Praktische Theologie: Band 1 Einleitung und erstes Buch: Allgemeine Theorie des kirchlichen Lebens [2., durchgeseh. Aufl., Reprint 2022] 9783112688588


212 20 33MB

German Pages 505 [512] Year 1860

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorrede zur erften Auflage
Nachschrift bei zweiter Auflage
Inhalt
Einleitung. Begriff, Geschichte, Methode und Einteilung der praktischen Theologie
Erstes Buch. Das kirchliche Leben
Erster Abschnitt. Die Idee des kirchlichen Lebens oder der urbildliche Begriff
Erstes Hauptstück. Die Begründung der Gemeine
Zweites Hauptstück. Die Thätigkeiten, aus welchen das kirchliche Leben besteht
Drittes Hauptstück. Das Verhältniß der christlichen Gemeine zu den anderen Arten von menschlicher Gemeinschaft, welche im Natur- und Culturleben gegründet sind
Zweiter Abschnitt. Das Evangelische kirchliche Leben, und der jetzige Zeitpunct
Erstes Hauptstück. Die Grundsätze des Evangelischen kirchlichen Lebens
Zweites Hauptstück. Die bekenntnißmäßigen und die volksthümlichen Unterschiede des Evangelischen Kirchenwesens
Drittes Hauptstück. Die Spuren der Verjüngung und fortschreitenden Entwickelung des evangelischen Kirchenwesens
Recommend Papers

Praktische Theologie: Band 1 Einleitung und erstes Buch: Allgemeine Theorie des kirchlichen Lebens [2., durchgeseh. Aufl., Reprint 2022]
 9783112688588

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Praktische Theologie

Dr. Carl

Immanuel Nitzsch.

Erster Band. Einleitung und erstes Such. Allgemeine Theorie des kirchlichen Lebens.

Zweite, dnrchgeseheue Auflage.

Bonn, bei Adolph Marons.

1859.

inner GvnngetiMen PnstornlconferenL

vom 14. April 1847

dankbar gewidmet.

Vorrede zur er ft en Auflage.

Denen, welche seit manchem Jahr die Herausgabe meiner praktischen Theologie am dringendsten verlangten, vermag ich mit Veröffentlichung dieses ersten Theils Wohl noch kein unmittelbares Genüge zu thun; denn sie erwarte­ ten wohl am meisten eine noch entwickeltere Homiletik, Ka­ techetik, Liturgik, als ihnen meine Vorlesung gewährt. Hier aber erscheint fürs erste eine ideelle und historische Begrün­ dung der Theorie aller einzelnen kirchlichen Amtsthätigkeiten, also etwas, welches unter dem Titel praktischer Theologie fast gar nicht oder nur als Bestandtheil der Einleitung er­ wartet wurde, und auch in der Vorlesung früherhin nur im geringsten Umfange vorzukommen pflegte. Mögen indessen die Freunde meiner Arbeiten vertrauen, daß ich ihnen mit so ausführlicher Vorbereitung der einzelnen Theorieen nichts Ueberflüssiges biete. Ich wenigstens habe mich je länger je mehr überzeugt, daß das Leben der Zweige getrennt von diesem Stamme und dieser Wurzel zumal in unserer Zeit nicht recht gepflegt werden könne. Es wurde mir nach und nach zu einem nnabweislichen Erforderniß, bevor ich die Kunstlehren entwickelte, nrbildliche und geschicht­ liche Begriffe vom kirchlichen Leben im Ganzen aufzustellen. Doch was die Einleitung bei Gelegenheit der methodischen Frage in dieser Hinsicht ausgeführt, darf ich nicht wiederholen wollen.

VI

Vorrede zur ersten Auflage.

Einen gewissen Bemf, ein so schwieriges Werk zu unternehmen, als die praktische Theologie für unsere kirch­ liche Zeit ist, sprechen mir eigenthümliche Lebensführungen, Erfahrung und langjährige Studien zu. Ich trat sehr früh in das geistliche, fast gleichzeitig in das akademische Lehramt ein; mich leitete die Hand eines im Kirchenregiment viel­ erfahrenen und tiefdenkenden Mannes, meines Vaters, Carl Ludwig. Meine ersten Amtsjahre sielen in einen Zeitraum, 1812. 1813, der einem Seelsorger großen Reichthum an Erfahmngen und Erprobungen bot. Ein Iahrzehend hindurch habe ich als Diakon und dann als Superintendent unter lu­ therischer sächsischer Kirchenverfassung mein Amt verwaltet. Innerhalb dieses Zeitraums, 1816 — 20, wurde mir der unschätzbare Segen zu Theil, eine Prosessnr an dem so eben gestifteten Prediger-Scminarium zu Wittenberg bekleiden zu dürfen. Theils hatte ich die Aufgabe, Demosthenische und Chrysostomische Rede zu analysiren, theils eine Vorlesung über die Geschichte des kirchlichen Leb cns zu halten. Letztere nöthigte mich mehrere Jahre ganz auf das Studium der Quellen zu verwenden, und mir nament­ lich die Anschauungen von der Entstehung katholischer Formen und deren gesteigerter Entwickelung, und vom vielgestaltigen Kampfe zwischen Gesetzlichkeit und Evangelismus zu erwer­ ben, welche der gegenwärtigen Ausführung (vornehmlich §§. 29. 30. 58.) zum Grunde liegen. Darauf, 1822, in ein ganz anderes, überwiegend vom reformirten Principe getra­ genes Gebiet, in die Evangelische Kirche des Rheinlandcs, versetzt, nahm ich nach mit) nach au allen Arten des Lehr­ amtes und auf allen Stufen am dortigen Kirchenregimente,

Vorrede zur ersten Auflage.

vn

Presbyterium, Universitätspredigtamt und Pfarr-Bicariat, Kreissynode, Provinzialsynode und (Konsistorium, mitwirkend Theil, und hatte demnach reiche Gelegenheit, die Eigenthüm­ lichkeit des reformirtcn Kirchenwesens mit der lutherischen im Leben und Erfahren zu vergleichen und die dort entwe­ der ungebahnte oder ausgcführte Union von einem Moment zum andem zu begleiten. So wie ich mit Dr. Sack einer durch Statut unirtcn Facultät zugehörte, habe ich auch üt Gemeinschaft mit ihm den liturgischen Bestand der von An­ fang her unirten Gemeine begründet. Die wichtigsten Syn­ odalfragen betrafen zwei Decennien lang die Agende und die Verfassung. An beiden habe ich als Referent der Pro­ vinzialsynode und als Schriftsteller mich vielfach betheiligt. Durch jene veranlaßt hatte ich die Liturgik im Jahr 1828 zur Hälfte bereits für dm Druck ausgearbeitet, als eilt plötzlicher Antrieb mich nöthigte, das „System der christli­ chen Lehre" zu entwerfen; ohne daß ich die Muße gewinnen konnte, die angcfangene liturgische Arbeit zu vollenden, fuhr ich doch fort, sowohl als Theilnehmer an der Herausgabe der Theologischen Studien und Kritiken, später der Mo­ natsschrift für die Evangelische Kirche von Rheinland und Westphalen, wie als Docent die praktische. Theologie zu bearbeiten. Den Beweis dafür, daß ich mit den Mitarbeitem au der Sache unter den Zeitgenossen gern in Gemein­ schaft trat, glaube ich durch mein Programm von 1831: Observationes ad theologiam praclicam felicius excolendam, bereits gegeben zu haben; der Verlauf meines

wissenschaftlichen und amtlichen Lebens ließ indessen wohl nicht erwarten, daß die trefflichen Leistungen von Köster,

Hüffell, Harms und Marheineke mich der Mühe eines selbst­ ständigen Verfahrens überheben würden. Die Gründe dessel­ ben sind überdieß in der Einleitung unter den Puncten: Geschichte, Methode und Eintheilung, ausführlich entwickelt worden. Möglichst vielen Fleiß habe ich auf die Geschichte dieser Wissenschaft in ihrer lebendigen Verbindung mit der Geschichte des kirchlichen, amtlichen Geistes verwandt; um vollständige litterarische Notizen war es mir nicht zu thun. So viele gute Beiträge für die Geschichte der einzelnen praktischen Wissenschaften auch vorhanden sind, so fehlte doch im Grunde sogar noch die erste Anbahnung einer Universal­ geschichte praktischer Theologie. Mehr als eine solche Anbah­ nung wollte und konnte ich ans diese Veranlassung nicht leisten. Was das System anlangt, so glaube ich durch Unter­ scheidung des urbildlicheu, geschichtlichen und künstlerischen Begriffs, durch Kenntlichmachung der auf einander folgenden, einander ausschließenden tlnd ergänzenden Gestaltungen des kirchlichen Lebens, durch Charakteristik der Einheit und der Unterschiede des Evangelismus, und der in der Union auf­ zuhebenden Gegensätze, künftig aber durch eine so noch nicht einmal angestrebte theoretische Bearbeitung der Kirchenord­ nung , endlich dadurch förderlich zu werden, daß ich einen größer» Reichthum von concreten Bestimmungen und Ver­ hältnissen verarbeite, als von Seiten meiner Vorgänger ge­ schehen ist, welche oft zu sehr auf den Umfang einer einzelnen deutschen Landeskirche oder auf das Lutherische in Deutsch­ land sich beschränkten. Schleiermacher hat die Theorie des Kirchenregiments mit der praktischen Theologie orga-

»lisch vereinigt. Davon bin ich ausgegangen, schreite aber nun weiter bis dahin fort, daß ich den wesentlichen Stoff des positiven Kirchenrechts, soweit er sich durch dm theologi­ schen Begriff erklären und fortbilden läßt, mit aufnehme. Ich habe zu diesem Verfahren, sowie zur ganzen An­ bahnung der Erneuung des Evangelischen Kirchenthums, es sei in Wissmschaft oder im Leben, wie gering, gefahrvoll und angefochten auch noch diese Dinge erscheinen mögen, die freudigste Zuversicht. Das wird sie mir eher mehren als verkümmern, daß wir, die wir also gesinnt sind, den Progressiven auf halbem Wege stillstehend, den Conservativen wie Neuerer erscheinen. Beide Vorwürfe vereinigt bilden den Vorwurf der äußersten Nichtigkeit und Verkehrtheit, und diesen werden wir ohne Antwort aushalten. Besteht aber unsere Halbheit eben in der Ganzheit, die in der geschicht­ lichen Gesinnung liegt, welche wie die Geschichte selbst eine Regel nur anflöst, um eine höhere zu vollziehen, und im Ordnen des Kirchliche»: beide Factoren, das Persönliche und das Gemeinsame, beständig im Auge behält, so mögen die Idealisten uns in ihren Werken darthun, daß sic z»t erhal­ te»» und zr» bauen, die Realisten, daß sie, wozu sie sich doch laut bekennen, fortzuschreiten vermögen, u»»d damit werden sie uns beide besser als dlrrch leidenschaftliche Schreibereien beschämen, werden uns überführen und gänzlich gewinnen, darüber auch unter einander sich verständige»» ur»d wird Ein Friede sein. Bis dahin halten wir an unserem Wege. Berlin, den 12. Mai 1847. Der Verfasser.

Nachschrift bei zweiter Auflage. Berlin, 12. Octobcr 1859.

Während ich der Ausarbeitung der praktischen Theolo­ gie in Hinsicht der Schluß - Abtheilung noch obliege, ist es Erforderniß geworden, den ersten Band derselben: All­ gemeine Theor ie des kirchlichen Lebens wieder aufzulegen. Ich darf hierin einen Beweis dafür erkennen, daß der von mir dem Werke in Bezug auf Umfang und Begrenzung der vorausgesetzten evangelischen Bekenntniß-Ein­ heit gegebene und §. 10. bezeichnete Standpunct die Theil­ nahme , die von Seiten des theologischen Publicums ihm werden konnte, nicht bedeutend gehindert hat. Die Erwei­ terung des Blickes auf das große kirchliche Ganze und die Beschränkung desselben auf das protestantische, namentlich das deutsche, hat offenbar nicht geschadet. Es ist tröstlich, daß mindestens innerhalb der Theologie und der Litteratur, zumal der deutschen, die Gemeinschaft der Kirchen-Parteien unver­ wehrt besteht. An und für sich bedarf jede Partei, wenn sie nicht ihre eigenen Gründe verläugnen soll, daß ihr eilt evangelisches Urbild, und zwar das zeitige, zur Verwirklichung vorgehalten werde, cs gelte das wissenschaftliche Bewußtsein oder die Thätigkeiten des kirchlichen Lebens. Die feurigsten und kunstreichsten Vertreter der Prärogative des Sonderbekenntnisses sprechen sich heut zu Tage dahin aus, Nicht daß wir schon vollkommen wären, nicht daß wir das eine und andere nicht von der Schwester-Partei zu ler-

nett hätten, wir wollen es aber in unserer Art und aus unseren eigenthünllichen Bildungsprincipien hervorbringen und Erstreben. Wohlan, geschieht dieses so, daß der sonderliche Grundsatz, z. B. der lutherische, nicht dennoch wieder aus den fehlerhaften Neigungen einzelner Zeitalter der lutherischm Kirche geschöpft, daß nicht, was todt ist, zum Scheinleben erweckt, daß die Geschichte in ihrer Ganzheit zu Rathe ge­ zogen, die Mannigfaltigkeit im lutherischen Elemente selbst anerkannt und nicht die evangelische Freiheit bcnt Regressus auf katholisches geopfert wird, so, daß gemeinsamen reforma­ torischen Gedanken Raum bleibt, namentlich die großen un­ verwirklichten Ansprüche Luthers an die Zukunft nicht von Haus aus abgewiesen und verleugnet werden, so wird jeder Freund evangelischer Union Mitfreude daran haben und Glück wünschen können. Mit Uebertreibung und mit Ungerechtig­ keit sinnt mir ein Beurtheiler meines VortragS über Lavater in der Rudelbachschen Zeitschrift blindes Borurtheil gegen Fortschritte und Entwickelung auf dem Gebiete des Lutherthums an. Schon was ich im vorliegenden Werke über den jetzigen Zeitpunct und die Unterschiede der kirchlichen Lebensbildung gesagt habe, nmß mich gegen eine solche Anklage schützen, als ob ich ungeprüft das Lutherische von wahrer Entwickelung verachten und das Gute nicht behalten wollte. Was mich von den Gegnern scheidet, ist nur dieß, daß ich einmal keine Entwickelung, sondern nur Verirrung und Verwirrung in den Versuchen zu fluden vermag, welche Luthern zu Ehren ihn in das Unlutherische, das hin­ ter ihm liegt, corrigiren, wie es in Hinsicht des Kirchenund Amtsbegriffs so reichlich geschehen ist, etwa auch die in

xn

Nachschrift bei zweiter Auflage.

Luthers Lehre vorliegende Bestimmung des Verhältnisses zwi­ schen Sacrament und Heilsordnung gänzlich entstellen, wäh­ rend ich in neueren Schriften zur Erklärung der Concordien­ formel nlancherlei Fördernisse der Dogmatik spüre. Oder nur das behaupte ich, daß die ganz entschiedenen Fortbildungen und Erneuungen deutscher Theologie, selbst daun wenn nam­ hafte Anhänger des Sonderbekenntnisses die Träger dersel­ ben sind, oder wenn die Facultüten und Landeskirchen, voll denen sie ausgehen, sich lutherisch neunen, ein sonderconfessionales Angesicht gar nicht an sich tragen, vielmehr zu Leben und Erfolg mittels der evangelischen Einheit der deutschen Theologie gelangt sind. Darüber, daß die von demRationalismus, überhaupt dem einseitigen Jntellectualismus sich ab­ wendende Theologie des 19; Jahrhunderts, von der wir Alle herkonnncn, fürs erste nicht den Sonderweg eingeschlagen, ist man fast eirwerstanden. Man vergegenwärtige sich alle die Namen, welche seit der Neustiftung von Heidelberg, seit der Stiftung von Berlin, Breslau, Bonn anbahnerrd gewirkt haben, es sind reformirte nnd sind lutherische Theologen, die einander Schüler werden. Ehe die Union als Vollziehung der Kirchengemeinschaft um das Jahr 1817 in größeren und kleinererr Landeskirchen zu Staude kam, bestand sie schon als theologische in viel größerem Umfange, und der ausschließ­ liche Confessionalismus hat in keinem Gebiete des theolo­ gischen Studiums den neuen Aufschwung wesentlich gehin­ dert oder gefördert. Die Wirkung der Principienlehre Schleier­ machers hat mit der Confession nichts zu schaffen; Neander hat der Kirchenhistorie ihre Neuheit gegeben, nicht Guericke. Wir haben uns zu der Zeit mit neuer Freudigkeit in die

Nachschrift bei zweiter Auflage.

XIII

reformatorischen Bekenntnisse vertieft, und sowohl der Aus­

gangspunct dafür, als die Frucht davon ist bei weitem über­ die Stärkung

wiegend

lischen

Einheit

der drei Principien der evange­

gewesen, in

welchen schon des Augs­

burgischen Bekenntnisses W es en — s. Vorrede zum Urkun­ denbuche der Ev. Union —enthalten war. lutherische Gegensatz ist zwar erkannt,

Der calvinisch-

ja auch theologisch

verhandelt worden, allein nicht mehr wie ein Verhältniß von

wahr und falsch, sondem wie Gegensatz, oder auch wie wahr und falsch in dem Dissensus, unbeschadet des viel stärkern

evangelischen Consensus.

Hatte doch

von jeher theologische

sehr stößige Spaltung innerhalb eines jeden Sonderbekennt­

nisses stattgefunden, ohne bis zur Zerreißung des confessio-

nellen Bandes zu wirken.

Die absolute Ubiquität und die

relative Annahme und Nicht-Armahme der Concordienformel, Annahme und sensus.

Ablehnung der Formel schweizerischen Con­

Die Gemeinschaft der pfälzischen Reformation mit

melanchthonschem Lutherthum mußte daran mahnen, daß das

Bekenntniß

habe,

auf

Seiten der Theologie eine Geschichte

und daß deren verschiedene Richtung um so weniger

die religiöse Gemeine afftcire,

je mehr diese zu sittlichem

Leben komme. Erst derjenigen confessionellen Leidenschaft, die theils an incorrecter Methode der Unionsbestrebung oder an

der Ausbeutung der Union für den Rationalismus sich ent­

zündete, ist es Vorbehalten gewesm, um desto trennender auf schon bestehende Einheiten protestantischer Kirchengemeinschast zu wirkm, über den Lehrgegensatz der beiden Bekenntnisse bis

dahin irre zu reden, daß die Eigenthümlichkeit des reformirten in Spiritualismus, Subjectivismus, vornehmlich

in ant im y ster i sch eni Christenthum bestehen soll. Der­ gleichen Urtheile sind verspätete. Jetzt ist die Kenntniß von den Thatsachen und die Einsicht in die Quellen so weit vor­ bereitet , daß man wohl weiß, das sei ein Verdienst der ganzen Reformation, starken Protest wider dieGeisterei, die sich gleichzeitig regte, und mit Erfolg eingelegt zu haben. Man darf hinzufiigcn, die schweizerische Reformation hat frither und mit größerer Energie gegen jenes Uebel gekämpft. Die Ergreifung solcher Stichworte ist gefährlich. Sie sind im vorliegenden Fall ohngefähr ebenso gültig, wie wenn ehedem Dr. Krause iu Königsberg in der Lehre der Con­ cordienformel über die Gnaden-Wahl Rationalismus fand. Ein rechter Spiritualismus wird schon die geschicht­ liche gottmenschlichc Wirksamkeit des Erlösers durch eine selbst­ ständige Wirksamkeit des h. Geistes zurückdrängen, und das Verbum externum ebenso wie die Sacramente überhaupt beeinträchtigen, oder doch die Sacramente nur ein verbum visibile, endlich nur gesellschaftlichen Ritus bleiben lassen. Derselbe kann nicht die Auferstehung des Leibes, nicht ein­ mal die leibliche Auferstehung und Himmelfahrt des Herm unbezweifelt, viel weniger die räumliche Einschränkung des Christus, der zur Rechten Gottes sitzt, gelten lassen. Wel­ ches von jenen Momenten des Spiritualismus hat wohl Calvins Lehre reälisirt? Es würde nicht eben schwer hal­ ten , den ganzen Vorwurf aus die Ankläger zu retorquiren. Denn vor der Hand und aufs erste kommt es doch darauf an, daß das Wesen des sich verallgegenwärtigenden Leibes Christi an sich nicht durch ubiquetische Vergöttlichung vernichtigt werde, und wenn die reformirte Einschränkung des himmli-

xv

Nachschrift bei zweiter Auslage. schm Christus in den Himmel, wie Dr. Weiße sagt,

den

zu viel thut,

geschichtlichen menschlichen Christus zu retten

so ist, wie derselbe Gelehrte behauptet, die lutherische Ein­ seitigkeit

nur

in Gefahr,

einen idealen Christus übrig zu

lassen.

Mit dem Vorwurf des Subjectivismus ist es nicht

besser.

Den Schluß, du kannst Christum nur durch den

Glauben genießen, also macht dein Glaube das Sacrament, kann

nur

eine

ebmso wie:

wildgewordene

Logik machen.

wäre

Es

Nur durch den Glauben wirst du gerecht ge­

schätzt, also wirkt dein Glaube die Gerechtigkeit. virt sich aber das Object gar nicht,

Subjecti-

was Christi ist oder

Christus ist, gar nicht durch den h. Geist, so nützt es mir

nicht, oder ich kann nicht verstehen,

wie der Empfang als

solcher mir nützm oder schaden soll. Doch ist hier kein Raum, weiter auszuführen,

wie beide Sacranientslehren in

dem,

wo sie über die einfache Mystik des Apostels 1 Cor. 10, 16 hinausgehen,

einseitig

werdm,

wie jedoch beide trotz deni

Dissens einen Consensus behaupten, der für die Genieinschaft der Sacramentsfeier ausrcicht.

Was die lutherische Confes-

sion von der Nießmig der Ungläubigen außerdem,

sich zum Gericht essen,

sagt, ist in ihrer

daß sie

eigenen Mitte

noch niemals weder klar und erbaulich vorgetragen, noch ein­

erklärt wordm,

hellig

worden.

nachdem Erklärungsversuche gemacht

Es bleibt bloße Folge-Ziehung.

Ich habe dieser meiner Ueberzeugung nach nichts von

dem zurückzunehmen, was im letzten Hauptstück über die evan­ gelische

und

Einheit und Bereinigung

diese Ausfühmng

nicht abhalten

oder jene

ausgeführt

worden ist;

Ueberzmgung hat

mich

können, bei den besonderen Abhandlungen

XVI

Nachschrift bei zweiter Auflage.

(Band II. u. III.) über kirchliche Rede, den Unterricht, die Feier, die Seelsorge, den zweifachen confessionellen Be­ stand, soweit er wirklich und rechtlich ein geschichtlich zwie­ facher ist und bleibt, ins Auge zu fassen, und jedem nach Vermögen gerecht und nutzbar zu werdeu; so gewiß es mir auch bleibt, im Ganzen kann, was die deutsche Kirche be­ trifft, auch nur ein mrverwandter Blick auf das gemein­ evangelische uns in Theorie und Praxis fördem. Ich mag auf irgend welchem Puncte des kirchlichen Lebens mir denken, daß eine noch iu sich abgeschlossene Gemeinschaft lu­ therischen oder reformirten Bekenntnisses in Allem Ernst ihrer Mängel und Erkenntnisse sich entledigen, und doch so viel wie möglich sie selber bleiben wollte, immer wird sie, im Blick auf Geschichte, auf Gegenwart und auf apostolisches Urbild, keine anderen Erfolge als solche erlangen, welche mit­ ten in der Confession etwas von Union vollziehen. Bald ist es diese bald jene Aneignung des andern, bald eine Be­ reicherung durch Zulassung des bisher ausgeschlossenen, wodurch mindestens veranlassungsweise ein Fortschritt in Verfassung, in Liturgie, im Gesänge, in der Beichte oder Disciplin für beide Seiten erzielt wird. Dennoch müßte ich, wenn schon dergleichen Fortschreiten tut evangelischen Kirchenthum vor der Hand nicht weiter in Aussicht stände, auf meinem Wege ver­ harren, um denen theologische Pflicht zu halten, welche zeither anerkannt und bewußtvoll auf den Gmnd der evange­ lischen Einheit gebaut habe». Mich, ich bekenne es von Neuem, erhebt mtd tröstet der Hinblick auf die westliche Preußische Landeskirche, auf die Badische, auf die Pfälzische; sie stehen in einem alten unb neuen Rechte werdender evan-

xvn

Nachschrift bei zweiter Auflage.

gelischer Vereinigung und haben das Zeugniß eines einsichts­ vollen und segeusreicheil Gebrauchs desselben für sich.

Daß

sie gleicherweise von der Linken wie von der Rechten angefeiydet und unterbrochen, oder verlassen und verrathen Wochen, be­

Nicht weniger erhebt

stätigt ihre Sache in nuiiieit Augen.

niich die über »iciite Tage hinausgehende evangelische Zukunft,

wo kein irrendes confessionelles Interesse dem jetzigen Verlaufe mehr in den Weg treten wich, ein Verlauf, der auf evangelische

kirchliche Liederbücher wahrhaft berechtigter Auswahl mrd Re­ daction, auf UeberwindlMg des Mistigen Geschmackes für Mo-

dernes und Altes, auf organisirte

und reiche Entwickelung

der liturgischen biblischen Vorlesung,

auf eine Verfassuug

der Gemeine und der Gemeinde-Verbände, welche nicht mehr durch jede Staatsveränderung miterschüttert werden kqnv, auf

ächt evangelische Disciplin, eine solche, wie sie alle Refor-

matoren gedacht haben, und ditf eine endliche Erfüllung der im 16. Jahrhundert schon angeregten Erfordernisse in so

vielen Angelegmheiten hingeht.

Gewiß entnehmen wir aus

der Geschichte, daß nur eine Epoche der Noth und der Kmft eine solche Emeuung

aus dem Ganzen erwirken kann, aber

das geschichtliche Gesetz der Epochen und Perioden ist die Vorbereitmlg der einen durch die andern. Daß

gerade in unserm Tagen sich der evangelischen

liturgischen Entwicklung der Grundsatz: kenntniß

muß

das lutherische Be-

im Cultus, zumal im Abendmahls-Ritus

mehr als jemals voll ausgeprägt werdm — entgegentritt, daß die schon lange mit Schuld belastete Rede,

wir haben

keine Leute dazu, wie gut es auch wäre und Noth, Collegien von Aeltesten zu besitzen, N t tz s ch . prakt. Theologie.

oder gar die unverständige und

I. Bd. 2te Aufl.

*

XVIII

Nachschrift bei zweiter Auflage.

unchristliche Warnung vor Demokratie einer überall sich auf­ dringenden Erstrebung geordneter Aeußerungsrechte den Er. folg abzuschneiden droht; daß der Pastoralismus von neuem

die Amtsordnung in die Heilsordnung hinüber

zu spielen

wagen darf, daß der Begriff der reinen Lehre gar nicht mehr in dem

mächtigen

Sinn der Reformation,

sondern

nach

Maßgabe eines ewigen Bekenntnißabschlusses gehandhabt wer­

den will, und daß die damit umgehen,

Confessio« fortzubilden und zu ergänzen,

im Vorgeben,

die

ihr ins Angesicht

schlagen und den articulus principalis wo möglich vom Throne zu stoßen versuchen — dergleichen Erscheinungen kündigen

allerdings nichts als Verfall und Verderben an.

Doch ver­

trauen wir, der Aufenthalt, den sie verschulden, wird dadurch, daß die Besonnenen sich desto mehr besinnen und ermannen,

und alle fromme evangelische Herzen sich solcher neuernden

Lust am Alten mehr und mehr verschließen, zu Gewinn und

Förderung gereichen. Dazu

nicht enffchließen können,

habe ich mich

Haupteintheilung des Werkes

fen;

auch nicht

Vorrede

eines

zu verändem oder umzuwer­

auf die Rüge derselbm,

welche in der

schätzbaren Lehrbuchs für Prakt. Theol. von

Professor Dr. Moll in

Dieser

die

Theolog nimmt

Halle

sich

ausgesprochen findet.

den Titel der Ausführungen

ersten Bandes: Allgemeine

Theorie

des

des kirchli­

chen Lebens, in Anspruch. Darin stimmt mir, nicht allein

vermuthlich,

sondem mit der

That Herr Dr. Moll bei,

daß wenn die im" vorigen Zeitalter dieser Wissenschaft mehr oder minder

in

Einzelheiten

auseinanderfallende

praktische

Theologie organisirt werden soll, von der Einheit des kirch-

lichen Lebens Ausgang zu nehmen ist. Wenn er nun diese gmndlegende Betrachtung Physiologie zu nennen für gut achtet, so kann ich freilich dem mich gar nicht anschließen. Mit der Physis hat das kirchliche Leben am allerwenigsten zu schaffen, wenn auch mit dem Ethos sehr viel. Vielleicht wäre der Name Phänomenologie zulässiger. Was mich betrifft, so habe ich in der Einleitung eine dreifache Be­ handlungsart unterschieden, die empirische (z. B. Deyling), die technische (Schleiermacher) und die begriffliche (Marheineke). Da ich die nur verhältnißmäßige Berechtigung einer jeden erkannte, gedachte ich eine Zeitlang, diese drei Me­ thoden in einer trilogischen vereinigt dadurch zu verwirklichen, daß der ideelle, der geschichtliche und der künstleri­ sche Begriff vom kirchlichen Leben entwickelt würde. Ge­ wissermaßen ist dasselbe von mir geschehen. Denn meine zweite Haupt-Ausfühmng bezeichnet sich als die Darstellung des jetzigen Zeitpunctes, welcher freilich nur durch Erkenntniß der principiellen Unterschiede des kirchlichen Ausübens erst selbst verstanden und zugleich von der ersten Abhandlung (von dem urbildlichen kirchl. Leben) kritisirt und fortgebildet werden kann. Allein die Kunstlehre, so als das dritte angesehen, oder der unmittelbar leitende Gedanke der kirchlichen Functionen als die Vollendung der Wissen­ schaft von der kirchlichen Praxis, hatte doch nothwendig diese und keine anderen Voraussetzungen als 1) die Idee, 2) die bisherige Verwirklichung derselben. Deshalb zog ich endlich die Dichotomie: 1. Buch. Allgemeine Theorie des kirchlichen Lebens, und 2. das kirchliche Verfahren oder die Kunstlehren vor. Daß auch die praktische Theologie theore-

XX

Nachschrift bei zweiter Auflage.

tisch fei, und daß die Praxis als Einheit und GaUzes be­ trachtet werden müsse, wird schwerlich zu beanstanden feilt. Nur scheint etwa der Abschnitt: der heutige Zustand und die Unterschiede am kirchlichen Leben ■— etwas geschicht­ liches , nicht etwas theoretisches zu feilt? dagegen bemerke ich, daß es wesentlich zur Theorie der Praxis gehört, nach Maßgabe des Urbildes der christlichen Kirche zu erkennen, was evangelisches oder gesetzliches fei, und wie katholisches oder protestantisches zu dem einen oder anderen sich verhalte. In jeder folgenden Sonder - Disciplin wiederholt sich dann Idee und kritische Geschichte, es sei der Rede, des Un­ terrichts oder der Kirchenördnung, in der Besondemng. Ganze Stücke umzuarbeiten habe ich bei der Durch­ sicht mich nicht veranlaßt gesunden. Die Berichtigungen oder Zusätze, welche statt gesunden, sind von der Erheblichkeit nicht, daß ich sie auszuweisen hätte.

v. Nitzsch.

