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German Pages 310 [316] Year 2001
Beiträge zur Dialogforschung
Band 23
Herausgegeben von Franz Hundsnurscher und Edda Weigand
Pragmatische Syntax Herausgegeben von Frank Liedtke und Franz Hundsnurscher
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pragmatische Syntax / hrsg. von Frank Liedtke und Franz Hundsnurscher. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Beiträge zur Dialogforschung; Bd. 23) ISBN 3-484-75023-5
ISSN 0940-5992
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren
Inhaltsverzeichnis Vorwort
1
Walther Kindt Syntax und Pragmatik: Eine zu entdeckende Verwandtschaft
5
Franz Hundsnurscher Geht es vielleicht auch ohne Syntax?
31
Frank Jürgens Ziele und Prinzipien einer pragmatischen Syntax
53
Frank Liedtke Informationsstruktur, Text und Diskurs
73
Petra Radtke Tempus- und Modusgebrauch in der indirekten Rede: diachrone und synchrone Aspekte
97
Heide Wegener Pragmatisch motivierter Perspektivenwechsel im Spracherwerb
115
Georg Wolf Zur Pragmatik der konjunktionalen Nebensätze des Deutschen
141
Heidrun Dorgeloh Pragmatics within a .rigid' syntactic system: The case of English word order
165
Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache
197
Götz Hindelang Wie man können beschreiben kann. Formbezogene Analysen in einer gebrauchsorientierten Grammatik
235
Dmitrij Dobrovol 'skij Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
271
Adressenverzeichnis
309
Vorwort Als eine Form sozialen Handelns betrachtet, ist die Sprache, zusammen mit den verschiedenen Formen des praktischen Handelns, ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Lebensform, und Pragmatik zu betreiben bedeutet die Einbeziehung des Gebrauchsaspekts in die Sprachbetrachtung. Die sprachwissenschaftliche Tradition Europas war von je her stark von philologischen und einzelsprachgrammatischen Interessen bestimmt. Gegenüber den neueren formalen Syntaxtheorien mit Universalanspruch war daher unter Hinweis auf bestimmte Fakten- und Funktionszusammenhänge stets eine gewisse differenziert-kritische Haltung spürbar, und zwar von der Historischen und Vergleichenden Syntax her, von der ins Detail gehenden Grammatikschreibimg in den verschiedenen Einzelsprachen her, sowie von der Untersuchung der Syntax der gesprochenen Sprache her. Vor allem kam dies in generellen Konzepten wie dem der „Funktionalen Satzperspektive", der „Functional Grammar" oder der „Systemic Functional Grammar" zum Ausdruck. Greifbar ist dies in programmatischen Formulierungen wie etwa von Michael A. K. Halliday: „It is the uses of language that, over tens of thousands of generations, have shaped the system. Language has evolved to satisfy human needs - it is not arbitrary" (An Introduction to Functional Grammar 1985: XIII). In den beiden letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts scheint das in der modernen Linguistik dominierende Sprachkonzept der generativen Transformationsgrammatik, in dem die Syntax als eine zentrale und autonome Komponente angesehen wird, in die Krise geraten zu sein. Von der ersten ernsthaften Einbeziehung der Pragmatik als ergänzendem Kompetenzbereich neben der Grammatik in Noam Chomskys „Rules and Representations" (1980) bis hin zum „Minimalist Program" (1995) und zu den Erklärungen des Sprachgebrauchs in den „New Horizons in the Study of Language and Mind" (2000) erfolgte ein massives Zurücknehmen des Autonomie- und Explizitheitsanspruchs im generativistischen Forschungsprogramm. Diese aktuelle Entwicklung stellt eine Herausforderung für die wissenschaftliche Sprachbetrachtung insgesamt dar, da nun, ohne Verzicht auf die methodologischen Errungenschaften der GTG, sowohl bei der Beschreibung wie bei der Erklärung sprachlicher Zusammenhänge, pragmatische Argumente stärker zur Geltung gebracht werden können. Neben der internen Entwicklung des Generativismus haben sich in der jüngeren Vergangenheit Ansätze etabliert, die die Autonomie-Hypothese der Syntax, die ja auch in ihrer abgeschwächten Form ein Haupthindernis für die Berücksichtigung pragmatischer Faktoren ist, grundsätzlich angriffen. Neben Forschern wie Talmy Givön, Simon C. Dik, Ronald W. Langacker und dem erwähnten Michael A. K. Halliday haben Vertreter des empirisch-
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Vorwort
pragmatischen Forschungszweiges innerhalb des Programms Jnteraction and Grammai" Einflüsse der Diskurspraxis auch auf die Form der verwendeten Äußerungen nachgewiesen. In dieser Situation ist eine Reflexion des Verhältnisses von Syntax und Pragmatik zu leisten, die auf theoretischer Ebene das Verhältnis beider Teildisziplinen zueinander klärt und auf empirischer Ebene konkrete Erscheinungsweisen pragmatischer Einflüsse auf die Syntax von Äußerungen beschreibt. Letztlich ist aus pragmatischer Sicht zu zeigen, wie die sprachlichen Äußerungen unter dem Druck der jeweiligen Gebrauchsbedingungen vielfachen Verformungen ausgesetzt sind, wobei angemessene Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten zu entwickeln und auszutesten sind. Der vorliegende Band versammelt methodologisch unterschiedlich ausgerichtete Ansätze, die den Zusammenhang von Syntax und Pragmatik bezogen auf bestimmte Faktenlagen kritisch beleuchten sowie grundsätzlich reflektieren. Walther Kindt zeigt in seinem Beitrag, dass es strukturelle Gemeinsamkeiten von Sätzen einer Sprache und Handlungsmustern gibt, die sich unter anderem darin manifestieren, dass Konstituentenstrukturen von Sätzen einerseits, Aufgabenschemata als handlungsbezogene Teil-Ganzes-Strukturen andererseits tiefgreifende Parallelen aufweisen. Anhand genereller Organisationsprinzipien von Syntax und Pragmatik, wie zum Beispiel dem grundlegenden Gestaltprinzip, macht er deutlich, dass eine Integration beider Teildisziplinen einen vielversprechenden Weg zu einer produktiven Form linguistischer Theoriebildung ebnet. Der Beitrag von Franz Hundsnurscher nimmt den gegenwärtigen Diskussionsstand (Chomsky 2000) zum Anlaß, um einige kritische Fragen zum „Verschwinden der Syntax" zu stellen: Welche syntaktischen Strukturierungsvorgaben sind von den .lexikalischen Einheiten' zu erwarten, was für Aufschlüsse sind von den Regularitäten der Wortstellung zu erhalten, und wodurch ist die Verständlichkeit von „Satzfetzen" in spontaner dialogischer Konservation gesichert? Am Beispiel einer handlungstheoretischen Skizze Nicholas Reschers wird die Vermutung geäußert, dass die Satzstrukturen und das Hantieren mit ihnen sich letztlich an allgemeinen Handlungskonzepten orientieren. Frank Jürgens verfolgt die Frage nach dem Verhältnis von Syntax und Pragmatik von einer integrativen Perspektive aus. Dies erlaubt eine Beschreibung von Formeigenschaften der Sprache auch unter funktionalem Aspekt, also im Sinne einer pragmatisch determinierten Größe. Es werden mehrere Beispiele untersucht, die in syntaktischer Hinsicht von der Standardnorm abweichen - vorwiegend Äußerungen aus Fußballreportagen. Aus der Analyse dieser Beispiele wird dann der alternativ zum Satzbegriff gewählte Begriff der syntaktischen Basiseinheit abgeleitet, der auch formal stark reduzierte Äußerungen zu erfassen vermag.
Vorwort
3
Frank Liedtke rekonstruiert in seinem Beitrag zunächst eine Tradition, die für eine pragmatische Syntax grundlegenden Status hat: die Theorie der funktionalen Satzperspektive. Aus diesen Ansätzen heraus, die in teils radikaler Weise syntaktische Relationen als psychologische, später als pragmatische beschreiben, wird unter Rückgriff auf neuere Ansätze der „givennes-hierarchy" die Informationsstruktur von Äußerungen als maximengesteuert nachgewiesen. Eine besondere Rolle wird dabei der Konversationsmaxime der Relevanz zugewiesen. Indirekte Rede ist im heutigen Sprachgebrauch mehrfach bestimmt, das heißt verschiedene Sprachmittel wie redeeinleitende Verben, Nebensatzformen sowie der Konjunktiv des Verbs signalisieren sie in arbeitsteiliger Weise. Petra Radtke weist für den vermeintlich ungeregelten Gebrauch dieser Signalisierungsmittel grundlegende Prinzipien des sprachlichen Handelns nach, die zusammengenommen eine pragmatische Begründung für den Einsatz vor allem des Konjunktivs und der verschiedenen Tempusformen bieten. Zwei Prinzipien, das des geringsten Aufwandes und dasjenige der deutlichsten Markierung, die potentiell im Widerstreit stehen, ergeben zusammengenommen eine Erklärung für die unterschiedlichen Entscheidungen, die Sprecher je nach Kontext bei der Auswahl der Mittel zur Signalisierung der indirekten Rede treffen. Die Darstellung eines Sachverhalts im Satz erfolgt immer unter einer bestimmten Perspektive, so dass einige Mitspieler der dargestellten Szene im Vordergrund, andere im Hintergrund stehen. Heide Wegener geht in ihrem Beitrag der Frage nach, wie ein Wechsel in dieser Perspektive im Dienste pragmatischer Funktionen vorgenommen wird. Hierbei spielt die Passivierung eine besondere Rolle, da durch sie der Handlungscharakter des dargestellten Sachverhalts erhalten bleibt. Vor allem interessiert in diesem Zusammenhang der Erwerb der Passivkonstruktion im Erst- und Zweitspracherwerb. Hier ist festzustellen, dass in durchaus paralleler Entwicklung Ausweichkonstruktionen zur Reduktion des Subjekts gewählt werden, die den relativ späten Erwerb der Passivkonstruktion zunächst kompensieren. Georg Wolf geht der Frage nach, welche verschiedenen illokutionären Funktionen Konjunktionalphrasen im Zusammenhang komplexer Sätze erfüllen können. Zur Veranschaulichung wählt er die Kommunikationsform .Kooperativ diskutieren' und zeigt, dass erst im Rahmen komplexer kommunikativer Handlungsspiele die vielfältigen subtilen sprachlichen Verwendungsmöglichkeiten der Satztypen sichtbar und beschreibbar werden. Heidrun Dorgeloh greift das Problem auf, dass die Sprachen im Hinblick auf die Regularitäten der Wortstellung verschieden sind. In Sprachen mit rigider Wortstellung haben Umstellungen andere Signalwirkungen als in Sprachen mit , lockerer' Wortstellung. Für das Englische als Sprache mit vergleichsweise strikt geregelter Wortstellung führen z. B. Besetzungen der Erstposition zu größerer Aussagerelevanz des betreffenden Ausdrucks,
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Vorwort
als dies etwa im Deutschen der Fall ist. Außerdem haben diese „displacement conditions" je nach betroffenen lexikalischen Elementen (Substantiven, Adjektiven, Adverbien) verschiedene Auswirkungen, und es lassen sich Korrelationsbeziehungen zu einzelnen Textgenres nachweisen. Mit einem linguistischen Phänomen, das zur Zeit stark expandiert in sowohl in mündlichen als auch in schriftlichen Texten vorkommt, beschäftigen sich Birgit Barden, Mechthild Elstermann und Reinhard Fiehler. Sie untersuchen durchweg zweigliedrige Operator-Skopus-Strukturen, wobei der Operator im Vor-Vorfeld des Satzes steht und sich auf eine folgende vollständige Äußerung bezieht. Die Funktion des Operators ist es, dem Hörer eine Verstehensanweisung zu geben, wie der Ausdruck im Skopus aufzufassen ist, das heißt, er verdeutlicht, von welchem Typ die sprachliche Handlung im Skopus ist, bzw. welchen mentalen oder kommunikativen Status die Äußerung hat. Durch die Annahme einer solchen Relation zwischen Operator und Skopus verankern die Autoren dieses Beitrags also eine pragmatische Beziehung in der syntaktischen Struktur von Äußerungen. Götz Hindelang untersucht die methodologischen Aspekte verschiedener Beschreibungsstrategien, um die Gebrauchsweisen eines Wortes wie können von den Äußerungsillokutionen her zu erfassen und um die wechselnden semantischen Rollen eines Wortes in den Äußerungen insgesamt zu bestimmen und differenziert zu charakterisieren. Können hat bestimmte Funktionen als Bestandteil der Proposition, fungiert im Hinblick auf bestimmte Typen von Sprechakten als Teil der performativen Formel und ist Teil des Illokutionsindikators für einzelne illokutionäre Untermuster und deren sequenzabhängige Varianten. Dimitrij Dobrovol'skij nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Beobachtung, dass Phraseologismen unter bestimmten Bedingungen Abänderungen ihrer fixierten Form zulassen. Es geht ihm um eine Erklärung von Beschränkungen und entsprechenden Lockerungen, die für den phraseologischen Einzelfall gelten. Er zeigt dies am Beispiel der Anwendbarkeit des Passivs und anderer Umstellungstypen auf die Standardformen verschiedener Idiome. Der vorliegende Sammelband hätte nicht seine endgültige Form gefunden, wenn nicht Jan Hoppe, Anja Prumbach und Sandra Scheuren die Korrekturen und das Herstellen des Layouts übernommen hätten. Ihnen sei an dieser Stelle für ihre engagierte Tätigkeit herzlich gedankt. Franz Hundsnurscher Frank Liedtke
Walther Kindt
Syntax und Pragmatik: Eine zu entdeckende Verwandtschaft
1.
Relevante Fragestellungen
Eine bedauerliche Konsequenz der Diversifikation der Linguistik in unterschiedliche Teilgebiete und Forschungszusammenhänge besteht darin, dass die Vertreter/innen der unterschiedlichen Teildisziplinen wenig miteinander kommunizieren und dass es schwierig ist, gleichzeitig in mehreren dieser Gebiete zu arbeiten. Dies gilt auch für die beiden Bereiche Syntax und Pragmatik. Dabei hat es in letzter Zeit einige Forschungsaktivitäten gegeben, die zeigen, dass relevante gemeinsame Fragestellungen der beiden Bereiche existieren (vgl. z. B. die von Schegloff 1979 angestoßene Diskussion über die Syntax von Reparaturen). Somit wäre eine verstärkte Kooperation durchaus wünschenswert. Allgemein gesagt geht es um eine Klärung des Verhältnisses zwischen syntaktischen und pragmatischen Strukturen, wobei auch der Prozesscharakter von Kommunikation zu berücksichtigen ist. Auf den ersten Blick scheinen Syntax und Pragmatik schon von den untersuchten kommunikativen Einheiten her disjunkte Gegenstandsbereiche zu haben. Denn Syntax beschäftigt sich üblicherweise und zu Recht hauptsächlich mit Sätzen als relevanten mikrostrukturellen Äußerungseinheiten; in der Pragmatik und insbesondere in der Kommunikationsanalyse werden demgegenüber schwerpunktmäßig satzübergreifende, also meso- oder makrostrukturelle kommunikative Einheiten betrachtet. Auch wenn eine solche Arbeitsteilung sinnvoll ist, schließt sie nicht aus, dass die Vertreter/innen beider Teildisziplinen wechselseitig voneinander lernen können. Es ist nämlich denkbar, dass die in der Syntax erforschten Organisationsprinzipien und Strukturen in ähnlicher Weise in größeren kommunikativen Einheiten wieder zu finden sind. Und umgekehrt lassen sich die Ergebnisse von Analysen satzübergreifender Einheiten vielleicht auf die satzinterne Ebene übertragen. Insofern stellt sich die Frage: (A)
Gibt es Gemeinsamkeiten in den Organisationsprinzipien und Strukturen einerseits von Sätzen und andererseits von satzübergreifenden kommunikativen Einheiten?
Die Trennung der Gegenstandsbereiche von Syntax und Pragmatik ist in Wirklichkeit nicht so groß, wie eben unterstellt wurde. Speziell in der Sprechakttheorie diskutiert man die Frage der Handlungszuordnung hauptsächlich an satzwertigen Äußerungen. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen Satzstruktur und Handlungskategorisierung bislang nicht
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Walther Kindt
systematisch untersucht worden; einen ersten Schritt in diese Richtung macht aber z. B. Liedtke (1998). Überhaupt nicht ernsthaft thematisiert wird demgegenüber m. W. der Umstand, dass innerhalb eines Satzes Sprechhandlungen ganz unterschiedlichen Typs oder auch dialogische Interaktionen stattfinden können. Somit lautet eine nur von Syntax und Pragmatik gemeinsam zu beantwortende Frage: (B)
Welche systematischen Zusammenhänge bestehen zwischen Satz- und Handlungsstrukturen?
Hintergrund für die Frage (B) ist zunächst der Umstand, dass durch syntaktische Strukturen Bedingungen für die Realisierung von Handlungen gegeben sind. Umgekehrt können syntaktische Sachverhalte von pragmatischen Faktoren abhängen. Besonders deutlich wird dies am Fall syntaktischer Reparaturen. Das Auftreten lokaler syntaktischer Probleme in einer Äußerung kann nämlich Auslöser für die Durchführung eigenständiger (und zumeist satzintemer) Reparaturaktivitäten wie in folgendem Beispiel sein. (1)
Also die die Grund die Grundform sind is nich is nich eckig sondern rund
Die Gesamtäußerung wird dann als wohlgeformter Satz eingeschätzt, wenn alle Inkorrektheiten erfolgreich repariert sind. In einem solchen Fall wird also syntaktische Akzeptabilität durch gesondertes sprachliches Handeln hergestellt. Eine andere Art der Abhängigkeit syntaktischer Strukturen von pragmatischen Faktoren besteht darin, dass unterschiedliche syntaktische Äußerungsrealisierungen für ein Handlungsziel existieren können und die Entscheidung für die Wahl einer dieser Möglichkeiten strategisch bedingt ist. Eine solche Konstellation liegt z. B. der Hypothese von Uhmann (1993) zugrunde, dass in dialogischer Kommunikation wegen der Gefahr des Rederechtsverlustes am Mittelfeldende die Besetzung von Mittelfeld und Nachfeld von der Informationsrelevanz der betreffenden Satzglieder abhängig gemacht wird. Insgesamt gesehen ist also erkennbar, dass es ein großes Spektrum an bisher nicht systematisch untersuchten Fragen zum Verhältnis von syntaktischen und pragmatischen Kommunikationsaspekten gibt und dass es sich lohnt, solchen Fragen in Zukunft mehr Aufmerksamkeit als bisher zu widmen. Der vorliegende Aufsatz soll hierzu einen Beitrag aus einer integrativen Forschungsperspektive leisten. Dabei geht es vorrangig um die Skizzierung und Verknüpfung verschiedener, in Vorarbeiten entwickelter Modellierungsansätze zu diesem Fragenspektrum, nicht aber um ihre genaue theoretische Verortung und Ausformulierung.
Syntax und Pragmatik: Eine zu entdeckende Verwandtschaft
2.
Zum Verhältnis von Satz und Handlung
2.1
Satz- und Sprechhandlungsbegriff
7
Die grundlegende syntaktische bzw. pragmatische Äußerungseinheit ist der Satz bzw. die Sprechhandlung, und insofern muss das Verhältnis dieser beiden Einheiten geklärt werden. Eine solche Klärung setzt allerdings das Vorhandensein von Explikationen des Satz- und des Sprechhandlungsbegriffs voraus, und hiermit ist ein Problem angesprochen, zu dessen Lösung es in der Linguistik erstaunlicherweise keine einheitliche Auffassung gibt. Meistens werden Sprechhandlungen nur am prototypischen Fall satzwertiger Äußerungen diskutiert; es muss aber auch geklärt werden, welche Äußerungseinheiten innerhalb von Sätzen den Status von Handlungen haben können (vgl. 2.2) und unter welchen Voraussetzungen satzübergreifende Äußerungssequenzen als Handlungen einzustufen sind. Was den Satzbegriff betrifft, kann nachfolgend davon ausgegangen werden, dass Sätze als kleinste selbstständige und syntaktisch korrekte Äußerungseinheiten zu explizieren sind (vgl. Kindt, 1994a), wobei von Inakzeptabilitätseigenschaften aller anderen linguistischen Ebenen, also insbesondere auch der prosodischen Ebene, abstrahiert wird. Für eine Operationalisierung der Selbstständigkeitsbedingung greift man zunächst auf das gängige strukturalistische Kriterium der Permutierbarkeit zurück. Dieses Kriterium genügt allerdings nicht dem Anspruch einer Korrespondenz zu Teilnehmerurteilen. Wenn man also nachweisen will, dass der Satzbegriff eine teilnehmerrelevante Kategorie darstellt, wird es notwendig, Selbstständigkeit über ein anderes Kriterium zu definieren. Eine wichtige empirische Grundlage für die Identifizierung von Teilnehmerkategorien zur Beurteilung sprachlicher Äußerungen liefert die Untersuchung von Reparaturen. Denn in Reparaturen kommen jeweils spezifische Problemmanifestationen und Bearbeitungsformen vor, aus denen sich Rückschlüsse über einschlägige Teilnehmerkategorien und zugehörige Basisdimensionen der Sprach- bzw. Kommunikationsbeurteilung ziehen lassen. Als ein zentrales Resultat ergibt sich aus solchen Untersuchungen, dass man auf allen sprachlichen Ebenen jeweils von den vier Dimensionen Korrektheit, Vollständigkeit, Angemessenheit und Relevanz ausgehen kann (vgl. Abschn. 4 sowie Kindt, 1998a: 37). Dies legt nahe, Sätze als kleinste syntaktisch korrekte und vollständige Äußerungseinheiten zu explizieren. Die vorgeschlagene Explikation des Satzbegriffs hat wesentliche Konsequenzen für eine Beantwortung der Ausgangsfrage. Insbesondere lässt sich nämlich zeigen, dass Sätze die einfachste stabile sprachliche Organisationsform für eine Verkettung von Sprechhandlungen bilden, die unter dem Kriterium der Infonnationsrelevanz zusammengehören. Somit ergibt sich zum einen eine unmittelbare Korrespondenz zwischen Handlungs- und
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Walther Kindt
Konstituentenstruktur; zum anderen erklärt sich, warum Sätze auch als interaktive Organisationsform fungieren können (s. u.). 2.2
Satz- und Handlungsstruktur
Die eben skizzierte Position soll jetzt detailliert und konkretisiert werden. Die bisherigen Versuche, Sprechhandlungen in Teilakte zu zerlegen - als prototypische Ansätze können nach wie vor die von Austin und Searle gelten haben sich nicht systematisch an grammatischen Gegebenheiten orientiert. Beispielsweise wird die grobe Unterscheidimg von Referenz- und Prädikationsakt (Searle, 1969) den spezifischen Handlungsfunktionen von Satzkonstituenten nicht gerecht. Für eine Klärung der betreffenden Zusammenhänge ist es sinnvoll, einen weiten Handlungsbegriff zugrunde zu legen. Nach der Explikation von Mead (1938) sind Handlungen Verhaltensweisen, die Anfang und Ende haben und sich im Hinblick auf die Erfüllung eines Zweckes strukturieren lassen. In diesem Sinne kann schon die Äußerung eines Satzglieds oder sogar eines Wortes eine Sprechhandlung darstellen, wenn damit im sozialen System der Kommunikation eine spezifische Funktion verbunden ist. Dass eine solche Feingliederung von Sprechhandlungen kein bloß theoretisch interessantes Konstrukt darstellt, soll an verschiedenen Beziehungen zwischen syntaktischer Struktur und Handlungsfunktion verdeutlicht werden. Selbst bei einfachen Aussagesätzen gibt es keine einheitliche, nur von der Art der Satzglieder abhängige Unterteilung in Referenz- und Prädikationsakt. Zwar kann man bei einem Satz wie (2a)
Karl hat den Kuchen gegessen
im Standardfall die Formulierung des Subjekts mit dem übergeordneten Referenzakt (Thema) und die Formulierung der Verbalphrase mit dem übergeordneten Prädikationsakt (Rhema) identifizieren. Wie man aus der Untersuchung von Thema-Rhema-Strukturen weiß, kann die Handlungszuordnung aber in speziellen Kontexten ganz anders ausfallen. Im Unterschied zur Standardunterteilung dient nämlich die Verbalphrase der Referenzherstellung und mit dem Subjekt wird die Prädikation durchgeführt, wenn Satz (2a) die Frage Wer hat den Kuchen gegessen vorausgeht und/oder Karl speziell betont wird; und zwar ergibt sich diese Unterteilung aus dem Umstand, daß man (2a) in solchen Fällen durch Derjenige, der den Kuchen gegessen hat, ist Karl paraphrasieren kann. Referenz- und Prädikationsakt lassen sich oft weiter in Teilhandlungen zerlegen. So enthält die im Standardfall als Prädikation fungierende Verbalphrase von (2a) eine Objektnominalphrase, die einen untergeordneten Referenzakt realisiert. Umgekehrt machen Referenzakte wesentlich von dem Verfahren Gebrauch, dass die zu bestimmenden Referenten durch für sie einschlägige Prädikationen charakterisiert werden. Beispielsweise
Syntax und Pragmatik: Eine zu entdeckende Verwandtschaft
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leisten Adjektive in einer NP jeweils ihren speziellen Beitrag zur Charakterisierung des betreffenden Referenzobjektes. Dabei ist zu beachten, dass auch die Wortstellung der Adjektive schon einen wichtigen handlungsfunktionalen Unterschied machen kann. Wenn man z. B. die beiden NPs in (3a) (3b)
Der zweite wichtige Tagesordnungspunkt Der wichtige zweite Tagesordnungspunkt
miteinander vergleicht, so ist ersichtlich, dass das Adjektiv wichtig bei (3a) standardmäßig eine referenzherstellende, restriktive Funktion hat, bei (3b) aber eine explikative Funktion. Mit anderen Worten: wichtig liefert in (3b) eine zusätzliche, in den Referenzakt eingebaute, aber von ihm unabhängige Prädikation. Dass bestimmte Arten von Satzgliedern die Möglichkeit bieten, illokutive Indikatoren zu realisieren, ist in der Sprechakttheorie im Detail diskutiert worden. Der hier vorgeschlagene Ansatz einer genaueren Analyse satzinterner Handlungsstrukturen führt aber noch einen Schritt weiter. (4)
Leider konnte ich gestern nicht zu der Sitzung kommen
Mit leider wird in (4) die Einstellung des Sprechers zu dem angegebenen Sachverhalt dargestellt, also eine bewertende Prädikation durchgeführt. Insofern realisiert leider selbst eine satzinterne Teilhandlung. Ob (4) dann insgesamt als eine Entschuldigung, als ein Bedauern o. ä. eingestuft wird, lässt sich handlungsstrukturell nicht entscheiden, sondern muss mit zugehörigen kontextabhängigen Verarbeitungsprozessen erklärt werden. Dieses Beispiel soll deutlich machen: Auch im Fall nicht-assertiver Sprechhandlungen lassen sich Äußerungsbedeutung und Illokution partiell auf eine Anwendung des Kompositionalitätsprinzips zurückführen. 2.3
Mikro- und makrostrukturelle Handlungsorganisation
In den Überlegungen von 2.2 wurde demonstriert, wie wichtig es ist, satzinterne Handlungsstrukturen und ihre Beziehung zu syntaktischen Gegebenheiten zu untersuchen. Je nach Erkenntnisinteresse kann man zwar einen unterschiedlichen Feinheitsgrad der Handlungsanalyse zugrunde legen; in jedem Fall gilt aber, dass Sätze eine stabile Organisationsform für die Kombination von Teilhandlungen zu zusammengesetzten Sprechhandlungen darstellen. Insofern liegt es nahe, eine Parallele zwischen dieser Organisationsform und makrostrukturellen Organisationsformen für satzübergreifend realisierte kommunikative Handlungen bzw. Interaktionen zu ziehen und zu fragen, ob sich Erkenntnisse über letztere Organisationsformen auf satzinterne Handlungsstrukturen übertragen lassen. Bei makrostrukturellen Organisationsformen ist z. B. zu denken an Erzählungen, Beratungsge-
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Walther Kindt
spräche etc. Oerartige Kommunikationsgattungen sind mittlerweile aufgrund umfangreicher empirischer Untersuchungen genauer in ihrer Struktur erforscht. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass als Organisationsform jeweils ein bestimmtes Aufgabenschema zugrunde liegt, das die mögliche Teilhandlungs- und Sequenzstruktur der jeweiligen Gattung festlegt. Bei der Bestimmung von Aufgabenschemata haben sich nun verschiedene Strukturaspekte ergeben, die auch die Handlungsstruktur von Sätzen in einem neuen ,Licht' erscheinen lassen. Wir wollen drei solcher Aspekte ansprechen. Ein erster Aspekt besagt: Bei der Realisierung von Aufgabenschemata kann man primäre und sekundäre Aufgaben unterscheiden. Wenn es z. B. in einer Erzählung - grob gesagt - primär um die Darstellung eines außergewöhnlichen Geschehens geht, so ist doch sekundär auch für die Verständlichkeit der Geschehensdarstellung zu sorgen. Dies bedeutet, dass die Geschehensdarstellung ggf. von verständigungssichemden Interaktionen begleitet wird. Schon aus Ökonomiegründen ist es sinnvoll, die verständigungssichemden Handlungen unmittelbar in die Struktur der Geschehensdarstellung zu integrieren. Genau dieses Phänomen kann man auch innerhalb von Sätzen beobachten, und dabei wird von spezifisch grammatikalisierten Formen der Strukturverknüpfung Gebrauch gemacht (vgl. Eikmeyer et al., 1995), wie folgendes Beispiel einer Selbstreparatur verdeutlicht. (5a)
Und den linken eh Quatsch den roten stellst du links hin
Neben verständigungssichemden Aktivitäten sind es hauptsächlich Nebenkommunikationen sowie diskursorganisatorische, evaluative und beziehungskonstitutive Aufgaben, die in die Realisierung primärer Aufgaben integriert werden. Auch in Sätzen findet man entsprechende Sekundärhandlungen, z. B. in folgender Äußerung eine eingeschobene Nebenkommunikation. (6)
Herr Kinski [...] in der Bundesrepublik danke (hat Feuer bekommen) ist es nihig geworden Sie
Ein zweiter wichtiger Aspekt betrifft den Umstand, dass die Struktur der Primärhandlungen auf spezifischen und für den jeweiligen Interaktionszweck einschlägigen Handlungserwartungen basiert. Der bekannteste Fall solcher Erwartungen sind die sogenannten konditionellen Relevanzen (vgl. Schegloff & Sacks, 1973). So ist mit der Formulierung eines Vorwurfs an eine Person die Erwartung verbunden, dass ein Rechtfertigungsversuch dieser Person nachfolgt. Strukturtheoretisch bilden konditioneile Relevanzen einen über pragmatische Relevanz definierten Spezialfall von Kookkurrenzbeziehungen. Konditionelle Relevanzen kann man nun in einen Zusammenhang mit satzintemen syntaktischen Kookkurrenzbeziehungen wie der Valenz bringen, und dann wird deutlich, dass sich die Valenzbeziehung pragmatisch fundieren lässt. Beispielsweise ist die Äußerung Peter wohnt vermutlich deshalb syntaktisch unvollständig, weil der damit
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dargestellte Sachverhalt ohne zusätzliche Information über den Wohnort oder die Art des Wohnens als irrelevante Auskunft gilt, bzw. bei der Etablierung der betreffenden obligatorischen Valenz gegolten hat. Umgekehrt erklärt sich über die pragmatische Relevanzbeziehung auch der Umstand, dass im Sonderkontext des Skatspiels eine Äußerung wie Wer gibt? als syntaktisch vollständig gelten kann; denn die Angabe von direktem und indirektem Objekt ist in diesem Kontext nicht äußerungsrelevant und kann durch eine Gestaltschließung sofort ergänzt werden. Die Valenzstruktur von Verben hat somit in Sätzen eine ähnliche Funktion wie Sequenzstrukturen makrostruktureller Kommunikationseinheiten. Generell deutet sich damit die Möglichkeit einer pragmatischen Erklärung syntaktischer Strukturen und Regeln an. Der dritte Aspekt schließlich, den man von den Gegebenheiten bei makrostrukturellen Aufgabenschemata auf die satzinterne Handlungsstruktur übertragen kann, bezieht sich auf die besondere Rolle von Inkrementalität und Interaktivität kommunikativer Einheiten. Inkrementalität hat u. a. die Konsequenz, dass Handlungen bzw. Interaktionen nicht immer innerhalb eines kontinuierlichen Kommunikationssegments erfolgreich abgeschlossen werden und deshalb grundsätzlich mit diskontinuierlichen Handlungsstrukturen zu rechnen ist. Auf diesen Punkt gehen wir in Abschnitt 3 noch genauer ein. In Bezug auf die Interaktivität ergibt sich: Nur ein weiter Satzbegriff im oben eingeführten Sinn erlaubt es, die pragmatisch nahe liegende Möglichkeit zu erfassen, dass funktional zusammengehörige sprachliche Handlungen unterschiedlicher Beteiligter in einer syntaktischen Organisationsform zusammengefasst sind. Für ein an schriftsprachlichen Normen orientiertes Vorverständnis mag es zwar schwer nachvollziehbar sein, aber sowohl nach der Satzdefinition als auch von der pragmatischen Begründung her gilt, dass Äußerungsinteraktionen - wie die folgende - Sätze darstellen. (7)
A: Und dann kommt noch so ein so ein lilanes rundes Plättchen da drauf B: von der anderen Seite des Rades? A: von der anderen Seite des Rades und des schraubst du dann in den gelben Würfel rein
Dabei kann der kooperativ produzierte Satz (7) trotz eingebetteter Frage-Antwort-Sequenz insgesamt als eine Assertion bzw. Sachverhaltsdarstellung eingestuft werden. Für das Auftreten kooperativ formulierter Sätze gibt es verschiedene Gründe. So ist für den Hörer manchmal schon absehbar, wie die Äußerung des Sprechers inhaltlich weitergehen soll. Fällt ihm dann eine passende Formulierung schneller ein als dem Sprecher, kann es für eine effiziente Verständigung zweckmäßig sein, dass er statt des Sprechers die Äußerung fortsetzt. Allerdings muss in diesem Fall eine zusätzliche Koordinationsaufgabe gelöst werden, denn der Sprecher sollte in irgendeiner Weise .signalisieren', ob er die vom Hörer vorgeschlagene Äußerungsfortsetzung akzeptiert. Tatsächlich stellt die syntaktische
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Walther Kindt
Integration entsprechender Koordinationshandlungen in Sätze ein Spezifikum kooperativer Außerungsproduktion dar. Eine besonders explizite Akzeptanzmarkierung, nämlich durch Wiederholung der vorgeschlagenen Äußerungsfortsetzung und zugleich durch Ratifikationssignale (Ja genau) liegt in folgendem Beispiel vor. (8)
A. Dann kommt die weiße Schraube mit dem etwas größeren Ende ahm B: hinten dran? A. hinten dran ja genau
Insgesamt gesehen zeigt sich also, dass die Untersuchung satzintemer Handlungsstrukturen eine lohnende Forschungsaufgabe darstellt und dass ein integrativer Theorieansatz wichtige neue Erkenntnisse hierzu liefern kann.
3.
Generelle Organisationsprinzipien
3.1
Grundlegende Strukturdimensionen
Die im vorigen Abschnitt diskutierten Parallelen zwischen grammatischen Strukturen und Aufgabenschemata machen die weitergehende Annahme plausibel, dass kommunikative Handlungs- und Interaktionsstrukturen satzintern wie satzübergreifend nach ähnlichen Organisationsprinzipien gebildet werden und auf denselben Grundrelationen beruhen. Diese Annahme soll jetzt systematischer erörtert und konkretisiert werden. Besonders auffällig ist die Parallelität zwischen syntaktischen Konstituentenstrukturen und Aufgabenschemata. Offensichtlich kann man Aufgabenschemata als handlungsbezogene hierarchische Teil-Ganze-Strukturen auffassen, mit ähnlichen Methoden wie in der Syntax untersuchen und zur Formulierung von Regeln analog zu Phrasenstrukturgrammatiken vorgehen. M. a. W. es wird vorgeschlagen, das Theorie- und Methodenpotential der Syntaxforschung in Zukunft auch für pragmatische Untersuchungen zu nutzen. Darüber hinaus ist wichtig, sich klar zu machen, warum Kommunikation in hierarchischen Konstituentenstrukturen organisiert wird. Einerseits liegt hier ein universelles Strukturierungsprinzip zugrunde: Menschen gliedern Objekte durchweg in dieser Weise. Andererseits gilt das Prinzip speziell für Handlungen, weil man komplexe Handlungs- oder Interaktionsziele dadurch zu erreichen versucht, dass man das Gesamtziel in Teilziele zerlegt und für sie geeignete Teilhandlungen durchführt. Dementsprechend ist aus pragmatischer Perspektive stets zu fragen, welche Handlungsziele mit Konstituenten verbunden sind. Neben Teil-Ganze-Beziehungen spielt als zweite Grunddimension die Reihenfolge von Konstituenten eine zentrale Rolle. Dies ergibt sich schon daraus, dass komplexe Handlungen im Allgemeinen eine sequenzielle Organisation erfordern. Zudem wird diese
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Verwandtschaft
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Organisationsform in der Kommunikation präferiert, weil simultanes Sprechen mehrerer Beteiligter für Verständigung unzweckmäßig ist. Reihenfolgen sind zum einen gegenstandsspezifisch oder durch die ,innere Logik' des Handlungsaufbaus bestimmt. Beispielsweise kann der Zeitpunkt der Darstellung einer Objekteigenschaft davon abhängen, wann sie wahrgenommen wird; und in einer Beratungskommunikation sollten Ratschläge erst nach der Problemexplikation erteilt werden. Zum anderen wirken sich Wahrnehmungsgewohnheiten, Sprachkonventionen und verarbeitungsökonomische Faktoren aus. Auch in dieser Hinsicht gibt es auffallige Parallelen zwischen Mikro- und Makrostrukturen. So kommt bei Erzählungen ebenso wie in Sätzen das Prinzip der natürlichen Reihenfolge (vgl. Kindt, 1994b) zur Anwendung: Die Ereignisse eines Geschehens werden im Standardfall ihrer zeitlichen Abfolge nach geschildert; Analoges gilt z. B. für die Wortstellung in von Bielefeld über Hannover nach München. Aber auch andere für die Wortstellung geltende Prinzipien werden gleichermaßen in Makrostrukturen befolgt; dies betrifft u. a. die Prinzipien „Wichtiges vor Unwichtigem", .Allgemeines vor Speziellem" und „Nahes vor Entferntem". Insofern lohnt es sich, systematisch zu untersuchen, welche Reihenfolgeprinzipien generell für Kommunikation gelten und welche Gemeinsamkeiten es bei mikro- und makrostukturellen Einheiten diesbezüglich gibt. In Abschnitt 2 wurde bereits die besondere Bedeutung von Kookkurrenzbeziehungen diskutiert. Handlungstheoretisch sind diese Beziehungen durch den Umstand begründet, dass bei Durchführung einer komplexen Handlung die ausgewählten Teilhandlungen geeignet aufeinander abgestimmt werden müssen. So ist es nach Wahl einer Teilhandlung eventuell möglich oder notwendig, eine zweite Handlung durchzuführen und dies ggf. an einer speziellen Position und in einer bestimmten Form. Genau diese Konstellation liegt satzintern u. a. bei Valenzbeziehungen vor: z. B. muss man bei der Aussage über eine Hilfeleistung im Allgemeinen auch den Adressaten der Leistung nennen und je nach verwendetem Verb in Form einer Akkusativ- oder einer Dativ-NP. (9a) (9b)
Karl hat seinen Vater unterstützt Karl hat seinem Vater geholfen
Kookkurrenzbeziehungen gibt es nicht nur zwischen den Einheiten einer Konstituente, sondern auch konstituentenübergreifend. Dies hängt einerseits mit dem schon erwähnten Umstand zusammen, dass kommunikative Handlungen diskontinuierlich realisiert, also auf mehrere Kommunikationseinheiten verteilt werden können. Andererseits gibt es auch Kookkurrenzbeziehungen zwischen Konstituenten, die (wie z. B. im Fall von Reflexivkonstruktionen) handlungsfimktional nicht zusammengehören. Hieraus resultiert die wichtige strukturtheoretische Konsequenz, dass die Kookkurrenzdimension als partiell unabhängig von der Teil-Ganze-Dimension anzusetzen ist. Diese Konsequenz wurde bislang weder in
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Walther Kindt
der Syntaxtheorie in ihrer Bedeutung erkannt (vgl. Kindt, 1998b), noch hat sie in der Pragmatik dazu geführt, dass die bislang getrennten Ansätze der Diskursanalyse mit der Bestimmung von Aufgabenschemata und der Konversationsanalyse mit der Untersuchung von Sequenzstrukturen systematisch aufeinander bezogen werden (vgl. Becker-Mrotzek & Meier, 1999). Aus der handlungstheoretischen Begründung von Kookkurrenz ergibt sich schließlich, dass bei syntaktischen Konstruktionen unterschiedliche Arten einer Handlungsverknüpfung vorliegen können. Neben dem Fall einer Verkettung mehrerer Teilhandlungen zu einer Gesamthandlung muss man mit anderen Möglichkeiten der Kopplung von Handlungen rechnen. Ein prototypisches Beipiel für die Realisierung eines alternativen Verknüpfungstyps bilden Koordinationsellipsen (vgl. Kindt, 1985). 3.2
Verfahren der Strukturkonstitution
Ein besonders interessanter, für Syntax und Pragmatik gemeinsamer Gegenstand bezieht sich darauf, dass die Entstehung von Kommunikationsstrukturen als verfahrensbasierter Prozess aufgefasst werden kann. In der ethnomethodologischen Konversationsanalyse ist es sozusagen ein Topos, davon auszugehen, dass Interaktanten kommunikative Strukturen selbst herstellen (vgl. Kallmeyer & Schütze, 1976). Teilweise wird mit diesem Topos die Vorstellung verbunden, dass Strukturen jedes Mal neu gebildet werden. Diese Vorstellung ist schon aus verständigungsökonomischen Gründen überzogen, und es genügt die schwächere Annahme, dass bei der Strukturkonstitution im Regelfall auf konventionalisierte Markierungs- und Koordinierungsverfahren zurückgegriffen wird und nur manchmal vollkommen neue Strukturen entstehen. Im Sinne von 3.1 ist als erstes zu diskutieren, wie Konstituenten als miteinander verknüpft oder zusammengehörig markiert und gegen Nachbarkonstituenten abgegrenzt werden. Grundsätzlich kann man zwischen Kontinuitäts- und Diskontinuitätsverfahren unterscheiden (vgl. Kindt, 1994a), und zum Zweck der Verknüpfung bzw. Konstituentenbildung werden geeignete Kombinationen solcher Verfahren verwendet. Ein typisches makrostrukturelles Diskontinuitätsverfahren ist der Einsatz von Gliederungssignalen; mit ihnen werden z. B. Erzählungen hierarchisch untergliedert (vgl. Kindt, 1993). Im Unterschied dazu dienen parataktische Konjunktionen einer Verknüpfung mikrostruktureller Konstituenten zu größeren Einheiten und bilden folglich ein Kontinuitätsmittel. Neben eigenständigen lexikalischen Elementen werden auch andere Arten der Markierung genutzt. So grenzt man Parenthesen in mündlicher Kommunikation prosodisch durch schnelles oder leises Sprechen gegen ihre Umgebung ab; Determinator und Nomen zeigen neben ihrer syntaktischen Funktion als Bestandteile elementarer Nominalphrasen gleich-
Syntax und Pragmatik: Eine zu entdeckende Verwandtschaft
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zeitig deren Anfang bzw. Ende an; zusätzlich fungiert die Kongruenz in Kasus, Numerus und Genus als Kontinuitätsmittel, wie (10a) und (10b) zeigen. (10a) Karl hat diese Briefe geschrieben (1 Ob) Karl hat diesen Briefe geschrieben
Untersucht man die Konstituentenbildung in Kommunikation systematisch anhand der Verwendung von Kontinuitäts- und Diskontinuitätsmitteln, dann wird deutlich, dass es neben der handlungsbezogenen Konstituentenstruktur noch eine eigenständige Unterteilung in .formale' Konstituenten gibt, die dem Sekundärziel der Verständlichkeit und speziell einer übersichtlichen Gliederung von Kommunikation dient. Als formale Konstituentenstruktur war schon in der Antike die Redegliederung in Einleitung, Hauptteil und Schluss bekannt. Analog dazu wird in der Kommunikationsanalyse eine Drei-PhasenGliederung (Eröffnung, Durchfuhrung, Beendigung; vgl. Kallmeyer, 1981) unterstellt. Dass hier ein universelles Strukturierungsprinzip zugrunde liegt, das auch für Phonologie, Morphologie und Syntax gilt, hat man in der Linguistik aber bislang nicht bemerkt. Eine Dreierstruktur wird nämlich ebenso bei Silben mit Onset, Nucleus und Coda realisiert, bei Verben mit Präfix, Stamm und Suffix sowie bei Sätzen mit Vorfeld, Mittelfeld und Nachfeld. Dabei bedienen sich Dreierstrukturen spezifischer Verfahrenskombinationen. Beispielsweise beruht die Feldstruktur von Aussagesätzen im prototypischen Fall einerseits auf der abtrennenden Wirkung von Finitum und Präfix; andererseits resultiert aus der Zusammengehörigkeit von Finitum und Präfix, dass sie mit den dazwischenliegenden Satzgliedern gemeinsam das Mittelfeld bilden (Klammereffekt). Klammerstrukturen werden auch in makrostrukturellen Einheiten zur formalen Untergliederung benutzt (so etwa zur Abgrenzung von Argumentationen durch die Klammerbildung „These-BegründungThese"). Angesichts der großen Bedeutung formaler Teil-Ganze-Strukturen stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis sie zu handlungsbezogenen Konstituentenstrukturen stehen. Offensichtlich wird in der Kommunikation häufig versucht, beide Strukturen koinzidieren zu lassen. Beispielsweise stimmt in Aussagesätzen die Unterteilung in Vor- und Mittelfeld im Standardfall mit der Thema-Rhema-Gliederung überein (vgl. 2.1). Eine solche Koinzidenz gilt aber nicht immer, und das erklärt den in der Diskursforschimg bislang nicht durchschauten Sachverhalt, dass bei einer Makrostrukturanalyse formale Phasengliederung und Handlungsunterteilung zu unterschiedlichen Resultaten führen können. Nichtkoinzidenz lässt sich z. B. in Erzählungen beobachten (vgl. Kindt, 1993): Handlungsstrukturell gehören bei der Geschehensdarstellung Vorgeschichte, zentrales Ereignis und Nachgeschichte zusammen und könnten deshalb den Hauptteil einer Erzählung ausmachen; tatsächlich wird die Darstellung der Vorgeschichte aber häufig in die der Orientierung dienende Einleitungsphase gerückt und ist dann von der Geschehensdarstellung abgetrennt.
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Walther Kindt
Auch die Thema-Rhema-Gliederung koinzidiert oft nicht mit der Feldstruktur von Sätzen; wenn nämlich z. B. dem Satz (2a) in 2.1 die Frage Was hat Karl gegessen? vorausgeht, dann bildet das Akkusativobjekt den Kuchen, also nur ein Teil des Mittelfelds, das Rhema. Nichtkoinzidenz zwischen formalen und handlungsbezogenen Strukturierungen muss nicht grundsätzlich als problematisch gelten, und sie behindert den Kommunikationserfolg jedenfalls dann nicht, wenn eine von der formalen Gliederung herrührende Diskontinuität, die für die Handlungsstruktur an sich unzweckmäßig ist, durch geeignete Kontinuitätsmittel wieder aufgehoben wird. Generell führt insbesondere die Inkrementalität von Kommunikation häufig zu Nichtkoinzidenzen und diskontinuierlichen Strukturen, und deshalb bilden gerade solche Phänomene einen besonders interessanten Gegenstand bei der Erforschung universeller Strukturbildungsverfahren. So gesehen kann die Untersuchung .außergewöhnlicher' diskontinuierlicher grammatischer Konstruktionen wie z. B. Parenthese, Reparatur, Nachtrag, Ausklammerung, Ellipse etc. in der Syntaxforschung eine Vorreiterrolle für die Diskussion analoger satzübergreifender Konstruktionen in der Pragmatik spielen. 3.3
Gestaltprinzipien und syntaktische Strukturen
Für die Diskussion genereller Organisationsprinzipien von Kommunikation soll noch eine weitere, neue Perspektive eingebracht werden. Es ist schon seltsam: weder in Linguistik noch Sprachpsychologie hat man jemals danach gefragt, ob es einen systematischen Zusammenhang zwischen der Bildung kommunikativer Strukturen und den Gestaltprinzipien der Wahrnehmungspsychologie gibt. Dabei müsste die Relevanz dieser Prinzipien speziell bei einer prozessualen Analyse syntaktischer Konstruktionen eigentlich sofort auffallen. Tatsächlich bilden die Prinzipien eine wesentliche Grundlage für Kontinuitäts- und Diskontinuitätsverfahren. Bezogen auf Äußerungen besagt das Prinzip der Nähe, dass benachbarte Äußerungssegmente gute Kandidaten für die Verknüpfung zu einer gemeinsamen Äußerungseinheit sind. Ein analoges Prinzip wurde in der Linguistik im Zusammenhang mit den Methoden der Konstituentenstrukturanalyse als Zusammengehörigkeitskriterium formuliert, allerdings ohne Bezug auf die Gestalttheorie. Dieses Prinzip ist aber in einem viel weiteren Sinne als bisher betrachtet gültig: So wird in (IIa)
Karl hat Peter besucht oder Emil
für oder Emil die Rückverknüpfung zu der weniger weit entfernten NP Peter präferiert, obwohl auch eine diskontinuierliche Rückverknüpfung zu Karl möglich wäre, wie sich aus (IIb) ergibt.
Syntax und Pragmatik: Eine zu entdeckende
(IIb)
Verwandtschaft
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Karl hat den Kuchen gegessen oder Emil
(IIa) und (1 lb) belegen, dass Nähe keine notwendige Bedingung für Verknüpfungen darstellt. Ebensowenig liegt eine hinreichende Bedingung vor, wie Beispiel (10b) in 3.2 zeigt. Auch das zweite gestalttheoretische Prinzip der Ähnlichkeit ist für syntaktische Strukturbildung zentral. Auf ihm basiert z. B. das für die Bildung von Nominalphrasen wesentliche Kontinuitätsmittel der Kongruenz (vgl. (10a)) und speziell spielt es bei diskontinuierlichen Rückverknüpfungen eine entscheidende Rolle, wie Nachtragskonstruktionen zeigen. (12a) (12b)
Der Student hat dem Mädchen geschrieben dem mit den roten Haaren Der Student hat dem Mädchen geschrieben der mit den roten Haaren
Für sich genommen bildet auch Ähnlichkeit weder eine notwendige noch eine hinreichende Verknüpfungsbedingung. Dies belegen folgende Beispiele. (12c) (10c)
Der Student hat dem Mädchen geschrieben mit den roten Haaren weil diese Briefe befördert haben
Die diskontinuierliche Rückverknüpfung in der Ausklammerungskonstruktion (12c) basiert auf dem dritten gestalttheoretischen Prinzip der guten Fortsetzung. Dies ergibt sich aus einem Vergleich von (12c) mit der zugehörigen kontinuierlichen NP+PP-Konstruktion. (12d)
Der Student hat dem Mädchen mit den roten Haaren geschrieben
Eine Besonderheit des dritten Prinzips liegt darin, dass seine Anwendung bereits Wissen über Kookkurrenzbeziehungen voraussetzt. Die Fortsetzbarkeitsbedingung muss für Verknüpfungen immer erfüllt sein; sie ist aber nicht hinreichend, wie schon (IIa) und (10) belegen. Grammatiktheoretisch besonders interessant ist, dass das Prinzip der guten Fortsetzung erklärt, warum bei Apokoinu-Konstruktionen Konstituenten bifunktional verknüpft werden. (13)
Das ist schön finde ich das
Auch das vierte und letzte gestalttheoretische Prinzip der Gestaltschließung wird auf syntaktischer Ebene genutzt. Dies lässt sich z. B. an,Telegrammellipsen' demonstrieren. (14)
Oma gut angekommen
Insgesamt gesehen machen die angeführten Belege deutlich, dass syntaktische Strukturbildung auf einem komplexen Zusammenspiel der vier Gestaltprinzipien basiert. Dabei wirkt sich das NichtVorliegen von Nähe, Ähnlichkeit oder Fortsetzbarkeit gleichzeitig als Diskontinuitätsmittel aus. Beispielsweise schaffen Gliederungssignale eine Distanz zwischen anderenfalls unmittelbar benachbart liegenden Segmenten. Insofern liegt es auch nahe, die Topikalisierung eines standardmäßig im Mittelfeld liegenden Satzglieds wie in
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Walther Kindt (2b)
Den Kuchen hat Karl gegessen
als diskontinuitätskonstituierend aufzufassen, d. h. dass sich auf diese Weise eine besondere Eigenständigkeit des betreffenden Satzglieds ergibt. Tatsächlich bedeutet eine Topikalisierung ja im Standardfall, dass dieses Satzglied entweder Thema oder alleiniges Rhema des Satzes wird. Thema und Rhema bilden aber - wie in Abschnitt 2 erläutert zentrale handlungsstrukturelle Kategorien von Sätzen. Somit zeigt sich, dass eine auf die Gestaltprinzipien zurückgreifende Strukturanalyse auch zu neuen Einsichten über satzinterne Handlungsstrukturen fuhren kann. 3.4
Gestaltprinzipien und Bedeutungskonstitution
Die zunächst an syntaktischen Konstruktionen gewonnene Erkenntnis, dass Kommunikationsstrukturen maßgeblich durch Gestaltprinzipien bestimmt sind, liefert auch einen entscheidenden Ansatzpunkt zur Lösung des sprechakttheoretischen Problems, wie man zu einer Handlungskategorisierung von Äußerungen gelangt und in welchem Verhältnis sie zur Äußerungsinterpretation steht. Ergänzt man die in Abschnitt 2 eingeführte strukturbezogene Handlungsexplikation nach Mead (1938) durch eine prozessbezogene Sichtweise im Sinne von v. Wright (1966), dann kann man davon ausgehen, dass sich Handlungen im Allgemeinen als Zustandsveränderungen auswirken. Das Resultat einer Handlung lässt sich demzufolge aus einem Vergleich von Ausgangs- und Nachfolgezustand bestimmen und mit dem Teilzustand identifizieren, der im Nachfolgezustand gegenüber dem Ausgangszustand neu ist. Zu diesem handlungstheoretischen Ansatz passt eine sehr einfache Explikation des Bedeutungsbegriffs: Die Bedeutung einer Äußerung kann dann als das durch sie hervorgerufene Handlungsresultat aufgefasst werden. So gesehen ist die Bedeutung einer Aufforderung wie (15a)
Steh jetzt auf, Max
identisch mit der an den Adressaten gerichteten Erwartung aufzustehen. Weiterhin lassen sich Zustände als Sachverhaltsstrukturen explizieren, und daraus resultiert, dass Bedeutungskonstitution ein komplexer, über Sachverhaltsstrukturen operierender Prozess ist. Dieser Prozess folgt ebenfalls den Gestaltprinzipien. Wenn beispielsweise eine Mutter morgens zu ihrem Sohn sagt (15b)
Es ist zehn vor sieben, Max
dann ist der in (15b) dargestellte Sachverhalt nach dem Prinzip der Nähe leicht mit der beiden Beteiligten bekannten generellen Erwartung zu verknüpfen, dass Max an Schultagen zur betreffenden Uhrzeit aufstehen soll. Hieraus ergibt sich durch Gestaltschließung die Inferenz, dass die Erwartung aufzustehen für die gegenwärtige Situation gilt. Diese
Syntax und Pragmatik: Eine zu entdeckende Verwandtschaft
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Erwartung wird nach dem Prinzip der guten Fortsetzung zum Nachfolgezustand hinzugefugt und somit kann (15b) als indirekte Aufforderung verstanden werden. Mit dieser Strukturergänzung auf Sachverhaltsebene geht in folgender Weise eine handlungsstrukturelle Gestaltschließung einher. (15b) ist als Formulierung eines Arguments aus einer beiden Beteiligten bekannten Argumentation zu identifizieren. Da die Mutter die Schlussfolgerung der Argumentation nicht ausspricht, besteht für Max die konditioneile Relevanz, dies selbst zu tun bzw. die zugehörige mentale Folgerungshandlung durchzuführen. Sofern ihm das Folgerungsresultat nicht schon präsent ist, gibt die konditioneile Relevanz Anlass, den genannten Inferenzprozess auf der Sachverhaltsebene einzuleiten. Sein Ergebnis lässt sich schließlich nach dem Prinzip der guten Fortsetzung mit dem Sachverhalt von (15b) verbinden und somit ist eine Vervollständigung der Argumentation erreicht. Insofern ist (15b) handlungsfunktional äquivalent mit (15c)
Es ist zehn vor sieben, Max. Also musst du jetzt aufstehen
und insgesamt ergibt sich, dass (15c) und (15b) - entsprechende Autoritätsverhältnisse vorausgesetzt - dieselbe Funktion wie (15a) haben. Analog zur Rekonstruktion dieses Beispiels lassen sich auch andere bekannte Interpretationsphänomene auf Strukturergänzungen gemäß den Gestaltprinzipien zurückführen. So spielen bei metonymischen Bedeutungen wie in (16)
Karl hört gern Mozart
offensichtlich die Prinzipien der Nähe und der guten Fortsetzung eine wesentliche Rolle und bei metaphorischen Bedeutungen wie in (17)
Karl ist heute überdreht
das Prinzip der Ähnlichkeit. In jedem Fall wird deutlich, dass es sich auch bei der Untersuchung von Bedeutungskonstitution lohnt, einen gestalttheoretischen Modellierungsansatz zu verfolgen.
