Staatsrecht der freien Städte.....................................437 § 75. Die deutschen Schutzgebiete..............................................439 Text der Reichsverfassung................................................................... 448 Text der Verfassung Elfaß-Lothringens............................................ 477 Register...............................................................................................486
Erster Teil.
Grundbegriffe des Allgemeinen Staatsrechts? § l. I Staatsrecht ist öffentliches «echt. Das öffentliche Recht hat die Aufgabe, die Jnteresfen der Gemein wesen zu ordnen und zu schützen.' Es umfaßt alle Rechtsdifziplinen mit Ausnahme des Privatrechts, also Staatsrecht, Völker- und Kirchenrecht. Schon die Römer definieren: „Publicum ius eat, quod ad statum rei Romanae apectat (§ 4 J. I, 1 und L. 1 § 2 D. 1,1). Dabei hatten sie aber nur ein einzelnes (ihr eigenes) Staatswesen im Auge, die Rechtsbeziehungen der Staaten untereinander — das Völkerrecht — war ihnen unbekannt.'
II. StaatSrecht im weitere« Staue ist der Inbegriff aller Normen, die sich auf die Rechtsverhältnisse der Staaten (Staatenverbindungen) und kommunaler Verbände beziehen. Es gehören aber außer den sich auf die politischen Gemeinwesen beziehenden Rechtssätzen zum Staatsrecht im wahren Sinne noch die sich auf die Rechtspflege beziehenden Normen (Zivll-, Strafprozeß, Strafrecht) und das Berwaltungsrecht. III. BerwaltuugSrecht umfaßt die Rechtsregeln über die Orga nisation der Verwaltungsbehörden, insbesondere über diejenigen Funktionen des Staates und kommunaler Kreise, welche man int Gegensatz zur Gesetzgebung und Rechtsprechung die regierende Tätigkeit der Staatsgewalt nennt. Neben dem Hauptgebiete der inneren Verwaltung kommen hierbei die auswärtigen, die Heeres- und Finanzangelegenheiten in Frage. 1 züge * *
Bornhak, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1896; v. Gerber, Grund . . ., 3. Ausl., Leipzig 1880. Vgl. Gareis, Rechts-Enzyklopädie, 3. Ausl., 1905, § 37. Bgl. Meyer-Anschüh, Deutsches Staatsrecht, 6. Ausl., 1905, § 15II.
Gebhardt, Deutsche» Stoattrecht.
1
2
I. Teil. Grundbegriffe des allgemeinen Staatsrechts.
IV. Der nach Ausscheidung dieser Materien noch übrigbleibende Teil des Staatsrechts wird als Staatsrecht im engeren Sinne oder Berfassungsrecht bezeichnet.1 * * 4
V. Berfassnngsrecht. a) Staatsverfassung ist die Organisation der Staatsgewalt? b) Berfassnngsrecht ist der Inbegriff der Rechtssätze, welche über Jnnehabung und Ausübung der Staatsgewalt, über Regelung der allgemeinen Staatsfunktionen Bestimmungen treffen? Diese Rechtssätze sind zumeist in der Berfassungsurkunde des modernen Staates niedergelegt. Indessen enthalten einerseits die Berfassungsurkunden jenes, das sog. materielle, Berfassungsrecht nicht immer vollständig, andererseits enthalten sie auch anderweitige Nor men (Prozeß-, Privatrecht), um diesen höhere Bedeutung beizulegen. c) übrigens versteht man unter „Verfassung" im gemeinen Sprachgebrauch auch die Summe gewisser konstitutioneller Ein richtungen, die den Herrscher beschränken.