Inhalt.

Einleitung.

I. Begriff d er praktischen Theologie.

§. 1.

Encyclopädische Bestimmung. S. 1. — §. 2. Der Gegenstand. S. 12.

— §. 3. Das Subject der kirchlichen Thätigkeit. S. 14. — §. 4. Der

natürliche Klerus. S. 16. — §. 5. Der positive Klerus. Das Amt. S. 18. — §. 6. Die Einheit der Aemter. S. 20. — §. 7. Amtliche Befähi­ gung , geistliche und wissenschaftliche. S. 25. — §. 8. Nothwendigkeit

und Selbstständigkeit der praktischen Theologie. S. 28. — §. 9. Die

Aufgabe. S. 30. — §. 10. Der bekenntnißmäßige und der volksthümliche Standpunct. S. 32. Geschichte der praktischen Theologie.

II.

1. Substan­

zielle Erscheinung oder biblische Begründung.

Im A. und N. Testament. S. 37. nungen.

§.11.

2. Elementarische Erschei­

§. 12. a. innerhalb der kirchlichen Gesetzgebung und Verord­

nung. S. 41. — §. 13. b. innerhalb der bischöflichen Briefe und theo­ logischen Gutachten. S.44. 3. Ansätze zur Wissenschaft. — §.14.

a. nach dem GestchtSpuncte der Seelsorge und des Lehramtes. S. 46. — §. 15.

b. nach dem Gesichtspuncte des Spenders der Sacramente

und des Liturgen. S. 51.

durch

den

4. Herstellung der Hirtenamtslehre

evangelischen

Begriff

von Amt

und Kirche

und Ausbildung einer vollständigen P astor al th eol og i e. §. 16. Erneuerung des Wissens vom Wesen des Amtes. S. 56. — §. 17. Die elementarische Pastoraltheologie. S. 71. — §. 18. Systematisirte Pastoral. S. 75. — §. 19. Theilnahme der katholischen Theo­

logie an dieser Entwickelung. S. 87.

5. Organisirung der prak-

XXII

Inhalt.

tischcn Theologie durch die Begriffe" der Theologie und der Kirche.

§. 20. Innerhalb der theologischen Encyclopädie. Schleier­

macher und die folgenden. S. 96. — §. 21. Andere fortschreitende Ver­ suche, die Organisation zu vervollkommnen. S. 106. — §. 22.

Erstes

Beispiel eines methodisch ausgeführten Systems. Marheineke. S. 113.

III. logie.

Methode und Eintheilung der praktischen Theo­

§. 23. Verhältnißmäßiger Unterschied. S. 117. — §. 24. Die

empirische Methode. S. 119. — §. 25. Die Methode des Begriffs, oder die logische. S. 120. — §.26. Die technische Methode. S. 121. — §.27.

Die Eintheilung. S. 122.

Erstes Buch. Das

kirchliche

Leben.

Erster Abschnitt.

Die Idee des kirchlichen Lebens oder der urbildliche Begriff. Erstes Hauptstück.

Die Begründung der Gemeine.

§. 28.

Religion und religiöse Gemeinschaft. S. 130. — §. 29. Christenthum und Kirche. S. 136. — §. 30. Die Grundbestandtheile des kirchlichen Lebens. S. 153. — §.31. Das gesellige Element. S. 166. — §. 32.

Die formlose Gemeinschaft und

die gestaltete Gemeine. S. 171.



§. 33. Die Gemeine und das Amt. S. 174. — §. 34. Die Einzelge­

meine und der kirchliche Verband. S. 175. — §. 35. Der Kanon und die Gemeinde-Gewalt. S. 180. — §.36. Die Gemeine in der Gemeine.

S. 184. — §. 37. Separation und Union. S. 188. — §. 38. Tradi­

tion und Reformation. S. 191. Zweites H au ptstück.

Die Thätigkeiten,

kirchliche Leben besteht.

aus welchen das

§. 39. Die Einheit. S. 194.

— §. 40.

Der Unterschied. S. 198. — §.41. Die Lehre. S. 203. — §. 42. Die

Feier. S. 208.

— §. 43. Eigenthümliche Seelenpflege. S. 215. —

§. 44. Die Zucht. S. 221. —

§. 45. Die Haushaltung. S. 233. —

§. 46. Die Regierung. S. 239. Drittes Haup tstück.

D as Verhältniß der christlichen Ge­

meine zu den anderen Arten von menschlicher Gemein­ schaft, welche im Natur- und Culturleben g egründet sind.

xxm

Inhalt. 47. Grund des Verhältnisses;

Möglichkeit eines gegenseitigen Verhal­

tens. S.» 253. — §. 48. Allgemeine Bestimmungen. S. 260.

Verhältniß zum Staate. S. 264. —

— §. 49.

§. 50. Verhältniß zu anderen Re­

ligionsgemeinschaften. S. 272. — §. 51. Verhältniß zur Familie. S. 276.

— §. 52. Verhältniß zur Wissenschaft, deren Werkstätten und Organen.

S. 286.



§. 53. Der Widerstreit zwischen Kirche und Wissenschaft.

S. 293.



§. 54. Die Lösung desselben. S. 297. — §. 55. Verhält­

niß zur Kunst. S. 303. — §. 56. Verhältniß zu den sogenannten mate­

riellen Interessen; zur Arbeit, zu Spiel und Lustbarkeit. S. 328.

Zweiter Abschnitt. Das evangelische kirchliche Leben, und der jetzige Zeitpunct. Erstes Hauptstück.

Die Grundsätze des evangelischen kirch­

lichen Lebens. §. 57. Einheit und Selbigkeit des christlichen Kirchen­

wesens. S. 336. —

§. 58. Verschiedene Arten des christlichen Kirchen-

thums. Hauptunterschied: gesetzliches und evangelisches. S. 339. — §. 59.

Die protestantisch - katholischen Principien des evangelischen Kirchenthums. S. 365.

I. Die Protest antisch en Grundsätze der

Kirche.

§. 60. Protest gegen Hierarchie. S. 368.

evangelischen —

§. 61. Protest

wider die Paradose. S. 369. — §. 62. — §. 66. Protest gegen Hierur-

gie. S. 370. — §. 67. Protest gegen den Monachismus. S. 373. II.

Die katholischen Grundsätze der evangelischen

Kirche.

§. 68. Behauptung einer Einigen, allgemeinen christlichen Kirche,

welche seit den Aposteln allezeit war und sein wird. S. 375. — §. 69.

Die Behauptung einer aus

dem Grunde der h. Schrift stattfindenden

katholischen Entwickelung und Ueberlieferung der christlichen Lehre. S. 376.

— §. 70. Behauptung der unentbehrlichen Vermittelung der Heilslehre und der Gnade des h. Geistes durch das äußere Wort. S 377. —

§. 71.

Behauptung des dauernden und unveräußerlichen Gebrauches der

Saeramente, aber auch Zulassung der Taufe unmündiger Kinder. S. 378.

— §. 72. Behauptete Nothwendigkeit einer evangelischen Kirchen-Ordnung. S. 381.

— §. 73. Behauptete Christlichkeit und Göttlichkeit der häus­

lichen und weltlichen Stände, der Ehe, Obrigkeit, Schule. S. 383.

Zweites Hauptstück.

Die bekenntnißmäßigen und die volks-

thümlichen Unterschiede des evangelischen Kirchenwesens

XXIV

Inhalt.

§. 74. Unterschiede im Allgemeinen. S. 385. — §. 75. — §. 78.

Lehrwesens. S. 409.

schied in Ansehung des

Unter­

— §. 79. In Ansehung

des Cultus im Allgemeinen. S. 416. — §. 80. In Ansehung der einzel­

nen Cultus-Elemente. S. 420. — §. 81. Unterschiede in Ansehung der sacramentlichen Handlungen. S. 425. —

§. 82. In Ansehung anderer

Cultus-Handlungen. S. 429. — §. 83. In Hinsicht der eigenthümlichen Seelsorge. S. 432.

— §. 84. In Ansehung der Sitte und Disciplin.

S. 432. — §. 85. In Ansehung der Haushaltung. S. 438. — §. 86. — §.87. In Ansehung deö Kirchenregimentes und der Verfassung. S. 439.

DrittesHauptstück.

sens.

Die Spuren der Verjüngung und fort­ evangelischen Kirchenwe­

Entwickelung des

schreitenden

Nachweisung und Begründung

§. 88.

Allgemeinen. S. 446.

solcher Erscheinungen im

— §. 89. Erstes Moment. Vertiefung der Theo­

logie in ihren Lebensgrund und Verinnigung der christlichen Gemeinschaft

auf diesem Grunde. S. 451. — §. 90. Zweites Moment.

christlicher Erkenntniß und evangelischen Gemeindelebens', des seelsorgerischen Amtes. Aeußere nnd innere Mission.

S. 460.



§.91.

Theile vermöge

Drittes Moment.

Entwickelung Vereinswesen.

Wiedervereinigung getrennter

theologischer und religiöser Vertiefung in den Grund

Christi zu gemeinsamem S. 471.

Ausbreitung

Fortschritte.

Die positive

evangelische Union.

Einleitung. Begriff, Geschichte, Methode und Einteilung der

praktischen Theologie.

I. Begriff. §. 1.

Encyklopädische Bestimmung.

Durch Theologie gelangt die Kirche zu einem wissenschaftli-

chen Selbstbewußtsein.

Sie verständigt sich über die Gründe und

Principien ihres Daseins, über ihr Zeitverhältniß und ihren Lehr­

inhalt. Dieses wissenschaftliche Wissen ist nun zwar, unbeschadet seiner Selbstständigkeit, ein Wissen um des Handelns willen und hat in allen seinen Theilen die weitere Selbstbethätigung der Kirche im Auge, nur ist es noch kein Wissen vom kirchlichen Handeln selbst. Demnach vollendet sich die kirchliche Wissenschaft durch Theorie der kirchlichen Ausübung des Christen­

thums und wird so zu einer praktischen Theologie.

1. Der erst durch Schleiermachers kurze Darstellung des theologischen Studiums befestigte Ausdruck und Begriff: praktische Theologie, ist zunächst nach zwei Seiten hin gegen Mißbrauch zu

verwahren. Einmal hat man darunter eine irgendwie geordnete Vorrathskümmer für-den Gebrauch des kirchlichen Lehrers, eine soge­ nannte praktische, wohl gar populäre Dogmatik, das andre Mal die Moral, auch die Ascetik verstanden. Im ersten Falle wird am Begriffe der Theologie das Moment der Wissenschaft verletzt, und

eine unwahre sich selbst widersprechende Vermittlung zwischen der und unmittelbaren Form der Darstellung des

wissenschaftlichen

Nitz sch, prakt. Theologie.

I. Bd. 2te Aufl.

J

2

Einleitung. I. Begriff. §. 1. Eucyclop. Bestimmung.

christlichen Lehrstoffs versucht; ein Versuch,

der an sich nur in

krankhaften Zuständen der Kirche und Theologie oder in bloß sub-

jectivcn Absichten, zeitlichen Bedürfnissen der Lehrsubjecte Erklärung

findet;

denn

wirklich vorzügliche und dem Lehramte ersprießliche

Entwicklungen des homiletischen oder katechetischcn Stoffes werden entweder auf Systematik ganz verzichten, oder im Gegentheil nur

Vorbildungen und Bereicherungen der homiletisch-katechetischen To-

pik hergeben, folglich nur einem Capitel des didaktischen Theiles

der praktischen Theologie zur Ausstattung dienen*).

Im andern

Falle (Lampe: theologia activa; Döderlein, Storr: theologiae pars theoretiea, practica) scheint angenommen zn Werden,

daß sich die Organisation des theologischen Wissens innerhalb der di d akti sch en Theologie vollenden solle, und die theoretische außer

der Dogmatik

keinen Inhalt habe.

Wäre dem so, dann würde

allerdings der lctztern keine andere praktische, als die Ethik entgegen stehen können, und der Wissenschaft, welche die christliche Hand­

lungsweise zum Gegenstände hat,

käme jener Name um

so

eher zu, da die Zusammenstellung von %ar« und von credcnda und agenda eine hergebrachte ist.

Nun aber hat

sich dennoch der Name Ethik erhalten, und das schon deshalb, weil

das Praktische noch in einem andern Sinne Gegenstand des kirch­ lichen Wissens werden mußte.

haupt soll der Unterschied

In welchem aber?

Und wie über­

von theoretisch und praktisch auf Theo­

logie angewandt werden dürfen, wenn vom Unterschiede der Dog­

matik und Ethik noch nicht oder nicht mehr die Rede ist? hat zum Begriffe der praktischen Theologie neuerdings

wägung

Man

durch Er­

des Verhältnisses von Glauben und Wissen

gelan­

gen wollen — Schweizer: Ueber den Begriff und die Eintheilung der praktischen Theologie. Leipzig 1836 — gleich als ob das

relative Uebergewicht des einen oder andern dem Subjecte der theo­ retischen oder praktischen Theologie eigen wäre.

Allein jenes Ver­

hältniß führt eben nur dem Begriffe der Theologie entgegen, und das Uebergewicht des einen oder andern bezeichnet allenfalls den verschiedenen Standort des akademischen und des klerikalischen Theo-

*) In diesem Sinne ist innerhalb der Homiletik z. B. von Palmer, ehedem von Peter Miller, vonGaupp; innerhalb der Katechetik ebenfalls von Palmer, Hirfcher, Kraussold u. A. praktische Dogmatik d. h. Topik des Lehrstoffs ausgeführt worden.

Einleitung. I. Begriff. §. 1. Encyclop. Bestimmung. logen in dem Momente der Ausübung ihres Lehramtes,

3

den Un­

terschied aber, der jetzt in Rede stehet, gehet es nicht im mindesten

an. Vgl. Sack: Theol. Sind. u. Krit. 1839. S. 571. Seitdem Schlei er macher darauf hingcwiesen hat,

die Theologie, zwar

noch im Praktischen theoretisch, sei schon im Theoretischen praktisch,

haben Viele, auch diejenigen, die seiner dialektischen Methode namens der speculativen Theologie entgcgentrctcn,

und eben deshalb eine

andere Organisation der Theologie anstreben, doch int Allgemeinen

mit ihm und unter einander in Uebereinstimmung, was nun das

Praktische insbesondere sei, befriedigend dargethan. Mar­ tz eineke: Prakt. Theol. Eint.

Pelt: Theol. Encyclop. S. 560.

Liebner: Die prakt. Theol. in Theol. Stud. u. Kr. 1843. 3. Und dennoch nur die letzteren befriedigend, theils weil sie die verschie­

denen Richtungen,

in welchen das Christenthum Gegenstand der

Wissenschaft wird, genauer unterscheiden, theils weil sie das Be­ theologischen Wissenschaft weniger in das Allgemeine

sondre der

der Religionswissenschaft

zurückgehen

lassen.

Denn der

nannte Gelehrte hat sich bei dieser Gelegenheit zu

erstge­

ausschließlich

mit der Vertheidigung des logisch - speculativen Standpunctes und

mit dem allgemeinen Verhältnisse von Wissm und Handeln, dem­ nächst mit der Kritik sogenannter äußerlichen und wissenschaftswi­

drigen Bestimmungm Schleiermachers zu einseitig beschäftigt, als daß er hätte fraglichen

am Ende eine

treffende und runde Definition der

theologischen Wissenschaft

„Nach diesem Allen,"

zu Stande

heißt es §. 27,

bringen

können.

„ist nun der Begriff der

„praktischen Theologie dahin zu bestimmen:

daß sie die Wissm-

„schaft sei, welche den Zweck hat, mittelst des Begriffs aller „seiner Functionen den evangelischen Geistlichen in Stand zu „setzen, daß er eine seiner Bestimmung angemessene Wirksam-

„keit in seinem Amt auszuüben vermöge." senschaftlichen Werke schlechterdings

Müßten die wis­

nach dem Werthe der aufge­

stellten Erklärung ihres Begriffs gewürdigt werdm, so stände es

im vorliegenden Falle um eine in der That vortreffliche und ver­

dienstvolle Leistung sehr übel.

Pelt spricht mit der Bemerkung,

daß diese Definition zu weit und zu eng gleicher Weise sei, noch nicht alles Verfehlte aus. Ist das überhaupt eine Wissenschaft, die

nur einen Zweck, aber keinen Gegenstand hat, und wenn sie denn

doch

einen Gegenstand bekommt, nämlich den Begriff aller Funk­

tionen eines

evangelischen Geistlichen, alle die Dinge vorausgesetzt

4

Einleitung. I. Begriff. §. 1. Encyclop. Bestimmung.

wissen will, ohne deren gewußte Einheit und gewußten Zusammen­ hang der evangelische Geistliche gleich einem Deus ex machina hervortritt und einsam da steht? Die vorausgchcnde Einleitung hat sich unersprießlicher Weise an Bestimmungen Schleiermachers cbgemuhct, um dessen dialektische Methode zu bekämpfen, die doch, wenn cs von Wirkung und Bedeutung sein soll, im Gan­ zen und in ihrem Grunde bekämpft werden nmß, wozu nicht hier sondern nur in der encyclopädischcn Theologie hinreichende Veranlassuua gegeben sein kann. Gerade aber vermöge der meisterhaften Durchführung des dialektischen Verfahrens hat Schleiermacher auf jedem Gebiete, wo er gewaltet, unendlich mehr Seiten, Beziehun­ gen und Verhältnisse am gegebnen Gegenstände wahrgencnimen und den Theoretikern wie den Praktikern zu bedenken gegeben, als irgend ein spcculativcr Theolog bisher verarbeiten konnte oder ver­ arbeitet hat. Schlechterdings nur von dem Wissen ausgchcn, wel­ ches die Möglichkeit des Handelns sei, ist einseitiges Verfahren. Die Idee des Handelns hat mindestens eine verhältnißmäßige Selbstständigkeit. Die Einheit ist das Leben. Das Leben des Glaubens ist freilich ein wissendes, aber daß es vor dem Dasein der Wissenschaft nicht zum Handeln käme, ist nicht bewiesen. Sondern im Gegentheil ist ebenso durch die Natur der Sache wie durch die Geschichte bewiesen, daß das Interesse — ein von Schleier­ macher gebrauchtes, von Marheineke*) gewaltsam gemißdeutetes Wort — das Interesse des kirchlichen Handelns die wissenschaftlichen Kräfte und Thätigkeiten behufs seines besonnenen Vorschreitens in Anspruch nimmt. So unbillig cs wäre, das genießende Erkennen**), von welchem bei Marhcineke die Rede ist, ins Selbstsüchtige zu deuten, so thöricht ist cs, das religiöse oder kirchliche Interesse Schleier­ machers auf gemeine Nützlichkeit zu ziehen. Ist die Religion überhaupt nicht nur Idee, sondern auch Thatsache, und das Chri­ stenthum die vollendete Thatsächlichkeit der Religion, so muß sie auch Kirche werden, und nur aus diesem Grunde kann sich ein selbstständiges Dasein und ein wirklicher Organismus der Theo­ logie ergeben. Hat nun Schlcicrmacher den Weg zur Anerkennung des Positiven zwar angebahnt, aber nicht vollendet, und andrer­ seits den Rückweg des thatsächlichen in das zu erfüllende und be­ stimmende ideelle Wissen nicht genommen, so kann dieser Mangel *) S. 15.

**) S. 8.

Einleitung. I. Begriff. §. 1. Encyclop. Bestimmung. von Seiten

5

derer nicht verbessert werden, die überhaupt von der

Selbstständigkeit der Thatsache nichts wissen,

in der Einseitigkeit

des a priori beharren und statt eine principielle Theologie anzuer­

kennen, die speculative als die erste, ja als die einzige setzen. Doch was derartige Einreden gegen die Stellung, die Schleiermacher der

Theologie gegeben, angehet, so sind sie längst vorgesehn und erle­ digt.

S. Sack: Vorlesung zum Gedächtnisse Schleiermachers: wie

sich in ihm das theologische und das kirchliche Interesse zu ein­

ander verhalten.

2.

Theol. Stud. u. Krit. 1835. 4.

Wir haben schon

sonst behauptet,

die ganze Theologie

sei scientia ad praxin, und vollende sich doch nur als scientia

praxeos *). Aeltere Theologen und zwar scholastische**) wollten sich

sogar den Begriff einer theoretischen Theologie gar nicht gefallen lassen, weil, wie sie freilich irriger Weise vorgaben, dann'das tendcre ad

praxin, ein Gesetz der ganzen Theologie, theilweise wegfallen würde.

Was nun daran wahr sei, wird sich erkennen lassen, wir mögen vom Objecte oder

vom Subjecte der Theologie ausgehen.

Ist die christliche Religion als Gegenstand der Wissenschaft gesetzt,

so sind vier aus einander führende und in einander greifende wis­ senschaftliche Fragen unterscheidbar:

seinem Wesen nach?

wickelt? Denkart,

Was

ist das

Christenthum

Wie hat es sich in der Zeit bis hierher ent­

Wie bestimmt es sich als Inhalt des Bewußtseins, als Welt- und Lebensansichten?

als

Und wie vermittelt es

sich endlich oder was ist es als Darstellung und Ausübung? Prin­

cip, Historie, Doctrin, Ritus.

Schon die gewöhnlichen Eintheilun-

gen des Religionsbegriffs führen gerade auf diese Mannigfaltigkeit

von Fragen. Ist Christenthum Religion, Religion aber die Bestim­ mung der menschlichen Bestimmungen, weil Gottverehrung, Gott­

gemeinschaft:

so folgt von selbst,

daß sie sich von anderen Denk­

arten unterscheide, sich in Zeit und Raum ausbreite, sich als Denk-

*) Observv. ad theol. pract. felicius excolendam. Bonnae , 1831. p. 5. — Aliud est agentem et ministrantem in ecclesia idonea ad iudioandum praesentem statum faoultate — praemunire, aliud ipsos agendi modos tradere et ministrandi artes. Ueoereinstimmend Deyling, Institt. prud. pastor. 'Introd. p. 2. — non ratione Jinis, sic enim omnis theologia est practica — sed ratione öbiecti, quod sunt ia 7iqaxiat res muneris sacri etc. **) Ge. Neumanni Theol. aphoristica. Aphor. XLL

6

Einleitung. I. Begriff. §. 1. Encyclop. Bestimmung.

art des Menschen aussühre, und sich behufs der Mittheilung dar­ stelle. In jeder zwar von jenen Fragen ist die ganze Frage in ge­ wisser Beziehung enthalten, und jede gelangt mit zu den übrigen; be­ stehen sie alle, so ist die principielle durchaus die erste, und die volle Nothwendigkeit von allen liegt in der letzten. Kann ich wissenschaft­ lich eine Erscheinung nicht erkennen, ohne sie als Besondres im Allge­ meinen, und das Allgemeine in dieser Besonderung zu erkennen, so muß ich schlechterdings, um das Christenthum zu verstehen, es im Lichte der Idee und der Geschichte der Religion zu verstehen suchen; das setzt aber wieder voraus, daß ich die zufälligen Erscheinungen des Christenthums auf sein Wesen zurückgcführt habe. Diese Untersuchung ist noch keineswegs die systematische der Dogmatik oder Ethik, deren Voraussetzung sie freilich abgiebt, weshalb man sie auch bei man­ gelhafter Ausbildung der Theologie in Prolegomenen der Dogmatik ausführt, oder im bessern Falle mit Pelt, dem neuesten Encyclopädiker, als besondern, ersten Theil der systematischen auftreten läßt. Dieselbe Frage ist auch weder bloß speculativ, noch bloß hi­ storisch, sondern beides, eines im andern; aber die völlige Nöthigung zur principiellen oder fundamentalen Christenthnmswissenschaft geht immer zugleich von der Kirche und dem Glauben aus, durch den und in dem sie ist, oder vielmehr allein von diesen Ursachen. Denn die Kirche muß die Gründe ihrer ganzen Thätigkeit erkennen, der bekennende und lehrende Glaube muß sich von dem Argwohne, daß er dasselbe sei, was er bekämpft, nämlich Aberglauben oder Un­ glaube, befreien, und vor der sittlichen und wissenschaftlichen Idee rechtfertigen; die Kirche muß ihre eignen Erscheinungen kritisiren, und ebenso wie es geschehn ist, apologetische und polemische also principielle Theologie erzeugen, oder ihre anfänglich unmittelbaren Selbstvertheidigungen und Selbstberichtigungen zur Methode aus­ führen: dem rein theoretischen Standpuncte kommt als solchem der Dinge keines zu. Sein Anfang ist die Idee überhaupt; ob die reli­ giöse Vorstellung für ihn als ewiger Inhalt, ob Religion als Wirk­ lichkeit, als Persönlichkeit, als Offenbarung, als Kirche bestehen wird, ist auch dann noch zweifelhaft, wenn er schon eine Philosophie des Christenthums angestrebt oder hervorgebracht hat. Aus dem Zwecke des Wissens läßt sich allerdings die Absicht, das Christenthum ge­ schichtlich und begrifflich zu verstehen, ableiten; nur nicht der Zweck eines besonnenen und kräftigen christlich-kirchlichen Handelns. Denn dieser geht lediglich aus den Beweggründen des christlich-kirchlichen

Einleitung. I. Begriff. §. 1. Encyclop. Bestimmung. Sinnes mit Nothwendigkeit hervor.

7

Die Kirche die sich selbst be­

thätigen will, muß sich über den Grund und Inhalt ihres Glau­ den Zeitpunct und die Methode ihres Thuns verstän­

bens,

über

digen;

denn keine dieser Untersuchungen ist erläßlich, sobald das

wissenschaftliche Selbstbewußtsein der Kirche unerläßlich erscheint. Muß sie ihre Principien erkenllen und vertheidigen, um zu handeln,

so erkennt sie hiemit zugleich die Principien aller Theile ihrer Wis­ senschaft. Aus der Idee der Offenbarung entwickelt sich die Idee des

Kanons, also Grund und Ziel und Inhalt der evangelischen Theo­ logie ; der Träger der Offenbarungsthat ist Ehristus selbst, das Dog­

ma der Dogmen, dessen Entwicklung eine systematische Wissenschaft fordert; derselbe Zeitpunct aber, in welchein die Kirche sich durch

Lehre anbilden und durch Sacrament zueignen,

als Gemeine be­

gründen oder erhalten will, ist nicht zu verstehen außer seinem ge­ schichtlichen Zusammenhänge mit der Urerscheinung der Kirche, und

nicht zu würdigen, ohne daß theils ein wirklicher Kanon da, und die Idee der Kirche durch principielle Vergleichung dieser Art von reli­

giöser Gemeinschaft mit andern Arten gewonnen sei.

Wir richten

uns im kirchlichen Handeln nach dem dogmatisch-ethischen, nach dem geschichtlichen, nach dem principiellen Begriffe von der Kirche; in­ dem wir in allen diesen Richtungen den Gegenstand erforschen, fallen

wir zwar überall den wissenschaftlichen Gesetzen anheim und müssen

Exegese in Einheit mit aller Philologie, Kirchengcschichte in Einheit mit der ganzen Religionö-

und Culturgcschichte,

Dogmatik und

Ethik in Einheit mit der allgeincincn Bernunftwissenschaft setzen: allein nicht nur bestimmen sich Umfang, Art und Zusammenhang

unsrer Untersuchungen nach den Motiven und Aufgaben deö kirch­ lichen Lebens, sondern wir erkennen auch in allen jenen Beziehun­

gen kraft

der gläubigen Erfahrung

und der christlich - kirchlichen

Wichtigkeit ein solches Bcrhültniß zwischen der Idee und der That­ sache an, in welchem jene durch diese Bestimmungen empfängt, und darin besteht der positive Charakter und Standpunct der christlichen Theologie, welcher durch den praktischen sich vermittelt. Sowie nun

das Ganze derselben in allen Zweigen sich findet, da alle theo­ logischen Wissenschaften verhältnißmäßig apologetisch-polemisch, alle geschichtlich, alle systematisch sind, so sind sie auch sämmtlich prak­

tisch und positiv,

obwohl theoretisch und rationell.

einen großen Unterschied macht,

Nur daß es

daß der eine Theil durch die Be­

ziehung auf das Handeln, der andre durch das Handeln als Gegen-

Einleitung. I. Begriff. §. 1. Encyclop. Bestimmung.

8

stand praktisch ist. Gleichwie die Philosophie diejenigen Wissenschaf­

ten vorzugsweise praktisch nennt, welche, obwohl Theorieen nämlich der öffentlichen Rede, des Unterichts, der Erziehung, der Staats­

verwaltung, eine Methodik des Handelns enthalten, und das Han­ deln nicht so sehr nach sittlichem als nach künstlerischem Gesichts­ puncte zu betrachten haben: so die Theologie.

3.

Wir kommen

zu

demselben Resultate,

nämlich zu dem

allgemeinen und besondern Praktischen an der Theologie,

wir auf

eben diesen Namen und Begriff:

wenn

Theologie, also

Dieser Name drückt zu allen Zeiten

auf das Subject reflectiren.

ein höheres Wissen ans.

Zuerst ein höheres Wissen von der

Gottheit als Mythologie ist, und ein höheres Wissen von dem Objekt überhaupt als Physik ist.

Hier nun liegt das höhere im Gegen­

ständlichen; Gott ist höheres als Götter, und ist mehr als Chaos,

Natur, Atom u. s. w.

Von dem höchsten Gegenstände weiß man

aber nur durch ihn und aus ihm; demnach sind die Ausleger z. B. des Ausspruchs des Gottes in Delphi, oder mit Ueberttagung aus

das jüdisch-christliche,

testamentische Gebiet, Moses und David

Theologen, sofern sie aus Offenbarung Gottes von Gott reden

und lehren.

Dieß ist der Sprachgebrauch des Alterthums, den die

Kirchenväter theilen.

Auf dem Gebiete des Christenthums aber

(als des höhern Wissens dem Mythus und der Philosophie des Heidenthums gegenüber, oder als des offenbarungsmäßigen Wis­ sens) ließ sich aufs Neue ein gemeines und höheres unterscheiden.

Zwar ist die wahre Wissenschaft gläubig, sagt Clemens von Ale­ xandrien, und

der Glaube wissenschaftlich — aber als Wissen ist

doch der Glaube nur unentwickelt, nur elemcntarisch, nur Möglich­ keit, und gegen die Gnosis gehalten eine geringere Stufe. Aller­

dings ist diese Gnosis, die höhere Erkenntniß der göttlichen Dinge (ein Begriff,

durch welchen sich das ganze nächstvorchristliche und

ältestchristliche Alterthum über gion erhebt),

die empirische und positive Reli­

wissenschaftliches Forschen, Speculation, aber

noch nicht im mittelalterlichen oder gar modernen Sinne. Sondern der Logos Gottes, der seine Gedanken durch seine theologischen Or­

gane, die Propheten und Apostel, in den heiligen Urkunden nieder­ gelegt hat, regt durch dieselben vermöge der vielen Räthsel, Bilder,

Widersprüche, die in der Schrift enthalten sind,

die Leser und

Ausleger zur Forschung an und schließt den geeigneten und

empfänglichen unter ihnen den tiefern objectiven Inhalt auf.