4.
Die vier Akzeptabilitätsdimensionen
In Abschnitt 2 wurde schon exemplarisch diskutiert, dass eine pragmatische Begründung von Syntax auf die Teilnehmerbeurteilung von Äußerungen Bezug nehmen muss. Als zentrales syntaktisches Beurteilungskriterium gilt in der Linguistik die sogenannte Wohlgeformtheit von Äußerungen, und dabei wurde der Wohlgeformtheitsbegriff aus der Logik übernommen. Die Ausgangssituation des Theorieaufbaus in der Logik unterscheidet sich allerdings prinzipiell von der in der Linguistik. In der Logik werden Sprachen neu defi-
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Walther Kindt
niert, und man nennt sprachliche Ausdrücke wohlgeformt, wenn sie vorgegebenen Regeln entsprechend gebildet sind. Im Gegensatz dazu beschäftigt sich die Linguistik mit vorfindlichen Sprachen, deren Regeln sie zu rekonstruieren versucht. Dieser Unterschied wird häufig übersehen, er hat aber gravierende Konsequenzen für den Status der Wohlgeformtheitsdefinition und ihre empirische Fundierung (vgl. Kindt, 1994a). Insbesondere muss man bereits vor einer linguistischen Rekonstruktion syntaktischer Regeln ausreichende, vom Rekonstruktionsprozess unabhängige Informationen darüber besitzen, welche der möglichen Wortfolgen als syntaktisch akzeptabel bzw. wohlgeformt gelten. Deshalb ist zu klären, wie man solche Informationen erhält. 4.1
Reparaturen als empirische Basis
Es gibt verschiedene Methoden, um zu regelunabhängigen Akzeptabilitätsaussagen zu gelangen, und mit ihnen sind jeweils bestimmte Probleme verbunden, auf die jetzt nicht eingegangen werden soll (vgl. hierzu etwa Clement, 1980). Wichtig für den gegenwärtigen Diskussionszusammenhang ist, dass die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft offensichtlich selbst über ein Akzeptabilitätskonzept verfügen und dass aus der Beobachtung von Teilnehmerverhalten und -einschätzungen regelunabhängig auf die Wohlgeformtheit von Äußerungen rückgeschlossen werden kann. Wie schon in Abschnitt 2 angesprochen wurde, ergibt sich eine wichtige, bislang nicht systematisch genutzte Rückschlussmöglichkeit aus der Analyse von Reparaturen. Bei Wahl dieser Methode muss nicht vorausgesetzt werden, dass Kommunikationsteilnehmer in jedem Fall über die Fähigkeit verfugen, unterschiedliche Arten der Inakzeptabilität von Äußerungen (also etwa syntaktische vs. semantische vs. pragmatische Inakzeptabilität) verbal eindeutig voneinander abzugrenzen. Vielmehr lässt sich zumeist anhand der Bearbeitungsform von Reparaturen, d. h. durch einen Vergleich von Reparaturbezug/Reparandum und Reparaturversuch (vgl. Eikmeyer et al., 1995) empirisch ermitteln, ob eine syntaktische oder eine andere Art der Inakzeptabilität vorliegt und in welcher Beurteilungsdimension die Äußerung nicht erwartungsgemäß ausfallt. Dies soll exemplarisch an drei Fällen von Selbstreparaturen veranschaulicht werden. (18a) (18b) (18c)
Und dann nimmst du dem linken roten eh den linken roten Würfel Und dann nimmst du den linken roten eh den linken grünen Würfel Und dann nimmst du den linken roten Würfel also den von mir aus gesehen linken
In (18a) wird eine Artikelform repariert bzw. ersetzt; dies erklärt sich aus dem Vorliegen einer syntaktischen Inkorrektheit. Demgegenüber ist die Modifikation des Adjektivs in (18b) durch eine semantisch unzutreffende Benennung des intendierten Referenten verursacht. Schließlich wird bei (18c) zugunsten pragmatischer Akzeptabilität bzw. Vollstän-
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digkeit eine Orientierungsinformation hinzugefügt, um eine eindeutige (situierte) Interpretation des indexikalischen Adjektivs linken zu ermöglichen. Teilweise lässt sich der Inakzeptabilitätstyp auch an der Problemmanifestation in der Reparatureinleitung erkennen. Z. B. wird die Problemmanifestation Quatsch vor allem bei sprachlichen oder sachlichen Inkorrektheiten verwendet (vgl. Beispiel (5a)); demgegenüber deutet bei fremdeingeleiteten Reparaturen die Frage Ja und? auf eine Unvollständigkeit hin. Bei einer systematischen empirischen Analyse von Reparaturen erweisen sich - wie schon erwähnt - die vier Dimensionen Korrektheit, Vollständigkeit, Angemessenheit und Relevanz als grundlegend für eine Akzeptabilitätsbeurteilung. Dabei sind Korrektheit und Vollständigkeit auf die Einhaltung von Regeln der jeweiligen Kommunikationsebene zu beziehen, während Angemessenheit und Relevanz zielorientierte Kategorien bilden. Zugleich kann Akzeptabilität als ein graduelles Bewertungskonzept angesetzt werden, weil Akzeptabilitätseinschätzungen in skalierbarer Weise durch den Grad der Einhaltung von Regeln, die Höhe des geleisteten Aufwands und die Nähe zum Ziel bestimmt sind. Interessanterweise stützt der empirische Nachweis der vier Dimensionen teilweise die von Grice (1975) postulierten Konversationsmaximen. Ordnet man die Maximen - wie unmittelbar nahe liegt - den vier Dimensionen zu, werden gleichzeitig verschiedene Probleme deutlich. Erstens bilden die Konversationsmaximen nur einen auf die pragmatische Ebene bezogenen Sonderfall von Erwartungen in den vier Basisdimensionen und sind zudem nur für die Richtung der Äußerungsproduktion formuliert; beispielsweise stellt die Maxime der Qualität eine spezielle Korrektheitserwartung an den Sprecher dar. Zweitens zeigt sich bei der Zuordnung, dass nur der erste Teil der Maxime der Quantität „Sag so viel wie nötig" zur Vollständigkeitsdimension gehört; auf den zweiten Teil „Sag nicht zu viel" kann verzichtet werden, weil er als Relevanzerwartung schon in der Maxime der Relation enthalten ist. Drittens lassen sich die Erwartungen, die in der Kommunikation an Formulierungs- und Verstehensresultate in diesen Dimensionen gerichtet werden, partiell von zusätzlichen wechselseitigen Kooperativitätsannahmen abkoppeln. Konkret bedeutet dies z. B. für den Verstehensprozess bei der Äußerung (15b) in 3.4: Im Unterschied zu bisherigen Rekonstruktionsversuchen muss nicht postuliert werden, dass man (15b) deshalb als indirekte Aufforderung aufzustehen interpretiert, weil man von einem kooperativen Verhalten der Produzentin ausgeht, also entgegen dem ersten Anschein bei ihr keinen Verstoß gegen die Maxime der Relation unterstellt. Vielmehr reicht es aus anzunehmen, dass Rezipienten Äußerungsbedeutungen oft .automatisch' im Sinne bestimmter Vollständigkeitserwartungen für das Verstehen ergänzen. Uber die Bestimmung der vier Grunddimensionen hinaus lassen sich Reparaturen auch methodisch nutzen, um für vorgegebene Äußerungen empirisch fundierte Akzeptabilitätsaussagen zu machen. Deshalb wird vorgeschlagen, verbale Inakzeptabilitätsurteile von
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Walther Kindt
Versuchspersonen in geeigneter Weise mit experimentell elizitierten Reparaturen oder Reformulierungen zu verbinden, um zu einer Abgrenzung der unterschiedlichen Arten von Inakzeptabilität zu gelangen. Speziell im Hinblick auf das Ziel einer pragmatischen Begründung von Syntax bedeutet dies, dass man anstelle von introspektiven Urteilen beobachtbares Teilnehmerverhalten als empirische Basis für Akzeptabilitätseinschätzungen verwenden kann. 4.2
Syntaktische Akzeptabilität
Die Unschärfe introspektiver oder bei Versuchspersonen erhobener Akzeptabilitätsurteile ist der Syntaxforschung schon immer ein Ärgernis gewesen, ohne dass jedoch hierfür eine Problemlösung gefunden wurde. Die Brisanz des Problems wird besonders deutlich, wenn man nicht nur isolierte Äußerungen einschätzen lässt, sondern sie systematisch zu variieren beginnt. Beispielsweise scheint es auf den ersten Blick evident zu sein, dass die Ausklammerungskonstruktion (19a)
Karl hat gestern besucht mich
als syntaktisch inkorrekt eingestuft werden muss und dass obligatorische Satzglieder nicht ausgeklammert werden dürfen. Dem widerspricht die größere Akzeptabilität von (19b)
Karl hat gestern besucht mich, meinen Freund und das Mädchen
Die Diskussionsergebnisse von 4.1 liefern nun zwei Ansatzpunkte für eine Problemlösung. Zum einen kann man anhand von Reparaturen für bestimmte als inakzeptabel eingeschätzte Äußerungen einen genaueren Aufschluss über Inakzeptabilitätsursachen erhalten. Zum anderen wird durch das Resultat der Dimensionsanalyse überhaupt erst klar, dass in der Syntax mehrere Inakzeptabilitätstypen systematisch voneinander unterschieden werden müssen. In diesem Sinne liegt es wegen (19b) nahe anzunehmen, dass (19a) nicht inkorrekt ist, sondern einem anderen Inakzeptabilitätstyp angehört. Vor einer Diskussion über divergierende Akzeptabilitätseinschätzungen muss also grundsätzlich geklärt werden, welche Rolle die vier Basisdimensionen in der Syntax spielen. Wie an der Explikation des SatzbegrifFs in 2.1 deutlich wird, sind für eine syntaktische Beurteilung von Äußerungen zunächst die Kriterien der Korrektheit und Vollständigkeit wesentlich. Dementsprechend lässt sich Wohlgeformtheit über diese beiden Bedingungen definieren. Aufgrund der langen Tradition der Syntaxforschung weiß man relativ viel über die Voraussetzungen von Wohlgeformtheit. Deshalb sollen nachfolgend nur die in Grammatiktheorien nicht behandelten Dimensionen Angemessenheit und Relevanz diskutiert werden. Was die Angemessenheitsdimension betrifft, so ist aus der Psycholinguistik bekannt, dass es neben syntaktischer Nicht-Wohlgeformtheit noch eine andere Art von Inak-
Syntax und Pragmatik: Eine zu entdeckende
Verwandtschaft
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zeptabilität gibt, die mit möglichen Verarbeitungsschwierigkeiten bei Äußerungen zusammenhängt. So sind Sätze mit mehrfach links eingebetteten Relativsätzen nur schwer oder gar nicht erfolgreich zu rezipieren. Dies gilt zum Beispiel für (20a)
Die beiden Frauen, die das Kind, das im Garten des Politikers, der in den Spendenskandal verwickelt war, spielte, beobachteten, haben laut gelacht
Derartige Verarbeitungsschwierigkeiten sind nicht auf den Bereich von Einbettungskonstruktionen beschränkt. Vielmehr lassen sie sich auch bei elliptischen Koordinationskonstruktionen beobachten, und man kann sie als stilistische Inakzeptabilität bezeichnen. Eine wesentliche Ursache für stilistische Inakzeptabilität liegt darin, dass die Distanz zwischen zwei zu verknüpfenden Äußerungssegmenten zu groß ist (vgl. Kindt, 1985: 262), d. h. dass in offensichtlich entscheidender Weise gegen das Prinzip der Nähe verstoßen wird. Nach den Ergebnissen von Abschnitt 3 liegt es nahe, syntaktische Angemessenheit genereller auf die wahrnehmungspsychologische Eigenschaft der ,guten Gestalt' bzw. einer stabilen Strukturbildung zurückzuführen. Diese Einstufung stimmt auch mit der Einschätzung in Kindt (1998a: 38) überein, dass Instabilitäten bei der Bedeutungszuordnung die Ursache für semantische Angemessenheitsprobleme und den zugehörigen Reparaturtyp (vgl. Levelt, 1983) bilden. Die sich an die Existenz syntaktischer Angemessenheitsprobleme anschließende Frage lautet dann, ob es sprachliche Strategien gibt, solche Probleme zu vermeiden. Nachfolgend sollen zwei solcher Strategien diskutiert werden. Eine bereits von Behaghel (1932) formulierte Wortstellungsstrategie empfiehlt eine „Verlagerung schwerer Glieder", d. h. danach soll man z. B. Relativsätze statt im Voroder Mittelfeld im Nachfeld formulieren. Eine Anwendung dieser Strategie führt zu folgender Variante von (20a). (20b)
Die beiden Frauen haben laut gelacht, die das Kind beobachteten, das im Garten des Politikers spielte, der in den Spendenskandal verwickelt war
Die Akzeptabilität von (20b) ist deutlich größer als die von (20a), obwohl entgegen dem Prinzip der Nähe alle drei Relativsätze diskontinuierlich positioniert sind; dieser Mangel wird offensichtlich mit den Prinzipien der Ähnlichkeit (Genusidentität bei NP und Relativsatz) und der guten Fortsetzung ausgeglichen bzw. gemildert. Wie schon beim Vergleich von (19a) und (19b) zeigt sich außerdem, dass die Länge von Konstituenten ein relevanter Faktor für die Akzeptabilität von Wortstellung ist. Eine andere Strategie zur Vermeidung syntaktischer Angemessenheitsprobleme wurde in Kindt & Laubenstein (1991) entdeckt. Es konnte nämlich nachgewiesen werden, dass ein eigenständiger Reparaturtyp (Gabelungsreparatur) existiert, der ausschließlich dazu dient, diskontinuierliche Rückverknüpfungen zu erleichtern. Als Beispiel sollen ein Zitat
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Walther Kindt
(21a) aus dem Zauberberg von Thomas Mann und die ohne Strategieanwendung formulierte Variante (21b) genannt werden. (21a) (21b)
... und er verzweifelte - es ist furchtbar zu sagen - er verzweifelte an Wissenschaft und Fortschritt! ... und er verzweifelte - es ist furchtbar zu sagen - an Wissenschaft und Fortschritt!
Je länger Parenthesen sind, desto schwieriger wird es, sie bei einer Rückverknüpfimg zu überbrücken. Obwohl auch (21b) wohlgeformt ist, hat Thomas Mann die Formulierung (21a) bevorzugt, bei der sich die Rückverknüpfung aufgrund einer partiellen Äußerungswiederholung, also nach dem Prinzip der Ähnlichkeit, als einfacher erweist. Dieselbe Strategie wird bei auch bei anderen Reparaturtypen (s. u.) sowie bei satzübergreifenden Rückverknüpfimgen zur Distanzüberbrückung genutzt. Dass bestimmte Aspekte von Informationsrelevanz über syntaktische Korrektheit und Vollständigkeit grammatikalisiert sind, haben wir schon in Abschnitt 2 diskutiert. Aber spielt die Relevanzdimension darüber hinaus in der Syntax noch eine eigenständige Rolle? Diese zunächst nur theoretisch abgeleitete Frage ist zu bejahen. Ein besonders einfacher Typ syntaktischer Irrelevanz liegt vor, wenn eine Konstituente mehrfach formuliert wird, ohne dass dies eine konventionalisierte kommunikative Funktion hat. Dies gilt z. B. für (22a) im Unterschied zu (22b), wo die Wiederholung des Adjektivs eine .intensivierende Verdopplung' bildet. (22a) (22b)
Der der böse Wolf Der böse böse Wolf
Insbesondere verstößt Stottern gegen die Relevanzerwartung, weil die mehrfache Produktion von Segmenten für den Aufbau der syntaktischen Struktur funktionslos ist. Neben dem Fall wiederholt formulierter Konstituenten sind noch zwei andere Typen einer eingeschränkten Relevanz von Äußerungssegmenten zu betrachten: Entweder kommt eine syntaktisch konditionell relevante Konstituente nicht an der erwarteten, sondern an einer unüblichen Position vor oder statt einer im Kontext gängigen sprachlichen Konstituentenrealisierung wird eine weniger gebräuchliche Formulierung verwendet. Der erste Inakzeptabilitätstyp betrifft Wortstellungsprobleme und könnte bei (19a) vorliegen, weil wahrscheinlich die syntaktische Erwartung besteht, dass nicht topikalisierte kurze und zumal pronominal realisierte Satzglieder an ihrer Standardposition im Mittelfeld formuliert werden. Eine solche Relevanzerwartung macht eigentlich nur Sinn, wenn sie der Erfüllung anderer, insbesondere semantischer Erwartungen dient. Vermutlich gilt dieser Sachverhalt für viele Wortstellungsphänomene und er lässt sich z. B. für die Adjektivreihenfolge in Nominalphrasen nachweisen. (23a) (23b)
Der große grüne Klotz Der grüne große Klotz
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(23a) realisiert die zu ca. 80% geltende Standardreihenfolge des Deutschen. Diese Reihenfolge ist zugleich semantisch angemessener als die von (23b), weil elementare NPs im Deutschen bei der Rezeption von rechts nach links verarbeitet werden und eine spätere Verarbeitung kontextrelativer Adjektive günstiger für die Referenzherstellung ist (vgl. Kindt et al., 2000). Welche Rolle die Abweichung von Standardwortstellungen spielt, ist intuitiv oft schwer einzuschätzen, weil mit solchen Abweichungen - wie in Abschnitt 2 und 3 diskutiert - häufig eine spezielle Informationsstruktur kodiert wird. Somit kann ein Relevanzproblem nur dann vorliegen, wenn eine solche Kodierung nicht mit der restlichen syntaktischen Struktur verträglich ist. Möglicherweise lässt sich in diesem Sinne die im Unterschied zu (24b) eingeschränkte Akzeptabilität von Sätzen wie (24a) auf ein Relevanzproblem zurückführen. (24a) (24b)
Jörg hat das Buch dem Mädchen geschenkt aber nicht die Rosen (vgl. Kindt, 1995) Jörg hat dem Mädchen das Buch geschenkt aber nicht die Rosen
Zunächst wird in (24a) gegen die Relevanzerwartung der Voranstellung des indirekten Objekts vor das direkte Objekt verstoßen und aus dieser Positionsverschiebung resultiert im Standardfall eine Thema-Rhema-Struktur, bei der das Buch als thematisch und dem Mädchen als rhematisch eingestuft wird; zu einem thematischen Objekt ist aber keine (rhematisch zu interpretierende) koordinative Ergänzung im Nachfeld üblich. Der zweite Typ einer eingeschränkten syntaktischen Relevanz lässt sich gut an Kollokationen und speziell an Funktionsverbgefügen exemplifizieren. (25a) (25b)
Karl hat für seinen Freund Partei ergriffen Karl hat für seinen Freund Partei genommen
Genauso wie (25a) ist auch (25b) wohlgeformt und besitzt eine stabile syntaktische Struktur; die Verbrealisierung von (24b) entspricht aber nicht der durch den Satzanfang aufgebauten Kookkurrenzerwartung, obwohl bei den zugehörigen Nominalisierungen nur das Kompositum Parteinahme üblich ist. Auch dieser Typ von Relevanzproblemen erschwert - so kann man vermuten - die semantische Verarbeitung. Umgekehrt heißt das: Kollokationen erhöhen die Akzeptabilität hinsichtlich semantischer Angemessenheit. Wie man syntaktische Relevanzprobleme vermeidet, geht teilweise schon aus dem bisher Gesagten hervor. Deshalb soll hier nur noch auf zwei für Reparaturen charakteristische Relevanzstrategien eingegangen werden. Die eine Strategie, nämlich die Strategie einer partiellen Äußerungswiederholung zur Erleichterung von Rückverknüpfungen, ist schon im Zusammenhang mit (21a) und (21b) diskutiert worden. Nach den Überlegungen über die Auswirkung von Äußerungswiederholungen auf den syntaktischen Relevanzwert kann jetzt ergänzend angemerkt werden, dass diese Strategie interessanterweise eine lokale Relevanzverringerung in Kauf nimmt, offensichtlich zugunsten einer Akzeptabilitäts-
26
Walther Kindt
Optimierung insgesamt. Den Stellenwert dieser Strategie wollen wir noch einmal am Reparaturbeispiel (5a) aus 2.3 illustrieren. Statt (5a) könnte man auch die Formulierungsvariante ohne Wiederholung des Artikels den im Reparaturversuch wählen. (Sb)
Und den linken eh Quatsch roten stellst du links hin
Von den syntaktischen Regeln her gesehen ist eine Wiederholung des Artikels unnötig, wie sich z. B. an (5c) noch deutlicher als an (5b) zeigt. (5c)
Und den grünen eh Quatsch roten stellst du links hin
(5a) besitzt gegenüber (5b) den Vorteil, syntaktisch angemessener formuliert zu sein. Offensichtlich ist nämlich die bei (5b) erforderliche diskontinuierliche Rückverknüpfung von roten zu den etwas aufwendiger; dies hängt auch mit dem Wechsel von Lokal- zu Farbadjektiv zusammen, wie (5c) deutlich macht. Demgegenüber ist bei (5a) die Rückverknüpfung zur einleitenden Konjunktion wegen der Artikelwiederholung einfacher bzw. möglicherweise beginnt man auch sofort mit einem Neuaufbau der syntaktischen Struktur und darf den Äußerungsanfang dann ganz .vergessen'. ,Vergessen' ist eine zweite interessante Relevanzstrategie. Genauer handelt es sich um die für die pragmatische Ebene bekannte Strategie der Relevanzrückstufung (vgl. Kallmeyer, 1978), die man genauso für die syntaktische Ebene geltend machen kann. Wenn der Relevanzwert des Reparandums bzw. des Reparaturbezugs ,auf Null' gesetzt wird, dann sind dort auch die anderen syntaktischen Erwartungen bedeutungslos und das fehlerhafte Äußerungsstück erhält syntaktisch den Status eines Störgeräuschs, das wie eine Parenthese in die Äußerung eingeschoben ist (vgl. Eikmeyer et al., 1995: 137). Dabei fungiert entweder die Problemmanifestation in der Reparatureinleitung als sprachliche Realisierung der Rückstufungshandlung oder bei fehlender Einleitung wird diese Handlung durch den Reparaturversuch miterledigt. Einen schöneren Beleg für das Zusammenwirken von Syntax und Pragmatik kann es nicht geben: bei der Reparatur einer Äußerung wird in einem syntaktisch geordneten Verfahren die Geltung bestimmter kommunikativer Regeln und Erwartungen lokal außer Kraft gesetzt und dies kann wie im Ausgangsbeispiel (1) natürlich auch syntaktische Regeln betreffen.
4.3
Pragmatische Akzeptabilität
Aufgrund der für Mikro- und Makrostrukturen aufgezeigten Parallelen dürfte plausibel sein, dass die vier Akzeptabilitätsdimensionen auch für satzübergreifende Kommunikationsstrukturen bzw. für die Realisierung von Aufgabenschemata einschlägig sind. M. a. W.: Man kann zunächst davon ausgehen, dass es auch eine .pragmatische Wohlgeformtheit' gibt, die dann vorliegt, wenn im wesentlichen nur zulässige Handlungen des
Syntax und Pragmatik: Eine zu entdeckende Verwandtschaft
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zugehörigen Aufgabenschemas, aber zumindest alle obligatorischen Aufgaben vollständig durchgeführt sind. Weiterhin spielt auch die Angemessenheitsdimension eine vergleichbare Rolle, weil nachweislich und z. B. häufig in Beratungs- oder Reklamationsgesprächen bestimmte, für die Verständigung unzweckmäßige/instabile Handlungsstrukturen vorkommen; einen Spezialfall hiervon bilden .zyklische' Gesprächsstrukturen, wie sie in Fiehler et al. (1999: 148, 49) beschrieben sind. Die Ursache für die Entstehung solcher Probleme kann allerdings in unterschiedlichen gruppenspezifischen und/oder interesseabhängigen Einschätzungen der Teilnehmer/innen hinsichtlich konditioneller Relevanzen bei der Gesprächsführung liegen. Daraus folgt bereits, dass die Relevanzdimension für die Beurteilung von satzübergreifenden Handlungsstrukturen einschlägig ist. Im Unterschied zu den Gegebenheiten bei Sätzen hat diese Dimension sogar eine besonders große Bedeutung, weil es im makrostrukturellen Bereich nahezu keine grammatikalisierten Kookkurrenzbeziehungen gibt (eine Ausnahme bilden z. B. anaphorisch verwendete Pronomina). M. a. W.: Im Vergleich zur Syntax ist über Korrektheit nur sehr wenig und über konditionelle Relevanz sehr viel geregelt. Die eben angesprochene Parallelität bedeutet nicht, dass sich eine Beurteilung von Kommunikation in den vier Akzeptabilitätsdimensionen ausschließlich auf strukturelle Aspekte des Aufbaus von Kommunikation beziehen muss. Vielmehr sind diese Dimensionen genereller einschlägig und erfassen z. B. auch den Umstand einer pragmatischen Inkorrektheit, wenn ein Kommunikationsteilnehmer gegenüber einer Respektperson ein ,falsches' Anredeverhalten wählt. Urteile unter solchen Aspekten stehen aber nicht im Fokus des vorliegenden Beitrags. Gleichwohl bleibt der methodische Ansatz grundsätzlich derselbe, d. h., dass Kommunikationseinschätzungen von Beteiligten und Verhaltensreaktionen in der Interaktion die empirische Basis für Wertzuweisungen in den vier Dimensionen liefern. Dabei muss man das zu untersuchende Spektrum von Verhaltensreaktionen allerdings noch weiter fassen als bisher diskutiert: Einerseits ist das Repertoire an reparierenden/sanktionierenden Verfahren insgesamt umfangreicher, andererseits spielen auch bestätigende/belohnende Reaktionen eine wichtige Rolle. 4.4
Ausblick: Akzeptabilität und Strukturbildung
Auch wenn Strukturkonstitution im allgemeinsten Sinne einen sehr komplexen Prozess bildet, so kann die Konstruktion syntaktischer Strukturen doch als relativ einfacher Modellfall gelten für das durch Akzeptabilitätserwartungen geprägte Zusammenspiel zwischen einerseits einer Reproduktion vorgegebener oder nach festen Regeln gebildeter Standardstrukturen und andererseits einer Anwendung konventionalisierter Verfahren zur Regulierung von zunächst nicht erwartungsgemäß produzierten Strukturen. Wenn man
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Walther Kindt
darüber hinaus auch komplexere Fälle von Strukturbildung wie bei der Bedeutungskonstitution erfassen möchte, dann wird es notwendig, die Regulierungsprozesse für den Umgang mit Nicht-Standardstrukturen, die auf relativ impliziten Anwendungen von Verfahren der Problemlösung, der Aushandlung, der Verständigungssicherung und der Argumentation beruhen, im Detail zu studieren. Auf diese in 3.4 exemplarisch behandelte Thematik kann hier nicht mehr genauer eingegangen werden.
5.
Fazit
Der vorliegende Beitrag sollte plausibel machen, dass es viele Parallelen in Strukturen und Prinzipien sowie zahlreiche gemeinsame Untersuchungsgegenstände von Syntax und Pragmatik gibt. Insofern ist der Beitrag ein Plädoyer dafür, einen neuen konstruktiven Diskussionszusammenhang zwischen den beiden Teildisziplinen herzustellen. Der vorgeschlagene integrative Theorieansatz und die verschiedenen Modellierungsideen liefern hierzu einen Ausgangspunkt, der in nachfolgenden Arbeiten aufgenommen und weiterentwickelt werden kann.
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Syntax und Pragmatik: Eine zu entdeckende Verwandtschaft
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Franz Hundsnurscher
Geht es vielleicht auch ohne Syntax?
1.
Vorbemerkung
In seinem Buch „Sprache als Organ - Sprache als Lebensform" (1995: 222) berichtet Günther Grewendorf, daß Chomsky auf eine Interviewfrage hin, ob sich aus seiner Sicht die Entwicklung der Generativen Transformationsgrammatik (GTG) von den „Syntactic Structures" (1957) bis zum „Minimalist Program" (1995) als kontinuierlicher, gleichgerichteter Prozeß darstelle oder ob sie durch bestimmte konzeptuelle Richtungsänderungen charakterisiert sei, die Auskunft gegeben habe, daß mit dem „Principle & ParametefAnsatz um 1980 ( - explizit dargestellt in „Knowledge of Language" (1986) - ) eine grundlegende Abkehr erfolgt sei von einer uralten Grammatiktradition, an der sich im übrigen auch die frühen GTG-Modelle orientiert hätten: Traditionelle Grammatiken seien regel- und konstruktionsbasiert, - im P & P-Ansatz gebe es nunmehr weder Regeln noch Konstruktionen, sondern es würden lediglich allgemeine Prinzipien der Sprachfähigkeit postuliert, denen in den Einzelsprachen jeweils bestimmte formale Ausgestaltungsoptionen (Parameter) zugeordnet seien. Chomsky hat damit erneut klargestellt, wo sein eigentliches Interesse liegt, nämlich bei der Beschreibung und Erklärung der (universalen) menschlichen Sprachfahigkeit, und er räumt ein, daß seine Versuche, eine Theorie der Sprachfahigkeit auf die Konstruktionsregularitäten im Satzbau natürlicher Einzelsprachen ( - vorzugsweise des Englischen - ) zu stützen, sich im Nachhinein doch als Irrwege herausgestellt hätten. Ein solches Eingeständnis läßt aufhorchen. In noch klarerer und schärferer Weise hat Chomsky seine aktuelle Sicht in „New Horizons in the Study of Language and Mind" (2000) dargestellt. Die Frage, um die es nach Grewendorfs Bericht und nach der Darstellung, mit der Neil Smith 1999 Chomskys Gesamtwerk gewürdigt hat und auch nach Chomsky (2000) geht, und die nun wieder weitgehend offen bleibt, ist die nach der Form und den Voraussetzungen und Eigenschaften der individuellen internalisierten Sprachkompetenz (I-Sprache) als Bedingung der Möglichkeit des einzelnen Sprecher/Hörers, aus gegebenem Anlaß etwas zu sagen und Gesagtes zu verstehen. The I-language is a (narrowly described) property of the brain, a relatively stable element of transitory states of the language faculty. Each linguistic expression (SD) [structural description] generated by the I-language includes instructions for performance systems in which the I-Ianguage is embedded. It is only by virtue of its integration into such performance systems that this brain state qualifies as a language. (Chomsky 2000: 27)
32
Franz Hundsnurscher
Was auf der Hand bleibt, sind einige Vermutungen Chomskys, daß die Spezifik der Sprachfähigkeit wesentlich durch „Schnittstellenbedingungen" determiniert sei, d. h. gemäß dem Vorstellungsrahmen der Computer-Metapher von Sprache käme es auf die durch die Zugriffsweisen von Performanzmodulen auf den I-Sprachen-Output (die generierten sprachlichen Ausdrücke) an, der seinerseits von der Organisation des Lexikons abhängt und durch ein formales Syntaxsystem bestimmt ist, dessen Hauptaufgabe es ist, aus lexikalischen Elementen sprachliche Ausdrücke zu bilden, die dann entsprechend situationsädaquat unter Performanzbedingungen interpretiert, d. h. ausgesprochen und verstanden werden können; hinzu kommen einige diesbezügliche sprachliche Ökonomiebedingungen. Letztlich spiegelt sich dies alles in ultimativen Minimal-Konzepten wie „Merge" und „Move", die einzelsprachlich in parametrische Variationen einmünden. Diese Neuorientierung ergab sich als eine Konsequenz aus der zunehmenden Spannung zwischen der Forderung nach deskriptiver Adäquatheit und dem Anspruch auf explanative Adäquatheit: There is a serious tension between these two research tasks. The search for descriptive adequacy seems to lead to ever greater complexity and variety of rule systems, while the search for explanatory adeqacy requires that language structure must be invariant, except at the margins. (Chomsky 2000: 7)
Der Suche nach den allgemeinsten Prinzipien, auf denen die Sprachfähigkeit beruht, fielen nach und nach frühere Modellspezifizierungen zum Opfer: das Verhältnis von Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur, die Fixiertheit der Phrasenstruktur, der Status und die Ordnung der Transformationen, die Kategorienbildung nach der X-bar-Theorie usw. Obwohl es als eine verlockende Perspektive erscheint, daß die Prinzipien der Sprachfähigkeit letztlich an generelle Kognitionsfakultäten der menschlichen Natur angeschlossen werden könnten, äußert sich Chomsky sehr vorsichtig in dieser Richtung, da ihm sehr wohl bewußt ist, daß zwischen den theoretischen Konzepten der gegenwärtigen Gehimforschung und den Kategorien, mit denen die Linguistik die Ableitungszusammenhänge sprachlicher Äußerungsformen zu erfassen versucht, noch eine tiefe Kluft besteht; für ein direktes Aufeinanderbeziehen fehlen zur Zeit sowohl die theoretischen wie die empirischen Grundlagen. Es ist oft darauf hingewiesen worden, und Chomsky hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er Ansätze, die sich von der Seite der Semantik oder der Pragmatik her dem Verständnis sprachlicher Zusammenhänge zu nähern versuchen, mit großer Skepsis gegenübersteht. Das entspringt, so kann man annehmen, nicht so sehr einer dogmatischen Einstellung, sondern ist wohl mehr als Herausforderung an alle Sprachforscher gedacht, sich auf einen Vergleich ihrer Untersuchungsergebnisse mit denen Chomskys einzulassen, um so herauszufinden, welches die beste Theorie sei, mit der ein Phänomen wie die Sprache, als die
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eminente Erscheinungsform des menschlichen Geistes, angemessen beschrieben und erklärt werden kann. Indem er die Grammatik als Demonstrationsfeld für seine systemanalytische Methodologie und Argumentationsführung wählte, um das generelle Problem der menschlichen Sprachfähigkeit einschließlich der Fragen des Spracherwerbs und der neurophysiologischen Verankerung im Gehirn zu klären, sicherte sich Chomsky in gewisser Hinsicht einen Platzvorteil, gegen den von Seiten der einzelsprachlich-philologisch orientierten Linguisten und auch von Seiten der an den Grundproblemen von Meinen und Verstehen und am Problem der zwischenmenschlichen Kommunikation im Ganzen interessierten Sprachphilosophen und Kommunikationstheoretiker schwer anzukommen ist, denn allemal wird deijenige Sprachtheoretiker im Vorteil sein, der ein klares, explizites und integrales Grammatikkonzept als Hintergrund hat. Die Entwürfe, die von der Bedeutungsseite (z. B. Wittgenstein: ,Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache im Zusammenhang von Sprachspielen') oder von der Kommunikationsseite her kommen (z. B. Searle: ,Die kleinste Einheit der Kommunikation ist ein Sprechakt'), haben nicht den Grad an Explizitheit und empiriegestützter, weltweiter Diskussion von einschlägigen grammatisch-sprachstrukturellen Aspekten aufzuweisen wie Chomskys Entwürfe. Es ist kaum anzunehmen, daß eine seit 19SS so elaborierte und von einzelsprachlichen Detailuntersuchungen flankierte Position durch globale sprachphilosophische Gegenkonzepte allein ernsthaft zu erschüttern wäre, wenn diese nicht auch zu einer adäquaten Einschätzung lexikalischer und grammatisch-syntaktischer Zusammenhänge in der Lage sind. Die Schwierigkeit scheint auch darin zu liegen, daß Chomsky und seine Anhänger sich bis vor kurzem nicht ernsthaft mit Problemen der Semantik und Pragmatik auseinandergesetzt haben und daß die sprachphilosophischen und linguistischen Semantiker und Pragmatiker sich wenig um eine Gesamtdeutung wortsemantischer und grammatisch-syntaktischer Zusammenhänge gekümmert haben, so daß es nur wenige Berührungspunkte zwischen den Lagern gab, an denen eine fruchtbare Diskussion hätte ansetzen können. Auf Seiten der Sprachpragmatik besteht in gewisser Weise eine größere Bringschuld, den Zusammenhang von Sprachfahigkeit und aktuellem Gebrauch sowohl unter dem Aspekt des Spracherwerbs wie auch unter dem Aspekt der lexikalischen und grammatischsyntaktischen Strukturiertheit der einzelsprachlichen Äußerungsformen aus pragmatischer Sicht explizit zu machen. An der methodologischen Überlegenheit Chomskys, was die Explizitheit eines deskriptiven Apparats für grammatisch-syntaktische Zusammenhänge angeht, kann kein Zweifel bestehen; dieser wird seinen Wert für die Einzelsprachbeschreibung weiterhin behalten. Es könnte sich zeigen, daß die jetzige Situation für eine Annäherung der Lager nicht ungünstig ist. In diesem Beitrag geht es u. a. darum, auf generelle Lockerungen in Chomskys Lehrgebände aufmerksam zu machen, an den eine pragmatische Kritik ansetzen könnte.
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Franz Hundsnurscher
Im Zusammenhang des sukzessiven Hervortretens eines radikalen Minimalismus in Chomskys sprachtheoretischer Argumentation seit etwa 1980, die z. B. zur Elimination der Phrasenstruktur und zu einer radikalen Reduktion des Transformationskonzepts führten, blieben als unverzichtbare Komponenten der Sprachtheorie letztlich nur drei übrig: Lexikon, Phonetische Form (PF) und Logische Form (LF), wobei PF nach einer Modulvorstellung von Sprachorganisation als Schnittstelle für Artikulation und Perzeption fungiert, LF zur Geistestätigkeit im engeren Sinne in Verbindung steht. Minimaler geht es wirklich nicht mehr. Neil Smith berichtet (1999: 233), daß Chomsky im April 1998 ihm gegenüber geäußert habe, daß, wenn die Grammatik als eine Instanz angesehen werden könne, die im wesentlichen Laut und Bedeutung zueinander in Beziehung setzt, er außer Phonologie seit 1955 auf linguistischen Gebiet eigentlich nicht anderes betrieben habe als Semantik. Dies ist umso bemerkenswerter, als Chomsky auch (1995a: 26) zu bedenken gibt, ob eine natürliche Sprache nicht einfach aus Syntax und Pragmatik bestehe und ob nicht das, was man vielfach unter Semantik versteht, reine Syntax sei. Schon in „Rules and Representations" (1980) tritt Chomsky dem Gedanken einer parallel gelagerten „pragmatischen Kompetenz" näher: For purposes of inquiry and exposition, we may proceed to distingurish „grammatical competence" from „pragmatic competence", restricting the first to the knowledge of form and meaning and the second to knowledge of conditions and manner of appropriate use, in conformity with various purposes. (1980:224)
Es scheint so zu sein, daß am Ende der Ära Chomsky die Begriffe von Syntax, Semantik und Pragmatik stärker zueinander in Beziehung gesetzt werden, so daß diese seit Charles Morris (1938) klar voneinander abgrenzbaren, mehr oder weniger autonomen Sichtweisen des Zeichenprozesses durchaus miteinander kompatibel erscheinen und ineinander umgerechnet werden könnten. Die Diskussion im 21. Jahrhundert kann nur gewinnen, wenn die sprachlichen Zusammenhänge nicht mehr vorwiegend oder gar ausschließlich unter einer grammatisch-syntaktischen Perspektive betrachtet und bestimmt werden, sondern auch semantische und pragmatische Gesichtspunkte angemessene Berücksichtigung finden und umgekehrt. Dabei wird es weniger darum gehen, einen neuen Typ von Syntax, z. B. „Semantische" oder „Pragmatische" Syntax zu entwickeln, sondern den Stellenwert von Syntax aus semantischer und sprachpragmatischer Perspektive näher zu beleuchten und zu relativieren. Dazu scheinen die Kernkonzepte des „Minimalistischen Programms" in besonderer Weise geeignet, weil dadurch gewisse dogmatische Positionen des GTG-Lagers merklich zurückgenommen werden. Man könnte sagen, daß Chomsky mit dem Minimalistischen Programm zwar nicht, wie Marantz (1995) meint, das Ende der Syntax einläutet, sondern lediglich die grammatischsyntaktischen Fundamente der I-Sprache weitgehend unspezifiziert läßt und den gesamten
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Ableitungsapparat, der aus Einzelwörtern die in der Kommunikation verwendbaren Äußerungsformen verfertigen soll, in den Parameter-Bereich verschiebt, um den sich, was nur recht und billig ist, die Einzelsprachlinguisten kümmern sollen, und dabei werden pragmatische Erwägungen eine immer größere Rolle spielen. Was aber die Syntax angeht, führt kein Weg an Chomsky vorbei. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in fünf Abschnitte. Zunächst soll Zweifel angemeldet werden, ob mit der Strategie, dem Lexikon immer mehr Strukturierungsfunktionen syntaktischer und semantisscher Art zuzuschieben, viel zu gewinnen ist. Dann soll das sprachtypendeterminierende Zusammenspiel von V, S und O kritisch beleuchtet werden. Hinzu kommen einige Überlegungen darüber, wie sich die Bedingungen dialogischer Kommunikation auf die Wohlgeformtheit von Äußerungsformen auswirken. In einem vierten Abschnitt werden gewisse Parallelen zwischen einem Handlungsmodell Reschers und einem frühen Tiefenstrukturmodell Chomskys aufgezeigt. Der abschließende fünfte Abschnitt versucht diesen Beobachtungen eine zusammenhängende pragmatische Deutung zu geben.
2.
Die „lexikalische Einheit" als syntaktisches und semantisches Problem
Das Vorhandensein einer internen individuellen Sprachkompetenz, die in der Hauptsache die Erzeugung von zugrundeliegenden wohlgeformten Strukturen für Äußerungen leistet, ist als die wesentliche Bedingung der Möglichkeit kommunikativen Sprachgebrauchs anzusehen. Aber, was immer die kommunikative Situation voraussetzen und von den beteiligten Sprecher/Hörern verlangen mag, sie sind bei der Verfertigung und beim Verstehen ihrer Äußerungen an die Kenntnis des einzelsprachspezifischen Vokabulars und die sprachüblichen Satzbildungskonventionen gebunden. Das allein kann als sicher gelten: Das Vokabular ist allemal einzelsprachlich und so sind auch die Satzbildungskonventionen. Chomskys Problem liegt offenbar darin, daß die Menschen überall in der Welt aus einem reichlichen Vokabular hochvariable Äußerungen verfertigen und diese Fähigkeit in relativ kurzer Zeit und nach einem charakteristischen Phasenablauf erwerben. Gerade das Tempo und die Gleichgerichtetheit des Erwerbsprozesses führten Chomsky zu der Annahme, daß die Grundlagen dieser Fähigkeit angeboren, d. h. als genetisch verankert zur menschlichen Natur gehören. Der Erwerb der Einzelsprache durch das Individuum erfolgt im sozialen und kommunikativen Kontakt mit anderen Individuen; diese weisen gewöhnlich eine höhere Stufe der Beherrschung dieser Einzelsprache auf und liefern Anregungen und Orientierungsdaten. Es gibt also notwendigerweise mindestens eine Stufe rudimentärer Beherr-
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Franz Hundsnurscher
schung und eine Stufe fortgeschrittener (elaborierter) Beherrschung einer Sprache. Die Zunahme der Vokabelbeherrschung kann empirisch-quantitativ erhoben werden; entscheidend ist aber nicht das Vorkommen der Wörter, sondern ihr adäquater Gebrauch in Äußerungen; das bedeutet aber, daß Kompatibilitätsbedingungen zu beachten sind und im Hinblick darauf Stufen der Vokabelbeherrschung zu unterscheiden sind. Die Bedeutungsverhältnisse sind schon bei einer einzigen Vokabel ziemlich komplex. Chomsky selbst erläutert dies am Beispiel der Verwendungsunterschiede von house/home und faßt seine Eindrücke so zusammen: Even in this trivial example, we see that the internal conditions on meaning are rich, complex, and unsuspected; in fact, barely known. The most elaborate dictionaries do not dream of such subtleties; they provide no more than hints that enable the intended concept to be identified by those who already have it (at least, in essential respects). (Chomsky 2000: 36)
Dem ist im Grunde nichts hinzuzufügen, außer vielleicht der Beobachtung, daß Chomsky vorzugsweise Substantive wählt, deren Semantik im Vergleich zu Adjektiven und Verben in den meisten Fällen recht simpel ist. Die folgende skizzenhafte Darstellung des Gebrauchsprofils von , weifen' als Simplexverb soll das nur unterstreichen und die Probleme in Umrissen sichtbar machen, die mit der Rolle des Lexikons und mit dem Lexikonerwerb als Ankerplatz für syntaktische Organisation verbunden sind. Das Lexikon erscheint nämlich auch im „Minimalist Programm" noch als die große Zaubertüte, aus der man die „Einheiten" nimmt, die sich auf wunderbare Weise zu Sätzen aneinanderfügen. Als eine approximative Skizze der syntaktischen und kollokativen Gebrauchsbedingungen einer Vokabel wie „werfen" im Deutschen möge die folgende Liste von Verwendungsweisen dienen, geordnet nach „Satzwertigkeiten" (Vgl. Simmler 1980): I
(1) (2)
(Wer soll werfen?) Peter wirft. Die Katze wirft (Endlich hat sie geworfen).
II
(3) (4)
Der beste Spieler wirft den Strafwurf. Der Stürmer wirft den Ausgleich.
III
(5) (6) (7)
Der Rekordhalter wirft über 60 Meter. Katzen werfen gewöhnlich im Frühsommer. Jeder Spieler wirft drei Mal.
IV
(8) (9) (10)
Der Athlet wirft einen neuen Weltrekord. Der Weltmeister wirft seinen Gegner. (Ringsport) Der Herausforderer wirft den Turm (schlägt).
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(11) (12)
Der Spieler wirft sechs Augen. Der Trainer wirft das Handtuch.
(13) (14) (15) (16) (17) (18) (19) (20)
Der Prinz wirft Kamellen. Die Tänzerinnen werfen die Beine. Die Lampe wirft einen hellen Schein.. Der Baum wirft einen langen Schatten. Die Hose wirft Falten. Der See wirft Wellen. Das Wasser wirft Blasen. Die Katze wirft Junge.
V
(21) (22)
Das Holz wirft sich. Es hat ihn geworfen (Er ist aus der Bahn geflogen).
VI
(23) (24) (25) (26) (27) (28) (29) (30) (31) (32) (33) (34) (35) (36) (37) (38) (39) (40) (41) (42) (43) (44) (45)
Der Junge wirft Steine ins Wasser. Der Tourist wirft Geld in den Automaten. Der General wirft Truppen an die Front. Der Ringer wirft seinen Gegner zu Boden. Der erzürnte Mann wirft die Tür ins Schloß. Der Lehrer wirft den Grundriß von Troja an die Wand. Der Kandidat wirft die Flinte ins Korn. Die Polizei wirft den Dieb ins Gefängnis. Der Tänzer wirft den Kopf in den Nacken. Der Butzemann wirft sein Säcklein hinter sich. Der Gläubige wirft alle Sorgen auf den Herrn. Die Soldaten werfen das Los über sein Kleid. Der Flüchtende wirft die Waffe von sich. Der Besucher wirft einige Zeilen aufs Papier. Der Händler wirft billige Massenware auf den Markt. Der Senator wirft sein Gewicht in die Waagschale. Der Witwer hat ein Auge auf die Schwägerin geworfen. Der Reformer wirft alles über den Haufen. Eine Erkältung wirft ihn aufs Krankenlager. Der Reisende wirft einen Blick in das Zimmer. Die Zuschauer werfen die Arme in die Luft. Das Meer wirft Muscheln ans Gestade. Das Pferd wirft den Reiter aus dem Sattel.
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38
Franz Hundsnurscher
VII
(46) (47)
Das Unglück wirft ihn aus der Bahn. Dieser Umstand wirft ein schlechtes Licht auf ihn.
(48) (49) (50) (51)
Der Angegriffene wirft sich auf seinen Gegner. Der Verzweifelte wirft sich vor den Zug. Der Schauspieler wirft sich in die Brust. Der Bursche wirft sich in Schale.
VIII (52) (53)
Die Kinder werfen mit Schneebällen. Der Sportler wirft mit dem Speer über 60 Meter.
IX
(54) (55) (56) (57)
Der Spaziergänger wirft mit dem Stein nach dem Hund. Der Zehnkämpfer hat mit dem Diskus einen neuen Weltrekord geworfen. Der Gemeinderat wirft mit der Wurst nach der Speckseite. Der Lottogewinner wirft mit Geld um sich.
X
(58) (59) (60)
Der Ritter wirft der Dame den Handschuh ins Gesicht Die Marktfrau wirft dem Aufseher mehrere Schimpfwörter an den Kopf. Die Mitarbeiter werfen dem Aufseher Prügel zwischen die Beine
XI
(61) (62) (63)
Der Verurteilte wirft sich dem Richter zu Füßen. Das Mädchen wirft sich dem flotten Matrosen an den Hals. Der junge Mann wirft sich dem Amokläufer in den Weg.
Die Wohlgeformtheit der Äußerungsformen und das Ausmaß ihrer Beherrschung ist der Maßstab der Kompetenz. Chomsky weist zu Recht auf die für das einzelne Kind höchst unterschiedliche Input-Lage hin, die aber an den Grundzügen frühkindlichen Spracherwerbs im Prinzip nichts ändere: Am Ende steht eine sozialisations- und situationsadäquate Sprachbeherrschung aller Vokabeln der Einzelsprache und ihrer Verbindbarkeitsbeschränkungen. Es ist anzunehmen, daß in den Frühstufen des Spracherwerbs Imitiationsformen von Standardäußerungen in Standardsituationen, immer bezogen auf die jeweilige Lebenssituation, stehen, mit denen sich gewisse Analogieerwartungen bei der Verfertigung weiterer Äußerungen verbinden. Daß im Hinblick auf den Worterwerb und die Gebrauchsweisen innerhalb einer solchen Liste eine feste Reihenfolge angegeben werden könnte, ist eher unwahrscheinlich. Die Verwendungsweisen sind an spezielle Bedingungen gebunden und erlauben nicht in jedem Fall eine analoge Verbindung, sondern es gibt Beschränkungen
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hinsichtlich der Satzstrukturen und der Kollokationsklassen. Auf diese Faktenlage trifft offensichtlich Wittgensteins Bemerkung zu: „Wir übersehen den Gebrauch unserer Wörter nicht" (PU § 122) und „Wir kennen die Grenzen nicht, weil keine gezogen sind" (PU § 69) Wenn lexikalische Einheiten wie werfen dem Lexikon entnommen und mit anderen lexikalischen Einheiten zu Äußerungen verbunden werden sollen, mit deren Hilfe dann kommuniziert werden kann, so fragt sich, was genau an „lexikalischer Bedeutung" dabei im Spiel ist. Da es keine Verwendung solcher .Einheiten' außerhalb von Sprechakten gibt und da Sprechakte nicht mit aneinandergereihten .lexikalischen Einheiten', sondern allemal mit grammatisch-syntaktischen organisierten Äußerungsformen vollzogen werden, ist z. B. von W. P. Aiston bereits 1964 die These aufgestellt worden, die er in seinem Buch „Illocutionary Acts and Sentence Meaning" (2000) ausführlich bekräftigt hat, nämlich daß, pragmatisch gesehen, von Satzbedeutungen auszugehen sei und daß sich Wortbedeutungen nur als Bestandteile von Satzbedeutungen ausmachen ließen: Die Wörter leisten einen wie auch immer gearteten Beitrag zum Illokutionspotential eines Satzes. Was Chomsky von der „Lexikoneinheit" für die Syntax erwartet, das erwartet Aiston, so scheint es, von der Satzbedeutung für das Einzelwort, denn für Aiston stellt sich auch das Problem, wie man aus der „Satzbedeutung" einzelne Wortbedeutungen als distinkte ,$eiträge" isolieren kann, so wie sich für Chomsky das Problem stellt, wie von den lexikalischen Einheiten her die grammatisch-syntaktische Organisationsform der Äußerung abgeleitet werden soll. Es scheint aufgrund der Anschauung der (bei weitem nicht vollständigen) Liste der Verwendungsweisen von ,werfen' deutlich zu sein, daß der „Beitrag" der lexikalischen Einheit .werfen' zu den einzelnen Äußerungsformen („Sätzen") ganz verschieden ist. Eine illustrative Probe bestünde nach dem Vorschlag Aistons in der synonymischen Ersetzung durch andere .lexikalische Einheiten' wie etwa schleudern oder schmeißen. Es zeigt sich nicht nur, daß eine durchgängige Ersetzung nicht möglich ist (z. B *Er schleudert den Ausgleich. *Die Hose schleudert Falten. *Die Katze schmeißt sechs Junge. *Das Holz hat sich geschmissen), sondern daß zur synonymischen Ersetzung im Einzelfall ganz verschiedene Verben in Frage kommen, (z. B. Er erzielt (wirft) den Ausgleich. Er verlegt (wirft) Truppen an die Front. Das Holz verzieht (wirft) sich. Er stürzt (wirft) sich auf den Gegner. Er brüstet sich (Er wirft sich in die Brust)) und daß insbesondere bei Phraseologismen und das ist nicht weiter verwunderlich - eine synonymische Ersetzung gar nicht möglich ist (Z. B. Diese Tatsache wirft (*schleudert, *schmeißt) ein schlechtes Licht auf ihn. Er wirft sich in *die Stirn). Auch der Zeugma-Test bringt Unverträglichkeiten zum Vorschein (z. B. *Er warfsich in Schale und ihr zu Füßen). Es ist aus der Liste ersichtlich, daß , werfen ' ganz verschiedene syntaktische Muster erfüllen kann; ihr Zusammenhang untereinander wäre erst noch zu klären. Zu klären wäre auch, woher das Kind solche Kenntnisse schöpft und wie sie in seine Sprachkompetenz überführt werden, denn bei der großen Va-
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riationsbreite läge es nahe, daß die grammatisch-syntaktische Organisation der Äußerung irgendwie von der einzelnen lexikalischen Einheit her, die dem „Lexikon" entnommen wird, erfolgt. Offenbar ist aber der Beitrag des Wortes zur Satzbedeutung stets neu zu bestimmen, wenn z. B. weifen sich mit den verschiedenen lexikalischen Satzkonstituenten verbindet: Der Gefoulte Der Stürmer Der Athlet Der Boxer Der Ringkämpfer Die Hose Das Wasser Die Katze Der Baum
wirft wirft wirft wirft wirft wirft wirft wirft wirft
den Strafwurf. den Ausgleich. einen Weltrekord. das Handtuch. den Gegner. Falten. Blasen. Junge. Schatten.
Es wäre notwendig, im Minimalistischen Programm ein Konzept von lexikalischer Einheit zu entwickeln, aufgrund dessen der Sprecher unter Berücksichtigimg grammatischsyntaktischer Parameter, die geeigneten Äußerungsformen organisieren kann. Ahnliche Beobachtungen im Hinblick auf die .lexikalische Einheit' werfen können auch gemacht werden, wenn man statt der valenzgebundenen Kollokationsklassen Präfix- oder Partikelzusätze zu weifen ins Auge faßt; bei diesen sog. Zusammengesetzten Verben streut die Bedeutung von werfen womöglich noch stärker als bei dem wertigkeitsgebundenen Simplexverb werfen; hier einzelne Beispiele: I
II III
Der Kanzler wurde von den Zuhörern mit Tomaten beworfen. Der Besucher verwarf den Gedanken, länger zu bleiben, auf der Stelle. Der Architekt entwirft einen Bebauungsplan. Der Rechtsanwalt hat sich mit seinem Kollegen überworfen. Der Angeklagte unterwirft sich dem Richterspruch. Der Passant hat einen Mantel umgeworfen. Der Diener hat eine Vase umgeworfen. Dieser Umstand wirft eine Reihe von Fragen auf. Der Arbeiter wirft (schüttet) den Graben zu. Der Spieler wirft seinem Kameraden den Ball zu.