VI. ScgensLtze. 1. Das Staatsrecht, der Zweig der Rechtswissenschaft, welcher die auf die politischen Gemeinwesen bezüglichen, öffentlichrechtlichen Normen enthält, steht im Gegensatz zum Privatrecht und zum Völkerrecht. a) Privatrecht oder bürgerliches Recht ist der Inbegriff derjenigen Rechtssätze, welche die Vermögens- und familienrechtlichen Beziehun gen der einzelnen Privatpersonen regeln. Die Grenzen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht sind oft flüssig. Die oben zitierte, von den Romanisten übernommene Definition und Unterscheidung Ulpians nach dem Interesse des Einzelnen und der Gesamtheit ist unbrauchbar, weil die beiden Interessen heute vielfach zusammenlaufen. Man muß den Gegensatz aus dem Wesen der einzelnen Rechts institute entnehmen. Wenn heute das Wesen eines Rechtsinstitutes von dem Grundsätze des staatlichen Herrschaftsrechts bestimmt ist, so hat man es dem öffentlichen Rechte zuzuzählen? 1 Meyer-Anschütz § 15 II 3. * Loening im Handwörterbuch der Staatswissenschasten, 3. Ausl., Bd. 7, Art. Staat S. 692 ff. (V S. 717). * Loening a. a. O. 4 Bgl. Bornhak, Das Verwaltungsrecht in Preußen unter dem BGB., Berlin 1899, S. 2/3.
§ 1.
3
Handelt es sich nur um Rechte und Pflichten der Untertanen zu einander, so ist es Privatrecht. b) Völkerrecht umfaßt die durch Gewohnheit und namentlich neuerdings mehr noch durch Verträge geregelten Beziehungen der Staaten zueinander, soweit sie nicht rein vermögensrechtlicher Natur und darum dem Privatrecht zugehörig finb.1 * * 4 2. Im Staatsrecht dreht sich alles um den Staat und die Obrig keit. Es geht aus von der Subordination, im Privat- und Böller recht herrscht Koordination. 3. Erwähnt sei auch das Privatfürstenrecht. Dasselbe regelt die Vermögens-, Famllien- und Erbrechte des hohen Adels, gehört zwar dem Privatrecht an, ist indessen nicht ohne Einfluß auf das Staats recht, insbesondere die Thronfolge.'
4. Sozial-Genossenschastsrecht. a) Der Mensch als Individuum hat Interessen, deren Gesamtheit seine Interessensphäre, seinen Lebenskreis bilden (Ordnung derselben durch das bürgerliche Recht). b) Das Individuum ist aber auf Assoziation, auf Gemeinleben angewiesen; es ist ein §Sov ttohnxöv. c) Als Verbände treten aus: Famllien, Stämme, Vereine, Körperschaften, Staaten, Religionsgenossenschaften. d) Diese büden wieder ein Ganzes für sich und haben eine eigene Interessensphäre. c) Die Normen, welche diese Verbände regeln, sind Sozialrecht, Genossenschastsrecht. f) Das Verhältnis der Einzelindividuen zu den Verbänden ist ver schieden geartet, es ist entweder ein auf gleichartigen Interessen be ruhendes Koordinations- oder ein Subordinationsverhältnis. g) Nur die Staaten und die Religionsgemeinschaften zeigen ein „Herrschaftsverhältnis". Die hier entwickelten Rechtsdisziplinen, das Staats- und das Kirchenrecht, gehören daher dem öffentlichen Recht, die Beziehungen der Individuen zu den anderen Verbänden gehören dem Privatrecht an. h) Dies ist insbesondere der Standpunkt v. Gerbers.' Andere, insbesondere Gierte/ leugnen, daß die Berwirllichung der Herr1 Vgl. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899. * Vgl. Nehm, Modernes Fürstenrecht, 1904 1 C. F. v. Gerber, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staats rechts, 3. Ausl., 1880, § 1. 4 ®teile in Zeitschrift für Staatswissenschast 6. 302, in Schmollers Jahrbuch S. 1125.