Einleitung. I. Begriff. §. 1. Encyclop. Bestimmung.

9

Diese wahrhaftigen Gnostiker oder Theosophen sind es nämlich durch

Gottes Liebe und durch ascetische Reinigung und Entsinnlichung.

Der reine Begriff der Wissenschaft (der Theologie in diesem Sinne)

ist durch Gnosis nicht ausgcdrückt; weshalb auch der Standpunct

der Alexandriner der Phantasie läßt,

während

und Bilderei weiten Spielraum

allerdings diese Gottwisscnschaft des Logos ihren

Inhalt sammt der Mannigfaltigkeit ihrer Zwecke schon auseinander zu legen und einzutheilen weiß. dung

Ein Beispiel giebt die Unterschei­

und Zusammenfassung der Wirkungen des Logos, als des

ab- und anziehenden, des in göttlicher Einheit von Strenge und Milde

erziehenden,

endlich

und

vollerleuchtenden und

aneigncndcn, Protreptik, Pädagogik, Gnostik, eine von Clemens er­ zielte Organisation der Theologie, die durch die treffliche Darstel­

lung von Kling*) ihr volles Licht erhalten hat. Nun möchte

man aber sagen, gerade diese Theologie, die christliche alexandrini­ sche Gnosis, habe weder unmittelbar noch mittelbar eine Richtung

auf die Kirche und das kirchliche Handeln genommen, und in der That wird hier zunächst nur das höhere Wissen als ein Medium der höhern Lebensform oder

als eine Steigerung des gemeinen

Wissens angestrebt. Erst wenn sich, wie dieß durch den Verfasser der sogenannten Werke des Dionysius vom Areopag geschah, die Gnosis nach dem Vorbilde philonischer Auffassung des Judenthums und

neuplatonischer

Beachtung

der

morgenländischen und griechischen

Mysterien

zu einer Theorie der H i e r a r ch i c u n d L i t u r g i e

gestaltete,

kam etwas von idealer Kirchenlcitung und Amtsführung,

eine christliche Priestcrkuust zum Vorschein. Indessen setzte sich dieß nicht fort;

diese Schriften hatten eine ganz andre erst im Mittel­

alter sich entwickelnde Bestimmung, sie behielten in den Augen der

abendländischen Leiter den Charakter des Fremdartigen, am wenig­ sten gaben sie ein bildendes Princip der praktischen Wissenschaften

seit ihrem Bekanntwerden ab. Und so scheint es an dem Gedanken einer kirchlichen Wissenschaft in ihrer praktischen Bedeutung den­ noch da, wo von Theologie die Rede ist, gänzlich zu fehlen.

Denn

weder der Begriff, den die scholastische oder die mystische des Mit­

telalters von sich selber bewußter und ausdrücklicher Weise giebt,

noch der Standort der älteren lutherischen oder reformirten Thco-

*) Theol. Studien und Krit. 1841. 4. „Die BedeuNmg des alexandrin. Clemens für die Entstehung der Theologie."

10

Einleitung. I. Begriff. §. 1. Encyclop. Bestimmung.

logte zeigt das, was wir suchen, an. gesuchte Wissenschaft,

Zwar an die vom Glauben

an Stufen und Methoden des

christlichen

Erkennens denkt man und quält sich mit der Frage, ob Theologie Scienz oder Sapienz, ob sie rein oder theilweise praktisch, ob prak­ allein im ersten Falle ist der reine und

tisch und theoretisch sei:

selbstständige Begriff der Wissenschaft als einer denkthätigen Ber-

niittlung nicht zu Stand und Wesen gekommen;

im andern ist

das praktische nur darin gefunden, daß es sich um die Seligkeit, um Bekehrung, und die Liebe Gottes in aller Dogmatik und bei

allem Lehren und Hören handle, da hingegen der Zweck einer Theo­ rie ganz im Erkennen

beruhe.

sei auch die Dogmatik durch

In dieser Hinsicht, sagt man,

und durch praktisch,

und nicht nur

die Lehre von den agendis. In der ganzen Reihe von Joh. Ger­

hard bis Wilh. Baier oder Franz Budde nicht zu Tage*).

komint etwas anderes

Trotz diesem beständigen Behaupten des Prak­

tischen an der Theologie bleibt sie da rein intellectualistisch; so sehr,

daß auch

der Standpunct des systematischen und des homiletischen

Lehrers nicht nach G r u n d, Inhalt und Zweck, sondern nach dem modus tradendi unterschieden wird; es ist eben überall nur vom Lehren

die Rede, und gelangt man bei der Eintheilung des Gan­

zen dann noch z. B. zu einer Theologia ecclesiastica, auch con-

sistorialis,

so ist diese Bestimmung neben den andern:

cateche-

tica, acroamatica, polemica etc. innerhalb des Begriffs noch gar nicht vorbereitet oder begründet.

Die Späteren, Budde, Mosheim,

ja schon Ealixt, kommen allerdings der Sache etwas näher, wenn

sie z. B. von der Wissenschaft reden, welche zum Lehramt ge­ schickt macht, wobei sie jedoch eben nur an explicare, confirmare, defendere salutaria dogmata denken. Noch Planck **)

verliert sich ganz wieder in das Ungenügende: Anweisung zum se­ ligen Leben, oder zur Belehrung über das Heil, gleich als ob es sich um den Zweck der Predigt oder gar nur um den Inhalt reli­

giöser Erkenntniß, handelte. perius***)

Die reformirten Methodologen

H Y-

und Alstcdt f) spielen dagegen einigermaßen der

*) Besonders hervorzuheben ist die Erörterung des Begriffs: Theologie bei Calov: Isagoge ad theol. libri IL a. 1666. **) Grundriß der theol. Encycl. §. 8. ***) De theologo p. 14 und 561 sq. t) Methodus S. Theologiae: praecognita VI. Homo (= obiectum

Einleitung. I. Begriff. §. 1. Encyclop. Bestimmung.

11

Idee der kirchlichen Wissenschaft oder dem praktischen Momente

vor, welches Schleiermacher mit völliger Klarheit und Be­ stimmtheit der Theologie zugesprochen hat. Wenn wir aber von der bewußten wörtlichen Definition absehen, und auf die That, sowie auf die Titel und Anstalten in der Kirche sehen, so läßt sich nicht zweifeln, daß der schleicrmachersche Begriff von jeher gegolten hat und vollzogen worden ist. Richt nur sind seit dem vierten Jahrhundert diejenigen theologischen Disciplinen, welche ohne Erfor­

derniß der Kirchcnleitung gar nicht denkbar waren, wie die Priester­

lehre des Chrysostomus, die Pastoral Gregors d. Gr. u. dgl. also die im Praktischen theoretischen Disciplinen wirklich ausgetreten: sondern auch die andern, die wir vorzugweise theoretisch nennen, haben darin ihren Grund und Anfang genommen, daß z. B. des Augustinus Buch von der „christlichen Lehre" die Information des geistlichen Redners erst durch die Schriftgelehrsamkeit und Auslegungskunst vorzubereiten sich gedrungen fand, daß dem Gregor von Ryssa, der kirchlichen Bekehrungs- und UeberfUhrungspflicht wegen, die Dar­ stellung der christlichen Dogmen zur höhern Katechetik wurde, oder daß Origmes zu seiner Zeit und an seinem Orte einen methodi­ schen Bibelgebrauch in der Kirche möglich machen wollte. Den Hie­ ronymus finden wir aus dein berühmten Bilde eines venetianischen Meisters zwischen dem Ambrosius rind Augustin dargestellt, wie er mit dem Finger in das vom Papst vorgehaltene heilige Buch zeigt; er erscheint als theologischer Beistand des Kirchenregimentes, und heißt vor andern doctor ecclcsiae. Augustin stiftet, nachdem ihm Basilius und Gregor von Nazian; darin vorangegangen, biblisch­ wissenschaftliche Studien des Klerus. Er äußert in der oben ange­ zeigten Schrift, wie die Rhetorik als Waffe wider die Wahrheit gebraucht worden, sollte sic nun für dieselbe gebraucht werden. Was zu keiner Zeit des Mittelalters ganz außer Acht gelassen worden, wird endlich kraft eines lateraneusischen Decretes allge­ meingültige Beranstaltung, daß die bischöfliche oder doch erzbischöf­

liche Pflanzschule des Klerus, einen Theologus habe, der in der

heiligen Schrift und in der Seelsorge unterweise. Zu der­ selben Zeit erhebt sich im Abendlande die Schule zu einer öffent­ lichen Macht und gehört zu den Factoren des Kirchenregiments.

aedificabile) partieulariter consideratus est Christianus in ecclesia docens. Hine prophetica et oeconomico-politica theologia.

Einleitung. I. Begriff. §. 2. Gegenstand.

12

Die Namen doctor,

licentiatus

täten bezeichnen bis hiehcr

ad biblia, theologische Facul-

dasselbe Verhältniß,

und wenn man

auch nur erwägen will, was Luther bei allen Gelegenheiten, wo er zur Erhaltung und Erneuerung der Schulanstalten treibt, als den hauptsächlichsten Beweggrund anführt,

daß sich das Evangelium

ohne Grammatik nicht halten lasse, so wird es sich von selbst ver­

stehn, daß die Reformation nicht minder sondern mehr als die Vor­

zeit auf ein praktisches Moment der Gottesgelahrtheit, nämlich auf das Erforderniß nicht nur eines Gelehrtseins aus Gott und durch

also eines höheren Wissens in dieser Bedeutung, vielmehr

Gott,

auch eines Hähern Wissens im natürlichen und menschlichen Sinne ausgieng, welches als ein wissenschaftliches und amtliches zur Er­

haltung der Kirche wirke.

§. 2. Sowie

das

Der Gegenstand.

Reich Gottes

sich in Christus zur Kirche und

durch dieselbe vermittelt, vermittelt sich das christliche Leben zum

kirchlichen und durch dasselbe.

Die kirchliche Ausübung ist diejenige,

welche sich der christliche Glaube als Gemeinschaft in und

durch

an der Menschenwelt bethätigt, oder die christliche Gemeine

als

solche theils begründet, theils vervollkommnet wird, also ein Inbe­

griff von Thätigkeiten, welche mtf Ueberlieferung und Verbreitung,

Zueignung und Anbildung des Christenthums gerichtet sind.

1.

Die kirchliche Praxis muß siä) von der Ausübung des

Christenthumes im Allgemeinen als Besonderes unterscheiden lassen.

Trennen zwar läßt sie sich von der sittlichen nicht.

Reich Gottes

und Kirche sind nur relativ verschieden; weshalb sie auch leicht in fehlerhafter Weise vereinerleiet werden. Das Reich Gottes ist Gott­ gemeinschaft der Menschen, göttliches Menschenleben durch Christus

vermittelt,

also auch Brüderschaft und Familie durch

göttliche

Kindschaft. Wird nun die Wahrheit des Reiches Gottes zur Wirk­ lichkeit, so wird sie es zunächst in demselben Sinne und Umfange, in

welchem cs nach dem ersten Momente des protestantischen Be­

griffs

eine

einige und

allgemeine christliche Kirche,

nämlich die

Gemeinschaft der Heiligen, der Gläubigen giebt.

Diese

Gläubigen werden an allen Orten und zu allen Zeiten, wo sie

sind, nach dem Maaße des Glaubens und der Liebe das in ihnen

Einleitung. I. Begriff. §. 2. Gegenstand.

13

ist, in dem 'ganzen Zusammenhänge der menschheitlichen DaseinSVerhältnisse das Christenthum leben oder es im Leben auswir­ ken, demzufolge cs auch äußern, darstcllen, bekennen, lehren, kurz in jeder Weise ausüben, und dazu nicht allein,

auch wo sie sich

nicht persönlich berühren, durch Einen Geist getrieben und gestimmt

sein, sondern auch nach dem Umfange und der Mannigfaltigkeit persönlicher Berührung sich

vereinigen und einander veranlassen,

dergestalt/, daß sie im Zusammenhänge des christlich-sittlichen Han­ delns bereits schon kirchlich handeln.

2.

Indessen hat der evangelische Kirchenbegriff noch ein an­

dres Moment an sich: äußere Kennzeichen, wesentliche Merk­

male, Predigt und Sacrament; und dieses weiset nicht bloß auf die dem verwirklichten Reiche Gottes gleiche Kirche,

Mittel Gottes,

der Verwirklichung,

sondern auch auf

mithin auf das Werden des Reiches

auf das Sich selbst vermitteln desselben im Individuum

und in der Gemeine hin. Die Gemeine Christi, die im Werden ist,

erneuert sich selbst in denen noch, die mit dem Gnadengeiste getauft sind , kraft der ihr verliehenen Geist- und Gnadenmittel; sie besteht

nur-kraft der Wirkungen, durch welche sie entstanden ist; und das nicht nur, sie umfaßt auch schon infolge ihrer Selbstvermittlung in

Zeit und Raum eine nicht vollkommen unterscheidbare Menge der Berufenen,

Erweckten, Ungezogenen gleichsam in ihren Vorhöfen;

woraus sich der bestimmtere Begriff der Kirche und des kirchlichen

Lebens, und damit der Unterschied der Kirche vom Reiche Gottes ergicbt.

Vermöge dieses Unterschiedes ist und bleibt das kirchliche

Leben ein Moment des christlichen,

sowie die Kirche Product des

Verwirklichungsproeesses des göttlichen Reiches;

und doch wieder

wird das kirchliche Leben ein den Fortschritt und die Vervollkomm­ nung des christlichen und sittlichen bedingendes Leben.

Das Reich

Gottes hat in dieser Welt keine andre Pforte des Eingangs und

Zugangs als die Kirche selbst, in welcher es sich verwirklicht, und keinen andern Weg als die wesentliche Selbstbewegung und Selbstbe­ thätigung der christlichen Gemeine. Demnach ist die kirchliche Aus­

übung eine Uebung im Christenthume und zum Christenthume, welche sich als eine besondere von der sittlichen unterscheidet; und hiedurch

befestigt sich zugleich der Unterschied der praktischen und der Moral-

Theologie.

2.

Ist nun die Einheit unsres Gegenstandes als kirchliche

Ausübung der christlichen Religion zu bezeichnen, so wird das darin

14

Einleitung. I. Begriff. §. 3. Subject.

enthaltene Mannigfaltige doch alles in Selbstbethätigung der Kir­

che Christi innerhalb des endlichen Weltgcbietcs

bestehen, es sei

nun, daß sie sich selbst in Einheit und Unterschied des Aeußern und Innern und unter Wechselbeziehung zwischen der Gesammtheit und

den Einzelnen begründe,

oder

ans dem Grunde ihres Daseins

bewahre, reinige, vervollkommne; es sei, daß sie zu dem Zwecke sich

in

den Zustand des Empfangens vom Herrn versetze und in

dieser Richtung auf den Grund und Quell ihres Lebens sich bethä­ tige,

das empfangene theils in der Richtung auf sich selbst

oder

theils in der Richtung

eigne und anbildc,

auf die Welt überliefere,

mitthcilend an­

oder aber den Umfang und die Art dieses sel­

bigen Thuns von Neuem bestimme. Was unter diesen Kategorieen

nicht irgendwie begriffen wäre, könnte auch nicht Inhalt des kirch­

lichen Lebens sein. Wirklich aber ist alles was Christus selbst als kirchliches Handeln seiner Jünger z. B. Matth. 18. vorgesehen hat, und

alles was die

erste Gemeine z. B. Apostelg. 2, 42.

thut,

oder all ihr Handeln, worauf die Berordnungen und Berichtigun­ gen und Anleitungen eines Paulus z. B. 1 Cor. 14. sich beziehen,

jede Handlung der versammelten Gemeine, jede Verkündigung des göttlichen Wortes, die missionarische wie die liturgische Predigt,

jede sacramentliche Zueignung,

jeder Act der

Seclenpflege oder

Sittenrüge, den das Amt leistet, jede Ausübung des gemeinsamen Gebetes in denselben enthalten. §. 3.

Das Subject der kirchlichen Thätigkeit.

Das Subject dieser kirchlichen Ausübung des Christenthums

ist der ersten Potenz nach weder der einzelne Christ als solcher noch der Kleriker, sondern eben die Kirche, oder die zuerst und im

Allgemeinen

nur von Christi Stiftung und Amt abhängige Ge­

meine in der Selbigkcit und Allheit ihrer Mitglieder, es sei daß

sie in dem protensiven Existentwerden oder in extensiver Einheit ge­ dacht werde,

es sei daß sie versammlungsweise und allseitig oder

gegenseitig oder einseitig und durch Individuen handle.

Die Kirche des Gesetzes bringt das Verhältniß von Obrig­

keit und Unterthan, von Kleriker und Laien mit auf die Welt. Die Kirche in der Kirche ist nach diesem Begriffe der Klerus, weshalb

15

Einleitung. I. Begriff. §. 3. Subjett.

auch die katholische Lehre zu Matth. 18, 17. bemerkt: ris exx^ata

d. h. den praepositis *). Die Kirche des Evangeliums denkt sich anders; die christliche Kirche ist zuerst und im allgemeinen ein sa-

cerdotium

1 Petr. 2, 9. ;

aequale

wie denn auch das Wort

Klerus**) ursprünglich dasselbe bedeutet wasEkklesia 1 Petr. 5, 3.

Diese Gemeine,

diese Kirche hat feinen Anfang

in Willkür und

Zufall, ist nicht eigenmächtig, denn sie ist durch Christus und sein

durch Christi Geist im Wort, sie ist als gläubige

Wort,

gesetzt,

aber hiemit empfängt und hegt sie auch in sich alle Potenzen ihrer

Selbstbewegung und Ausübung.

Sowie ein jeder Apostel, Bischof,

Theolog fürs erste Jünger des Herrn, Christianus, Gläubiger sein

muß, ehe er dieses Besondre sein kann, so ist in dem Gläubigen,

oder dem Christen als solchen der Missionar, der Prediger, Täufer,

der Liturg

der

u. s. w. nach der ersten Fähigkeit mit ge­

setzt***). Unter Umständen treten die sogenannten Laien vollgültig als Lehrer, Hirten, als Spender des Sacraments in Function.

Doch dieß nicht nur,

cs läßt sich

keinem Puncte richtig

verstehen

auch das kirchliche Thun in

oder beginnen,

ohne daß es in

jedem Werkzeuge der Einsamkeit entsage. Der Christ nach dem bloß sittlichen Gesichtspuncte

Thuns

möglicher Weise

betrachtet, erreicht die Vollendung seines auch

außer der Gemeine und ohne sie.

Das kirchliche Mitglied als solches nie; also auch dann nicht, wann es als Werkzeug für viele Cinpfangende, wann es homiletisch, ka-

*) Catech. Rom. P. I. cap. X. qu. IX. Interdum etiam ecclesiae no­ mine eins praesides ac pastores significantur. Si te non audierit, inquit Christus, die ecclesiae, quo in loco praepositi eccle­ siae designantur. **) Mqd’ (Ls xaTaxvQitvovits tujv x q cov. Luther: als 'wolltet ihr über das Volk herrschen. Stier: über die Sprengel. Stolz: über

die Gemeinen (Gemeinde-Mitglieder).

setznng ist die richtigere.

Letztre Ueber-

Wie Plautus populi für Bürger, Einwoh­

ner sagt, wie das N. T. SSvn für Ovixol, u/Io» für so ist auch hier der Plural der Allheit für Menschen aus der Gemeine, eigentlich für Menschen aus dem Laienstande genommen, wenn man

dem geschichtlich spätern Sprachgebrauche vorgreifen darf. ***) Ein Satz, den niemand vollständiger, anschaulicher und schriftmäßiger

ausgeführt hat als Luther: Sendschr. wie man Kirchendiener wäh-

len rc. Th. 10. (Walch) S. 1835.

Im Auszug bei Gessert, das

Ev. Predigtamt nach Luthers Anfichten S. 35—47.

Einleitung. I. Begriff. §. 4. Natürl. Klerus.

16

techetisch, liturgisch oder wie immer thätig wird.

Bald wird durch

den Einzelnen die frühere Kirche, bald die größere und allgemeinere

für die beschränktere, bald der Wille des Empfangms selbst, der Wille der kirchlichen Anerkennung thätig, fort- und vollwirkend. Mit einem Worte, der Begriff des amtlichen Thuns kann sich nur

durch den Begriff des kirchlichen Thuns begründen und aus ihm

entwickeln. §. 4.

Eine wirkliche ein Sich

selbst

Vorordnung,

Der natürliche Klerus.

lebendige Gemeine kommt aber niemals ohne

unterscheiden,

ohne vcrhültnißmäßige Nach- und

Vertretung und Gegenseitigkeit der Mitglieder zum

gemeinsamen Handeln.

Einmal deshalb nicht,

weil die Fähigkeit,

nämlich theils die Lebendigkeit des Gcmeinwillens, theils die beson­ dre Gabe für besondre Verrichtungen nicht in allen Einzelgliedern eine gleiche sein wird, dann deswegen, weil die Gemeine weder in

der Richtung ihres Wirkens

auf sich selbst, noch

in dem Wirken

nach Außen besondrer und besonders begabter Werkzeuge des

Gemeingcistes entbehren kann.

Demnach

giebt es ebenso vermöge

einer unmittelbaren Begabung und Lcbensmitthcilung aus der Quelle der Natur und Gnade, als vermöge eines unmittelbaren Lebensge­

setzes des menschlichen Gemeinwesens einen der christlichen Gemeine eingebornen, natürlichen Klerus.

Atome und Einerleiheiten haben kein Gemeinleben, sich kein volles Leben.

ja schon für

Der Geist, der sie belebt und vereinigt, setzt

sie in den Unterschied der Macht und des Bedürfnisses, obgleich er ihnen allen Macht und Bedürfniß giebt. Die gleiche Liebe und das

Emleben Aller

besteht

nur

durch Ungleichheit und Abhängigkeit.

Ebenso die Bethätigung derselben. Nur durch Einheit in einem Hö­

her«, in einem Haupte sind viele Glieder Ein Leib; die Verrichtun­ gen des Auges, Ohres, der Hand, des Fußes sind alle gleich noth­

wendig, eine aber wie z. B. die des Auges (Luc. 11, 34. Ezech.

33, 2. 7.) eine vorgezogne, leitende, und doch je geringer die Glie­ der sind, desto fleißiger müssen sie bedacht werden; dadurch gleicht sich der Unterschied nicht allein der Art, sondern auch des Grades aus.

Röm. 12, 3. 4. 1 Cor. 12, 14—24.

Heranziehende und Herangezogene,

Es giebt in jeder Gemeine

obgleich sie alle Heilige heißen

Einleitung. I. Begriff. §. 4. Natürl. Klerus.

17

Ephes. 4,13. Je unwesentlicher ein Gemeinwesen für den Zweck der

Menschheit ist, wie irgend eine Gesellschaft, desto weniger Un­ gleichheit pflegt sie an sich zu haben; je wesentlicher, wie Familie

und Staat, desto mehr. Und doch auch, was jene anlangt, wächst

aus der Natur des Nereincs eine

Eintheilung und Abstufung der

Verrichtungen und Fähigkeiten hervor. Deshalb nun, weil zugegeben werden muß, die christliche Gemeine wachse nicht aus der Substanz

der Familie oder des Staates uiib Volkes hervor, sondern aus dem von Gott neu befruchteten mcnschhcitlichcn Stoffe und nehme ihre

Gestalt im Elemente der freien Geselligkeit an, kann noch nicht behauptet werden,

sie lasse desto weniger Organisation zu.

Es folgt bloß, daß die kirchlichen Einrichtungen und Verfassungen anders geartet sein werden,

nämlich daß in der Kirche sich das

Freie und Ethische des Verhältnisses nicht erst aus dem Grunde

und Boden der äußern N o t h w e n d i g k c i t entwickeln, vielmehr selbst

den tragenden Grund der ganzen Anordnung und Unterordnung ab­

geben soll. Daher so vielfältiges Bitten und Beschwören, das Band des Friedens zu halten, Ephes. 4,3; die Eintracht uni Christi willen

zu Pflegen, Phil. 2, 1—4; sich allseitig einer dem andern zu fügen, 1 Petr. 5, 5, und gegen die Alten und die Lehrer Folgsamkeit zu beweisen, Hebr. 13,17. 1 Cor. 16, 17.

des Glaubens und

Maaß

aus, Röm. 12, 3,

Nicht nur theilt sich das

der Erkenntniß

des Heiles verschieden

christlichste Gemeine wird am

und die freieste,

ehesten die Aristokratie des Geistes *) gewähren lassen, zumal diese wiederum nur Dienerin des Ganzen,

Gehülfin, nicht Herrscherin

im eigenen Sinne sein will und soll, Luc. 22, 26. 1 Petr. 5, 3;

es

giebt auch vermöge des Verhältnisses der geistigen Naturanla-

gcn,

an

welche sich geistliche Talente knüpfen mögen,

durch die

Gnade und Gabe des Herrn eine Mannigfaltigkeit von Berufun­

gen, Erwählungen, Begabungen, dem in

die von solcher Art ist, daß sie

der Gemeine gesetzten Bedürfnisse, sich zu bethätigen und

durch eigne Organe zu wirken, irgendwie entspricht. Vorzüglich gilt

dieses von den Gaben und Verrichtungen der Lehre und des Zeug­ nisses, Ephes. 4,11

aber auch verhältnißmäßig von den Talenten

der Regierung und Pflege, 1 Cor. 12, 28. Röm. 12, 6.

aber

ergiebt sich lebendiger

Hiemit

und unmittelbarer Weise ein Klerus

*) Constitt. Apost Ix «anl; fSt out äpioioi in Gegensatz der lkri­ tischen Priester.

Nihsch, prall. Theologie. I. 86. 2tc Ausl.

2

18

Einleitung. I. Begriff. §. 5. Posit. Klerus.

gewissermaßen ist die Verfassung schon da, ehe

im Klerus, und

sie wirklich vorhanden ist.

Solchen (wie Stephanas,

der Erst­

ling Achaja's) ordnet euch willig unter, gebietet Paulus 1 Cor. 16, 15. und nennt weiter keinen Amtsnamen.

spiritualiter nati

gehören

so

sehr

Denn die derlei

zum Wesen der christlichen

Kirche, daß man nicht nur annehmen und nachweisen kann, daß die positive Klerisei aus ihnen hervorgegangcn ist,

sondern auch

daß sie zu allen Zeiten des geordneten Amtes auch außerhalb des­ selben und in allen Kirchen des ordentlichen Priesterthums oder Lehramtes den

entschiedensten Einfluß auf die Leitung der Angele­

genheiten ausgeübt haben.

Sogar die römisch - katholische Kirche

unsrer Umgebung hat uns seither die sprechendsten Erscheinungm dieses Naturverhältnisses vor Augen gestellt.

§. 5.

Der positive Klerus.

Das Amt.

Da nun derselbe Dienst der Gaben, durch welchen die Ge­ meinen gestiftet werden, zu ihrer Erhaltung und zu ihrem Bestände gehört, und anderseits bei bloß zufälliger oder formloser klerikali-

scher Thätigkeit sind,

bald Störungen

des Gemeinwesens zu fürchten

bald Unterbrechungen der werkzeuglichen Thätigkeit,

so be­

stimmt und ordnet sich jenes Natur-Verhältniß, indem die Kirche

ober Gemeine nicht allein die Dienste erkennt, welche ihr nöthig sind, sondern auch

die Begabten irgendwie anerkennt, bezeichnet,

verordnet und dazu beruft, wozu sie sich eignen.

Die Rechtmäßig­

keit und Nothwendigkeit solcher Verordnung zum Amte oder solchen geordneten Amtes erkennt die protestantische Kirche mit der katholi­ schen gemeinschaftlich, obwohl unter verschiedenen Bedingungen an.

Das Object unsrer Wissenschaft, das kirchliche Thun, kann

wie jedes Thun nur in feinem Subjecte begriffen werden.

Das

letztere bestimmt sich so, daß es der ersten Potmz nach in der Ge­ meine gefunden wird; die Gemeine ist es, die sich selbst bethätigt;

der Gemeine aber ist ihre Selbstnnterscheidung eingeboren, es giebt

einen natürlichen Klerus, ohne welchen der positive für die Kirche des Evangeliums keine Wahrheit hätte. Und dennoch gehört zu dem

amtlichen, dienstlichen Thun der Kirche, von

dem wir reden, wie

sich schon aus den Umständen und Erscheinungen ihrer Urzeit er--

Einleitung. I. Begriff. §. 5. Posit. Klerus.

19

kennen läßt, nicht bloß die Gabe und Fertigkeit an sich, sondern theils,

daß ihre Bethätigung als eine wesentliche erkannt,

theils daß der Begabte, der in sich Berufene, wirklich berufen, that­ sächlich ausgcsondert und anerkannt werde,

legitima vocatio des Protestantismus,

worin das Wesen der

der Designation,

Voca-

tion und Ordination zum Amte liegt. Denn in diesen Actm voll­

zieht sich

eine durch Reflexion vom Begriffe des kirchlichen Dien­

stes auf die gegebene Person vermittelte Bcanitung.

Wir können

uns eine zu ihrer Selbstbethätigung gekommene und sich nach b l oßen Gesetzen der unmittelbar gegebenen Lebensord­

nung bewegende Gemeine vorstellen; Missionar

ohne

sowie sie einen Apostel oder

gewähren lässet und seine göttliche Sendung annimmt,

sein Creditiv erst geprüft zu haben,

so lässet sie auch dieje­

nigen gewähren, von denen Paulus sagt 1 Cor. 14, 26: „je einer

hat Psalmen, einer Lehre, einer Zungen, einer Offenbarung," ob­ gleich

sie nicht dazu ausgesondert oder ordinirt sind; oder ebenso

stellt ihr Zutrauen einen oder einige voran,

deren väterliche Vor­

sorge am meisten gcmeindebildend gewirkt hat.

Dieser Proceß der

Unmittelbarkeit oder Natürlichkeit erfährt aber und bedarf allerdings seine ethisirende,

gleichsam kunstmüßige Bestimmung.

Er bedarf

sie, denn es muß sich endlich feststellen, nachdem dort Mangel hier

Ueberfluß

an Gaben und Begabten statt gefunden,

nach welchem

Rechte und Range die Gaben und Dienste sich einander unterord­ nen sollen, welche zufällig seien, welche nicht; und wenn es schon ein Sichaufwcrfen zum Lehren,

ein Usurpiren der Rede giebt, wovor

Jac. 3, 1 gewarnt wird, oder schon das Fundament von denen an­

getastet wird, welche lehren, oder wenn Leidenschaften der Eifersucht

jene Verwirrung anrichten,

welche der Apostel 1 Cor. 12—14.

zu schlichten sucht, so kommt es darauf an, zu erproben, wer denn

gesandt, wer berufen sei,

und daß die Handauflegung nicht jedem

zu Theil, daß der Aclteste, daß der Helfer gewählt und eingesetzt werde. 1 Tim. 3, 1. 10. 5, 22. Ob diese Bestimmungen, Wahlen,

Einsetzungen von der Einzelgemeine oder vom Apostel oder Apostel­ schüler oder von beiden in Gemeinschaft ausgeführt werdm,

vorderhand noch gleich.

gilt

Genug, daß der Klerus sonach ein positi­

ver geworden ist *).