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Es stellt sich hier dieselbe Frage, wie eine lexikalische Einheit wie werfen im Lexikon zu repräsentieren sei, so daß um sie herum eine wohlgeformte Äußerungen konstruiert werden können und ihr spezifischer Beitrag im Rahmen der jeweiligen Äußerung zur Geltung kommt.
3.
Syntaktische Uni Versalien
Mit dem minimalistischen Programm ist nach der Darstellung von N. Smith auch eine „Eliminierung von PS-Regeln" (1999: 66/67) verbunden. Als Standardform einer Satzstruktur galt seit den frühesten Modellen der GTG das Ergebnis einer Regelanwendung: S -> NP + VP; VP-> V + NP. Schon die einfache Tatsache, daß in natürlichen Sprachen transitive und intransitive Verben vorkommen, wirft hier Probleme auf, denen man durch Notationstricks (VP V(+ NP) zu begegnen suchte. Zwar gibt es auch Verben, die sowohl transitiv wie intransitiv gebraucht werden, (z. B. Das Huhn legt. Das Huhn legt Eier.) aber daneben gibt es Verben, die keine solche Option zulassen, sondern klar dem einen oder dem anderen Kontruktionstyp folgen (z. B. Der Diplomat zögert. Der Gläubige vernimmt die Botschaft). Man kann dem Dilemma der Strukturfestlegung zwar dadurch ausweichen, daß man die Distributionseigenschaften der Verben als idiosynkratisch ansieht und sie in die lexikalische Charakterisierung verweist. N. Smith z. B. beruhigt sich mit dem Hinweis darauf, daß die Distributionseigenschaften weitgehend durch die Bedeutung festgelegt seien („largely predictable from their meanings" (1999: 66)). Man begibt sich aber so, wie im vorigen Abschnitt angedeutet, in gefährliche Nähe zu einem Zirkel. Das Beispiel werfen zeigt nämlich meiner Meinung nach, daß es sehr schwierig sein dürfte, dessen Distributionseigenschaften aufgrund seiner ,3edeutung" vorauszusagen. Ahnlich verhält es sich mit den eng mit der minimalen Phrasenstruktur zusammenhängenden sprachtypenbestimmenden Wortstellungsverhältnissen in einer Sprache. Es ist auf der Anschauungsbasis des Englischen die Meinung vertreten worden, daß SVO ein universaler Stellungstyp für die wohlgeformten Sätze einer Sprache sei. Durch sprachvergleichende Untersuchungen ließ sich leicht nachweisen, daß für andere Sprachen Ordnungen wie SOV oder VSO charakteristisch sind, und bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, daß alle denkbaren Stellungstypen unter den Sprachen der Welt, wenn auch mit unterschiedlicher Häufigkeit, vertreten sind. „Universal" ist also nur, daß alle sechs logischen Möglichkeiten besetzt sind; eine kognitiv verankerte distinkte universale Satzstruktur kann es also nicht geben, durch die der Erwerb der Sprachfahigkeit einen fliegenden Start erhielte; das Kind muß sozusasgen „auf alles gefaßt sein", wenn es an den Erwerb einer Einzelsprache herangeht.
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Franz Hundsnurscher
Aber auch auf die Einzelsprache hin gesehen ist es nicht ausgeschlossen, daß alle Stellungstypen vorkommen und von ihnen in unterschiedlicher Weise Gebrauch gemacht wird. Man kann auch hier eine Beispielliste anführen, die dies für das Deutsche belegt: SVO Der Junge ißt die Pflaumen. SOV (Ich verlange), daß der Junge die Pflaumen ißt. (Ob der Junge die Pflaumen ißt, weiß ich doch nicht.) VSO Ißt der Junge die Pflaumen? (VSO) Ißt der Junge die Pflaumen, wird er auch die Kirschen essen. vos (Diesmal) ißt die Pflaumen der Junge, (nicht das Mädchen). (VOS Iß die Pflaumen, Junge!) ovs (Keine Widerrede.) Die Pflaumen ißt der Junge, (die Kirschen das Mädchen). Für das Deutsche ist aufgrund der SVO-Stellung in den Hauptsätzen und der SOV-Stellung in den meisten konjunktionalen Nebensätzen eine Mischsituation diagnostiziert worden und dieser Umstand auch noch dahin gedeutet worden, daß das Deutsche sich erst auf dem Wege zu einer durchgängig geregelten Ordnung befindet, so wie sie im fortschrittlichen Englisch bereits besteht. Das Deutsche weist in der Tat eine freiere Wortstellung auf als das Englische und steht darin „älteren Sprachen" wie dem Latein näher. Die im Deutschen neben SVO und SOV vorkommenden Stellungstypen der Beispielsätze stehen unter besonderen Kontextbedingungen und sind durch kontrastierende Intonation und Akzentuierung charakterisiert; es kann aber kein Zweifel darüber bestehen, daß die entsprechenden Bedingungen diese Stellungen determinieren und als „wohlgeformt" ausweisen; dies gilt in besonderer Weise für die „Fragesatzstellung" Im Deutschen sind die „beweglicheren" Stellungsverhältnisse flankiert von einer in Teilen differenzierten morphologischen Charakterisierung, z. B. im Hinblick auf bestimmte Kasusspezifizierungen bei Artikel und Nomen. Auch diese Beobachtungen tragen zu einer Relativierung von .syntaktischer Wohlgeformtheit' bei und legen die Einwirkung pragmatischer Faktoren auf die Satzgestaltung nahe.
4.
Die Plastizität spontaner dialogischer Äußerungen
Gegen die strikten Wohlgeformtheitspostulate Chomskys wie auch gegen die an sog. schriftsprachlichen Texten orientierten Standardgrammatiken sind immer wieder die Befunde mündlichen Sprachgebrauchs ins Feld geführt worden. Im Zusammenhang der Forschungen zur „Gesprochenen Sprache" ist sogar die Geltung verschiedener Grammatiken
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für ein und dieselbe Sprache in Betracht gezogen worden. Viele Äußerungen im spontanen, authentischen Gespräch (primäres System) weisen bezüglich der „Wohlgeformtheit" der Sätze in schriftlich fixierten Texten (sekundäres System) Defizite auf. Die Diskrepanz beider „Systeme" wird zum einen auf performanzbedingte Verzerrungen besonders bei spontaner Mündlichkeit zurückgeführt, zum anderen auf schulgrammatische Normfestlegungen. Die mündliche Verständigung funktioniere trotz der vielfältigen Verzerrungen der Oberflächenstruktur z. B. in Form von anakoluthischen Brüchen und kontextbedingten Ellipsen, da diese auf wohlgeformte Strukturen zurückzuführen seien, die der Kompetenz des idealen Sprecher/Hörers entsprechen. Es gibt aber eine ganze Reihe von „ungrammatischen" Strukturen, die zu den festen Sprachkonventionen gehören und deren Umwandlung in explizite, grammatisch wohlgeformte Strukturen gegen die Konvention verstoßen würde. Insbesondere folgen etwa Außerungsformen wie Ja, Nein, So, Na und wenn schon, Von mir aus, Nicht schon wieder. Alles was recht ist usw. nicht den Regeln einer wohlgeformten Phrasenstruktur. Der gesamte Bereich der Phraseologie kann zwar auch strukturell regelhaft beschrieben werden, stellt sich aber quer zu einer generativ-transformationellen Erklärung, denn die phraseologischen Äußerungen werden als fixierte Formen in enger Bindung an bestimmte Gebrauchsbedingungen erworben, also in der Kommunikation rezitiert, nicht generiert. Der phraseologisch-fixierte Teil der Sprache ist umfangreich, und für ihn gelten offenbar besondere Erwerbsbedingungen, da nicht „lexikalische Einheiten", sondern ganze Syntagmen und Sätze zur Debatte stehen. Die größte Herausforderung aber für eine Syntaxtheorie ist in der Tat die Flexibilität und ,Plastizität' der Äußerungen im spontanen Gespräch. Auf einfacher sprechakttheoretischer Basis ist schon die Formenvielfalt innerhalb der Mengen funktional äquivalenter Äußerungen bemerkenswert, die für den Vollzug eines Sprechakts in Frage kommen. Im einzelnen wird durch ihre Auswahl die Anpassung an spezifische Situationsbedingungen geleistet. Um z. B. den schlichten Sprechakt EIN GLAS BIER BESTELLEN vollziehen zu können, stehen im Deutschen eine ganze Palette von Äußerungen zur Verfügung. (1) Bringen Sie mir, bitte, ein Glas Bier. (2) Könnte ich bitte, ein Glas Bier haben? (3) Ich hätte gern ein Glas Bier. (4) Fürs erste ein Glas Bier (5) Ein Glas Bier fiir mich. (6) Ein Glas Bier, bitte. (7) Ein Bier. Die Äußerungsformen (1) - (3) sind situationsadäquate konventionalisierte Routineformeln in initialer Position; (1) - (7) sind auch reaktiv zu gebrauchen, z. B. auf die Kellner-
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frage hin Was darf ich Ihnen bringen; es gibt auch Äußerungsformen für .Anschlußsprechakte", z. B. Mir auch oder Das gleiche fiir mich. Die Form der Äußerung und damit auch ihre Abweichimg von der „Wohlgeformtheit" ergibt sich aus der Berücksichtigung der situativen Umstände. Zur Illustration der situationsbedingten ,Äußerungsverformung" sei hier ein Ausschnitt aus einem authentischen Gepräch vorgegeben. Beispieltext (Gespräch über Schlafapnoe vor dem Fernseher; aus: Brock/Hartung 1998: 252/253.) Ol Andrea sven sven hat das • hast de das ma mitgekriegti 02 Robert was 03 Andrea • daß der manchmal so richtig aussetzt mit atmen • der atmet ganz gleichmäßig und of eemal is mal 04 05 ga/ ne minute fast nichts 06 Robert kannste sterbm (wenn de schläfst) 07 Andrea ' 3 • na echt ma das macht mir manchmal angsf 08 da da da* hm • da denk ich also manchmal da hab 09 ich schon gedacht mein gott's • • irgendwas ist da 10 ni richtig • 5 • sowieso freitag geh ich mit dem zum 11 arzt • Die Wahrnehmungsangebote des Fernsehprogramms regen eine kommentierende Konversation an, die sich auf die gemeinsamen Eindrücke und auf Hintergrundswissen stützen kann. So erklären sich wohl die Häufung der Proformen (das, der, mit dem, da), die Selbstkorrekturen der Sprecher (und of eemal is mal ga/ne minute fast nichts) und die variierenden Wiederholungen (da denk ich also manchmal hab ich schon gedacht). Auffällig ist auch die freie Kombinatorik von Satzpartikeln (ma, na echt ma, also, mein gott 's, sowieso). Das Gespräch stellt sich nicht als eine Folge klar strukturierter Satzmuster dar, sondern als Redebeiträge, die als variable Versatzstücke kommunikativer Interessen fungieren; ihre Formen größtenteils als syntaktische Unglücksfälle zu beurteilen kaum auf die Dauer nicht überzeugen.
5.
Satzmuster als Repräsentation von Handlungsmustern
Wenn man sich vor Augen hält, daß nach über vierzig Jahre intensiver Forschung an Erkenntnissen über die Struktur der kognitiven Grammatik der I-Sprache kaum mehr herausgekommen ist als einige sehr schemenhafte Prinzipien eines Minimalprogramms, das den Erwerb des Ausdrucksreichtums natürlichsprachiger Grammatiken kurzfristig implementierbar machen soll und dessen Konzept deshalb so minimal ausfällt, weil die Sprache der
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Menschheit von Haus aus nur eine einfache sein kann, so kommen einem Zweifel, ob der Preis für eine solche Methodologie nicht zu hoch ist. Eine Begründung für das Hantieren mit Wortart- und Satzglied-Kategorien, die über einem Verweis auf die „Tradition" hinausgeht, findet sich im übrigen nirgends in der GTG. Woher kommen die Wortarten, die das Lexikon prägen, und die Satzglieder, durch die das lexikalische Material syntaktisch organisiert wird? In welcher Beziehung stehen sie zur Denk- und Lebenswelt des Menschen? Bei der Flucht in den Minimalismus, zu der sich Chomsky letztlich gezwungen sah, blieben möglicherweise Einsichten, die in früheren Modellen greifbar waren, z. B. im Modell 1965 (, Aspekte der Syntaxtheorie") auf der Strecke, die durchaus auch geeignet waren, einen Anschluß an die grammatischen und kommunikativen Zusammenhänge der Einzelsprachen zu gewährleisten und dennoch dem „naturalistischen" (d. h. an den Naturwissenschaften orientierten) Denken treu zu bleiben. Es könnte beispielsweise plausibel erscheinen, daß die syntaktischen Muster, mit denen die Menschen in der Kommunikation hantieren, nicht gänzlich abstrakten Formprinzipien folgen, sondern auch in gewisser Beziehung zu dem stehen, was mit ihnen zum Ausdruck gebracht werden soll. Es ist möglicherweise nicht abwegig, anzunehmen, daß in der Lebenswelt der Menschen, das eigene Fühlen und Handeln und das der anderen neben den Gegebenheiten der physischen Umwelt und den darin wahrnehmbaren Vorgängen im Mittelpunkt des Interesses und damit auch der kommunikativen Auseinandersetzung stehen und daß die menschlichen Denkbahnen von da her vorgeprägt sind. Daraus ließe sich eventuell die These ableiten, daß am ehesten ein Vorgangs- und Handlungskonzept als Vorlage für ein prototypisches Satzmodell in Frage kommen könnte. Es ist immerhin frappierend, daß zwischen einer Skizze von Nicholas Rescher, die dieser 1966 mit dem Ziel einer kanonischen Handlungsbeschreibung entworfen hat und bei der es ihm darum ging, einen im wesentlichen vollständigen Katalog der wichtigsten generischen Handlungselemente aufzustellen, und dem .illustrativen Fragment einer Basiskomponente', die Chomsky 1965 in den .Aspekten einer Syntaxtheorie" vorgestellt hat, bemerkenswerte Zusammenhänge bestehen. Es genügt, die beiden Modelle einander gegenüberzustellen, um die Parallelen zwischen ihnen sichtbar zu machen: I. THE DESCRIPTIVE ELEMENTS OF AN ACTION (Reschers Handlungsskizze (1966: 215)) (1) Agent (WHO did it?) (2) Act-type (WHAT did he do?)
Michael Schumacher fithr das Rennen
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Franz Hundsnurscher
(3) Modality of Action (HOW did he do it?) a. Modality of manner (IN WHAT MANNER did he do it?) mit Bravour b. Modality of means (BY WHAT MEANS did he do it?) in seinem neuen Ferrari (4) Setting of Action (IN WHAT CONTEXT did he do it?) a. Temporal aspect (WHEN did he do it?) am vorigen Wochenende b. Spatial aspect (WHERE did he do it?) in Brasilien c. Circumstantial aspect (UNDER WHAT CIRCUMSTANCES did he do it?) bei herrlichem Sonnenschein und vor großer Zuschauerkulisse (5) Rationale of Action (WHY did he do it?) a. Causality (WHAT CAUSED him to do it?) getrieben vom Ehrgeiz b. Finality (WITH WHAT AIM did he do it?) im Hinblick auf den diesjährigen Meisterschaftstitel c. Intentionality (IN WHAT STATE OF MIND did he do it?) mit Entschlossenheit und Siegesgewißheit. II. AN ILLUSTRATIVE FRAGMENT OF THE BASE COMPONENT Chomskys Aspects-Tiefenstrukturfragment (Dt. Übersetzung 1969: 140) (i) (ii)
S ^ N P Prädikatskomplex Prädikatskomplex — • Aux ' ' VP (Lokal) (Temporal) Kopula'
1 Prädikativ
(NP) (PP) (PP) (Art und Weise) (iii)
VPS'
Prädikativ
{
Adj.
(iv)
Prädikativ
(like) Prädikatsnomen
}
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Richtung Dauer PP
Lokal Frequenz usw.
(vi) V (vii) NP (viii) N Rescher weist in einer Fußnote darauf hin, daß er sich bei der Aufstellung seines Handlungsschemas an den Kategorien des Aristoteles orientiert. In den Schriften des Aristoteles wird an mehreren Stellen analysierend auf Handlungszusammenhänge eingegangen, und es werden entsprechende Handlungscharakterisierungen vorgenommen; besonders deutlich ist Reschers Anlehnung an die „Nikomachische Ethik" (Meiner-Ausgabe 1972: 47): „Es ist wohl nicht unpassend, anzugeben, welche und wie viele Einzelheiten überhaupt bei einer Handlung in Betracht kommen können. Es fragt sich da also, wer etwas tut, und was er tut und in bezug auf was oder an wem, oft auch womit, ob z. B. mit einem Werkzeug, und weshalb, ob z. B. der Rettung halber, und wie z. B. gelinde oder intensiv. Über all dieses zusammen kann nun niemand, der kein Narr ist, sich in Unwisssenheit befinden, selbstverständlich auch nicht über die Person des Handelnden; - denn wer kennte sich nicht selbst? - dagegen sehr wohl über das, was man tut..."). Aristoteles behandelt hier die Frage, in welcher Hinsicht der Mensch für sein Handeln verantwortlich ist und über welche Aspekte seines Handelns er sich im klaren ist. Bei einem Vergleich der beiden Schemata fällt der hervorgehobene Status der AgensPosition bzw. Subjekt-NP auf, die in einem normalen Handlungssatz den Handelnden repräsentiert. Der Prädikatkomplex enthält als Kern ein Verb, das bei Sätzen, die sich auf Handlungen beziehen, das entsprechende Handlungsmuster bezeichnet, und eventuell weitere spezifizierende Angaben: NP zur Repräsentation von „Objekten", die in die Handlung involviert oder von ihr betroffen sind, und die PPs als weitere handlungscharakterisierende Angaben. Was die NP-Ausstattung angeht, so sind im Chomsky-Schema nicht mehrere NPs vorgesehen, obwohl auch im Englischen Konstruktionen wie He gave his mother a kiss üblich sind, (dagegen *He gave a kiss to his mother). Bei Rescher fehlt
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ein Pendant zur Objektrepräsentation, vermutlich weil vielfach der Objektbezug unmittelbar zur Akttypspezifizierung (Handlungsmustercharakterisierung) gehört (z. B. die Nase rümpfen) oder sie explizit markiert (z. B. das Fenster öffnen vs. die Konservendose öffnen) und weil häufig synonymische Beziehungen zwischen Simplexverb und objektgebundenem Verb bestehen (z. B. jemanden küssen vs. jemandem einen Kuß geben, etwas mit etwas vergleichen vs. einen Vergleich ziehen zwischen a und b). Die übrigen Umstandsangaben (durch PP repräsentiert.), sind in Chomskys Schema in doppelter Ausfuhrung vorhanden, die Expandierung der Regel (v) aber fuhrt aus, daß dahinter verschiedene Typen von Angaben stehen, die, wie das veranschaulichende Satzbeispiel zu Reschers Schema zeigt, insgesamt auch gleichzeitig in einem Satz auftauchen können, neben den morphologisch nicht näher spezifizierten Raum- und Zeitergänzungen, die innerhalb des Prädikatkomplexes hinzutreten können. Ein großer Teil der mit den Chomskyschen Regeln erfaßten Strukturformen kann also aufgrund der entsprechenden Kombination von Satzkonstituenten als detailgetreues Bild einer „vollständigen" Handlungsbeschreibung angesehen werden: Agent
: NP
als Satzsubjekt
referiert auf den Handelnden
Act-type
: VP
Prädikatskomplex
Charakterisiert
das
Hand-
lungsmuster Modality of Action : (Art und Weise)
spezifiziert die Handlungsmodalität
Setting of Action
:
(PP)
differenziert
den
Hand-
lungskontext der Situation Rationale of Action :
(PP)
legt die
Handlungsgründe
und Ziele offen Beim Reden über Handlungen können die verschiedenen Handlungsaspekte in Abhängigkeit von den in der jeweiligen Situation geltenden kommunikativen Interessen frei kombiniert werden. Ihre „Ordnung" nach einem kontextfreien Wohlgeformtheitskonzept ergibt sich aus einer strikten Beachtung „schriftsprachlicher" Konventionen, vorwiegend aus schulgrammatischer Perspektive. Chomskys Formel erfaßt aber nicht nur Handlungssätze, sondern ist auch für Vorgangsund Zustandssätze eingerichtet, bei denen die Subjekt-NP sich eben nicht auf einen Han-
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delnden bezieht, sondern auf die entsprechenden Vorgangs- und Zustandsträger (z. B. Die Blumen blühen. Die Reifen quietschen). Mit dem Symbol S' ist der Fall berücksichtigt, daß ein Gliedsatz als Satzobjekt fungieren kann; der Fall, daß ein Gliedsatz als Subjekt-NP fungiert, ist dagegen nicht vorgesehen, obwohl Sachverhaltsnominalisierungen häufig vorkommen (Ein Lawinenabgang sorgte für Aufregung. - Der Umstand, daß eine Lawine abgegangen war, sorgte für Aufregung. - Es sorgte für Aufregung, daß eine Lawine abgegangen war.) Als Sonderformen sind die Kopula-Sätze anzusehen; mit diesem Satzmuster begibt sich Chomsky bis auf die Wortartebene und verläßt den Bereich der Handlungsund Vorgangssätze. Darin entfernt sich seine Formel am weitesten von Reschers Schema. Das Bestreben, die Satzstmkturen insgesamt formal zu erfassen, führt zu einer abstrakten Formel, die jeden Bezug zu inhaltlichen Funktionen verwischt, so daß sie erst durch „Interpretation" wieder hergestellt werden müssen.
6.
Der pragmatische Hintergrund sprachlichen Wissens
Durch das Minimalistische Programm sind wesentliche Konzepte der GTG relativiert und ausgehöhlt worden. Fast überall, wo vorher differenzierte und elaborierte Struktur- und Regelzusammenhänge für die sprachlich-kognitive Grundausstattung des Menschen postuliert wurden, sind vergleichsweise unkontruierte abstrakte Prinzipien an deren Stelle getreten. Die unbestreitbare Komplexität und Variabilität der Konstruktionsformen ist in die „parametrische Variation" der Einzelsprache verlegt und der Zusammenhang zwischen allgemeinmenschlicher angeborener Sprachfähigkeit und individueller Beherrschung des hochkomplizierten grammatischen Apparats einer Einzelsprache weitgehend gelockert worden. Wenn nun nicht einmal die einfachsten und allgemeinsten Phrasenstrukturregeln und Konstruktionen als universal gesichert gelten können, sondern für jede einzelne lexikalische Einheit im Lexikon Spezifizierungen vorzunehmen sind und wenn für jede Einzelsprache von der Festlegung eines S/V/O - Stellungstyps her die Satzbausystematik geregelt werden soll, so verlangt die Tatsache, daß jeder Spracherwerb über distinkte Vokabeln und damit verbundene Satzbauregeln läuft vorrangige Berücksichtigung. Zu sagen, daß die menschliche Sprachfähigkeit und der darauf gegründete Erwerb der einzelsprachlichen Sprachbeherrschung angeboren sei und daß die vorfindlichen Sprachen eben deshalb in der Weise eingerichtet seien und erworben würden, wie es sich empirisch darstellt, ist eben keine Erklärung, sondern nur die Benennung des Problems. Wie Smith (1999: 152) ausdrücklich feststellt, sind für Chomsky kommunikative Überlegungen stets marginal gewesen. Sprache ist im wesentlichen ein Code, durch den die Laut- und Bedeutungsrepräsentationen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Sprache leistet zwar einen wesentli-
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chen Beitrag zur Kommunikation, daß aber .Kommunikation' der oberste Zweck von Sprache sei und sich wesentliche Aspekte der Sprache von einer solchen Zweckbestimmung her erfassen ließen, weist Chomsky zurück; Sprache funktioniere in kommunikativer Hinsicht nur aufgrund zusätzlicher pragmatischer Inferenzen, die von den Sprechern in der gegebenen Situation entsprechend anzustellen sind. Da Sprache nach Chomsky ein „natural object", letztlich ein menschliches Organ ist, liegt ihm auch der Gedanke fern, daß Sprache unmittelbar in den Zusammenhang intentionalen Handelns gehört, da mit Sprache Veränderungen in der Welt bewirkt werden können und die kommunikativen Interessen der Sprecher primär auf diese Wirkungen gerichtet sind. Die Erfahrbarkeit eigenen Handelns und des Handelns anderer als intentionales, d. h. zweckgerichtetes Verhalten dürfte aber zu derselben kognitiven Grundausstattung des Menschen gehören wie dies Chomsky für das .unbewußte Wissen' von Sprache (unconscious lingustic knowledge) postuliert. Die Tendenz der methodolgisch begründeten Abkopplung angeborener Sprachfahigkeit von der Beherrschung einzelsprachlicher Grammatiken und von manifesten und distinkten kommunikativen Interessen im Bereich der Performanz versperrt die Sicht auf die durchgängigen Zusammenhänge von Handeln und Reden über Handlungen. Das Kind setzt sich mit dem Erwerb der Sprache in den Besitz des wichtigsten Handlungsmittels, das ihm die Teilnahme an der für sein Überleben wichtigen Kommunikationsgemeinschaft sichert. Untersuchungen zum frühkindlichen Spracherwerb (z. B. Ramge 1976) haben längst nachgewiesen, daß das Kind in hohem Maße auch Regisseur seines eigenen Spracherwerbs ist. Da man, wie man Aristoteles entnehmen kann, Handeln nur durch Handeln lernt, dürfte der Erwerb und der Gebrauch von Sprache, die der Mensch im Laufe seiner Evolution seinen Handlungspotential hinzugefügt hat und an dessen Differenzen und medialer Potenzierung er ständig weiterarbeitet, im Prinzip ähnlichen Bedingungen unterliegen wie der Erwerb jeder anderen Handlungsform, die das Kind durch Nachahmung in seiner hochkomplexen und polyfunktionalen Umwelt „lernt".
Literatur Aiston, William P. (1964): Philosophy of Language. - Englewood Clififs, New Jersey: Prentice Hall, Inc. - (2000): Illocutionary Acts and Sentence Meaning. - Ithaca: Comell University Press. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben von Günther Bien (1911;31972). - Hamburg: Meiner (Philosophische Bibliothek 5). Brock, Alexander/Hartung, Martin (Hg.) (1998): Neuere Entwicklungen in der Gesprächsforschung. - Tübingen: Narr, 252-253. Chomsky, Noam (1957): Syntactic Structures. - The Hague: Mouton & Co. - (1965; "1976): Aspects ofthe Theory of Syntax. - Cambridge, Massachusetts: The M.I.T. Press. - (1969): Aspekte der Syntax-Theorie. - Frankfurt a. M.: Suhrkamp. - (1980): Rules and Representations. - Oxford: Blackwell.
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(1995a): Language and nature. - In: Mind 104,1-61. (1995): The Minimalist Program. - Cambridge, Massachusetts: The M.I.T. Press. (2000): New Horizons in the Study of Language and Mind. - Cambridge: Cambridge University Press. Grewendorf, Günther (1995): Sprache als Organ - Sprache als Lebensform. Anh. Interview mit Noam Chomsky: Über Linguistik und Politik. - Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Jürgens, Frank (1998): Möglichkeiten der syntaktischen Segmentierung und Kategorisierung in der gesprochenen Sprache. - In: Alexander Brock, Martin Härtung (Hg.): Neuere Entwicklungen in der Gesprächsforschung. Vorträge der 3. Arbeitstagung des Pragmatischen Kolloquiums Freiburg. Tübingen: Narr (ScriptOralia 108), 153-170. Morris, Charles William (1938): Foundations of the Theory of Signs - The University of Chicago Press. Dt. Übers. (1972). (1972): Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik und Zeichentheorie. Nachwort von Friedrich Kniiii. - München: Hanser (Reihe Hanser 106: Kommunikationsforschung). Ramge, Hans (1976): Spracherwerb und sprachliches Handeln. Studien zum Sprechen eines Kindes im dritten Lebensjahr. Pädagogischer Verlag Schwann: Düsseldorf Rescher, Nicholas (Hg.) (1966): The Logic of Decision and Action. - Pittsburgh: University of Pittsburgh Press. Searle, John R. (1969): Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. - Cambridge: Cambridge University Press. - (1979; 31985): Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts. - Cambridge: Cambridge University Press. Simmler, Franz (1980): Die Valenz des Verbums .werfen'. - In: Heinz Rupp, Hans-Gert Roloff (Hg.): Akten des 6. Int. Germ.-Kongresses Basel 1980. - Bern [u. a.]: Lang. Smith, Neilson Voyne (1999): Chomsky: Ideas and Ideals. - Cambridge: Cambridge University Press. Webelhuth, Gert (Hg.) (1995): Government and Binding Theory and the Minimalist Program. Principles and Parameters in Syntactic Theory. - Oxford: Blackwell.
Frank Jürgens
Ziele und Prinzipien einer pragmatischen Syntax
Die Ausweitung des Gegenstandes der Linguistik auf die Ebenen des Textes sowie des Diskurses, insbesondere aber das neu entdeckte bzw. wiederentdeckte Interesse an Phänomenen der Mündlichkeit führen zu der wachsenden Einsicht, daß die Variation dessen, was wirklich gesprochen und geschrieben wird und empirisch belegbar ist, nicht vorschnell marginalisiert und in den „Abfalleimer" mit dem Etikett Performanz geworfen werden sollte.1 Es erhebt sich allerdings die Frage, wie die entsprechenden Gegebenheiten theoretisch und methodologisch zu erfassen sind. Schlobinski erwartet, daß insbesondere „der Fokus auf die gesprochene Sprache die Perspektive zu einer radikalen Pragmatisierung der Syntaxschreibung"2 öflnen wird. Erste Schritte auf diesem Weg bestehen seit etwa Ende der 80er Jahre darin, zunächst das Feld zu sondieren und Anhaltspunkte für eine systematische Darstellung zu sammeln.3 Spätestens mit dem vorliegenden Sammelband scheint nun aber eine neue Qualität erreicht, denn hier wie bereits in Jürgens (1999)4 wird der Versuch unternommen, die Gegenstände von Syntax und Pragmatik in einer neuen Forschungsrichtung zusammenzuführen. Welches Verhältnis besteht aber nun zwischen der traditionell systemlinguistischen Disziplin Syntax auf der einen und der Pragmatik auf der anderen Seite? Diese Frage wird in der allgemeinen Theorie der Pragmatik nur mit größter Zurückhaltung behandelt. Levinson klammert z. B. das komplizierte Verhältnis zwischen Pragmatik und Syntax nahezu vollständig aus, räumt aber ein, daß zwischen der Organisation syntaktischer Elemente in einem Teilsatz einerseits und verschiedenartigen pragmatischen Beschränkungen andererseits klare Interaktionen bestehen. Zwei allgemeine Fragen stellen sich hier. Die erste ist, wie solche Interaktionen in Grammatikmodellen beschrieben werden sollen [...] Zweitens stellt sich die allgemeine Frage, ob diese beobachtbaren Interaktionen irgendeine systematische Grundlage haben: kann eine Pragmatiktheorie präzise voraussagen, genau welche pragmatischen Beschränkungen wahrscheinlich bei welchen Arten von syntaktischen Vorgängen vorkommen werden? Das wäre sicher eine vernünftige Erwartung,
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4
Vgl. Schlobinski (1997: 7) (Vorwort) Schlobinski (1997a: 11) Ich denke hier insbesondere an die verschiedenen Arbeiten (vgl. u.a. Rosengren 1988, Fries 1988 oder Motsch/Reis/Rosengren 1989), die in Lund im Rahmen des Forschungsprojektes „Sprache und Pragmatik" entstanden sind. Des weiteren seien hier exemplarisch genannt: Behr/Quintin (1996), Fiehler (1995), Lindgren (1987), Schlobinski (1992), Schreiber (1995), Werner (1994) sowie die Aufsätze des Sammelbandes zur Syntax des gesprochenen Deutsch, Schlobinski (1997). Vgl. Jürgens (1999)
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Frank Jürgens aber im Moment können wir nur eine offenbar heterogene Liste der verschiedenartigsten Beschränkungen aufstellen. Der gegenwärtige Mangel an interessanten Antworten auf all diese Fragen erklärt, warum sie in diesem Buch so obenhin behandelt werden.5
Ich werde im folgenden einige grundsätzliche Ansätze diskutieren, das Verhältnis der Pragmatik zur traditionell systemlinguistischen Kerndisziplin Syntax zu definieren.
1.
Zum Verhältnis zwischen Syntax und Pragmatik
In einem eher additiven Verfahren wird davon ausgegangen, daß es Zeichen, Zeichenvereinbarungen und Zeichensysteme, die Zeichen und Regeln zu ihrer Kombination enthalten, bereits gibt, daß sie nicht mehr verändert werden, sondern daß sie als fertige nur mehr, aufgrund näher zu untersuchender Regeln, verwendet werden. Das kommt einer Verdinglichung der Zeichensysteme gleich: die Zeichensysteme sind gegeben; die Sprecher verwenden sie post factum aufgrund anderer, nicht mehr die Konstitution der Zeichen betreffender Regeln.6 Eine solche Position, in der zwischen der Systemlinguistik auf der einen Seite und der Pragmatik auf der anderen Seite eine klare Trennlinie gezogen wird, findet sich u. a. bei Linke/Nussbaumer/Portmann: Die Systemlinguistik fragt: Welche elementaren sprachlichen Ausdrücke gibt es? Welche komplexen sprachlichen Ausdrücke sind möglich? Wie werden sie gebildet? Was bedeuten sie, abstrakt und ohne Bezug auf die Situation? Die Pragmatik fragt: Welche Eigenschaften der Situation sind dafür bestimmend, daß gewisse sprachliche Ausdrücke gewählt werden, andere nicht? Was bedeuten die sprachlichen Ausdrücke - nicht als linguistische Strukturen, sondern als Äußerungen in diesem Typ von Situation?7 Die Kritik an einem solchen additiven Verfahren zielt darauf, „daß die neuen Fragestellungen keinen Reflex auf die vorangegangene Systemlinguistik haben und daß eine Integration in eine übergeordnete Theorie nicht versucht wird"8. Deshalb stellen die Vertreter des Lunder Forschungsprogramms Sprache und Pragmatik
dem additiven Verfahren eine
modulare Auffassung entgegen. Auch hier wird zunächst und vor allem die Autonomie und Eigengesetzlichkeit der Module Grammatik und Pragmatik
betont.
Zugleich gibt es aber eine systematische Interdependenz zwischen ihnen, insofern einerseits die pragmatischen Funktionen mit Hilfe von grammatischen Strukturen realisiert, andererseits die grammatischen Strukturen nur als pragmatische Einheiten aktualisiert werden können. Pragmatik ohne Grammatik kann es also nicht geben. Die Grammatik ihrerseits muß kommunikativ ver5 6 7 8
Levinson (1994, XIII) Schlieben-Lange (1975: 12) Linke/Nussbaumer/Portmann (1996: 177) Schlieben-Lange ( 1975: 13)
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Ziele und Prinzipien einer pragmatischen Syntax
wendbar sein, d. h. die kommunikativen Erfordernisse erfüllen können. Untersuchung des Grammatik-Pragmatik-Verhältnisses heißt dann, die Gesetzmäßigkeiten dieser Interdependenz zu untersuchen [...] 9 Eine grundsätzliche Alternative zu einer autonomen Sicht auf die Pragmatik bietet Oller an. Er macht geltend, daß jede Theorie, die Sprache unabhängig von ihrem Gebrauch zu erklären versucht, zirkulär bleiben muß und daß also jede Betrachtung von Sprache als Kommunikationsmedium eine integrierte Theorie von Syntax und Pragmatik erfordert, nicht bloß ein additives Hinzufügen einer pragmatischen Komponente, denn selbst bei einfachen Sätzen (Der Junge schlägt gerade den Ball.) sei ein Bezugnehmen auf die Situation unverzichtbar: Unabhängig von der Weltkenntnis, über die der Sprecher/Hörer etwas mitteilt, existiert keine Sprachstruktur. Weder Bedeutung noch Syntax existieren in einem Vakuum, und beide zusammen existieren nicht unabhängig von Situationen.10 Eine solche Auffassung geht im Grunde zurück auf Bühler. Dessen pragmatische Ansätze sind, obgleich sie lange Zeit weitgehend unbeachtet blieben", bis heute
richtungweisend.
Deshalb seien einige besonders markante Positionen hier auszugsweise festgehalten: 12 Wenn der wortkarge Kaffeehausgast,einen schwarzen' sagt, so reproduziert er aus dem Inventar seiner sprachlichen Gedächtnisdispositionen einen nächstgelegenen Brocken und verhält sich dabei ungefähr so wie ein Praktiker, der einen Nagel einklopfen will und zum nächstbesten Gegenstand greift, der ihm gerade in die Hand kommt. Das braucht nicht ein echter Hammer, sondern kann auch ein Bergschuh, eine Beißzange oder ein Backstein sein [...] Der Satzbrocken ,einen schwarzen' war im Augenblick dispositionell bequem greifbar [...] Wird er ausgesprochen, dann bringt er für beide Gesprächspartner wie eine Aura um sich ein Satzschema mit; das ist wahr. Aber weiter ausgefüllt als durch das eine faktisch geäußerte Wort braucht dieses Satzschema nicht zu sein. Daß ein Kaffeehausgast die Absicht hat, etwas zu konsumieren, daß ein Mann, der sich an der Theaterkasse anstellt und vortritt an den geöffneten Schalter, wenn er an der Reihe ist, kaufen will und welche Warengattung, ist längst verstanden von seinem Partner (hinter dem Schalter); der Käufer braucht am mehrdeutigen Punkte [...] seines stummen sinnvollen Verhaltens ein Sprachzeichen nur als Diakritikon. Er setzt es ein, und die Mehrdeutigkeit ist behoben; das ist ein empraktischer Gebrauch von Sprachzeichen. Ich teile diese Auffassung. Den Vorteil einer integrativen Sicht auf Grammatik und Pragmatik sehe ich darin, daß somit auch die Form selbst in den Fokus gerückt und als prag-
9 10
'1 12
Motsch/Reis/Rosengren (1989: 2). Vgl. Auch Fries (1988: 2) Oller (1974: 132ff.) Das mag daran liegen, daß bei Bühler der Terminus Pragmatik nicht auftaucht, was nichts daran ändert, daß Bühler mit seinen Thesen vom empraktischen Sprachgebrauch als Vordenker einer Reihe von Fragen gelten kann, die heute unter der Flagge der Pragmalinguistik diskutiert werden. Bühler(I934: 157f.)
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Frank Jürgens
matisch determinierte Größe beschrieben werden kann.13 Allerdings hat ein solcher Ansatz weitreichende sprachtheoretische Konsequenzen, denn in diesem Verständnis wäre Pragmatik als eher ganzheitliche Theorie zu begreifen, „welche die systemlinguistischen Fragestellungen einschließt und sogar das Fundament für die systemlinguistischen Theorien liefert".14 Ich gehe davon aus, daß die strikte Trennung zwischen System und Verwendung der Sprache ohnehin nur auf einer theoretischen Abstraktion beruht. Eine pragmatische Syntax sollte es deshalb als ihre Aufgabe ansehen, die bisher als komplementär erscheinenden Teilbereiche der Sprachverwendung und des Sprachsystems zu integrieren, so daß sich der Blick für neue Zusammenhänge öffnen kann.15 Wie ich mir eine solche Integration vorstelle, mögen die folgenden Thesen verdeutlichen: Traditionell steht die Beschäftigung mit der parole mehr oder minder neben der sogenannten Systemlinguistik. Diese zwei Seiten der sprachwissenschaftlichen Forschung gehen zurück auf de Saussure, nach dessen Auffassung die rein gesellschaftliche und vom Individuum unabhängige Sprache (die langue) von der individuellen Seite zu trennen ist. Nach dem Modell von de Saussure liegt alles Regelhafte und Soziale allein in der langue, während es in der parole nichts Kollektives bzw. Soziales gibt. Die parole sei rein individuell und überdies nebensächlich und mehr oder weniger zufallig.16 In der Grammatiktheorie ist daher die Ansicht verbreitet, daß mit der Untersuchung des Sprachgebrauchs nur deformierende Performanzphänomene in die linguistische Forschung eingeschleppt werden. Eine sprachliche Ordnung außerhalb der Systemgrammatik wird quasi ausgeschlossen. So sieht z. B. Grewendorf mit Blick auf die gesprochene Sprache, daß der faktische Sprachgebrauch die strukturellen Gesetzmäßigkeiten einer Sprache nur in sehr unzureichendem Maße widerspiegelt, sei es, daß strukturell signifikante Daten nur selten vorkommen, sei es, daß Performanzphänomene die intentionalen Produkte natürlicher Sprecher in einer Weise deformieren, die die tatsächlichen strukturellen Regeln nur in einer sehr defekten Weise zum Ausdruck bringen.17
Die „strukturellen Gesetzmäßigkeiten einer Sprache" ungeprüft an den präskriptiven Normen des schriftsprachlichen Standards festzumachen bedeutet aber, daß die Möglichkeit „strukturell signifikanter Daten" außerhalb der kodifizierten Norm von vornherein
13
14 15 16 17
Vgl. noch einmal Bühler (1934: 361): „Man blickt auf die Form des [sprachlichen, F. J.] Produktes und erkennt aus der Verwendung, warum sein Schöpfer ihm diese und keine andere Form verliehen hat." Linke/Nussbaumer/Portmann ( 1996: 182) Vgl. Steger ( 1980: 349) sowie Dik ( 1992: 75) Vgl. Saussure (1967: 20ff.) Grewendorf (1993: 120)
Ziele und Prinzipien einer pragmatischen
Syntax
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ausgeschlossen wird. Dies scheint mir nach mehreren Jahrzehnten variationslinguistischer Forschung nicht haltbar. Deshalb muß es m. E. auch auf der syntaktischen Beschreibungsebene künftig darum gehen, Regelhaftigkeiten des Sprachgebrauchs herauszuarbeiten. Erst auf dieser Grundlage wird es möglich sein zu ermessen, ob und inwieweit der faktische Sprachgebrauch den strukturellen Gesetzmäßigkeiten einer Sprache entspricht. Eine mögliche Vermittlung zwischen System und Gebrauch der Sprache ist mit dem Begriff der Norm möglich. Die terminologische Unterscheidung zwischen System und Norm übernehme ich von Coseriu:18 System ist das, was aufgrund der Regeln einer Sprache möglich ist. Norm ist hingegen das, was tatsächlich realisiert wird und realisiert worden ist. Die Norm ist eine Einschränkung des Systems, weil gerade nicht alle Möglichkeiten des Systems realisiert werden.
Normen beruhen auf gesellschaftlichen Konventionen bzw. Festlegungen. Sie stellen überindividuell geltende Orientierungen mit mehr oder weniger großen Spielräumen für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten dar und steuern die Auswahl der Mittel, die entsprechend der Kommunikationssituation aus dem Sprachsystem abgerufen werden. Gegenstand von Systemgrammatiken mit ihren Regeln der Wohlgeformtheit sind die Normen der Standardsprache (bei Coseriu auch „exemplarische Sprache"19). Diese Normen stellen eine Abstraktion bzw. Idealisierung einer „üblichen" oder „normalen" Realisierung dar. Sie sind weitgehend habitualisiert und konventionalisiert und können daher als Grundlage für den breiten öffentlichen Sprachverkehr betrachtet werden. Die Auswahl der sprachlichen Mittel in einer beliebigen Textsorte/in einem beliebigen Diskurstyp wird zu einem bestimmten Anteil immer der Standardnorm entsprechen. Daneben können für die Norm der Textsorte/des Diskurstyps aber auch Abweichungen vom „Üblichen", von der Standardnorm, durchaus ganz charakteristisch sein. Dies ist überall dort möglich, wo das System eine Reihe von fakultativen Realisierungsvarianten zuläßt und gilt keineswegs nur für den Bereich der Mündlichkeit, sondern ausdrücklich auch für zahlreiche geschrieben realisierte Textsorten wie z. B. Anzeigentexte, Kochrezepte, Lexikoneinträge usw.20 Das läßt den Begriff der Standardnorm in einem kritischen Licht erscheinen, und zwar aus dreierlei Gründen:
18 19 20
Coseriu (1988: 52f.) Vgl. Coseriu (1988: 143) Vgl. hier vor allem die Arbeit von Behr/Quintin (1996) zu den „verblosen Sätzen", deren Vorkommen keineswegs auf die gesprochene Sprache (und dort auch nicht auf dialogische Formen) beschränkt ist: „Tatsächlich wird es jedem Leser leichtfallen, in Tagebucheintragungen, Wetterberichten, Werbetexten und Anzeigen, Artikelüberschriften [...] usw. unzählige Belege für solche Strukturen zu finden." (S. 15)
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1) Es wird niemand auf die Idee kommen, etwa Lexikoneinträgen wegen des Fehlens wohlgeformter Sätze21 ihre Standardsprachlichkeit abzusprechen. Insofern ist der Terminus Standardnorm irreführend. Es handelt sich vielmehr um die in Grammatiken kodifizierte Norm, die idealisiert und zur sogenannten Standardnorm erhoben wurde. 2) Es ist erkennbar, daß die standardsprachliche Norm keineswegs mit der schriftsprachlichen Norm gleichzusetzen ist, sondern lediglich mit der Norm bestimmter, nicht explizit genannter Textsorten. 3) Ich stimme mit Henn-Memmesheimer überein, daß die Auswahl der Muster, die als Standard gelten und infolgedessen Eingang in Standardgrammatiken finden, vom Standpunkt des Systems her betrachtet eher „zufallig" ist: Als zusammenfassende Bezeichnung der Menge der standardisierten Muster wird der Terminus Standardvarietät gewählt, um Standard zu kennzeichnen als eine - wie auch immer, unter welchen Einflüssen entstandene - Norm innerhalb des Systems [Markierungen F.J.] deutsche Sprache.22
Insofern wird immer nur ein Ausschnitt aus dem Sprachsystem dargestellt, weshalb auch die Bezeichnung Systemgrammatik im Grunde nicht korrekt ist. Voraussetzung für eine wirkliche Systemgrammatik wäre eine Analyse des Sprachgebrauchs, die auch unorthodoxe Phänomene nicht von vornherein als reine Performanzerscheinungen abtut.23 Quintin schlägt deshalb vor, solche Phänomene nicht mehr nur als halbwegs tolerierbare Extensionen eines strikt gefaßten Einheitsprinzips zu betrachten, „sondern als Ausdruck eines an sich offenen Systems, dessen Potential von den Sprechern meistens nur partiell ausgenutzt wird". 24 Deshalb ist es nachdrücklich zu unterstützen, wenn Coseriu eine radikale Änderung des linguistischen Untersuchungsansatzes vorschlägt, indem das Sprechen zum Maßstab für alle Manifestationen der Sprache gemacht wird: Das Sprechen ist nicht von der Sprache her zu erklären, sondern umgekehrt die Sprache nur vom Sprechen. Das deswegen, weil Sprache konkret nur Sprechen, Tätigkeit ist und weil das Sprechen weiter als die Sprache reicht [...] Daher muß unserer Meinung nach Saussures bekannte Forderung umgekehrt werden: statt auf den Boden der Sprache muß man sich von Anfang an auf 21 22 23
24
Vgl. unten (Beispiel 6) Henn-Memmesheimer (1986: 7) Vgl. die treffende Einschätzung von Schlobinski im Vorwort seines Sammelbandes zur „Syntax des gesprochenen Deutsch" (Schlobinski 1997): „Sich mit der Syntax der gesprochenen Sprache zu beschäftigen bedeutet für einige Syntaktiker das Stochern im .sprachlichen Müll', gelten ihnen doch nicht die sprachlichen Produkte als Gegenstand der Untersuchung, sondern vielmehr die ,internalisierte Sprache'. Die Variation dessen, was wirklich gesprochen oder geschrieben wird und empirisch belegbar ist, wird vorschnell marginalisiert oder in den .Abfalleimer' mit dem Etikett ,Performanz' geworfen. Hierbei werden Befunde, die der (welcher?) Norm widersprechen oder in das Syntaxmodell nicht passen, nicht selten als Performanzfehler aussortiert." Quintin (1993: 94)
Ziele und Prinzipien einer pragmatischen Syntax
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den des Sprechens stellen und dieses zur Norm aller anderen sprachlichen Dinge nehmen (einschließlich der Sprache).25
Ausgangspunkt aller Überlegungen sollten also die Normen des realen Sprachgebrauchs sein, wie sie z. B. in Textsorten/Diskurstypen gegeben sind. Die Norm einer Textsorte/ eines Diskurstyps zeichnet sich dadurch aus, daß von den Möglichkeiten des Sprachsystems regelhaft auf eine ganz spezifische Weise Gebrauch gemacht wird. Damit ist sprachliche Variation über verschiedene Normen zu erklären, und es läßt sich begreifen, daß es neben den kodifizierten Nonnen der Standardsprache weitere, habitualisierte Normen gibt, die aber nicht Eingang in sogenannte Systemgrammatiken gefunden haben. In einer solchen weiten Systembeschreibung, wie sie auch von Henn-Memmesheimer angestrebt wird, erscheinen standardisierte und als Nonstandard geltende usuelle Muster gleichermaßen als Auswahl aus den vom System eröffneten Möglichkeiten. Nonstandard ist also primär nicht gekennzeichnet durch Regellosigkeit', .Fehler', sondern durch Regeln, die keinen Eingang in Standardgrammatiken fanden.26
2.
Regelhaftigkeiten und Normen des Sprachgebrauchs
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen formuliere ich ein in meinem Verständnis grundlegendes Prinzip einer pragmatischen Syntax: Sie erhebt die in Texten und Diskursen regelhaft verwendeten sprachlichen Strukturen zu ihrem Gegenstand und beschreibt diese Strukturen mit Blick auf die kommunikativen Gegebenheiten der Äußerung. Ziel einer pragmatischen Syntax ist es, die Regelhaftigkeiten und Normen des Sprachgebrauchs zu ermitteln und nachzuweisen, daß es eine sprachliche Ordnung außerhalb der sogenannten Systemgrammatik gibt. Dies kann nur auf empirische Weise geschehen. Grundsätzliche methodische Voraussetzung einer pragmatischen Syntax ist deshalb ein klares Bekenntnis zur Empirie, die von Seiten der Grammatiktheorie so gern als „Linguistik nach Jäger- und Sammler-Art" abqualifiziert wird. 7 Der Stellenwert der Empirie ist schon deshalb so hoch zu bewerten, weil eine pragmatische Syntax ihre Kategorien nicht einfach setzen und die in den Texten und Diskursen beobachtbaren Gegebenheiten in diese Kategorien hineinzwängen sollte. Vielmehr muß sie sich bemühen, die charakteristischen Phänomene am gegebenen Ma-
25 26 27
Coseriu (1988: 58) Henn-Memmesheimer (1986: 341) Vgl. u.a. Grewendorf (1993)
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terial zu ergründen, um ein Kategoriensystem darauf aufzubauen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die gesprochene Sprache. Ich werde im folgenden versuchen, die Problematik an einigen ausgewählten Beispielen herauszuarbeiten und die Ziele und Prinzipien einer pragmatischen Syntax aus der Analyse dieser Beispiele abzuleiten:28 Beispiel 1 (Live-Reportage zu einem Fußballspiel im Fernsehen):29 Ottmar Hitzfeld (3.5) und rechts neben ihm co-trainer Michael Henke er hat (--) Henke (—) Juventus (.) bei den ersten beiden punktspielen in Italien (-) sowohl zu hause gegen Cremonese (.) als auch dann (-) am sonntag gegen Piacenza beobachtet30 Beispiel 2 (Live-Reportage zu einem Fußballspiel im Fernsehen): ... und Häßler; (6.0)
Minotti, (6.5) und Freund bisher ganz sicher gegen Zola (5.5) Pagliuca außerhalb des 16-meter-raums (8.0)
Casiraghi (1.5) und Babbel (2.0)
und Zola; 28
29 30
Die Beispielsammlung enthält sowohl mündlich als auch schriftlich realisierte Texte. Im Bereich der Mündlichkeit habe ich mich auf monologische Formen beschränkt, weil die Gegebenheiten eines Gesprächs noch weitreichendere Konsequenzen für die syntaktische Beschreibung haben. Diese können in dem vorliegenden Aufsatz aus Kapazitätsgründen nicht geklärt werden, sind aber selbstverständlich für eine pragmatische Syntax relevant. Die Konzentration auf die Sportreportagen ist bedingt durch den entsprechenden Gegenstand meiner Habilitationsschrift (vgl. Jürgens 1999) und die damit verbundene gute Datenlage. Quelle: Reportage von Werner Hansch (SAT. 1) zum Bundesliga-Spiel Borussia Dortmund - FC Bayern München (1. Oktober 1995). Der Transkription liegt das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (GAT) zugrunde (vgl. Selting/Auer/Barden/Bergmann/Couper-Kuhlen/Günthner/Meier/QuasthoflB'Schlobinski/Uhmann 1998). Folgende Zeichen bedürfen einer Erklärung: (.) Mikropause (-). (—)> (—)kurze, mittlere und längere Pause von ca. 0.25 - 0.75 Sekunden Dauer (1.0) geschätzte Pause in Sekunden; ab Pausendauer von ca. 1 Sekunde 4- auffälliger Tonhöhensprung nach unten «all> >allegro, schnell (mit Angabe der Reichweite) , mittel steigende Tonhöhenbewegung am Einheitenende - gleichbleibende Tonhöhenbewegung am Einheitenende ; mittel fallende Tonhöhenbewegung am Einheitenende
Ziele und Prinzipien einer pragmatischen Syntax
61
(-) und Berti Beispiel 3 (Live-Reportage zu einem Fußballspiel im Fernsehen):31 Stefan Kuntz; (1.5) hätten wir ihm doch alle gegönnt (-) kurz vor'm abschied (-) in die Türkei Beispiel 4 (Live-Reportage zu einem Fußballspiel im Hörfunk):32 aber jetzt (.) wie gesagt die Düsseldorfer (-) wieder stärker im bilde (-) 4- mit Wolfgang Seel dem linksaußen « a l l > diesmal auf der rechten seite vorbei an Neuberger (•) 4- im 16-meter-raum> Beispiel 5 (Live-Reportage zu einem Fußballspiel im Hörfunk):33 Italien (.) über links; (•) ball am strafraumrand; (•) weggeköpft von Babbel (.) der zum fünften mal hintereinander (.) berufen wurde (.) der lange Vorstopper (.) vom FC Bayern München; (•) noch einmal Italien (.) über die rechte seite mit Benarrivo ; (•) Benarrivo der beste mann (.) der Schützling von Arrigo Sacchi in Lausanne heute (.) bisher noch nicht so auffällig; (•) Nicola Berti; (•) Nicola Berti zu Albertini Beispiel 6 (Lexikoneintrag):34 Loest, Erich, Schriftsteller, »24.2.1916 Mittweida (Sachsen); Kritik am ,Realsozialismus' der DDR, 1957 verhaftet; Gefängniserfahrung verarbeitet in dem Roman .Schattenboxen' (73); 81 in die BR Dtld., 31 32
33
34
Quelle der Beispiele 2 und 3: Reportage von Gerd Rubenbauer (ARD) zum Länderspiel Deutschland - Italien (21. Juni 1995, Zürich). Quelle: Reportage von Heribert Faßbender (ARD) zum Bundesligaspiel Fortuna Düsseldorf Eintracht Frankfurt (29. Oktober 1977). Quelle: Reportage von Jochen Sprentzel (ARD) zum Länderspiel Deutschland - Italien (21. Juni 1995, Zürich). Quelle: Der Knaur. Universallexikon. Band 9. München (1991 [21993]: 3102).
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seit Herbst 1990 auch in Leipzig. WW: Durch die Erde ein Riß (1981); Völkerschlachtdenkmal (84); Fallhöhe (89); Der Zorn des Schafes (90). Beispiel 7 (Kochrezept):35 Biskuitplätzchen Eigelb, Zucker, Salz und geriebene Zitronenschale mit dem Schneeschläger schaumig rühren, bis die Masse kremartig wird. Den steifen Eischnee auf die Eigelbmasse geben, das Mehl darüberstehen und alles untereinanderheben. Das gefettete Backblech mit Mehl bestäuben. Mit 2 Teelöffeln die Masse bei mindestens 3 cm Abstand auf das Blech geben und die Plätzchen goldgelb backen. Beispiel 8 (Kinderbuch):36 Der kleine Bär nahm noch seinen schwarzen Hut, und dann gingen sie los. Dem Wegweiser nach. Am Fluß entlang in die eine Richtung ... He, kleiner Bär und kleiner Tiger! Seht ihr nicht die Flaschenpost auf dem Fluß? Auf dem Zettel könnte eine geheime Botschaft über einen Seeräuberschatz stehen ... zu spät. Ist schon vorbeigeschwommen.