4
I. Teil. Grundbegriffe des Allgemeinen Staatsrechts.
schaftsidee sich auf Staat und Kirche beschränke und behaupten die Gleichartigkeit des Staates mit anderen menschlichen Gemeinwesen. VII. Eiuteilungeu. Man unterscheidet: 1. Allgemeines und besonderes Staatsrecht? a) Das allgemeine Staatsrecht ist das Recht nicht eines ein zelnen Staates, sondern des Staates überhaupt. „Es ist die syste matische Betrachtung derjenigen Rechtssätze, durch welche in den verschiedenen Staaten die Vertretung der Herrschaftsinteressen (in Gesetzgebung und Verwaltung) rechtlich gesichert ist." (Gareis.) Das allgemeine Staatsrecht ist demnach verschieden von der philo sophischen Lehre vom besten Staate oder dem Staatsideale, welches das Ergebnis des Nachdenkens ist, während das allgemeine Staats recht auf Beobachtung und Erfahrung beruht. Das allgemeine Staatsrecht ist nicht nur ein Teil der Rechts wissenschaft überhaupt, sondern auch der Staatswissenschaft (vgl. unten). b) Das besondere Staatsrecht ist dasjenige eines einzelnen bestehenden Staates. Auf ihm baut sich zum Teil die Theorie des allgemeinen Staatsrechts auf, insofern sie eine vergleichende, die Unterschiede betrachtende Darstellung der existierenden herrschenden Gemeinwesen ermöglicht? 2. Außeres — inneres Staatsrecht. a) Das äußere Staatsrecht ist nicht identisch mit Völkerrecht. Es regelt nur die Verhältnisse des einzelnen Staates zu anderen (Handels-, Konsularverträge), stellt nicht völkerrechtliche Normen für den Gesamtstaatenverkehr auf. b) Das innere Staatsrecht betrifft die Untertanen. 3. Deutsches Reichs, und Landesstaatsrecht.
A. Im alten Deutschen Reich unterschied man: a) Reichsstaatsrecht, b) Territorialstaatsrecht. B. Im Deutschen Bunde: a) Bundesstaatsrecht, b) Partikuläres Staatsrecht. C. Im Norddeutschen Bunde: a) Bundesstaatsrecht, b) Partikuläres Staatsrecht. 1 Bgl. Meyer-Anschütz § 18 und Gareis a. a. O. § 39 und die dort Zitierten, namentlich Bluntschli, Allgemeine Staatslehre S. 11 ff. 1 Gareis a. a. O. § 39; Mever-Anschütz a. a. O. § 18 a. E.
§ 2. Quellen des StaatSrechtS.
5
D. Im heutigen Deutschen Reich: a) Reichsstaatsrecht, b) Landesstaatsrecht. Das Reichsstaatsrecht fließt aus einer Quelle und ist ins cogens. Das Landesstaatsrecht wird aus den 25 Einzelstaaten hergeleitet. Die gemeinsamen Institute sind allgemeines Recht. Mit dem Untergange des alten Deutschen Reiches schwand übrigens das gemeine deutsche Staatsrecht an sich nicht. Seine Beseitigung erfolgte erst mit der Aufnahme des konstitutionellen Staatsrechts in die modernen Berfassungsurkunden, wodurch das öffenlliche Recht der Einzelstaaten eine neue Gestalt in Widerspruch mit den Grund sätzen des gemeinen deutschen Staatsrechts erhielt. * VIII. Staatswissenschaft. Das Staatsrecht hat es nur mit Rechtsnormen zu tun. Man kann den Staat jedoch auch von wirtschaftlicher und ethischer Seite betrachten. Die Gesamtheit dieser Zweige bilden die Staats wissenschaft. Es gehören dahin: 1. Allgemeine Staatslehre, welche Entstehung, Organismus, Zweck des Staates erforscht, 2. Politik mit ihren Unterabtellungen, Gesetzgebungs-, Berwaltungspolitik, Polizei- und Finanzwissenschaft, Wirtschafts- und Sozialpolitik, 3. Staats- und Staatengeschichte, theoretische Bolkswirtschastslehre, Forst-, Berg-, Handelswissenschaft, 4. Statistik.
§ 2.
Quellen des Staatsrechts.