*) Marheineke (Prakt. Theol.

S. 78.)

nennt

unangemessen, ohne sie richtig aufgefaßt zu haben.

diese Bezeichnung

Da er bloß auf

20

Einleitung. I. Begriff. §. 6. Einheit der Aemter. §. 6.

Die Einheit der Aemter.

Es sind vielerlei Aemter und Dienste, aber es ist Ein Herr,

dessen Dienst als kirchliches Amt in der Leitung der Gemeine

besteht. Nicht der Lehrer oder der Prediger, noch der Priester,

sondern der Hirte, Führer, Vorsteher giebt die Zusammen­ fassung der kirchlichen amtlichen Thätigkeiten her.

Jetzt vorausgesetzt,

was

künftig ausführlicher nachzuweisen

den lutherischen Kirchenbegriff lossteuert und sich den biblischen Bestand wenig vergegenwärtigt, so denkt er bei dem Worte „Klerus" an einen Stand und Standesverhältnisse, wovon hier noch nicht die Rede ist. Zur Leitung christlicher Synagogen gehören ursprünglicher Weise ver­

schiedene Aemter, Stufen und Arten des Amtes, Presbyter und Diakonen, lehrende Aelteste oder bloß regierende. Wie soll man nun

die Einheit und den Inbegriff derselben bezeichnen? Klerus ist frei­ lich nach neutestamentlicher Sprache die Gemeine; hier die Gemeine in der Gemeine, nicht als hierarchischer oder politischer Stand, son­ dern als ihre Amtsführung, als die wirkende thätige Gemeine. Was aber das Natürliche und Positive betrifft, so denkt Marheine!e dort an das Vernünftige und Nothwendige, hier an das durch Ver­

hältnisse zur Welt und zum Staate Bestimmte des Amtes.

vom Einen noch vom Andern 'ist die Rede.

Weder

Das Natürliche ist der

immanente Beruf, der in der Weise der Unmittelbarkeit wirkt, das

Positive ist derselbe Beruf,

aber der durch die Reflexion und Reso­

lution hindurchgegangene, der erkannte und anerkannte Beruf; Gegen­ sätze und Bestimmungen, welche mit äußern Verhältnissen der Kirche nicht das.mindeste zu schaffen haben, sondern ganz und gar ihrem immanenten Entwicklungsgänge angehören. Der Amtsbegriff kann ohne sie nicht realisirt werden. Daß die Idealität der Gemeine das erste, und ihre Selbstunterscheidung das zweite sei, hat M. richtig erkannt und daraus den Bdgriff des Amtes mit Rücksicht auf Stif­ tung und Erhaltung entwickelt; daß aber das Amt nicht bloß ver­ möge seiner objectiven Nothwendigkeit, sondern auch durch subjective Anerkennung u. s. w. positiv werde, ist ihm entgangen. Wäre un­ ser positiver Klerus ein der Kirche fremdes, weil politisch vermitteltes, so müßte am Ende vom Amte, ja von der Gemeine, dasselbe

gesagt werden.

Die Worte Ekklesia und Liturgia (letzteres der eigent­

lichste und vollste Ausdruck des AmtSbegriffs)

sind aus dem athe-

niensischen Staatswesen, vermittelt durch die alexandrinische Ueber-

setzung des A. T. hergekommen.

Einleitung. I. Begriff. §. 6. Einheit der Aemter.

21

sein wird, daß die kirchlichen, näher die amtlichen Thätigkeiten Un­

terschied und in jeder Art wieder Mannigfaltiges

an sich haben,

und dennoch ihnen selbst vermöge der Einheit der Kirche Einheit zu­ kommt: so darf diese doch am allerwenigsten im Begriffe des prie­

sterlichen Wirkens gesucht werde».

Das Priesterliche, als das

wesentliche oder als das umfassende für den Amtsbegriff der Kirche gedacht, setzt einen Widerspruch.

Denn

cs entspricht lediglich den

vorchristlichen, gesetzlichen Religionsgemeinschaften, über welche der Standort der Kirchesich erhebt. Die gottgesctzlichc(theokratische) Kirche

besteht nicht ohne Personen, die dazu geboren oder sacramentlich be­ fähigt worden sind, daß durch ihr Magistcrium oder Ministeriuni, durch ihre Aussprüche oder Verrichtungen das ganze Volk und jedes

Volksglied in

der Gemeinschaft des Herrn gegründet und auf dem

Wege des Heiles dirigirt werde. Anders als durch dieses Priesterthum, welches sich keineswegs aus dem allgemeinen entwickelt, sondern als

ein specifisches die Wirksamkeit des Sacraments und aller Gnaden­ mittel bedingt, giebt es nach den Voraussetzungen des religiösen Ge-

setzthums für niemanden Antheil an der Erlösung und der Gemein­

schaft Gottes.

Die bisherige Ableitung des Anltsbegriffs würde

daher nichtig und verkehrt erscheinen müssen, wenn wir nicht statt

der gottgesetzlichen priesterlichen

das Evangelium,

die sich

Religionsgenieinschaft

die Kirche,

im Elemente der Erkenntniß und des

Glaubens, obgleich nach dem Wort, doch von Innen heraus bethäti­

gende, vcrgleichuugswcise ethisch bewegende und didaktisch bestim­ mende Gemeine im Auge hätten. Die priesterliche Thätigkeit in der evangelischen Kirche als besondre gedacht, wird kein selbstständiges

Amt hervorbringen.

Eine absonderliche liturgische Gabe, darinnen

sie beruhm könnte, giebt es nicht. Es müßte das Zungenreden sein, welche eine vorübergehende war, und jedenfalls für eine zufällige an­

gesehen werden muß. Das Lehr- und Hirten-Amt ist ein eingesetz­ tes und immanentes;

die Sacrament- Spendung nicht,

denn diese

ist unter Umständen jedem Gläubigen gestattet, und nur boni ordinis causa amtlich bestimmt. Diejenige Würde aber, die dem stän­ digen Liturgus zukommt, welcher die Gebete der Gemeine ausspricht und die

der Gesammtkirche eigenthümlichen

Einzelgemeinen oder

Weihen und Segen

Einzelgliedern ertheilt, ist offenbar von dem

Lehr- und Hirtenamte geliehen.

Desto wesentlicher nun scheint

in ihrer Selbstbethätigung die Kirche eines Dienstes am Worte zu bedürfen, und nicht nur ist es im Laufe des vorigen Iahrhun-

Einleitung. I. Begriff. §. 6. Einheit der Aemter.

22

dertS immer mehr Sitte geworden, das kirchliche Amt von dieser Seite zu bezeichnen: der christliche Volks lehr er, der Predi­ ger — sondern auch neuerdings wird mit Köster*) von Marheineke**) gegen Schleiermacher geurtheilt,

das Lehren

sei das den Geistlichen unterscheidende. Den Geistlichen?

Ist denn die Gemeine weltlich?

Es

war ja vom Amte,

vom

Dienste die Rede, und die Frage ist, ob alles amtliche Thun in

der Kirche das Lehren sei.

Lehrt der Liturg,

der Seelsorger,

der Ordner? „Das Lehren drückt wenigstens das gegenseitige"

— (also den Unterschied in den sich die Gemeine theilt und der die Amtsthätigkeit hervorbringt) „bestimmter aus," bemerkt Marheineke.

Nämlich bestimmter als das Leiten, womit Schleierma­

cher das Allgemeine jener Thätigkeit bezeichnet. Gleich als ob der Gegensatz der Lehrer und Hörer ein Mehr von Gegenseitigkeit ent­

hielte, als der Gegensatz von Leitern und Geleiteten. „Das Leiten,

sagt man, könne auch von den Mitgliedern der Gemeinde übernom­ men werden."

Aber sind denn etwa die Prediger nicht Mitglie­

der der Gemeine?

Oder werden denn leitende Mitglieder der

Gemeine nicht wirklich ihre Amtsinhaber sein?

bemerkt,

„der Gegensatz

Bald darauf wird

von Wirksainkeit und Empfänglichkeit sei

ein relativer und fließender, einen wirklichen Unterschied mache die

Macht des Bewußtseins in dem Triebe der Mittheilung,

der hö­

here Grad der Intelligenz und Pietät." Gleich als ob dieser Unter­ schied nicht ebenso fließend wäre, da er vielmehr nur das Element

und die Region

bezeichnet,

worin die Leitung

stattfindet; denn "christliche Intelligenz und

und

wodurch

sie

Pietät ist den Gelei­

teten nicht abzusprechen, weil sie sich leiten lassen, nicht einmal ein

verhältnißmäßiger Trieb der Mittheilung.

Dergleichen Einwürfe

waren für die Schleiermachersche Bestimmung nur von Seiten des

einseitigen oder unentwickelten Lutherischen Amtsbegriffs zu besorgen. Und sogar die Lutherische Bezeichnung des wesentlichen Amtes ist,

da sie nur zufällig vom Priest ernamen ausgegangen war, nicht beim Prediger, sondern beim Pastor stehen geblieben, und damit

stimmt nicht nur überein, daß Christus und die Apostel kein All­ gemeineres von erforderlichen Einwirkungen auf die Gemeine setzen

als das hirtenamtliche, Ioh. 21, 15. 1 Petr. 5, 2. Apostelg. 20,28 *) Lehrbuch der Pastoralwissenschaft S. 159.

**) Prakt. Theol. S. 74.

Einleitung. I. Begriff. §. 6. Einheit der Aemter. und

daß

der ursprüngliche

Führer, Leiter,

13, 7. 11.

und einzige,

Vorsteher,

23

umfassende Amtsname:

Aufseherist — vgl. Hebr.

1 Thess. 5,12. mit den bekannten ©teilen der Hirten­

briefe des Paulus — sondern es sen Namen und Begriffen

besteht auch eben nur mit die­

die Möglichkeit, das

der Functionen auszudrücken,

gleichartige aller

welche wesentliche Erfordernisse für

die Gemeine sind, und entweder eine und dieselbe Amtsperson oder

verschiedene z. B. lehrende und nicht lehrende Aelteste 1 Tim. 5,17. Bischof und Diakon u. s. w. in Thätigkeit setzen. dem,

Muß man in

was wir das Positivwerden des Klerus genannt haben, im

Bezeichnetsein (/jiQOTovi'a), im Erkanntsein und Gesetztsein, es sei mehr

von der Gesammt- oder mehr durch die Einzelgemeine be­

wirkt worden, das v ollendende Moment des Amtsbegriffs

erkennen, so ist offenbar, daß das Leit- und Ausseher-Amt das erste

gewesen ist und sein mußte, für welches eine Person zu bezeichnen und anzuerkennen war. Ein gemeinsames Handeln fordert vor allen

andern Dingen den Vorstand,

den Leiter;

alle mögen weissagen,

viele nach einander Psalmen singen oder beten, was der Geist eingiebt, aber der Archisynagog muß das Wort ertheilm, oder auch

schon richten, was gesagt worden, Ordnung machen und halten; von ihm muß die Thätigkeit aus- nnd auf ihn zurückgehen.

Allerdings

wird er nun — der christliche Archisynagog oder Bischof — nicht allein an Jahren, sondern an Einsicht und Frömmigkeit der reifere, ältere sein, gleichsam der sachverständigste überhaupt; in ihm werden

irgendwie die Gaben und Aemter alle latitiren.

Verwaltung und

Aufsehen sind allumfassend.

Das Lehren aber und Beten,

das Unterrichten

specielle Ermahnen wird erst

nach

und

und

nach im vollen Sinne amtlich werden.

Am

meisten ziehen das Lehren nnd Leiten einander an — denn diese

christliche Gemeinschaft kann überall nur geistig und demnach durch Lehre sich leiten oder leiten lassen, es kommt auf Seelenleitung an; diese ist Zweck nnd Mittel zugleich.

das Aufsichts-

Das früheste eigentliche Amt,

oder Vorsteheramt muß demnach

der Lehrfunction

Amtlichkeit mittheilen oder dieselbe mit in sich aufnehmen. Weshalb

ein Bischof

soll lehrhaftig sein

1 Tim. 2, 3.

Ja

es kann

nicht fehlen, daß der amtliche Führer je länger je mehr im geeig­

netesten Lehrer und Schriftausleger gesucht wird; lange die Macht des evangelischen Princips

wenigstens so

noch nicht ganz der

priesterlichen, gesetzlichen Richtung weicht, oder von der Zeit an

24

Einleitung. I. Begriff. §. 6. Einheit der Aemter.

wieder, da die Kirche sich durch Verkündigung des Wortes regelte« rirt und auf den Grund der heiligen Urkunde zurückgeht. Die Lehreleitet am Ende alles; sie ist gewissermaßen das Magisterium in allem Ministerium, die Weisung in'aller Regierung. Angenom­ men aber, daß die Lehrgabe doch in ihrer Art wieder beschränkt sei,

und obgleich die pädagogische, nicht minder die liturgische, doch die Rcgierungsgabe (r.vße$viivird, ein größeres als die Suspension aller Lehr-Disciplin

und Verfassung.

§. 54 Lösung des Widerstreits zw. Kirche u. Wissenschaft. 1.

Die Lösung

des Widerstreites, welche tut Allgemeinen

ebenso

sich durch die Geschichte des Verhältnisses selbst

zogen hat,

als

er sich erneuerte,

kann

oft voll­

nicht in Losreißung der

Wissenschaft und ihren Anstalten bestehen.

Kirche von der

299

hieße das Feuer auf dein Heerde auslöschen,

Es

damit man Brand­

Eine selbstgemachte und zugemessene Wissenschaft

unglück verhüte.

ist ebenso nichtig als eine i&flo&nrlay.n'a;

und was hat die quä­

kerische Proskription der Theologie zu Gunsten des

sticus der Kirche int Ganzen nützen können?

propheta ru-

Was die Kirche in

ihrem endlichen und fehlerhaften Element noch an sich hat, ist dem Heiden- und Judenthumc des natürlichen Menschen gleich; cs ist immer Passivität mit Fanatismus. Was in den Gliedern ist, muß

irgendwie ausbrechen; nimmt cS nicht Anlaß am Gebot und an

der Verheißung der Wissenschaft,

so

am wissenschaftslosen Gebot

und Geheiß der Welt und des Fleisches.

Es sollen Spaltungen

unter euch sein, schreibt der Apostel, ich glaube es auch, denn sie

müssen feilt,

damit sich das

gute bewähre.

Da das Vitiöse

überall erst sich entwickeln muß, bis es als solches erkannt werde, so erfolgt die Bewährung des Guten an ihm nicht gleichmäßig,

sondern stoßweise.

Demnach hat die Kirche keine Macht, noch eine

Pflicht die Möglichkeit ihrer Erschütterung und Prüfung durch die

Schule abzuschneiden, wohl aber die Macht und Pflicht, in ihrer Weise sich gegen schlechte Wissenschaft vorzusehcu,

und deren Er-

zeugniß, die unchristliche Lehre, von sich auszuscheidcn. 2.

In der ersteren Hinsicht vorzüglich hat sic also denselben

Feind, welchen die Schule zu bekämpfen, sophistische und compila-

torischc Weisheit in Ansehung der Form.

Wissenschaftliche Gründ­

lichkeit läßt sich aber nicht bloß durch Darreichung der materiellen

Mittel, noch durch bloße Disciplin, vielmehr nur durch vernünf­

tige Freilassung zur selbstständigen Entwickelung des Talentes und der Gesinnung fördern.

Unterwirft

nun das Kirchenregiment in

dieser gedoppelten Rücksicht, der sittlichen und wissenschaftlichen, die geistliche und natürliche Gabe der Prüfung,

so kann sie nur vom

Acker literarischer und didaktischer Lehrfreiheit ernten und niuß die zufälligen Auswüchse derselben dulden, obgleich überwachen.

Nicht

nur innerhalb der ihr verwandten Schulen, sondern auch inmitten der kirchlichen Lchramtsthätigkcit.

Sonst wäre der diakritische

Proceß, der dem Apostel zufolge, ehe es irgend zu disciplinarischem Verfahren kommt,

aus dem Grunde des kirchlichen Lebens

300

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

hcrvorgehet, I Cor. 14,29. 12,10. noch möglich.

Reactionen kann

Lehrkanons

1 Thcss. 5,21,

weder nöthig

Ohne Vertrauen auf den Gemeingeist und dessen eine bloße Handhabung des

(§. 35)

nicht znm Guten dienen.

kirchlich

verfaßten

Dieser Kanon ist

vielmehr selbst nach dem Grundverhältnisse von Tradition und Re­

formation (§. 38) zu beurtheilen und geltend zu machen.

Denn

obwohl er in seinem substanziellen Principe und Grunde nicht rc-

formabcl heißen kann, 1 Cor. 3,11. 1 Joh. 4,1.2, so hat er doch Entwickclungsfähigkeit, und diese fortschreitende Entwicklung richtig

verstanden, besteht ebenso oft in Vertiefung itnb Vereinfachung, als in Erweiterung oder Anspannung der Erkcnntnißsormcl.

Auch das

Kirchenregiment, auch die Kirche selbst genießt ihrer Lehrfreiheit, ob­

gleich sic durch absolute Neuerung sich vcrläugnet und aufhebt.

3.

Wie mm immer noch weiter die

Freiheit durch die ver­

fassungsmäßige Verthcilung der in dieser Hinsicht ordnenden Auctorität, durch Herstellung des Gleichgewichtes eiliger theologischer Bewegung und minder beweglicher Standpuncte und durch mög­

lichst vollständige Gemeinsamkeit der Berathung nnd Bcschlußnahme, sowie durch verständige Behandlung aller Conflicte in Schutz ge­ nommen

werden mag:

Freiheit doch sein,

so

eine

geordnete,

eine bestimmte muß die

daß jede Verwendung des Lehramtes zur

offenbaren Entgründung der christlich-kirchliche» Lehre als Usurpa­

tion und Anarchie anzusche» und darnach zu behandeln sein wird.

Das Recht der subjectivcn Ueberzeugung, die sittliche Würdigkeit der betreffenden Person, die gleiche Denkart oder Richtung vieler ändern hierin nichts.

anders,

Zwar Inquisition kommt, wenn sie etwas

als Erprobung der Amtsfähigkeit oder als Aufforderung

zum amtlichen Bekenntnisse ist, wenn sie Ueberzeugungen als solche richten will, der Kirche nicht zu.

Die Häresis als lehramtliches

Factum aber ist sie zu entkräften verpflichtet.

worin diese besteht.

Es fragt sich nur,

Denn daß wer wider das bestehende Kirchen­

regiment eine Meinung hartnäckig vertheidige, Häretiker sei, kann aus der ursprünglichen Bedeutung des Wortes allenfalls abgeleitet

werden,

nur ist dieß nicht der apostolische, noch der altkirchliche

Begriff der Sache.

Häresis ist eine politische, philosophische, reli­

giöse Secte, Partei; cs wird zuweilen nur im Sinne der Bezeich­ nung der factischcn klntcrschicdc,

einer Besonderheit gesagt,

meistens rügend von Stiftungen

welche der Allgemeinheit einen Abbruch

thut und als ein wählerisches, menschlich selbstgemachtes Ding er-

§. 54. Lösung des Widerstreits zw. Kirche u. Wissenschaft. scheint.

301

Das N. T. braucht das Wort in jeder dieser Bedeutun­

gen; sofern eS unter demselben aber eine widrige Erscheinung un­ ter den Christen versteht,

ist nicht von

einem Widerspruch gegen

die Kirche als Subject, sondern entweder von der Schuld des Se­

paratismus, 1 Cor. 11, oder von einer Berläugnnng des Objec­ tes, von einem Abfall vom Sachgrunde die Rede. Tit. 3,10. vergl. V. 9. 2 Tim. 2,16—22 *). 1 Tim. 1,7. 6, 3. 1 Joh. 4,1. 2 Joh. 9. Nur daß dabei immer der Abfall von der Glaubens­

3 Joh. 10.

und Sittenlchre., von dem Lehr- und Lebcnsfundamente zugleich

angenommen wird; denn das ganze Alterthum vermuthet und sieht

in dem, der vom Dogma und Ritus abfällt, Jmpietät und ruch­ lose Gesinnung überhaupt,

so daß auch dcncu,

welche nur

die

Lehre oder deren recipirte Formel verläugnen, wie den Häretikern des 4. 5. Jahrhunderts,

der volle Argwohn

und eine Art von

officieller Berläumdung in das Exil iiachgchct. Die Lehre und der

Lehrer werden mit Einem vom Reiche Gottes ausgeschlossen, mit

Einem Fluch

belegt;

die Strafbarkeit der Lehre zieht die Straf­

barkeit der Gesinnung und der Person nach sich, weil die Neigung der Kirche zur gesetzlichen Auffasslmg des Christenthums das Berhältniß von intellectuellen und sittlichen Phänomenen,

logie und

Glauben,

von Theo­

Wissenschaft und Leben im Dunkeln hält.

Wenn nun auch auf diesem Wege

dazu fortgeschritten wird, den

beharrlichen Widerspruch gegen die Kirche als Subject, oder gegen die Hierarchie mit dem Abfall vom Lehrgrundc zu verwechseln, so

ist doch der letztere Begriff im kirchlichen Alterthume der vorherr­

schende, und derselbe muß, sofern er sich von den falschen Anhän­ gen, mit welchen ihn das aumaaßliche Glaubens- und Gewissensge­

richt umgeben, befreiet hat, für den allein richtigen und wahren

gelten.

Daß die Kirche eine Lehre verwirft,

ist eine Thatsache,

welche zwar rechtliche, gesellschaftliche Wirkungen hat,

aber als

solche kein Gewissen und keinen Glauben bindet; sondern die Kirche ist verbunden

eine Verschiedenheit der Lehren zu dulden,

welche

*) Ob vtanSQixai buvhjfAiai, wirklich, wie die gewöhnliche Auslegung lautet, jugendliche Lüste bedeuten, kann gezweifelt werden, da mindestens yeioitQicr^os , zu jener Zeit weit öfter

neuerungssüchtiges als jugendliches Wesen anzeigt.

Ein Ti­

motheus war wohl mehr vor dem einen als vor dem andern zu warnen.

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen.

302

ihren Grnnd in dem Evangelium haben und Nachweisen, und eine

Lehre, welche gegen diesen ancrtänntcrmaaßen angehet, von der Be­ rechtigung zum öffentlichen Vortrage anszuschließen. Die Logik die­

ses Unterschiedes Härcsis und Allodoxie, Hetero- und Skoliodoxie bestehet, denn contrarietas und contradictio, Gegensatz und Wi­

derspruch, sind von jeher mit Recht unterschieden worden. zwar behauptet worden,

oder keine, und daran ist dieses wahr, feinen Folgen

Es ist

alle christlichen Lehren seien fundamental

daß der Grund in allen

und jede nothwendige Folge, fällt

wiedererschcint,

sie der Verneinung anheim, den Grund verhältnißmäßig mit in

die Verneinung

ziehet.

So

Urtheil und der Schluß, aber

damit

das

Kategoricen

Bleibt nicht wirklich

umgcstoßcn?

dern ?

in den

ist auch der Begriff ideell schon das

dieser reell wieder der Begriff.

Bürgt

nicht wirklich

die

eine das prius des an­

das

anerkannte Eingcborenheit und

ideell für

Uebernatürlichkeit Ehristi Jesu

Wird

bestimmte Sachverhältniß

alles andere?

Haben

nicht lvirkiich die Apostel Fundamente aufgcwiescn und den Aufbau der Lehre

davon unterschieden?

Allerdings die Kirche war mit

Nachweisung der Fundamente vor Artus anders daran, als nach ihm, vor Pelagius anders, als nach ihm, und was sie gegen die

Ebioniten oder die Gnostiker mit

vertreten hatte,

des Fundamentes hergeben:

Erkenntniß

Unrecht bemerkt,

mußte die früheste

nicht

daher Augustinus

auch Häretiker gründen sich auf Christus,

und es fragt sich also, wer er sei, welche Kräfte wir ihm zuschrei­

ben ; und doch ist das nur noch nicht zertretene Saatkorn, der nur noch

nicht gemeingemachte Christus,

die Möglichkeit der ganzen

Wahrheit der Lehre und folglich alle Häresis unvollendet,

welche

mit dem geschichtlichen Christus den Glauben an das Heil,

in seinem Namen ist, festhält.

freilich

das

Der Anfang der Irrlehre kann

überall zur Erscheinung kommen, wo die Entwicklung des

Grundes bewußter Weise schon hingeführt hat, es sei an Stellen der regressiven Entwicklung, z. B. wenn keine Schöpfung der Welt,

keine Persönlichkeit Gottes anerkannt wird, oder wenn in der pro­ gressiven

keine Rechtfertigung u. s. w.,

Kritik oder

theologischen

Verneinung der

allein fürs erste ist

bisherigen kirchlichen Formel,

die der

Ausdrucksweise noch nicht einmal volle Heterodoxie

geschweige Häresc, und zum andern fragt es sich, ob der corrigirende Lehrer, indem er auf dem gegebenen Puncte einseitig daö eine Glied des dialektischen Gegensatzes

zum

einzigen Satze

der

303

§. 55. Verhältniß zur Ärmst. Wahrheit erhebt,

z. B. das

liberum

arbitrium

gnadenwidrig

lehrt, nun im Rccurse auf dcu Lchrgrund iu der absolut natura­ listischen Befangenheit verharrt und damit schließt auch den Grund

zu naturalisiren.

Kurz

es

giebt einen Unterschied der Glaubens­

artikel und der Probleme; schon weil die Lehre eine Geschichte hat. Und weil weder dem Regimente der Kirche noch dein Dienste der­

selben das Lehrgebäude als ein schlechthin abgeschlossenes erscheinen kann, cs wäre denn, daß sie sich absoluter Wisscrci oder absoluter

Glaubensgesetzlichkeit ergeben welche seiner Zeit Orthodoxie

hätten,

giebt

es

auch Heterodoxie

wird, und darnach muß sich das

Berfahren, um Lösung des fraglichen Streites anzustreben, richten. daß sich die erst beginnende Häresis, oder die Heterodoxie

Nicht,

als Abweichung vom kirchlich vorausgesetzten außer aller Animadversion befände.

Denn wer sich in der Function, die auf unmitel-

bare Erbauung gerichtet ist, auf der Kanzel und im Katechumenenjiirmer mit einer gegen den öffentlichen Lehrbegriff unmittelbar gerichteten Kritik und Polemik beschäftigt, kann vielleicht schon, weil er ein Bertrauen bricht, oder weil er die Gebietsgrenzen verschiedener

Lehrthätigkeiten leidenschaftlich übertritt, wegen unsittlicher, unkirch­ licher, ärgerlicher Handlungsweise in Anspruch genommen werden, da er aus Gründen der Schrift

muß aber auch im besten Falle,

und des Heilsglaubens selbst, um des Gewissens willen gegen ein­ geführte Lehre als Zeuge auftritt,

das Leiden eines Reformators

sammt dem Thun auf sich nehmen.

4.

Die schlechthin unterlassene Aufsicht, Lerständigung, Ber-

antwortung und Entscheidung in Ansehnung der Lehre zeigt keinen

normalen Zustand der Kirche au, es sei nun daß gar kein Bekennt­

niß aufkomme

oder daß gar kein Conflict zwischen demselben und

der Theologie gedenkbar bleibe; entweder der Subjectivismus

sich

denn in allen diesen Fällen hat

des Gegenständlichen ganz ent­

äußert, oder der Mechanismus des ganzen kirchlichen Wirkens ist

gesichert und vollendet.

§. 55.

Berhältniß zur Kunst.

Es ist mit dem andern Elemente der Cultur des Geistes,

mit

der Kunst, derselbe Fall wie mit der Wissenschaft,

mit der Ausübung der Religion,

daß sie

der christlichen insbesondere, in

einem ursprünglichen Anziehungs- und Abstoßungsverhältnissc, in

Unterschied und Einheit steht und jeder Conflict zwischen ihnen im

304

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen.

Lichte der Idee lösbar erscheinen, die Lösung aber für beiderseiti­

ges Interesse gelten muß. Die Anziehung zwischen beiden geschieht durch die Sittlichkeit der Kunst

Religion,

und die ästhetische Bedeutung der

durch das Vollkommene und Erhabene der Gottgemein-

schaft des Menschen, und durch daö negativ und positiv künstleri­ sche Erfordcrniß der Darstellung des gemeinsamen Glaubenslcbcns.

Die Abstoßung rührt in allen ihren Momenten von dem besondern Zusammenhänge der Kunst mit der Naturreligion und den daraus sich erneuernden Folgen her.

Die Kirche läßt als Lehre und Feier

die Kunst der Rede und Poesie, des Tones und des Baues,

verhältnißmäßig auch andere bildende Künste zu; sie gereicht ihnen zur Wiedergeburt; die Künste erlangen einen kirchlichen Styl. In­ dem sie diesen festhält, der die Negativität des Heiligen an sich

hat,

Abbildung Gottes nicht zulüßt,

die schöne Mannigfaltigkeit

dem Gesetze der erhabenen Einfachheit unterwirft, die verjüngte Ge­

schichtlichkeit dein abstrakt Idealen vorzicht, Illusion, Spiel, sinn­ liche Jndividualisirung

nicht zuläßt und Selbstgenügsamkeit

des

künstlerischen Interesses aufhebt, thut sic der Idee der Kunst selbst

mehr Genüge als Abbruch, berechtigt sich aber dadurch nicht, als

Sitte

der Kunstübung und dem künstlerischen Berufe deshalb

feindlich entgegenzutreten, weil sie ihr selbstständiges Gebiet in An­ spruch nehmen, nach ihrer eigenthümlichen Geschichte und ihren be­

sondern Lebensgesetzen, z. B. int Zusammenhänge mit dein Volks­ spiele sich bewegen; denn in diesen Rücksichten hat sie sich nur der Theilnahme an Entweihung des

Heiligen,

an

Vergötterung

der

Creatur, an Heiligung des Lasters, überhaupt der unsittlichen also

auch kunstwidrigen Kunst zu entziehen, und die sittliche Kritik nur

mittelbar und im Zusammenhänge mit der allgemeinen Culturbe­ strebung zu üben.

1.

Die Religion ist Mutter, Pflegerin, Erzieherin der Kunst.

Das Ewige, das Wahre und Gute ist sofern es angeschauet wird das erhabene Schöne; jemehr die Frömmigkeit Kraft gewinnt, dcstomehr unterscheidet sie Geist und Natur, göttlichen und natürlichen

Geist, aber nur, um sie desto vollkommener in einander zu schauen.

In der ersteren Richtung

scheint sie durch Glauben und Denken

künstlerisch unfähig, oder überkünstlerisch werden zu müssen, denn

außer der innern oder äußern Erscheinbarkeit

des Seins giebt es

§. 55. Berhältniß zur Kunst.

keine Kunst.

305

Gott verbietet das Bild und Gleichniß von ihm; ein

Verbot, welches nach der Auslegung der Mystik über den äußern

Cultus in den innern hereinreicht und sogar die Begriffe, wie viel

mehr

die anthropomorphisirenden Vorstellungen betrifft.

Gerade

aber die Religion des bildlosen Gottesdienstes und die dadurch mit­

gebotene Jntcllectualität der Anschauung Gottes hat die Kunst in

unendliche Bewegung gesetzt und ihr den reichsten Inhalt gegeben.