Wie soll, wie kann man solche Äußerungen nun syntaktisch beschreiben, denn es ist offenkundig, daß herkömmliche syntaktische Kategorien für die Analyse nicht oder nur bedingt greifen. Es bedarf eines neuartigen Beschreibungsinstrumentariums, mit dessen Hilfe syntaktische Einheiten segmentiert und kategorisiert werden können.37
3.
Die Kategorien einer pragmatischen Syntax
Insbesondere gilt es, sich vom Satz als der zentralen syntaktischen Kategorie zu lösen, denn dieser für unsere Wissenschaft so zentrale und intuitiv scheinbar völlig klare Begriff ist nicht eindeutig als syntaktischer Terminus definiert. Die unterschiedlichen Begriffsbe-
35 36
37
Quelle: Wir kochen gut. Leipzig ( 1988: 193). Quelle: Janosch: Oh wie schön ist Panama. In: Janosch: Das große Panama-Album. 3. Aufl. Weinheim/Basel (1987: 19f.). Vgl. dazu ausführlicher Jürgens ( 1998).
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Stimmungen in der Fachliteratur erfassen den Satz auch als inhaltliche, funktionale, kommunikative, psychische sowie als intonatorische oder graphische Einheit. Als Alternative biete ich den Begriff der syntaktischen Basiseinheit an - einen Terminus, der den Anforderungen einer pragmatischen Syntax m. E. besser entspricht als der Satzbegriff. Syntaktische Basiseinheiten sind mit formal-syntaktischen Mitteln (Prosodie [für die gesprochene Sprache] und Interpunktion [für die geschriebene Sprache] sowie morphologische Markierung und Serialisierung) abgrenzbare Konstruktionen, die in der Redekette relativ selbständig auftreten und die damit in Opposition zu den von mir so genannten syntaktisch sekundären/eingebetteten Einheiten wie Nebensätzen (bis die Masse kremartig wird - Beispiel 7) oder eingebetteten Wortgruppen (der kleine Bär - Beispiel 8) stehen. Eine syntaktische Segmentierung gesprochener Äußerungen in solche Basiseinheiten38 ist nicht unkompliziert, weil die Prosodie die syntaktische Gliederung bei weitem nicht so klar markiert, wie das die Interpunktion für das Geschriebene leistet. Für die Analyse hat das die Konsequenz, daß man die verschiedenen genannten formal-syntaktischen Kriterien in ihrem Zusammenspiel berücksichtigen muß. So ist die im Beispiel 1 gegebene Segmentierung folgendermaßen zu begründen: Daß Ottmar Hitzfeld trotz weiterführender Intonation eine eigenständige syntaktische Basiseinheit ist, wird durch die 3,5 Sekunden lange Pause hinreichend markiert. Auch die koordinierende Konjunktion und zeigt an, daß die darauffolgende Einheit (rechts neben ihm co-trainer Michael Henke) syntaktisch selbständig ist. Auch diese Einheit schließt der Reporter mit einer weiterführenden Intonation ab, die nachfolgende Einheit wird ohne Pause angeschlossen. Daß dennoch eine Segmentgrenze vorliegt, kann nur durch die morphologisch-syntaktische Form (syntaktischer Neuansatz mit einem Nominativ und einem zugeordneten Finitum [er hat...]) begründet werden. Die Anwendung der einzelnen formal-syntaktischen Mittel führt also im konkreten Einzelfall zu Widersprüchen, weil die Prosodie und die morphologische Markierung einander nicht in jedem Falle entsprechen. Daß dies auch für das Verhältnis zwischen der Interpunktion und der morphologischen Markierung in geschriebenen Texten gilt, verdeutlicht das Beispiel 8, für das schließlich auch die folgende Interpunktion denkbar wäre: Der kleine Bär nahm noch seinen schwarzen Hut, und dann gingen sie los, dem Wegweiser nach, am Fluß entlang in die eine Richtung ... He, kleiner Bär und kleiner Tiger, seht ihr nicht die Flaschenpost auf dem Fluß?
Für die Segmentierung ist es zunächst vollkommen unerheblich, in welcher internen Struktur die syntaktischen Basiseinheiten auftreten. Deshalb muß es in einem nächsten 38
Die syntaktischen Basiseinheiten sind in den ausgewählten Texten bzw. Transkripten jeweils durch einen Zeilensprung voneinander abgegrenzt.
64
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Schritt darum gehen, die einmal identifizierten Einheiten syntaktisch zu kategorisieren. Dabei ist allerdings zu beachten, daß eine adäquate Beschreibung und tragfähige Theorie zur Analyse syntaktischer Formate von Äußerungsstrukturen möglichst mit klassischen Syntaxanalysen von Sätzen kompatibel sein sollte.39 Deshalb schlage ich vor, die Kategorisierung syntaktischer Basiseinheiten an einer anerkannten theoretischen Konzeption, der Dependenzgrammatik, zu orientieren. Somit wird es möglich, bisher nicht beschriebene Muster nach derselben Methode zu beschreiben wie standardisierte Muster, denn Dependenzen lassen sich in allen Syntagmen ausmachen: Die Kategorisierung erfolgt auf der Grundlage des für die jeweilige syntaktische Basiseinheit anzunehmenden Zentralregens, woraus folgende syntaktische Formen resultieren: An erster Stelle ist der Satz zu nennen, den ich als die zentrale syntaktische Kategorie verworfen hatte und der hier wieder eingeführt werden kann - und zwar als eine mögliche Ausdrucksform, die neben anderen Formen zur Verfugung steht, um eine Äußerung zu tätigen. Der Satz wird rein syntaktisch definiert als relativ selbständige grammatischstrukturelle Einheit, die sich durch eine wohlgeformte Struktur mit einem finiten Verb und einem zugeordneten Nominativ auszeichnet. Zentralregens des Satzes ist das Verb. Auf dem Zettel könnte eine geheime Botschaft über einen Seeräuberschatz stehen. - Beispiel 8
Alle anderen Formen syntaktischer Basiseinheiten sind kompakter als der Satz. Ich orientiere mich bei deren Klassifikation aber in Abgrenzimg zum Ellipsenkonzept nicht an dem, was der jeweiligen Konstruktion fehlt, um einem wohlgeformten Satz zu entsprechen. Vielmehr gehe ich vom konkret gegebenen sprachlichen Material aus und gelange somit zu folgender, durchaus für Erweiterungen offenen Liste von Formkategorien:
-
-
39
Nominalkonstruktionen (Zentralregens ist ein Substantiv) [Kritik am .Realsozialismus' der DDR - Beispiel 6], Präpositionalkonstruktionen (Zentralregens ist eine Präposition) [im 16-meter-raum - Beispiel 4], Verbalkonstruktionen mit Finitum (Zentralregens ist ein finites Verb. Im Unterschied zum Satz ist die dort obligatorische Nominativergänzung in der Verbalkonstruktion nicht realisiert.) [Ist schon vorbeigeschwommen. - Beispiel 8], Infinitivkonstruktionen (Zentralregens ist ein Infinitiv) [Das gefettete Backblech mit Mehl bestäuben. - Beispiel 7], Partizipialkonstruktionen (Zentralregens ist ein Partizip) [1957 verhaftet - Beispiel 6],
Vgl. Busler/Schlobinski ( 1997: 113)
Ziele und Prinzipien einer pragmatischen Syntax
-
65
Konstruktionen ohne Zentralregens (Hierbei handelt es sich um kompakte Strukturen, in denen Ergänzungen bzw. Angaben zu einem implizit gegebenen, sprachlich aber nicht realisierten semantischen Prädikat direkt zueinander in Relation stehen, ohne daß diese Relation durch ein regierendes Element vermittelt wird.) [Pagliuca außerhalb des 16meter-raums - Beispiel 2] und eingliedrige Einheiten (Die gesamte Struktur besteht nur aus einem isolierten Element, das sprachlich nicht zu einem anderen Element in Relation gesetzt wird.) [Casiraghi - Beispiel 2].
Diese Kategorien scheinen geeignet, Regularitäten des Sprachgebrauchs zu erfassen. Darüber hinaus ermöglichen sie es, die Gegebenheiten der gesprochenen Sprache auf angemessene Weise zu berücksichtigen und syntaktische Strukturen unabhängig von ihrer medialen Verfaßtheit zu analysieren, was in der nachfolgenden Analyse der ausgewählten Beispiele deutlich werden sollte.
4.
Der Zusammenhang zwischen den kommunikativen Gegebenheiten und der syntaktischen Form der Äußerung. Konsequenzen für eine pragmatische Syntax
4.1
Zur Notwendigkeit offener Formkategorien
Das Beispiel 4 reflektiert ein Phänomen, das sich in Live-Sportreportagen (in Hörfunk und Fernsehen) regelmäßig nachweisen läßt:40 Die Situation der Live-Schilderung ist dadurch gekennzeichnet, daß der Sprecher seine Aussage weder inhaltlich noch formal vorausplanen kann. Das fuhrt dazu, daß Aussagegehalte häufig in einheitenübergreifender Form, also über die Grenzen syntaktischer Basiseinheiten hinweg, konstituiert werden. Das Aufeinander-Beziehen der syntaktischen Basiseinheiten erfolgt spontan, ist sprecherseitig keineswegs geplant. Vielmehr ist dafür der Situationskontext grundlegend, was auch ganz besondere Formaspekte nach sich zieht. Der Reporter spricht die Konstruktion ohne Zentralregens aber jetzt (.) wie gesagt die Düsseldorfer (-) wieder stärker im bilde - (-)
40
Vgl. Jürgens (1999), Kapitel 3.3.1.3. und 3.4.
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mit einer weiterführenden Intonation, weil er abwarten will, was die nächste Aktion bringt. Im Moment der Äußerung startet Düsseldorf - wie zur Bestätigung der gerade gegebenen Einschätzung - einen neuen Angriff. Der Reporter kann gleich zwei Elemente der eben geäußerten Konstruktion für die nächstfolgende mitnutzen: aber jetzt ((...)) die Düsseldorfer ((...)) mit Wolfgang Seel
Der Name des nun agierenden Spielers (Wolfgang Seel) steht in der Präpositionalphrase zwar im Dativ. Weil dieser Name aber kein Kasusmorphem enthält, sich formal nicht vom Nominativ unterscheidet, kann der Sprecher in den folgenden syntaktischen Basiseinheiten ((...)) Wolfgang Seel ((...)) diesmal auf der rechten seite vorbei an Neuberger - (.) i im 16-meter-raum>
ohne weiteres darauf verzichten, den Spieler im Nominativ noch einmal aufzunehmen. Er behandelt die zunächst als Dativ eingeführte Phrase in den Folgekonstruktionen ganz selbstverständlich wie einen Nominativ. Es kommt zu einem syntaktischen Umfunktionieren, denn ein syntaktisches Glied (Wolfgang Seel) realisiert zugleich zwei verschiedene syntaktische Funktionen. Ähnliche Erscheinungen veranlassen Ägel,4' grundsätzlich offene Kategorien und dynamische Paradigmen zu konstituieren: Es ist die dynamische Paradigmenbildung, die nach meiner Erfahrung auch von den Sprachteilhabern selbst praktiziert wird: Eine Nachtklingel rief einen verkrüppelten Portier herbei, der uns einließ und die Zimmerschlüssel gab. (Christoph Hein: Der fremde Freund) Diese Stelle des Romans zeigt, daß uns - zumindest für Ch. Hein - ein Akkdat. (!!!) [Markierung und Ausrufezeichen F.J.] ist, der nicht einmal durch die Valenzen von einließ und gab zur zweimaligen - und somit ,disambiguierten' - Setzung .gezwungen' werden kann. (Koordinationsellipsen dieser Art sind laut Duden streng verboten.)
Als Konsequenz aus diesen Befunden ergibt sich folgende Forderung: Die Kategorien einer pragmatischen Syntax sollten so offen und flexibel sein, daß sie dem Funktionieren und der Dynamik des konkreten Sprechens gerecht werden können. 4.2
Zur Rolle des Kontextes
Das Beispiel 2 verdeutlicht eine extreme Reduktion der sprachlichen Form, wie sie in Sportreportagen des Fernsehens durchaus typisch ist. Die Möglichkeit dazu ergibt sich aus der Präsenz des Mediums Bild, das als primäre Informationsquelle für den Fernsehzuschauer gelten kann. Der Sprecher beschränkt sich in seiner Reportage weitgehend darauf,
41
Ich beziehe mich hier auf ein internes Arbeitspapier von Ägel, vorgelegt auf einer Tagung an der Universität Greifswald vom 25.-27.9.1997 zum Thema „Grammatik und Empirie".
Ziele und Prinzipien einer pragmatischen Syntax
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mit eingliedrigen Einheiten auf den durch das Fernsehbild jeweils fokussierten Spieler zu referieren. Über diese Einheiten muß nichts ausgesagt werden, sie müssen nicht in Relation zu anderen Sprachzeichen gebracht werden, weil der Fernsehzuschauer sich alle notwendigen Informationen über das Bild erschließen kann. Auch bei der Analyse des Beispiels 3 ist die Rolle des Fernsehbildes zu bedenken: Es zeigt in Großaufnahme den Spieler Stefan Kuntz, worauf der Reporter mit einer eingliedrigen Einheit zu dessen Identifizierung reagiert. Der nachfolgende Satz bezieht sich auf eine unmittelbar vorausgegangene Spielsituation, in der Stefan Kuntz eine große Torchance ausgelassen, also kein Tor erzielt hat. Diese Aktion ist Gegenstand (Thema) der Satzäußerung. Der Sprecher kann aber darauf verzichten, diesen Gegenstand zu benennen, denn der Fernsehzuschauer ist über das Bild hinreichend gesteuert. Der Reporter läßt also das Vorfeld, das für ein entsprechendes thematisches Element prädestiniert wäre, unbesetzt und beginnt mit dem Finitum hätten. Aus solcherart Beobachtungen ergibt sich folgende für eine pragmatische Syntax sehr grundsätzliche Konsequenz: Es ist davon auszugehen, daß Sprachzeichen nur in dem Maße durch formale Mittel explizit aufeinander bezogen werden, wie es für die Kommunikation erforderlich ist. Zentrale Forderung an eine pragmatische Syntax muß es daher sein, Fragen des (sprachlichen und außersprachlichen) Kontextes ganz maßgeblich zu berücksichtigen, denn Kontextgegebenheit ist eine entscheidende Voraussetzung für die Reduktion der sprachlichen Form.42 4.3
Kognitive Grundlagen der Textproduktion und -rezeption
Grundsätzlich anders als im Medium Fernsehen stellen sich die kommunikativen Bedingungen in der Hörfunkreportage (vgl. die Beispiele 4 und 5) dar, wo der Reportagetext für den Hörer die einzige Informationsquelle ist. Dennoch kommt es auch hier zu einer z. T. extremen Reduktion der sprachlichen Form. Kompakte Strukturen in der Hörfunkreportage sind vor allem durch den Zwang zu einer äußerst ökonomischen Ausdrucksweise bedingt. Dabei kann die Kommunikation nur reibungslos funktionieren, wenn Sprecher und Hörer auf ein gemeinsames Wissenspotential zum thematisierten Ereignis Fußballspiel verfügen. Es ist davon auszugehen, daß im Hintergrund spezifische kognitive Muster (Schemata; Geschehenstypen) ständig präsent gehalten werden. Der Sprecher kann auf diese Muster im Text anspielen, und der Hörer kann unter deren Zuhilfenahme die Bedeutung der Äußerung erst erschließen. Die in der Äußerung realisierten Sprachzeichen sind Anhalts- und Markierungspunkte, 42
Vgl. Busler/Schlobinski (1997: 103): „Generell gilt, daß je mehr Kontextwissen vorausgesetzt ist, desto weniger an Strukturierung notwendig ist."
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Frank Jürgens die es einem Rezipienten erlauben, unter Bezugnahme auf sein gesamtes, für das Verstehen dieser kommunikativen Äußerung relevantes Wissen die Bedeutung dieser Äußerung zu (re-) konstruieren.43
In welchem Maße kognitive Muster die Kommunikation steuern, wird deutlich, wenn man sich die entsprechenden Formen aus Beispiel 5 Italien (.) über links Nicola Berti zu Albertini
einmal in einer vollkommen kontextfreien Verwendung vorstellt. Daraus folgt, daß eine pragmatische Syntax die kognitiven Grundlagen der Textproduktion und -rezeption maßgeblich zu berücksichtigen hat. 4.4
Syntaktische Besonderheiten geschriebener Texte und deren kommunikativer Hintergrund
Ich will abschließend an den Beispielen 6 bis 8 verdeutlichen, daß Abweichungen von den in den sogenannten Systemgrammatiken kodifizierten Normen durchaus auch für bestimmte geschrieben realisierte Textsorten charakteristisch sind und daß auch diese Phänomene mit den kommunikativen Gegebenheiten der Texte/Textsorten erklärt werden können. -
-
43
Von einem guten Lexikon (vgl. Beispiel 6) erwartet der Nutzer, sich dort zu jedem relevanten Stichwort informieren zu können. Damit sind die Autoren gezwungen, ein Höchstmaß an Informationen auf relativ begrenztem Raum unterzubringen, so daß für die Textsorte eine extreme Verdichtung konstitutiv ist. Kompakte, nichtsatzförmige syntaktische Basiseinheiten dominieren deshalb eindeutig. Kochrezepte (vgl. Beispiel 7) gehören, was ihre funktionale Charakteristik anbelangt, zu den handlungsanweisenden Texten. Für diesen Funktionstyp ist eine agensabgewandte Darstellung charakteristisch, wozu verschiedene syntaktische Mittel beitragen können, z. B. Passiv- (Das gefettete Backblech wird mit Mehl bestäubt.) oder Imperativsätze (Bestäuben Sie das gefettete Backblech mit Mehl!). Möglich und überaus gebräuchlich ist darüber hinaus aber eben auch eine unpersönliche Ausdrucksweise mit Hilfe von Infinitivkonstruktionen wie in Beispiel 7 (Das gefettete Backblech mit Mehl bestäuben.). Das Kinderbuch „Oh wie schön ist Panama" (vgl. Beispiel 8) richtet sich vor allem an Kinder im Vorschulalter. Die Geschichten werden also häufig vorgele-
Busse (1997: 23)
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sen. Der Autor berücksichtigt diese Rezeptionsbedingungen. Er imitiert Mündlichkeit, zwingt die Vorlesenden mit der oben besprochenen Interpunktion Der kleine Bär nahm noch seinen schwarzen Hut, und dann gingen sie los. Dem Wegweiser nach. Am Fluß entlang in die eine Richtung ...
zu einer adäquaten Prosodie und verhilft seinen kleinen Textrezipienten mit den kompakten und überschaubaren syntaktischen Formen zu einem wirklichen Hörerlebnis. Dieser medial schriftlich realisierte Text ist konzeptionell offenbar eher mündlich als schriftlich. Ich beziehe mich mit dieser Aussage auf den Begriff der konzeptionellen Mündlichkeit/Schriftlichkeit, wie er u. a. bei Koch/Oesterreicher nachgelesen werden kann.44
5.
Zusammenfassung
Abschließend seien an dieser Stelle noch einmal die Ziele und Prinzipien einer pragmatischen Syntax aufgelistet, wie sie sich m. E. aus den dargestellten Überlegungen ergeben: 1. Eine pragmatische Syntax erhebt die in Texten und Diskursen regelhaft verwendeten sprachlichen Strukturen zu ihrem Gegenstand und beschreibt diese Strukturen mit Blick auf die kommunikativen Gegebenheiten der Äußerung. Dabei gilt es, den Zusammenhang der verschiedenen innersprachlichen und außersprachlichen Faktoren ins Blickfeld zu rücken.45 2. Eine pragmatische Syntax beschreibt die sprachliche Struktur mit Blick auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Äußerung. Sie bezieht die pragmatische Dimension bereits bei der strukturellen Analyse ein und geht davon aus, daß jede Theorie, die Sprache unabhängig von ihrem Gebrauch zu erklären versucht, zirkulär bleiben muß. Deshalb genügt es nicht, der Strukturanalyse eine pragmatische Komponente lediglich additiv hinzuzufügen. Eine pragmatische Syntax muß sich vielmehr dafür interessieren, wie eine
45
„Beim Medium sind die Begriffe .mündlich/schriftlich' dichotomisch zu verstehen (unbeschadet der Tatsache, daß jederzeit ein Medienwechsel, sei es beim Vorlesen, sei es beim Diktieren, stattfinden kann). Bei der Konzeption bezeichnen die Begriffe ,mündlich/schriftlich' demgegenüber die Endpunkte eines Kontinuums [...] Der wissenschaftliche Vortrag ist also beispielsweise trotz seiner Realisierung im phonischen Medium konzeptionell .schriftlich', während der Privatbrief trotz seiner Realisierung im graphischen Medium konzeptioneller .Mündlichkeit' nähersteht." (Koch/Oesterreicher 1994: 587) Vgl. Schlobinski (1992: 122)
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Frank Jürgens
bestimmte Form unter den Bedingungen der jeweiligen kommunikativen Situation entsteht. 3. Ziel einer pragmatischen Syntax ist es, die Regelhaftigkeiten und Normen des Sprachgebrauchs zu ermitteln und nachzuweisen, daß es eine sprachliche Ordnung außerhalb der Systemgrammatik gibt. Daß dabei die gesprochene Sprache interessanter und ergiebiger erscheint als die geschriebene Sprache, liegt auf der Hand. Allerdings gibt es auch im Geschriebenen Regelhaftigkeiten, die mit einem herkömmlichen Zugang nicht erfaßt werden können. Deshalb sollte eine pragmatische Syntax ihren Gegenstand keinesfalls auf die gesprochene Sprache beschränken.46 4. Eine pragmatische Syntax sollte ihre Kategorien nicht einfach setzen und die in Texten/Diskursen verwendeten Strukturen in diese Kategorien hineinzwängen. Vielmehr muß sie die charakteristischen Phänomene des Sprachgebrauchs am gegebenen Material auf empirischem Wege ergründen, um ein Kategoriensystem darauf aufzubauen. 5. Eine pragmatische Syntax geht von der Annahme aus, daß Sprachzeichen nur in dem Maße zueinander in Relation gebracht werden, wie es für die Kommunikation erforderlich ist. Zentrale Forderung an eine pragmatische Syntax ist es, den (sprachlichen und außersprachlichen) Kontext ganz grundsätzlich einzubeziehen, denn Kontextgegebenheit ist eine entscheidende Voraussetzung für die Reduktion der sprachlichen Form. 6. Ein entscheidender Faktor ist dabei das Alltagswissen, das in bezug auf die jeweilige kommunikative Situation zu aktualisieren ist. Das Alltags- bzw. Weltwissen ist ein so wichtiges Fundament für die sprachliche Kommunikation, weil „das sprachliche Umsetzen von Äußerungsabsichten immer nur als ein teilweises Ausdrücken von Sachverhalten geschieht, in dem die Relation zwischen Ausgedrücktem und (als Teil des gemeinsamen Wissens vorausgesetztem) Unausgedrücktem Rückschlüsse auf die kommunikative Intention des Textproduzenten erlaubt".47 Eine pragmatische Syntax sollte deshalb auch die kognitiven Grundlagen der Textproduktion und -rezeption maßgeblich berücksichtigen.
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46 47
Vgl. die Ergebnisse von Behr/Quintin (1996) sowie von Henn-Memmesheimer (1986). Busse (1992: 79)
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Frank Liedtke
Informationsstruktur, Text und Diskurs Pragmatische Syntax ist eine Forschungsstrategie, die die Prinzipien des Gebrauchs von Sätzen im mündlichen oder schriftlichen Realisierungsmodus zum Gegenstand hat. Sie geht von der Annahme aus, dass Sprachbenutzer bestimmte Entscheidungen hinsichtlich der Wahl einer spezifischen Äußerungsform treffen, wobei diese Entscheidungen das Ergebnis ihrer Äußerungsintention sowie ihrer Annahmen darüber sind, über welches Situations- und Textwissen die Adressaten jeweils verfügen. Sie wählen dann diejenigen Mittel ihrer Sprache aus, die die aktuelle Äußerungsintention am ehesten zum Ausdruck bringen und die ihre Annahmen über das adressatenseitige Vorwissen am ehesten berücksichtigen. Zu den Mitteln, mit denen Sprachbenutzer ihre Äußerungsintentionen zum Ausdruck bringen, zählen die Indikatoren der illokutionären Rolle des vollzogenen Sprechakts. Zu den Mitteln, mit denen Sprachbenutzer ihre Annahmen über adressatenseitiges Vorwissen in die Form ihrer Äußerungen einfließen lassen, zählen die spezifische Position der Satzglieder, die Intonation im Satz, die Definitheit/Indefinitheit der verwendeten referierenden Ausdrücke, eventuelle (Fokus-) Partikeln - also diejenigen Sprachmittel, die zusammengenommen eine bestimmte Informationsstruktur der vollzogenen Äußerung konstituieren. Im folgenden Beitrag soll dieser zweite Aspekt der Äußerungsstruktur näher untersucht werden, und dies vor allem deshalb, weil hier in viel stärkerem Maße als unter dem ersten Aspekt syntaktische Eigenschaften eine zentrale Rolle spielen. Die Informationsstruktur von Äußerungen ist somit ein zentrales Anwendungsfeld einer pragmatischen Syntax, weil hier gezeigt werden kann, dass Eigenschaften des Sprachvollzugs in Gestalt von sprecherseitigen Überlegungen zum adressatenseitigen Vorwissen unmittelbar Einfluss auf die resultierende syntaktische Form der Satzäußerung haben. Der vorliegende Beitrag ist zum Teil wissenschaftsgeschichtlich aufgebaut, weil viele deijenigen Ansätze, die schon Ende des 19. Jahrhunderts formuliert wurden, entweder in ihrer Radikalität verkannt oder im Laufe der Zeit ignoriert worden sind. Dies gilt ebenfalls für die Forschungsergebnisse der Funktionalen Satzperspektive im Kontext der „Prager Schule". Die neueren Ansätze sind ohne diese Anstrengungen nicht denkbar, und aus diesem Grund werden sie hier in ihrer Einbettung im theoriegeschichtlichen Kontext präsentiert. Im Anschluss an diese Rekonstruktion möchte ich einen Ansatz diskutieren, der eine produktive Auseinandersetzung mit den Regularitäten der Informationsstruktur verspricht, nämlich der Annahme einer sogenannten givenness-hierarchy, einer Hierarchie von Diskursreferenten, die in unterschiedlicher Weise kontextuell „gegeben" sind. In Anknüpfung
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Frank Liedtke
an diesen Forschungsstrang sollen pragmatische Prinzipien aufgestellt werden, von denen angenommen wird, dass sie den Aufbau satzartiger Äußerungen im Text und Diskurs generell steuern.
1.
Die frühen Ansätze der Funktionalen Satzperspektive
Offenbar ist es dies, dass ich erst dasjenige nenne, was mein Denken anregt, worüber ich nachdenke, mein psychologisches Subject, und dann das, was ich darüber denke, mein psychologisches Prädicat und dann wo nöthig wieder Beides zum Gegenstande weiteren Denkens und Redens mache.
Dies schreibt der Sprachforscher Georg von der Gabelentz in seinem Buch „Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse" (1891: 354)1. Er begründet mit dieser Neudefinition der Begriffe Subjekt und Prädikat eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die im weiteren Verlauf der Fachgeschichte als Funktionale Satzperspektive bis heute wirksam geblieben ist. Wie zwei Papierrollen im „Telegraphenapparate", so das von ihm gebrauchte Bild, von denen die beschriebene immer weiter anschwillt und die noch zu beschreibende langsam zur anderen Rolle hinübergleitet, so entwickeln sich auch psychologisches Subjekt und Prädikat im Verlaufe einer sprachlichen Äußerung: „Das Gehörte verhält sich zu dem weiter Erwarteten, wie ein Subject zu seinem Prädicate." (ebd.: 353) Mit diesem Bild eröffnet v. d. Gabelentz eine dynamische Sicht der Sprache, die den Äußerungsvollzug und den Sprecher systematisch in die Betrachtung einbezieht. Im Kontext psychologischer Sprachauffassungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wurde diese Anregung aufgegriffen, teilweise auch äußerst kritisch rezipiert von Wundt, Paul, Behaghel und anderen. Im Gleichklang mit v. d. Gabelentz bedient sich auch Hermann Paul dieser Dichotomie, indem er psychologisches Subjekt und Prädikat als begründende Instanz für die grammatischen Verhältnisse im Satz einfuhrt. Zwar müsse man, so H. Paul, zwischen einem psychologischen und einem grammatischen Subjekt bzw. Prädikat unterscheiden, da beides nicht immer zusammenfällt, jedoch ist „das grammatische Verhältnis nur auf der Grundlage des psychologischen auferbaut." (1995: 124) Auch von ihm wird in durchaus diskursdynamischer Perspektive das psychologische Subjekt aufgefaßt als „die zuerst in dem Bewusstsein des Sprechenden, Denkenden vorhandene Vorstellungsmasse, an die sich eine zweite, das psychologische Prädikat anschliesst." (ebd.) Zuerst artikuliert von der Gabelentz diesen Gedanken in Aufsätzen in der „Zeitschrift für Völkerpsychologie" (1869: 378) und in „Techmers Internationaler Zeitschrift für Sprachwissenschaft" (III, 1887: 102ff.), teilweise im Rückgang auf den Philologen Henri Weil (1844).
Informationsstruktur, Text und Diskurs
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Die weitere Entwicklung der Funktionalen Satzperspektive ist dadurch geprägt, dass man das psychologische Erklärungsschema hinter sich ließ und zunehmend handlungstheoretisch und finalistisch argumentierte. Die Initiative zu einer handlungstheoretischen Wende hatte vor allem Vilem Mathesius ergriffen2, der als Gründungsvater des Prager Linguistenkreises gelten kann. Programmatisch kommt seine SprachaufFassung in der Schrift „Die funktionale Linguistik" (1929) zum Tragen, in der er auch terminologisch den Standpunkt der Präger Schule verdeutlicht: [D]ie neue Linguistik faßt die Sprache als etwas Lebendes auf, hinter den Wörtern verspürt sie den Sprecher oder Schreiber, aus dessen Absicht diese Wörter hervorgingen, und sie ist sich auch dessen bewußt, daß diese Wörter in den allermeisten Fällen auf Hörer oder Leser eingestellt waren. (ebd.: 2)
Eine Konsequenz aus dieser handlungsbezogenen SprachaufFassung ist eine Neudefmition dessen, was bis dahin als psychologisches Subjekt und Prädikat aufgefaßt wurde. Mathesius unterscheidet begrifflich zwischen dem Teil einer zweigliedrigen Mitteilung, „der etwas verhältnismäßig Neues ausdrückt und in dem das konzentriert ist, was man in dem Satz behauptet." (6) - er nennt ihn Mitteilungskern - und einem zweiten Teil, den er als „Basis der Mitteilung oder Thema" charakterisiert (7), „d. h. die verhältnismäßig bekannten oder auf der Hand liegenden Dinge, von denen der Sprecher ausgeht." (ebd.) In noch psychologisierendem Stil nimmt er einerseits eine objektive Abfolge an „in den ruhig vorgetragenen Sätzen" (ebd.) mit dem Thema an erster und dem Mitteilungskern an zweiter Stelle, andererseits eine subjektive Abfolge „bei einer erregten Behauptung" (ebd.) mit umgekehrter Reihung. Betrachten wir ein Beispiel: Angenommen, die Stadt Mannheim bilde für den Sprecher den Ausgangspunkt der Mitteilung, dann ergibt sich folgende objektive Reihenfolge von Thema und Mitteilungskem: 1. Männheim ist der Sitz der Dudenredaktion.
Die subjektive Abfolge würde - bei gleichem Ausgangspunkt - den Mitteilungskern vor das Thema setzen: 2. Der Sitz der Düdenredaktion ist Männheim.
2. ist mit diesem Ausgangspunkt nur mit einer Betonung auf „ D ü d e n r e d a k t i o n " möglich, die der Äußerung eine emotionale Färbung gibt und die Charakterisierung als „erregte Behauptung" zu rechtfertigen scheint.
2
Vor ihm, außerhalb der Thematik der Funktionalen Satzperspektive, hatte schon A. Marty die handlungstheoretische Begründung einer Theorie des Satzes eingeleitet. S. Marty (1908).
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Mit den genannten Differenzierungen legte Mathesius die Grundlage für die funktionale Behandlung der Informationsstruktur einer Äußerung. Die Bestimmungsgrößen des verhältnismäßig Bekannten, von dem der Sprecher ausgeht (Basis/Thema), und des verhältnismäßig Neuen, das die Behauptung konstituiert (Mitteilungskern), sind verbindlich geworden für die Diskussion der Thema-Rhema-Gliederung bis in die Gegenwart. Der Freiburger Sprachphilosoph H. Ammann ersetzte den etwas sperrigen Begriff des Mitteilungskems durch den des Rhemas, wobei der Begriff der „ E r s e t z u n g " dj e wissenschaftshistorische Situation möglicherweise nicht ganz zutreffend beschreibt, denn immerhin erschien sein Buch ein Jahr vor Mathesius' Schrift. Die Rezeptionslage scheint hier unklar; es ist nicht gesichert, ob Mathesius Ammann zur Kenntnis genommen hat. Ammann schreibt: Auf einen früher von mir eingeführten Ausdruck zurückgreifend, werde ich den Gegenstand der Mitteilung im Folgenden gelegentlich auch als ,Thema' bezeichnen; das Neue, das, was ich dem Hörer über das Thema zu sagen habe, könnte man entsprechend mit dem (scheinbaren) Reimwort , Rhema' belegen. (Ammann 1928: 141) Mit diesen begrifflichen Entscheidungen, die an die platonistische Gegenüberstellung von Onoma und Rhema erinnern (sollen), war der Grundstein gelegt für die Entwicklung der Funktionalen Satzperspektive. Im Rahmen dieses Paradigmas, das vor allem auf die Autoren der „Prager Schule" zurückgeht, wurde die starre Zweiteilung einer Mitteilung in Thema und Rhema recht bald in zweierlei Hinsicht aufgebrochen: Zum einen wurde neben thematischen und rhematischen Gliedern ein Übergangsbereich angenommen, ein transitorisches Element, das zwar im rhematischen Teil einer Mitteilung angesiedelt ist, aber einen sehr geringen Rhematizitätsgrad aufweist. Dadurch kam es zunächst zu einer Dreiteilung. In dem Beispielsatz 1. erscheint also neben dem Thema-Ausdruck (Mannheim) und dem Rhema-Ausdruck (Stadt der Dudenredaktion) die Kopula ist als ein solches Element. Zum anderen erreichte Jan Firbas (1974) eine Verfeinerung der Konzeption, indem er alle drei Begriffe einer weiteren Binnengliederung unterzog. Folgt man Firbas, dann gibt es nicht nur zwei oder drei Bereiche, sondern potentiell sechs in einer Äußerung. Es kann somit zwischen folgenden Bereichen unterschieden werden: Eigentliches Thema Eigentliches transitorisches Element eigentliches Rhema Rest des Rhemas Rest des transitorischen Elements Rest des Themas (ebd.: 25f.) Hinter dieser Aufgliederung steht die Idee, dass die Felder im Satz nicht in sich homogen, sondern heterogen sind und in der Regel die Unterteilung in ein eigentliches Element und den Rest erlauben. Für den Bereich des transitorischen Elements heißt dies, dass das eigentliche Element aus den Trägern der temporalen und modalen Verbbedeutung besteht, also dem grammatischen Morphem und/oder Hilfsverben, der Rest aus dem Verbstamm als
Informationsstruktur, Text und Diskurs
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dem Träger der lexikalischen Information. An folgendem Beispiel wird diese Aufteilung klar: 3. Er [th] ist [eig.tr] nach Mannheim [rh] ge- [eig.tr.] reis- [tr] t [eig.tr.].
Die eigentlichen transitorischen Elemente sind ist als Perfekt-Auxiliar sowie ge- und -t als Partizip-Perfekt-Markierer; das restliche transitorische Element ist der Verbalstamm reis-. Das Rhema-Element besteht in diesem Beispiel aus zwei Teilen, die ebenfalls unterschiedlich gewichtet werden können: nach hat als restliches Element die Eigenschaft [rh], Mannheim als eigentliches Thematisches Element [eig.rh]. Erweitern wir anschauungshalber das Thema, dann erhalten wir 4. Der [th] junge [th] Sprachwissenschaftler [eig.th]...
mit dem Nomen als eigentlichem, dem Determinierer und dem Attribut als restlichem Thema.
2.
Das Konzept des kommunikativen Dynamismus
Diese Aufgliederung in Elemente und Subelemente erhält ihre Begründung durch ein Konzept, das durch Firbas eingeführt wurde und für die Analysen der Funktionalen Satzperspektive verbindlich geworden war: das des kommunikativen Dynamismus. Dies ist ein gradueller Begriff, der den Beitrag einzelner Äußerungselemente zum Fortgang des Diskurses, den Sprecher und Hörer führen, bemißt. Firbas schreibt in einer frühen Publikation dazu: By the degree of CD [communicative dynamism, F.L.] carried by a sentence element we understand the extent to which the sentence element contributes to the development of the communication, to which it .pushes the communication forward', as it were. It is obvious that elements conveying new, unknown information show higher degrees of CD than elements conveying known information. (Firbas 1964/66: 270)
Rhematische Elemente sind diejenigen, die den Diskurs am stärksten vorantreiben, thematische diejenigen, die ihn am wenigsten weiterentwickeln. Beide Seiten einer Äußerung sind konstitutiv, da - wie sich im Rückgriff auf wahrnehmungspsychologische FigurHintergrund-Konstellationen zeigen lässt - das Neue, Vorantreibende nur dann seine Funktion erfüllen kann, wenn es an eine bekannte, gegebene Situation (den „Hintergrund") angebunden ist. Insofern stehen thematische Basis und vorantreibendes Rhema in einem ständigen Spannungsverhältnis zueinander, und die aktuelle Äußerungsgestalt kann man als Kompromisslösung zwischen diesen widerstreitenden Funktionen auffassen.
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In seiner 1992 erschienenen Monographie verdeutlicht Firbas seinen Ansatz, indem er seine früheren Festlegungen, vor allem zum Satzbegriff, näher spezifiziert. Innerhalb eines Satzes gibt es Elemente3, die in stärkerer oder schwächerer Weise zum kommunikativen Zweck der Satzäußerung beitragen, wobei dieser Zweck auf einer allgemeinen Ebene entweder darin gesehen wird, ein Phänomen zu präsentieren (,3s gab einmal...", „Dort steht ein ..."), oder darin, einem Phänomen eine Eigenschaft zuzuschreiben (Prädikation), wobei diese Zuschreibung noch weiter spezifiziert werden kann (durch Attribute oder Adverbien). Das entscheidende Kriterium zur Ermittlung des Grades an kommunikativem Dynamismus, das ein Satzelement aufweist, ist sein Beitrag zur Erfüllung des kommunikativen Zwecks. Das Element, das den jeweiligen Zweck optimal erfüllt, ist auch dasjenige, auf das der Satz hin perspektiviert ist - dies ist sozusagen der Kern der funktionalen Satzperspektive. Firbas schreibt: The dement towards which ä sentence or subclause is oriented conveys the information that completes the development of the communication taking place within the sentence or subclause. It contributes most to this development and is therefore the most dynamic element within the sentence or the subclause. (Firbas 1992: 6)
Satzelemente, die auf Gegebenheiten im unmittelbar relevanten situativen Äußerungskontext referieren oder im sprachlichen Kontext vorerwähnt sind, tragen am wenigsten zur Erfüllung des Äußerungszwecks bei und haben somit einen niedrigen CD-Grad; Elemente, die nicht vorerwähnt sind, können zur Erfüllung in maximaler Weise beitragen und haben den höchsten CD-Grad - es gibt allerdings auch nicht-vorerwähnte Elemente, die einen niedrigen CD-Grad aufweisen, weil ihr Beitrag zur Zweckerfüllung geringer ist. Dies weist darauf hin, dass die Vorerwähntheit im unmittelbar relevanten Äußerungskontext nur ein Faktor unter mehreren ist, der die Ermittlung des CD-Grades determiniert. Andere Faktoren sind die Wortstellung im Satz, die lexikalische Bedeutung der Satzelemente, vor allem der Adverbien, und schließlich die Betonung der einzelnen Satzelemente. Hier ist allerdings eine Abhängigkeit der syntaktischen und semantischen Mittel von den Kontext-Bedingungen gegeben derart, dass Wortstellung, lexikalische Wahl und Intonation nur unter Berücksichtigung spezifischer Vorerwähntheiten überhaupt einsetzbar sind. Nicht vollständig geklärt erscheint der Begriff des kommunikativen Zwecks in Firbas' Ansatz. Er scheint teilweise auf der Ebene der Prädikation, teilweise auf der Ebene der Illokution eines Sprechakts angesiedelt zu sein. Der Begriff der Vorerwähntheit scheint
Der Begriff des Satzelements entspricht dem der Konstituente. Als Elemente fasst Firbas nicht nur sprachliche Einheiten, sondern auch Gegebenheiten der Wirklichkeit (Referenten) auf - eine Ambiguität, die hier durch das Begriffspaar Satzelement vs. Gegebenheit im Außerungskontext vermieden werden soll.
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auch die Ebene des Diskurses zu berücksichtigen. Eine genauere Explikation des Zweckbegriffs ist unabdingbare Voraussetzung für eine konstruktive Anwendung der Theorie des kommunikativen Dynamismus. Mit diesen notwendigen begrifflichen Ergänzungen erlaubt die Theorie von Firbas allerdings eine Loslösung von konfigurational begründeten Vorstellungen, etwa derart, dass das thematische Element am Satzanfang stehe, das rhematische an das Satzende tendiere. Das Konzept des kommunikativen Dynamismus ist nicht an bestimmte Abfolgeregularitäten gebunden, sondern interpretativ aufzufassen. Wie schon gezeigt, ist die Thematizität bzw. Rhematizität eines Satzelements an einer Vielzahl von Faktoren abzulesen, aus deren Zusammenspiel sich für den Adressaten die resultierende Informationsstruktur der Äußerung erst ergibt. Eroms weist ausfuhrlich darauf hin, dass nicht immer ein Gleichlauf bestehen müsse zwischen der Abfolge der Satzglieder und ihrem Status innerhalb der Informationsstruktur (s. Eroms 1986: 10).
3.
Thematische Progression
Die Unterscheidung von interpretativem und linearem Arrangement legt eine Differenzierung von verschiedenen Betrachtungsebenen nahe, die zumindest zwischen syntaktischen Abfolgeregularitäten und der informationsstrukturellen Verteilung der einzelnen Elemente - als interpretativer Ebene - zu unterscheiden erlaubt. Einen ersten Schritt hin zu einer Differenzierung der Idee der Funktionalen Satzperspektive hinsichtlich unterschiedlicher Ebenen leistet das von F. DaneS eingeführte Drei-Ebenen-Modell der Satzanalyse. DaneS unterscheidet zwischen folgenden Ebenen: 1.
der Ebene der grammatischen Satzstruktur
2.
der Ebene der semantischen Satzstruktur
3.
der Ebene der Äußerungsorganisation
(s. DaneS 1964/1966: 225ff.)
Während die Ebene 1. auf grammatischen Kategorien wie Subjekt, Objekt, Prädikat, die Ebene 2. auf solchen Begriffen wie Handelnder und Ziel des Handelns, Handlung und resultierendes Objekt oder auch Ort- und Zeitangaben beruht, bezieht sich die Ebene 3. auf die Art und Weise, in der die grammatische und die semantische Ebene im Akt der Kommunikation eingesetzt werden, und dies im Sinne der Funktionalen Satzperspektive. DaneS schließt hier explizit an Firbas an, seine Charakterisierung dieser dritten Ebene wird im Sinne von Firbas' Konzept des kommunikativen Dynamismus vorgenommen, (ibd. 228) Der Ebene der Äußerungsorganisation gehört folgendes an:
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Frank Liedtke [...] all that is connected with the processual aspect of utterance [...] arising out of the semantic and formal tension and of expectation in the linear progression of the making-up of every utterance. [...] Further, all extra-grammatical means of organizing utterance as the minimal communicative unit are contained on this level as well. (ibd. 227f.)
Begrifflich unterscheidet Daneä zwischen dem Satz als singulärem und individuellem Sprechereignis (,,parole"-Phänomen), dem Satz als minimaler kommunikativer Einheit (,,langue"-Phänomen) und dem Satz als abstrakter Struktur oder Konfiguration, als Muster von distinktiven Einheiten. Das individuelle Sprechereignis wird als Äußerungsereignis (iutterance-event), die minimale kommunikative Einheit als Äußerung (utterance) und der Satz in seiner abstrakten Struktur als Satzmuster (sentence pattern) definiert, (ibd. 229) Es ergibt sich aus dem Gesagten, dass die Ebene 3, also diejenige der Äußerungsorganisation, Sätze im Sinne von Äußerungen und nicht im Sinne abstrakter Satzmuster zum Gegenstand hat, womit hier, in gleicher Weise wie von Firbas, eine eindeutig pragmatische Position eingenommen wird. Die Thema/Rhema-Verteilung ist also eine Frage des Äußerungsaufbaus und nicht des grammatischen Satzaufbaus. Sätze im Sinne von Äußerungen werden als minimale kommunikative Einheiten aufgefasst, die dem unterliegen, was Firbas kommunikativen Dynamismus genannt hatte. Sie sind in der Regel zweigeteilt in ein Thema - Daneä benutzt auch den Begriff topic - das bekannte oder gegebene Information enthält, und ein Rhema - oder comment - das unbekannte (nicht gegebene) Information übermittelt. Bewegt sich Daneä mit seiner Definitionstrategie für die Begriffe Thema/Rhema durchaus noch in den üblichen Bahnen, so ist sein Drei-Ebenen-Modell für die Differenzierung der grammatischen, semantischen und pragmatischen Aspekte einer Satzäußerung als Neuerung im Rahmen der „Prager" Tradition zu werten. Vor allem sein Satz- und damit sein Syntaxbegriff erscheinen im Kontext des Aufbaus einer pragmatischen Syntax als äußerst hilfreich. Darüber hinaus umfasst der Syniaxbegriff alle oben genannten drei Ebenen, also die der grammatischen und der semantischen Satzstruktur sowie diejenige der Äußerungsorganisation. Das erkläre Ziel des Ansatzes ist es, ... to discover and describe the interactions of all three levels pertaining to syntax (in a broader sense).... And it should be required, that in treating of any syntactic problem or phenomenon, an analysis on all three levels should be accomplished and the structural interpretation sought for in the relations and interactions of all three levels, (ibd. 228)
Anknüpfend an diese definitorischen Festlegungen erarbeitet Daneä (1970) eine Theorie der Abfolgeschemata von Äußerungen im Text, in Abhängigkeit von der jeweils verschiedenen Thema-Rhema-Verteilung und ihrer Weiterführung im Text. Der Aufsatz „Zur linguistischen Analyse der Textstruktur" ist auch der Ort, an dem der von DaneS eingeführte Fragetest theoretisch genutzt wird. Seiner Auffassung nach gibt es ein objektives Kriterium
Informationsstruktur, Text und Diskurs
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für das Bestimmen des Themas (und des Rhemas), nämlich die Ergänzungsfrage. So ist in der Antwort auf die Frage 5. Von wem bekam er das Buch?
die Verteilung von Thema und Rhema durch die Vorgängerfrage determiniert. In 6. Er bekam das Buch von einem Kollegen.
ist von einem Kollegen das Rhema, der Rest der Äußerung das Thema. Auf der Basis des so gewonnenen Kriteriums, das natürlich nur den Laborfall erfasst und in der Folge auch kritisiert und relativiert worden ist, nutzt er diese Distinktion, um verschiedene Typen des Textaufbaus zu unterscheiden, je nach der Art von Beziehung, die zwischen den thematischen und rhematischen Teilen der Einzeläußerungen bestehen. Die eigentliche Erklärungskraft entfalten diese Kategorien ja erst im Textzusammenhang, wenn gezeigt werden kann, dass sie einerseits eine kohärenzstiftende, andererseits eine dynamische, vorwärtstreibende Funktion haben. Diese Arbeitsteilung, nach der der rhematische Teil einer Äußerung einen hohen Mitteilungswert sicherstellt, indem (relativ) neue oder besonders relevante Information übermittelt wird, und der thematische Teil mit niedriger Informationsbelastung für die Anbindung an den vorgängigen Text oder Diskurs sorgt, hat ja die funktionalperspektivische Struktur einer Äußerung zur Folge. Daneä kommt es nun auf die thematische Funktion und ihren Beitrag zum kohärenten Aufbau eines Textes an. Die Struktur eines Textes besteht „in der Verkettung und Konnexität der Themen, in ihren Wechselbeziehungen und ihrer Hierarchie, in den Beziehungen zu den Textabschnitten und zum Textganzen, sowie zur Situation." (Daneä 1970: 74) Die verschiedenen Arten von Verkettungen von Einzeläußerungen, also von thematischen Relationen werden unter dem Begriff der linearen Progression zusammengefasst Eine einfache lineare Progression besteht aus einer Folge von Äußerungen, wobei das Rhema, der ersten zum Thema der zweiten Äußerung wird, in schematischer Darstellung: [[Ta... Rb], [Tb... Rc]2 [Tc ... Rd]3 [Td... Re]4 T und R stehen für die Funktionstypen Thema und Rhema; zusammen mit den Minuskeln a, b ... stehen sie für die Thema bzw. Rhema-Token, also die jeweils verwendeten Ausdrücke; die tiefergestellten Zahlen bezeichnen die Äußerung, in der die Ausdrücke vorkommen. Es wird deutlich, dass das Rhema b der ersten Äußerung übereinstimmt mit dem Thema b der zweiten Äußerung etc. Das heißt, dass Rb und Tb etwas gemeinsam haben, aufgrund dessen sie jeweils gleich zugeordnet werden können (hier zu b). Dies ist in der Regel ihre gemeinsame Referenz; d. h. das, was in einer Äußerung Rb über Ta aussagt, ist genau das, worüber in der Folgeäußerung Rc etwas aussagt, nämlich Tb. In unserem Ein-
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Frank Liedtke
gangsbeispiel wäre dies der Fall, wenn in einer an 1. anschließenden Äußerung von der Dudenredaktion (Thema b) ausgesagt würde, dass sie einen neuen Leiter hat (Rhema c), in einer weiteren dann von dem Leiter (Thema c) gesagt würde, dass er promoviert ist (Rhema d). Die anderen Progressionstypen unterscheiden sich hinsichtlich der Konstanz oder Varianz des Themas oder des Verhältnisses, in dem die variierenden Themen zueinander stehen. So gibt es Texte mit einem durchlaufenden, also gleichbleibenden Thema; Texte mit einem übergeordneten Hyperthema; schließlich solche mit gespaltenem Thema, das zwei verschiedene Aspekte hat, die jeweils von einem gesonderten Rhema weitergeführt werden. Schließlich gibt es noch die fünfte Form der thematischen Progression, die eigentlich eine Abwandlung der ersten ist. Sie entsteht dadurch, dass ein Glied in der Progression ausgelassen wird, beispielsweise weil man dem Adressaten unterstellen kann, dass er dieses fehlende Glied aus seinem Kontextwissen heraus ergänzt. Die hier unterschiedenen Progressionsschemata sind Modelle, die im aktuellen Diskurs in verschiedenen Mischungen vorkommen können. Trotz gewisser Idealisierungen sind die Grundzüge der thematischen Progression in diesen Schemata erfasst, so dass wir damit eine umfassende Beschreibung der Rolle, die thematische und rhematische Elemente bei der Konstitution von Texten und Diskursen spielen können, zur Verfugung haben. Die Leistung von DaneS bestand darin, die Sicht von isolierten Sätzen auf Textzusammenhänge gelenkt zu haben und gleichzeitig eine erste Systematik von Progressionsformen aufgestellt zu haben.
4.
Wortstellung und Intonation
Die Definition von Thema und Rhema in der Tradition der Prager Schule, wie sie bis auf Mathesius zurückgeht, umfasst durchgängig zwei Aspekte der Informationsgliederung, ausdrückbar einerseits durch die Dichotomie bekannt - nicht bekannt (given-new), andererseits durch die Gegenüberstellung von Gegenstand der Aussage (aboutness) - das darüber Ausgesagte. Wie wir bei Firbas, aber auch bei den anderen Vertretern sehen konnten, werden diese beiden Aspekte begrifflich einheitlich behandelt, d. h. sie bilden zwei Aspekte der grundlegenden Gegenüberstellung von Thema und Rhema. Eine alternative Begrifflichkeit wird schon sehr früh von M.A.K. Halliday eingeführt, mithilfe derer die beiden genannten Dichotomien auch begrifflich getrennt werden. In einer längeren Studie, die eine Art Vorstufe zur später entwickelten systemisch-funktionalen Grammatik bildet, führt Halliday mehrere linguistische Domänen ein, die die Entscheidung des Sprechers für die Verwendung einer bestimmten syntaktischen Konstruktion - zuungunsten möglicher
Informationsstruktur, Text und Diskurs
83
Alternativen - zum Gegenstand haben. Neben den Kategorien der Transitivität und des Modus der Aussage bildet die Kategorie des „theme", des Themas eine solche Domäne. Hier werden die Entscheidungen des Sprechers zugunsten einer bestimmten Informationsstruktur des Satzes angesiedelt, wobei die Elemente des Satzes nicht als Stellvertreter für Teilnehmer eines außersprachlichen Prozesses interessieren, sondern als Komponenten der Mitteilung selbst. Kurz gesagt: In dieser Domäne geht es um „the grammar of discourse" (Halliday 1967: 199). Dass die Aspekte des given-new Kontrastes einerseits und der aboutness andererseits getrennt behandelt werden sollen, schlägt sich darin nieder, dass diese jeweils unterschiedlichen Teilbereichen der Domäne theme zugeordnet werden, (s. Halliday 1967: 200). Die Optionen des Sprechers im Bereich des ersten Gegensatzes werden durch phonologische Mittel realisiert, vor allem durch die Intonation im geäußerten Satz, und sie werden dem Teilbereich der Information zugewiesen (1985: „textuelle Funktion"). Die Entscheidungen über den Gegenstand der Aussage (aboutness) werden durch die verschiedenen Möglichkeiten der Wortstellung im Satz signalisiert und von Halliday dem Bereich der Thematisierung zugeschlagen (1985: „interpersonelle Funktion"). Die grundlegende Einheit im ersten der genannten Bereiche, der Informationsstruktur, ist die intonatorische Einheit, die zugleich als Informationseinheit aufgefasst wird (in der Regel eine bis zwei Einheiten im Satz). Halliday schreibt dazu: The distribution into information units represents the speaker's blocking out of the message into quanta of information, or message blocks. Each information unit is realized as one tone group, in the sense that the information structure specifies the boundaries of the tone group to within certain limits, its exact location being determined by considerations of phonological structure. (Halliday 1967: 202)
Die Wahl eines Sprechers im Bereich der Informationsstruktur wirkt sich so aus, dass innerhalb einer Informationseinheit - als Grundeinheit des Diskurses - ein Informationsyökus (möglicherweise auch zwei) gewählt wird, der die neu übermittelte Information enthält, und der intonatorisch besonders ausgezeichnet wird. Die restliche, alte Information bildet dann den Hintergrund für diesen Fokus oder diese Foki. Ein Beispiel von Halliday lautet übersetzt (mit jeweils einem Akzent auf den Fokus-Konstituenten): 7. Marie geht Samstags immer in die Stadt, (mit' für steigende,' für fallende Intonationskontur)
Im Fall der Thematisierung befinden wir uns in einem anderen Bereich, nämlich dem der Satzstruktur. Hier hat der Sprecher die Wahl, über welchen Gegenstand er sprechen möchte, und er signalisiert seine Entscheidung dadurch, dass er die Thema-Konstituente an den Satzanfang stellt.