Quellen sind Gesetz und Gewohnheit.* 1. Gesetz. Während Gesetz im weiteren Sinne jede Rechtsnorm ist lvgl. Art. 2 EG.BGB.), versteht man unter Gesetz int engeren Sinne den in einer Schristurkrmde formulierten, verfassungsmäßig er klärten Willen der gesetzgebenden Gewalt über Rechtsverhältnisse. (Dernburg, Pand. Bd. 1 § 23.) a) Berfassungsurkunde. Als Quelle des Staatsrechts gllt vor nehmlich die Bersassungsurkunde (sog. Staatsgrundgesetz) eines Staats, welche das Verhältnis der Regierung zu den Regierten, die Machtstellung der ersteren, die Rechtsstellung der letzteren regelt. 1 Bornhal, Grundriß des Deutschen Staatsrechts, 1907, §2 6. 11/12. 1 Bgl. Meyer-Anschütz a. a. O. § 16.
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I. Teil. Grundbegriffe des Allgemeinen Staatsrechts.
Unterschied von Verfassung und Gesetz. Die Normen der Ber fassungsurkunde sind insofern fester gefügt, wie die eines gewöhn lichen Gesetzes, als sie auch den zukünftigen Gesetzgeber binden und nicht durch einfaches Gesetz, sondern nur durch eine neue Ver fassung selbst geändert werden können. b) Statuten. Neben Gesetzen können Statuten oder auto nomische Satzungen Quelle für Staatsrecht sein. Der Staat duldet, daß öffentliche Korporationen in ihm, z. B. die Kirche, Pro vinzen, Kreise, Gemeinden, bindende Anordnungen treffen. 2. Gewohnheitsrecht. Die Gewohnheit bedarf auch zur Bildung von Staatsrecht neben dem gleichförmigen Handeln der Staats organe der opinio iuris vel necessitatis, d. h. des Willens, künftig in gleicher Lage ebenso zu handeln, in der Überzeugung einem Rechts zwange zu gehorchen.. Grund seiner Geltung ist nicht die stillschweigende Zulassung der Staatsgewalt, sondern die Volksüberzeugung (sog. Volkstheorie aus dem römischen Recht). Andere leiten die Rechtskraft der Ge wohnheit her aus der Verjährung (Verjährungstheorie), Dritte aus dem tacitus consensus legislatoris (Gestattungstheorie). Sie zeigt sich namentlich in den parlamentarischen Gepflogen heiten, die auf Präzedenzfälle zurückgehen. a) Die Kraft des Gewohnheitsrechts ist nicht unbestritten. Herrschend ist die Ansicht, daß sie selbst Bestimmungen der Ber fassungsurkunde derogieren kann. Nur Änderungen der Berfassungssorm werden auf dem Wege der Gewohnheit nicht vor sich gehen. b) Observanz. Als Unterart des Gewohnheitsrechts können Observanzen, d. h. Gepflogenheiten staatsrechtlicher Natur in öffentlichen Korporationen, die der Autonomie teilhaftig sind, vor kommen. 3. Staatsverträge. Staatsverträge zwischen einzelnen Staaten sind völkerrechtlicher Natur, daher an sich nicht Quelle des Staatsrechts. Soll ein Staatsvertrag für die Untertanen bindend sein, so muß ein besonderes Gesetz ergehen. Der Staatsvertrag selbst schafft nach innen wirkende Verbindlichkeiten noch nicht. 4. Staatsrechtliche Verträge. Etwas anderes sind staatsrecht liche Verträge, d. h. Verträge zwischen Staat und seinen Unter tanen über Hoheitsrechte. Wirtschaftliche Verträge des Staates. Schließt der Staat als Fiskus einen wirtschaftlichen Vertrag ab, so ist derselbe bürger licher Natur; andererseits sind die Verträge, die er z. B. mit der Kirche, den Ständen, oder einzelnen Personen (bei Amtsbestallung)
§ 3. DaS Wesen deS Staates.
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abschließt, nach herrschender Ansicht einseitige staatliche Alte, und darum der Ausdruck „staatsrechtlicher Bertrag" ungenau. Aus der Zeit der alten Deutschen gehören zu den Verträgen über Hoheits rechte die Wahlkapitulationen; Rezesse einer Staatsregierung mit den Standesherren, insbesondere die Rezesse zwischen Rat und Bürger schaft in den Reichsstädten.
§ 3.
Das Wesen des Staates.