Denn der Erhabene ist dennoch der Allgegenwärtige, der Ueberbegrifsliche dennoch

wieder der lebendige und anschaubare Gott, so­

daß unter den ethischen und logischen Verneinungen der einzelnen

Vorstellungen und Bilder das gläubige Gefühl desto inniger und sehnsüchtiger, desto freier und lebendiger das göttliche Verhältniß,

die

göttliche Form, die

göttliche Harmonie zu erschauen und in

die Natur und Geschichte hereinzuschauen

trachtet;

welches doch

die reinste Quelle und vollestc Bedingung der künstlerischen Dar­ stellung werden muß.

So ist die Religion an sich Künstlerin als

Natur - und Weltanschauung überhaupt;

und wenn sie auch auf

höherer Stufe als intensivere Andacht sich dem äußern, sinnlichen

Gebiete mehr entziehet und der fixirenden Synibolik mehr enthält, so wird sie sich in dem unmittelbaren geistigen Gebiete der Sprache

desto poetischer und schöpferischer erweisen, ohne sich den übrigen Darstellungsarten als Feier des gottgemeinschaftlichen Verhältnisses ganz oder für immer zu entziehen.

Allerdings ist die Redekunst

weniger als die Poesie und Musik unmittelbar religiösen Ur­ sprungs , die Architektur mehr als die Scülptur und Malerei. Denn die Kunst im Allgemeinen ist auch für sich und tritt in ein

freies Verhältniß zur Wissenschaft nnd Religion, als ein selbstän­ diger Factor

Künstler; macht

des

gebildeten Lebens.

schon einmal der

Der Mensch ist geborener

Verstand

des Selbsterhaltungtriebes

ihn dazu; zwingt er die Natur ihm zu dienen, braucht er

ihre Lebensfunctionen zum Vehikel seiner Thätigkeit, oder gestaltet

ihr Holz, ihren Thon, ihr Erz nach seinem Willen und Brauch, so

wird

er zunächst nur Handwerker, aber auch schon mechanischer

Künstler; der erreichte reale Zweck grenzt schon an daS Geschmacks-

Interesse; das Werk sucht seine Zier. tung der

eigentlichen

Hierin liegt nur Andeu­

Kunst; die arbeitende im Bunde mit der

Geselligkeit und ihrem Frieden schafft Raum und Mittet für die spielende und feiernde.

Denn des begabten Menschen Ruhe

kann der bloße Sinnenreiz nicht erfüllen; NI tz s 4 , pratt. Theologie.

I. Bd. 2te Ausl.

sondern er will sie als 20

306

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

wirkliche Freiheit von den Fesseln der Natur genießen;

und geht

seine selbstbewußte Thätigkeit über den Zweck des Reizes und des

Nutzens

hinaus ohne

ins Unbestimmte sich zu verlieren, so tritt

er durch Kontemplation und Andacht in ein neues Verhältniß zu den Erscheinungen.

durch

Die Idee der Natur und des Lebens ist es,

welche sie ihm Zeichen wird, durch welche sie ihm sich ver­

jüngt zum Bilde seines Sinnes und zum Geschöpfe seines Ge­

dankens, Geht

es sei

daß er rede und singe oder zeichne und gestalte.

hieraus eine innige Verwandtschaft von Wissenschaft und

so gleicher Weise die Erregbarkeit und Erfüllbar­

Kunst hervor,

keit des künstlerischen Triebes durch die gefühlte Verehrung, durch Diese ist es nicht nur, welche bereits der arbeiten­

die Religion.

den Kunst, theils durch die Scheu vor dem Leben und Willen in der Natur, Schranken setzt, theils durch Offenbarungen Mittel und Wege zeigt; dieselbe ist es, welche vor allen andern Gegenständen

der Erfahrung und des Bewußtseins den Menschen in Feier und

ideelles Handeln versetzt.

Das schlechthin hingenommenc Gemüth,

das tiefste Gefühl hat Vorstellungen, welche, wenn sie sich austau­ schen

und zu diesem Behufe bestimmen und vergegenwärtigen wol­

len, mit den Veranlassungen der Kunst zusammenfallen. Die Reli­

gion wenigstens erkennt ein Anderes, ein Inneres der Natur, will und gebietet eine Vorstellung dieses Andern, fordert daß das erste, natürliche sich dem andern zu Ehren verändere und gestalte. Daher

geschieht es, gabteste ,

daß die Religion das in Ansehung der Kunst unbe­

überhaupt culturloseste Volk dennoch

Grade zum Künstler macht;

in

irgend

einem

sollte der Wilde sich noch so sehr

entstellen durch Bemalung und Verzierung, anders sich darstellen als die Natur ihn gemacht muß er doch, um wohlgefällig zu wer­

den; sollte es auch eine Earicatur sein, was er schafft, wenigstens diese Kunstschöpsung nöthigt ihm der dunkle Trieb des Geistes ab;

sollte

es

auch

eine abscheuliche Verknüpfung von Gestalten sein,

wodurch die ungeheure Ahnung einer noch ganz leidenschaftlichen

(luftigen und nnlustigen) Frömmigkeit die Idee der Gottheit ver­

gegenständlicht, Elemente des Erhabenen sind in dem Erschrecklichen doch enthalten.

Das in höherm Maaße begabte, das Volk tieferen

und beweglicheren Geistes,

hat zwei Wege von der religiösen An­

regung aus zur positiv künstlerischen Darstellung zu gelangen; der

eine

nen.

führt mehr zu dem Erhabnen, der andere mehr zum Schö­ Beide vermitteln sich.

Da der asiatische Geist Betrachtung

§. 55. Verhältniß zur Kunst.

307

und Andacht, Religion und Wissenschaft von Anfang her ununterschiedner Pflegt, greift auch seine Naturverchruug der Wissenschaft vor, vertieft sich in das objektive Sein und Werden, beschäftigt sich mit den darin enthaltenen Widersprüchen, und ihrer Ausglei­ chung. Diese Richtung führt aus Darstellung des Allgemeinen und Ganzen, des Großen und Erhabenen; sie symbolisirt in Maa­ ßen und Zahlen das Ewige, schauet die göttlichen Eigenschaften und Verhältnisse, des Unglücks oder Glücks Principien in die Sterne, Thiere und Pflanzen herein, und da ihr das Menschliche gegen die Naturgeschichte zurücktritt, wenn cs auf Anschauung der

Idee ankommt, so bringt sie vorzugsweise wundervolle Bauten und räthselvollc Verzierungen derselben hervor; ihre geschichtliche, epische Darstellung bleibt maaßlos und abenteuerlich; nur tiefe schmerz­ liche Leidenschaft oder Wollust feiert im Gedichte und Gesänge. Das eigentliche Volk und Land der Kunst muß unter anderen Be­ dingungen stehen. Wo der Mensch sich selbst feiert, und die Göt­

ter Menschengestalt haben, äußerlich und innerlich cs das mensch­ liche Wesen ist, dessen Eigenschaften itiib Bestimmungen der Cultus

idcalisirt, wird zwar die Bethätigung und Kraft der Religion am ersten ihre Grenzen.finden, aber Kunst, redende und bildende, zu

desto größerer Vollkommenheit gedeihen. Die Idee des Mmschen ist unstreitig die reichste Quelle der Idee der Schönheit und wird sich, von der Natur selbst in dieser Hinsicht am vollkomniensten aus­ gestattet,

der griechische Mensch zum vollkommneren Gegenstand

des sinnlichen und geistigen Wohlgefallens, so ist dieses der Anfang des Griechenthums überhaupt, die Einleitung zur ganzen mytholo­

gischen Entwicklung, zum Dienst der Heroen und der olympischen

Götter, zur ganzen Feier der Subjektivität, welche in der Reli­ gion, Politik, Wissenschaft und Kunst der Griechen das Wesen ausinacht, insonderheit der Weg zum Eultus der Musen und Gra­ zien in allen Dingen. Die homerische Epopöe, die tragische und komische Darstellung der Idee des Menschenlebens, die Werke des Sophokles, Platon, Demosthenes, des Phidias und Praxiteles

sind nun in Aussicht gestellt. Die anthropologische Richtung be­ herrscht. da durchgängig die theologische; die Religion ist Element und Mittel der Verselbständigung des Staates, der Sittlichkeit, der Wissenschaft wie der Kunst. Erreicht diese in der Antike als Poesie und Beredtsamkeit, als Sculptur und Malerei eine formelle Voll­ endung, so überlebt sie in ihren Schöpfungen, die der Weltcultur

308

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

angehören, die Religion des Volkes, die Schönheit die Wahrheit gewissermaaßen, und erhält unter den sittlichen Mächten eine bleibende Stellung.

Schon die griechische Religion hat überwie­

gend sittliche Wirksamkeit nur dadurch, daß sie so künstlerisch und

menschlich ist.

Sie deckt die Untiefen und Abgründe des Verder­

bens und Todes mit dem Schleier der Schönheit zu, wie dieß Lenau so trefflich bezeichnet,

wissen Leichtsinns schuldig

und wenn sie sich damit eines ge­

macht,

den

die Platoniker selbst im

Namen ihrer Väter eingestanden haken, oder eines noch unzeiti­ gen Triumphes — beides jedoch

Art gesühnt — so. läßt

hat die Tragödie schon in ihrer

sich doch nicht verkennen, das Erstreben

und Erreichen der reinen, idealen Formen ist eine Bändigung alles

dessen,

was als Ungeheuer im Menschen sich regt;

sagt, eine vorläufige Erlösung,

Geistes.

wie Göthe

ein Evangelium des natürlichen

Die Mythe vom Orpheus und Arion,

und die Bedeu­

tung, welche Pythagoras der Musik gegeben, erläutern dieses.

Es

folgt schon aus dem, was wir vom Verhältniß des Heilszweckes zu der im Staate zusammengefaßten Cultur

im Allgemeinen ge­

sagt, daß eben darum auch zwischen der im Christenthum verwirk­ lichten Religion und der Kunst an sich keine Abstoßung oder Gleich­

gültigkeit, sondern Anziehung obwalten wird. Alle Stufen und Mo-

mente der menschlichen Versittlichung ziehen sich einander an. Die Unverträglichkeit kann nur dann cintreten,

wann die Antike ohne

alle Vermittlung der sogenannten Romantik, ihren nach der Natur­

religion schmeckenden Inhalt mitten im Christenthums

oder in Bezug auf die Formschönhcit

hinter

ausbrcitet,

dem erhabenen und

tiefen Gegenstände christlicher Darstellung zu weit zurückbleibt, oder

endlich durch

zu große Mannigfaltigkeit die Grenzen der Einfalt

und Wahrheit zuweit überschreitet.

Jedesmal hat sich in die An­

fänge eines großen Fortschrittes der Geistesbildung in der christ­ lich - europäischen Welt das erweckte

classische Studium gemischt,

aber die in ihrer unmittelbaren Wahrheit verjüngte Antike

hat

niemals den Fortschritt selbst und allein ausmachen können.

Es

giebt eine christliche Kunst; die Kunst ist aus der christlichen Welt­

anschauung,

die auf dem Glauben an das Heil der Welt beruht,

und im A. T. keimt, in verjüngter Art hervorgegangen. Sie war mit dem Griechenthum gefallen; sie war ausgeartet und in den Dienst der Ueppigkeit und des Nutzens getreten;

die redende und

dichtende, nachdem ihr die gefallenen Staaten und Culte das frische

§. 55. Verhältniß zur Kunst.

309

Leben genommen, lebten als Schulübungen von kümmerlicher Nach­

ahmung; des Götterbildes hatte schon der heidnische Philosoph ge­ spottet, wie vielmehr wich es vor dem prophetischen und psalmistischen Geiste der Christen!

Endlich zogen sich auch die Ueberliefe­

rungen der Technik auf enge Grenzen und verborgene Winkel zu­

rück ;

die Verwüstng begrub Bibliotheken und Museen.

Und doch

Weder das asiatische noch das

mußte die Kunst wieder aufstehen.

griechische konnte das Ende ihrer Geschichte sein.

Schon das alte

Testament bietet einen Schatz von Kunst der Rede, der Erzäh­

lung und der Poesie dar, auf dessen Reichthum und Ursprüng­ lichkeit sich kaum die Reflexion zu richten angefangen, während er mittels der christlichen Bildung eines so großen Einflusses auf Lit­

teratur und Leben sich von Anfang her bemächtigt hat.

decken

jetzt erst mehr

und mehr,

Wir ent­

welche Fülle und Klarheit der

ganzen mosaischen, psalmistischen, prophetischen Symbolik einwoh­ net, nachdem wir mehr eingesehen, daß sie sich aus den Principien

der Naturrcligion gar nicht und nicht aus Accommodation zu dem

Heidenthume, läßt.

sondern aus positiver Verneinung desselben ableiten

Augustinus *) hat einen kleinen Anfang gemacht, die Beredt-

samkeit der Propheten nachzuweisen und zu bezeichnen.

Da schwel­

len die Redefiguren, wenn man so sagen will, als vollkommene

Lebensblüthen aus ganz andern Stauden und Wurzeln hervor, als die gewöhnliche Rhetorik kennt.

Was die Psalmen anlangt, so

lassen die Vorreden Basilius des Großen und Luthers es eben nur

ahnen,

welche erste

oder welche neue Geburt der Lyrik in ihnen

enthalten sei.. Daß sie nur das Geschöpf des Jehova-Cultus, des

innigsten Lebensverkehrs mit dem Einigen unabbildbaren Gotte als dem Herrn seines Dieners oder schon als dem Vater seines Kin­ des sein konnte,

begreifen wir jetzt

ohne Schwierigkeit.

Idyll,

Epos und Apolog sind griechische Namen und Begriffe, aber flüs­

sig gemacht und auf das Wesen der sich für das Auge der reinen

Anschauung offenbarenden Einfalt, Größe und Schönheit im Men­ schenleben zurückgeführt, nehmen sie in ihre Idee reichlichen und

wundervoll neuen Stoff aus der patriarchalischen Geschichte, aus dem Buche Ruth und- den salomonischen Werken auf. Die Schön­ heit kann dadurch nicht ärmer werden, daß ihr mehr vernünftiger

*) De doctrina chriatiana lib. IV.

310

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen.

Inhalt der Natur- und Menschenbctrachtung zuwächst.

Jene sinn­

reiche Verständigkeit der Auffassung und Darstellung

der natürli­

chen Gegenstände, welche die Griechen auszeichnet, findet sich nicht bei den Hebräern, und doch fängt bei diesen die freie, große, in­

nige, tiefe Betrachtung der Natur erst an; sie kennen die schöpfe­ rische Allmacht und Weisheit Gottes, leben und weben in diesem

Gedanken und individualisiren ihn.

Mit der Idee der Pietät und

Humanität ist es ein Gleiches. Der hebräischen Darstellung ist die Masse der indischen Phantasieen fremd;

weder die sinnliche Man­

nigfaltigkeit noch das Groteske und Ungeheure der asiatischen kann sich

ihr zueignen; erst das rabbinische Judcnthum fällt

Maaßlosigkeit zurück. und Segen

Aber dadurch,

in diese

daß sie unter dem Schutze

der erkannten Heiligkeit Gottes bildet, wird ihr das

erhabene Element nicht geschmälert.

Nun

tritt aber auf diesem

vom Heidenthume gereinigten Grunde Christus auf;

die Unter­

schiede Gott und Natur, Gott und Welt, Gott und Mensch wer­ den in ihrer Heiligkeit bewahrt und befestigt, aber was ihre gegen­

seitige Durchdringung hindern könnte, Siinde und Zorn, Tod und Verderben, werden durch Gnade und Wahrheit besiegt. die Welt gekreuzigt", darf der Glaube sagen, Mensch, obgleich der äußere verweset,

oerneitet."

„Mir ist

aber „der innere

wird von Tage zu Tage

Die Sünde ist getilgt, der Schmerz geheiligt zur Bc-

seligung, die Auferstehung hat begonnen,

die Natur wartet ihrer

Verklärung; im Lichte göttlichen Wohlgefallens und im Vorgefühle

der Seligkeit wandelt

der kindliche Mensch,

wandelt

des Herrn

Bruder, auf der -Erde schon Himmclsbürger, ihm nach.

Hierin ist

ein Weltall unerschöpflich neuer Motive und Stoffe künstlerischer Darstellung enthalten. Zunächst zwar gilt es den Inhalt des Glau­ bens zu leben, ihn sittlich durch den Wandel und das Marty­

rium auszuwirken;

und zwischen dem dazu erbauenden Cultus der

christliche» Brüdergemeinen und den auf dem Boden der heidnischen

Religion und Geschichte erwachsenen Kunstformen kann es nur Ab­ stoß geben oder ebenso unkirchliche

als kunstwidrige Vermischung.

Erst auf frischem Bolksgrunde, wo sie Mutter aller Bildung wer­ den soll und kann,

wird die Kirche nach

Schooß und Pflege, und zwar so, Künste zufolge,

und nach

aller Künste

daß sie, der Bestimmung der

Eigenthümliches und Neues

hervorbringen, jede

Kunst aus den rohesten einfachsten Anfängen und Versuchen her­ aus, je nach dem Fortschritte ihrer Geschichte und ihres entwickel-

§. 55. Verhältniß zur Kunst.

311

ten Bewußtseins und nach Zuwachs per technischen und materiellen Mittel,

Deninach bauet sie dann

zur Meisterschaft hervorbildet.

ihr eigenes und des Reiches Gottes Bild, setzt der Geschichte des

Sieges Christi und der Märtyrer Denkmäler, tönet und singt ihre Andacht und Minne, zeichnet und malet die himmlische Sehnsucht,

angesichtlich die Buße,

und die Glorie der Heiligen.

Spielen

nun unter dem Schutze der erhabeueren und erhebenden Künste in den weiteren Cultuskreisen, welche die Religion umgeben, auch die

die Welt, vom über­

sch önen, und um so gemüthlicher, weil

und außerweltlichen Theile der Menschen,

als dem Priesterthume,

sich getragen und vertreten wissend, eine gewisse Erlaubniß hat zu

so geschieht es wohl

seiner Zeit sich ihrer Weltlichkeit zu freuen:

auch, daß die Religion in Kunst aufgeht,

und diese, der Religion

in sinnliche Schwärmerei ausartet.

vergessen,

Ohnehin hat das

Christenthum der befriedigten und herrschenden Kirche sich in Aeu-

ßerlichkeit und Formliebe verirrt;

die Erlösung ist mehr gesetzlich

gefeiert, als gelehrt und innerlich angceignet worden;

und das

hat vielfach in einem recreirten Heidenthum bestanden.

Resultat

Die Kritik aber, welche sich auf diesen Zustand richtet, die Refor­ mation zerstört darum nicht das ursprüngliche Verhältniß der Kunst

zum Christenthume, weil sie die Mythen und Legenden von der heiligen Geschichte trennt und aus der Kirche und dem Cultus in

das Gebiet der Poesie oder der religiösen Subjectivität verweiset;

cs sind ja vornehmlich die Protestanten gewesen, welche mit freien Händen den Schatz der Romantik gehoben, vom Roste gereinigt,

kenntlich und genießbar gemacht haben.

stantismus

Nicht nur, daß der Prote­

allen Künsten ihr Freiheitsgcbiet

gerettet,

keine der

Kunstquellen, die im Christenthume fließen, verschlossen, und viel­

mehr den Künsten der Sprache, des Liedes, des Tones,

denjeni­

welche der Darstellung des innern Lebens am nächsten vollcsten dienen, entweder einen verjüngten Styl oder einen

gen also, und

Reichthum der Productivität geschenkt hat,

nicht gekannt noch geahnct;

wie ihn die Vorzeit

sondern es liegt auch weit mehr in

dem Mangel seiner kirchlichen Ausbildung im Allgemeinen und sei­

nem eingebornen Vorbehalt

lung ,

gegen unzeitige und unwahre Darstel­

als in seinem Wesen,

daß er zu einem ihm angemessenen

Cultus noch nicht hinreichend gelangt ist.

2. haben,

Diejenige

kirchliche Function,

die

wir Feier genannt

ist in allen ihren Elementen künstlerisch,

und ist es nach

312

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen.

dem Maaße ihrer räumlichen Erweiterung und stätigen Ausübung mehr.

Sie ist es vermöge des

und

ohne

Denn ohne

diese

geistigen Jnstinctcs

Reflexion, wird cs aber auch durch Reflexion.

wird das Formwidrige, Unfeicrliche nicht beseitigt, noch die anord­ nende liturgische Thätigkeit in Stand gesetzt namens der Gemeine das angemessene Darstcllungsmittel zu finden.

Und schon

daraus

crgiebt sich, daß die nichtkirchlichc Kunst als Lehre und Schule auch für die Kirche von Bedeutung ist.

Nun sind

die

Grundbestand­

theile des kirchlichen Lebens Gottes Wort und Glaube; jenes wird nicht nur mittels der vorgclescncn Urkunde,

mittels

sondern auch

der Predigt gehört und empfangen; dieser stellt sich nicht nur

Bekenntniß dar, sondern übt sich auch

durch Gebet,

im

laute Anbe-

tung der Gemeine aus; folglich ist Rede und Poesie, Ton und Gesang die nächste künstlerische Bethätigung der feiernden Kirche. Zwar die Andacht schweigt, die Stille ist feierlich, und die Stel­ lung schon und die Geberde redet.

Allein daß die

nur

Geberde

das begleitende, und stimmte Mimik oder absolut schweigende Feier ungenügend, sogar zweckverläugncnd sich erachten.

wäre,

an diesem Orte

läßt

Tritt nun die Darstellung des' Glaubens ins Gebiet

der Sprache ein, so tritt sie auch dadurch

bereits

in

das Gebiet

der Kunst; der Geist, Begriff, Gedanke findet entweder oder schafft sich die Zeichen und Laute, welche keine Natur- sondern Kunster­

zeugnisse sind.

Die Form des Inhalts der Rede ist nichts gleich­

gültiges, wenn der Endzweck der Erbauung ins Auge gefaßt wird.

Rein durch sich

zwar kann sie

selbst

nichts

erreichen;

will

die

Redeform etwas an sich selbst wirken, so ist sie in ihrem Verder­

ben schon befangen.

Allein der formelle Mangel ist selbst

schon

mehrentheils Wirkung des fehlerhaften Gedankens oder unkräftigen Gefühles, wogegen sich ein sehr edler Inhalt zwar chung von eingewohnter

Form



das

Franz von Assisi, oder wie es von Harms durch

Eigenthümlichkeit und

durch Abwei­

Zungenreden z. B.

des

gemeint worden —

Persönlichkeit des

Ausdruckes,

nur

nicht unmittelbar durch Bildungslosigkeit, mächtig erweisen wird, die Hörenden zu erbauen.

Die Aesthetik der Rede ist mit ihrer Logik

und Ethik innigst verwandt.

Zwar was inan das Kunstlose nennt

kann eben der Anfang höchster Kunstmäßigkcit sein, aber daß Wohl-

redenheit, negative Vollkounnenheit der Redcform was die Kirche zulasse,

das einzige

ist mißverständliche Behauptung.

sei,

Denn

Beredtsamkeit als Gabe und Fertigkeit den Vernunftzweck der Rede

§. 55. Verhältniß zur Kunst. zu erfüllen — und in den Zweck,

313

von der Wahrheit zu zeugen

und zu überzeugen, zum Guten zu bewegen, Freude an beiden und

Liebe dazu auszudrücken, muß doch der kirchliche aufzunehmen sein — ist der religiösen Gemeine so wenig Organen der Offenbarung,

als an unvergänglichen 90Qit|'tcrn

werden kann.

fremd,

Propheten

den

daß sie

an den

und Aposteln

und Vorbildern

selbst,

wahrgenommen

Die rhetorische Idee, wenn sie nur nicht mitGor-

gias, noch mit Jsokrates oder Acschiues,

sondern mit Demosthe­

nes erfaßt und von den rein politischen Bedingungen frei gemacht

wird, ist sogar nur kirchlich d. h. vom Reiche Gottes aus haft zu realisircn.

wahr­

Die Volksthünllichkeit näinlich der Rede, soge­

nannte Popularität, ist nicht bloß Freiheit vom Schulmäßigen und wiedermn vom Gemeinen, sondern auch etwas Positives; denn die

eine Einheit aller Stände und Bil­

christliche Volksversammlung,

dungsstufen, erfordert, wenn sie vor dem Herrn feiernd durch die Vorstellung seiner Offenbarung

gehalten

welcher in psychologischer Beziehung des Selbstbewußtseins,

wird,

eine Anrede, in

die Totalität der Functionen

folglich eine Einheit von

Gedanken

und

Bestimmungen sich darstellt, die von den erhabensten Gefühlen nicht losgerissen ist; Leben aber fürs Leben läßt sich anders als

durch das Medium der frischen durchsichtigen Sinnbildlichkcit nicht

aussprcchen, zumal religiöses Leben.

Eher möchte die Schule als

die Kirche sich der Beredtsamkeit zu enthalten haben; oder die Grade und Arten der Beredtsamkeit sind mindestens zu unterscheiden. Eine

andere ist die Beredtsamkeit der Schule, des Staates, der freien

Geselligkeit tut Allgemeinen; von diesen allen unterscheidet sich der

kirchliche Styl.

Darum schon,

weil er

sich auf

ein

Charisma

gründet, ferner, weil er sein Vorbild an der h. Schrift und

eine

eigenthümliche Geschichte hat, endlich weil er zwar alle Nationalität und Persönlichkeit

und nach Maaßgabe der Bildungsstufen und

des Umfanges der Versammlung, sowie nach Verhältniß der Fest­ lichkeit der Handlung jede Temperatur Mässet, aber doch immer geeignet bleiben muß, gemeinsames oder individuelles Glaubens­

leben, Demuth also in der Erhabenheit auszudrücken und heiligen

Geist in der Menschlichkeit.

Das Heilige ist ein anderes als das

Edele; das Erhabene ein anderes

als das Schöne.

Dieß Gesetz

macht an die Predigt und an die Liturgie in allem ihrem Wort,

an Gebets- und

Bekenntnißsormular gleichen

Anspruch, obgleich

jene vorherrschende Persönlichkeit, diese überwiegend Gemeinschafts-

314

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

ton erheischt, mtb der Styl der Katechese sowohl als der cntwikkclten Erklärung des kirchlichen Sinnes (j. B. eines symbolischen Buches) von beiden abweicht, sofern er mit dem Tone theils der Volksschule, theils der Hochschule und der staatlichen Oeffentlichkeit eine gewisse Gemeinschaft eingeht. In allen diesen Beziehungen aber bleibt die Geschichte des kirchlichen Styles mit der Geschichte des weltlichen in Wechselwirkung. Dem Orte und der Zeit nach. Der asiatische eines Syrers, Ephrein, muß ein anderer sein als der des Basilius; ein National-Missionar aus einem Hindu- oder nordamerikanischen Stamme kann nicht wie ein Bonifacius, Theremin nicht wie Luther reden. Die ursprüngliche kirchliche Rede­ form war eine doppelte, der neutestamcntliche Prophctismus und ein ethisch-didaskalischer Ton. Der erste hatte sich für diejenige Feier, welche lins Justin und Tertullian beschrieben, in den andern aufgelöst. Als die Versaminlung sich erweitert imb die höheren Bildungsstufen der römischen und griechischen Welt in sich ausge­ nommen hatte, trat die Rede des klassischen Styles, schon lange in Schule und Litteratur ^urückgedrängt, noch einmal in die Oef­ fentlichkeit hervor, nämlich in die Kirche ein, und indem sie ihr verkümmertes Leben an den Ideen des christlichen Glaubens und den heiligen Thatsachen erfrischte, gab sie sich zugleich den Wir­ kungen dieser Rede-Quellen hin, so daß, wie zahlreich auch die Miß­ erscheinungen wurden, doch in Bezug auf das ausgehende dritte, das vierte Jahrhundert und des fünften erste Hälfte gesagt werden darf, die klassische Form und der christliche Geist hatten sich ein­ ander angezogen und durchdrungen. Begriffsmäßig gieng diese Entwicklung von der exegetischen Homilie des Origenes aus, und wurde erst nach und nach zum Zöyog, zum sermo; andere Rede­ weisen z. B. die des Makarius, waren nicht unmöglich geworden; die dispntatorische des Augustinus wich von den griechischen Mu­ stern, welchen sonst die Lateiner folgten, bedeutend ab: aber auch an den einander so sehr gleichenden rhetorischen Größen dieses Zcitraums, dem Basilius, den beiden Gregoren und dein Chrysostomus kann man Eigcnthinlilichkeit, diese Bedingung des wirklichen Styls, nicht verkennen; was an ihren Reden tadelnswcrth ist, hängt viel­ mehr dem gemeinsamen Elemente an, in welchem sic sich bewegen. Das haben sic jedenfalls dargcthan, daß der klassische Styl in der Idee der Rede einen Grund und seine Berechtigung hat, zurBerniittelung zwischen dem Christenthume und der allgemeinen Bildung

§. 55. Verhältniß zur Kunst.

315

zu dienen.

Es läßt sich

(z. B. von

einem Melanchthon, Erasmus, Thercmin vertreten)

gar

nicht läugncn,

die Rhetorik

daß

eine eigenthümliche Kraft besitzt auch gegen diejenigen Fehler, welche ebenso aus dem Gesinnungs- wie aus

dem Bildungsmangel ent­

springen, Empfindclei, Blümelei, kurz was am Severian gefällt und doch mißfallen sollte,

Nieinals

Schwulst

u.

aber ist das in der Geschichte

— zn reagiren.

dcrgl.

der

kirchlichen

Rede der

eigentliche Neugeburts-Punct, daß die reinste der klassischen Schule abgewonnenc Form am meisten in einer honiilctischen Persönlichkeit, mit dem ächtesten christlichen Stoffe an Gedanken und Gefühlen in

Eins zusammcnkomme, sondern dieß, daß aus dem

dualität

mit dem

empfänglichsten

Volksrede hervorbilde.

ursprünglichen

in Uebereinstimmung

prophetischen Elemente sich

Zeitbewnßtsein

der Jndivi-

christliche

die

Dieser Rede Form ist niemals klassisch

und ist es in einem anderen Sinne im höchsten Grade. sich auch hierin das

allgemeine

Also, daß

zwischen Kirche und

Verhältniß

Kunst zu erkennen giebt. Denn die ch r i st l i ch e Redekunst in einem

Taut er, zumal in einem Luther,

ist viel größer als

alles,

was im glücklichsten Falle aus der Schulbildung eines Erasmus

hervorgehen könnte.

nicht in

wenn

Mindestens in gleichem Grade,

einem

noch

höherem wiederholt sich dieß in Ansehung der Dicht- und Ton­ kunst.