84
Frank Liedtke Basically, the theme is what comes first in the clause; and while this means that [...] there is in the unmarked case (i.e. if the information structure is unmarked) an association of the theme with the given, the two are independent options (cf. Firbas 1964). (Halliday 1967: 212)
Das Thema war von Mathesius als Ausgangspunkt der Mitteilung definiert worden. Für Halliday ist das Wortstellungskriterium eine notwendige und hinreichende Bedingimg für Thematizität, denn auch w-Phrasen in Interrogativsätzen und das finite Verb in Imperativsätzen gelten als thematisch, weil sie die satzinitiale Position einnehmen. Diese Rigidität ist grundlsätzlich kritisiert worden, weil durch ein solches Verfahren das entscheidende Kriterium ein formales, satztopologisches sei und keines, das sich auf die Funktion einer Konstituente im Diskurs stütze. So schreibt M. Bolkestein: Theme is defined broadly as ,that which is the concern of the message', its starting point or psychological subject (Halliday 1985: 33). However, in spite of this paraphrase, which suggests some sort of cognitive prominence of such constituents, and in spite of the discourse terminology used, the actual operational definition of the notion Theme is not formulated in terms of a particular informational status determined by the preceding discourse or by the speaker's estimate of the knowledge available to the hearer at that particular stage in the communication. [...] Theme and Rheme are not pragmatic notions in SFG, but formal ones, in spite of the seemingly pragmatic terminology. (Bolkestein 1993: 344)
Um diese Problematik zu verdeutlichen, sei ein Beispiel dikutiert, das einem Korpus populärwissenschaftlicher Texte entnommen wurde: 8. Jahrzehntelang hatten die Lehrbücher immer dasselbe gepredigt. Über die Beringstraße sollen vor 11 000 bis 12 000 Jahren die ersten Menschen trockenen Fußes in die neue Welt gelangt sein: sibirische Jäger bei der Verfolgung der Mammuts. Drei Kilometer dicke Gletscher hatten damals, am Ende des Pleistozäns, fast ein Drittel der Erdkugel bedeckt.... [WP2]
Ob das Thema im ersten Satz dieses Beispiels, also das worum es geht, durch den Ausdruck Jahrzehntelang signalisiert wird, ist fraglich. Es ist wohl eher mit der Subjekt-NP korreliert (die Lehrbücher), wobei das Zeitadverbial in das Vorfels gerückt ist. Probleme mit der Hallidayschen Festlegung entstehen im wesentlichen dadurch, dass es ihm um das Englische geht und die Übertragbarkeit auf das Deutsche und andere Sprachen mit einer weniger rigiden Wortstellung fraglich ist. Aber auch eine Beschränkung auf das Englische immunisiert diese Auffassung nicht gegen Kritik, denn Frontierungen der genannten Art sind im Englischen ebenfalls möglich (s. den Beitrag von Dorgeloh in diesem Band). Auch in Untersuchungen zur Funktionalen Satzperspektive des Deutschen ist die Hallidaysche Position eingenommen worden, so z. B. von K. Boost in seinen Untersuchungen zum deutschen Satz. Kritisch gegen diesen wendet E. Beneä (1971) ein, dass am Satzbeginn nicht nur thematische, sondern auch rhematische Satzglieder stehen könnten, andererseits auch mehrere thematische Glieder im Satz verteilt sein können, von denen schließlich nur eines am Satzbeginn stehen kann. Für den ersten Fall gibt er folgendes plausible Beispiel:
Informationsstruktur, Text und Diskurs
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9.... (die Burg von Mykene war)... der Sitz eines Stammesfursten. Gewaltige Mauern umgaben seine Burg. (170) Der Ausdruck Gewaltige Mauern ist in diesem Kontext rhematisch, aufgrund seiner markierten Anfangsstellung allerdings besonders betont. Anfangsstellung des Themas ist also nur als sprecherseitige Präferenz, die aus bestimmten Gründen durchbrochen werden kann, anzunehmen. Da beinahe alle Satzelemente vorfeldfahig sind, kann man im Deutschen die Füllung dieser Position weitgehend frei wählen. Neben einer Differenzierung der Hallidayschen Satzanfangsregel muss man möglicherweise über die Hallidaysche Dichotomientrennung hinaus weitere Unterscheidungen treffen. So erscheint eine Trennung der Parameter des Gegenstandes der Aussage (aboutness) und des Ausgangspunktes der Mitteilung {point of departure), die ja als eine Kategorie behandelt werden, ebenfalls angeraten, denn nicht immer fällt beides zusammen. Der Ausgangspunkt der Mitteilung kann gerade vorbereitenden Status für das haben, was man als ihren Gegenstand auszeichnet. Trotz vieler Kritik- und Differenzierungsmöglichkeiten ist Hallidays Ansatz gerade wegen der Möglichkeit, einen kontextbezogenen Aspekt der Informationsstruktur (givenness) von einem satzinternen Aspekt der Thematisierung (aboutness) unterscheiden zu können, als äußerst produktiv für die Entwicklung der Funktionalen Satzperspektive einzuschätzen. Diese Aspekttrennung hat sich in sprachvergleichenden Forschungen längst etabliert, z. B. in Sasses Unterscheidung zwischen einer „communication perspective" (satzinterner Aspekt) und einer „information structure" (kontextueller Aspekt) (Sasse 1987). Entsprechend unterscheidet F. Kiefer (1978) systematisch zwischen zwei Dichotomien: einerseits theme-rheme für den Aspekt der aboutness, andererseits topic-comment für denjenigen der givenness.
5.
Semantische Relationen
Neben den genannten Erklärungsansätzen zur Informationsstruktur von Äußerungen gibt es auch die Bemühung, diese von einer syntaktisch-semantischen Perspektive her zu definieren. Im Rahmen generativ-grammatischer Fragestellungen, vor allem im Zusammenhang mit Chomskys Rektions-Bindungs-Theorie, entstanden in den 80er Jahren Versuche, den Begriff des Fokus, der ja im weitesten Sinne dem Rhema entspricht, über das Konzept der Fokus-Zuweisung innerhalb einer Konstituentenstruktur zu definieren. Prominent wurde hier vor allem der Ansatz von Michael S. Rochemont (1986), der den Begriff des Fokus über die Eigenschaft, „c-construable" zu sein, festmacht. Eine Konstituente ist „cconstruable" in einem Diskurs, (d. h. aus dem Kontext heraus konstruierbar), wenn sie von den Teilnehmern entweder als alte, bekannte Information interpretiert wird, oder als In-
86
Frank Liedtke
formation, die in der Diskussion ist. Dies ist in einer mehr technischen Lesart gegeben, wenn die betreifende Konstituente einen semantischen Antezedenten in diesem Diskurs hat. Der semantische Antezedent wird in diesem Fall über eine logische Folgerungsbeziehung eingeführt, die formeller oder informeller Art sein kann. Formell ist diese dann, wenn sie auf den logischen Konstanten des einbettenden Satzes beruht, informell dann, wenn sie zumindest teilweise von den Bedeutungen der Ausdrücke des nicht-logischen Vokabulars, beispielsweise der referierenden Ausdrücke, abhängt. Rochemonts einschlägige Definitionen lauten: A string P is c-construable in a discourse 6 if P has a semantic antecedent in 8. [...] A string P has a semantic antecedent in a discourse 8, 8 = {.
- .
-TdtTHiwffliBH 3
3.3
Diu« (i)
6.5
Abb. 1: F0-Verlauf zum beispiel (4050.254, Zeile 1052) Vor Beginn der Operator-Skopus-Struktur fällt die Stimme tief, es folgt eine kurze Pause, und der Sprecher atmet hörbar ein. Mit Beginn des Operators erfolgt ein Tonsprung nach oben; auf dem Akzent von zum wird die Tonhöhe jedoch wieder auf das Niveau der Vorgängereinheit abgesenkt. Der Skopus setzt wiederum wesentlich höher an, und die Deklinationslinie fallt zum Ende des Skopus stark ab, sodass die Tonhöhe wieder auf derselben Tiefe wie vor dem Operator angelangt ist. Es folgt eine kurze Pause. Nach dem Skopus setzt die Tonhöhe der folgenden Einheit erneut höher an. Mit dem Operator beginnt also eine neue Intonationseinheit: die Tonhöhe der Einheit vor dem Operator sinkt, mit dem Operator erfolgt ein Neuansatz in der Tonhöhe, der Operator trägt einen Akzent, und die Einheiten sind durch eine Pause voneinander getrennt. Durch diese Segmentierung wird die Operator-Skopus-Struktur von der vorhergehenden Einheit deutlich abgesetzt. Am Ende des Skopus sinkt die Tonhöhe ab, erreicht die tiefste Senkung im Skopus und dasselbe Niveau der finalen Senkung der Einheit vor dem Operator. Eine Pause zwischen dem Skopus-Ende und der nachfolgenden Äußerung segmentiert zusätzlich den Skopus von der folgenden Einheit. Vergleicht man diese Merkmale mit der obigen Merkmalsauflistung, so sind die folgenden Punkte relevant: Intonationseinheit, Akzent, Pause, tief fallender finaler Tonhöhenverlauf, neuer Tonhöhenansatz, Tonhöhensprung. Der Beginn der Operator-Skopus-Struktur ist also prosodisch gekennzeichnet. Dies ist zunächst nicht weiter verwunderlich, da es sich allgemein um die Segmentierung von Einheiten handelt. So tritt bei der Vorgängerstruktur das Merkmal auf, das das Ende einer Einheit signalisiert: die finale Senkung der Tonhöhe der Vorgängerstruktur. Durch diese Tonhöhenbewegung und eine folgende Pause wird das Ende der Vorgängerstruktur markiert. Jedoch hebt sich der Anfang der Operator-Skopus-Struktur von dem einer „normalen" neuen Einheit ab: Der Beginn der Operator-Skopus-Struktur ist durch eine starke
212
Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler
Veränderung des Tonhöhenansatzes oder sogar durch Tonhöhensprünge gekennzeichnet. Wenn keine Veränderungen im Tonhöhenansatz vorhanden sind, liegt ein stark fallender oder stark steigender Akzent auf dem Operator. Dieser bewirkt dann deutliche Veränderungen in der Tonhöhe. Oft wirken diese Merkmale zusammen. Weiterhin beschleunigt der Sprecher zu Beginn der Operator-Skopus-Struktur häufig das Sprechtempo, oder er spricht lauter. Das Ende der Operator-Skopus-Struktur ist hingegen nicht immer prosodisch gekennzeichnet. So kann der Skopus bis zur ersten tief fallenden Senkung gehen. Wie aber viele Beispiele zeigen, ist bedingt durch semantische Erweiterungen das Ende des Skopus nicht auf die erste Senkung festzulegen. (a)
Interne Strukturierung der Operator-Skopus-Struktur
Neben der Segmentierung an den externen Grenzen ist die interne prosodische Gliederung der Operator-Skopus-Struktur von Bedeutung. Durch sie entsteht die typische Zweigliedrigkeit der Struktur. Bestimmte Operatorklassen müssen prosodisch hervorgehoben werden, damit eine Operator-Skopus-Struktur entsteht, bei anderen ist die prosodische Segmentierung nicht notwendiges Kriterium. Die Ersteren sollen als obligatorisch prosodisch markiert und die Letzteren als fakultativ prosodisch markiert bezeichnet werden. Bei obligatorisch prosodisch markierten Operatoren ist allein durch die Syntax oder Semantik keine auffallige Zweigliedrigkeit festzustellen. Dies gilt insbesondere für koordinierende Konjunktionen, die in der Regel im Vor-Vorfeld stehen (und, denn, oder)}5 Sie werden erst durch die prosodische Hervorhebung zu Operatoren. Weiterhin gehören in diese Gruppe Partikeln wie also, die als Gliederungssignale verwendet werden können und die nur Operatorstatus erhalten, wenn sie prosodisch markiert sind. aber 1
JK: also zu diesen geböten gehören zum beispiel dass man zum
2
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iSHrlich> ist; (- -) Verständlichkeit haben sie genannt? dass man
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6
gibt wÄhrheiten die sehr schm^RZlich oder Ühangenehm> sind für
15
Im Gegensatz dazu sind Konjunktionen zu sehen, die auch im Mittelfeld stehen können wie beispielsweise trotzdem.
213
Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache 7
ne partläl? ich w i l l hier ( - ) gar keine beispiele nfinnen von
8
jeder partei könnten einem da j a welche Einfallen. ( - - )
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(4050.078, Zeile 1472) 3SO, 300y?-
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4.5
5.5
Time (s)
Abb. 2: F0-Verlauf aber (4050.078, Zeile 1713) Der Operator aber (Zeile 4) ist durch einen Tonhöhensprung nach oben und eine Pause von der Vorgängerkonstruktion abgehoben, er trägt einen steigenden Akzent und eine final fallende Tonhöhenbewegung. Auf den Operator folgt eine Pause, der Akzentgipfel im Skopus wird auf gleichem Tonhöhenniveau realisiert wie beim Operator. Die interne Segmentierung wird hier durch die Pause zwischen Operator und Skopus sowie die fallende finale Tonhöhenbewegung auf dem Operator und den Neuansatz der Tonhöhe im Skopus erzielt. Allgemein lässt sich für die Ausdrücke, die obligatorisch prosodisch markiert werden müssen, um Operatoren zu sein, feststellen, dass die Pause zwischen Operator und Skopus in den untersuchten Beispielen immer auftritt, kombiniert entweder mit steigendem oder fallendem Akzent. Das alleinige Auftreten der final fallenden Tonhöhenbewegung auf dem Operator und die Tonhöhenveränderungen zwischen Operator und Skopus reichen offenbar nicht aus, um Ausdrücke, die obligatorisch prosodisch markiert werden müssen, hervorzuheben. Die Pause wirkt hier als deutlichstes Segmentierungsmerkmal. Bei den fakultativ prosodisch markierten Operatoren ist eine Verdeutlichung der Zweigliedrigkeit auf der semantischen und/oder syntaktischen Ebene hinreichend. Die Stellung im Vor-Vorfeld ist bei diesen Operatoren so auffallig, dass sie genügt, um den jeweiligen Ausdruck als Operator erkennbar zu machen. Die Prosodie wird als zusätzliches Mittel zur
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Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler
Herstellung von Eindeutigkeit verwendet, d. h. die prosodische Markierung ist nicht notwendig, sie ist fakultativ. Im folgenden Transkriptausschnitt wird der Operator hervorgehoben: Er trägt einen steigenden Akzent und weist eine final fallende Tonhöhe auf. Durch den steigenden Akzent erreicht der Operator eine Hervorhebung gegenüber dem Skopus, da die Tonhöhe des Skopus unter der des Operators bleibt. Dieses typische Muster zeigt das folgende Beispiel, in dem die Segmentierung zwischen Operator und Skopus nur durch die stark steigenden und fallenden Tonhöhenbewegungen auf dem Operator erzielt wird. Der Skopus setzt deutlich tiefer als der Akzentgipfel des Operators an und bleibt selbst auf dem stärksten Akzent des Skopus, auf Zuschauer (Zeile 5), unter dem des Operators. Als zusätzliches Segmentierungsmittel wirkt hier noch eine Beschleunigung des Sprechtempos von dem letzten Element vor dem Operator (akzeptieren Zeile 4) an bis an das Ende des Operators. trotzdem 1
HN: ich hätte gfirne die Sachen gezeigt wenn man mir das sfälber äh
2
HN: wenn man mir das [v6rher=äh
3
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JB: (-) als gÄstgeber hab ich das zu «all> akzeptieren;
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[herr nftsch?] das akzeptieren wir? oder ich?
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zitieren? äh (-) 7 (4050.021, Zeile 217)
215
Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache
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63
Abb. 3: F0-'Verlauf trotzdem (4050.021, Zeile 217) In wenigen Fällen ist keinerlei prosodische Segmentierung zwischen Operator und Skopus zu erkennen weil 1
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216
Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler 250225-
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45
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6
65
Weder trägt der Operator weil einen Akzent, noch ist er durch sonstige Tonhöhenbewegungen, Pausen oder Veränderungen im Tempo oder der Lautstärke vom Skopus abgehoben. Der Skopus schließt direkt an den Operator an; Operator und Skopus bilden eine Intonationseinheit. Intern ist in diesem Beispiel also keinerlei Segmentierung zwischen Operator und Skopus auf der prosodischen Ebene zu erkennen. Die Struktur als ganze hebt sich jedoch von ihrer Umgebung als eine Intonationseinheit ab. Sowohl vor dem Operator als auch nach dem Skopus ist eine Pause. Operator und Skopus bilden eine einheitliche, gleichmäßig abfallende Deklinationslinie. Nach dem Skopus beginnt eine neue Einheit auf demselben Tonhöhenniveau, auf dem auch die Operator-Skopus-Struktur ansetzt. Da nicht immer alle prosodischen Merkmale gleichzeitig auftreten, konnte anhand der Analyse festgestellt werden, welche von ihnen alleine und welche nur in Kombination mit anderen auftreten können. Die Tonhöhenbewegungen werden am häufigsten als Mittel zur Segmentierung zwischen Operator und Skopus eingesetzt. Sie treten auch ohne eine folgende Pause auf, d. h. in diesen Fällen schließt der Skopus unmittelbar an den Operator an. Pausen zwischen dem Operator und dem Skopus hingegen treten in unseren Beispielen nicht ohne eine Veränderung in der Tonhöhe auf. Besonders auffällig ist das Auftreten von Pausen bei Operatoren mit steigend-gleichbleibender Tonhöhenbewegung. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die Tonhöhenbewegung allein nicht deutlich genug die Zweigliedrigkeit markiert. Tonhöhenveränderungen können entweder steigende/fallende Akzente oder Tonhöhensprünge nach oben sein. In seltenen Fällen ist zwischen dem Operator und dem Skopus keinerlei prosodische Segmentierung zu verzeichnen. Dann wird die Gesamtstruktur jedoch durch Segmentierungen vor dem Operator und am Ende des Skopus deutlich gekennzeichnet. Gleichzeitig können Veränderungen in der Lautstärke oder im Sprechtempo auftreten, diese haben aber nur verstärkenden Einfluss.
Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache
217
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die prosodische Hervorhebung der OperatorSkopus-Struktur zwei Funktionen hat: zum einen dient sie dazu, Strukturen zu eindeutigen Operator-Skopus-Strukturen zu machen (bei prosodisch obligatorisch markierten Operatoren), und zum anderen bekommt die Struktur durch diese Hervorhebung ein zusätzliches kommunikatives Gewicht (bei prosodisch fakultativ markierten Operatoren). Ist die prosodische Hervorhebung des Operators obligatorisch, so wird erst hierdurch eine Struktur zu einer Operator-Skopus-Struktur. Die Prosodie wird also dann obligatorisch, wenn Syntax und Semantik nicht mehr ausreichen, um diese Struktur eindeutig herzustellen und erkennbar zu machen. Andererseits bewirkt eine prosodische Hervorhebung bei den Operatoren, bei denen die prosodische Markierung fakultativ ist, eine Verstärkung der projektiven Kraft des Operators. Mit der prosodischen Hervorhebung des Operators hält der Sprecher sozusagen ein „Achtung-Schild" hoch, das dem Hörer signalisiert, dass im Folgenden eine Begründung, Einräumung usw. geäußert wird. Der Sprecher hat die Möglichkeit, den Operator durch eine prosodische Hervorhebung stärker zu gewichten, ihm zusätzliche Kraft zu verleihen. Mit Bezug auf die Liste der prosodischen Merkmale zu Beginn dieses Abschnittes, die zur Segmentierung verwendet werden können, lässt sich konstatieren:
-
-
Pausen werden bei den obligatorisch prosodisch markierten Operatoren immer eingesetzt. Bei den fakultativen treten sie eher dann auf, wenn die finale Tonhöhe des Operators progredient ist. Tonhöhenansätze und Tonhöhensprünge sind wesentliche Mittel zur prosodischen Markierung sowohl bei obligatorisch als auch bei fakultativ prosodisch markierten Operatoren. Hierdurch werden Kontinuität und Integration bzw. Diskontinuität und Brüche markiert. Ebenso wird durch Akzentbewegungen und finale Tonhöhenverläufe eine Segmentierung vorgenommen.
Diese Merkmale wirken häufig zusammen, können aber auch einzeln auftreten und eine wahrnehmbare Segmentierung bewirken. Veränderungen im Sprechtempo und der Lautstärke hingegen wirken zusätzlich verstärkend und treten alleine nicht zur Segmentierung gl2 der Operator-Skopus-Struktur auf.
5.
Gegensatzoperatoren - einige Beispiele
Zu den verschiedenen Arten von Verstehensanweisungen, die Operatoren für eine nachfolgende Äußerung vornehmen können, gehört auch die, einen Gegensatz zwischen zwei
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Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler
Äußerungen anzukündigen. Beziehungen zwischen Äußerungen als gegensätzlich darzustellen, ist ein ständig angewandtes sprachliches Verfahren, und es sind eine ganze Reihe sprachlicher Mittel ausgebildet worden, diesen Gegensatz anzuzeigen. Der allgemeinste Ausdruck dafür ist aber. Wir bezeichnen diejenigen sprachlichen Mittel, die diesen Gegensatz anzeigen und die in der Lage sind, den Platz des Operators in einer Operator-SkopusStruktur einzunehmen, als Gegensatzoperatoren. Mit ihrer Hilfe signalisiert der Sprecher dem Hörer, dass das Folgende zum vorher Geäußerten in der Relation einer - wie auch immer gearteten - Gegensätzlichkeit steht. Zu ihnen gehören z. B. solche Lexeme wie aber, allerdings, andererseits, dennoch, dessen ungeachtet, gleichwohl, hingegen, immerhin, indes, jedoch, nichtsdestotrotz, obwohl, nur, trotzdem. In diesem Abschnitt wollen wir anhand von Beispielen einige dieser Gegensatzoperatoren in ihrer Wirkungsweise darstellen. 5.1
Nur
Nur ist ein sprachliches Element, das in den Grammatiken sowohl als Adverb als auch als Partikel als auch als Konjunktor geführt wird. Diese Zuordnungen werden dann oft mit entsprechenden Spezifizierungen versehen (Modalpartikel, Gradpartikel, Abtönungspartikel, Konnektivpartikel, Fokusadverb, Nexusadverb, Konjunktionaladverb, adversativer Konjunktor). Ausgangsbedeutung aller verschiedenen Verwendungsweisen von nur ist die der Einschränkung. Im Zusammenhang mit der Operator-Skopus-Struktur interessiert uns nur in seiner Eigenschaft als Element, das die Fähigkeit hat, die Rolle des Operators einzunehmen und in dieser Rolle die sprachliche Handlung der Einschränkung vorgreifend zu verdeutlichen.
521 CC: zu werden- * vielleicht w e r d e n sie a u c h dauernd belästicht522 AA: 523 CC:
ja:-
|mhmi| fühlen sich jedenfalls belästicht
|ob et| jeschehn is
524 CC: oder n e t - ** (will isch m i r denken)4 ** u n : - ** d a n n ruft 525 CC: er ihre freundin a n u n sie" schimpfen dann weil sie eh" ->526 CC: schon auf ihn sauer sind zurücki ** n u r t ** b l ö " d t * is ne 527 AA: 528 CC: b e l e i d i g u n g i
ja:4 sie beleidigen also i"hn- * zue"rst- *
Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache
219
529 CC: obwohl- * erstmal ihre freundin dran wäre sich zu (3002.01)
In einem Nachbarschaftsstreit, in dem es um gegenseitige Beleidigungen geht, versucht der Schiedsmann, Klarheit in den Ablauf des Streites zu bringen, indem er die nächtliche Streitsituation rekapituliert. Aus der Art und Weise seines Resümees kann man zunächst schließen, dass er Verständnis für das Verhalten der einen Streitpartei hat, da diese in der Vergangenheit schon öfter beschimpft worden war. Mit dem deutlich abgesetzten nur wird dann angekündigt, dass jetzt der bisherige Part der Rekapitulierung abgeschlossen ist und nun ein neuer Aspekt eingeführt wird: nur T * * blö"dt * is ne beleidigungJ-,16 D. h. aus dem Verständnis, das der Schiedsmann zunächst aufbringt, kann nicht geschlussfolgert werden, dass das Verhalten toleriert wird bzw. folgenlos bleibt. Das nur kündigt dem Hörer einen Wechsel in der Perspektive an, setzt das vorher Gesagte nicht außer Kraft, beugt aber falschen Erwartungen vor und führt zusätzlich den neuen Aspekt des Straftatbestandes ein. Nur in Operator-Funktion wird häufig dazu verwendet, einen neuen, bisher nicht berücksichtigten Aspekt in die Diskussion einzuführen. Oder es dient dazu, den Hörer vor falschen Erwartungen, die dieser durch das zuvor Gesagte möglicherweise aufbauen könnte, zu bewahren. Oft laufen diese Prozesse - wie auch in diesem Beispiel gleichzeitig ab. Wenn nur die Position des Operators in der Operator-Skopus-Struktur einnimmt, funktioniert dieses Element wie ein (adversativer) Konjunktor. Als solcher wird es in neueren Grammatiken auch behandelt (vgl. Zifonun, Hoffinann, Strecker 1997). Stärker als andere Konjunktoren in Operator-Position (wie z. B. allerdings) bedarf es bei nur einer prosodischen Markierung, einer Absetzung vom Skopus, um die für die Operator-Skopus-Struktur geforderte Zweigliedrigkeit wahrnehmbar zu machen. In der Schriftsprache funktioniert nur als Operator ähnlich wie im Mündlichen, und ähnlich wie bei den meisten Operatoren wird die Operator-Funktion durch einen Doppelpunkt (seltener durch Bindestrich oder Komma) markiert.17
16
17
Bei dem ,blöd' in dieser Aussage, das sehr prononciert gesprochen wird (prosodische Hervorhebung durch Vokaldehnung, Stimmhebung und Absetzung durch Pausen), handelt es sich um das Zitat eines Wortes, das im Streit von einer Partei zur Bezeichnung der anderen Partei verwendet wurde und jetzt eine Rolle bei den Beleidigungsvorwürfen spielt. Ein Beispiel aus der Rezension eines Rolling-Stones-Konzerts (Mannheimer Morgen, 24.8.1995): „Keith Richards merkt man die durchlebten Jahre schon mehr an; immer noch ist er Kult, keiner ^zweifelt an seiner Kunst - nur: Das Sex-Symbol war einmal, morgen wird der Krückstock kommen."
220 5.2
Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler Allerdings
Mit dem Operator allerdings gibt der Sprecher dem Hörer zu verstehen, dass die Argumentation nicht so weitergehen wird wie bisher. Das bis jetzt Gesagte behält zwar seine Gültigkeit, aber mögliche Schlussfolgerungen, die der Hörer daraus ziehen könnte und die - setzt man einen normalen Verlauf der Dinge voraus - auch nahe liegend erscheinen könnten, werden durch die mit allerdings angekündigte Fokussierung auf einen bisher nicht berücksichtigten Aspekt eingeschränkt bzw. verhindert.
Ml:
nur noch etwa se"chs kilometer *
Ml:
belgien zu laufen bis zum ziel- * des marathonlaufes * der
Ml:
neunten europameisterschaften
Ml:
ort der ja berühmt geworden ist durch den läufer von marathon
Ml:
der von dort aus seine botschaft nach athen getragen haben
Ml:
so"ll- es ist ja nicht historisch nachgewiesen- erfolgte der
Ml:
Start- * und * gaston rolands hat jetzt eine strecke von mehr
Ml:
als zwanzig kilometer allei'n an der spitze laufend
-> Ml:
hat gaston rolands aus
in athen * in- * ma"rathon dem-
zurückgelegti allerdings- er wird verfolgt«-» * von dem
Ml:
engländer ron hill- der nu"r noch etwa fünfzig Sekunden hinter
Ml:
gaston rolands zurückliegt-
(FKO/XGB)
Die Äußerung, die dem Operator allerdings vorausgeht, baut eine bestimmte Erwartung auf: Wenn in einem Marathonlauf sechs Kilometer vor dem Ziel ein Läufer an der Spitze ist, der diese Spitzenposition schon zwanzig Kilometer lang innehat, dann ist die Möglichkeit seines Sieges nahe liegend. Diese Erwartung schränkt der Sprecher ein, indem er ein Faktum nennt, das den wahrscheinlichen Sieg möglicherweise gefährden könnte: allerdings- er wird verfolgt * von dem engländer ron hill- der nu"r noch fönfiig Sekunden hinter gaston rolands zurückliegt
18
Tatsächlich wird am Ende Ron Hill der Sieger dieses Marathonlaufes sein.
Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache
221
Das Umorientieren der geweckten Erwartungen geschieht dadurch, dass ein Aspekt eingeführt wird, der bisher nicht im Fokus stand oder der bisher nicht genügend berücksichtigt wurde. Aufgrund des neu eingeführten Aspekts muss die Aussage der vorhergehenden Äußerung bzw. die Erwartung, die mit ihr geweckt wurde, eingeschränkt werden. Was im Skopus steht, d. h. wodurch genau die vorher geweckten Erwartungen gebremst werden, kann mehr oder weniger nahe liegend sein; dieser Prozess korrespondiert mit alltagsweltlichen Erfahrungen. 5.3
Obwohl
Obwohl nimmt in der Gruppe der Elemente, die wir als Gegensatzoperatoren bezeichnen, insofern eine besondere Rolle ein, als es grammatisch aus der Gruppe der subordinierenden Konjunktionen stammt, also normalerweise die Verbletztstellung in der folgenden Äußerung fordert. Da der angestammte Platz für obwohl von vornherein das Vor-Vorfeld ist (im Gegensatz zu allerdings, immerhin, bloß, nur und auch aber), bedarf es einer besonderen Markierung der für die Operator-Skopus-Struktur geforderten Zweigliedrigkeit. Diese Zweigliedrigkeit ergibt sich dann, wenn auf obwohl eine Äußerung mit Verbzweitstellung folgt, d. h. nur in diesen Fällen ist obwohl ein Operator in unserem Sinne. Diese Eigenschaft teilt obwohl mit weil, und beide Konjunktionen werden auch oft im Zusammenhang behandelt, wenngleich sich die meisten Arbeiten auf das weil mit Veibzweitstellung konzentrieren und obwohl - wenn überhaupt - nur am Rande erwähnen (z. B. Küper 1991, Wegener 1993).1® In einer neuen Arbeit, die sich speziell mit obwohl beschäftigt (Günthner 1999), werden die Funktionen von obwohl mit Verbzweitstellung aufgeführt, die sich auch aus unseren Beispielanalysen ergaben: Indizierung von Perspektivenwechseln bzw. Korrekturen. Während Äußerungen mit nachfolgendem obwohl und Verbletztstellung trotz der Konzession, d. h. der Einräumung eines unerwarteten Sachverhalts, ihre Gültigkeit behalten, ist das bei nachfolgendem obwohl in Operatorposition anders. Eine Äußerung mit obwohl und anschließender Verbzweitstellung ist mindestens ebenso gültig wie ihre Vorgängeräußerung bzw. schränkt sogar deren Gültigkeit ein. Günthner (1999: 9) spricht von einer 19
Ein Grund dafür, dass vor allem weil mit Verbzweitstellung im Mittelpunkt der Betrachtung steht, mag der schlichten Tatsache geschuldet sein, dass weil rein statistisch um ein Vielfaches häufiger auftritt als obwohl. Ein Vergleich in einem Korpus von ca. 1,1 Millionen Wörtern ergab ein Verhältnis von 14 zu 1. In schriftlichen Korpora kommt obwohl zwar verhältnismäßig häufiger vor, liegt aber auch hier weit unter dem Vorkommen von weil. Eine mögliche Ursache für die ungleich höhere Frequenz von weil liegt vielleicht darin, dass die deutsche Sprache viel weniger lexikalische Elemente zur Begründungsmarkierung ausgebildet hat als solche, die einen Gegensatz anzeigen, d. h. dem Sprecher stehen für die Gegensatzmarkierung mehr Wahlmöglichkeiten zur Verfugung.
222
Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler
.diskursfunktionalen Aufwertung' der o6woA/-Äußerung. Die Äußerungen Ich komme mit ins Kino, obwohl ich eigentlich keine Lust habe und Ich komme mit ins Kino, obwohl - ich habe eigentlich keine Lust unterscheiden sich dadurch, dass im ersten Fall das Mitgehen ins Kino trotz Unlust unbestritten ist, während im zweiten Fall das Mitgehen unsicher wird; der Aspekt der Unlust wird nicht mehr nur eingeräumt, sondern er bekommt einen eigenen Wert, der möglicherweise die davor geäußerte Absicht korrigiert. Der Operator obwohl signalisiert also einen Wechsel der Perspektive, der die Gültigkeit der zuvor gemachten Äußerung in mehr oder weniger starkem Maße einschränkt, wie es an den folgenden Beispielen zu sehen sein wird.
670 HM:
aber
jeder von
uns
so
im affekt
|vmd
| da
sitzt
man
671 JS:
wütend |mhmJ|
672 K&
KURZES HUSTEN IM PUBLIKUM
673 HM: an der Schreibmaschine und will eigentlich in frankfurt 674 HM: seine ruhe haben über das was in münchen passierten denn 675 HM:
pass/
676 K —•677 HM:
läuft/
unterläuft
einem
so=ne formulierung
auch
obwohlt HOLT LUFT in so=m
678 K 679 HM:
vielleicht
schon
mal
SCHNIPPT MIT DEM FINGER fall
* muss man
BLÄTTERT sich
des-n
bisschen
680 K
überlegen!
HOLT
LUFT
herr
schulze
BLÄTTERT
681 HM: melling- * sie sind unser juristischer fachmann der uns 682 HM: 683 K
immer
wieder
*
ein
klein wenig BLÄTTERT
zur
seite
sch*pringen
(3002.082) HM ist Moderator einer Talkshow, die sich mit dem Thema Nachbarschaftsstreitigkeiten beschäftigt. Eine Mieterin hat im Zusammenhang mit solchen Streitigkeiten einen ihrer Meinung nach diffamierenden Brief von ihrem Vermieter erhalten. Beide sind in der Talkshow anwesend und hatten bereits Gelegenheit, die Dinge aus ihrer jeweiligen Sicht darzustellen. An dieser Stelle resümiert und bewertet der Moderator das Verhalten des Vermieters, bevor er das Wort dem Fachmann übergibt. Zunächst zeigt er Verständnis für den Vermieter, indem er dessen Verhalten als eine Affekthandlung darstellt, die jedem passie-
223
Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache
ren könne (Z.670-677). Mit obwohl wird angezeigt, dass jetzt die Perspektive geändert wird. Die nächste (selbständige) Äußerung in so=m fall * muss man sich des=n bisschen überlegen nimmt das vorher geäußerte Verständnis zumindest teilweise zurück und bleibt als die eigentlich gültige Aussage stehen.20 Nicht immer läuft der durch den Operator obwohl angezeigte Perspektivenwechsel auf eine vollständige Korrektur des vorher Gesagten hinaus. Auch einfache Einschränkungen oder Relativierungen sind möglich.
481 GE: 482 K
a h m i r kumme g a r net mehr dursch-1
a-=war ä bissl engl
ZITIERT
483 IN:
-* 484 6E:
LACHT
>s=war ä bissl eng!< * obwohl * im kaisersaal * w a r = s
485 IN: jai
486 GE: n o " c h e n g e r !
(2001.15a) Eine Frau erzählt von einer Feier. Ihre Einschätzung der Örtlichkeit s=war ä bissl eng wird durch die Aussage obwohl * im kaisersaal war=s noch enger nicht außer Kraft gesetzt, nur in gewissem Sinne relativiert. Nicht nur die eigenen Äußerungen, auch die der Kommunikationspartner lassen sich einschränken bzw. korrigieren. Wenn diese Nichtübereinstimmung mit den Äußerungen der Kommunikationspartner durch obwohl angezeigt wird, ist dies nach Günthner (1999: 16) gesichtsschonender als es bei anderen sprachlichen Markierungen der Fall wäre: .Obwohl' eignet sich insofern als Vorlaufelement einer Nichtübereinstimmung, als es keinen expliziten Dissens (wie ,nein' oder ,stimmt nicht') markiert, sondern aufgrund der potentiellen Zugeständnisoption (des rhetorischen Einräumungscharakters) eine abgeschwächte Dissensmarkierung darstellt.
Tendenziell gilt, dass durch den Operator obwohl ein Perspektivenwechsel angezeigt wird und die Sprecher ihre zuvor gemachten Äußerungen in irgendeiner Weise korrigieren,
20
In diesem Fall wäre es nur schwer möglich, die oftwoW-Äußerung mit Verbletztstellung zu formulieren, d. h. sie ließe sich nicht ohne weiteres in eine Einräumung in Bezug auf die vorangegangene Äußerung umwandeln, da nicht beide Äußerungen gleichzeitig Gültigkeit haben können. Sie sind nur in ihrem Nacheinander als Perspektivenwechsel formulierbar.
224
Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler
während bei Äußerungen mit obwohl und Verbendstellung die vorangegangene Äußerung uneingeschränkt weiter Gültigkeit hat. Was Wegener (1993) für das Vorkommen von weil mit Verbzweitstellung in schriftlichen Texten schreibt, dass nämlich das Phänomen nur dort auftaucht, wo Mündlichkeit simuliert werden soll, trifft (bisher) auch für obwohl mit Verbzweitstellung zu. Beispiele finden sich u. a. in der Belletristik bei der Darstellung von inneren Monologen („Das rote Gesicht hat er nicht vom hohen Blutdruck, obwohl, er hat zu hohen. "21) oder wenn mündliche Rede zitiert wird („Diesmal hat sie 50 Karten fiir Freunde reserviert (.obwohl, die müssen auch zahlen.') und singt dann nochmal Anfang Januar im Prater. "22). Der Korrekturvorgang durch die o£woA/-Äußerung in schriftlichen Texten unterscheidet sich der Tendenz nach etwas von der Korrektur der eigenen zuvor gemachten Äußerung, die sich aus dem Nacheinander der gesprochenen Sprache ergibt. Bei den hier aufgeführten schriftlichen Beispielen sind es eher Korrekturen von nicht gewollten Schlussfolgerungen, die der Hörer aus dem Gesagten ziehen könnte und denen man vorbeugen will, weniger die Korrektur der Vorgängeräußerungen selbst, die hier ihre Gültigkeit weitgehend behalten.
6.
Entwicklungstendenzen
6.1
Expansion
Die Operator-Skopus-Struktur ist sprachgeschichtlich zwar keineswegs neu23, aber ihr Gebrauch scheint gegenwärtig stark zuzunehmen, nicht nur im Mündlichen, sondern auch in schriftlichen Texten. Die Expansion betrifft sowohl die Tatsache, dass dieser Typ von Konstruktion bei immer mehr Ausdrücken möglich wird, wie auch, dass bei den einzelnen Ausdrücken der Anteil der Operatorverwendung (gegenüber den integrierten bzw. syndetischen Gebrauchsweisen) größer wird: Während z. B. bei den Geltungsadverbialia die Operator-Skopus-Struktur für Ausdrücke, die eine hohe bzw. relativ hohe Sicherheit anzeigen (sicher, gewiss, kein Zweifel), 21 22 23
Gabriele Wohmann (1995): Aber das war noch nicht das Schlimmste. München: Piper, 67. taz, die tageszeitung, 21.12.1996 Operator-Skopus-Strukturen finden sich schon in fhihneuhochdeutschen Texten. Eine Auswertung des Korpus von Schildt, auf dessen Grundlage er die Entwicklung des deutschen Modalwortbestandes von 1570 bis 1730 untersucht hat (vgl. Schildt 1992), erbrachte z. B. sechs Geltungsadverbialia, die auch in Operatorposition verwendet wurden. B. Kraft ermittelte dabei folgende Häufigkeiten:fiirwa(h)r(11 von 22 Vorkommen in Operatorposition), gewißlich (2 von 50), wahrhaf(f)tig (4 von 7), in Wahrheit (1 von 5), warlich (6 von 20), ohne Zweifel (1 von 47). Darüber, ob Operator-Skopus-Strukturen zu dieser Zeit auch ein Phänomen der gesprochenen Sprache waren, können aus Datengründen keine Aussagen gemacht werden.
225
Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache
etabliert ist und auch deutlich häufiger wird (s. u.), so zeigen sich bei Ausdrücken, die eine geringere Sicherheit indizieren (vielleicht, wahrscheinlich), bisher nur vereinzelte Vorkommen dieser Konstruktion. Wir vermuten allerdings, dass auch bei diesen Ausdrücken der Gebrauch als Operator häufiger werden wird. Die quantitative Zunahme über die Zeit bei einzelnen Ausdrücken (hier für weil in Operatorverwendung, also mit Verbzweitstellung) zeigt exemplarisch Tab. 1:
Korpus
Zeitraum
Textwörter
1. Gesamtzahl
Weil 2. Operatorgebrauch
FR24
1966-72
697.852
32725
1
0,3
PF
Anfang 60er 1968-72, 1974-77
676.339
830
3
0,4
227.809
46
1
2
1980
64.963
64
9
14
1983-86 1993
378.529
470
41
9
1988-89
76.307
4219
54
1989-96
115.501
161
50
2.237.300
2119
159
DS BG (Arzt/ Genetisch) SG EK (1. Erh.) GF (8 Transk.) Summe
3. Operatorgebrauch in %
*
Tab. 1: weil in mündlichen Korpora
3
'
•
Die betrachteten, zeitlich aufeinander folgenden Korpora gesprochener Sprache sind zwar hinsichtlich der Gesprächstypen nicht homogen, jedoch kann die Zunahme nicht allein durch diese Unterschiedlichkeit der Gesprächsformen erklärt werden. Mit diesen Zahlen
24
25
Die Abkürzungen beziehen sich auf folgende gesprochensprachlichen Korpora des Instituts für Deutsche Sprache, die im Deutschen Spracharchiv (DSAv) zusammengefaßt sind (vgl. die Korpusliste unter (http://www.ids-mannheim.de/dsav/korpora/korpusliste.htmn: FR: Grundstrukturen: Freiburger Korpus (auch unter COSMAS I recherchierbar als 8.2 fko Freiburger Korpus), PF: Deutsche Umgangssprache: Pfeffer Korpus (COSMAS I recherchierbar als 7.1 pfe PfefferKorpus), DS: Dialogstrukturen (COSMAS I recherchierbar als 8.3 dsk Dialogstrukturenkorpus), BG: Beratunggsgespräche, SG: Schlichtungs- und Gerichtsverhandlungen, EK: Elizitierte Konfliktgespräche zwischen Müttern und jugendlichen Töchtern, GF: Gespräche im Fernsehen: Talkshows, Diskussionen, Interviews. Die Werte für FR und DS gehen auf Pasch (1997) zurück. Sie betreffen nicht die gesamten Korpora, sondern nur eine Auswahl.
226
Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler
dürfte auch deutlich sein, dass es sich um eine reale Zunahme handelt und dass die Erklärung, dass sich sprachkritische Öffentlichkeit und Linguistinnen dieses Phänomens nur bewusster würden, nicht ausreicht. Weil Korpus
Zeitraum
Textwörter
1. Gesamtzahl
2. Operator-
3. Operator-
gebrauch
gebrauch In %
bzk
1949-74
3.148.628
2.574
.
-
hbk
1985-88
10.864.773
8.873
5
0,06
mmm
1989,'96
27.133.375
11.412
3
0,03
Spiegel
1993-94
8.109.077
6.142
3
0,05 0,1
26
taz(neo)
1991-98
111.168.100
93.196
134
zeit
1995-97
16.965.336
13.539
11
0,1
Summe
1949-98
177.389.289
135.736
156
0.1
Tab. 2: weil in schriftlichen Korpora Tab. 2 zeigt entsprechende Auswertungen für weil in schriftsprachlichen Korpora. Sie macht deutlich, dass weil mit Verbzweitstellung dort nach wie vor nicht in relevanter Weise auftritt. Bei anderen Ausdrücken hingegen ist eine deutliche Zunahme der OperatorSkopus-Konstruktion im Schriftlichen zu verzeichnen. So kommt der (zufällig ausgewählte) Ausdruck kein Zweifel im Bonner-Zeitungs-Korpus aus den Jahren 1949-1974 (bzk; .Neues Deutschland' und .Welt') in 3,15 Mill. Textwörtern 41 mal vor, davon 9 mal, also in ca. 22% der Fälle, in Operatorverwendimg. In den Ausgaben der .Zeit' aus den Jahren 1995-1997, die 17 Mill. Textwörter umfassen, finden sich hingegen 232 Vorkommen von kein Zweifel, 150 davon, entsprechend ca. 65%, in Operatorverwendung. Festzustellen ist also eine Verdreifachung des Anteils. Ausgehend vom mündlichen Bereich dringt die Operator-Skopus-Struktur zunehmend in bestimmte schriftliche Textsorten ein (vor allem Kommentare, Feuilletonartikel, Überschriften, durchaus aber auch in wissenschaftliche Texte). Sie dient u. a. zur Konnotierung eines pointierten, strukturierten und lakonischen Schreibstils. Diese vermehrte Verwendimg von Operator-Skopus-Strukturen in schriftlichen Texten hat - im Zusammenspiel mit der Übernahme weiterer Phänomene - dazu geführt, eine Tendenz der Vermündlichung 26
Es handelt sich um folgende schriftsprachliche Korpora des Instituts für Deutsche Sprache (alle mittels COSMAS I recherchierbar): bzk: 2.23 Bonner Zeitungskorpus, hbk: 2.8 HandbuchKorpora, mmm: 2.15 Mannheimer Morgen, Spiegel: 2.12 Der Spiegel, taz: 2.11 die tageszeitung, zeit: 2.10 Die Zeit.
Operator-Skopus-Strukluren in gesprochener Sprache
227
der schriftlichen Syntax zu konstatieren [vgl. schon Ortner (1983: 116), neuerdings insbesondere Sieber (1998) mit seiner Parlando-These sowie Sturm (1998)]. Operator-Skopus-Strukturen werden im schriftlichen Medium in der Regel als Einheit wiedergegeben, die nach einem Punkt beginnt und mit einem Punkt abgeschlossen wird. Ihre interne Zweigliedrigkeit wird durch Interpunktionszeichen verdeutlicht: am häufigsten durch den Doppelpunkt, aber auch durch Komma oder Bindestrich. Im Gegensatz dazu stellen die Realisierungsformen im Mündlichen, was die Deutlichkeit der Markierung der Zweigliedrigkeit angeht, eher ein Kontinuum dar.27 Die strukturelle Transparenz und die Evidenz der Zweigliedrigkeit im schriftlichen Bereich wirkt dann ihrerseits im Sinne einer deutlicheren Konturierung auf die Vorkommen dieser Struktur im Mündlichen zurück. Die Ausweitung des Vorkommens von Operator-Skopus-Strukturen (gegenüber den integrierten bzw. syndetischen Formen) ordnet sich ein in eine allgemeinere Tendenz der Bevorzugung markant zweigliedriger Einheiten in gesprochener Sprache. So scheinen die Referenz-Aussage-Strukturen28 (.Linksversetzungen', freie Themen) ebenfalls deutlich zu expandieren (vgl. Altmann 1981, Selting 1993, Scheutz 1997). Sie besitzen formal bestimmte Gemeinsamkeiten mit Operator-Skopus-Strukturen - eben die auffällige Zweigliedrigkeit sowie die Kurz-Lang-Verteilung - unterscheiden sich funktional aber deutlich von ihnen. Während bei Operator-Skopus-Strukturen der Operator dem Hörer eine Verstehensanweisung für die folgende Äußerung gibt, entsteht die Zweigliedrigkeit der ReferenzAussage-Strukturen durch die Dissoziation von Referenzakt und Prädikation bzw. von Themeneinführung und Aussage zu dem betreffenden Thema. Während diese Komponenten üblicherweise in einem Satz integriert sind (Die Brigitte kann ich schon gar nicht leiden.) oder auf zwei eigenständige Einheiten verteilt werden (Wenden wir uns nun der Landeföhre zu. Selbst wenn alles in Ordnung geht, wir haben sie dann immer noch nicht richtig ausprobiert auf dem Mondboden.), wählen die Referenz-Aussage-Strukturen den Mittelweg einer markant zweigliedrigen Einheit: Die Brigitte - die kann ich schon gar nicht leiden, bzw. und auch die Lande.föhre, + selbst wenn alles in Ordnung geht+, wir haben sie dann immer noch nicht richtig ausprobiert auf dem Mondboden (xbd; Texte gesprochener deutscher Standardsprache I: 114). Ebenso wie bei den Operator-SkopusStukturen ist die Ausgangsdomäne für die Expansion der Referenz-Aussage-Strukturen der Bereich des Mündlichen, von wo aus beide Strukturen in den schriftsprachlichen Gebrauch übernommen werden. Jedoch scheint die schriftsprachliche Akzeptanz von Referenz-Aussage-Strukturen im Moment geringer zu sein als die von Operator-Skopus-Strukturen. 27
28
Die Zweigliedrigkeit wird zwar immer durch die sog. Vor-Vorfeldstellung des Operators gekennzeichnet, sie kann aber durch prosodische Mittel in einem sehr unterschiedlichen Ausmaß zusätzlich verdeutlicht werden. Der Begriff ,Referenz-Aussage-Strukturen' ist ein Versuch, den in der Literatur üblichen, aber unzutreffenden Ausdruck,Herausstellungen' zu ersetzen.
228
Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler
Fragt man, ob es sich bei den Operator-Skopus-Strukturen um eine vorübergehende Mode des Formulierens handelt oder ob sie einen funktionalen Mehrwert besitzen, der diesem Sprachwandelphänomen Dauer verleiht, so wäre unsere Prognose, dass sie sich etablieren werden. Beim Operatorgebrauch wird gegenüber der integrierten Verwendung dieser Ausdrücke der unterschiedliche Status der beiden Komponenten, also von verstehensanleitendem Ausdruck und Bezugsäußerung, und der Bezugsbereich des Operators deutlicher gekennzeichnet. Die unterschiedliche Funktionalität der beteiligten Komponenten wird durch die Form repräsentiert und damit äugen- bzw. ohrenfälliger. Insgesamt trägt die Dissoziation zur strukturellen und funktionalen Transparenz und damit zur Verständnissicherung bei. 6.2
Konstruktionsprinzipien
Die Operator-Skopus-Struktur ist per definitionem eine zweigliedrige Struktur - bestehend aus dem Operator und der Äußerung in seinem Skopus. In der Kommunikation ist es wichtig, diese formale Eigenschaft der Zweigliedrigkeit kenntlich zu machen und die jeweilige Funktion der beiden Bestandteile (als Operator bzw. Bezugsäußerung) zu verdeutlichen. Fragt man, wie diese Zweigliedrigkeit - strukturell, nicht historisch - zustande kommen und als spezifische markiert werden kann, so lassen sich einige Prinzipien benennen, die dies bewirken. Die Zweigliedrigkeit der Operator-Skopus-Struktur kann Resultat entweder der Zusammenrückung zweier selbständiger Einheiten oder der Dissoziation einer Einheit in zwei Bestandteile sein. Zusammenrückung liegt vor, wenn die eigenständigen Aussagen wie Ich gebe dir ein Versprechen, und Ich werde morgen kommen, zu beispielsweise Ich verspreche, ich werde morgen kommen, oder Versprochen - ich werde morgen kommen, zusammengezogen werden. Für die Zusammenrückung ist kennzeichnend, dass ein Bestandteil der Operator - dabei verkürzt bzw. komprimiert wird und dass die Verbindung der Teile formal nur durch Asyndese gekennzeichnet ist. Wird hingegen eine vorgängige Einheit in zwei deutlich separierte Bestandteile aufgespalten, liegt Dissoziation oder Desintegration vor: Er ist ohne Zweifel ein guter Sänger, wird auf diese Weise zu Ohne Zweifel, er ist ein guter Sänger. Die Zweigliedrigkeit dieser Struktur wird durch die Vor-Vorfeldstellung des desintegrierten Elements und/oder durch prosodische Mittel gekennzeichnet. Dabei ist wichtig zu sehen, dass nur kurze oder formelhafte Elemente in dieser Weise dissoziiert werden können. Die Verbindung der beiden Bestandteile ist auch in diesem Fall asyndetisch. Eine andere Form von Dissoziation oder Desintegration liegt vor, wenn abhängige Nebensätze unter Wegfall der Konjunktion die Form von abhängigen Hauptsätzen anneh-
Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache
229
men: Ich hoffe, dass er bald zur Vernunft kommt, dissoziiert so zu Ich hoffe, er kommt bald zur Vernunft. Sowohl die Verkürzung des einen Bestandteils im Fall der Zusammenrückung wie auch die Dissoziation eines Elements im anderen Fall können mit Bedeutungsveränderungen dieses Bestandteils verbunden sein. So bekommt z. B. sicher in dem Beispiel Sicher, er ist ein guter Sänger, aber ist er deshalb schon ein guter Dirigent? neben seiner die sichere Geltung der Aussage anzeigenden Bedeutung verstärkt die Funktion, die folgende Äußerung als Einräumung zu qualifizieren. Diese Bedeutung ist im integrierten Fall nicht in gleicher Stärke bzw. Deutlichkeit gegeben: Er ist sicher ein guter Sänger, aber ist er deshalb schon ein guter Dirigent? Diese Verstärkung der einräumungsanzeigenden Bedeutungskomponente findet sich bei einer Reihe von Geltungsadverbialia, wenn sie in Operatorposition stehen.29 Auch für weil und obwohl in Operatorposition (also mit folgender Verbzweitstellung) sind solche Bedeutungsveränderungen bzw. -erweiterungen beschrieben. So benennen Gohl/Günthner (1999) für weil mit Verbzweitstellung neben der Bedeutung, eine folgende Begründung anzuzeigen, als weitere Funktionen: Einleitung von Zusatzinformation, Einleitung einer narrativen Sequenz, Einleitung eines thematischen Wechsels, konversationelles Fortsetzungssignal. Obwohl in Operatoiposition zeigt nach Günthner (1999) an, dass eine (Selbst-/Fremd-)Korrektur bzw. ein Perspektivenwechsel folgt. Diese Bedeutung besitzt obwohl als Konzessivkonjunktion (also mit Verbendstellung) nicht.30 Resultat der Zusammenrückung wie auch der Desintegration ist also in beiden Fällen eine zweigliedrige Einheit, deren Bestandteile asyndetisch miteinander verbunden sind und deren einer Bestandteil kurz und deren anderer expandiert ist, wobei diese Verteilung verdeutlicht, welcher Bestandteil Operator und welcher Bezugsäußerung im Skopus ist. Die Operator-Skopus-Struktur wird also unter Anwendung weniger, genau benennbarer Prinzipien (Zusammenrückung oder Dissoziation/Desintegration, asyndetische Verbindung von Operator und Skopus, Verkürzung/Komprimierung des Operators, Markierung der Operatorfunktion durch Vor-Vorfeldstellung und ggf. prosodische Mittel, Bedeutungsmodifikation/-erweiterung des Operatorausdrucks) aus verschiedenen Ausgangsstrukturen gespeist.
29
30
Sie sind dann Teil einer umfassenderen argumentativen Struktur: Sicher - Einräumung - aber konträres/beharrendes Gegenargument. Gohl/Günthner (1999) und Günthner (1999) interpretieren diese Bedeutungsveränderungen als Resultat eines Grammatikalisierungsprozesses von weil und obwohl zu Diskursmarkem. Auer (1998: 301-303) argumentiert für eine entsprechende Grammatikalisierung von Matrixsätzen zu Diskursmarkem.
230
Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler
Operator-Skopus-Strukturen sind (standard-)grammatisch betrachtet weder prototypische Fälle des einfachen Satzes noch in eindeutiger Weise Satzgefüge.31 Versucht man sie als einfache Sätze zu verstehen, so fallt es schwer, die Rolle des Operators zu bestimmen. Zwar ist der Skopus in der Regel satzformig, der zugehörige Operator steht dann aber im Vor-Vorfeld, einer Position, bei der zumindest unterschiedliche Auffassungen bestehen, ob sie Bestandteil des .normalen' deutschen Satz ist. Der Operator lässt sich auch kaum als reguläres Satzglied auffassen. Dagegen spricht u. a. seine spezifische Leistung und die Tatsache, dass er sich häufig nicht, und wenn, dann oft nur um den Preis einer Bedeutungsveränderung an anderen Stellen in der Äußerung positionieren lässt. Eine andere Interpretation wäre, die Operator-Skopus-Struktur als Satzgefüge aufzufassen. In diesem Fall müsste man den Operator als einen im Regelfall elliptischen Matrixsatz ansehen, wobei die Verbindung der Teilsätze obligatorisch asyndetisch wäre. Eine solche Interpretation erscheint uns aber ebenso künstlich wie problematisch. Diese Überlegungen führen zu der Auffassung, in der Operator-Skopus-Struktur eine Struktur sui generis zu sehen - neben dem einfachen Satz und dem Satzgefüge. Es handelt sich bei dieser Struktur u. E. um ein spezielles sprachliches Organisations- und Konstruktionsprinzip, nämlich das von Operator und Skopus. Das Konzept von Operator und zugehörigem Skopus wird in der linguistischen Literatur vor allem bei der Analyse von Negation, sprachlichen Quantoren und Partikeln - also satzintern - verwendet. Die von uns betrachteten Ausdrücke mit Operatorfunktion kamen dabei bisher nicht in den Blick. Gleichwohl denken wir, dass das Operator-Skopus-Konzept geeignet ist, auch diese Phänomene zu erfassen. Wir gehen also von einem weiter gefassten Verständnis von Operatoren aus. Es geht uns dabei auch darum, zu zeigen, dass das Konstruktionsprinzip von Operator und Skopus bei der Organisation sprachlichen Materials weiter verbreitet ist, als es bisher deutlich geworden ist. 6.3
Leistungen der Kategorie
Fragt man, was die Neueinführung der Kategorie , Operator-Skopus-Struktur' leistet, so lassen sich u. E. folgende Gesichtspunkte anführen. Zunächst einmal fasst diese Kategorie Ausdrucksklassen und Konstruktionen unter einem gemeinsamen Dach zusammen, zwischen denen bisher keine Beziehungen gesehen wurden. So können Einzellexeme oder kurze formelhafte Wendungen im Vor-Vorfeld ebenso Operatoren in Rahmen einer
Dass sie nicht als zwei eigenständige einfache Sätze verstanden werden, belegt u.a. der oben benannte Befund, dass Operator-Skopus-Strukturen als Ganzes im Schriftlichen zwischen zwei Punkte gesetzt werden. Operator und Skopus werden demnach als zusammengehörig, zugleich aber auch als deutlich von einander abgesetzt empfunden.
Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache
231
Operator-Skopus-Struktur sein wie .Konjunktionen', denen eine Verbzweitstellung folgt, oder bestimmte Matrixsätze und performative Formeln. Diese Zusammenfassung ist auf dem Hintergrund (standard-)grammatischer Sichtweisen sehr gewöhnungsbedürftig, sie ist aber u. E. dadurch gerechtfertigt, dass alle diese verschiedenen Konstruktionen die gleichen funktionalen und formalen Eigenschaften aufweisen. Sie ist ferner auch dadurch motiviert, dass sprachlich sehr unterschiedlich realisierte Operatoren funktional äquivalent sind und eine paradigmatische Reihe bilden: So kündigen z. B. die Ausdrücke ich verspreche dir, ich verspreche, versprochen, großes Versprechen und ganz bestimmt, also performative Formeln in Form eines Matrixsatzes, ein Partizip, ein nominaler Komplex und eine Modalpartikel, gleichermaßen die Äußerung in ihrem Skopus als ein Versprechen an. Wie das Beispiel zeigt, koexistieren in dieser paradigmatischen Reihe Operatoren, die den Handlungstyp der Äußerung im Skopus benennend avisieren, mit solchen, die ihn usuell verdeutlichen. Auch Grund und weil (mit folgender Verbzweitstellung) sind in vielen Fällen funktional äquivalent und bilden eine entsprechende paradigmatische Reihe. Auf dem Hintergrund der zusammenfassenden Leistung dieser Kategorie werden auch bestimmte Entwicklungstendenzen transparent und können eingeordnet werden. Die Ausweitung des asyndetischen Anschlusses (vgl. Auer 1998: 286-289) ist so verstehbar als ein unterstützender Prozess im Rahmen der Expansion von Operator-Skopus-Strukturen. Auch die Tendenzen zur Reduktion von Matrixsätzen (vgl. Auer 1998: 301) und die zunehmende Reduktion von äußerungseinleitenden Ausdrücken {um es kurz zu sagen, kurz gesagt, kurz) lässt sich vor diesem Hintergrund als Konturierung der Operatorposition verstehen. Eine weitere Leistung der Kategorie ,Operator-Skopus-Struktur' besteht darin, dass sie aufgrund der Zusammenschau von formalen und funktionalen Eigenschaften als genuin pragmatische Kategorie konzipiert ist. Indem weder formale Eigenschaften noch funktionale Leistungen allein betrachtet werden, sondern gerade ihr Zusammenwirken betont und expliziert wird, kann ein sowohl gesprochensprachlich wie auch textlinguistisch relevantes sprachliches Phänomen rekonstruiert und kategorial erfasst werden. Dadurch, dass die Funktion des Operators bestimmt wird als vorgreifende Verstehensanweisung, die der Sprecher dem Hörer für die folgende Äußerung gibt, thematisiert die Kategorie explizit die Relation zwischen Zeichen bzw. Äußerungen und ihren Sprechern und Hörern. Sie kann deshalb im Morris'schen Sinne als pragmatisch fundierte Kategorie gelten. Last but not least erachten wir es als Leistung dieser Kategorie, dass durch sie ein neues Licht auf das sprachliche Konstruktionsprinzip von Operator und Skopus geworfen wird und es so ein wenig aus dem Schatten des klassischen Satzes rückt.
232
Birgit Barden, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler
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Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache
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Götz Hindelang Wie man können beschreiben kann. Formbezogene Analysen in einer gebrauchsorientierten Grammatik
1.
Einleitende Thesen
Einleitend sollen zunächst einige Thesen aufgestellt werden. Sie dienen dazu, die allgemeine theoretische Position dieses Beitrags zu umreißen. Nicht für alle diese Thesen wird im Verlauf der folgenden Argumentation und Darstellung explizit argumentiert werden. Vielmehr soll der ganze Beitrag einen Hinweis darauf geben, wie eine Sprachbeschreibung aussehen könnte, die sich im Rahmen einer durch diese Thesen abgesteckten Position bewegt. (i) Eine Sprachbeschreibung, die syntaktische und pragmatische Faktoren berücksichtigt, muß immer auch die Ebene der Semantik berücksichtigen. Viele Unklarheiten der Begriffsbildung und der Detailanalyse beruhen darauf, daß es Abgrenzungsprobleme zwischen semantischen und pragmatischen Aspekten eines Phänomens gibt. Weder sollte die Semantik der Pragmatik einverleibt werden, noch sollte der Versuch gemacht werden, pragmatische Probleme auf semantische zu reduzieren. (ii) Der zweifellos interessante Ansatz der konversationellen Implikaturen von Grice (1975) hat dazu geführt, daß eine zunehmende Zahl von Forschern dazu neigen, pragmatische Probleme primär als Interpretationsprobleme zu verstehen. Der Fokus wird vom Sprecher weg zum Hörer hin verlagert. Statt zu fragen: ,Was kann ein Sprecher Spl sagen, damit er in einem bestimmten Situationstyp eine bestimmte kommunikative Absicht realisieren kann?' wird nun aus der Hörerperspektive gefragt: ,Wie kann es einem Hörer Sp2, der nur die wörtliche Bedeutung der Äußerungen von Spl, einige Situationsfaktoren und die Konversationsmaximen kennt, gelingen, das zu erschließen, was Spl meint.' Die These, die hier vertreten wird, lautet: Eine Theorie des kommunikativen Handelns hat zwei Komponenten: a)
eine .Sprecherhandlungstheorie': Sie beschreibt, was ein Sprecher tun kann, um seine kommunikativen Ziele zu erreichen, und sie gibt an, mit welchen
236
b)
Götz Hindelang sprachlichen Mitteln das konventionellerweise in einer Einzelsprache geschehen kann; eine ,Hörerinterpretationstheorie': Sie beschreibt, wie ein Hörer aus dem, was der Spl geäußert hat, entnehmen kann, was Spl meint.
Beide Theorien sind gleichermaßen wichtig. Sie sollten jedoch erst dann zusammengeführt werden, wenn beide für sich ausreichend entwickelt sind. Es führt zu Problemen, wenn man versucht, die Theorie des sprachlichen Handeln in einer Theorie des Hörerverstehens aufgehen zu lassen. Im folgenden soll eine Beschreibung aus der Perspektive des Sprechers vorgenommen werden. (iii)
Mit der oben beschriebenen Hörerorientierung geht oft eine Position des Bedeutungsminimalismus1 einher. Auf der Ebene der Semantik werden möglichst allgemeine Grundbedeutungen für sprachliche Ausdrücke angesetzt. Eine Analyse gilt innerhalb dieser Beschreibungsstrategie um so eleganter, je besser es ihr gelingt, aus möglichst wenigen wörtlichen Bedeutungen eines Ausdrucks möglichst viele seiner Gebrauchsweisen abzuleiten. Als Wege von der Grundbedeutung zur Gebrauchsbedeutung verläßt man sich dabei hauptsächlich auf Schlußfolgerungssequenzen und Konversationsmaximen. Damit wird die Rolle der konventionellen Bedeutung von Ausdrücken reduziert und die Bedeutungsanalyse hin zu einer Rekonstruktion von Erschließungsprozeduren auf Seiten des Hörers verlagert. Im folgenden soll ein anderer Weg einschlagen werden. Es soll die These vertreten werden, daß sehr viele verschiedene Gebrauchsweisen von Ausdrücken konventionellerweise unterschieden werden können. Ausdrücke wie (1)
(1)
Kannst du mir mal deinen Radiergummi geben?
müssen nicht schrittweise über Ableitungsstufen aus der .wörtlichen' Bedeutung von Fragesätzen und von können abgeleitet werden (was immer die dann sein mag), sondern sie sind jedem kompetenten Sprecher/Hörer als ein bestimmtes .idiomatisches Muster' vertraut. Betrachtet man die große Zahl von idiomatischen Ausdrücken und Phraseologismen, die ein kompetenter Sprecher beherrscht, so ist es wenig plausibel, daß so häufig vorkommende Äußerungsformen wie (1) jedesmal in komplizierter Weise aus wörtlichen Bedeutungen und Kontextinformationen rekonstruiert werden müssen. Im folgenden soll also dafür plädiert werden, daß es eine ganze Reihe von konventionellen, quasi Der Begriff wurde meines Wissens zuerst von Posner (1979) gebraucht.
Wie man können beschreiben kann
237
idiomatischen Mustern zum Vollzug bestimmter Sprechakte gibt, die Sprechern und Hörem in ähnlicher Weise vertraut sind, wie sie einzelne lexikalische Elemente und deren Lesarten kennen. Im Kapitel 2 sollen nun zunächst verschiedene Beschreibungsperspektiven skizziert werden, die in der linguistischen Forschung bei der Behandlung der semiotischen Dimensionen Syntax, Semantik und Pragmatik gewählt wurden. Danach wird im Zusammenhang dieser Überlegungen ein dreistufiges Modell zu Sprachbeschreibung vorgestellt, das in Hindelang (1978) entwickelt wurde und u. a. in Graffe (1990) und Franke (1983) und (1990) aufgenommen und angewendet wurde. Auf der Ebene der Pragmatik sind die Grundeinheiten dieses Beschreibungsmodells Sprechhandlungsmuster, auf der semantischen Ebene sind es semantische Muster und auf der Realisierungsebene haben wir es mit Äußerungsformen zu tun, die durch bestimmte grammatische und lexikalische Eigenschaften beschreibbar sind. Im anschließenden Hauptteil der Arbeit wird anhand der Untersuchung der Gebrauchsweisen des Modalverbs können vorgeführt, wie innerhalb eines solchen Ansatzes auch einzelne sprachliche Elemente erfaßt und beschrieben werden können.
2.
Drei linguistische Beschreibungsperspektiven
In der Linguistik lassen sich drei zentrale Beschreibungsperspektiven unterscheiden, die sich in Ansätze von z. T. ganz unterschiedlicher sprachtheoretischer und methodischer Ausrichtung finden lassen. Diese drei Ausrichtungen sind: - die formzentrierte Beschreibungsstrategie, - die bedeutungszentrierte Beschreibungsstrategie, - die gebrauchszentrierte Beschreibungsstrategie.
2.1
Die formbezogene Beschreibungsstrategie
Bei der formzentrierten Beschreibung ist der Ausgangspunkt der Fragestellung ein formal faßbares Sprachphänomen f, z. B. eine morphologische Erscheinimg (Futur I) oder ein Modalpartikel oder eine bestimmte syntaktische Abfolgebeziehungen (,Stirnsatz', ,Kemsatz') usw. Welche Aspekte von f beschrieben werden, und in welchem theoretischen Rahmen diese Beschreibung erfolgt, ist für die Zuordnung einer Untersuchung zum formorientierten Paradigma unerheblich; d. h. eine Beschreibung der Modalpartikeln kann z. B. durchaus im Rahmen sprechakttheoretischer oder konversationsanalytischer Begrifflichkeit
238
Götz Hindelang
erfolgen, sie gilt dann als ,formzentriert', wenn die Arbeit ihren Ausgangspunkt bei der Ausdrucksseite verschiedener Partikeln nimmt, und der Reihe nach doch, schon, auch, etwa etc. in den verschiedenen Verwendungsweisen diskutiert werden, wie das etwa in Franck (1980) geschieht. Die formzentrierte Beschreibungsstrategie ist in der Linguistik sehr verbreitet. Sie findet sich zunächst in den gängigen Referenzgrammatiken (z. B. der DUDEN - Grammatik), die typischerweise nach formalen Gesichtspunkten gegliedert sind. Sie ist aber auch in anspruchsvollen Untersuchungen der unterschiedlichsten theoretischen Ausrichtungen weit verbreitet und ist vielleicht sogar die am häufigsten gewählte Beschreibungsrichtung überhaupt in der Linguistik. Die Arbeiten, die ihren Ausgangspunkt bei sprachlichen Formelementen nehmen, lassen sich nun weiter dahingehend unterscheiden, wie sie die Ebene der Semantik und die pragmatische Dimension des Gebrauchs der formalen Elemente behandeln.2 Prinzipiell sind u. a. folgende Strategien möglich:
-
-
Ein Formelement f wird nur in bezug auf anderen Formelemente f beschrieben (reine Syntax) (i) Einem Formelement f werden innerhalb einer mehr oder minder ausgearbeiteten Semantik bestimmte Bedeutungen bi ...bn zugeordnet, (ii) Ein Formelement f wird, ohne daß eine selbständige Ebene der Semantik etabliert wird, dadurch inhaltlich beschrieben, daß seine Gebrauchsweisen gi ... gn in verschiedenen Diskurs- oder Situationstypen beschrieben werden, (iii) Einem Formelement f werden zunächst innerhalb einer Semantik bestimmte Bedeutungen bi ... b„ zugeordnet; in einem zweiten Schritt werden dann den Paaren ... < fj bn> jeweils pragmatischen Gebrauchsweisen gi ... gn zugeordnet, (iv)
Die Arbeit von R.edder (1984) zu den Modalverben im Unterrichtsdiskurs läßt sich z. B. der Strategievariante (iii) zuordnen. Sie schreibt: Ich beginne demnach an der sprachlichen Oberfläche, verfolge sie jedoch - bildlich gesprochen „in die Tiefe", indem ich nach dem Zweck und der Funktionsweise dieser Ausdrücke beim sprachlichen Handeln frage. Mein Analyseziel ist also die Pragmatik einer bestimmten Ausdrucksklasse. Redder(1984: 1)
Der formzentrierte Ansatz führt zu dem, was Näf (1984: 24f.) eine .Ausdrucksgrammatik' nennt. Er stellt der Ausdrucksgrammatik, „bei der die Inhalte oder Funktionen .zerstückelt' werden", eine .Inhaltsgrammatik' gegenüber, bei der „die zusammengehörigen Formen u.U. weit voneinander entfernt aufgelistet sind". Bei der .Inhaltsgrammatik' unterscheidet er aber nicht - wie das hier vorgeschlagen wird - zwischen einer semantischen und einer pragmatischen Organisationsweise der linguistischen Untersuchung und Darstellung.
Wie man können beschreiben kann
2.2
239
Die bedeutungszentrierte Beschreibungsstrategie
Der bedeutungszentrierte Ansatz ist in der linguistischen Literatur weniger häufig zu finden; er ist aber durchaus etabliert. Ausgangspunkt der Fragestellung ist dabei ein irgendwie gefaßtes semantisches Phänomen. Exemplarisch für einen solchen Ansatz könnte man Brons-Albert (1982) Die Bezeichnung von Zukünftigem in der deutschen Standardsprache zitieren. Sie charakterisiert ihr Vorgehen wie folgt: Gefragt wird: Wie drücken Sprecher des Deutschen sich aus, wenn sie von Zukünftigen sprechen? Welche Tempora, welche Modalverben, welche Zeitadverbiale benutzen sie? Treten auch andere sprachliche Möglichkeiten, Zukunftsbezug herzustellen, auf? (Brons-Albert (1982: 9))
Dem semantisch bestimmten Gegenstand ,sich auf Zukünftiges beziehen', werden also die einzelnen formalen Realisierungsmöglichkeiten zugeordnet. Diese Ausrichtung der Analyse erinnert natürlich an die onomasiologische Beschreibung in der lexikalischen Semantik.3 Die Strategievarianten dieses Ansatzes sind u. a. folgende: Für einen bestimmten Bedeutungskomplex b¡ wird gefragt, welche Formelemente fi ... f„ zum Ausdruck von bi gebraucht werden können, (i)4 -
Für einen bestimmten Bedeutungskomplex b¡ wird gefragt, welche pragmatischen Gebrauchsweisen gi ... g„ b¡ hat, bzw. für die Menge der sprachlichen Einheiten ... wird untersucht, welche pragmatischen Gebrauchsweisen sie jeweils haben, (ii)
-
Die Fragestellungen (i) und (ii) werden kombiniert, (iii) 5
Besonders häufig trifft man auf die Variante (ii) im Zusammenhang mit der Diskussion um die sog. .Äußerungsbedeutung' an. Man geht dabei davon aus, daß man aufgrund einer
3
4
5
Für das Ahd. gibt Lühr (1997) eine Beschreibung der sprachlich-formalen Ausdrucksmöglichkeiten für die „semantischen Kategorien MÜSSEN und DÜRFEN". Eine Explikation dieser Kategorien innerhalb einer semantischen Beschreibung fehlt allerdings. Halliday (1970) folgt bei der Beschreibung der Modalverben des Englischen dieser Strategie: Er bestimmt .Modality' (und .Modulation') als semantische Größen und fragt dann, welche sprachlichen Realisierungsformen dafür im Englischen zur Verfügung stehen. Halliday (1970: 336) schreibt: „We have had to identify the CATEGORIES of modality and show how these are realized; and the realization involves some fairly complex syntagmatic and paradigamtic patterns of relationship." Brons-Albert (1982) entspricht im wesentlichen der Variante (i). Wenn man keine großen Ansprüche an eine pragmatische Beschreibung hat, könnte man die Untersuchung auch der Variante (iii) zuordnen, da in Brons-Albert (1982: 74-76) auch Aussagen darüber gemacht werden, welche Sprechakte (in welcher statistischen Häufigkeit) dadurch vollzogen werden, daß der Sprecher sich auf etwas Zukünftiges bezieht.
240
Götz Hindelang
bestimmten Theorie der Satzsemantik eine gesicherte .wörtliche Bedeutung' eines Syntagmas angeben kann und fragt nun, was man mit dieser Satzbedeutung in verschiedenen situativen Gebrauchskontexten alles meinen könnte. Diese Betrachtungsweise spielt eine Rolle bei allen Untersuchungen, die sich indexikalischen Ausdrücken zuwenden, bei einer ganzen Reihe von sprechakttheoretischen Arbeiten, die interpretativ vorgehen wobei sie von der Äußerungsform auf den illokutionären Akt eines Sprechers schließen wollen und bei allen Überlegungen, die sich an dem von Grice etablierten Modells der konversationeilen Implikaturen orientieren, (vgl. z. B. Rolf 1994) Die in diesem Zusammenhang gängigen Überlegungen sollen anhand des Beispiels (2) näher erläutert werden. (2)
Ich muß morgen um 5 Uhr aufstehen.
Nach Auffassung von Kratzer (1978: 9f.) verstehen wir die ,Bedeutung' von (2), wenn wir die Äußerung ohne weitere Kontextinformationen irgendwo sehen oder hören; wir sind aber - in Kratzers Redeweise - nicht in der Lage zu wissen, was damit .gesagt' wurde (also die ,Äußerungsbedeutung' zu erkennen). Das ist auch leicht einsichtig, weil wir nicht wissen, wer früh aufstehen muß, wenn wir den Sprecher von (2) nicht identifizieren können. Wir wissen auch nicht, an welchem Tag deijenige um 5 Uhr aufstehen muß oder mußte, wenn wir keine Informationen darüber haben, wann (2) geäußert wurde. Weiterhin können wir (2) ohne weiteren Kontext auch nicht entnehmen, ob der Sprecher aufstehen muß, weil es seine Pflicht ist, oder weil ihn sein eigener starker Wunsch oder eine entsprechende Disposition dazu treibt. (2a) (2b) (2c)
Ich muß morgen um 5 Uhr aufstehen. Befehl ist Befehl! Ich muß morgen um 5 Uhr aufstehen. Die totale Mondfinsternis will ich mir nicht entgehen lassen. Ich muß (morgen) um 5 Uhr aufstehen. Ich halte es nie länger im Bett aus.
Wir können auch in einem noch weitergehenden Sinne ,nicht verstehen, was gesagt wurde'. Wenn wir z. B. nicht wissen, daß (2) eine Entgegnung auf (3) ist, kann man (2) nicht entnehmen, daß der Sprecher damit eine ABLEHNUNG eines VORSCHLAGS formuliert. (3)
Hast du keine Lust, mit mir heute in die Spätvorstellung von,Spiel mir das Lied vom Tod' zu kommen?
Searle (1975) hat vorgeführt, wie er sich vorstellt, daß sich ein Hörer Spl, der (2) als Entgegnung auf seinen VORSCHLAG (3) hört, erschließen kann, daß der Sprecher Sp2 von (2) seinen Vorschlag ablehnt und ihm nicht nur einfach was über seine Planungen für den nächsten Tag mitteilt.
Wie man können beschreiben kann
241
Allen bedeutungszentrierten Ansätzen, die sich um die Beschreibung von .Äußerungsbedeutungen' bemühen, ist gemeinsam, daß sie die Semantik als Ausgangspunkt ihrer Analyse wählen und von da aus zur Beschreibimg des Gebrauchs in Situationen übergehen, sei es nun innerhalb einer Semantik, in der Pragmatik semantisiert wird (wie bei Kratzer (1978))6 oder durch den Anschluß an interpretativ ausgerichtete pragmatische Konzeptionen wie denen von Grice (1975) oder Sperber/Wilson (1986). 2.3
Die gebrauchszentrierte Beschreibungsstrategie
Der gebrauchszentrierte Ansatz geht bei der Organisation der linguistischen Beschreibung von pragmatisch oder kommunikativ bestimmten Größen aus. Solche pragmatischen Einheiten können Sprechakte, Verhaltens- oder Handlungsmuster, kommunikative Ziele, Situationstypen, Gesprächs- oder Textsorten usw. sein. Als Begriff, der alle diese Möglichkeiten umschließt, soll hier der Ausdruck ,Gebrauchstyp' g verwendet werden. Die einzelnen Theorieansätze innerhalb dieser Ausrichtungen differieren nicht nur hinsichtlich der Auffassung davon, welche Gebrauchstypen für die linguistische Beschreibung als Ausgangspunkt gewählt werden, sie unterscheiden sich auch darin, welche Rolle die Semantik und die Syntax innerhalb ihrer Konzeptionen spielen. Abgesehen von der inhaltlichen Bestimmung der Gebrauchstypen lassen sich u. a. folgende Strategievarianten unterscheiden: -
6
Für einen bestimmten Gebrauchstyp g (oder eine Menge von Gebrauchstypen gi ••• gn) werden empirisch sprachliche Realisierungsformen gesammelt. Das so entstandene Korpus wird daraufhin untersucht, welche Formelemente f| ... f„ besonders typisch für g sind, bzw. wie sich gi ... gn hinsichtlich des Vorkommens bestimmter Formtypen unterscheiden, (i)
In ihrer Beschreibung der Modalverben folgt Kratzer (1978) einer Strategie, die bei den semantikzentrierten Ansätzen dem Typ (ii) entspricht. Sie geht bei den Modalverben können und müssen von einer einheitlichen Semantik aus; d. h. sie unterscheidet z. B. nicht zwischen einem epistemischen und einem deontischen Gebrauch der Modalverben. Diese Unterscheidungen werden durch die Einfuhrung von ,Redehintergründen' geleistet, die die entsprechenden Kontextinformationen liefern. (Vgl. Kratzer 1978: 108-112). Diese Redehintergründe sind Mengen von Propositionen bzw. Funktionen von möglichen Welten in Mengen von Propositionen. Ein Satz der Form (kann, a) ist dann wahr, wenn die nicht-modalisierte Proposition a logisch verträglich ist mit dem entsprechenden Redehintergrund, d. h. der Menge der Propositionen, die in dieser Welt die Äußerungssituation von a darstellen. Interessant ist hier, daß die Semantik von können reduziert wird auf ,ist logisch verträglich mit', die von müssen auf .folgt logisch'. Der Rest der Beschreibungslast wird den Redehintergründen aufgebürdet. Diese werden aber leider nicht explizit entwickelt.
242
-
Götz Hindelang Für einen bestimmten Gebrauchstyp g, wird gefragt, welche Formelemente fi ... f„ zum Ausdruck von g gebraucht werden, (ii) Für einen bestimmten Gebrauchstyp gi wird gefragt, welche Bedeutungskomplexe bi .... b„ beim Vollzug von gi eine Rolle spielen und durch welche Formelemente < f h bf> ... < f„, bf> für bi ... b„ jeweils für den Gebrauchstyp gi möglich sind, (iii)
Als typisches Beispiel für eine gebrauchszentrierte Untersuchung, die der Strategievariante (ii) folgt, könnte man Hang (1976) nennen. Gegenstand seiner Analyse sind Fragen - genauer gesagt Fragehandlungen - in der ,Redekonstellation' Interview in Rundfunkmagazinsendungen. Hang untersucht nun, welche einzelnen sprachlichen Formelemente wie Interrogativpronomen, Spitzenstellung des Verbs, Frageintonation, .tags' usw. in welcher statistischen Häufigkeit zur Realisierung der Fragehandlung gebraucht werden. Eine eigenständige semantische Ebene fehlt in dieser Analyse. Dem Gebrauchstyp ,Fragehandlung' werden direkt isolierte grammatische Formelemente zugeordnet.7 Die Strategievariante (iii), d. h. ein gebrauchszentrierter Beschreibungsansatz, der eine eigene semantische Ebene zwischen den ,Gebrauchstypen' und der syntaktisch-formalen Beschreibungsebene ansetzt, hat m. E. zuerst Halliday (1973) vorgeschlagen. Als ,Gebrauchstypen' setzt er in Situationstypen verankerte Verhaltensmuster an. Seine Beispiele .warning' und .thread' zeigen, daß es sich dabei um Konzeptionen handelt, die durchaus mit sprachlichen Handlungsmustern vergleichbar sind. Das Verhältnis zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik bestimmt Halliday (1973: 82) wie folgt: Grammar is what the speaker CAN SAY, and it is the realization of what he MEANS. Semantics is what he CAN MEAN; and we are looking at this as the realization of what he does.
Als Verbindung zwischen den sprachlichen Verhaltensmustern und den linguistischen Formelementen setzt Halliday (1973: 83) semantische Netzwerke an, deren Notwendigkeit er wie folgt begründet: The semantic network forms the bridge between behaviour patterns and linguistic forms. We cannot, as a rule, relate behavioural options directly to the grammar. The relationship is too complex, and some intermediate level of representation is needed through which we express the meaning potential that is associated with the particular behavioural context. It is this intermediate level that constitutes our 'sociological' semantics. The semantic network then takes us, by a second step, into the linguistic patterns that can be recognized and stated in gammatical terms.
7
Diese Strategie findet sich, häufig gerade auch in Verbindung mit einer statistischen Vorgehensweise, in den frühen Arbeiten aus dem Freiburger Projekt zur gesprochenen Sprache.
Wie man können beschreiben kann
2.4
243
Das dreistufige Modell in Hindelang (1978)
Die Verbindung einer dreistufig organisierten Sprachbeschreibung nach Halliday (1973) mit den Vorstellungen einer Sprechakttheorie bildet die Grundlage der Beschreibung der direktiven Sprechakte und deren Realisierungsformen in Hindelang (1978). Im Gegensatz zu Halliday werden dort die .Gebrauchstypen' eindeutig als sprachliche Handlungsmuster verstanden, die sich über Handlungsziele des Sprechers und entsprechende Handlungsbedingungen beschreiben lassen. Die Angabe der Handlungsmittel, d. h. der konventionellen Sprachmittel zum Vollzug der einzelnen sprachlichen Handlungen leistet ein System von semantischen Mustern', die, ganz im Sinne Hallidays, zwischen Handlungsmustern und grammatisch bestimmbaren Formelementen vermitteln.8 Den einzelnen semantischen Mustern werden die verschiedenen grammatischen Realisierungsformen zugeordnet. In der bisher gewählten Darstellungsweise kann man die Organisation der Beschreibung vereinfacht wie folgt darstellen. (4)
Einem bestimmten Gebrauchstyp gj (z. B. dem sprachlichen Handlungsmuster der BITTE, der ERLAUBNIS, der WARNUNG etc.) werden die unterschiedlichen Bedeutungskomplexe b] ... b„ zugeordnet, die bei der sprachlichen Realisierung von gi eine Rolle spielen. Für diese einzelnen Bedeutungskomplexe bj ...bn werden dann jeweils die grammatischen Formen fi ... f„ angegeben, die zum Ausdruck der Bedeutungseinheit in einer bestimmten Einzelsprache L konventionell gebräuchlich sind. So kann man z. B. im Deutschen seinen Hörer H BITTEN zu X-en indem man
Der in Hindelang (1978) entwickelte Beschreibungsansatz wurde z. T. direkt auf andere Sprechaktklassen übertragen; z. T. wurde er an andere Beschreibungsgegenstände angepaßt und erweitert. So beschreibt z. B. Graffe (1990) die kommissiven Sprechakte methodisch analog zur Analyse der direktiven Sprechakte in Hindelang (1978). Franke (1983) gibt eine Beschreibung des Sequenzmusters des INSISTIERENS und bedient sich bei der Beschreibung der Äußerungsformen des Konzepts der .semantischen Muster'. (Vgl. auch Franke 1990). Rolf (1983) wählt statt .semantischer Muster' zur Beschreibung der semantischen Besonderheiten der Außerungsformen die Angabe von Klassen von Indikatoren.
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-
Götz Hindelang sagt, daß man es gerne hätte, daß H X-t. (Ich möchte gerne, daß du mir hilfst.) sagt, daß H X-en kann. (Du könntest mir hier mal helfen.) fragt, ob H X-t. (Hilfst du mir?) fragt, ob H X-en kann. (Kannst du mir helfen?) usw.
Diesen Optionen entsprechen auf der Bedeutungsebene die semantischen Muster (5) (6) (7) (8)
[sagen, daß Spl gerne hätte, daß H X-t] [sagen, daß Sp2 X-en kann] [fragen, ob Sp2 X-t] [fragen, ob Sp2 X-en kann] usw.
Das semantische Muster [sagen, daß man gerne hätte, daß H X-t] kann man nun wieder durch ganz unterschiedliche Kombinationen von grammatischen und lexikalischen Elementen ausdrücken. Man kann z. B. sagen: (9) (10) (11)
Ich fände es {gut, toll, schön, prima...}, wenn du X-t. Ich {will, wünschen, möchte}, daß du X-t. Ich würde {mich freuen, es zu schätzen wissen, dir dankbar sein...}, wenn du {X-t, X-en würdest}.
Die Darstellung in (4) ist insofern vereinfacht, als die formale Entsprechung eines semantischen Musters in der Regel nicht aus einem einzigen grammatisch-formalen Element f„ besteht, sondern aus einer charakteristischen Kombination aus grammatischen Elementen. Betrachtet man z. B. das semantische Muster (8), so ist für seine grammatische Realisierung die Kombination aus drei formalen Elementen typisch: -
Interrogativsatzform Modalverb können Modalverb in der 2. Pers. Ind. Präs. oder 2. Pers. Konj. II.
Weiterhin wird man auch (8) auf der semantischen Ebene als einen Bedeutungskomplex ansehen müssen, d. h. als eine bestimmte satzsemantische Kombination von Bedeutungselementen. Für (8) wären dabei mindestens folgende semantische Komponenten zu beachten: -
die satzsemantische Größe,Fragebedeutung', die Semantik des Modalverbs können, die Referenz auf den Adressaten der Äußerung Sp2.
Trägt man der Komplexität der semantischen Muster und der entsprechenden Äußerungsformen Rechnung, könnte man (4) wie folgt präziseren:
245
Wie man können beschreiben kann
(12)
bi(Bu...B|j)
f.(F, i ...F lj )
b2(B2i...B2j)
f2(F2i...F2j)
b3(B3i...B3j)
f3(F3i...F3j)
b„(Bni...Bnj)
fn(Fni-"Fnj)
In (12) steht ,b|(Bn ... By)' für ein semantisches Muster b|, das aus den Bedeutungselementen Bij bis B|j aufgebaut ist. ,fi(Fn ... Fy)' steht für einen Komplex von formalen Elementen, die sich aus Fu bis Fy zusammensetzen. Dabei kann Fn durchaus identisch sein mit F2i. So werden z. B. alle grammatischen Realisierungsformen von (8) die Formqualität eines Interrogativsatzes aufweisen. In anderen formalen Aspekten werden sie sich jedoch unterscheiden. Hat man nun eine Reihe von Gebrauchstypen gi ... gn beschrieben, so kann man daran gehen, für einzelne Formelemente (oder für charakteristische Kombinationen aus formalen Elementen) zu überprüfen, in welchen kommunikativen Zusammenhängen sie vorkommen, bzw. in welchen Realisierungsformen welcher Gebrauchstypen sie auftauchen. Liegt also eine hinreichende Menge von Beschreibungen von Gebrauchstypen vor, kann man eine Variante des oben beschriebenen formorientierten Ansatzes als Beschreibungsperspektive wählen. Diese Beschreibungsstrategie könnte man wie folgt darstellen:
I
biiBn-Bij)
bi(Bi,..Bü)
gn
b„(Bnj...Bnj)
fi(Fii.../ F, ...F,j)
fi (Fii— Fx ...Fjj)
fn(Fni— Fx/ —F„j)
\J
Für die Gebrauchstypen g| ... gn wird überprüft, in welchen dieser Gebrauchstypen ein bestimmtes Formelement F, zur Realisierung der entsprechenden Äußerungsformen eine Rolle spielt. Fx wird dadurch semantisch und pragmatisch beschrieben, daß man seine
Götz Hindelang
246
Einbindung in die einzelnen Gebrauchstypen und die entsprechenden semantischen Muster aufzeigt. Vorausgesetzt wird dabei, wie gesagt, daß gi ... gn bereits nach dem in (12) skizzierten Modell beschrieben sind. Ein solches Verfahren hat Vorteile gegenüber einer Methode, die direkt mit der formbezogenen Analyse einsetzt. Die pragmatischen Einheiten sind in der Regel schwieriger zu unterscheiden und zu beschreiben als Formelemente, die als solche sehr viel leichter zu identifizieren sind. Es kommt deshalb nicht, wie bei vielen formbezogenen Arbeiten, zu einer nachlässigen oder unsystematischen Erfassung der Gebrauchstypen.9 Jedes Formelement Fx wird durch den Rückgriff auf eine gebrauchszentrierte Beschreibung immer schon mit Bezug auf den Gebrauchstyp erfaßt, zu dessen Realisierung es beiträgt. Obwohl zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht behauptet werden kann, daß alle relevanten Gebrauchstypen des Deutschen in dieser Weise beschrieben vorliegen, soll doch versucht werden, am Beispiel des Modalverbs können vorzufuhren, wie eine solche Beschreibung aussehen könnte. Die Analyse dient also in erster Linie dazu, diese Methode zu exemplifizieren. Sie wird exemplarisch an den direktiven und den kommissiven Sprechakten vorgeführt, da in Hindelang (1978) und Graffe (1990) entsprechende explizite Beschreibungen von Sprechhandlungen und Äußerungsformen vorliegen, die man auf die Verwendung von können hin durchsuchen kann. Bis zu einem gewissen Grade ist das auch für Rolf (1983) möglich. Darüber hinaus sollen auf der Grundlage von Franke (1983) auch die dritten Züge im Sequenzmuster INSISTIEREN einbezogen werden. Es wird hier also nicht beansprucht, alle Gebrauchsweisen von können lückenlos zu erfassen. Das ist - wie bereits angedeutet erst dann möglich, wenn alle Sprechaktklassen mit ihren Äußerungsformen beschrieben sind.10 Im einzelnen sollen dabei folgende Fragen behandelt werden: (i) (ii)
10
Welche Rolle spielt können als Indikator des propositionalen Gehalts? Welche sprachlichen Handlungen lassen sich durch explizit performative Äußerungen vollziehen, die durch können modalisiert sind?
Beschreibungen, die formorientiert einsetzen, haben häufig ein zu großes Vertrauen darin, daß die umgangssprachlichen Bezeichnungen wie ,Erlaubnis', .Befehl', .Vorschlag' usw. als Analysekategorien zur Bestimmung der Gebrauchstypen ausreichen. Eine gründliche und systematische Beschreibung dieser Funktionstypen wird nicht gegeben. So unterscheidet etwa der DUDEN (1998: 93f.) für können drei Varianten, die er mit .Möglichkeit', .Erlaubnis' und .Vermutung, Annahme' charakterisiert. Was aber eine .Erlaubnis' und eine .Vermutung' oder .Annahme' ist, wird nicht ausgeführt. Für andere Verwendungsweisen von können in VERBOTEN, ZURÜCKWEISUNGEN, ABLEHNUNGEN etc. sollen in 3.3.5 nur skizzenhaft einige Beispiele gegeben werden, da entsprechende detaillierte Einzeluntersuchungen dieser Sprechakte nicht vorliegen, und es der hier vorgeschlagenen Methodik eigentlich widerspricht, bestimmte Verwendungsweisen von können ad hoc einzelnen Sprechakttypen zuzuordnen.
Wie man können beschreiben kann
(iii)
247
Bei welchen sprachlichen Handlungsmuster gi... gn spielt können eine Rolle als Illokutionsindikator?
Es ist sinnvoll, die Fragestellung (ii) aus dem Themenkomplex (iii) auszugliedern, weil die Modalisierung der performativen Formel wie in (13) bei viel mehr sprachlichen Handlungen üblich ist, als z. B. die Realisierung durch semantische Muster wie (6) oder (8). (13)
Ich kann {versichern, bestätigen, bezeugen, beeiden, beschwören}, daß Karl am Montag in Köln war.
3.
Die Gebrauchsweisen von können
3.1
Können als Teil der Proposition
In der Literatur zu den Modalverben ist es üblich, bei der semantischen Beschreibung der Modalverben zwischen dem .objektiven Gebrauch' und dem .subjektiven', .inferentiellen' oder .epistemischen' Gebrauch zu unterscheiden." Beim objektiven Gebrauch wie in (14) werden, nach Hentschel/Weydt (1990: 70) .„objektiv' vorhandene Voraussetzungen oder Bedingungen für das Zutreffen der im Vollverb vorhandenen Aussage zum Ausdruck gebracht." (14a) (14b) (14c)
Fledermäuse können Ultraschall wellen wahrnehmen. Petra kann lateinische Texte fließend übersetzen. Unter soviel Druck kann der Kessel explodieren.
Beim sog. .subjektiven', ,inferentiellen' oder epistemischen Gebrauch wie in (15) bringt der Sprecher seine Einstellung zum Ausdruck, für wie gesichert er die Wahrheit, der von ihm gemachten Aussage hält. In dieser Verwendungsweise sind Modalverben nach Liedtke (1998: 214) „das klassische Mittel, um eine Behauptung abzuschwächen."12
" 12
Zu den verschiedenen terminologischen Benennungen dieses Unterschieds vgl. Hentschel/Weydt (1990: 70) und Öhlschläger (1989: 28). Liedtke (1998: 227-240) hat eine Beschreibung der „Korrelate von ,können-Sätzen"' vorgelegt. Damit meint er den illokutionären Zweck, den ein Sprecher mit einem wörtlich gemeinten Ausdruck (,Denotat') indiziert. Die vorliegende Beschreibung stimmt mit Liedtke dahingehend überein, daß die verschiedenen Gebrauchsweisen von können als Indikatoren von Sprechakten wie VORSCHLAG, ANGEBOT, ERLAUBNIS, MUTMASSUNG etc. fungieren. Liedtke (1998: 239f.) möchte allerdings von der Verbsemantik von können „über allgemeine Rationalitäts- und Konversationsprinzipien zum illokutionären Zweck" gelangen. Solche Schlußprozeduren sind im vorliegenden (vom Sprecher her konzipierten) Ansatz nicht notwendig. Welche illokutionäre Rolle eine Äußerung hat, in der können vorkommt, wird darauf zurückgeführt, daß diese
248
Götz Hindelang
(1 Sa) Der Täter kann ein Mitarbeiter der Klinik gewesen sein. (15b) Peter soll damals schon Verbindungen zur Mafia gehabt haben. (15c) Hansi dürfte an dieser Verschwörung unbeteiligt sein. (16) Arnold kann damals in den USA gewesen sein.
Mit dem Beispielsatz (16) argumentiert Liedtke (1998: 224) dafür, daß können in dieser epistemischen Verwendung dazu beiträgt, „eine illokutionäre Kraft zu indizieren", die er mit „Mutmaßung" bezeichnet. Damit ist die zentrale Funktion von können in (16) m. E. richtig beschrieben. Statt die von einer semantischen Sichtweise her bestimmten Begriffe wie ,inferentieH' oder ,epistemisch' zu verwenden, scheint es mir im Rahmen einer Analyse, die von pragmatischen Kategorien ausgeht, möglich, folgende Unterscheidimg zu treffen: Bei den Bespielen in (14) ist können Teil des „Indikators des propositionalen Gehalts" (Searle (1971: 51)), in den Beispielen (15) und (16) ist er jedoch Teil des „Indikators der illokutionären Rolle". Es gibt keinen Grand, den Gebrauch von können beim Ausdruck von VERMUTUNGEN bzw. MUTMASSUNGEN durch die Bezeichnung ,epistemisch' von anderen Gebrauchsweisen zum Ausdruck von ERLAUBNISSEN (17), BITTEN (18), VORSCHLÄGEN (19) etc. hervorzuheben, bei denen sie als Illokutionsindikatoren fungieren. (17) (18) (19)
Du kannst meinen Rasenmäher jederzeit benützen. Peter, kannst mal schnell deinen Wagen holen? Wir könnten mal wieder gemeinsam Essen gehen.
In der folgenden Untersuchung steht der Beitrag von können als Illokutionsindikator im Vordergrund. Zum Gebrauch als Teil des Indikators des propositionalen Gehalts seien jedoch einige kurze Anmerkungen gemacht. Können als Teil des Propositionsindikators hat eine ganze Reihe von Gebrauchsweisen die sich nicht wie bei Kratzer (1978) vorgeschlagen, auf eine Bedeutung reduzieren lassen. Vielmehr muß eine adäquate semantische Beschreibung, ähnlich wie bei anderen lexikalischen Elementen auch, die verschiedenen Lesarten (Bedeutungspositionen) spezifizieren, die das Modalverb als Teil des Propositionsindikators hat.13 Einige Verwendungsweisen seien hier mit den dazugehörigen Synonymengruppen bzw. entsprechenden Paraphrasen aufgeführt: (20) (20a)
13
Petra kann perfekte Vasen auf der Töpferscheibe herstellen. Petra {hat die Fähigkeit, bringt es fertig, vermag es, hat es gelernt, ist imstande dazu, ist fähig dazu, ist in der Lage dazu} perfekte Vasen auf der Töpferscheibe herstellen.
Äußerungsform als konventionelle Realisierung eines bestimmten sprachlichen Handlungsmusters ausgewiesen wird. Für eine entsprechende semantische Theorie im Bereich der lexikalischen Semantik vgl. Hundsnurscher/Splett (1981).
Wie man können beschreiben kann (21) (21a) (22) (22a) (22b)
(23) (23a) (24) (24a) (25) (25a) (26) (26a) (26b)
249
Der Kessel kann unter hohem Druck explodieren. {Es ist denkbar, möglich, nicht auszuschließen}, daß der Kessel unter hohem Druck explodiert. Wenn der Mieter mit der Zahlung der Miete erheblich in Verzug gerät, kann der Vermieter fristlos kündigen Wenn der Mieter mit der Zahlung der Miete erheblich in Verzug gerät, ist der Vermieter {berechtigt, befugt}, fristlos zu kündigen. Wenn der Mieter mit der Zahlung der Miete erheblich in Verzug gerät, ist es {rechtlich zulässig, erlaubt, statthaft, rechtens, legal, gesetzmäßig}, daß der Vermieter fristlos kündigt. Auch eine Dame kann heute einem Mann in den Mantel helfen. 14 Auch für eine Dame ist es heute {schicklich, passend, korrekt} einem Mann in den Mantel zu helfen. Peter kann sehr verletzend sein. {Mitunter, manchmal, zuweilen} ist Peter sehr verletzend. Peter konnte gehen, aber ich mußte eine Stunde nachsitzen. Peter hat man {erlaubt, gestattet} zu gehen, aber ich mußte eine Stunde nachsitzen. Für Nepal braucht man ein Visum. Das kann man sich schon in Deutschland auf dem Konsulat besorgen, man kann es aber auch erst bei der Einreise in Nepal beantragen. Für Nepal braucht man ein Visum. Dabei hat man die Wahl, es sich schon in Deutschland auf dem Konsulat zu besorgen oder es erst bei der Einreise in Nepal zu beantragen. Für Nepal braucht man ein Visum. Es gibt zwei Alternativen: Man besorgt es sich schon in Deutschland auf dem Konsulat, oder man beantragt es erst bei der Einreise in Nepal.
Sprachgeschichtliche Analysen zeigen, daß sich die Bedeutung von können historisch so entwickelt hat, daß zunächst Fähigkeiten, dann Handlungsmöglichkeiten und schließlich Möglichkeiten allgemein durch können ausgedrückt wurden. Später wurde aus der Bedeutung .Möglichkeit' dann die epistemische Möglichkeit und die Verwendung zum Ausdruck von Erlaubnissen abgeleitet. (Vgl. Fritz 1997: 31 f., 34f.) Eine solche historisch plausible Ableitung stellt aber keinen Grund dafür dar, auch synchron all diese Verwendungsweisen aus einer Grundbedeutung abzuleiten. Vielmehr sollten die verschiedenen Gebrauchsweisen von können als selbständige konventionalisierte Lesarten behandelt werden.
3.2
Können als Teil der performativen Formel
Sucht man nach Äußerungsformen mit können, bei denen es als Teil des Illokutionsindikators gebraucht wird, so findet man zunächst eine große Zahl von sprachlichen Handlungsmustern, bei denen in der explizit performativen Äußerung können zum verbum
14
Beispiele wie (22) und (23) sind hier als Informationen über bestimmte Normen zu lesen. Es wird dabei vorausgesetzt, daß dem Adressaten Informationen über diese Tatsachen fehlen. (Vgl. auch Liedtke 1998: 228, 238). Würden die Beispiele Teile von Gesetzestexten bzw. Teil einer normativen Verhaltensvorschrift sein, so müßten sie als Formen der ERLAUBNIS aufgefaßt werden. Können würde dann als Indikator der illokutionären Rolle fungieren.
250
Götz Hindelang
dicendi hinzu treten kann. Man hat diese Ausdrücke als ,hedged performatives' (Fräser (1975)) oder .modalisiert-performativ' (Hindelang (1978: 197)) bezeichnet.15 Im folgenden sollen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die wichtigsten Sprechhandlungsmuster aufgeführt werden, die man durch können + performativ gebrauchtes Verb vollziehen kann. Dabei soll nicht impliziert werden, daß jedem performativ gebrauchten Verb auch direkt ein sprachliches Handlungsmuster entspricht. So ist, um ein unproblematisches Beispiel zu nennen, sagen kein Verb, mit dem man sich auf einen illokutionären Akt beziehen kann; dennoch kann man den Akt des BEHAUPTENS oder INFORMIERENS vollziehen, indem man sagt: „Ich kann sagen, daß..."16. Beispiele wie (27) und (28) zeigen, daß es nicht beliebig möglich ist, kann oder könnte zu einer performativen Formel hinzuzufügen. In diesen Fällen verlieren die Äußerungen ihren performativen Charakter. Der Sprecher kann mit ihnen nur ausdrücken, daß er glaubt, daß die Handlungsbedingungen für einen BEFEHL oder eine VERURTEILUNG vorliegen bzw. er kann ANDROHEN, daß er BEFEHLEN oder VERURTEILEN wird. Die Handlungen des BEFEHLENS oder VERURTEILENS selbst können durch (27) bzw. (28) jedoch nicht vollzogen werden. Verwendungen in interrogativ-performativer Form wie in (29) und (30) sind zum Vollzug entsprechender Akte völlig inakzeptabel.17 (27) (28) (29) (30) 15
16
17
Ich kann Ihnen befehlen, sich die Haare schneiden zu lassen. Ich kann sie zu 2000 DM Geldstrafe verurteilen. Kann ich Ihnen befehlen, sich die Haare schneiden zu lassen? Kann ich Sie zu 2000 DM Geldstrafe verurteilen?
Etwas irreführend hat man in diesem Zusammenhang auch von .modalisierten Sprechakten' gesprochen. (Wunderlich (1983), Gloning (1997)). Die Bezeichnung ,modalisierter Sprechakt' ist deshalb nicht zutreffend, weil ja nicht die Sprechakte als Handlungen modalisiert werden, sondern die performativ gebrauchten Verben in Äußerungsformen, mit denen die Sprechakte vollzogen werden. Zwar unterscheiden sich die Gebrauchsbedingungen von performativen Äußerungen mit und ohne Modalverb - in der Regel werden die Varianten mit Modalverb gewählt, wenn man sich besonders höflich oder förmlich ausdrücken möchte - man würde den Ausdruck .modalisieren' aber in einer völlig unüblichen Weise verwenden, wenn man sagt, daß das Modalverb den Sprechakt .modalisiert'. Man könnte vielleicht behaupten, daß der Sprecher einen Sprechakt durch den Gebrauch eines Modalverbs modifiziert (nicht modalisiert). Aber auch diese Redeweise wäre problematisch, weil sie impliziert, daß der Sprecher zunächst einen anderen Sprechakt machen will, diesen dann aber modifiziert. Weiterhin muß angemerkt werden, daß einige der Verben auch mit nicht zusammen gebraucht werden können, wie in (31j) und (31k). Auf eine vollständige Angabe solcher Beispiele wurde verzichtet. Gloning (1997: 318) unterscheidet fünf kommunikative Funktionen des Gebrauchs von modalisiert-performativen Äußerungen. Er schreibt: „Die fünf Funktionstypen sind: (1) Mittel der Höflichkeit, (2) Hedge-Funktion und Redecharakterisierung (3) Themenorganisation und Kennzeichnung des Status von Beiträgen (z. B. Relevanz), (4) Annahme über Präferenzen des Hörers signalisieren, (5) Bekräftigung und Nachdruck zum Ausdruck bringen." Eine nähere Erläuterung dieser Funktionstypen gibt Gloning (1997: 318-323).
Wie man können beschreiben kann
251
Repräsentative Sprechakte (31 a) (3 lb) (31 c)
Ich kann feststellen, daß wir alle vollzählig erschienen sind. Ich kann behaupten, daß keiner soviel für unseren Verein getan hat, wie ich. Ich kann Ihnen prophezeien, daß wir mit dem Euro in 10 Jahren alle auf dem wirtschaftlichen Stand von Portugal sein werden. (31d) Ich kann Ihnen {mitteilen, verraten}, daß Sie in unserem Wettbewerb .Unser Dorf soll schöner werden' den ersten Preis gewonnen haben. (31 e) Ich kann Sie davon {benachrichtigen, informieren, in Kenntnis setzen}, daß man Sie für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen hat. (31 f) Ich kann Sie nur davor warnen, diese Optionsscheine zu kaufen. (31g) Ich kann dem nur {zustimmen, beipflichten}, was mein Vorredner gesagt hat. (31h) Ich kann {versichern, bestätigen, bezeugen, beeiden, beschwören}, daß Karl am Montag in Köln war. (31 i) Ich kann sagen, daß ich immer ein großer Bewunderer der italienischen Kunst war. (31 j) Ich kann nicht behaupten, daß ich mich sehr amüsiert habe. (31 k) Ich kann nicht bestätigen, daß Karl am Montag in Köln war. Direktive Sprechakte (32a) (32b) (32c) (32d) (32e) (32f) (32g) (32h)
Ich kann Ihnen vorschlagen, dieses Problem gemeinsam bei unserem nächsten Treffen zu besprechen. Ich kann Ihnen raten, vor dem Kauf einen Sachverständigen zu konsultieren. Ich kann Ihnen zum Sauerbraten den 1998er Sonneneck empfehlen. Ich kann verlangen, daß Sie mir den Schaden ersetzen. Ich kann Sie einladen, das Wochenende in meinem Haus an der Küste zu verbringen. Kann ich Sie bitten, das Rauchen jetzt einzustellen? Kann ich Sie einladen, das Wochenende in meinem Haus an der Küste zu verbringen? Kann ich Ihnen vorschlagen, daß wir diese Frage bei einem Gläschen Wein besprechen?18
Kommissive Sprechakte (33a) (33b) (33c) (33d) (33e) (33f)
18
Ich kann Ihnen {versprechen, garantieren, versichern}, daß sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen wird. Ich kann Ihren Antrag auf Sonderurlaub {genehmigen, bewilligen}. Ich kann Ihnen {erlauben, gestatten} Einsicht in die geheimen Akten zu nehmen. Ich kann es Ihnen freistellen, ob Sie an dieser Veranstaltung teilnehmen oder nicht. Ich kann Ihnen anbieten, Ihnen bei der Veröffentlichung Ihrer Autobiographie behilflich zu sein. Ich kann dafür bürgen, daß Hans seinen Verbindlichkeiten nachkommt.
Die Zahl der Verwendungsmöglichkeiten erweitert sich, wenn man die performative Formel um die Partikel nur erweitert wie in (i). (i) Ich kann Sie nur {bitten, anflehen}, meine Kündigung zurückzunehmen. In diesem Fall stellt die Äußerung von (i) zwar eine BITTE dar. Es liegt hier jedoch nahe, (i) im Sinne von (ii) zu interpretieren. (ii) Ich habe keine andere Handlungsmöglichkeit, Sie dazu zu bewegen, meine Kündigung zurückzunehmen, als sie darum zu bitten.
252
Götz Hindelang
(33g)
Kann ich Ihnen anbieten, Ihnen bei der Veröffentlichung Ihrer Autobiographie behilflich zu sein?
Expressive Sprechakte (34a) (34b) (34c) (34d) (34e) (34f) (34g) (34h) (34i) (34j) (34k)
Ich kann Sie zur 4. Jahrestagung der Gesellschaft für Mikrobiologie willkommen heißen. Ich kann Ihnen meinen herzlichsten Dank aussprechen. Ich kann Ihnen dazu gratulieren, daß Sie die Arbeit so erfolgreich abgeschlossen haben. Ich kann Ihnen mein aufrichtiges {Beileid, Mitgefühl} aussprechen. Ich kann Ihnen meine aufrichtige Anteilnahme aussprechen. Ich kann Ihnen meine Hochachtung aussprechen. Ich kann Ihnen das Kompliment machen, daß Ihnen Ihre Party gut gelungen ist. Ich kann Ihnen allen eine gute Fahrt und viel Vergnügen wünschen! Kann ich Ihnen meine Hochachtung für diese hervorragende Organisationsleistung aussprechen? Kann ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen? Kann ich Ihnen meinen herzlichen Glückwunsch ausdrücken?
Deklarative Sprechakte In den performativen Formeln, mit denen deklarative Sprechakte vollzogen werden, ist es in der Regel nicht möglich, die verba dicendi durch können zu modalisieren. Die deklarativen Sprechakte verlangen häufig eine genau festgelegte sprachliche Form, die nicht um zusätzliche Elemente erweitert werden können, ohne ihre institutionelle Wirksamkeit zu verlieren. Weiterhin ist auch bei den deklarativen Sprechakten, die nicht an einen bestimmten Wortlaut gebunden sind, eine entschiedene und eindeutige Formulierung notwendig. Eine Äußerung wie (35) oder (36) kann nicht gebraucht werden, um jemanden zum Oberregierungsrat zu ernennen. (35) (36)
Ich {kann, könnte} Sie zum Oberregierungsrat ernennen. Kann ich Sie zum Oberregierungsrat ernennen?