1. Man hat das Wesen des Staates vom geschichtlichen, philo sophischen, theologischen, juristischen, volkswirtschaftlichen Standpunkt aus zu ergründen und darzustellen versucht und ist dabei naturgemäß zu sehr verschiedenen Ergebnissen gelangt.' 2. Der Name „Staat" entstammt übrigens der für die „Stadt staaten" der griechisch-römischen Welt verwendeten Bezeichnung JtöXtg, nohxela, res publica (gebildet aus der Bürgerschaft, der civitas).1 Im Mittelalter benutzte man in Italien den landessprachlichen Ausdruck „stato“, um den Staatsbegriff der Stadtrepubliken zu be zeichnen. Bon Italien kommt das Wort und sein Begriff nach Frankreich als estat, 6tat. In Deutschland und speziell in Preußen hat es längere Zeit ge dauert, bis sich das Wort „Staat" zur heutigen Bedeutung durch rang, und erst das allgemeine Landrecht von 1794 hat dem Worte Staat „volles Bürgerrecht in der Sprache der Gesetze gegeben" (Loening). 3. Mag man nun auch von den verschiedenen Ausgängen zu verschiedenen Erklärungen des Begriffes „Staat" gelangen, mag man chn als einen „Organismus", als „Juristische Person", als eine „geschichtliche Tatsache", als „Gemeinwesen", als „Gewaltverhältnis" oder als „Rechtsbegriff" hinstellen, so braucht man doch nicht zu der Auffassung zu gelangen, daß es einen einheitlichen Staatsbegriff in der Staatswissenschaft überhaupt nicht gebe, denn alles läuft in der Hauptsache doch darauf hinaus, daß zum Staat dreierlei gehöre: Ein Land, ein Volk und die Zusammenfassung beider unter einer höchsten Obrigkeit (Herrscher und Beherrschte).' 1 Bornhak, Grundriß des deutschen Staatsrechts § 53; Loening im Handwörterbuch Bd. 7 (II S. 694). * Bgl. zur Geschichte des Wortes „Staat" Loening im Handwörter buch Bd. 7, Art. Staat (I S. 692 ff.). * Bornhak a. a. O. S. 231/232 § 53; Loening a. a. O. S. 694 (II, 1).
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I. Teil. Grundbegriffe des Allgemeinen Staatsrechts.
Somit kann man definieren: „Staat ist das seßhafte, recht lich geordnete und dadurch zur Einheit erhobene Volk."
I. Land. a) Für einen Staat muß ein festes Landgebiet vorhanden fein. Das Volk muß bodenständig sein. Nomadenstämme mögen Rechts- und Herrfchastsverhältnisse mit sich herumtragen, mögen den Keim eines zukünftigen Staates in sich haben, ein Staat selbst find sie noch nicht. Es fehlt die Gebietskörperfchaft, die Basis der Gebietshoheit, Essentialien des Staates. Kraft seiner Gebietshoheit betätigt sich der Staat in doppelter Weife: «. Positiv, insofern alle Personen, auch Ausländer (Exterritoriale ausgenommen), und Personenvereinigungen seiner Herrschaft unter worfen finb.1 ß. Negativ, insofern andere Staaten von jeder Einwirkung auf sein Gebiet ausgeschlossen sind. Eine Ausnahme bilden die sog. Staatsservituten: natürliche, aus der Gebietsnachbarschaft folgende (Flußauf nahme), konventionelle, wenn durch völkerrechtliche Verträge besondere Herrfchaftsrechte (Festungs-, Bahnhofsanlagen) eingeräumt werden. b) Die Grenzen des Staatsgebietes find teils natürliche (offene Meere, Wüsten), teils durch Staatsverträge vereinbarte. Völkerrechtlich gelten auch die Meeresküsten auf drei Seemeilen (Kanonenschußweite: Quousque mare a terra superari potest sagt Bynkershoek) als Gebietsbestandteil. Desgleichen geschlossene Meere, Schiffe auf offener See. Unsere Schutzgebiete gelten völkerrechtlich als Inland,? die Wirk samkeit fremder Staaten auf sie ist ausgeschlossen. c) Kondominate sind Gebiete, innerhalb deren die Herrschafts rechte von mehreren ausgeübt werden? 1 Nach Meyer-Anschütz, Lehrbuch g 74, ist das Gebiet kein Objekt der Staatsherrschaft, es bestimmt nur den räumlichen Umsang derselben. Näheres über die Streitfrage in der Note 3 daselbst. 9 Die Streitfrage, ob sie auch staatsrechtlich als Inland anzusehen seien, wie Zorn gegen die herrschende Meinung behauptet, wird bei ihrer Be sprechung erörtert. 9 Die Gemeinde Moresnet z. B. (Deutschland—Belgien). Nicht der Bodensee, dieser ist aufgeteilt.