Schon die

Rede

verdeutlicht

veranschaulicht ihren

und

Sinn und läßt ihn fühlen durch den Ton und dessen Veränderun­

gen; die vollestc Wahrheit und Würde des Tones

lehren,

niemand lernen;

auch aus

ungünstig

geht oft ohne alle Vermittelung der Schule feierlichere Ton hervor;

der

kann

niemand

organisirtcr Brust geistreichere

und

aber die Schule lehrt uns oft erst, was

man Kanzelton nennt, das falschfcicrliche, weil es losgcrissen von der logischen und ästhetischen Wahrheit an

will, als falsches begreifen und macht mation Raum und Bahn.

und für sich

einer

erbauen

freien ächten Decla-

Ebenfalls die Rede

schon

symbolisirt

den Gedanken und löst, was die sachliche Darstellung betrifft, kraft

der Gefühlslebcndigkcit allgemeinere Regeln aus, um höhere beson­ dere zu vollziehen, sie dichtet. nicht ins Bersmaaß,

Aber sie singt nicht, sie bindet sich

denn die Gedankenentwicklung

der Lebensentwicklung beherrscht sie.

als Modus

Sofern sich aber die Gedan­

kenentwicklung aus dem vollfühlenden und schauenden Geiste theils erneuert, theils ergänzt, oder sofern sich die persönliche Bezeugung

316

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

mit des Gesammtbewußtseins Aeußerung und Feier wieder zusam­ menschließen muß, ergänzt sich die Rede durch Gesang und Poesie. Die Vermittelung giebt das • sprechbare Gebet des Liturgus her, welches mit der Gcdankenentwicklung noch näher zusammenhängt und des Metrums sowenig als des Gesanges bedarf. Eine re­ dende Gemeine aber geht schon deshalb, weil die Harmonie es fordert, in den Gesang über, gleichwie die gehobene Stimme des Liturgus zumal bei großen Räumen und Versammlungen gewissermaaßcn. Diese reelle Zweckmäßigkeit des Gesanges aber grenzt an die ideelle; die volle Ursache des Singens liegt in der Uebermacht des Gefühles und der poetischen Beschaffenheit des Inhaltes. Deshalb wird die feiernde Gemeinde natürlicher Weise zum Chore; und es giebt ein kirchlich Lied. Denn bereits die bekennende, sich des ihrigen erinnernde, gleichsam lehrende, predigende, ja sich katechisirende Gemeine, wie viel mehr die anrnfcnde, betende, lobende, dankende, klagende, bittende, hoffende Religion muß sich gesang­ reich und dichtend zeigen. In der That hat sich die Kirche auch in keincni Knnstelemcnt so productiv, so selbstständig und so frei­ gebig als in diesem der allgemeinen Bildung gegenüber erwiesen. Schon die auf die Verheißung des Geistes wartende Jüngergemeine wird bei Lobpreisungen getroffen, vielleicht noch bei solchen, die der jüdische Gebrauch hegte. Der Apostel aber spricht, 1 Cor. 14, 26, schwerlich von schon gebräuchlichen, sondern von neuen aus dem Geiste Christi geborenen Psalmen. Vergl. Col. 3, 16, Eph. 5, 19. Es giebt auch andere Zeugnisse von freien Psalmi­ stischen Production in den ersten Jahrhunderten. In der Folge nun finden wir beides, klassische Metra werden angewandt und werden mit Bewußtsein als unangemessene vermieden. Das letztere gilt von der Griechischen Kirche, welche fast nur kirchliche Trauer­ gesänge und nur im einfachsten Psalmistischen Style hervorbringt, wogegen die lateinische ihre allerersten Morgen- und Abend- und Loblieder im gemeinen, einfachsten, dem sogenannten politischen Vers­ maaße dichtet. Die klassischen, lyrischen Maaße kommen auch hier im Cultus vor, aber sic machen den eigenthümlichen Strophen und Reimen der Sequenz Platz, aus welchen dann die verschiedenen Nationen des Abendlandes ihre poetischen Bauformcn gebildet ha­ ben. 'Noch einmal beginnt die Geschichte des Kirchenliedes im geist­ lichen Volksliedc zur Zeit der Reformation; vom geistlichen Min­ neliede ist weltliche Poesie abgeflossen'; weltliche Gesangsweisen

317

§. 55. Verhältniß zur Kunst. haben sich mit

kirchlichem

gestellt. möglichst

Die eine Seite der

zwar durch

sich

der biblischen Psalmen 'gegen

verwahren

wollen

Deutung,

theils

der christlichen Poesie

desto mehr, theils durch Erklärung und

Uebersetzung, das unmittelbar christliche in die andere dagegen, unter Vorgang ihres

so

zwischen

aufgehoben und wieder her­

Reformation hat

ausschließlichen Gebrauch

die Subjectivität

die Grenzen

Inhalt erfüllt;

beiden Elementen haben sich erweitert,

dieselben

und

durch

hcreingelegt;

Anfängers, den Psalter

reichlich reproducirt unb den Glauben

so in, Fülle dichterisch

gepredigt, daß sie, nunmehr zum kritischen Bewußtsein über bett

Werth ihres Liederschatzes gelangt, desto mehr wieder des objectiven Kirchenliedes Aussonderung von geistlicher Poesie, den Unter­ schied des kirchlich-klassischen von der Mcistersängerei und Vers­

macherei wahrnehmen, wie vielmehr die Grenze zwischen weltlicher und kirchlicher Lyrik scsthalten kann.

zur Harmonie

nen reinen Ton bis

Und es ist mit der Ton­

Soweit die Musik, also das vom einzel­

kunst fast ein gleiches.

und auf

Harmonie zur malerischen Bewegung sich den

der

empfundenen

Vorstellung

diese von der Religionsübung

eine

dem

Grunde der Lautwer­

entwickelnde

hat,

Geschichte

abgeflossen,

ist

und ob nun gleich die

Musik der Naturreligion unmittelbar der Leidenschaft, eben so sehr als dem edleren Gefühle, zur Laute diente, so sagte sich der christ­

liche Cultus doch nicht von ihr, sondern von ihrem Heidenthume los.

Dieß ist Ursache, daß noch Männer des vierten und fünften

Jahrhunderts gegen den melodischen Gesang

eingenommen sind, indem sie höchstens den

planus,

oder gar

(cantus canonicus) harnwnischen,

cantus

nur die gehobene Pronuntiation des Psalm­

sängers zulassen wollen.

Mit Recht bekämpft Augustinus diesen

Denn

Purismus, wiewohl seine Gründe nicht vollständig

sind.

es kommt nicht bloß darauf an,

durch Wohl­

daß das Heilige

laut sich mildere, anziehend und labend werde, sondern vornehm­ lich darauf, daß allein die freie Bewegung, welche in der Me­ lodie sich darstellt, der Natur des frommen Gefühles,

reinen Affectes entspricht.

art eines Hieronymus

als

eines

Und doch hatte die abstoßende Denk­

oder

der

Gebrauch

der

Alexandrinischen

Kirche, welche Augustin erwähnt, nicht von vorn herein Unrecht. auf dem Fundamente der vollkommensten Simplicität und Besonnenheit oder völligen Identität mit Wahrheit und Klarheit Nur

der Vorstellung konnte sich die Tonkunst der Kirche zu der ihr

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

318

eigenen Feier des schlechthin Erhabenen entwickeln nnd nur,

was

diesen Schutz des Heiligen und Erhabenen segnete und anerkannte,

nur ein solcher Schwerz, eine solche Freude, und ein solcher Uebergang des einen zum andern, nur eine der Bewegung,

ein solcher Stufengang

solche Mannigfaltigkeit

der Enipfindungen, kirch­

liche Vocal - und Instrumentalmusik werden.

Darum hat die er­

stere vor der letzteren (welche überall nur Präludium und Jnter-

ludium des Cultus sein kann und sich darauf beschränken soll zu stimmen, oder in einfachster Begleitung der Menschenstimme sich unterzuordncn)

vor

aus

demselben Grunde Glocke, Orgel, Posaune

andern Tonwerkzeugen den Vorzug

behauptet,

darum der

Choral vor dem Figuralgesang, das Unisono vor dem mchrstim-

migen Gesänge, das Recitativ und die Motette vor andern Arten des figurirten Gesanges, wiederum der Styl eines Bach, der Styl

der

lutherischen Glaubcnsbuße und Glaubcnsfreudigkeit,

vorreformatorischc Eomposition

und die

prägnanter biblischer Sätze

ober

Gebetsscufzer den Vorzug vor so vielem dienern wicdererlangt oder

wird ihn wicdercrlangcn.

Das Oratorium

aber und alles,

was

sich ihm nähert, hat, sofern es die Kunst als ganz sclbstgcnugsamen Zweck geltend macht, obgleich cs ohne religiösen Ursprung nicht denkbar ist, nnd durch seinen Inhalt mit dem Cultus zusammen­

gehört ,

sein Zwischengebict in der Mitte von Cultus und weltli­

cher Musik zu behaupten.

In der That können sich schon kirchliche Dicht- und Ton­ kunst nicht völlig entwickeln, wo nicht die Baukunst hinzu kommt.

Die Feier zwar fordert an sich nur einen Raum; und sie weihet ihn, wird nicht von ihm gewcihet;

sie fordert weiter einen geord­

neten, anständigen Raum wofür die Kunst, wenn überhaupt, doch

nur in verneinender Weise mitzuwirken hat.

rungen

Werden die Forde­

des Lichtes und der Laut- und Hörbarkeit gemacht,

so sind sie an sich natürliche, und

entsprechen vielmehr der Re­

flexion auf dingliche Bedingungen als unmittelbar dem künstlerischen

Interesse,

welche

denn

sic treffen allerdings mit Rücksichten zusammen,

der Darstellung der Idee gcwidnict sind.

Je größer der

Begriff ist, in welchem die Motive eines gemeinsamen Handelns

liegen, desto mehr nimmt gern in der Mitte des letzter» das Dar­

stellen und Bezeichnen seinen Platz ein, und die den mechanischen Künsten zunächst anheimgegebene Leistung des Erforderlichen schrei­

tet bis zur Erfüllung ideeller Zwecke vor.

Daß die Gemeine zu-

319

§. 55. Verhältniß zur Kunst.

sammen gerufen werde, entspricht zunächst der natürlichen Wirk­ lichkeit, aber welche Wahrheit und heilige Dichtung liegt in dem

Glocken-Tone und muß die Glocke in der Thurm-Höhe hän­

gen,

um

ihren natürlichen Zweck zu erreichen,

so kommt sofort

die ideelle Zweckmäßigkeit eines Baues hinzu, der im Thurme die

Erhabenheit der Richtung der kirchlichen Gemeine zur Anschauung

Treten wir aber fürs erste in den Raum der gottesdienst­

bringt.

zurück.

lichen Handlung Sache,

Zweierlei

erfordert da die Natur der

daß in Bezug auf Predigt, Gebet und Sacrament Ein­

richtung gemacht,

und daß — abgesehen von Anstand und Sitt­

lichkeit — die Gemeine in Bezug auf jene Ausübung unterschied­ lich

aufgestellt sei.

Schon in dieser Hinsicht thut cs etwas, ob

der Gegensatz des Clerus und der Laien angespannter oder gerin­ ger, ob das Verhältniß von Sacrament und Predigt, von mysti­ scher

oder nur homiletischer Genieinschaft mehr oder minder ent­

wickelt sei im Gedanken der Kirche; denn daher wird es abzuleiten

sein, daß man den Eommunion - Tisch feststellt oder nicht, daß der Ehor

sich über

oder nicht,

die Flächen-Linie des Schiffes bedeutend erhöhet

daß der Tisch sich in den Altar verwandelt u. s. w.

Nun sind wir aber schon in der Darstellung des Selbstbewußt­

seins der Gemeine begriffen,

und bei den Wirkungen, die davon

für die Einrichtung des Locales rcsultiren.

Denn die Erhöhungen

des Grundes, auf dem die Sacramente gefeiert werden, die örtliche

Stellung der Tauf - Vorrichtung zur Vorrichtung dcr Eommunion, die Richtung der Gemeine auf Kanzel, Altar u. s. w., gehen von

dcr ideellen Anschauung aus, sind bestimmt eben dieselbe anzure­ gen, werden also selbst auch ein Moment der Erbauung, und ver­

schon eine Eonstruction des ganzen Ge­

anlassen

endlich

bäudes,

welche der religiöse» Idee zur Verwirklichung

an

Die volle Bedeutung

sich

gereicht.

nämlich dcr kirchlichen Baukunst ist die, daß

das Haus des Herrn zur Anschauung gebracht werde, die gött­

liche Volksversammlung, die gegründete und wachsende Kirche Gottes, zur stätigcn Erscheinung kommen soll. Die bloß quantitativen Ver­ hältnisse

des Kirchenbaucs

zu

andern Gebäuden thun hier nicht

alles; nicht die Weite und Breite, nicht einmal die Höhe.

Denn

was ist weit und breit, was ist hoch gegen die Höhen und Brei­ ten, welche die Natur darbictet!

Parochialkirche,

Eine Stadtkirche, ja eine kleinere

die noch lange kein Dom ist, drückt das Wesen

der Religion und die Gemeinschaft mjt dein Herrn möglicher Weise

320

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

viel angemessener aus, als ein noch so unendlicher Bau, und wird daran durch die Nachbarschaft des königlichen Palastes oder großen Stände-Hauscs

u. s. w. wenig gehindert.

Baugeist hat die Unendlichkeit selbst,

des

Der asiatische

die räumliche und zeitliche,

das Universum des Daseins und eine möglichst reiche Mannigfal­ tigkeit des darin cnthaltmcn Inbegriffes von Kreisen und Stufen

darzusteUen gestrebt. Erd- und Himmelskunde im Bunde mit groß­ artiger Einbildung haben die Entwürfe und despotische Reiche die Hände dazu geliehen. Die griechische Gottheit pflegt ihrer Gemein­ schaft mit dem Menschen in dem schönsten oder prächtigsten Wohn­

hause; denn sie selbst ist veredelte und gehobene Menschlichkeit und Fürstlichkeit. Die Säule thut dabei das meiste.

Der römische Bau

aber wölbt darüber und rundet das Ganze; der Particularismus der Staaten, Religionen und Sitten soll eine Herrschaft des

Allgemeinen

über sich anerkennen.

einzelne Elemente,

In dem Allen finden sich

welche sich der christliche religiöse Bau in der

Zeit seiner Entwickelung zngccignct hat; allein

dieser Entwicklung ist ein anderes

der deutsche Styl,

schon das Princip

und die Vollendung derselben,

stellt etwas ebenso besonderes dar,

als die

Kirche selbst ist, wenn sie mit den vorchristlichen Religionsgemein­

schaften verglichen wird.

Vor der Epoche Constantins giebt es im

Grunde keinen kirchlichen Styl des Baues,

wenn auch schon eine

hergebrachte Einrichtung des kirchlichen Raumes.

Erst nachdem

sich die Idee des Römischen Reichs als Christokratie bestimmt und

mit der Idee der Kirche vereinigt hatte, in einer ersten Zeit des

Sieges und Friedens, wachte der Trieb auf,

große Denknmlc zu

Ehren Christi und prachtvolle Tempel seines Dienstes aufzurichten. Bis dahin hatten wohl die gottesdienstlichen Häuser der Christen ihre natürliche Achnlichkeit mit größeren Synagogen im Allgemei­

nen erhalten. Die Synagoge nun überhaupt als überallhin Pflanz­

bare Ausübung des gesetzlichen Cultus enthielt sich

des blutigen

Opfers und setzte Gebete an deren Stelle, hatte kein eigentliches Priesterthnm, sondern Leser,

Ausleger, Aelteste und Diener; die

Rolle des Gesetzes in eine Lade nicdergelegt und aus derselben hervorgehoben, gab dem Heiligthume seinen

Mittelpunct; damit

hatten sich die Werke, Verhältnisse und Aemter des Tempels zu Zion geändert.

Demungcachtet suchte sie alles Eigenthümliche der

Hütte des Zeugnisses, soweit es möglich war, wieder herzustellen.

Sie nannte sich

selbst wieder Heiligthum, uhp»,

und hatte gc-

§. 55. Verhältniß zur Kunst.

321

wissermaßen ihr Allerheiligstes, ebenfalls ihre Vorhöfe.

liche Versammlung nicht folgte, Personals,

konnte,

wenn sie auch

Die christ­

dieser Veraulassuug

durch eine ihr eigenthümliche Abtheilung theils ihres theils ihrer Feier, wenn auch in Gefahr in das We­

sen vorchristlicher Religionen zurückzufallen, zu einer ähnlichen Drei-

theiligkeit ihres Raumes gelangen, und die so häufig in Kirchen

verwandelten Gerichtshäuser oder die dem Kirchcnbau zum Muster

dienenden Basiliken stimmten damit zusammen.

Obgleich, wie das

alttestantentliche Volk, ein allgemeines Pricsterthulli und zwar das

wirkliche aus allen Völkern

ausgcwählte,

stellte die Kirche doch

bald wieder ein specifisches Priesterthum aus sich heraus, und un­

terschied sich

andrerseits von halbgültigen Gliedern, Exspcctanten

und Suspendirten; Verhältnisse, welche sich im Chor, Schiff,

der Vorhalle räumlich darstellten.

und

Die Feier des Sacra-

mentes fiel dem erhöhetcn Platze, die Feier des Wortes, Gebetes und der Versammlung überhaupt dem Schiffe, die Feier der Buße

oder der Expectanz,

wenn man so sagen will, der Vorhalle zu.

Ob nun und wie weit sich die verzierende bildende Kunst an der

Auszeichnung der Raum-Theile im Geiste dieser Unterscheidung schon betheiligte, ist etwas Zufälliges.

beit

haben

Kreuz

sich

Malerei und erhabene Ar­

zuerst der Seitenwände und Gänge bcinächtigt,

und Taube haben Baptisterium und

den sogenannten

Altar ausgezeichnet u. s. w. Das Wichtigste aber ist, daß sich die

Form des Kirchenbaues eben aus dem Begriffe der Kirche, näm­ lich der Gemeine des Glaubens, welcher der Herr besonders gegen­

wärtig ist,

und aus der Beschaffenheit der Feier, nicht aus dem

Begriffe der göttlichen Wohnung oder eines dargestellten Univer­

sums im Kleinen, entwickelt hat. Diese letztern beiden Bestimmun­ gen sind schon durch den mosaischen Gedanken gelvisscrniaßen auf­

gehoben; denn die Hütte des Zeugnisses ist zwar Stätte der Offen­ barung Gottes aber zugleich Denkmal der absolutesten Unsichtbarkeit

und

Unnahbarkeit Jehova's; Gott ist seinem Volke gegenwärtig

nach

dem Grade der von ihm gesetzten Heiligungs-Stufen;

un­

mittelbare Sinnlichkeit, Magie der Genieinschaft mit Gott giebt

es hier nicht, sondern reine Symbolik, welche in den Geist, in das ethische

und intellectuelle Verhältniß zu ihm den Menschen ver­

weiset.

Der höchste prophetischer Ernst dieses Cultus drückt sich

im sinnbildlichen Acte des je und je zu wiederholenden Sühne-

Opfers aus. Verwandelt aber die Synagoge das Opfer in Gebet, Nitz sch, prat». r-eologte, I. Bd. 2tt Aufl.

21

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

322 und

geht ihr Dienst aus dem priesterlichen Elemente in das pro­

phetische, didaktische über, so wird die Vorstellung von natürlicher

Gegenwart des Herrn vollends überwunden;

und cs ist nunmehr

das eingelcitet, daß mittels der Verkündigung des Evangeliums die wahrhaftige Gottgemeinschaft, das geistliche Priesterthuni, der

Glaube, der da gerecht, heilig und lebendig macht, sich des Men­ schen bemächtigt.

Jetzt ist eben das glaubende Herz des heiligen

Geistes Tempel, Gott hat seine Wohnung im Menschen, das Volk der Gläubigen selbst ist sein Haus.

Gegenwart Aufgabe

insbesondere

sein;

Der Gottheit Wohnung und

darzustellen,

kann nicht mehr die

aber es kann auch nicht mehr genügen durch Ein-

theilung und zweckmäßige Verzierung des Raumes die Eintheilung

deS Gemeinde-Personals und seiner Handlungen zu bezeichnen: viel­

mehr die von jeder natürlichen und weltlichen durch ihre geistliche,

überirdische Richtung unterschiedene und über jede andere erha­ bene Gemeine, die irdische und doch überirdische Glaubensgemeinschaft will sich versinnbilden, und dann, unter dem Schutze dieser absoluten Einheit und Allgemeinheit der Kirche soll sich die Man­ nigfaltigkeit der besondern

Stufen und Verknüpfungen darstellen.

Darum muß die Höhe des Baues über die Breite, das Streben über die ruhende Masse siegen. Aber dieser Bestimmung entspricht nicht die Basilika,

sondern die Kuppel verhältnißmäßig, weiter

der mit dem Versammlungsbau organisch geeinigte Thurm, vor­

nehmlich und vollkommen der Spitzbogen.

Vermöge des letz­

im kleinern ja kleinsten

tem muß es dem Baumeister gelingen,

Verhältnisse des Raumes und der Größe überhaupt dennoch Kir­ chengebäude

aufzurichten, welche

den Character

der Größe und

Erhabenheit an sich tragen und die Frage, ob das eine christliche

Kirche sei, nicht mehr übrig lassen.

widrig

Um so mehr muß es für kunst­

und wo sich einmal kirchliche Kunst bis in die Architectnr

erstrecken soll, für unkirchlich gelten, daß man die christlichen Ver­ sammlungshäuser, anstatt den Versuch,

sie im kleinen groß

zu

bauen, fortzusetzen, den Sprech- und Conccrtsälcn oder den Stadtund Gerichtshäusern verähnlicht.

Weder Säulenwerk

noch

sonst

prächtige Verzierung ist im Stande den Verlust des kirchlichen

Styles zu ersetzen.

Ist dieser nicht herznstellcn oder zu erhalten,

dann kommt die grundsätzliche Verzichtnng vieler Christen auf alles,

was

über den Realzweck hinausrcicht, auch in Hinsicht der kirch­

lichen Architektur zur vollsten Berechttgung.

§. 55. Verhältniß zur Kunst.

323

Erst in Folge der letztern tritt auch die Malerei mögli­

cher Weise in

die Kirche ein; denn ganz unmittelbaren Antheil

an der Feier hat sie nicht zu nehmen. von kirchlicher unterscheidet,

Wie christliche Poesie sich

so christliche Malerei von kirchlicher.

das mosaische Verbot der Abbildung der Gottheit nicht

Zwar ist

gegen Ehristus - Bilder zu

richten,

und die bildliche Darstellung

seines Lebens sowie der Geschichte und Personen, welche am mei­ sten auf Ihn hin oder zurückdeuten, muß an den Stätten, wo die

betrachtend

Andacht verweilt oder

einhcrgehet,

ebenso an ihrem

Orte sein wie das Recitativ in dcr Festfcier oder sonst eine Verge­ genwärtigung thatsächlicher Momente des Reiches Gottes. Wirklich

waren die Wände und Seitcngünge, die Baptisterien und Ehöre der Kirchen alter und mittlerer Zeit mehr und mehr heilige Bilder-Gallcrieen geworden, und wieviel lehrreicher und würdiger lei­ tete

die Betrachtung gemalter und

gezeichneter Geschichte als die

Illusion drastischer Vergegenwärtigung

und Aufführung

der Fest-

Ereignisse die gottesdienstliche Begehung ein! Nur ist dieses wahr, daß die Kunst, je weniger sie der wesentlichen Feier eingeboren ist

und jemehr sie Zuthat,

Außenwerk,

Einfassung der Andacht her-

giebt, nachdem sie zu einer Zeit hat helfen müssen rohe Unempfäng­ überwinden und angemessene Seelenstimmungen hervor­

lichkeit zu

zurufen,

zu einer andern vermöge ihres wuchernden Lebens

zerstreuender und herabziehender wirken wird.

desto

Das Gesetz keuscher

und erhabener Einfalt muß für die Kirche des Wortes und Geistes noch entschiedener inne gehalten werden, wenn die Darstellung dem Sinne des'Gesichts gilt und in begrcnzteren Gcstalteir'bestimmtere

Vorstellungen darreicht.

Die allegorischen Darstellungen, Bilder

der Abstracte: Glaube, Hoffnung, Tugend — sind ohngefähr so

kirchlich wie das Lied „Religion von Gott gegeben :c.", d. h. ganz

unkirchlich, und von Seiten allgemeiner Kunsttheorie längst gerichtet

oder auf seltene Fälle verwiesen. 3.

Nun besteht aber Leben und Uebung der Kunst auf dem

Gebiete der Cultur, welches die Kirche theilt, ganz unabhängig von

religiöser Feier.

Es fragt sich,

wie sich die Kirche als Sitte

zum weltlichen Kunstleben zu stellen habe; theils als sittliche Lehre und Erziehung, theils als sittliche Ordnung, theils endlich wieder

als Feier.

Denn in letzterer Beziehung kann die Zumuthung an

die Kirche diese sein,

auch das Concert,

sie solle nicht nur das Oratorium, sondern

sofern es religiösen Inhalts oder doch keines

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

324

irreligiösen fei, wohl auch dramatische Darstellung aufnchmen, den kirchlichen Raum,

die kirchliche Zeit,

ja

das kirchliche Personal

dazu hergeben: in der ersteren aber entsteht die Frage, ob die Kirche alles,

waö unter der Kunst begriffen sein kann, gut zu heißen int

oder nicht alles,

Stande sei,

und ob sie genöthigt sei, diejenigen

von ihrer Gemeinschaft auszuschließcn, welche gewisse weltliche Kunst­ übungen zu

ihrem Lebcusbertife gewählt haben.

der kirchlichen

und weltlichen Kunst besteht.

Der Unterschied

Zwar das vorchrist­

liche Alterthum kannte ihn insoweit nicht, als es die Religion von der Rationalität nicht trennte, nnd die Feier des gemeinsamen Na­ turlebens in das religiöse aufzunchmen im Stande war.

keinen profanen Kunststyl.

Das Christenthum aber

Es gab

widerstrebte

nicht nur der ausgeartetcn Kunstübung der klassischen Völker, son­

dern muß sich

auch, seitdem es seine Kunst hervorgebracht hat

und eines Cultus theilhaftig geworden ist, was seine Feier an­

langt, von der Antike soweit geschieden halten, als diese der Natur­

religion verwandt ist; von der spielenden Kunst, eben weil sie nur spielt oder weil sie

der Schönheit vielmehr als der Erhabenheit,

vielinehr der menschlichen Freiheit und Kraft als der Religioit hul­ digt,

überhaupt von demjenigen geselligen Darstellen, welches der

Kunstform und dem Kunsttriebc als solchen gewidmet ist. Hieraus

ergiebt sich schon zum Theil die Antwort aus obige Fragen. Kirche kann dagegen nicht sein,

Die

das die gesellige Kunst sich an

religiösen Gegenständen übe und vervollkommne, und

nach Ver­

hältniß der Zustände aus dem Privatleben in eine größere Oeffentlichkeit damit hervortrete, vorausgesetzt, daß sie nicht darauf An­

spruch mache, sich an die Stelle des Cultus zu drangen, und daß

sie den religiösen Inhalt nicht gleichgültig mit fremdartigem, nach Identität der Zeit und des Ortes eines künstlerischen Actes, oder gar mit irreligiösem (der freilich auch nicht künstlerisch sein könnte)

zusammenwerfe. Nur daß sie, soviel an ihr ist, es weder gestatten noch fördern darf, daß die dramatische Kunst auf gleiche Weise wie sie sonst Geschichte darstellt, auch Geschichte der Offenbarung

und des Heiles darstelle, wohl gar die Apostel öder die Person des Erlösers selbst erscheinen und handelnd oder redend auftreten

lasse. Wir dürfen annehmen, der Sinn der Kunstfreunde selbst sei

zu

unserer Zeit hiemit einverstanden.

Sollte es hin und wieder

anders stehen, so würde inan sich etwa auf den Umstand berufen, daß vor Zeiten Kleriker, Ktosterleute,

Fromme überhaupt arglos

§. 55. Verhältniß zur Kunst.

325

zusahen oder mitwirkten, wenn man mit Narren- und Fastnachts­

spielen

den kirchlichen Ernst eine Weile unterbrach,

sogar, wenn

die heiligen Geschichten und Legenden auf einem näheren Grenzge­

biete des Cultus anfgeführt wurden.

und Spuren

in

Noch finden sich Reste davon

Allein diese Erschei­

den protestantischen Sitten.

nungen sind nicht maaßgebend noch analog für unsere Frage.

Die

Kirche auf ein Mindestes von Lehre und Unterricht zurückgekom­ men, beinahe ganz dargcstelltcr, versinnlichter Geist geworden, be­

dient sich des Spieles als der Schule für heilige Geschichte; und läßt sie

sogar

den Zaum der

Disciplin bis dahin nach,

das ganze Volksleben regierenden

daß unartige Scherze und Witze freien

Lauf haben, so lange die Stunde währt, gewiß, ihn daun wieder

desto kräftiger anzichen zu dürfen, läßt sie im Bewußtsein ihrer überfließenden Machtfülle zu den Füßen ihrer Erhabenheit die schö­

nen Künste jugendlich spielen, so hegt sie auch noch keine Kritik des bewußten Unterschiedes von Geschichte und Mythe, von kirch­

licher und weltlicher Kunst, und genießt weder den Segen davon noch hat sie den Schmerz davon zu erleiden. Die Kunst als selbst­

ständiges Moment des Eulturlebcns ist dann überhaupt noch nicht vorhanden, Kirche

aber

gekommen,

sondern in das kirchliche clcmcntarisch verwoben. wieder zuni Bewußtsein

Die

ihres Grundes und Wesens

hat an der reichen Lehre eine Zucht und Kritik aller

Feier, sondert heilige Geschichte und Legende scharf von einander, Drama spielen.

und kann nun weder geistliches noch

weltliches

Andrerseits ist die emancipirte Kunst

als dramatische nicht mehr

im Stande Bestandtheile der Heilsgeschichtc aufzuführcn;

rer Freiheit

und Wahrhaftigkeit wegen nicht,

eben ih­

es wäre denn, daß

der christliche Volksgeist selbst sie ganz verlassen und die Wissen­

schaft ihr den Stoff des Evangeliums in reine Fabel zersetzt über­ geben hätte.

Warum

aber?

Diejenigen

heiligen Vorstellungen,

welche zugleich die schlechthin heiligenden sind, sollen und können

nicht in die freie Eigenthümlichkeit des Künstlers,

es sei des epi­

schen oder dramatischen Dichters oder des Schauspielers, hingege­

ben werden; geschieht es, so gereicht es der Kunst selbst zum Ver­

derben und der Religion zur Verletzung. Nicht einmal der Schau­

spieler ist bloß Werkzeug, bloß Nachahmer, er ist kein Sclav des Dichters; er nimmt den Geist und Gedanken der Rolle in sich auf, und dieser macht ihn zum freien reproductiven Organe, sonst wäre

seine Leistung kaum etwas sittliches und vernünftiges; viel weniger

326

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

giebt der Dichter

sich unbedingt an den historischen Gegenstand

Und dieß ist eben Ursache, daß das Christenthum sowenig

hin.

als die Ethik überhaupt dramatische Spiele verurtheilen oder Schau­

spieler einer lügenhaften Verkehrung ihrer Persönlichkeit anklagen Wie aber soll ein christlicher Künstler den ungeheuren Wi­

darf.

derspruch

begehen,

Christum

als

einen

Character aufzufassen,

die schlechthin religiöse, unsündliche gottmenschlichc Person

durch

sich und in sich behufs vollendeter Darstellung zu vereigenthümli-

chen? Wie es auch nur unternehmen können, einen Apostel, ja irgend einen Heiligen, von bei» als einem wirklichen Organe des heiligen Geistes die religiöse Gemeine sich abhängig weiß, in per­

sönlicher lebendiger Handlung vorzustellen?