Allerdings gibt es deklarative Sprechakte, die weniger wichtige institutionelle Tatsachen schaffen, oder sich auf sprachliche Festlegungen beziehen, bei denen sich können mit dem performativen Verb verwenden läßt. (37) (38)
3.3
Ich kann die Sitzung für heute schließen. {Ich, man} kann .kommunikative Grammatik' definieren, als: „..."
können als Teil des Illokutionsindikators
Im folgenden Abschnitt sollen die Sprechakttypen aufgeführt werden, bei denen das Modalverb können als Teil des Illokutionsindikators fungiert. Es soll gefragt werden, welche Sprechakttypen man durch eines der folgenden semantischen Muster vollziehen kann:
Wie man können beschreiben kann
253
POSSIBILITÄTSHINWEIS PH 1 PH2 PH3 PH4 PH5 PH6 PH7 PH8 PH9
[sagen, daß Sp2 X-en kann] [sagen, daß Sp 1 X-en kann] [sagen, daß man X-en kann] [sagen, daß Sp 1 und Sp2 X-en können] [sagen, daß Sp2 nicht X-en kann] [sagen, daß Spl nicht X-en kann] [sagen, daß man nicht X-en kann] [sagen, daß p sein kann] [sagen, daß p nicht sein kann]
POSSIBILITÄTSFRAGE PF1 PF2 PF3 PF4 PF5 PF6 PF7 PF8 PF9 PF 10
[fragen, ob Sp2 X-en kann] [fragen, ob Spl X-en kann] [fragen, ob man X-en kann] [fragen, ob Sp2 nicht X-en kann] [fragen, ob Spl nicht X-en kann] [fragen, ob man nicht X-en kann] [fragen, ob Spl und Sp2 nicht X-en können] [fragen, wie Sp2 X-en kann] [fragen, warum man nicht X-en kann] [fragen, warum Sp 1 uns Sp2 nicht X-en können]
Zunächst werden die direktiven Sprechakte und die kommissiven Sprechakte untersucht, da in Hindelang (1978) und Graffe (1990) entsprechende Untersuchungen zu den Untermustern und ihren sprachlichen Realisierungsformen vorliegen.19 Die genauen Angaben der Handlungsbedingungen der einzelnen Untermuster können aus Platzgründen nicht wiederholt werden.20 Es sollen jedoch knappe Charakterisierungen gegeben werden, die es erlauben, den Handlungstyp zu identifizieren. 3.3.1 Direktive Sprechakte WEISUNG: Der Adressat muß die Handlung, zu der er aufgefordert wurde, ausfuhren, weil er sich durch einen Arbeitsvertrag dazu verpflichtet hat. (Vgl. Hindelang 1978: 192) 19
20
In Hindelang (1978), Franke (1983) und Graffe (1990) wurden diese semantischen Muster als KOMPETENZHINWEIS bzw. KOMPETENZFRAGE bezeichnet. Für eine präzise Angabe der Handlungsbedingungen wird auf die entsprechenden Stellen in Hindelang (1978) und Graffe (1990) verwiesen.
254 PH1 PF1 PF3
Götz Hindelang Sie {können, könnten} diesen Brief hier dreimal kopieren. {Können, könnten} Sie diesen Brief hier dreimal kopieren? {Können, könnten} Sie diesen Brief hier nicht dreimal kopieren?
AUFTRAG: Dieser Typ direktiver Sprechakte umfaßt Aufforderungen von Kunden beim Einkaufen in einem Laden und Bestellungen in einem Restaurant. Der Adressat muß sie ausfuhren, weil er, wie bei einer WEISUNG, durch einen Arbeitsvertrag dazu verpflichtet ist. (Vgl. Hindelang 1978: 242f.) PH 1 PF1
Sie können mir einmal das Tagesgericht bringen. Sie können mir ein Pfund von den blauen Trauben geben. {Können, könnten} Sie mir einmal das Tagesgericht bringen? {Können, könnten} Sie mir ein Pfund von den blauen Trauben geben?
ANORDNUNG: ANORDNUNGEN sind bindende Aufforderungen, die ein Vertreter eines staatlichen Organs in Ausübung seiner Aufgaben einem Bürger gegenüber ausspricht. (Vgl. Hindelang 1978: 284) PF1
{Können, könnten} Sie mir mal Ihre Wagenpapiere zeigen?21
FORDERUNG: Für FORDERUNGEN ist charakteristisch, daß Spl gegenüber Sp2 aufgrund gültiger Rechtsvorschriften einen Anspruch darauf hat, daß Sp2 der Aufforderung nachkommt. (Vgl. Hindelang 1978: 298) PF 1
Können Sie (jetzt) (wohl) mal Ihr Auto von meiner Garageneinfahrt wegfahren?
Vergleicht man die hier aufgeführten Untertypen der bindenden Aufforderungen, die sich mit können in entsprechenden semantischen Mustern vollziehen lassen, mit der Gesamtzahl der bindenden Direktive, so bemerkt man, daß folgende Sprechakte fehlen: BEFEHLEN (im Sinne eines militärischen Befehls), GEBOT (die bindende Aufforderung von Eltern an ihre Kinder), ERPRESSUNG (eine Aufforderung, der mit illegalen Sanktionsmitteln Nachdruck verliehen wird) und KOMMANDIEREN (Aufforderungen an einen rechtlosen Adressaten, der dem Sprecher dauerhaft ausgeliefert ist).22 Die besonders strikte Art dieser Direktive schließt eine Verwendung von semantischen Mustern wie [sagen, daß Sp2 X-en kann] oder [fragen, ob Sp2 X-en kann] aus. Man kann daraus schließen, daß Äußerungsformen nach diesen semantischen Mustern als Ausdruck von Höflichkeit gelten23, die zu strikten und z. T. mit Gewaltandrohung verbundenen 21
22
23
Äußerungen nach dem semantischen Muster [sagen, daß Sp2 X-en kann] wie (i) scheinen bei diesem Untertyp der bindenden Aufforderungen nicht angemessen: (i) Sie können mir ihre Wagenpapiere zeigen. BEFEHLE (vgl. Hindelang 1978: 262f), GEBOT (vgl. Hindelang 1978: 325), ERPRESSUNG (vgl. Hindelang 1978: 349), KOMMANDIEREN (vgl. Hindelang 1978: 368). Dabei muß nicht die bekannte Herleitung dieser Höflichkeitsfunktion aus einer wörtlichen Bedeutung bemüht werden, die kurz gesagt unterstellt, daß man sich mit einer solchen Äuße-
Wie man können beschreiben kann
255
Direktiven nicht passen. Bemerkenswert ist allerdings, daß diese Äußerungsformen nicht nur bei BITTEN gebräuchlich sind, sondern auch bei Aufforderungen gebräuchlich sind, die der Adressat ausführen muß. ANLEITUNG: ANLEITUNGEN sind Aufforderungen die im Zusammenhang mit Instruktionssituationen geäußert werden, denen sich der Hörer freiwillig aussetzt. Der Hörer muß die Aufforderungen nicht befolgen. Er kann jederzeit aus der Instruktionssituation aussteigen. (Vgl. Hindelang 1978: 378) PH1 PH3 PF1
Sie können jetzt in den dritten Gang schalten! Man könnte jetzt in den dritten Gang schalten! Können Sie jetzt in den dritten Gang schalten?
RATSCHLAG: RATSCHLÄGE sind nicht-bindende Direktive, die ein Sprecher Spl seinem Hörer Sp2 äußert, damit dieser ein bestimmtes praktisches Problem lösen kann. Vorausgesetzt wird dabei, daß Spl kein unmittelbares persönliches Interesse an der Lösung dieses Problems hat. PH1 PH3 PF1 PF3 PF4 PF6
Du {kannst, könntest} (mal) versuchen, die Zündkerzen bei deinem Auto auszuwechseln. Man {kann, könnte} (mal) versuchen, die Zündkerzen bei deinem Auto auszuwechseln. {Kannst, könntest} du (mal) versuchen, die Zündkerzen in deinem Auto auszuwechseln? {Kann, könnte} man (mal) versuchen, die Zündkerzen in deinem Auto auszuwechseln? {Kannst, könntest} du nicht (mal) versuchen, die Zündkerzen in deinem Auto auszuwechseln? {Kann, könnte} man nicht (mal) versuchen, die Zündkerzen in deinem Auto auszuwechseln?
ANWEISUNG: Bei ANWEISUNGEN koordiniert ein Sprecher Spl mit einem direktiven Sprechakt eine aktuelle komplexe Handlung, die er mit Sp2 kooperativ und gleichberechtigt durchführt. Dabei sind Spl und Sp2 in gleicher Weise am Gelingen der Handlung interessiert. (Vgl. Hindelang 1978: 450). Beide Sprecher können abwechselnd ANWEISUNGEN äußern. PH1 PF 1 PF4
Du {kannst, könntest} mir (mal) den Bohrer geben. {Kannst, könntest} du mir (mal) den Bohrer geben? {Kannst, könntest} du mir nicht mal den Bohrer geben?
VORSCHLAG: Bei PROBLEMLÖSUNGS-VORSCHLÄGEN befinden sich Spl und Sp2 in einer Situation, in der sie beide mit einem bestimmten Problem konfrontiert sind. Spl gibt nun mit einem solchen VORSCHLAG zu erkennen, was er für die optimale Lösung des Problems hält. Spl und Sp2 sind gleichberechtigt. Die von Spl vorgeschlagene Handlung kann nur durchgeführt werden, wenn Sp2 zustimmt. (Vgl. Hindelang 1978: 468)
rungsform ja zunächst nur danach erkundigt, ob die Einleitungsbedingungen für eine entsprechende Aufforderung gegeben sind. (Vgl. Searle 1975: 72).
256 PH3 PH4 PF6 PF7 PF9 PF 10
Götz Hindelang Man könnte ja einfach ins nächste Dorf zurück gehen und von dort Benzin holen. Wir könnten ja einfach ins nächste Dorf zurück gehen und von dort Benzin holen. {Kann, könnte} man nicht einfach ins nächste Dorf zurück gehen und von dort Benzin holen? {Können, könnten} wir nicht einfach ins nächste Dorf zurück gehen und von dort Benzin holen? Warum {kann könnte} man nicht einfach ins nächste Dorf zurück gehen und von dort Benzin holen? Warum {können, könnten} wir nicht einfach ins nächste Dorf zurück gehen und von dort Benzin holen?
SYMMETRISCHE BITTE: SYMMETRISCHE BITTEN sind nicht-bindende Aufforderungen, die zwischen gleichberechtigten Gesprächspartnern ausgesprochen werden. Die Erfüllung der BITTE liegt ausschließlich im Interesse von Spl. Es ist aufgrund der Rollenund Beziehungsstruktur zwischen Spl uns Sp2 möglich, daß Sp2 eine analoge BITTE an Spl richten kann. (Vgl. Hindelang 1978: 504) PH1 PF1 PF4
Du {kannst, könntest} mir (bitte) (mal) das Salz reichen. {Kannst, könntest} du mit (bitte) (mal) das Salz reichen? {Kannst, könntest} du mir nicht (mal) (bitte) das Salz reichen?
ASYMMETRISCHE BITTE: Bei ASYMMETRISCHEN BITTEN sind Spl und Sp2 nicht gleichberechtigt. Sp2 befindet sich in der überlegenen Position. Die von Spl erbetene Handlung des X-ens gehört aufgrund von Statusdifferenzen nur zur Handlungskompetenz von Sp2. Es könnte nicht vorkommen, daß sich Sp2 mit einer ähnlichen BITTE an Spl wendet. (Vgl. Hindelang 1978: 539) PF4 PF6
{Können, könnten} Sie nicht (vielleicht) doch meine Kündigung zurücknehmen? {Kann, könnte} man nicht doch vielleicht meine Kündigung zurücknehmen?
Für die ASYMETRISCHEN BITTEN sollen exemplarisch kurz einige Bemerkungen zu den Äußerungsformen gemacht werden. Auffällig für diesen kommunikativen Zusammenhang ist, daß Äußerungen nach den semantischen Mustern PH1 [sagen, daß Spl X-en kann] und PF1 [fragen ob Spl X-en kann] unangemessen sind. (39) (40)
Sie können meine Kündigung zurücknehmen. Können Sie meine Kündigung zurücknehmen?
Eine Äußerung nach PF 10 [fragen, warum man nicht X-en kann] ist, im Gegensatz zu VORSCHLÄGEN, nicht initial möglich, sondern nur als Reaktion im dritten Zug auf eine Ablehnung einer initialen BITTE von Spl. 3.3.2 Kommissive Sprechakte Die zweite Großgnippe illokutionärer Akte, die im Rahmen dieses Konzepts ausführlich beschrieben wurde, sind die kommissiven Sprechakte. Im folgenden sollen diejenigen Un-
Wie man können beschreiben kann
257
tertypen der Kommissiva von Graffe (1990) aufgeführt werden, bei denen es möglich ist, Äußerungsformen nach einem der oben aufgeführten semantischen Muster zu gebrauchen. Auch hier werden die Handlungsbedingungen der einzelnen Sprechhandlungstypen nur kurz skizziert und ein Hinweis auf die genaue Beschreibung bei Graffe (1990) angefügt. ANBIETEN-zu-tun: Bei der Sprechhandlung des ANBIETENS weiß der Sprecher Spl nicht, ob der Sprecher Sp2 die Handlung X, die Spl für ihn zu tun bereit ist, überhaupt wünscht. Sofern Sp2 das Angebot annimmt, ist Spl verpflichtet, zu X-en. (Vgl. Graffe 1990: 142) PH2 PF2
Ich {kann, könnte} dir beim Umzug helfen. {Kann, könnte} ich dir beim Umzug helfen?
ANBIETEN-zuzulassen: Spl weiß nicht, ob Sp2 nicht möglicherweise X-en möchte. Sp2 darf ohne die Erlaubnis von Spl nicht X-en. Sp2 verpflichtet sich, keine Sanktionen gegenüber Sp2 zu verhängen, falls dieser das Angebot annimmt und X-t. (Vgl. Graffe 1990:143) PH1
Du {kannst, könntest}(wenn du willst) ja übers Wochenende bei deiner Freundin übernachten.
SICH BEREIT ERKLÄREN-zu-tun: Ein SICH BEREIT-ERKLÄREN erfolgt als Reaktion auf eine unbestimmt adressierte Aufforderung von Spl zur Übernahme einer Aufgabe oder zur Verpflichtung zu einer bestimmten Handlung. (Vgl. Graffe 1990: 172) PH2
Ich kann heute das Protokoll übernehmen.24
SICH BEREIT ERKLÄREN-zuzulassen: Spl weiß, daß Sp2 X-en möchte. X-en ist für Sp2 ohne Zustimmung von Spl nicht erlaubt. Sp2 hat aber nicht explizit darum gebeten, X-en zu dürfen. (Vgl. Graffe 1990: 172) PH1
Du {kannst, könntest} {meinetwegen, von mir aus} am Wochenende bei deiner Freundin übernachten.
VERSPRECHEN: Ein VERSPRECHEN ist nach Graffe (1990: 189f.) eine positive Reaktion von Spl auf eine SYMMETRISCHE BITTE von Sp2, eine Handlung X auszuführen. Spl verpflichtet sich mit einem VERSPRECHEN zur Ausführung von X. VERSPRECHUNGEN sind nach dieser Beschreibung also immer Sprechakte des zweiten Zugs. PH2 24
(Ja), das kann ich (wohl) (gerne) machen.25
Als Reaktion auf die Aufforderung eines Sitzungsleiters wie (i) scheint mir eine Reaktion wie (ii) nach PF1 wenig angemessen. (i) Jemand muß heute wieder das Protokoll übernehmen. (ii) Kann ich das heute (nicht) machen?
258
Götz Hindelang
ZUSAGE26: ZUSAGEN sind nach Graffe (1990: 203f.) positive Reaktionen von Spi auf eine Aufforderung von Spi, die Spi aufgrund von vertraglichen oder gesetzlichen Verpflichtungen ohnehin erfüllen muß.27 PH2
(Ja), ich kann die Wohnung bis zum 1. Januar räumen.
ERLAUBNIS: ERLAUBNISSE sind nach Graffe (1990: 226) positive Reaktionen eines Sprechers Spi auf eine von Sp2 explizit ausgesprochene BITTE um ERLAUBNIS. Normalerweise besteht eine Norm für Sp2, nicht zu X-en. Spi kann diese Norm aufheben. Spi verpflichtet sich, Sp2 nicht zu bestrafen, wenn dieser X-t. PH1
(Ja,) Sie können (ausnahmsweise) Ihr Auto auf meinem Parkplatz abstellen.
GESTATTEN: Im Gegensatz zu einer ERLAUBNIS ist Spi beim GESTATTEN ein dienstlicher Vorgesetzter von Sp2. Die BITTE UM ERLAUBNIS ist also eine ASYMMETRISCHE BITTE: (Vgl. Graffe 1990: 234) PH1
(Ja,) Sie können heute zwei Stunden früher gehen.
GENEHMIGEN: Für das GENEHMIGEN ist nach Graffe (1990: 237) konstitutiv, daß „Spl und Sp2 gleichermaßen in einem allgemeinen gesetzlichen Rahmen stehen, dessen Vorschriften sie nicht ohne weiteres ändern können." Ohne die GENEHMIGUNG des Vertreters einer entsprechenden staatlichen Instanz darf Sp2 nicht X-en. Andererseits hat Sp2 auch einen Rechtsanspruch darauf, daß ihm das X-en genehmigt wird, wenn X mit den entsprechenden Rechtsvorschriften vereinbar ist. PH1
Sie können an Ihrem Seegrundstück eine Bootsanlegestelle für ein privates Segelboot errichten.
DROHEN28: Nach Graffe (1990: 267) gehören die Sprechhandlungsmuster DROHEN, GARANTIEREN und BÜRGEN FÜR zu den bedingten Typen kommissiver Sprechakte. Charakteristisch für diese Sprechakte ist, daß die Verpflichtungsübemahme zur Ausfxih25
26
27
28
Nicht möglich wäre in dieser Äußerungsform könnte, da der Verpflichtungscharakter dadurch nicht deutlich genug zum Ausdruck kommt. Ungeeignet wäre auch ein VERSPRECHEN nach PF2 als Reaktion auf (i): (i) Bitte hilf mir doch nächste Woche bei meinem Umzug. (ii) Kann ich dir nächste Woche bei deinem Umzug helfen? (Vgl. auch Graffe 1990: 190, 194) Die kommissiven Sprechhandlungen des BEEIDENS und des GELOBENS können nicht nach den semantischen Mustern des POSSIBILITÄTSHINWEISES und der POSSIBLITÄTSFRAGE vollzogen werden. Diese Bestimmung gilt nach Graffe (1990: 204) für .obligationsfreie' Zusagen. Für die obligationsgebundene ZUSAGEN siehe Graffe (1990: 203f.) Zu dem ,obligationskonzedierenden' Muster NACHGEBEN und dem ,obligationsassertierenden' Muster ZUSICHERN siehe Graffe (1990: 245 bzw. 256f.)
Wie man können beschreiben kann
259
rung einer Handlung X durch Spl von einer anderen Handlung oder einem bestimmten Ereignis abhängig gemacht wird. Bei DROHEN will Spl Sp2 zur Ausführung oder Unterlassung einer Handlung bewegen; gleichzeitig legt er sich darauf fest, eine bestimmte Sanktionshandlung Z auszuführen, falls Sp2 nicht X-t, bzw. das X-en nicht unterläßt. Man könnte das DROHEN also als einen Sprechakt auffassen, der gleichzeitig eine direktive und eine kommissive Komponente hat. Entsprechend sind auch die Äußerungsformen für DROHUNGEN zweiteilig. Sie haben, wie die Beispiele (39) bis (41) zeigen, einen direktiven und einen kommissiven Äußerungsteil. (39) (40) (41)
Entweder Sie verlassen sofort mein Grundstück, oder ich hetze meinen Hund aus Sie! Wenn Sie nicht sofort mein Grundstück verlassen, werde ich meinen Hund auf Sie hetzen! Verlassen Sie sofort mein Grundstück, oder ich hetze meinen Hund auf Sie!
Äußerungen nach PF1 können im ersten, den direktiven Aspekt repräsentierenden Teil der Realisierungsformen von DROHUNGEN vorkommen. (42)
Können Sie Ihr Auto hier mal wegfahren, oder ich rufe die Polizei.
In dem Teil, der den kommissiven Teil des Sprechakts repräsentiert, können Äußerungsformen nach PH2 vorkommen. (43) (44) (45)
Entweder Sie verlassen sofort mein Grundstück, oder ich kann sehr böse werden. Wenn Sie nicht sofort mein Grundstück verlassen, kann ich sehr böse werden. Verlassen Sie sofort mein Grundstück, oder ich kann sehr böse werden.
Dabei sind allgemein formulierte Sanktionen wie in (43)-(45) akzeptabler, als Äußerungsformen, in denen die Sanktionshandlung explizit benannt wird. (46)
?Entweder Sie verlassen sofort mein Grundstück, oder ich kann meinen Hund auf Sie hetzen.
Äußerungen, bei denen der kommissive Teil nach PH 1 formuliert ist, kommen hauptsächlich in idiomatisch verfestigten DROHUNGEN wie (47) bis (49) vor. (47) (48) (49)
Wenn das noch mal vorkommt, kannst du {was erleben, dich auf was gefaßt machen}. Wenn das noch mal vorkommt, kannst du mich von einer anderen Seite kennenlernen. Wenn das noch mal vorkommt, kannst du dein Testament machen.
GARANTIEREN und BÜRGEN FÜR: Graffe (1990: 279) beschreibt diese beiden Muster parallel. Spl BIETET Sp2 an, zu X-en, falls eine bestimmte, von Spl nicht präferierte Situation Y eintritt. Das X-en besteht in einer Handlung, die sicherstellt, daß H keinen Schaden durch das Eintreten von Y hat. Spl verpflichtet sich zu X-en, falls Y eintritt. PH1
Falls der Apparat nicht einwandfrei funktioniert, können Sie ihn sofort umtauschen.
260 PH2 PH1 PH2
Götz Hindelang Falls der Apparat nicht einwandfrei funktioniert, kann ich ihn sofort durch ein anderes Modell ersetzen. Falls Peter seine Schulden an dich nicht rechtzeitig bezahlt, kannst du dich an mich wenden. Falls Peter seine Schulden an dich nicht rechtzeitig bezahlt, kann ich diese Schulden begleichen.
Das Muster VORSCHLAGEN, das Graffe (1990: 287) den kommissiven Sprechakten zurechnet, wurde oben bei den Direktiva behandelt. Eine positive Reaktion auf einen VORSCHLAG bezeichnet Graffe (1990: 297) als EINWILLIGEN. Sie können durch Äußerungsformen nach dem semantischen Muster PH 4 vollzogen werden. PH4
(Ja,) wir {können, könnten} ins nächste Dorf zurück gehen und von dort Benzin holen.
3.3.3 Repräsentative Sprechakte Für die repräsentativen Sprechakte kann man sich an Rolf (1983) orientieren. Er unterscheidet 36 verschiedene Formen .sprachlicher Informationshandlungen'. Neben Sprechakten des ersten Zuges (Rolf nennt sie ,präsentativ') wie BEHAUPTEN, PROGNOSTIZIEREN, MITTEILEN, BENACHRICHTIGEN etc. berücksichtigt er auch repräsentative Sprechakte des zweiten Zuges (.reaktiv') wie BESTÄTIGEN, ZUSTIMMEN, WIDERSPRECHEN, BESTREITEN und sprachliche Handlungen des dritten Zuges (,reinitiativ') wie BEGRÜNDEN, BEKRÄFTIGEN und WIDERRUFEN. Rolf (1983) verwendet zur Beschreibung der Äußerungsformen der einzelnen Sprechakte nun nicht das Konzept der semantischen Muster, sondern setzt charakteristische Indikatorentypen an. (Vgl. Rolf 1983: 123-129) Für den Gebrauch von können sind dabei Äußerungsformen von Bedeutung, die einen INFERENZINDIKATOR enthalten. Ein INFERENZINDIKATOR ist nach Rolf (1983: 122) ein „Ausdruck, der anzeigt, daß der thematisierte Sachverhalt hergeleitet ist." Im einzelnen nennt Rolf (1983: 124) die Modalverben („muß, müßte, kann") und die Kombination von Modalverb und Partikel („dürfte kaum, wird wohl") als exemplarische INFERENZINDIKATOREN. Da eine „detaillierte syntaktischsemantische Analyse" nach Rolf (1983: 109) nicht zu den zentralen Beschreibungsinteressen seiner Untersuchung zählt, gibt er nicht für alle Handlungstypen an, ob sie mit einem INFERENZINDIKATOR gebraucht werden bzw. ob der INFERENZINDIKATOR können für diesen Typ von Informationshandlung gebräuchlich ist. Dennoch wird bei der Auswertung von Rolf (1983) für die hier relevanten Fragen zweierlei deutlich: Der INFERENZINDIKATOR können spielt nicht nur bei Vermutungen29 eine Rolle, sondern er kommt bei einer Reihe von anderen ,Informationshandlungen' vor. Zweitens: Es gibt Repräsentativa wie z.B. KONSTATIEREN, PROPHEZEIHEN, BEWEISEN oder 29
Rolf (1983: 37) vermeidet diesen Ausdruck und spricht vom KONJIZIEREN.
Wie man können beschreiben kann
261
WIDERLEGEN, die sich nicht durch eine Äußerungsform mit INFERENZINDIKATOR realisieren lassen.30 Im folgenden sollen diejenigen .Informationshandlungen' aufgeführt werden, bei denen entweder Rolf (1983) selbst den INFERENZINDIKATOR können angibt, oder bei denen m. E. zusätzlich zu den bei Rolf abgegebenen INFERENZINDIKATOREN auch können gebräuchlich ist.31 3.3.3.1
Präsentative Informationshandlungen
Präsentative Informationshandlungen sind Sprechakte des ersten Zuges. Mit ihnen initiiert der Sprecher eine Gesprächssequenez. BEHAUPTEN gehört nach Rolf (1983: 97) zu den Assertiva, einer Untergruppe der präsentativen Informationshandlungen. Mit einer assertiven Sprechhandlung gibt Spl Sp2 zu verstehen, daß „die Herleitung von p möglich ist". Zusätzlich gilt für BEHAUPTEN die Handlungsbedingung: „Es ist möglich, daß H die Herleitung von p für unwahr hält." (Rolf 1983: 163). (50)
Dieses Bild kann nur eine Fälschung sein. (Rolf 1983: 148)
PROGNOSTIZIEREN ist eine assertive Informationshandlung, für die nach Rolf (1983: 163) zusätzliche folgende Handlungsbedingung gilt: „p bezieht sich auf einen künftigen Sachverhalt." (51)
Die elektronischen Kommunikationsmedien könnten das Buch bis im Jahr 2010 weitgehend verdrängt haben.
KONJIZIEREN ist eine assertive Informationshandlung, für die nach Rolf (1983: 163) zusätzliche folgende Handlungsbedingung gilt: „S hat für die Geltung von p nur schwache Gründe." (52)
30
31
Kaugummi könnte krebserregend sein. (Rolf 1983: 162)
Bei den .transmissiven Informationshandlungen' (vgl. Rolf 1983: 161f.) spielen Inferenzindikatoren im Zusammenhang mit der Indizierung der illokutionären Kraft der Äußerung keine Rolle. Zu dieser Gruppe gehören nach Rolf (1983: 164) MITTEILEN, HINWEISEN, BENACHRICHTIGEN, BEKANNTGEBEN, ERINNERN, MELDEN, VERRATEN, AUSSAGEN und ANKÜNDIGEN. Bei diesen Informationshandlungen bringt der Sprecher nach Rolf (1983: 164) „zum Ausdruck, daß er um das tatsächliche Bestehen des durch p bezeichneten Sachverhalts weiß". Rolf (1983: 167) gibt für MITTEILEN das Beispiel (i). (i) Birgit muß sich den Arm gebrochen haben. (ii) Birgit kann sich den Arm gebrochen haben. In (i) ist die mitgeteilte Proposition, daß die Möglichkeit besteht, daß p. Nach Rolf ist es demnach sinnvoll zu unterscheiden zwischen KONJIZIEREN mit Inferenzindikator (Birgit kann sich den Arm gebrochen haben.) und einem MITTEILEN, dessen propositionaler Gehalt wie folgt lautet: ,es ist möglich, daß p; p: Birgit hat sich den Arm gebrochen.' Beide Sprechakte würden durch die identische Äußerungsform (ii) realisiert. Wenn die Beispiele direkt aus Rolf (1983) übernommen werden, wird das vermerkt.
262 3.3.3.2
Götz Hindelang Reaktive Informationshandlungen
Die Sprechakte des zweiten Zuges nennt Rolf (1983) .reaktiv'. Dabei unterscheidet er die ,akzepativen' (BESTÄTIGEN, ZUGEBEN, BEJAHEN, ZUSTIMMEN, BEIPFLICHTEN, EINRÄUMEN, ZUGESTEHEN), die ,problematisierenden' (WIDERSPRECHEN, EINWENDEN, BESTREITEN, ANZWEIFELN) und die .rejektiven' (DEMENTIEREN, ABSTREITEN, VERNEINEN, WIDERLEGEN, ENTKRÄFTEN). Da Rolf (1983) die entsprechenden Indikatorentypen für die oben aufgeführten Sprechhandlungen nur exemplarisch darstellt, soll auch hier nur beispielhaft angegeben werden, welche dieser Sprechakte sich durch Äußerungsformen mit können vollziehen lassen. Bei den ,konfirmativen' Informationshandlungen BESTÄTIGEN, ZUGEBEN und BEJAHEN bringt der Sprecher nach Rolf (1983: 176) „zum Ausdruck, daß er weiß, daß p". Rolfs (1983: 177) Beispiel für BESTÄTIGEN lautet wie folgt: (53a) (53b)
Sp 1: Für das Weibchen ist die Fortpflanzung risikoreicher als für das Männchen Sp2: Das kann auch gar nicht anders sein.
Die Äußerungsform (54) gibt Rolf (1983: 184) als Beispiele für ZUSTIMMEN an und nennt die leicht abgewandelte Äußerungsform (55) als Realisierungsmöglichkeit für BEIPFLICHTEN. (54) (55)
Das kann nicht anders sein. Das kann wohl auch nicht anders sein, nicht?
Der Sprechakt des EINRÄUMENS32 läßt sich nach Rolf (1983, 187) auch durch eine Äußerungsform wie (56) vollziehen. (56)
Damit könntest du vielleicht recht haben.
Für die ,problematisierenden' Sprechakte des zweiten Zuges (WIDERSPRECHEN, EINWENDEN, BESTREITEN, ANZWEIFELN) soll exemplarisch Rolfs (1983: 190) Beispiel für eine Äußerungsform mit Inferenzindikator bei WIDERSPRECHEN zitiert werden. (57a) (57b)
Spl: Ein Psychotherapeut könnte Gerda bestimmt von ihrer Angst befreien. Sp2: Das kann angesichts ihrer Besuche bei Dr. Niethammer seit einem Jahr nicht richtig sein.
Bei den ,rejektiven' Informationshandlungen (DEMENTIEREN, ABSTREITEN, VERNEINEN, WIDERLEGEN, ENTKRÄFTEN) lassen sich keine Beispiele finden oder konstruieren, bei denen können als Illokutionsindikator fungiert.
32
Als Handlungsbedingung für EINRÄUMEN nennt Rolf (1983: 186): „H hat starke Anhaltspunkte dafür, p für möglich zu halten."
Wie man können beschreiben kann
3.3.3.3
263
Re-initiative Informationshandlungen
Als letzte Gruppe der Informationshandlungen diskutiert Rolf (1983: 202-210) die ,re-initiativen' Sprechakte des dritten Zuges. Im einzelnen nennt er die ,insistenten' Sprechakte BEWEISEN, BEGRÜNDEN, BEKRÄFTIGEN, BETEUERN und die .resignativen' Handlungen WIDERRUFEN und ZURÜCKNEHMEN. Seine Beschreibungen der Äußerungsformen geben hier wenig Aufschluß über die Verwendung von können. Aus den vorgeführten Beispielen läßt sich jedoch schließen, daß für BEWEISEN, BEGRÜNDEN (im Sinne von Rolf (1983)) Äußerungsformen mit dem Inferenzindikator können keine Rolle spielen. Für BEKRÄFTIGEN und BETEUERN sind Äußerungsformen wie (58)(c) jedoch durchaus typisch.33 (58a) (58b) (58c)
Sp 1: Ich habe nie am Erfolg dieses Projekts gezweifelt. Sp2: Das stimmt doch nicht! Spl: Doch, das kannst du mir glauben.
Für die Beschreibung von Sequenzen des Insistierens und deren Äußerungsformen sei hier auf Franke (1983) verwiesen, der gründlicher als Rolf (1983) die verschiedenen Realisierungsformen von Sprechakten im dritten Zug beschrieben hat. 3.3.4
Insistierende Sprechakte
INSISTIEREN ist nach Franke (1983: 58) ein dreizügiges Sequenzmuster. Im ersten Zug bringt der Sprecher Spl sein Handlungsziel Hz ins Gespräch ein. Sein Hörer Sp2 reagiert darauf negativ, d. h. er LEHNT z. B. die initial geäußerte BITTE von Spl AB, WIDERSPRICHT einer BEHAUPTUNG oder äußert auf einen VORSCHLAG einen GEGENVORSCHLAG. Im dritten Zug der Insistierenssequenz beharrt Spl nun auf seinem initial vorgetragenen Handlungsziel und versucht, Sp2 doch noch zu einer positiven Reaktion zu bewegen. Welches Untermuster des INSISTIERNS vorliegt, hängt nach Franke (1983) nun davon ab, welcher illokutionäre Akt als initialer Sprechakt gewählt wurde. Im einzelnen unterscheidet Franke folgende Untermuster: INTERROGIEREN (initialer Zug: FRAGE), FLEHEN (initialer Zug: ASYMMETRISCHE BITTE), DRÄNGEN (initiale Züge z. B. SYMMETRISCHE BITTE, RATSCHLAG, VORSCHLAG etc.), NÖTIGEN (initiale Züge: bindende Aufforderungen z. B. BEFEHL, VERBOT, GEBOT, WEISUNG etc.), BEKRÄFTIGEN und BETEUERN (initiale Züge sind repräsentative, expressive, kommissive und deklarative Sprechakte). Für die dritten Züge dieser Sequenzmuster untersucht
33
Für BEKRÄFTIGEN und BETEUERN gilt nach ROLF (1983: 206) „S ist sicher, daß p." Während es aber beim BEKRÄFTIGEN um die „objektive Glaubwürdigkeit" des Sprechers geht, steht beim BETEUERN seine „subjektive Glaubwürdigkeit" zur Debatte.
264
Götz Hindelang
Franke (1983) nun auch die einzelnen semantischen Muster der Äußerungsformen, so daß sich angeben läßt, welche Gebrauchsweisen können in diesen Insistierenssequenzen hat. INTERROGIEREN: (Dritter Zug) PH1 PF1
Aber mir kannst du es doch sagen. (Franke 1983: 116) {Kannst, könntest} du es mir nicht vielleicht doch sagen? (Franke 1983: 116)
FLEHEN: (Dritter Zug) PF1 PF2
{Können, könnten} Sie es sich nicht vielleicht doch noch mal überlegen und auf eine Anzeige verzichten? (Franke 1983: 161) {Kann, könnte} ich nicht vielleicht doch hingehen. (Franke 1983: 170)
DRÄNGEN: (Dritter Zug; erster Zug: VORSCHLAG, zweiter Zug EINWAND) PF4 PF7
Aber wir {können, könnten} doch trotzdem morgen mit dem Schreiben anfangen. (Franke 1983: 201) {Können, könnten} wir nicht vielleicht {doch, trotzdem} morgen endlich anfangen?
NÖTIGEN: Äußerungen nach dem semantischen Mustern POSSIBILITÄTSHINWEIS und POSSIBILITÄTSFRAGE sind nach Franke (1983: 235) für den dritten Zug in einer NÖTIGEN-Sequenz ungeeignet. Er nennt jedoch folgende Äußerungen mit können im dritten Zug: (59) (60)
Du kannst wohl nicht hören! Kannst du nicht hören?
BEKRÄFTIGEN: Franke (1983: 270) geht hier vom Beispiel der initialen BEHAUPTUNG (61) aus: (61)
Spl: Die Atomkraft wird eines Tages den Untergang der Menschheit herbeifiihren.
Im zweiten Zug nennt er zwei Äußerungsformen mit können: WIDERSPRECHEN (62) und AUSWEICHEN indem .schwach' ZUSTIMMEN: (62) (63)
Das kann ich mir nicht denken. Naja, kann schon sein.
Im dritten insistierenden Zug nennt Franke (1983) folgende Äußerungsformen mit können: (64) (65)
Du kannst dich darauf verlassen. (Franke 1983: 276) Du kannst {mir glauben, davon ausgehen, darauf vertrauen, sicher sein}, daß es so kommen wird, wie ich gesagt habe. (Franke 1983: 277)
BETEUERN: Beim BETEUERN greift Sp2 im zweiten Zug die subjektive Glaubwürdigkeit von Spl an. Spl WEIST also den Sprechakt von Spl ZURÜCK, indem er die Auf-
Wie man können beschreiben kann
265
richtigkeit von Spl in Zweifel zieht. Im zweiten Zug wären etwa folgende Äußerungen mit können möglich:34 (66)
Mich kannst du nicht {täuschen, belügen}. Das kannst du mir doch nicht erzählen. Mir kannst du keinen Honig und Maul schmieren. Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Das kannst du doch nicht ernst meinen. Das kannst du doch selbst nicht glauben. Das kann ich dir nicht glauben, etc.
In dritten Zug wären auch beim BETEUERN Äußerungsformen wie (67) zu erwarten, die eine Ähnlichkeit mit (65) haben. (67)
3.3.5
Aber du kannst es mir wirklich glauben.
Einige weitere Beispiele für den Gebrauch von können
Eigentlich widerspricht es der hier vorgeschlagenen Methodik, bestimmte Verwendungsweisen von können einzelnen Sprechakttypen zuzuordnen, ohne daß diese vorher unter einer gebrauchszentrierten Perspektive hinsichtlich ihrer Handlungsbedingungen und ihrer Äußerungsformen systematisch beschrieben worden wären; trotzdem sollen einige Beispiele aufgeführt werden. Besonders häufig findet sich können mit nicht in Verboten35 wie (68) und (69). (68) (69)
Sie können ihr Auto hier nicht stehen lassen. Sie können hier nicht ohne Krawatte rein.
Bei Beispielen wie (70b) (c) und handelt es sich um negative Reaktionen eines Sprechers Sp2 auf eine Handlungsankündigung (70a) von Spl. (70a) Spl: Ich werde Lisa heiraten. (70b) Sp2: Das kannst du doch nicht machen! (70c) Das kannst du mir doch nicht antun! (70d) Du kannst doch nicht so dumm sein, das zu machen! Die Kombination von können und nicht findet sich auch häufig, wenn ein Sprecher Sp2 den vorausgegangenen Sprechakt von Spl zurückweisen will wie in (71). 36 (71 a) (71 b) 34 35
36
Sie können mir hier nichts befehlen. Wie kannst du nur so was behaupten?
Diese Beispiel stammen nicht aus Franke (1983). Die sprechaktbezeichnenden Ausdrücke werden hier nicht in Großbuchstaben geschrieben, da es sich hier nicht um definierte Begriffe einer pragmalinguistischen Metasprache handelt, sondern um die Ausdrücke der Alltagssprache mit all ihren semantischen Vagheiten. Vgl. auch (66) oben.
266
Götz Hindelang
(71c)
Solche Bemerkungen kannst du dir sparen!
Ähnliche Äußerungsformen wie (71b) können zum Ausdruck des Vorwurfs oder des Tadels gebraucht werden. (72a) (72b) (72c)
Wie konntest du nur das Auto an Hans-Georg ausleihen! Wie konntest du mir so was antun? Wie kannst du es wagen, hierher zu kommen?
Beispiele wie (73) können als Aufkündigung einer vorigen Verabredung verstanden werden. (73)
Du kannst alleine ins Kino gehen! (Nach diesem Streit habe ich keine Lust mehr, mit dir etwas zu unternehmen.)
Wie schon im Zusammenhang mit der Darstellung der Ergebnisse von Franke (1983) klar geworden sein dürfte, sind Äußerungen mit können und nicht besonders geeignet um negative Reaktionen auf initiale Sprechakte von Spl zu formulieren. (74a) (74b)
Spl: Leihst du mir über's Wochenende dein Auto? Sp2: Kann ich nicht machen.
In (74) lehnt Sp2 die Bitte ab, indem der bestreitet, daß die Voraussetzung für deren Erfüllung der Bitte bestehen. Man dürfte aber in einem Fall wie (74) (b) davon ausgehen, daß es sich einfach um eine Äußerungsform für einen negativen Bescheid handelt, der aus Gründen der Höflichkeit einer Äußerung wie (75) vorgezogen wird. (75)
Ich will das nicht machen.
Abschließend seien noch die Beispiele (76) und (77) aufgeführt, in denen können in besonderer idiomatischer Verwendungsweisen eingebunden ist: (76) (77)
4.
Du kannst mich mal! Lauf, was du kannst!
Methodische Nachbetrachtung
Nachdem im Abschnitt 3 eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Gebrauchsweisen von können vorgestellt wurde, sollen abschließend zwei methodische Fragen aufgegriffen werden. Die erste betrifft die Form der Beschreibung für die verschiedenen Gebrauchsweisen, die zweite bezieht sich auf die Konsequenzen, die dieser Ansatz für das Projekt einer .pragmatischen Syntax' impliziert.
Wie man können beschreiben kann
4.1
267
Ein illustratives Beschreibungsfragment
Der hier vorgeschlagene Beschreibungsansatz hat zwei Eigenschaften, die hervorgehoben werden sollen: a)
b)
Das von der Formseite zu beschreibende Element f (hier das Modalverb können) wird nicht isoliert auf seine verschiedenen Gebrauchsweisen hin untersucht. Analysiert werden Äußerungsformen, die ein bestimmtes semantisches Muster realisieren. Pragmatische Gebrauchsweisen werden in dem hier vorgeschlagenen Beschreibungsansatz also für bestimmte Konfigurationen von satzsemantischen Größen (semantischen Mustern) angegeben. Auf eine Generalisierung und Abstraktion für den Gebrauch einzelner Formelemente f wird bewußt verzichtet, weil diese Abstraktionen gerade die Feinheiten der Gebrauchsbeschreibung übersehen müßte, auf deren Erfassung hier Wert gelegt werden soll. Während solche Abstraktionen für eine strukturelle Beschreibung lexikalischer und syntaktischer Strukturen eine methodische Tugend sein mag, muß eine am Gebrauch orientierte Beschreibung notwendigerweise die ganze Vielfalt und Heterogenität der Gebrauchsweisen spezifizieren.
Im folgenden soll ein Ausschnitt der Gebrauchsweisen von können zusammenfassend dargestellt werden. Aufgeführt werden die Verwendungen, wie sie in Abschnitt 3.3 ausführlich beschrieben wurden, d. h. in Äußerungsformen nach den semantischen Mustern POSSIBILITÄTSHINWEIS und POSSIBILITÄTSFRAGE. Vorausgesetzt wird dabei, daß können innerhalb dieser Äußerungsformen zur Indizierung der Illokution beiträgt. Die Beschreibung ist so aufgebaut, daß zunächst das semantische Muster genannt wird (z. B. PH 1 (vgl. S. 15)) und dann die sprachlichen Handlungsmuster aufgeführt werden, bei denen Äußerungen nach diesem semantischen Muster gebraucht werden können. 1)
2) 3) 4) 5)
PH1: WEISUNG, AUFTRAG, ANLEITUNG, ANWEISUNG, SYMMETRISCHE BITTE, ANBIETEN-zu-zulassen, SICH BEREITERKLÄREN-zu-tun, ERLAUBNIS, GESTATTEN, GENEHMIGEN, GARANTIEREN, BÜRGEN EINRÄUMEN, BEKRÄFTIGEN, BETEUERN (3. Zug), INTERROGIEREN (3. Zug), BETEUERN (3. Zug) - Aufkündigung einer Verabredung [...]. PH2: ANBIETEN-zu-tun, SICH BEREITERKLÄREN-zu-tun, VERSPRECHEN, ZUSAGE, GARANTIEREN, BÜRGEN, (DROHUNG (2. Teil)) [...]. PH3: ANLEITUNG, RATSCHLAG, VORSCHLAG [...]. PH4: VORSCHLAG, EINWILLIGEN [...]. PH5: ZURÜCKWEISUNG, Verbot, Tadel, Vorwurf [...].
268
Götz Hindelang
6) 7) 8) 9) 10)
11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19)
4.2
PH6 Ablehnung einer Bitte [...]. PH7: Ablehnung eines Vorschlags, Tadel, Vorwurf [...]. PH8: BEHAUPTEN, PROGNOSTIZIEREN, BESTÄTIGEN (2. Zug), ZUGEBEN (2. Zug) schwach ZUSTIMMEN (2. Zug) [...]. PH9: WIDERSPRECHEN (2. Zug) [...]. PF1: WEISUNG, AUFTRAG, ANORDNUNG, FORDERUNG, ANWEISUNG, SYMMETRISCHE BITTE, FLEHEN (3. Zug), (DROHUNG (1. Teil)) [...]. PF2: FLEHEN (3. Zug), Bitte um Erlaubnis [...]. PF3: WEISUNG, RATSCHLAG [...]. PF4: RATSCHLAG, ANWEISUNG, SYMMETRISCHE BITTE, ASYMMETRISCHE BITTE, DRÄNGEN (3. Zug) [...]. PF5: Vorwurf, Kritik [...]. PF6: VORSCHLAG, RATSCHLAG, ASYMMETRISCHE BITTE, [...]. PF7: VORSCHLAG, DRÄNGEN (3. Zug) [...]• PF8: Vorwurf, Tadel [...]. PF9: VORSCHLAG [...]. PF10: VORSCHLAG [...].
Gebrauchsorientierte Beschreibung und pragmatische Syntax
Der zweite Punkt, der in diesen abschließenden Betrachtungen angesprochen werde soll, ist das Verhältnis des hier vorgeschlagenen gebrauchsorientierten Ansatzes zu dem Konzept einer pragmatischen Syntax. Die Ausführungen in Kapitel 2 sollten u. a. eine Übersicht über einige sprachwissenschaftliche Strategien geben, die bei der Behandlung von syntaktischen, semantischen und pragmatischen Faktoren in einer Sprachbeschreibung gewählt werden können. In diesem Kontext lautet die abschließende These wie folgt: Eine .pragmatische Syntax' als formbezogener Ansatz im Sinne von Kapitel 2 muß solange unbefriedigend bleiben, als die syntaktischen Phänomene mit pragmatischen Größen in Beziehung gesetzt werden, die nur speziell für diese syntaktische Fragestellungen konzipiert wurden und nicht in einer pragmatischen Theorie abgesichert sind. Ein Hauptanliegen des vorliegenden Beitrags ist es demnach, dafür zu werben, daß syntaktische und formbezogene Analysen, keine pragmatischen ad-hoc-Einheiten verwenden, sondern nur solche Kategorien berücksichtigen, die zuvor in einer gebrauchsorientierten Untersuchung systematisch erfaßt und beschrieben wurden. Nur so ist gewährleistet, daß die pragmatischen Kategorien Teil einer pragmatischen Theorie sind und nicht nur aus intuitiven Einzelbeobachtungen abgeleitet sind.
Wie man können beschreiben kann
269
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Dmitrij Dobrovol 'skij Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen1
1.
Ziele und Grundannahmen
Das Ziel des vorliegenden Beitrages besteht in der Aufdeckung relevanter Bedingungen für die Implementierung syntaktischer Modifikationen der Idiomstruktur.2 Bekanntlich weisen die Idiome grundsätzlich bestimmte transformationelle Defekte auf. Viele Idiome entziehen sich regulären syntaktischen Transformationen wie Passivierung, Adjektiv-Einschub, Topikalisierung, anaphorischer Pronominalisierung einzelner Konstituenten u.ä. Die Durchfuhrung dieser Transformationen macht die Sätze mit Idiomen (im Unterschied zu Sätzen, die keine Idiome enthalten) entweder grundsätzlich inakzeptabel oder läßt nur die wörtliche Lesart zu. Manche Idiome gestatten aber die genannten Transformationen durchaus, ohne dabei die figurative Lesart zu gefährden [vgl. (1) vs. (2)]. (1) (2)
*Der Löffel wurde von Hans abgegeben; *Hans hat den großen Löffel abgegeben; *Das war vielleicht ein Löffel, den Hans abgegeben hat. Der Bock wurde von Hans geschossen; Hans hat einen großen Bock geschossen; Das war vielleicht ein Bock, den Hans geschossen hat.
Es fragt sich, wie diese Unterschiede erklärt werden können. Gibt es bestimmte Regeln, nach denen sich die Akzeptabilität der jeweiligen Transformation für das jeweilige Idiom richtet? Oder sind die entsprechenden Restriktionen völlig arbiträr? Man kann zunächst annehmen, daß sich das syntaktische Verhalten der Idiome ausschließlich nach dem Usus richtet. Diese Erklärung ist aus strukturalistischer und generativistischer Sicht durchaus akzeptabel. Nach diesen theoretischen Prämissen stellen Idiome als nichtkompositionelle Wortverbindungen Lexikoneinheiten mit irregulären transformationellen Eigenschaften dar und sind aus dem Wirkungsbereich produktiver syntaktischer Regeln grundsätzlich auszuschließen (Katz/Postal 1963; Fräser 1970; Chomsky 1993). Im Rahmen der kognitiven Sprachbetrachtung wird dagegen davon ausgegangen, 1
2
Dieser Artikel ist im Rahmen des von der Russischen Stiftung fiir Grundlagenforschung (RFFI) geförderten Projektes Nr. 98-06-80081 entstanden. Ich bedanke mich bei dieser Stiftung. Ich danke auch allen Freunden und Kollegen, mit denen ich verschiedene Aspekte dieser Arbeit besprochen habe. Mein besonderer Dank gilt Gisela Zifonun, die mit ihren wertvollen Vorschlägen und Hinweisen zur endgültigen Gestaltung des Textes beigetragen hat. Der Terminus Modifikation wird hier ganz allgemein im Sinne von „Veränderung der Idiomstruktur" gefaßt.
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Dmitrij Dobrovol 'skij
daß sich das syntaktische Verhalten der Idiome nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) nach dem Usus richtet, sondern tieferliegende semantische Ursachen hat (dazu z. B. Gibbs/Nayak 1989; Nunberg/Sag/Wasow 1994). Die Ermittlung dieser Ursachen würde es ermöglichen, bestimmte Regularitäten im Bereich der Idiomsyntax aufzudecken. Dabei handelt es sich wahrscheinlich nicht um Regeln im strengen Sinne, sondern eher um Tendenzen und approximative Korrelationen. Da die kognitiv orientierte Erforschung der Regularitäten im syntaktischen Verhalten der Idiome die Hinwendung zu semantischen Phänomenen verlangt, die sich nicht immer in operationalen Termini beschreiben lassen, und da der Usus dabei sicher eine Rolle spielt, sind hier nicht Regeln mit der Form „wenn A, dann B" zu erwarten. In den Fällen, in denen „A" ein unscharfes Merkmal darstellt, ist die Hinwendung zu „A" für die Erklärung von ,3", operational gesehen, eher ein Umweg. Das Vorhandensein „lexikonbasierter" Phänomene in diesem Bereich fuhrt ferner dazu, daß die betreffenden Regeln oft die Form „wenn A, dann möglicherweise B" oder „wenn A, dann eher B als C" annehmen und folglich eher als statistische Tendenzen aufzufassen sind. Aber auch in diesem schwachen Sinne sind solche Regeln als theoretischer Gewinn anzusehen, falls es gelingt, sie zu ermitteln. Erstens wird damit ein konzeptioneller Rahmen für eine explizite und hinreichende Beschreibung der Idiome unter allen Aspekten ihres Funktionierens geschaffen: Von der positivistischen Fixierung der empirischen Beobachtungsergebnisse kann zu einer systematischen Erfassung von aufeinander bezogenen und voneinander abhängigen semantischen und syntaktischen Merkmalen, die eine gewisse prädiktive Kraft besitzen, übergegangen werden. Damit würde das beschreibende Modell durch ein erklärendes ersetzt werden. Zweitens wird durch Untersuchungen dieser Art die Frage geklärt, inwieweit es sich hier um „lexikonbasierte" bzw. ,/egelgeleitete" Erscheinungen handelt, und folglich die Stellung der Idiomatik im Modell der Sprache präzisiert. Ein zusätzlicher wichtiger Aspekt der syntaktischen Modifizierbarkeit der Idiomstruktur, der meines Wissens noch nie den Gegenstand linguistischer Betrachtung bildete, ist die pragmatische Grundlage der betreffenden Modifikationen. Warum und unter welchen Bedingungen entsteht überhaupt das Bedürfnis, die Struktur des betreffenden Idioms zu modifizieren? Ohne auf diese Frage einzugehen, kann man nicht erklären, warum sich bestimmte Idiome einer Modifikation standardmäßig unterziehen und andere nicht, obwohl die semantischen und grammatischen Rahmenbedingungen dabei identisch sein können. Im Unterschied zu meinen früheren Arbeiten, die sich mit den Problemen des syntaktischen Verhaltens von Idiomen befaßten (Dobrovol'skij 1997; 1999; im Druck), handelt es sich hier also nicht nur um semantische und grammatische Voraussetzungen für die Implementierung bestimmter Idiom-Modifikationen, sondern vor allem um pragmatische
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
273
Faktoren, die sie begünstigen bzw. behindern. Im folgenden werden diese Fragen am Beispiel der Passivtransformation diskutiert. Bevor zur Analyse einzelner Faktoren der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen übergegangen werden kann, müssen einige Grundbegriffe aus dem Bereich der IdiomVariation geklärt werden. Beim Gebrauch der Idiome begegnen oft Fälle kreativer (sprachspielerischer oder kontext-fokussierender) Variationen (vgl. (3)), die von den usuellen Variationen zu unterscheiden sind. (3)
[...] Rechtsbrechern freilich fällt beim Anblick der zähnefletschenden Schäferhunde nicht nur das Herz in die Hose, oft ist danach auch ein Loch in derselben. „Obwohl ich seit Jahren damit vertraut bin, hab' ich immer noch einen Heidenrespekt vor den Hunden", verriet uns Schutzpolizeichef Rudolf Grentrup. (Mannheimer Morgen, 03.05.1989)
Diese Unterscheidung ist gerade aus pragmatischer Sicht signifikant, weil die semantischen und pragmatischen Effekte, die durch die kreative Idiom-Variation erzielt werden, grundsätzlich anderer Natur sind als kommunikative Folgen der usuellen Variation. Die Grenze zwischen usuellen und kreativen Variationen kann nicht in allen Fällen an der Art der Modifikation selbst festgemacht werden. Nahezu jede Modifikationsart wird in bestimmten Fällen als eine standardmäßige unauffällige Realisierung des Idioms und in anderen Fällen als ein Wortspiel bzw. Normverstoß empfunden. Folglich ist jeder Versuch, die möglichen semantischen und pragmatischen Effekte einer Idiom-Modifikation an ihren „technischen" Parametern festzumachen und damit den Akzeptabilitätsgrad der jeweiligen Modifikation zu bestimmen, zum Scheitern verurteilt. Um die relevanten Unterschiede aus linguistischer Sicht beschreibbar zu machen, müssen als erstes die „technischen" Aspekte der Variationsproblematik von ihren pragmatischen Aspekten getrennt werden.3 Der Parameter der Sprecherintention scheint für die Erklärung der Variations-Mechanismen in der Idiomatik entscheidend zu sein, denn ohne die Intention, die hinter konkreten Transformationen steht, zu berücksichtigen, kann man z. B. nicht erklären, warum eine bestimmte Transformation in dem einen Fall als Mittel der standardmäßigen Einbettung des Idioms in den Kontext betrachtet wird und völlig unauffällig ist, während die gleiche Transformation in dem anderen Fall spezifische semantische und pragmatische Effekte mit sich bringt. Aus dieser Sicht sind folgende drei Variationsarten auseinanderzuhalten:
3
Ausführlicher dazu Dobrovol'skij (1997: 71-90); vgl. ähnliche Ansätze in Sabban (1998: 208-216).