§ 3. Das Wesen des Staates.
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d) Staatsgebiet ist möglicherweise Objekt des Erwerbes wie der Veräußerung (früher auch der Belastung). Heute ist natürlich, im Gegensatz zum Patrimonialstaat des Mittel alters, der als Privateigentum des Landesherrn angesehen wurde und seiner Verfügung unterstand, stets Gesetz erforderlich. II. «o». a) Ein Volk ist die dauernde Gemeinschaft von familienweise mit einander lebenden Menschen.1 Es ist die Gesamtheit der Staatsangehörigen (Staatsvolk) ohne Rücksicht auf ethnographischen oder sprachlichen Zusammenhang, d. h. Naturvolk oder Nation. b) Mit Nation wird technisch die natürliche Gemeinschaft von Menschen bezeichnet, die verbunden sind durch gleichen Ursprung, gleiche Sprache, Religion, Gesittung und die sich als eine soziale Einheit fühlen. c) Nation ist Unterart der Rasse, die nach Hautfarben bestimmt wird. Nation gliedert sich in Stämme (Sachsen, Schwaben, Bayern): der Stamm in Geschlechter, die Geschlechter in FamUien. d) Die Nation ist nicht Staat. Nation ist ein soziologischer, Staat ist ein rechtlicher Begriff. Man unterscheidet: «. Nationalstaaten. In der Hauptsache sind hier Staats- und Naturvolk identisch (Frankreich, Spanien). ß. Staaten mit nationalen Teilen, wo viele Staaten je einen Teil der Nation enthalten (z. B. die Staaten Deutschlands). Y- Staaten mit nationalen Mischungen, z. B. Österreich. Häufig herrscht hier Nationalitätenkampf (so über Sprache int Amts verkehr usw ). Seine Basis ist das Rationalitätsprinzip, d. h. der Grundsatz, daß jede Nation berufen und fähig ist, für sich allein einen Staat zu bilden. e) Vom Volk zu scheiden ist auch die Gesellschaft. Es sind das die zahlreichen Sonderkreise, zu denen sich die Volksgenossen vereinigen, um chre Sonderinteressen vereint durchzusetzen (Zünfte, Adel). III. Staatsgewalt. A. Wesen. Das Wesen der Staatsgewalt ist ein oberstes Macht recht (imperimn). Sie duldet keine höhere Gewalt über und keine gleiche neben sich. Es ist eine rechtlich gestaltete Herrschaft, die aber doch gewisse Grenzen ausweist. Nach dem Vorgänge des französischen 1 Vgl. über den „Totemismus", Köhler in seiner Einführung, 2. Ausl., 1905, § 63.
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I. Teil. Grundbegriffe des Allgemeinen Staatsrechts.