Wie soll das Publi­

cum, der Zuschauer es auszuhalten im Stande sein, in diesem Falle eine Aufgabe, die deni ganzen ringenden,

glaubenden, betenden

Selbstbewußtsein und Leben zufüllt — nämlich

die Aufgabe, die

Religion zu verwirklichen im Leiden und Thun und ihrem Urbilde,

ihren Vorbildern sich nachzugestalten — einseitig der Kunst, der noch dazu

hier ganz unvermögenden abgetreten zu sehen?

nicht die Folgerung ziehen,

Du darfst

also sei cs auch unstatthaft, die hei­

ligste Person oder die ihr nahe stehenden zeichnend oder malend darzustcllen;

denn das Bild, das in dieser Weise dir gegenständ­

lich gewordene Ideal ist von deinem persönlichen Sein und Leben

sehr wohl zu trennen.

Du darfst nicht eiuwenden, das Drama

müsse dann auch vor jeder sittlich großen Person, in dem Maaße als sie eine noch herrschende Verehrung deni Publicum cinflöße, mit

seiner Darstellung zurückbeben, deres,

denn erstlich ist dieß doch ein an­

und dann ließe sich vielmehr von diesem Bedenken auf ein

noch gewichtigeres schließen. Du darfst endlich nicht uns zumuthen,

demnach auch die redende Wiederholung und den recitativen Ge­ sang der Worte der biblischen Personen zu verwerfen; denn Vorlesen und Absingen ist kein volles Handeln, ist reine Ueberlieferung oder

doch überwiegend dieses; findet es nun auch nicht innerhalb des Cultus noch innerhalb des Privatlebens statt,

noch nicht profanirend,

so ist es dadurch

sondern fällt nur den Bedingungen des

Oratoriums anheim.

Wie sich aber die Kirche zur weltlichen Kunst in Bezug auf empfangende und auf wirkende Theilnahme an derselben zu stellen habe?

Sic hat sie sich nach Form und Inhalt freilich nicht un­

mittelbar anzueignen, selbst in Ansehung der Künste nicht/ durch

§. 55. Verhältniß zur Kunst.

327

deren Vermittlung sie ihre Darstellung vollbringt, und von deren allgemeiner Theorie und Schule sie unterstützt wird. Aber eine jede Kunst, die es wirklich ist, und jedes gemeinsame Darstellen, welchem eine inenschliche Anlage, ein Talent zum Grunde liegt, haben sittliche Zulässigkeit und Bedeutung. Hiervon ist nicht ein­ mal der Tanz, vielwcniger das Schauspiel ausgenommen.

Die Kirche als Lehre und als specielle Seelsorge hat in dieser Hin­ sicht in Gemeinschaft mit der Sittenlehre zu verhüten, daß die der leiblichen Entwickelung dienstbare Kunst sich den Künsten des Gei­ stes gleichstclle, daß irgendwelche Kunstübung sich an die Stelle der Totalität der sittlichen Bestimmungen setze und zum Cultus,

zur daß der Form - Sinn die sittliche Bedeutung des Inhalts vergleichgültige, oder die Schein­ kunst zur Herrschaft gelange, welche dem wollüstigen Reize viel­ mehr als der Darstellung der Idee des Lebens gewidmet ist. Nur kann die entschiedene Warnung der Kirchenväter vor dem Schau­ spiel kein Maaß geben; zu der Zeit bestand dieses Spiel nur ans Religion hinaufschraube, am meisten dieß,

heidnischen Reizmitteln und verrichtete ohngefähr an der christlichen Jugend, was Bileam mit Erfolg an dem Volke Israel versucht hatte. Die Kirche hat überhaupt keine Macht, in unmittelbarer

Weise die Kunst, Wissenschaft und Litteratur in ihrer Selbstent­

wickelung zu hemmen, um der darin enthaltenen Aussaat von Verder­

ben zuvorzukommen. Sie soll sich eine solche weder wünschen noch anmaßen; sie soll weder der politischen Sittenzucht noch der Kunst­ kritik vorzugreifen begierig sein, zumal es eine sehr eitle Erziehungs­ weisheit ist, welche aus völligem Mißtrauen gegen die freie das Gift ausstoßendc Vernnnftkraft das Gift in das Blut zurücktreibt. Dagegen hat sie alles, was offenbar vom Reize zur Sünde lebt und von Unsittlichkeit oder Unglauben Profeß macht, es sei Hand­ lung, Rede oder Person, von ihrem Bekenntniß und Weihe-Ge­ Dieß fordert der Disciplin Noth und Recht. Welche Kunstübung aber kirchlich unehrlich sei, welche nicht, oder welche zum ausschließlichen Lebensberufe gemacht als Entsittlichung oder für Heidenthum gelten müsse, läßt sich nach Sätzen des kano­ nischen Rechts nicht zuvor entscheiden, denn die Sitten der Künste

biete zurückzuweisen.

bleiben skch nicht gleich.

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen.

328

Verhältniß zu den sogenannten materiellen

Z. 56.

Interessen: zur Arbeit, zu Spiel und Lustbarkeit.

Die Kirche als Feier und als Sitte

tritt in ein leident-

liches und wirkendes Verhältniß zur Gemeinschaft der Arbeit und des Vergnügens

(oder

der spielenden Feier).

Sie hat gegenüber

der Arbeit und dem Erwerbe, dem Spiele und der Lustbarkeit ein

Recht auf die Feier-Zeit und

auf die zu schonenden Räume

der Eultus-Handlungcn; soll dagegen den Geschäften und Vergnü­ gungen ihre Zeit und ihren Raum nicht nur gestatten,

sondern

auch, jcnachdcm es durch die 9iotl) augezcigt ist, freigebig, gewäh­ ren und sich in dieser Hinsicht evangelischer Freiheit rühmen. Was

aber ihren sittlichen Wirkungskreis anlangt, hat die Kirche den

Widerstand des bessern Volksgeistcs gegen das Wucherische, Gott­ am Erwerbe und Geschäfte,

lose, Unmenschliche

und

gegen das

Unzüchtige oder Gefährliche an Spiel und Lustbarkeit zu unterstützen und wo

er

fehlt hervorzurufen,

hingegen

diejenigen Spiele und

Vergnügungen zu begünstigen, welche indem sic die körperlichen und geistigen Fähigkeiten,

die Geschlechter und die Altersstufen in ein

richtiges Verhältniß bringen, zugleich den Familiensinn im Volks­ sinn,

den Volkssinn im Familiensinn

beleben,

und an religiöse

Dankgcfühlc, an volksthümlichc oder religionsgeschichtliche Gedächt­

nisse sich anknüpfen lassen.

1.

Bon der Sittlichkeit und Christlichkeit der Bearbeitung

der Erde, der Gewerbe, des Handels, kurz aller der Thätigkeiten, welche der Erhaltung unb Vervollkommnung der irdischen Lebens­

gemeinschaft gewidmet sind, darf hier nicht,

ebensowenig von der

Sittlichkeit des geselligen Genusses erst die Rede

Theologie ist vorausgesetzt.

sein.

Moral-

Auch kaum mehr von dem göttlichen

Rechte rind Grunde des Ruhetages und der Feste im Allgemeinen.

Die Entwicklung

des Begriffs der Kirche und ihrer wesentlichen

Functionen hat bereits dargcthan,

daß die Gemeine sich vor dem

Herrn versammele und feiere, wozu eine geordnete Zeit und ein

geordneter Raum,

eine gemeinsame Aussetzung des natürlich-welt­

lichen Verkehrs gehört und erfordert wird, daß den physischen und

ethisch-psychologischen Bedingungen der religiösen Feier ein Genüge

geschehe.

Da ist nun der Widerstreit zwischen der Kirche und den

Interessen der Arbeit möglich, und wir haben in dem Falle, da es

§. 56. Verhältniß zu Arbeit und Spiel.

329

sich um die Zeit handelt, nicht nöthig den Staats- und Haus­

dienst, die Hand- und Geistes-Arbeit zu unterscheide».

Es ist aber

gedenkbar, daß unter dein Titel der Noth und Nothwendigkeit die Arbeit jede geordnete Cultuszeit verschlinge, während das Vergnü­ gen, der Kunst- und Naturcultus unter dem Titel christlicher Frei­

heit dieselben

arbeitslosen Tage und Stunden, welche die Kirche,

in Anspruch zu nehmen gedenkt.

Andrerseits könnte es geschehen,

daß die Kirche Feier auf Feier häufte

und dadurch, wenn nicht

das Vergnügen, doch die Arbeit unrechtmäßig verkürzte. Die Kirche

hat also zwei Rücksichten zu vereinigen, denn sic hat auf das Ent­ schiedenste eilte Cultuszeit zu behaupten und muß überzeugt sein, daß sie dieß zugleich tut allgemeinen Interesse der Humanität thut, und sie hat jede Duldung und Schonnng für stickige und für außer­

ordentliche Erfordernisse an Arbeitszeit zu üben.

lung findet Schwierigkeiten.

Diese Vermitte­

Denn, werden ganze Tage als Cul-

tuszcit anbcraumt, und die Versatnmlungszeit muß doch auf Stun­ den beschränkt werden, so ist dieß zwar dem Begriffe vollkommen

angemessen, weil die Feier im engern Sinne, wenn sic tiefer und nachhaltiger wirken soll,

Vorbereitung und Nachfeier, nach dem

Gesetze der Allmähligkcit und des Ueberganges, erfordert; die Unfähigkeit, theils der Sitte,

allein

theils des individuellen Sinnes

wirkliche Nach - oder Vorfeier zu Stande zu bringen zieht nach sich,

daß nun vielmehr Müßiggang

oder Lustbarkeit den übrigen

Raum einnehmen, und die letztere so nahe an den über

die Ge­

meine gesprochenen Segen und an die Ausgänge der Kirche grenzt

oder so wild und ungcmesscn sich artet, daß der Feiertag so un­ feierlich wie möglich und aus dem Tage der Reinigung und Weihe

ein Tag der Entweihung wird.

Geschieht aber

wird geduldet, so hat die Wcrktagsarbeit

dergleichen

ein desto

und

scheinbareres

Recht diesen Raum und diese Zeit ebenfalls zu begehen. Geschieht es nicht, weil die Polizei oder weil die kirchliche Disciplin es ver­

pönt ,

so geht entweder der Sturm des rohen Unwillens dagegen

an oder ein

entschädigt

für den innern Cultus noch tödtlichercr Zeitvertreib

im Verborgenen für die Eutbchrung des öffentlichen

Spieles und lauten Volksvergnügens.

Da das letztere auch der

Natur der Sache nach seinen Raum fordert, so fragt sich, soll cs

die Arbeitszeit verkürzen oder den Feiertag gefährden? Dazu kom­ men die über den Werktag hinausgehenden außerordentlichen Ar­ beitserfordernisse,

welche gar leicht sich zu ordentlichen entwickeln,

330

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

nebst

den Veranlassungen der Kirche außerordentlicher Weise oder

doch über den Sonntag hinaus zu feiern.

Denn der Nahrungs­

stand niuß in letzterem Falle entweder den Mitgliedern des Haus­

dienstes,

der Staat den Staatsdiener» Freiheit

geben, die von

ihrer Religionsgcmeine beschlossenen und angezeigten Feste zu be­ suchen, und also Verluste erleiden, oder den Schein gestörter Reli­

gionsrechte auf sich laden.

Es hieße den Knoten zerhauen, wollte

man nach dem Vorschläge moderner Weltverbesserung den ganzen Unterschied des Werk- und Feiertags aufheben, d. h. es also ein­

richten,

daß jeder Tag beides sei.

Denn man nimmt an,

jeder

Tag sei nach richtiger evangelischer Ansicht Tag des Herrn, und die Arbeit wie die Feier seiner Verehrung geweiht;

nen also könne der Cultus

gedacht werden, was die Tage angeht, also oder Abend

auch jeden Morgen

für die Freiwilligen und Gestimutten

öffnet, Gcbetsübung

im Allgemei­

als ebenso permanent wie die Arbeit

und Auslegung der Schrift

die Kirche

ge­

angeboten und

gehalten werden, wobei gewisse hochfcstliche Begehungen immer noch ihren Platz behaupten dürften.

In der That

christliche Gemeinwesen aufgelöst,

würde

hiemit das

denn der belebende Mittelpunct

desselben, die ordentliche Versammlung ziehet im Wegfall den Ver­

fall des ganzen nach sich.

Es gäbe nun im Grunde nur Hausge­

meine , und die außerhalb des Familienkreises lebenden Christen wären genöthigt entweder sich einander aufzusuchen, oder sich an

eine Familie anzuschließen, dafern sie ihrem Gemeingefühl Genüge thun wollten. Hätte dieses Gefühl Energie, so würde sich aus den Elementen der christlichen Geselligkeit (in Gemäßheit der im ersten Hauptstücke d. Abschn. entwickelten Beweggründe und Lebensgesetze)

die stätige Versammlung und mit ihr die Feier des Herrn-Tages reconstituiren.

Denn die offene Kirchthür,

die alltägliche Gebets­

stunde, die dort einer zufälligen Anzahl von Erbauungsbedürftigen

wartende Geistlichkeit

könnte auf der einen Seite weder dem Fa­

miliengottesdienste seine Haltung sichern,

noch

für die bei diesem

leer ausgehenden das Erforderniß jener Wiederherstellung erledigen, auf der andern aber, dafern die Einrichtung Dauer haben sollte,

sehr leicht den Werth des localen Kirchenbesuchs und lichen Zugangs zum Prediger des

christlichen Begriffs

des persön­

als zum Priester über die Gebühr

erheben;

unangesehen, daß hochfestliche

christliche Begehungen, für welche etwa nun das kirchliche Local eingerichtet bliebe, nur auf der Basis des kirchlichen Jahres Mög-

§. 56. Verhältniß zu Arbeit und Spiel. lichkeit hätten;

331

das Kirchenjahr aber ruhet auf dem Grunde des

Sonntages. So läßt es sich schon von Außen her anschaulich ma­

chen — und man könnte leicht vom Standorte des Arbeits-Inter­ esses aus zu gleichem Resultate der Verkehrtheit

des Vorschlages

gelangen — daß die Kirche das Sonntagsrecht, zumal den Kern

desselben, die ordentliche Versammlungszcit

und die sittliche Ver-

mtttlung ihrer Früchte an christlicher Erbauung nie und nirgends aufzugeben hat. Sic muß daher als Lehre und bei Verhandlungen

desselben kenntlich und

über den Gegenstand den göttlichen Grund gültig machen.

Derselbe beruht nicht in dein vergänglichen Cäre-

monialgesetze des alttestamentlichen Cultus, sondern , wie sich aus der h. Schrift ohne Mühe darthun läßt,

in einem Natur-,

Ver­

nunft- und Sittcngesetze, dessen Substanz durch das Evangelium

nicht aufgelöst,

sowie alles,

sondern zur vollen Geltung

gebracht werden soll,

was im Decalogus begriffen ist.

Was auch immer

die Rede des Herrn oder der Brief an die Galater (4, 10), oder die h. Schrift überhaupt Kritisches über die jüdische und pharisäi­

sche Sabbatsfeier ergehen lassen mag,

cs ist und bleibt Thatsache

des urapostolischcn Gemeinlebcns, daß das aufgehobene Sabbats­

gesetz sofort im evangelischen Geiste hergestellt worden ist. stus

ist ein Herr über den Sabbat,

Chri­

und durch ihn die Gemeine,

aber nicht allein um das Judenthum ihm abzustreifen, sondern

auch um ihn dem Mensch enthume zu erhalten, denn um der

Menschen willen ist der Sabbat. über ,

Verschiedene Ansichten dar­

und in Ansehung der Feier verschiedene Sitten mögen den­

noch auch in der Christenheit bestehen; Paulus fordert, Röm. 14,5,

Duldung derselben.

Aber daß ein erster Wochentag,

der zugleich

ein siebenter ist (oder wie der Brief des Barnabas ihn nennt, ein

achter, weil der jedesmal vergangene sich wieder mitzählt, um die

Folge der Wochen und das Fundament des Kirchenjahrs zu be­

zeichnen) , kurz, daß ein ausgesonderter Ruhe- und Gemeinde-Tag sei, steht mit dem Christen- und Kirchenthume fest.

Erst auf die­

ser Grundlage kann eine nach Verhältniß des Umfangs der Ge­ meine und nach Erforderniß der Theilung des Publikums verviel­

fältigte Zusammenkunft am selbigen Tage oder eine weitere Ent­

wickelung der Feier in die Werktage herein

stattfinden,

wiewohl

bei ausgebildeter Familienandächt dergleichen Bedürfniß in gerin­ gerem Grade

eintritt.

Und

weil der christliche Gottesdienst im

Elemente der Lehre und der Erkenntniß der Wahrheit sich begrün-

I. Buch. Kirchl. Leben. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen.

332

bet, so ist destomehr der schroffe Ucbcrgang von Arbeit zur kirch­

lichen Feier und von dieser zu jener zu meiden, also auch vor und nach dem Hauptgottcsdicnstc möglichste Geschäftsruhc zu erzielen,

cs sei daß sie von der Obrigkeit erbeten oder den dem Cultus ver­

wandten Haushcrrschaften als kirchliche Pflicht aufgelegt werden

Dahin, daß wer Ruhe genießt die Kirche besuche ist nur

müsse.

durch Lehre und Seelsorge oder durch Erweckung des kirchlichen

Sinnes,

nicht in disciplinarischer Weise,

dafür aber, daß jeder

jedem nach Vermögen die Ruhe lasse oder verschaffe,

allerdings

auch nach Umständen disciplinarisch zu wirken. Es giebt eine rohe und

unwahre Handhabung des

vor Gottesdienst.

Sprüchwortcs:

Herrndicnst

geht

Alle Laster, Geiz und Ueppigkeit, Ehrsucht und

Herrschsucht, jede Hoffahrt ersinnet Pflichten und Nothfälle,

Er­

laubnisse und Rechte, welche den Arbeiter von der Feier ihm zu Gefallen oder zu Herzeleid abhaltcn. lind daß dergleichen zu wirk­

lichem Aergerniß anwachscn kann, leuchtet ein.

Ist cs dagegen die

wirkliche Drangsal und Noth, oder die hülsrcichc Liebe, welche ab­ hält, so

hat die Kirche

mit ihnen in der Art gemeinschaftliche

Sache zu machen, daß sic eingedenk der Sprüche und Handlungen des Erlösers, Matth. 12, 11. Marc. 3,5. Luc. 14, 3. Joh. 5,17.

theils der allgemeineren Noth mit Veränderung,

7,23,

Vermeh­

rung mtb Beschränkung der Vcrsammlungszciten, oder mit zeitwei­ liger Suspension ihrer Anordnungen zu Hülfe kommt, theils der

besondern und

individuellen

mit

Erweckung und Leistung

einer

Wohlthätigkeit, durch welche die Noth in dieser Beziehung gehoben und der Bedürftige kirchlich zu leben in Stand gesetzt werden kann.

2.

Es gilt aber allerdings

einen ebenso schwer zu lösenden

Knoten, ist von Spiel und Lustbarkeit und ihrer Berechtigung an der Fcicrzcit Theil zu haben die Rede.

Sofern nämlich das Werk-

tagslcbcn auch den Feierabend verkürzt

oder nach sich ziehet,

er schlechthin nur dem leiblichen,

sei,

daß

häuslichen Ausrnhen hingegeben

so daß da am allerwenigsten für die angestrengteren Classen

des Arbcitöstandcs Raum für gesellige Vergnügungen übrig bleibt,

drängt sich das Verlangen nach Spiel und Vergnügen

dem Feier-

Ta gc zu und nimmt vielleicht schon den Feierabend des dies pro-

festus in der Art in Beschlag,

daß der Ucbcrgang zum Cultus

in Bezug auf Seele und Leib Schaden nimmt,

vernichtet wird:

Oder, weil cs

weder eine

so er nicht völlig

häusliche

noch

eine

bürgerliche, ebenfalls keine kirchliche Zucht giebt, welche den Zwang

§. 56. Verhältniß zu Arbeit und Spiel.

zum Kirchenbesuche enthielte, ja

sogar

die

333

mittelbare Nvthigung

durch die Sitte schon erschlafft ist, so schwärmt vielleicht das Ver­

vor­

gnügen und Spiel schon um den Cultus herum und an ihm

Dafern aber die Orte und Stunden desselben durch Gesetz

über.

oder Sitte geschirmt werden, nimmt der freigelassene Theil des

Tages die Lustbarkeiten auf

sich, welche dann bis in die Nacht

herein fortgesetzt den Eindruck der kirchlichen Feier um so vollkom­ mener verwischen und die Frucht der Erbauung

Woche nm so grausamer abschneidcn,

für die

folgende

weil sie dem Bewußtsein

nicht nur Zerstreuung, sondern auch dem Gewissen Verunreinigung

und

den

Verhältnissen Verletzung zugezogcn haben.

Schon Jo­

hannes Chrysostvmus hat dieses in der Rede gegen die Theater-

Läufer anschaulich genug gemacht.

4. Jahrhunderte die früher

Und was half es, daß sie im

des Sonntags unmittelbar nach dem

Gottesdienste gehaltenen kirchlichen Friedensgcrichte auf den Mon­

tag verlegten, damit Leidenschaften der Rcchtsbegierdc dabei etwa

rege geworden die Kraft der gefeierten Bruderliebe nicht schwächen möchten,

wenn dagegen das byzantinische Publicum der chrysosto-

mischen Zeit nicht einmal

an

hohen

Festtagen den Schluß des

Cultus vor Verlangen nach dem Theater abzuwarten im Stande

war!

Die Heilung der Gemeine von solchem Uebel muß ja aller­

dings vom Grunde der Wahrheit aus und sortschrittsmäßig ange­ strebt werden.

Die gründliche Cur kann aber nicht darin bestehen,

daß die kirchliche Lehre und Zucht der christlichen Moral Gewalt anthllt und in dieser Hinsicht entweder Tanz, Spiel, gesellige An­

näherung

der Geschlechter, Concert u. bergt in Bausch und Bogen

für heidnische Sünde erklärt, oder daß sic, was an und für sich erlaubt sei, am Tage des Herrn gethan, schlechthin als Sabbats­

schändung charaktcrisirt, wenn es nicht in unmittelbarer Fortsetzung und Entwicklung der gemeinsamen Andachts- imb religiösen Lehr­ übung bestehe.

Die eine wie die andere Ansicht ist irrig.

der Apostel die Thatsache von

nieder

um

Wenn

2 Mos. 32, 6 „das Volk setzte sich

zu essen und zu trinken,

und stand auf zu spielen",

I Cor. 10. 7, auf die Warnungstafel schreibt, so ist es nicht die

Tischgemeinschaft noch das Spiel, sondern die Abgötterei, welcher

beides gewidmet

wird,

wovor er warnt, und wenn die geistvolle

und treffende Polemik des Tertullianus gegen den Schauspielbesuch der Christen hin und wieder noch die jetzigen Zustände trifft,

so

laufen doch alle seine gewichtigen Argumente dahin ans, daß sie

334

I. Buch. Kirchl. Lebm. I. Idee. 3. Verhältniß nach Außen,

die Lüge, die Schamlosigkeit, die Grausamkeit des Spieles und sei­ nen Ursprung aus dem Natur-Dienste, nicht den Begriff des Spie­

Ist Grund und Wesen eines Geschäfts

les an ihm selbst treffen.

Wucher und damit dasselbe allem Segen und Dienste abgewandt,

so ist cs an sich vcrurthcilt; daß cs in

gilt von einem Spiele ein

Vcrspielung der Unschuld

gleiches,

Bestand

und Sitte seinen

hat, so fehlen ihm alle die Elemente der Freude, der Freiheit und des Friedens, welche deni Spiele und dem Vergnügen als solchen

nicht entgehen; es kann weder vor dem Werktags- noch vor dem Sonntagsgewisscn, überhaupt vor keinem sittlichen Forum bestehen.

Daß aber ein Spiel, eine Art der, geselligen Erheiterung,

Tanz,

Gesang, Drama, Gymnastik, Veranlassung von Eitelkeit und Sünde

hebt sowenig als irgend ein Mißbrauch

werden kann und wird,

die Substanz des Gebrauchs, die Sittlichkeit dieser Ausübung der Geselligkeit auf.

hin

Diejenigen also, die in ihrem Irrthume bis da­

vorschreiteu,

daß

Spazier- und Feldweg

sic

des Sonntags

sich

auch den erheiternden

und den Ihrigen verbieten, sind in

Wahrheit durch die christliche Lehre noch nicht einmal

berechtigt

ihnen im Namen derselben irgend ein an sich erlaubtes Spiel oder

Vergnügen, da jedes mit Zucht und Mäßigung, jedes unter Schutz und Einfluß dankbarer und liebreicher Gesinnung begangen werden kann, des Sonntags wegen zur Sünde zu machen.

Vielmehr ha­

ben wir bei dieser Frage lediglich das Gebiet der Ascetik und Pä­

dagogik zu betreten. Und da wird die letztere, wenn nun überhaupt diese Art von Geselligkeit in des Menschen und des Volkes Bestimmung mit enthalten ist, uns, wie kirchlich sie immer gesinnt

sein mag, zu bedenken geben, ob es bei Vertheilung der Arbeit und -Erholung an

weltliche und geistliche Feier

wohl weise sei,

die Volksvergnügung, die spielende und erheiternde Geselligkeit so

weit wie möglich von den Tagen und Stunden des Gottesdienstes wegzurücken, oder vielmehr unter den schützenden Einfluß derselben

zu stellen und deuigcmäß zu dulden, auch destomehr ans ihre Ver­

edlung auszugehcn. Bei einfacheren Elementen der in der Gemeine vereinten Gesellschaft, auf dem Lande zunächst, müßte beides mög­ lich werden,

sowohl den Tag des Herrn mit abendlicher kirchlicher

Versammlung zu beschließen,

ungeachtet zugelassener Spiele und

Vergnügungen des Volkes, als auch die Spiele und Vergnügungm selbst an sittlichem Gehalte zu bereichern, ohne ihnen die Natürlichkeit zu nehilien; so daß Hirten- und Erziehungsamt ihnen näher treten

§. 56. Verhältniß zu Arbeit und Spiel.

335

dürften. Wenn überhaupt die Gebildeteren und Erfahreneren Gele­ genheit

suchten

und

fänden,

dem Arbeitsstande int Allgemeinen

näher zu treten itt der Zeit der Feier, und bett bedürftigeren oder empfänglicheren Gliedern Gabe der Gemüths-Bildung und der inne­

ren Lebenscrheiterung oder nützlichen Unterricht darzubicten;

wenn

die Anknüpfungen, welche der natürliche Jahrcslauf, die vaterländi­ schen und die kirchengeschichtlichcn Gedächtnißtage hcrgebcn, die einen

mehr zur Feier des erweiterten Familienlebens, die zweiten zu gym­ nastischen und künstlerischen Spielen,

Uebungen

nach

Väter benutzt würden, sinnlichen

die dritten zu musikalischen

Anleitung der begabten Gemeinde - Freunde und

so

daß von selbst der Haug zu deut bloß

Genusse oder den Zufalls - und Gewinn - Spielen sich

minderte: dann würde sich auch der Tact harmonischer Unterschei­

dung

und Vereinigung der kirchlichen und nicht kirchlichen Sonn­

tagsfeier zwanglos

herausbilden und sittliches Gemeingut werden.

Anstöße zwischen den beiden Seiten fehlten von Anfang nicht, 1 Cor.

10,11. Ephes. 4, 18,19, und werden sich so lange erneuern, als

das Naturleben weder erstorben ist, noch wiedergeboren in seinem ganzen Umfange,

noch

die Kraft der Kirche absorbirt hat.

Die

Geschichte der Kirche und ihres Fortschrittes geht durch diese Wi­

dersprüche hindurch, Die Wissenschaft

denen reine Unterschiede zum Grunde liegen.

aber hat das Verhältniß im Lichte der Idee

und der Geschichte anzuschaucn, damit sie die wirklichen Zustände der Gegenwart begreifen und anfassen lehre, sie nieinals zu trost­ los und nicht zu frühe normal finde.

Je reiner sich die Kirche

vom Reiche Gottes unterscheidet, je inniger sie sich mit ihm als

seinem Grunde und Zwecke vereinigt,

desto weniger ist sie dem

Staate, deni ganzen Cultur- und Naturleben gegenüber von tödt-

lichen Trennungen oder Mischungen bedroht.

Zweiter Abschnitt. Das Evangelische kirchliche Leben, und der jetzige Zeitpunct.

Erstes Hauptstück. Die Grundsätze des Evangelischen kirchlichen

Lebens.

§. 57.

Einheit und Selbigkeit des christlichen Kirchenwesens.

In ihrer Ausbreitung und Dauer hat die kirchliche Ausübung der Religion des Heiles sich verändert, sich entwickelt und berei­

chert, entstellt und erneuet; allein so gewiß es zu allen Zeiten und

an allen Orten an Verwirklichung des Urbildes gefehlt, so gewiß ist diejenige Einheit und Selbigkeit ihr erhalten worden, welche ihren Unterschied von Heiden - und Judenthum, ihren Grund und Anfang in Christus dem Welt-Heilande und in der Mission der

Apostel,

eine Richtung auf Erbauung des inwendigen Menschen

und das Heil der Seelen, den Gebrauch ursprünglicher Gna­ den - und Erbauungsmittcl, die Elemente des christlichen Gottes­ dienstes, jede der kirchlichen Lcbensfunctioncn und amtlichen Thä­ tigkeiten und ein in dem allen gegründetes Verhältniß der Kirche zu dem Natur- und Culturlcbcn der Menschheit noch erkennen läßt. Dem Wesen des christlich-kirchlichen Lebens ist durch die Reformation desselben weder etwas hinzugethan noch etwas genom­

men worden.

§. 57.

Wäre der urbildliche Begriff des

1.

337

Einheit und Selbigkeit des Kirchenwesens.

kirchlichen Lebens nur

die Abstraction von einem dagewesenen oder wieder erreichten Mo­

mente der Geschichte,

so würden wir keinen Grund gehabt haben,

ihn von dem geschichtlichen zu scheiden.

Sogar die Kirche apostolischer

Zeit ist von der apostolischen Idee derselben noch verschieden.

Man

erwäge nur die Motive der Briefe an die Galater, Corinthier, Colosser, und der sogenannten katholischen, besonders

Geselligkeit

menschheitlichen

der apoka­

Zwar der Prozeß des sich innerhalb der

lyptischen Sendschreiben.

Kirche

durch

vermittelnden

Reiches

Gottes kann in seiner einfachen, ursprünglichen Wahrheit nirgends vollkommener vor sich gegangen sein, als wo die Apostel wirkten

und stifteten, und die wesentlichsten Principien müssen daselbst sich

geoffenbaret haben.

kirchlicher Bildung

Weshalb

auch alle Kir­

chenparteien apostolisch zu sein vorgeben oder es zu werden sich bestreben.