Rechtsphilosophen Bodin (lebte unter Heinrich IV., 1576: „Six livres de la republique“) bezeichnet man diese Herrschaft als die Souveränität ( = supremitas, suprema potestas; Bodin spricht von puissance souveraine). Sie äußert sich als völkerrechtliche den anderen Staaten, als staatsrechtliche den eigenen Untertanen gegenüber. Verschiedene Aufsassungen: Die Gewalt und die Gehorsamspflicht sind göttlichen Ursprungs. Die Ausübung durch den Träger beruht auf einer göttlichen Stellvertretung. Demgegenüber läßt die Theorie der Volkssouveränität jede Gewalt ursprünglich kraft eigenen Rechts beim Volke stehen. Das Volk überträgt sie durch Vertrag. B. Objekt der Staatsgewalt sind Land (?) und Leute „quidquid
et quis est in territorio, est etiam de temtorio“. C. Subjekt. Wer Subjekt der Staatsgewalt sei, ist bestritten: a. Das rechtlich geordnete, zur Einheit erhobene Volk, d. h. der Staat selbst (Meyer). ß. Das Staatshaupt (Bornhak, Seidel). Danach hat der Staat keine Rechtspersönlichkeit: L’etat c’est moi (Louis XIV.). „Regn voluntas, suprema lex.“ Staat und Herrscher sind identische Be griffe.» D. Träger der Staatsgewalt.? Träger der Staatsgewalt ist die Person oder Personenmehrheit, welcher die Staatsgewalt als eigenes Recht zusteht. Der Begriff ist für entbehrlich erklärt. Jellinek z. B. sagt: „Träger der Staatsgewalt ist der Staat und niemand anders."' Richtiger unterscheidet Meyer: „Subjekt seiner Gewalt ist bei Staat selbst, Träger der Staatsgewalt ist das oberste Organn des Staates, z. B. der Monarch." E. Organe der Staatsgewalt sind diejenigen, durch die der Staai seinen Willen äußert. Die Organe sind nicht Vertreter, die für den Staat handeln sondern Werkzeuge, durch die er handelt. Auch diese Frage ist bestritten.14 2 *Richtig wird von Meyer bei Unterschied dahin präzisiert, daß Organe Glieder des betreffende! Gemeinwesens sein müssen, während der Vertreter dem Vertretenei als völlig fremde Persönlichkeit gegenübersteht. 1 Bornhak, Grundriß § 54 I. 2 Vgl. zu diesem umstrittenen Begriff: Meyer-Anschütz, §52 Note 6. * Jellinek, Staatslehre S. 506. 4 Vgl. Meyer-Anfchütz, Lehrbuch § 5 Note 3.
Lehrbuä
§ 3. Das Wesen des Staates.
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F. Funktionen der Staatsgewalt. Es sind insbesondere drei: 1. Der Staat gibt Gesetze, d. h. er stellt Normen auf, die von den Untertanen ein facere, non facere, pati verlangen (Legislative).** 2. Der Staat richtet, ahndet (Rechtspflege). 3. Verwaltung. Hierher gehört im Grunde alles, was nicht Gesetzgebung oder Rechtspflege ist: Exekutive. Diese drei Funktionen sind die sog. „Trias politica“ von Aristoteles (384—322). Aristoteles unterscheidet in seiner Politik:
tb ßovtevb/ievov (Gesetzgebung), xb dlxagov (Rechtsprechung), tb nsqi tag äQxdg (Amtergewalt). G. Die Lehre von der Teilung der Gewalten. a) Die mittelalterliche Staatslehre, auch soweit sie die monarchische Staatsform verteidigte, kämpfte bereits gegen die Ungebundenheit der königlichen Gewalt. Man wies nachdrücklich auf die aus der Religion, Moral und Gerechtigkeit folgenden Beschränkungen der selben hin. b) In der Theorie dieser neuen Lehre tat Locke (1689) den ersten Schritt durch die Aufstellung des Grundsatzes von der Teilung der Gewalten und der Sicherstellung der Rechte des Volkes. c) Unter seinen Nachfolgern nimmt Montesquieu (1689—1755) den ersten Platz ein, der in seinem „Esprit des Lois“ (1748) durch eine falsche Auffassung der englischen Verfassung* zu jenem Staats schematismus gelangte, dessen Grundgedanken er in der Lehre vom Gleichgewichte der drei Gewalten, der gesetzgebenden richterlichen, und ausübenden aufstellte. (Pouvoir Mgislatif; p. judiciaire; p. ex6cutif.) d) Diese Gewaltenteilung glaubte Montesquieu in England so durchgeführt, daß sie zugleich eine Mischung von drei Staatsformen, der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, enthalte. Die Exekutive solle dem Könige, die Rechtsprechung dem Volke, die Gesetzgebung einer gemischt aristokratisch-demokratischen Ver sammlung zustehen. e) Eine so systematische Trennung der Gewalten war jedoch in der englischen Verfassung keineswegs durchgeführt und ist auch kaum möglich, weil Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege keine selb» 1 übet die Streitfrage, ob ein Rechtssatz bzw. ein Gesetz eine all gemeine Regel enthalten müsse, vgl. Meyer-Anschütz, Lehrbuch § 8 Note 2. * Bgl. Loening im Handwörterbuch Bd. 7 S. 713.