Das

urbildliche aber greift über das vorbildliche hin­

aus; das apostolische Kirchenthuin ist gerade dadurch ein vorbild­ liches,

daß es seine eigenen Erscheinungen seinem Geiste unterord­

net und durch keine Formen und Festsetzungen der Zukunft vor­

greift. Reiches

Daß die Kirche als vermittelnde geschichtliche Form des Gottes in ihrem Entstehen schon für alle Zeiten fertig

gewesen sei,

ist leere Erdichtung und ist Widerspruch.

Sie ist

weder als Ritus und Dogma noch als Sitte fertig, so lange ihre Geschichte gehet; denn darin besteht vielmehr,

wenn sie mit ande­

ren Formen von religiösen Gemeinschaften verglichen

wird, ihre

Vollkommenheit, daß sie nach Maaßgabc des je und je

entwickel­

ten geistlichen Lebens und kirchlichen Sinnes ihre angemessene Ge­

staltung sucht und findet.

Ebenso unwahr ist cs, daß die Ge­

schichte der kirchlichen Veränderung nichts

als die Geschichte der

Secten und Schismen sei,

die Einige und Allge­

gleich

als ob

meine in jeder Beziehung unveränderlich bliebe,

oder

daß Abfall

und Spaltung niemals die Folge innerer und vorherrschender Ent­

stellung und Erstarrung

gewesen.

Wir dürfen

vielmehr fragen:

welche Anschauung eines wirklichen und ganzen kirchlichen Zustan­

des desselbigen Zeitalters, Landes

und Volkes oder Ortes bietet

uns nicht, je schärfer wir sie und

je unbefangener nach dem

Maaße des Begriffes fassen, Erscheinungen des Mangels, der Ein­ seitigkeit und der Krankheit dar?

Wo findet sich nicht während

die eine Function überspannt erscheinen muß, die Erschlaffung eines andern vor?

Wo hat das wuchernde liturgische Triebleben nicht

Nttzsch, prakt Theologie. I. Bd. 2te Aufl.

22

338 I. Buch. Kirchl. Leben. II. Jetziger Zeitpunct. 1. Grundsätze, der Lehrtätigkeit die Nahrung entzogen? Wo ist, wenn diese letzte

sich aus dem Quelle erfrischte, nicht die liturgische Entwickelung zurückgeblieben?

Wo haben wir die Disciplin vor Augen, welche

theils mit den übrigen Bethätigungen, theils mit den sittlichen Zu­

ständen in voller Uebereinstimmung stände?

Wo

sehen

wir die

reinen Unterschiede und Vereinigungen zwischen Kirche und Staat,

Kirche und Wissenschaft, von welchen die Rede war, wirklich voll­

zogen?

2.

Auf

der andern Seite läßt es sich erkennen, daß das

Christliche des religiösen Gemeinwesens, soweit und solange es sich namentlich fortgepflanzt, auch sachlich sich irgendwie erhalten oder hergestellt hat.

Die Geschichte weiß von keiner Zeit, da der

Fluß der Tradition irgend

eines kirchlichen Grundelementes

oder

einer der namhaftesten Functionen schlechthin im Sande versiegt wäre.

Denn

so fruchtbar

sich das gefallene oder veränderte Ge-

mein-Princip an Restauration des Juden- und Heidenthums erwie­ sen hat, auch die crassesten Erscheinungen dieser Art, z. B. in der

Abessinischen oder in den verkommensten romanischen Theilen der Kirche, lehren genauer angesehen, daß sic unvcrlorenen Zusammen­

hang mit einer christlichen Voraussetzung behalten haben und sich mehr oder minder wie Aufgetragenes und Tünche zum noch

handenen freilich fast

unkenntlichen Grunde

verhalten.

vor­

Christus

obgleich nur monophysitisch gedacht steht noch als erster der Mitt­

ler im Hintergründe des Bewußtseins und Cultus; die Begriffe vom Glauben, von der Erlösung, von der Kirche selbst, wie sie nur als christliche da sein können,

haben

noch ein Leben

Laut; es giebt noch einen Bibelgebrauch;

und einen

wenn schon der Grieche

sie sich als Talisman anhängt und der Laie sie in der Mutter­ sprache nicht lesen darf, hat doch die Schrift beider Testamente in

der freilich unverstandenen Liturgie ihre gehcimnißvolle Auslegung. , Noch wird der apostolische Sonntag sich das Festjahr

errichtet.

begangen,

auf

dessen Basis

Mögen die Sacramente unter Cäre-

monieen vergraben sein, noch sind sie doch vorhanden.

Noch giebt

es eine gewisse Ueberlieferung

dürftigsten

der Lehre; durch die

Jahrhunderte läßt sich doch eine Geschichte der Homilie und Katechisation fortsctzcn.

Messe und Beichte, Bann und Hierarchie

erhalten sich ohnehin in den verkommenen Kirchen, so

ein Schatten ihres Lebens übrig bleibt.

lange noch

Und ohne jegliche Unter­

weisung oder Erziehung könnten sie doch nicht gedacht werden.

Am

§. 58. Unterschied, gesetzliches und evangelisches. allerwenigsten hat auf dem

abendländischen Gebiete, wo

339

die Ge­

schichte der Kirche, seit sie im Morgenlande gleichsam zum Still­ stehen gekommen, kräftig vorgeschritten ist, wie mannigfach man auch dort ein Zuviel hier ein Zuwenig

von Streben und

Kraft­

äußerung wahrnehmen mag, irgend ein kirchliches Element schlecht­

das christliche Gepräge völlig

hin ausleben,

verwischt, das Ge­

dächtniß apostolischer Stiftungen ganz verlöscht werden tönnen.

3.

Und je mehr die Früchte der Reformation und der Contra-

Reformation auf Eines Landes und Einer Bolksthümlichkeit Boden wuchsen, desto weniger.

Es gilt jetzt gleichviel,

ob

diese beiden

Seiten sich einander noch für christlich und apostolisch anerkennen oder

ob die eine der andern oder jede der andern nachsagt, sie

nicht;

habe nur so viel Wahrheit und Leben als sie von der andern ge­

liehen;

genug, sie stehen noch in einer Gemeinschaft der Grundbe­

standtheile und der wesentlichen Verrichtungen des

kirchlichen Le­

bens, welche sich nur von den apostolisch-biblischen Ursprüngen ab­

leiten und nur aus der vereinten, allgemeinen Kirchengeschichte er­ klären läßt.

Für die an die Reformation

anknüpfenden aber von

ihr abfallenden Secten beschränkt sich dies Verhältniß fortschritt­

weise auf ein mindestes; von dem Hauptstamme der Reformation

muß es gelten, und Melanchthon nach Luther hat es mit vollstem Bewußtsein in

der Apologie

der Augsburgischen Confession,

die

Schweizer verhältnißmäßig haben es ausgesprochen, daß er sich ge­ schichtlich begründet, vorbereitet, berechtigt achtete, daß es sich für

ihn um

die Erhaltung

des wahrhaft universellen Charakters des

Christenthums, um Abstellung von Mißbräuchen und Aufsätzen, zum Theil sehr neuen Ursprungs, handelte.

§. 58.

Verschiedene Arten

thumö.

des christlichen Kirchen-

Hauptunterschied:

gesetzliches und

evangelisches. Schon nach dem Maaße ihrer Ausbreitung über den volksthümlichen

und

menschheitlichen Boden und ebenfalls nach Ver­

hältniß der Dauer ihres Lebens auf demselben gehen Veränderun­

gen mit der Kirche unvermeidlicher Weise vor,

durch

welche

sie

sich von der apostolischen Art ihrer Erscheinung mehr und mehr

entfernt.

Aber die wirkliche Veränderung des religiösen Gemein­

wesens der Christen seit dem dritten Jahrhunderte und die von da an geschichtlichen Hauptformen desselben

sind dadurch

noch

nicht

340 I. Buch. Kirchl. Leben. II. Jetziger Zeitpunct. 1. Grundsätze, erklärt.

Sondern ein Zufall und Fehler ihrer Entwickelung und

Erweiterung bringt die Kirche, nachdem sie im zweiten Jahrhun­

derte bis auf den Grund gehende innere Erschütterungen erlitten und bestanden hat noch während ihres Leidens- und Siegeskampfes mit der römischen Staatsgewalt und dem heidnischen Volksgeiste, dazu, den Begriff, den sie von sich selber hegt, zu verändern; eine

Veränderung, welche jedesmal

alle ihre Lebenserschcinungen mit­ verändern muß. Der Katholicismus an und für sich würde nichts anders fein, als die Erhaltung und Vollziehung des apostolischen Principes der Kirche durch alle räumliche Ausbreitung und zeit­ liche Entwicklung hindurch. Nun aber nimmt die Kirche mehr und mehr für ihre Ordnung und ordnende Thätigkeit den Gedanken

einer ökumenischen Theokratie in Anspruch und bestätigt alle dar­ aus fließenden Folgerungen; und indem sie auf den Standort des

Gesetzes zurückgehet, faßt sie ihr einiges und allgemeines We­ sen zugleich in denjenigen Erscheinungsformen auf, welche an sich veränderliche sind.

Nachdem aber die in diesem Sinne katholisirte

und nicht mehr apostolische Kirche in den Staatsfrieden sich ein­ gesetzt sieht, ist sie als Reichs- oder Staatskirche weit entfernt, die theokratischen Begriffe und Einrichtungen wieder in das apostolische Wesen aufzulösen, sondern die gesetzliche Richtung findet an den politischen Verhältnissen und den Zuständen der christianisirten oder zu bekehrenden Völker nur neue Veranlassung, sich zu tiefe« fügen und zu steigern, bis sie im Papstthume oder der christ­ lichen göttlichen Welt-Monarchie ihre Spitze erreicht. Unterdessen

hat sich während des ganzen Verlaufes der Herrschaft der gesetz­ lichen Ansicht die bis in das 16tc Jahrhundert mehr oder minder unterdrückte oft schwärmerisch ausartende, im Ganzen vom ge­ schichtlichen und geistigen Urgründe ausgehende evangelische

Reaction zu keiner Zeit ganz unbezeugt gelassen, bis sie am Ende des bezeichneten Zeitraumes eine partielle Reformation der abend­ ländischen Kirche zu Stand und Wesen brachte. Zücht die Prädicate apostolisch, katholisch, römisch, protestantisch, sondern der be­

griffliche Gegensatz von Gesetz und Evangelium und die dar­ aus hergeleiteten Unterschiedspuncte führen zur inneren Erkenntniß der Hauptformen des christlichen Kirchenwesens, und zwar in der

Art, daß man, was die Entwicklung der gesetzlichen Principien an­ langt, das alte katholische, das kanonische und das rö­

mische oder p ä p st l i ch e wieder besonders unterscheiden darf.

341

§. 58. Unterschied, gesetzliches und evangelisches. 1.

sind an sich genommen

Evangelisch und katholisch

Eigenschaften, welche mit dem Wesen des Christenthums

Kirche zusammenfallen.

und der

Der Begriff der evangelischen Kirche, wel­

chen wir suchen, ist deshalb historisch zu bestimmen, und der Name kann als ein besonderes nur gelten, jenachdem die Kirche, die als christliche auch

hat es

evangelisch ist, einmal verhältnißmäßig aufgehört

zu sein und wieder angefangen cs zu werden.

Denn in

Bezug auf alle Momente ihres urbildlichen Begriffes ist sie im

Werden.

2.

Das apostolische, als das begründende und principielle itn-

vergänglich, konnte als eine erste, elementarische Erscheinungsort der

Kirche vorübcrgehcn mit den apostolischen Zeiten, und mußte es. Allerdings haben die unter dem Einflüsse des Paillus, Petrus, Jo­

bauenden

hannes und ihrer nächsten Gehülfen gestifteten und sich

christlichen Synagogen ihre Geschichte bis zu den innern Störun­

gen, von welchen sie schon zur Zeit der sich

schließenden

mentlichen Litteratur

zumal in

ergriffen waren und

neutesta-

der ersten

Hälfte des zweiten Jahrhunderts immer

heftiger heimgesucht wur­

den, bestanden und bis dahin fortgesetzt,

wo

die

ältesten christli­

chen Apologeten und Theologen ihre Zustände gelegentlich beleuch­ ten.

Sie haben sich vervielfältigt, aber sich mehr auf ihre näch­

sten älteren Schwestern, als auf den ohnehin verödeten jerusalemischen Mittelpunct bezogen;

sie haben sich von jüdischer Sitte und

Form mehr und mehr gesondert, und gegen das heidnische Element mit gleicher Entschiedenheit verwahrt;

der Apostellehre die Anfänge und judäischen und

mindestens

hegten sie

mit

Grundsätze einer solchen anti-

antihellenischen Entwicklung in Vollständigkeit;

sie

haben die unmittelbaren Anordnungen der Apostel heilig gehalten, aber der Gemeingeist vielmehr

mentlichen

Gesetzen

als die Vorstellung

Gottes ist

Ordnungen gewesen. jener Träger erlahmte.

der Träger

und

von neutesta-

Erhalter dieser

Die Ordnungen sind gefallen, je

nachdem

Eine geraume Zeit hindurch waren die

geistlichen Gaben und Kräfte mehr auf die Erhaltung der Erwähl­

ten bis zur Zukunft des Herrn, als auf Ausbreitung der Gemeine und auf Entwicklung ihrer Ordnungen gerichtet, mehr bedacht, mit­

tels des persönlichen Lebensverkehrs überhaupt die Mission fortzu­

setzen, als den Gebrauch der Gnadenmittel zu schmücken und ' zu organisiren.

Die den Gemeinen

angeborene Verfassung:

Aeltestc

und Diener, Wittwen, Diakonissinnen, die Entwicklung der Cultus-

342 I. Buch. Kirchl. Leben. II. Jetziger Zeitpunct. I. Grundsätze. Elemmte: Lobgesang, Schriftvorlcsung, Lehre, Bittgebet — modi-

ficirte, steigerte, beschränkte sich nach dem Gewichte der Persönlich­ den örtlichen Umständen.

keiten und nach

flössen aus der Inspiration oder

Lehre, Gesang, Gebet

aus dem durch Kunst nicht ver­

mittelten Glaubens- und Lebens-Sinne.

Eingefaßt in die einfach­

sten Formeln bewegte sich die freie prophetische

Rede.

oder didaskalische

Am wenigsten war wohl die Verwaltung der Katechese amt­

lich geordnet, desto mehr die Zulassung zur Communion, welche, nachdem

die Feier

der Abendessen oder Liebesmähler

verdächtigt

und verboten worden, in die Hauptversammlung sich rettete.

Denn

als die empfindlichste zeigte sich die Gemeine auf der sittlichen Seite.

Was irgend als Abgötterei ausgesaßt werden mußte, verursachte einen Bruch, welchen man in der Regel weder von der einen noch von der andern Seite zu heilen versuchte.

Und doch drang durch

die Thür der evangelischen Lehrfreiheit und des Glaubens an die Gerechtigkeit, die dem Glauben zu Theil wird, das äußerste zwie­

fache Unchristenthum, Auflösung der historischen Dogmen und Verläugnung der sittlichen Gebote, in die Gemeinen ein. 2 Petr. 2. Offenbar. Ioh. 2, 14.

werden,

Br. Iudä,

Dadurch konnte nicht geholfen

daß sich das Gemeindewesen von neuem der paulinischcn

Richtung entgegen in ebionitischer Weise judaisirte,

daß es die bedrohete historische Grundlage

dadurch nicht,

entweder

durch eine leidenschaftliche Eutwicklung bis zum

aufgab oder

Chiliasmus

be­

hauptete ; dadurch nicht, daß es diesen Chiliasmus mit neuen Offen­

barungen' zu begründen und durch unnatürliche Entsagungen

Entsinnlichungen zu bewahrheiten

strebte.

Vielmehr

mußte

und der

MontanismuS gleicherweise wie der Judaismus, und wie dieser jede auf dem Grunde der Naturverehrung erwachsene Gnosis über­ wunden werden.

Die

ganze Zeit aber drängte zu einer Wieder­

geburt, zu einer Befreiung des inwendigen Menschen hin, und die angeregtesten Theile der im römischen Reiche

vereinigten Cultur-

völker konnten je länger je weniger verkennen, daß die Möglichkeit einer allgemeinen Befriedigung nur in den christlichen enthalten sei.

Die vereinte

Mysterien

plebejische und proconsularische Ver­

folgung der christlichen Synagoge hinderte daher nicht, daß sie mehr

und mehr sich mit Neulingen von den verschiedensten Gesinnungen und Ansprüchen füllte.

Wie sollte sich nun christliche Lehre, Sitte

und Gemeinschaft vor Zersetzung und Auflösung retten, wenn sie sich nicht einerseits fest anhielt an den apostolischen

Grund und

§. 58. Unterschied, gesetzliches und evangelisches.

343

Kanon, andererseits zu maaßgebenden Begriffen und Gestaltungen des Einen und Gemeinsamen consolidirte?

Dieß ist geschehen und

ist des Katholicismus Grund und Ursache, Wesen und Nothwen­ Er ist aus der Kirche geboren;

digkeit.

von Außen auf den Tod

verfolgt und innerlich von den extremsten Gegensätzen bedroht hat

die Kirche die Macht ihres Selbsterhaltungstriebes dadurch bewiesen, daß sie sich nach gegebenen Analogieen und ohne ihre Eigenthüm­

lichkeit zu verläugnen leiblich organisirtc, ihr Darstellungselement entwickelte, sich verfaßte, ordnete, gliederte und die verwundbarsten

Stellen ihres Lebens durch die entschiedensten Festsetzungen sicherte. Diese Veränderung ist

Und wer

durch

will sagen,

die Natur der Umstände angezeigt.

daß der apostolische oder

Geist darinnen untergehe,

der evangelische

wenn ihm eben sein Gehege gesichert,

wenn er in reichlicheren Formularen und Riten ausgedrückt wird? Daß es schon nicht mehr die Kirche des Evangeliums sei, welche sich in ihrem Personal, dem leitenden und geleiteten, dem mündi­

gen und exspectirenden entschiedener sacramentlichen

Feier

abthcile,. den Ton

der Rede

den Zugang zur homiletischen und

und des Cultus steigere,

unterscheide,

den

zur

Zugang

zur

Kirche

überhaupt unter Bedingungen der Prüfung und Censur stelle? Da­

durch, daß sich die ordnende Thätigkeit

anspannt,

die

Ordnung

mannichfaltiger ausbauct, die Gemeine eine erziehende und erzo­ gene wird, die Unterordnung der Aemter und die Macht des Auf­

sich das Ganze in Ansehung des

sichts-Amtes zunimmt, entstellt

substanziellen Geistes noch keineswegs.

Diejenigen, welche dies al­

les von vornherein als unchristlich vorstellen, verletzen das Princip evangelischer Freiheit nicht weniger als die, welche eine dergleichen Erscheinungsform der Kirche zum unumgänglichen Gnadenmittel er­ heben.

Ein, freier Geist kann darum doch ein objectiver,

ein dar­

gestellter auch ein solcher fein, in dem sich der Sinn der Gemeine mit Freiheit wiederfindet.

Katholicismus

So wenig die mit den Anfängen des

zusammenfallende

Theologie

das

aufhob, wenn sie ihm begrifflichen Ausdruck schuf,

einfachen

apostolischen Kanon

Evangelium

wenn sie den

des Bekenntnisses zu Jesus

dem

Christus, zu Vater, Sohn und Geist, in der Weise eines Justin, Irenäus, Tertullian weiter entwickelte, wenn sie nach der Weise des

alexandrinischen Clemens mittels vereinter Dialektik und Exegese

das Schiff der

christlichen Glaubens- und Sittenlehre durch die

Klippen der gnostischen Frivolität oder Naturwidrigkeit hindurch-

344 I. Buch. Kirchl. Leben. II. Jetziger Zeitpunct. 1. Grundsätze,

führte, so wenig war es an sich antievangelisch, was die liturgische und Synoden

und politische Kunst der Bischöfe

an Gestaltungen

der Feier, an Bestimmungen der Zucht und Sitte, an Befestigun­

gen des Gemeindeverbandes hervorbrachte.

Fast sämmtliche älteste

Katholikcr sprechen die Klage aus, die Kirche habe an Körper zugenommen;

an Geist ab-

die geisterfüllteren Glieder, unter ihnen

die größten christlichen Persönlichkeiten, waren desto mehr berufen, standen dem Märtyrthum be­

Ansehen zu haben und zu nehmen,

sonders nahe und machten eine innerliche Hierarchie in der äußer­ Wir bekennen aber, daß dieses alles auf zwei Ge­

lichen geltend.

fahren hinweiset, die der Katholicismus schon des

dritten Jahr­

hunderts zu bestehen hatte, jedoch nicht bestanden hat; jeder spätere noch viel weniger.

Denn fürs Erste konnte das symbolisirende

Bestreben, die Neigung darzustellen und zu formeln, die Mystifi-

cation des Cultus, die Absonderung

des Clerus und die monokra­

tische Tendenz der Berfassung zu weit greifen,

jenes sich in den

Mitteln versehen und diese der Herrschsucht und Trägheit Vor­ schub thun.

Zum Andern aber lag es nur zu

nahe, wenn

darauf ankam die der apostolischen Zeit fremden und

nach

es und

nach in die Haupt- und Muttergemeinen cingeführten von da wei­ ter verbreiteten katholischen Begriffe, Formen, Sitten zu

autorisi-

ren und gegen den Einspruch der Vorliebe für das einfachere Alte zu behaupten,

daß man eine falsche Beweisart wagte,

frommer Betrügerei einschlug,

den Weg

oder doch überhaupt vom evangeli­

schen Principe ab- und auf das gesetzliche

hinlenkte.

Es^. han­

delt sich am meisten um die Feier, die Verfassung und die Disci­

plin.

Die altkatholische Feier des Wortes hat

das

eigenthüm­

liche, daß sie den großen Reichthum der Bibel vor der zuhörenden

Gemeine in allerlei Weise entfaltet.

Die Vorlesungen ordnen sich,

die Borträge werden Auslegungen,

die Psalmen

Frühstunden gesungen,

und die Lob-

werden in den

und Bittgebete,

das

ganze

Formular erfüllt sich mit Bildern und Vorstellungen der h. Schrift; innerhalb

des mystischen Cultus

erst treten außerbiblische verba

solemnia (aygarpa) immer mehr in ein förmliches Recht ein.

Und dies ist keine der geringsten Gaben alter Liturgie.

Wenn je

die Freiheit des Wortes unapostolische Elemente in Gesang und Gebet ausgenommen hatte, so stiftete die davor schützende katholische Reaction eine biblische Substanz,

Jahrhunderte

gottesdienstlicher

deren Schätze noch die spätesten Erbauung

genießen

konnten

und

§. 58. Unterschied, gesetzliches und evangelisches. als Entschädigung für ausgeartete Predigt genossen haben.

345 Es ist

auch ganz in der Ordnung, daß jetzt das Gebet des Herrn (ora­

tio dominica) ein ständiges Gebetswort des mystischen Cultus

abgiebt. Allein der Grundsatz jenes Zeitalters — den Jamblichus *) vertritt und Epiktet **) gerügt hat — die Götter haben die Worte und Laute geoffenbaret, durch welche sie angerufen sein wollen, giebt, auch nach Tertullians und Cyprians Urtheilen, dem „Unser Bater:c." eine Bedeutung, welche sich nun von da an mehr und mehr der ganzen Liturgie in ihrer Borschriftlichkeit an­ zueignen sucht; und weder dies ist evangelisch oder apostolisch noch

die bald nachher aufkommende Vermuthung, oder schon pseudepigraphische Erdichtung, daß die Apostel, daß Jacobus, Petrus, Marcus diese oder jene Liturgie aufgesetzt und dem bischöflichen Nachfolger anvertraut haben. Wer darf es ferner unnatürlich oder an sich unevangelisch nennen, daß diese Liturgien vermöge des wirk­ lichen typologischen Zusammenhanges zwischen beiden Testamen­ ten — da die Apostel, um von der jüdischen Synagoge abzu­

sehen, darin vorapgegangen waren — den Gottesdienst der einzel­

nen Gemeine mit den Vorstellungen von Opfer und Priesterthum auszustatten und aus die mosaischen Einrichtungen vielfach zurück­ zuführen kein Bedenken hatten: wenn aber alsbald das Priester­ thum der Gläubigen vergessen und das Priesterthum der Ordinirten allein geltend wurde, wenn überhaupt sich die Behauptung Geltung verschaffte, die Kirche unterscheide sich vom A. T. nur als eine nicht mehr nationale, sondern ökumenische Herrschaft Gottes, die

Stufe des Bischofes sei die erneuerte des Hohenpriesters, die presbyterielle entspreche den Priestern, der Diakonatsgrad den Leviten; wenn die sogenannten canones Apostolorum

ohne weiteres im ausgetauschten Sprachgebrauche sich ausdrückten und jedes Verfassungs- und Cultus-Element durch Nachweisung im Gesetze sich

rechtfertigte, dann war der apostolische Standort verlassen. Und damit an dem Rückfalle nichts fehlen sollte, bequemte sich die Kirche

ebenfalls zu gar mannigfaltigen Analogieen der Formel, des Ri­ tus, der Sprache, welche den ihr verfeindeten Mysterien der Natur­ religion entlehnt waren. Ueber diesem Verhältnisse herrscht sowie

*) De myst. Aeg. Sect III. Gale p. 115. **) Arrian. III. 21. p. 441.

346

I. Buch. Kirchl. Leben. II. Jetziger Zeitpunct. 1. Grundsätze,

über dem ganzen Gange der Entwicklung des synagogischen Chri­

stenthums zum KatholocisniuS seit de Mitte des zweiten Jahrhun­ derts große Dunkelheit; totr können aber von unserer an einem an­

dern Orte *) dargclegtcn Auffassung desselben, ungeachtet des vorgekomiiienen Einspruchs, nicht weichen. Wenn die sich abstoßendsten Gemeinschaften sich in einer

fein müssen, so ist

gegebenen Zeit

das auch in

doch die ähnlichsten

diesem Falle kein Widerspruch.

Wer das römische, corinthischc, alexandrinische Volksleben der da­

maligen Zeit nach den unzweifelhaftesten Merkmalen, die uns gege­ ben sind, bettachtet, dem kann es nicht entgehen, daß während die

Civil-Religionen erstarken, das

Heidenthum der

eingewandcrten

ausländischen Mysterien noch lebte und blühte: die geheimen und doch zugleich öffentlichen Dienste der Ceres, Isis, des Mithras.

So

ausgeartet diese sacra waren, für Ur-Religionen, für Aushülfen aus

dem Schlamme der Materie, für Reinigungen von dem, was sich sonst nicht sühnen ließ,

für Zugänge zu den Hähern

Stufen der Erkenntniß galten sie dennoch.

und höchsten

Genoß nun das Christen­

thum dieselbe Toleranz schon hin und wieder, welche sich jene sacra erzwungen, so war cs ja auch von einem dem römischen Reiche

unterworfenen Mnttcrlandc eingewandert, brachte daher seine Ge­ schichte nnd wesentliche Symbolik mit, vereinigte gleicherweise hö­

here

Lehren

vom

Leben in Gottes

Thatsachen und Sacramenten,

von Schuld des Todes rein.

Gemeinschaft

mit

positiven

und wusch den sündigen Menschen

Es darf nicht erst erinnert werden,

daß das Christenthum schon in seinen Vorhöfen und schon seinen Neulingen deutlichere und wahrere Belehrung über die Räthsel des Lebens

ertheilte als die höchsten Grade der Mysterien hergeben

konnten; es leuchtet von selbst ein,

Gaukeleien verabscheute,

daß es die Zaubereien und

welche dort den Jnitianden lockten und

täuschten, nnd der ethischen Wahrheit seiner Entsündigungen so ge­

wiß war als der Geschichten der Erlösung, welche es verkündigte: aber daß

cs die dantals einzige politische Existcnzart mit diesen

religiösen Orden theilte,

und in vielen wesentlich

ähnlichen Er­

scheinungsformen auftrat, kann man nicht in Abrede stellen.

Ist

es denn so zufällig, daß von Origencs an die Kirchensprache mit den Vorstellungen TeXirai,

und bergt ganz als mit

*) Protestantische Theses (am Schlüsse der Beantwortung der Möhler'schen Symbolik) No. 83. 84.

347

§. 58. Unterschied, gesetzliches und evangelisches.

ihrem Eigenthume umgehet?

Eine Analogie des Schwankens zwi­

schen dem Aufschub der Taufe und deren frühester Zueignung kommt

schon unter den Römern und

Griechen, sofern

nahme in die heidnischen Mysterien handelt, vor.

es sich um Auf­

Der Novizen-

Stand ist beiden Instituten gemein; hier vornehmlich läßt sich die

Aehnlichkeit zwischen ihnen bis in die Einzelheiten verfolgen, es sei, daß man auf die Classen, auf die Grade des Unterrichtes, auf die

asketischen Vorbereitungen, auf die Exorcismen, auf die Fasten und Reinigungen, welchen die Initianden unterworfen waren, oder auf

die Masse symbolischer Handlungen der Zueignung, auf die Sal­

bung und Einkleidung achte, die den Taufact umgaben. sen Punct und was den Moment anlangt,

lassen werden, zu

Was die­

wo die profani ent­

aber die religiös! (Eingeweihten), das Sacrament

begehen, sich

als solche erkennen und als reine Gemeine con-

stituiren, giebt es nicht so nahen Anschluß an Typen des alttestamentlichen Cultus, als an die Elcusinicn und Isis - Feierlichkeiten. Innerhalb der Communionfeier selbst ist die christliche Eucharistie

in solenne Formen eingefaßt,

welche noch

von Basilius *) mit

denselben Worten, nQÖXoyoi, iiuloyoi, Präfation, bezeichnet wer­

den, die beim heidnischen Festopfer die gewöhnlichen waren.

Bon

denselben Epilogen hat schon Justin**) Erwähnung gethan, näm­ lich da, wo er die Mithrasfeier. (Genuß des gesegneten Brodteö

und

Wassers)

mit dem Abendmahl des Herrn vergleicht, dessen

dämonische Nachahmung

sie sei.

Allerdings

wurde der Darstel­

lungsstoff so treu als möglich aus dem A. T. herübergcnommen. Und ist es nun schon mit den Gebräuchen,

welche der hebräischen

Cäremonie mit dem Heidenthume gemein sind, so geartet, daß zwi­ schen beiden dennoch die innerste Ungleichheit besteht, weil die mo­ saische durch und durch ethische Bedeutung behauptet, wie vielmehr

muß eine geistige Entfremdung zwischen den Mysterien des Chri­

stenthums und den anderen mindestens in der katholischen Urzeit

ungeachtet solcher Beziehungen bestanden haben! Ganzen die hierurgische und

Nur, daß sie im

die hierarchische Richtung förderten,

läßt sich nicht leugnen. Die Kirche kam wirklich in den Fall, zwar

eine höhere, dritte***), aber doch eine gesetzliche, d. h. eine

*) De spir. s. c. 27. **) Apol. mai. ***) S. ein apokr. Fragment. Grabe Spicil. PP. L p. 65.

348

I. Buch. Kirchl. Leben. II. Jetziger Zeitpunct. 1. Grundsätze,

und sogar sein zu wollen. „Wenn sogar die Götzendiener," so schließen die apostolischen Constitutionen *), „in ihrer Nachahmung des Heiligthums ohne die Dazwischenkunft ihres After-Priesters (pieQtv