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ständigen Gewalten, sondern Ausflüsse der einheitlichen Staatsgewalt sind. Die Gesetzgebung ist auch den anderen übergeordnet.* f) Bei den Römern findet sich eine Trennung der Funktionen in Imperium, jurisdictio und auspicia. Im mittelalterlichen Staate standen sich die Unterarten der Banne gegenüber: Heerbann, Ge richtsbann und Schutzgewalt (Vogtci). Im modernen konstitutionellen Staat ruht die Gesetzgebung bei Monarch und Volksvertretung; die Rechtsprechung erfolgt durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Richter, die der Monarch ernennt. Die Exekutive steht dem Monarchen zu, der sich der verantwortlichen Minister bedient. H. Rechtsgrund der Staatsgewalt. a) Mit der Existenz eines Staates ist auch zugleich eine höchste Gewalt notwendig. Die Frage nach der Berechtigung des Staates fällt daher zusammen mit der Frage nach der Berechtigung der Staats gewalt. Die Frage nach dem Rechtsgrund der Staatsgewalt könnte da gegen für sich erörtert werden, ohne die nach der Berechtigung des Staates in dem Falle, wo es sich nicht um Staatenneubildung, sondern um Verfassungsänderung eines bestehenden Staates handelt. Hier taucht alsdann die Frage nach der Legitimität oder Illegitimität der Staatsgewalt ouf.8 b) Man pflegt bei den Erörterungen über den Rechtsgrund die historischen den rationellen, d. h. naturrechtlichen Theorien gegen überzustellen. Indessen sind die Zugehörigkeitsgrenzen verwischt; so zählen einige die Theorie von der Übermacht zu den historischen, andere stellen sie als den Ausfluß naturrechtlicher Auffassung hin. et. über den historischen Theorien, d. h. denen, welche die Ent stehung des Staates und der Staatsgewalt geschichtlich zu erklären suchen, steht die theokratische. Sie ist im Mittelalter die herrschende gewesen. Der Staat ist danach eine göttliche Stiftung, die sittliche Wellordnung Gottes, eine wesentliches Stück des Weltplanes. Er sei schon vor, jedenfalls mit den Menschen geschaffen worden, nicht etwa habe sich die Menschheit aus anfänglicher Wildheit allmählich zur bürgerlichen Gesellschaft, genannt Staat, entwickelt. Die daraus hergeleiteten Ansprüche der Kirche und der Wider1 Bgl. hierzu Meyer-Anfchütz, Lehrbuch § 54, aber auch Loening im Handwörterbuch Bd. 7 S. 712 ff. * Bgl. Meyer-Anfchütz, Lehrbuch § 7.
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spruch der weltlichen Macht charakterisieren sich z. B. in der Zwei schwerterlehre des Sachsen- und des Schwabenspiegels. In Deutschland wird die Idee in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Friedr. Jul. Stahl, einem rechtsphilosophischen Staatsmann, von neuem vertreten. Stahl war Professor in Erlangen, Würzburg, später in Berlin. Sein Hauptwerk: Philosophie des Rechts, 1830 ff. Stahl trat auch besonders für eine verfassungsmäßige, aber starke Monarchie ein. Die Lehre, daß Staat und Gesellschaft überall in den ewigen Grundsätzen des Christentums ihre notwendige Grundlage habe, schwebt ziemlich in der Luft und mußte seit der Reformation anderen Auffassungen weichen. ß. Rein historische Theorien von geringerer Bedeutung waren neben der erstbesprochenen die sog. patriarchalische, sodann die patrimoniale und endlich die Theorie der Übermacht.