274
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- standardmäßige Modifikationen; - kreative Modifikationen; - fehlerhafte Abweichungen vom Standard.4 Unter (a) sind Veränderungen der Idiomstruktur mit dem Ziel, sie an den jeweiligen Kontext anzupassen, zu verstehen, wobei keine nichttrivialen semantischen oder pragmatischen Effekte intendiert werden.5 Eine Modifikation des Typs (a) liegt vor, wenn z. B. ein standardmäßig passivfähiges Idiom passiviert wird, um den kommunikativen Bedingungen des Kontextes gerecht zu werden. Im Mittelpunkt des Interesses stehen bei der Erforschung der so verstandenen usuellen Modifikationen syntaktische (darunter morphosyntaktische und lexikalisch-syntaktische) Transformationen der Sätze, die Idiome enthalten. Unter (b) sind Modifikationen zu verstehen, deren kommunikatives Ziel darin besteht, durch die gezielte Abweichung vom standardmäßigen Gebrauch besondere semantische und vor allem pragmatische Effekte zu erreichen. Diese Effekte können entweder in der Realisierung sprachspielerischer Potenzen der Idiome oder im Verweis auf bestimmte inhaltliche Elemente des Kontextes bestehen. Es handelt sich dabei (besonders wenn eine sprachspielerische Intention vorliegt) um die Aktivierung der poetischen Funktion der Sprache im Sinne von Jakobson (1960), d. h. um einen Verweis sprachlicher Zeichen auf sich selbst. Unter diesem Typ können sehr unterschiedliche Modifikationsarten subsumiert werden. Es ist unmöglich, vorauszusagen, welche Eingriffe in die Idiomstruktur als kreative Modifikationen und welche als Verstöße gegen die Sprachnorm gewertet werden können. Die entsprechenden Entscheidungen sind pragmatischer Natur und basieren auf dem Relevanzprinzip (im Sinne von Sperber/Wilson 1986), d. h. solange der Rezipient bereit ist, die betreffenden Modifikationen von Idiomen als sinnvoll und in der gegebenen kommunikativen Situation als relevant zu interpretieren, werden diese Modifikationen als kreativ und somit prinzipiell zulässig (und nicht als Verstöße gegen die Normen des Sprachgebrauchs) eingestuft. Die fehlerhaften Abweichungen vom Standard (Typ c) stellen unabsichtliche Versprecher oder Verschreiber dar. Einerseits sind sie den Modifikationen im Rahmen des Usus
4
5
Diese Dreiteilung stellt eine sehr approximative Typologie der Idiom-Modifikationen dar. Für eine exaktere Beschreibung sollte zwischen der Ebene des Lexikons und der der Äußerung sowie zwischen der Produzenten- und Rezipientensicht unterschieden werden. Für unsere Zwecke ist die vorgeschlagene Dreiteilung zunächst ausreichend. Ich spreche von nichttrivialen semantischen und pragmatischen Effekten im Gegensatz zu trivialen semantischen Effekten, unter denen reguläre und prädiktable Veränderungen der Außerungsbedeutung verstanden werden, wie z. B. Fokusverschiebung bei der Topikalisierung und Diathese-Umformung jeder Art (einschließlich der Passivierung), Intensivierung bei adjektivischen Erweiterungen des Typs einen großen Bock schießen, Anonymisierung bei der Negierungstransformation u. dgl.
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
275
(Typ a) ähnlich, weil sie, so wie diese, nicht auf der bewußten Intention des Sprechers beruhen (genauer gesagt ist der Rezipient nicht imstande, anhand des gegebenen Kontextes und der kommunikativen Situation eine bewußte Absicht zur non-standardmäßigen IdiomModifikation zu erkennen). Andererseits verhalten sie sich ähnlich wie die kreativen Modifikationen (Typ b) in dem Sinne, daß die relevanten Restriktionen in bezug auf die Abweichungen von der Standardform auch hier nicht klar definierbar sind, d. h. solange das Idiom noch zu erkennen ist, kann es unabsichtliche morphologische, syntaktische und lexikalische Modifikationen der Idiomstruktur geben. Ob eine Modifikation als fehlerhaft, kreativ oder standardmäßig empfunden und bewertet wird, hängt also primär nicht davon ab, auf welche Weise der Konstituentenbestand des betreffenden Idioms verändert wird. Entscheidend ist hier die „projizierte Intention" des Sprechers: Wenn er bestimmte nichttriviale semantische und pragmatische Effekte erzielen will, handelt es sich um eine kreative Modifikation des Idioms. Ich spreche hier von der „projizierten Intention", weil die echten Sprecherintentionen für den Rezipienten (und folglich für die linguistische Analyse) nicht unmittelbar zugänglich sind. Sie werden vielmehr anhand der Textbeschaffenheit „erraten" und post factum in die aktuelle Sprechersituation projiziert. Aus der Perspektive des Rezipienten manifestieren sich die relevanten Unterschiede in bestimmten Elementen des Kontextes, die darauf verweisen, daß das entsprechende Idiom absichtlich modifiziert wurde. Falls die Kontextbedingungen dafür nicht ausreichend sind bzw. falls der Rezipient nicht imstande ist, die intendierten semantischen und pragmatischen Effekte anhand der kontextuellen Verweise nachzuvollziehen, wird die betreffende Modifikation vom Texproduzenten und Textrezipienten unterschiedlich eingeschätzt (vgl. Bürger 1998: 154). Man kann sich auch eine Situation vorstellen, in der der Rezipient in den Text mehr hineininterpretiert, als der Produzent intendierte. Aus diesen Gründen spreche ich hier im Unterschied zu meinen früheren Arbeiten (z. B. Dobrovol'skij 1997) nicht von den „intentionalen", sondern von den „pragmatischen" Aspekten der Variationsmechanismen. Als heuristisch produktiv erweist sich also die Hypothese, daß jede Modifikationsart je nach Kontext und je nach Idiom als usuell, kreativ oder fehlerhaft bewertet werden kann. Daß sich bestimmte Modifikationsarten für das Erzielen nichttrivialer Effekte besser eignen als andere, läßt sich nicht abstreiten. So wird z. B. die Einbettung eines formal unveränderten Idioms in einen spezifischen Kontext, der die wörtliche Lesart mitaktiviert, meistens als eine intendierte sprachspielerische Modifikation verstanden [vgl. (3)]. Die Bedeutung der Differenzierung zwischen standardmäßigen, kreativen und fehlerhaften Idiom-Modifikationen ist für unsere Fragestellungen evident, weil bei der Formulierung der Bedingungen für die jeweilige Modifikationsart die damit verbundenen semanti-
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Dmitrij Dobrovol 'skij
sehen und pragmatischen Effekte immer berücksichtigt werden müssen. Grundsätzlich werden die Regeln für (a)-Modifikationen formuliert. Die Arbeit besteht aus sieben Abschnitten. In diesem ersten Abschnitt werden Ziele und Grundannahmen der Arbeit formuliert. In Abschnitt 2 gehe ich auf den Forschungsstand im Bereich der Passivtransformation von Idiomen mit der Struktur einer Verbalphrase (VP)6 ein und diskutiere relevante Hypothesen. Ferner formuliere ich unter besonderer Berücksichtigung des Deutschen und (in geringerem Umfang) des Russischen semantische (Abschnitt 3) und grammatische (Abschnitt 4) Bedingungen für die Idiom-Passivierung. In Abschnitt 5 werden die Bedingungen für die Bildung des unpersönlichen bzw. des EintaktPassivs (Terminus von Zifonun/Hoffmann/Strecker et al. 1997) im Deutschen behandelt. Dieses idiosynkratische Phänomen muß gesondert behandelt werden, weil es sich dabei sozusagen um die „Passivmorphologie" ohne „Passivsinn" handelt. Abschnitt 6 konzentriert sich auf die pragmatischen Faktoren, die die Passivierung aus kommunikativer Sicht sinnvoll machen und die die in den vorangegangenen Abschnitten formulierten semantischen und grammatischen Bedingungen modifizieren. In den Schlußbemerkungen (Abschnitt 7) werden die Ergebnisse zusammengefaßt und aus kognitiver und pragmatischer Perspektive bewertet.
2.
Passivierung von Idiomen: Zum Stand der Forschung
In diesem Abschnitt gehe ich auf den Forschungsstand im Bereich der Passivierung von VP-Idiomen ein und diskutiere verschiedene Hypothesen zu relevanten Bedingungen für die Implementierung dieser syntaktischen Transformation der Idiomstruktur. In der Fachliteratur wird die Problematik des syntaktischen Verhaltens der Idiome, darunter auch die der Passivtransformation, schon seit etwa drei Jahrzehnten z. T. sehr kontrovers diskutiert, vgl. u. a. Chafe (1968), Fräser (1970), Bürger (1973), Newmeyer (1974), Abraham (1989), Gibbs/Nayak (1989), Nunberg/Sag/Wasow (1994), Abeille (1995), Fleischer (1997), Dobrovol'skij (1997; 1999; im Druck). Das Interesse an der Idiom-Passivierung ergibt sich aus dem Bedürfiiis, das unterschiedliche Verhalten von VP-Idiomen in Bezug auf die Passivtransformation zu erklären. Einen nichttrivialen Erklärungsversuch stellt z. B. „Sproat's Specified Determiner Restriction" dar, die die Passivfähigkeit des Idioms mit dem idiominternen Artikelgebrauch in Beziehung bringt: „If an idiomatically flxed object has a fixed specified deter6
Bei der Beschreibung der syntaktischen Struktur der Idiome werden hier die üblichen Abkürzungen benutzt: V für Verb, VP für Verbalphrase, NP für Nominalphrase und PP für Präpositionalphrase.
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
277
miner, it cannot be passivized" (zit. nach Abraham 1989: 15). Diese Hypothese will erklären, warum z. B. die englischen Idiome (4) nicht passiviert werden können. (4)
buy the farm, hit the ceiling, shoot the breeze, chew the fat, take a powder, turn a deaf ear
Abraham (1989: 15) weist daraufhin, daß es viele deutsche Idiome gibt, die „Sproat's Specified Determiner Restriction" widersprechen: (5) (6)
Der Chef las ihm gehörig die Leviten. Es wurden ihm (vom Chef) gehörig die Leviten gelesen. Jemand machte ihm den Garaus. Es wurde ihm der Garaus gemacht.
Auch im Englischen lassen sich genug Ausnahmen finden, z. B. (7) und (8). (7) (8)
The beans have been spilled. A new leaf was turned over when the management changed. (Fellbaum 1993: 289, Beispiel 84)
Die Korrelation zwischen dem idiominternen Artikelgebrauch und der Passivierbarkeit hat also keine prognostizierende Kraft, weil der idiominterne Artikelgebrauch nicht immer und nicht nur von referentiell-semantischen Eigenschaften der betreffenden NPs abhängt. Dort, wo dies der Fall ist, bereitet die Erklärung dieser Korrelation in semantischen Termini aus theoretischer Sicht keine Probleme. In den Fällen, in denen der Artikel nicht fest fixiert ist, hat die entsprechende NP (wie in freien Wortkombinationen, in denen je nach Kontext und Sprecherintention die Wahl des Artikels variiert) einen selbständigen referentiellen Status und folglich eine relativ autonome Bedeutung, vgl. (9a-b) (9a) (9b)
Der Alcatel-Konzern, der im vergangenen Jahr selbst durch eine Anzeige gegen zwei frühere Manager den Stein ins Rollen gebracht hatte, bestreitet betrügerische Absichten. (Mannheimer Morgen, 24.11.1994) Doch der GSoA geht es vielmehr darum, einen Stein ins Rollen gebracht zu haben. „Der GSoA-Aktivist ist ein Maulwurf, der die politisch versteinerte und vergreiste Schweiz der Gnomen und Obristen etwas durchlüftet", ergänzt Vorstandsmitglied Peter Sieger ist. (Mannheimer Morgen, 18.11.1989)
Es mag deshalb nicht verwundern, daß in solchen Fällen das Idiom standardmäßig passivierbar ist. Die idiominterne NP kann problemlos zum Subjekt promovieren, und die mit der Passivierung zusammenhängende Argumentrestrukturierung erscheint aus semantischer und pragmatischer Sicht als sinnvoll, z. B. den Stein ins Rollen bringen
der Stein
wird ins Rollen gebracht. Die Analyse verschiedener Textkorpora bestätigt, daß sich die Idiome, in denen der unbestimmte Artikel durch Quantoren, Demonstrativpronomina etc. ersetzt werden kann, besonders oft passivieren lassen. Nach Angaben von Abeille (1995: 21) liegt der Anteil solcher Idiome für das Französische bei 90%. 7 7
„Our observations for French idioms (from Gross' (1989) tables) are the following:
278
Dmitry Dobrovol 'skij
Aber auch in vielen Fällen, in denen der Artikelgebrauch fixiert ist, kann die entsprechende NP zum Subjekt eines Passivsatzes vorrücken, vgl. z. B. (7-8). Denn es geht primär nicht um den Artikelgebrauch, sondern darum, ob der idiominternen NP eine relativ selbständige Bedeutung zugeordnet werden kann. Auf den referentiell-semantischen Charakter des Zusammenhangs des idiominternen Artikelgebrauchs und der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen, darunter ihrer Passivierbarkeit, weist Fellbaum (1993) hin. Daß Idiome des Typs spill the beans oder bury the hatchet passiviert werden können und Idiome des Typs kick the bucket oder bite the dust nicht (obwohl in beiden Fällen die NP durch den bestimmten Artikel determiniert wird), hängt damit zusammen, daß bucket und dust nicht referentiell sind. The emptiness of the noun that has been demonstrated by the syntactic inflexibility of the idiom is confirmed by the fact that the definite determiner is not accountable for by the usual principles. We call the use of the definite determiner here the idiomatic use, as it seems to be the one use of the definite article that has no correspondence in literal language. [...] We suggest that the idiomatic use of the definite determiner has a specific function, namely, to alert the hearer to the nonliteral nature of the expression. The hearer cannot assign any of the standard meanings of the definite article to the NPs in such idioms, and, by default, interprets it as idiomatic. (Fellbaum 1993: 286-287)
Auch im Falle eines fixierten idiominternen Gebrauchs des unbestimmten Artikels und des Nullartikels richtet sich die Passivfähikeit des VP-Idioms und somit die Subjektfähigkeit der entsprechenden NP hauptsächlich nach semantischen Kriterien (zu grammatischen Bedingungen der Passivierung s. weiter unten). Es finden sich im Deutschen genug Idiome mit einer durch den fixierten unbestimmten Artikel eingeleiteten bzw. artikellosen NP, die eine Passivierung zulassen, vgl. (10). (10)
jmdm. einen Denkzettel verpassen —• jmdm. wird ein Denkzettel verpaßt; jmdm. Steine in den Weg legen -> jmdm. werden Steine in den Weg gelegt; jmdm. reinen Wein einschenken —> jmdm. wird reiner Wein eingeschenkt
In all diesen Fällen sind nicht die Besonderheiten des Artikelgebrauchs als solche, sondern die oft dahinterstehende semantische Autonomie der NP-Konstituente für die Passivierbarkeit verantwortlich. Mit anderen Worten handelt es sich hier um die semantische Teilbarkeit (analyzability) von Idiomen (vgl. dazu u. a. RajchStejn (1980; 1981), Burger/ Buhofer/ Sialm (1982: 28), Dobrovol'skij (1982; 1988: 131-158; in Vorb.), Gibbs (1990), Geeraerts (1992), Nunberg/Sag/Wasow (1994); ausfuhrlicher s. weiter unten). - Table Cli (1,700 expressions), where the indefinite determiner of the idiomatic object can vary (and usually alternate with quantifiers, demonstratives, etc.), has the highest propotion of passivizable idioms (90%). - Table C1R (500 expressions), where most of the idiomatic objects have a completely frozen determino- (half of them a zero determiner), has the lowest rate of passivizability (10%)." (Abeillé 1995:21)
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
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Damit gehen wir zu einem weiteren Erklärungsversuch über, und zwar zu dem Versuch, die Passivfahigkeit des Idioms auf seine semantische Teilbarkeit bzw. auf die semantische Autonomie seiner Konstituenten zurückzufuhren. Auf den Zusammenhang zwischen der semantischen Autonomie der Idiom-Konstituenten und der lexikalisch-syntaktischen Flexibilität der entsprechenden Idiome wurde bereits in Dobrovol'skij (1988: 182) hingewiesen. Aus experimentell-psychologischer Sicht wurden diese linguistischen Erkenntnisse in Gibbs/Nayak (1989) bestätigt. In Übereinstimmung mit der Dekompositionshypothese wird angenommen, daß die Idiome, die sich in sinnvolle Teile zerlegen lassen, eine größere Affinität zum regulären syntaktischen Verhalten aufweisen, als die nichtteilbaren Idiome. Our thesis was that the syntactic behavior of idioms is determined, to a large extent, but [sic!] speakers' assumptions about the way in which parts of idioms contribute to their figurative interpretations as a whole. The results of our studies indicated that idioms whose individual semantic components contribute to their overall figurative meanings (e.g., go out on a limb) were judged as more syntactically flexible or productive than nondecomposable phrases (e.g., kick the bucket). (Gibbs/Nayak 1989: 100)
Allerdings können bei weitem nicht alle Fälle der standardmäßigen Passivierung aufgrund der semantischen Teilbarkeit der Idiomstruktur erklärt werden. Das betrifft vor allem Idiome, in denen nicht eine ihrer Konstituenten, sondern ein idiomexternes Argument in die Subjektposition promoviert wird, vgl. (11). (11)
Die dafür vorgesehenen Gelder in Höhe von rund 500 Millionen Mark dürften nicht in den Schornstein geschrieben werden, sondern müßten sinnvoll eingesetzt werden. (Mannheimer Morgen, 12.10.1989)
Es ist aber evident, daß die semantische Teilbarkeit des Idioms etw. in den Schornstein schreiben für seine Passivierung keine Bedeutimg hat. Die Passivierung wird hier dadurch ermöglicht, daß das Akkusativkomplement dieses VP-Idioms auf eine sinnvolle Weise zum Subjekt vorrücken kann (ausführlicher unter 4.1). Es gibt aber auch viele Fälle, in denen es sich um die Promovierung einer NP-Konstituente des betreffenden Idioms handelt, die nicht über eine semantische Autonomie verfügt [vgl. z. B. (6)]. Die Passivierung ist dann aber trotzdem möglich (s. ausführlicher unter 4.3). Ein weiterer Erklärungsansatz findet sich im Rahmen der kognitiven Metapherntheorie. So verbindet Lakoff die Passivfahigkeit von Idiomen mit ihrer Motiviertheit. We are not claiming that either the meaning of idioms, or their form, is predicable. We are only claiming that the relation between them is not arbitrary. Instead, it is motivated, and the motivation makes the idiom ,make sense'. [...] This is important if we are ever to understand the grammar of idioms. For example, spill the beans can be passivized, as in The beans have been spilled. (Lakoff 1987:450-451)
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Auch dazu gibt es viele Gegenbeispiele, d. h. motivierte Idiome, die standardmäßig kein Passiv bilden, vgl. (12). (12)
(jmdm.) in die Augen stechen, seinen/den Geist aufgeben, den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen
Da Lakoff aber generell Motiviertheit und Teilbarkeit der Idiome verwechselt, ist es nicht ausgeschlossen, daß er hier die semantische Autonomie ihrer Konstituenten meint, obwohl er die entsprechenden Regularitäten explizit auf die Motiviertheit der betreffenden Idiome zurückfuhrt. Es gibt ferner rein semantische Erklärungsversuche (vgl. dazu vor allem Chafe 1968 und Newmeyer 1974). Dieser Ansatz setzt voraus, daß für die Passivierbarkeit der Idiome zwei Bedingungen erfüllt werden müssen: (i) die semantische Repräsentation des Idioms (d. h. seine aktuelle Bedeutung) muß die Passivierung zulassen und (ii) die wörtlich interpretierte Wortkombination, die der lexikalischen Struktur des Idioms zugrunde liegt, muß ebenfalls passivierbar sein. Der relevante Test für die Passivierbarkeit ist demzufolge das Verfahren der Literalisierung.8 Entsprechend diesem Ansatz sollten die Idiome, die nicht „literalisiert" werden können, weil sie nur die eine, nämlich die idiomatische Lesart aufweisen, kein Passiv bilden. Newmeyer (1974: 338) weist explizit daraufhin: „There are, however, a few idioms for which no literal equivalents exists. [...] Not surprisingly, these idioms undergo no transformational rules." Beispiele wie (6) zeigen deutlich, daß dies nicht stimmt. Das Idiom jmdm. den Garaus machen hat nur die idiomatische Lesart, es gibt (schon wegen der Unikalität des Wortes Garaus) keine gleichlautende Wortkombination, die wörtlich interpretiert werden kann. Eine Literalisierung ist also nicht möglich. Dennoch ist dieses Idiom passivierbar (vgl. dazu ausführlicher unter 3 und 4.3). Aus dem Gesagten wird ersichtlich, daß keiner der bekannten Erklärungsansätze die Mechanismen der Idiom-Passivierung aufgedeckt hat. Eines der Ziele der vorliegenden Arbeit besteht darin, Regularitäten in diesem Bereich zu ermitteln. Im folgenden gehe ich im Unterschied zu früheren Arbeiten (Dobrovol'skij 1997; 1999) nicht primär auf die Bedingungen für die Bildung des Idiom-Passivs als einer spezifischen morphosyntaktischen Form ein, sondern auf die Bedingungen für die Implementierung der Passivtransformation. Wenn man davon ausgeht, daß die Passivierung als syntaktische Transformation in jedem Fall eine NP-Promovierung voraussetzt, muß konsequent zwischen Passiv als morphosyntaktischer Form (die nicht unbedingt an eine NP-Promovierung gebunden ist) einerseits und Passivtransformation bzw. Passivierung andererseits unterschieden werden. „Es gilt [...] Passiv/örm von passivischem Sinn genau zu unterscheiden" (Abraham in Vorb.: 26). Im ersteren Fall handelt es sich um die grundsätzliche Möglich8
Chafe (1968: 120-121) spricht in diesem Zusammenhang von literalization.
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keit, das gegebene VP-Idiom in der Form werden + Partizip II bzw. in der Form des Zustandspassivs sein + Partizip II zu gebrauchen.9 Die Regeln, die dabei ermittelt werden können, sind offensichtlich einzelsprachspezifisch, weil sich die Bedingungen für die Bildung der Passivformen von Sprache zu Sprache stark unterscheiden. Hier ist das sogenannte unpersönliche bzw. Eintakt-Passiv im Deutschen oder das sogenannte outer passive bzw. pseudopassive im Englischen10 zu nennen - Formen, die z. B. das Russische nicht kennt. So ist das deutsche Verb helfen passivfahig (13) und sein russisches Äquivalent pomogat' nicht (14). (13) (14)
dt. Ihm wurde geholfen. russ. *Emu bylo pomozeno.
Verständlicherweise können auch Idiome, die mit dem Verb helfen semantisch und lexikalisch korrelieren, Passivformen bilden [vgl. (15-16)], d. h. die einzelsprachspezifischen Besonderheiten des Verbsystems in bezug auf die Passivbildung werden von der Idiomatik geerbt. (15) (16)
jmdm. auf die Sprünge helfen —• jmdm. wird auf die Sprünge geholfen jmdm. aus der Patsche helfen —> jmdm. wird aus der Patsche geholfen
Im letzteren Fall, bei der Passivierung als syntaktischer Transformation, handelt es sich um die Umformung der Diathese, d. h. um die Umverteilung der Kasusrollen in Bezug auf die syntaktischen Positionen (und nicht nur um die Reduktion eines Arguments). Es liegt also nur in den Fällen eine Passivtransformation vor, in denen eine NP aus der Non-Subjektposition in die Position des grammatischen Subjekts vorrückt (dazu z. B. Givön 1995: 243)." Folglich fallt z. B. das impersönliche bzw. Eintakt-Passiv aus dem Wirkungsbereich dieser Transformation heraus. Es handelt sich um das Eintakt-Passiv (und folglich um Passivformen, die hier zunächst ausgeklammert werden) nicht nur in Fällen wie (15) und (16), d. h. wenn das betreffende
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Das re/'/i-Passiv ist grundsätzlich eine sekundäre Form, weil dazu nur diejenigen Konstruktionen gerechnet werden, zu denen es ein werden-Konelat gibt. Für die Ermittlung allgemeiner Regularitäten im Bereich der Idiom-Passivierung ist das fe/'n-Passiv folglich zunächst irrelevant. Gemeint sind Sätze wie The students were taken advantage of im Unterschied zu dem sog. inner passive bzw. regulär passive: Advantage was taken of the students. (Beispiele aus Nunberg/Sag/Wasow 1994: 520). Es ist eine dritte, rein semantische Betrachtungsweise denkbar, auf die hier nicht näher eingegangen wird. Sie setzt voraus, daß das eigentliche Passiv im Kontext aller passivähnlichen Konstruktionen analysiert wird, die ihrerseits eine Subkategorie innerhalb der semantisch-syntaktischen Kategorie der Konversion bilden (vgl. dazu u. a. Apresjan 1995: 264). In diesem Fall sollten alle lexikalischen Mittel, die der Verschiebung des kommunikativen Fokus bei da - Erhaltung des propositionalen Gehalts der Aussage dienen, in Betracht gezogen werden.
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Idiom weder im Konstituentenbestand noch im Aktantenpotential eine Akkusativ-NP aufweist, sondern auch in Fällen wie (17) oder (18). (17) (18)
Vieles spricht dafür, daß auf dem Sektor öffentlicher Nahverkehr in den nächsten Tagen Tacheles geredet wird. (Mannheimer Morgen, 16.09.1995) Unter Schock wird Klartext gesprochen, das ist eine alte psychologische Erkenntnis. (Rheinischer Merkur, 1. Hj. 1990)
Die Nomina Tacheles in (17) und Klartext in (18) sind nur äußerlich als Akkusativkomplemente zu werten. Semantisch sind dies sog. innere Objekte, denen keine Kasusrolle zugeordnet werden kann. Unberücksichtigt bleiben hier auch verschiedenartige passivähnliche Konstruktionen wie das bekommen-Passiv, die grammatischen Konversen mit gehören, bleiben, lassen u. a. Das bedeutet, daß von den beiden Idiomen, die in Kontext (19) vorkommen (eine Reflexivkonverse mit lassen und ein werden-Passiv), nur das zweite berücksichtigt wird. (19)
Mag der Ärger des Investors über die in seinen Augen zögerlichen Politiker noch so verständlich sein - die Parlamentarier tun gut daran, sich nicht die Pistole auf die Brust setzen zu lassen. Das Bagno darf nur mit planerischen Glace-Handschuhen angefaßt werden, sonst könnte es schnell vorbei sein mit seiner landschaftlichen Schönheit. (Steinfiirter Kreisblatt, 11.02.1999)
Somit sind die Regeln, die im folgenden formuliert werden, nur für die Passivierung im engeren Sinne gültig. Die passivähnlichen Konstruktionen mit Idiomen müssen auch auf eventuelle Regularitäten und Korrelationen mit relevanten semantischen Merkmalen untersucht werden. Da aber die Reflexivkonversen mit lassen und ähnliche Konstruktionen im Vergleich zur eigentlichen Passivierung die Erfüllung zusätzlicher Bedingungen verlangen und sich durch eine kompliziertere Semantik (vor allem in bezug auf den modalen Rahmen) auszeichnen, setzt ihre Beschreibung eine gewisse Klarheit im Bereich der eigentlichen Passivierung voraus. Unberücksichtigt bleiben hier ferner Idiome, die nur in der Passivform gebraucht werden, weil es sich in diesem Fall verständlicherweise nicht um die Passivtransformation handelt, vgl. (20). (20a) (20b) (20c)
engl, fit to be tied, caught short, bom yesterday, written on water, cast in stone, taken aback (Beispiele aus Nunberg/Sag/Wasow 1994: 516) dt. von allen guten Geistern verlassen sein russ. vilami na vode pisano „mit der Heugabel auf dem Wasser geschrieben" .völlig unvorhersagbar'
Für die Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes der vorliegenden Arbeit spielen vor allem die in der Syntaxforschung schon lange bekannten Asymmetrien zwischen „Passivsinn" und „Passivmorphologie" eine Rolle. Es gibt bekanntlich Sprachen, die den Passivsinn ohne Passivmorphologie ausdrücken (z. B. Finnisch) sowie Sprachen, in denen Pas-
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sivmorphologie zum Ausdruck anderer, nichtpassivischer semantischer Kategorien dient (wie z. B. beim deutschen Eintakt-Passiv). Even within a Single language that has syntactic passives with movement and passive morphology, we may find passive morphology without movement [...], movement with the sense of passive but without passive morphology [...], and the passive sense with neither passive morphology nor movement [...]. (Chomsky 1993: 122)
Den Untersuchungsgegenstand bildet hier also nicht „Passivsinn ohne Passivmorphologie", was an sich durchaus möglich wäre, sondern vordergründig die Passivmorphologie, aber zunächst einmal nur dort, wo sie auch mit dem Passivsinn korreliert; in Abschnitt 5 bespreche ich dann auch „Passivmorphologie ohne Passivsinn", d. h. das deutsche EintaktPassiv. Dabei ist es evident, daß im Falle der Bildung des Idiom-Eintakt-Passivs andere Faktoren und dementsprechend andere Bedingungen der Akzeptabilität am Werk sind. Generell gehe ich davon aus, daß viele Modifikationsarten (darunter die Passivierung) zu einem bestimmten Teil „lexikonbasiert" sind, d. h. sich durch keinerlei Regeln erklären lassen. Dennoch wird grundsätzlich angenommen, daß das syntaktische Verhalten der Idiome in hohem Grad „regelgeleitet" ist, d. h. „to a degree far greater than chance would suggest" wie Newmeyer (1974: 329) es formuliert. Die Termini „lexikonbasiert" und „regelgeleitet" werden hier folglich in einem etwas anderen Sinn gebraucht als z. B. in Keil (1997). Statt a priori anzunehmen, daß bestimmte Modifikationsarten aufgrund von Regeln erklärt werden können, während andere wie die übrigen Lexikoninformationen einzeln zu memorieren und zu beschreiben sind, wird hier die Ansicht vertreten, daß es innerhalb ein und derselben Modifikationsart sowohl „regelgeleitete" als auch „lexikonbasierte" Phänomene geben kann (vgl. auch Dobrovol'skij 1997). Daraus erklärt sich u. a. die Tatsache, daß die Akzeptabilität von Idiom-Modifikationen ein graduierbares Phänomen darstellt und die entsprechenden Regeln eher als Tendenzen zu werten sind. In diesem Zusammenhang scheint die Annahme plausibel, daß es Formen gibt, die, obwohl sie sich im Wirkungsbereich einer Regel befinden, kaum akzeptabel sind, sowie auch Formen, die ihre Akzeptabilität allein aus dem Usus schöpfen.
3.
Semantische Voraussetzungen für die Passivtransformationen
Die wichtigste Voraussetzung für die Passivtransformation ist semantischer Natur und beschränkt sich nicht auf den Bereich der Idiomatik. Lexikalische Einheiten (Verben sowie VP-Phraseme aller Typen) können in Sprachen wie Deutsch und Russisch grundsätzlich dann passiviert werden, wenn sie agentive und (im Falle des Zweitakt-Passivs, d. h. der Form, in der Passivmorphologie und Passivsinn zusammenfallen) transitive Züge aufwei-
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sen.12 Vgl. die Übersicht zur Passivfähigkeit in (Zifonun/Hoffmann/Strecker et al. 1997: 1816-1817), aus der man erschließen kann, daß die Merkmale [+telisch-transformativ] und [+kausativ, +agentiv interpretierbar] prototypischerweise vorhanden sein müssen (beim sog. „zentralen Typ" der passivfahigen Verben). Das Fehlen eines dieser Merkmale führt zu Einschränkungen bei der Passivierung. Diese semantische Voraussetzung für die Passivtransformation bezeichne ich hier vereinfacht als agentiv-transitive Interpretierbarkeit. Gemeint ist damit, daß es sich bei passivfahigen Verben und VP-Phrasemen semantisch um eine agensbestimmte Handlung oder Aktivität handeln muß, die von einer verursachenden oder aktiven Instanz13 ausgeht und auf ein Objekt gerichtet ist, das dabei entweder im weitesten Sinne verändert wird (Patiens) oder unverändert bleibt (Thema).14 Genauer gesagt, es muß möglich sein, die entsprechenden Verben und VP-Phraseme auf diese Weise zu interpretieren. Zur Interpretation des Begriffs der Transitivität in Termini der Kasusrollen („semantic defmition of transitive event") siehe Givön (1995: 76). Daß auch die passivierbaren Idiome diese allgemeinen semantischen Voraussetzungen erfüllen müssen, wird u. a. durch empirische Ergebnisse bestätigt. So weist Abeilte (1995: 21) am Material des Französischen nach, daß die meisten Idiome, die in authentischen Texten passivisch gebraucht werden, agentiv sind. Als blockiertes Aktivsubjekt treten meistens Personen auf. Spezifisch für die Idiomatik ist die Forderung, daß nicht nur die aktuelle Bedeutung, sondern auch die bildliche Komponente des Inhaltsplanes einer agentiv-transitiven Interpretation unterliegt (grundsätzlich ähnliche Gedanken finden sich in Chafe 1968 undNewmeyer 1974). Ausgehend von diesen Beobachtungen, läßt sich u. a. die Hypothese, die die Passivfähigkeit der Idiome mit der Passivierbarkeit ihrer semantischen Paraphrase in Verbindung bringt (Newmeyer 1974: 329-330), in allgemeineren Termini umformulieren. Diese Hypothese erklärt z. B. die Unfähigkeit des englischen Idioms kick the bücket zur Bildung von Passivformen dadurch, daß sein Quasisynonym to die 'sterben' nicht passivierbar ist. Das Kriterium der „Übersetzbarkeit" des Idioms in die literale Ausdrucksweise mit Hilfe einer passivierbaren VP kann als ein Spezialfall einer allgemeineren Tendenz betrachtet werden. Es ist bemerkenswert, daß die Relevanz des Kriteriums der „Übersetzbarkeit" bei weitem nicht von allen Linguisten, die sich mit diesem Problem befassen, anerkannt wird 12
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14
Von Ausnahmen wie Zwei Wolkenkratzer überragen die Stadt —> Die Stadt wird von zwei Wolkenkratzern überragt (Beispiel aus Zifonun/Hoffmann/Strecker et al. 1997: 1798) sowie von relevanten morphologischen Unterschieden in der deutschen und russischen Passivbildung kann hier abgesehen werden. In den Fällen, in denen das blockierte Aktivsubjekt kein Agens, sondern ein Experiens ist (Die Regel wurde (von allen) verstanden), muß es dennoch als eine aktive Instanz interpretierbar sein. Andernfalls ist die Passivierung normalerweise nicht möglich. In der Fachliteratur wird diese semantische Rolle gelegentlich auch Objektiv genannt. Von den Unterschieden zwischen Thema und Objektiv kann hier abgesehen werden.
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
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(vgl. Nunberg 1978; Abeille 1995). So vertritt Abeille (1995) die Ansicht, daß Idiome wie (21) und (22) passiviert werden können, obwohl ihre nichtidiomatischen Entsprechungen to die bzw. to resign nicht passivierbar sind. (21) (22)
give up the ghost throw in the towel
Es handelt sich dabei m. E. jedoch zum einen um eine aus der Perspektive der Sprachnorm zweifelhafte Entscheidung, zum anderen um ein Mißverständnis bezüglich des Status der semantischen Repräsentation von Idiomen. So haben die von mir befragten Muttersprachler den Satz (21a) als inkorrekt und den Satz (22a) als bedingt zulässig eingestuft. (21 a) (22a)
r?
The ghost was given up. The towel was thrown in.
Satz (22a) muß dabei so etwas wie ,die vorhandenen Absichten wurden als unrealisierbar aufgegeben' bedeuten, d. h. im agentiv-transitiven Sinne interpretierbar und semantisch teilbar sein. Andererseits kann an diesem Beispiel eine prinzipielle Distinktion in bezug auf die Repräsentation der aktuellen Idiombedeutung aufgezeigt werden, und zwar liegen die entscheidenden Faktoren nicht in der Quasisynonymie des Idioms mit einer bestimmten nichtidiomatischen VP, sondern in den inhärenten semantischen Charakteristika des betreffenden Idioms, d. h. in der Möglichkeit, es (zumindest in einigen Kontexten) im agentiv-transitiven Sinne zu interpretieren. Auch die in der Fachliteratur oft betonte Beschränkung im Bereich der Passivierung, die auf das Vorhandensein nichtpassivierbarer Verben im Konstituentenbestand des Idioms zurückzufuhren ist [Burger (1973: 81); Fleischer (1997: 49); Abeille (1995: 20); Möhring (1996: 51); Dobrovol'skij (1997: 87-88)], kann als ein Spezialfall einer allgemeineren Forderung nach der Zulässigkeit einer agentiv-transitiven Interpretation der beiden Aspekte des Idiom-Inhaltsplanes (d. h. der aktuellen Bedeutung und der inneren Form) betrachtet werden. Dazu Beispiel (23). (23)
einen Korb bekommen/kriegen
Idiom (23) ist aus doppeltem Grund nicht passivierbar: zum einen, weil die Semantik des Idioms (so etwas wie .abgewiesen werden4, also eine passivische Bedeutung) die Passivtransformation sinnlos macht, zum anderen, weil Wortverbindungen wie (23), auch wörtlich genommen, nicht passiviert werden können (offensichtlich als agentiv-transitiv nicht interpretierbare Syntagmen). Die Passivunfähigkeit des Idioms (24) kann nicht auf die gleiche Weise erklärt werden und beweist somit die Unabhängigkeit der Restriktionen, die auf der literalen Ebene angesiedelt sind.
286 (24)
Dmitrij Dobrovol'skij etw. in den falschen Hals bekommen/kriegen
Die aktuelle Bedeutung des Idioms ,etw. falsch auffassen, mißverstehen und darüber verärgert sein' läßt eine passivische Reformulierung im Sinne von .falsch aufgefaßt, mißverstanden werden' zu. In diesem Fall ist die Passivunfahigkeit allein auf die Beschaffenheit der literalen Lesart zurückzuführen. Wörtlich verstanden, ist die Wortverbindung (24) weder agentiv noch transitiv und kann deshalb nicht passiviert werden. Das Vorhandensein eines passivunfähigen Verbs (bekommen/kriegen) im Bestand der Idiome in (23) und (24) korreliert auf der Ebene der lexikalischen Struktur mit der letztgenannten Bedingung, die semantischen Charakter hat.15 Dieser Erklärungsansatz widerspricht nicht der Tatsache, daß die Verben als Bestandteile der Idiome ihre transformationellen Restriktionen an das jeweilige Idiom vererben. Es geht mir hier aber darum, für dieses Faktum eine semantische Begründung zu finden. Das Vorhandensein eines nichtpassivfahigen Verbs ist nur ein oberflächliches Merkmal einer tieferliegenden semantischen Eigenschaft.'6 Zusammenfassend sei bemerkt, daß die Beschränkungen im Bereich der Passivierung, die gewöhnlich durch die Wirkung oberflächlicher Faktoren erklärt werden, auf allgemeinere semantische Tendenzen zurückgeführt werden können. Andererseits wäre es kaum richtig, diesen Tendenzen den Status universeller Gesetzmäßigkeiten zuzuschreiben, weil sich viele sprachliche Fakten finden lassen, die von der Idiosynkrasie bestimmter Restriktionen zeugen.17 15
16
17
Bei der Betrachtung des korrespondierenden russischen Materials scheint zunächst die Passivunfähigkeit der Verben mit der Semantik der ,Bekommens' eine idiosynkratische (und folglich keine semantisch basierte) Besonderheit des Deutschen zu sein. Denn im Russischen läßt das Verb polucit' „bekommen" Passivformen zu: polucit' zarplatu „den Lohn bekommen" —> zarplata byla polucena „der Lohn ist bekommen worden". Das Verb polucit' bekommt aber in diesem Fall eine andere Bedeutung, und zwar so etwas wie .abholen'. De facto bedeutet also der entsprechende passivische Satz nicht (wie dies der Wortlaut suggeriert) „der Lohn ist bekommen worden", sondern „der Lohn ist abgeholt worden". So ist das Idiom jmdn. zum besten haben seiner aktuellen Bedeutung (jmdn. necken') nach agensbestimmt und transitiv, seine Passivform *jmd. wird zum besten gehabt wird aber als agrammatisch empfunden. Die Variante dieses Idioms jmdn. zum besten halten läßt jedoch die Passivierung jmd. wird zum besten gehalten zu (Beispiel von Möhring 19%: 51). Dies hängt m. E. damit zusammen, daß das Idiom jmdn. zum besten haben in seiner literalen Lesart nicht im agentivtransitiven Sinne interpretiert werden kann. Die relevanten Restriktionen erklären sich also primär nicht daraus, daß ein bestimmtes Verb in der Struktur des Idioms seiner Passivierung entgegenwirkt, sondern vielmehr daraus, daß die Idiome, die ein nichtpassivierbares (in diesem Fall ein semantisch intransitives) Verb enthalten, in ihrer literalen Lesart nicht als Wortverbindungen mit agentiv-transitiver Semantik interpretiert werden können. Selbst eine dem Deutschen so nah verwandte Sprache wie das Englische unterscheidet sich in bezug auf die Passivierungsregeln: „[...] im Deutschen gilt streng die Agensvoraussetzung für Passivierung, nicht jedoch im Englischen" (Abraham in Vorb.: 9). Das eindeutig nichtagentive Verb have läßt sich gelegentlich passivieren: This can be had; this is to be had. (Abraham in
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
4.
287
Grammatische Bedingungen für die Passivtransformationen
Neben der allgemeinen semantischen Forderung nach der Möglichkeit einer agentiv-transitiven Interpretation gibt es eine weitere notwendige Voraussetzung für die Idiom-Passivierung, die grammatischer Natur ist (was ihre semantische Interpretation nicht ausschließt). Da die Passivtransformation (zumindest in dem hier favorisierten Sinn) eine Art der NP-Promovierung darstellt, muß im Konstituentenbestand oder im Aktantenpotential des Idioms eine NP vorhanden sein, die entsprechend den grammatischen Regeln der betreffenden Sprache zum Subjekt vorrücken kann. Im Deutschen (wie auch im Russischen) handelt es sich dabei um ein Akkusativkomplement. Im Normalfall muß dieses Akkusativkomplement eine selbständige Bedeutung haben (auf die Ausnahmen gehe ich im Abschnitt 4.3 ein). Diese allgemeine Voraussetzung wird im Bereich der Idiomatik in zwei Versionen realisiert: 1.
2.
In der Argumentstruktur des Idioms muß ein Aktant vorhanden sein, der die Subjektfunktion übernehmen kann. Es handelt sich hier sozusagen um eine idiomexterne NP- Promovierung. Die Nominalphrase, die zum Subjekt promoviert wird, ist ein Bestandteil des Idioms und muß dabei im Standardfall eine relativ autonome Bedeutung haben. Es handelt sich dabei also um eine idiominterne NP-Promovierung.
Im folgenden soll auf diese beiden Versionen der NP-Promovierung detaillierter eingegangen werden. 4.1
Bedingungen für idiomexterne NP-Promovierung
Die Passivierung eines VP-Idioms kann dadurch erfolgen, daß in der Argumentstruktur dieses Idioms Aktanten vorhanden sind, die aufgrund ihrer syntaktischen und semantischen Beschaffenheit (Kasusrolle) zum Subjekt eines Passivsatzes vorrücken können. Vorb.: 9). Dazu ist allerdings zu bemerken, daß have (genau so wie das deutsche Verb haben) im Normalfall nicht passivierbar ist. Es kann nur im Infinitv, in Konstruktionen wie den beiden oben angeführten Sätzen passiviert werden (für diesen Hinweis danke ich Chris Beedham). Es handelt sich dabei eher um lexikonbasierte Phänomene, obwohl in solchen Konstruktionen eine agentive Interpretation und somit eine semantische Begründung nicht ausgeschlossen ist. Das russische Verb imet' „haben" scheint zunächst auch passivfähig zu sein und somit gegen die Forderung der Agentivität zu verstoßen. Allerdings ist die Form imeetsja, semantisch gesehen, kein Passiv von imet', sondern eine selbständige lexikalische Einheit mit der Bedeutung „es gibt". Vgl. ferner relevante zwischensprachliche Unterschiede: engl, nothing to be heard und russ. nicego ne slysitsja, aber dt. *nichts ist gehört zu werden und niederländisch *(er is) niets (om) gehoord te worden (vgl. Abraham in Vorb.: 10), die davon zeugen, daß es nicht möglich ist, im Bereich der Passivierung universell gültige Regeln aufzustellen.
288
Dmitrij Dobrovol 'skij
Syntaktisch manifestiert sich diese Eigenschaft in einer offenen Valenz, die durch einen Akkusativ-Aktanten gesättigt ist. (25)
jmdn. an der Nase herumführen —> jmd. wird an der Nase herumgeführt
Es kann sich dabei sowohl um belebte als auch um imbelebte Aktanten handeln (vgl. (26a) und (26b)), obwohl Abeille (1995: 21) darauf verweist, daß an dem von ihr untersuchten französischen Material die belebten Aktanten dominieren: „Idioms with a human subject passivize more easily". (26a) jmdn. in die Enge treiben, jmdn. unter seine Fittiche nehmen, jmdn. aufs Glatteis führen, jmdn. durch den Kakao ziehen, jmdn. in der Luft zerreißen, jmdn. auf die Palme bringen, jmdn. im Stich lassen, jmdn. auf die Straße setzen, jmdn. in Trab halten, jmdn. zur Weißglut bringen (26b) etw. aufs Eis legen, etw. zu Grabe tragen, etw. auf einen gemeinsamen Nenner bringen, jmdm. etw. an den Kopf werfen, etw. an den Mann bringen, jmdm. etw. unter die Nase reiben, etw. auf jmds. Rücken austragen, etw. zur Schau stellen, etw. unter den Teppich kehren Als Beispiel für die idiomexterne NP-Promovierung in einem authentischen Kontext vgl. (27). (27)
Ein Sprecher der Kreisverwaltung schätzt, daß keine 1000 Rabenvögel per Abzug in die ewigen Jagdgründe geschickt wurden. Man sei „sehr zurückhaltend", da selbst die Gutachter fast wie die Krähen heftig aufeinander herumhacken. Uber den Nutzeffekt sind sie sich keineswegs einig. (Mannheimer Morgen, 18.10.1989)
In diesem Fall ist die zu promovierende NP kein Bestandteil des Idioms, sondern ein Element seiner syntaktischen Distribution. Deshalb ist die Zerlegbarkeit des Idioms in bedeutungstragende Teile hier (im Unterschied zu den Fällen, die unter 4.2 besprochen werden) keine notwendige Voraussetzung für seine Passivierung.18 Diese Bedingungen für die Passivtransformation entsprechen den produktiven Regeln der Syntax. Das Akkusativkomplement des VP-Idioms wird zum Subjekt des korrespondierenden passivischen Satzes. Für die Zulassung der Passivierung ist in diesem Fall nur 18
Allerdings spielt dabei die Wortfolge eine wichtige Rolle, weil die Konstituenten eines nichtteilbaren Idioms bei der Passivierung nicht auseinandergerissen werden dürfen (vgl. dazu Burger 1973: 84; Fleischer 1997: 50): Bei der Besprechung wurde wieder alles über einen Kamm geschoren. Oder: Alles wurde bei der Besprechung über einen Kamm geschoren. Aber nicht: *Uber einen Kamm wurde bei der Besprechung wieder alles geschoren. Diese Beschränkungen sind auch kommunikativ-semantischer Natur. Sie erklären sich daraus, daß es aus pragmatischer Sicht kaum sinnvoll ist, einen bestimmten Teil eines semantisch nichtteilbaren Idioms in die Topik-Position umzustellen. Vgl. dagegen Sätze wie Der Vogel wurde diesmal von Otto abgeschossen oder Der Stier ist auch heute wieder bei den Hörnern gepackt worden (Beispiele von Fleischer 1997: 50). Die Thematisierung der Nomina Vogel und Stier ist akzeptabel, weil sie aufgrund der semantischen Teilbarkeit der Idiome den Vogel abschießen und den Stier bei den Hörnern packen als bedeutungstragende Elemente empfunden werden.
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
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die Beschaffenheit des Idiom-Inhaltsplans im Ganzen relevant (d. h. seine aktuelle Bedeutung und seine innere Form), und zwar muß das betreffende Idiom auf beiden semantischen Ebenen eine agentiv-transitive Interpretation zulassen. Das bedeutet, daß eine Akkusatiwalenz im Aktantenpotential nicht automatisch zur Passivfahigkeit des Idioms fuhrt, weil relevante semantische Faktoren der Passivierung entgegenwirken können, wie z. B. in (23) und (24). Von diesem Standpunkt aus handelt es sich hier auch um eine semantische Voraussetzung, d. h. um die Forderung nach Transitivität in der unter 3 besprochenen Lesart dieser Kategorie. 4.2
Bedingungen für idiominterne NP-Promovierung
Die Passivierung eines VP-Idioms kann ferner dadurch erfolgen, daß eine NP im Konstituentenbestand des Idioms zum Subjekt promoviert wird, z. B. (28). (28) (28a)
jmdm. einen Bären aufbinden jmdm. wird ein Bär aufgebunden
Dabei muß die betreffende NP im Normalfall einen relativ autonomen semantischen Wert haben (es sei denn, wir haben es mit einer nichttrivialen Rollenverteilung zu tun, vgl. Abschnitt 4.3). Das betreffende VP-Idiom ist in diesem Fall nicht als ein in sich unteilbares Prädikat zu interpretieren, sondern als eine nach regulären syntaktischen Prinzipien aufgebaute Verbalphrase, d. h. ein Verb-Prädikat mit seinen Aktanten. Die betreffende NP erfüllt die Funktion eines Aktanten, der aus dem semantischen Ganzen herauslösbar ist und die entsprechende Bedeutung trägt. Eine wichtige Voraussetzimg für die Passivtransformation ist dabei die Kasusrolle des Passivsubjekts. Es handelt sich um Kasusrollen wie Patiens und Thema (wie in (28)). In (28) hat das Wort Bär im Rahmen des Idioms eine relativ selbständige Bedeutung, etwas wie ,eine Lügengeschichte'. Diese semantische Besonderheit ermöglicht eine sinnvolle Interpretation des Passivsatzes (28a), vgl. (28b). (28b) jmdm. wird ein Bär aufgebunden jmdm. ward eine Lügengeschichte erzählt
Es finden sich viele authentische Kontexte, die die Produktivität dieser Passivierungsversion im Deutschen bestätigen, vgl. (29). (29)
Mit dieser neuen Produktpalette, die von der Fuchs Mineralölwerke GmbH in Mannheim entwickelt wurde, werden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe getroffen: Neben der Entlastung der Umwelt könnten derartige Produkte auch dazu beitragen, die landwirtschaftlichen Flächen verstärkt für den Anbau nachwachsender Rohstoffe zu nutzen. (Mannheimer Morgen, 22.04.1989)
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Dmitrij Dobrovol'skij
Da die Akkusativ-NP zwei Fliegen im Rahmen der semantischen Struktur des Idioms eine relativ autonome Bedeutung hat, und zwar so etwas wie ,zwei Vorteile' bzw. ,zwei Ziele', ist die Form zwei Fliegen werden mit einer Klappe getroffen sinnvoll. Diese Form kann wie ,zwei Vorteile werden im Ergebnis einer Handlung erzielt' bzw. ,zwei Ziele werden im Ergebnis einer Handlung erreicht' interpretiert werden. Also hängen hier die Passivierungsmöglichkeiten von der semantischen Teilbarkeit der Idiomstruktur ab. Auf den Zusammenhang zwischen der semantischen Autonomie der Idiom-Konstituenten und der Modifizierbarkeit der entsprechenden Idiome wurde oben bereits hingewiesen (vgl. auch das in der amerikanischen Fachliteratur viel diskutierte Idiom spill the beans the beans have been spilled, dessen Passivierbarkeit auf seine semantische Teilbarkeit bzw. auf seine semantische Motiviertheit zurückgeführt wird). Vgl. ähnliche deutsche Beispiele (30). (30)
mit jmdm./etw. einen kurzen Prozeß machen, die/seine Karten offen auf den Tisch legen
In Ubereinstimmung mit der sog. Dekompositionshypothese wird angenommen, daß die Idiome, die sich in sinnvolle Teile zerlegen lassen, eine größere Affinität zum regulären syntaktischen Verhalten aufweisen als die nichtteilbaren Idiome [s. auch Dobrovol'skij (1988: 173-190); (1997: 23-27, 91-102); Gibbs/Nayak (1989); Nunberg/Sag/Wasow (1994); Keil (1997: 90)]. An sich ist diese Idee plausibel. Allerdings stellt die semantische Teilbarkeit, wie die vorliegende Studie zeigt, nur einen der Faktoren dar, die die Passivierung von VP-Idiomen begünstigen. 4.3
Idiomspezifische semantisch-syntaktische Asymmetrien
Alle Bedingungen, die bis jetzt besprochen wurden, sind größtenteils relativ trivial, weil es sich dabei um allgemeine Voraussetzungen für die Implementierung der Passivtransformation handelt. Spezifisch für die Idiomatik (im Vergleich zu Verben) ist hier nur die Möglichkeit einer idiominternen NP-Promovierung. Diese Möglichkeit beweist erneut, daß sich die traditionelle Betrachtung der Idiome als semantische und syntaktische Simplizia (d. h. als sog. long words) fehlerhaft ist. Manche Idiome zeichnen sich durch eine bedeutende syntaktische Flexibilität aus, die auf dem Homomorphismus der Struktur ihrer aktuellen Semantik und der Struktur ihrer bildlichen Bedeutungsschicht, d. h. auf ihrer semantischen Teilbarkeit beruht. Bei der Passivierung verhalten sich die teilbaren Idiome ähnlich wie freie, nichtidiomatische Wortverbindungen. Komplizierter und aus theoretischer Sicht viel interessanter sind Fälle wie (31). (31 a)
Ratten, Mäuse, Kakerlaken - den lästigen Hausgenossen soll nun mit einem neuen System der Garaus gemacht werden: Ein elektromagnetischer Schädlingsbekämpfer, kurz
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
(31b)
291
EMS „steckt" den Mitbewohnern, daß sie unerwünscht sind. (Mannheimer Morgen, 29.04.1996) Der Jahrhundertvertrag" für Landwirte ist nach Kurt Weiser, SPD-Kreisvorsitzender und Leiter des AK-Landwirtschaft im Bezirk Rheinland-Hessen/Nassau „ein Deckmantel, unter dem der bäuerlichen Landwirtschaft der Garaus gemacht wird, bis nur 10% der Betriebe übriggeblieben". Alle Maßnahmen der CDU/FDP-Agrarpoltik von Milchquote bis Flächenstillegung, sind „Sterbehilfen für Bauern, vor allem in Gebieten wie im Kreis Bitburg-Prüm". (Mannheimer Morgen, 04.07.1989)
Das Idiom jmdm. den Garaus machen in (31a/b) ist nicht in bedeutungstragende Konstituenten(gruppen) zerlegbar, dementsprechend hat das Nomen Garaus keinen selbständigen semantischen Wert; vgl. (32a) im Gegensatz zu (32b). (32a) (32b)
*Der Garaus, der den lästigen Hausgenossen/der bäuerlichen Landwirtschaft gemacht wurde. Die zwei Fliegen, die mit einer Klappe geschlagen/getroffen wurden.
Die Promovierung der substantivischen Konstituente Garaus zum Subjekt des Passivsatzes ist aus semantischer Sicht sinnlos, denn dieses Wort hat in der Idiomstruktur keine eigene Bedeutung.19 Wenn man davon ausgeht, daß eine der wichtigsten Funktionen der Passivierung in der Thematisierung und/oder Topikalisierung des aktivischen Akkusativkomplements, d. h. in der Realisierung des kommunikativ unmarkierten „Gleichlaufs" von Thema, Topik und Subjekt besteht (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker et al. 1997: 1843-1850), stellt sich zunächst generell die Frage, wie eine NP ohne eigene Bedeutung die Funktion von Thema bzw. Topik übernehmen kann. Auch in den selteneren Fällen, in denen es sich um die rhematische Markierung des Passivsubjekts durch die Kontraststellung handelt, haben wir es (wie bei jeder Umformung der Diathese) mit der Argumentrestrukturierung zu tun, die nur dann sinnvoll ist, wenn den betreffenden Argumenten semantische Interpretationen zugeordnet sind. Da dies in Sätzen wie (31) offensichtlich nicht möglich ist, ist die semantische und kommunikative Begründung der Promovierung dieser NP zum Subjekt äußerst fragwürdig. Die Erklärung für dieses Phänomen besteht darin, daß es in diesem Fall keinen „Gleichklang" zwischen semantischen und syntaktischen Subjekteigenschaften gibt. In Kontexten wie (31) wird das idiominteme Akkusativkomplement sozusagen nur formal zum Subjekt des Passivsatzes. Es handelt sich dabei um ein Quasiargument (quasi-argument in der Terminologie von Chomsky 1993). Den Quasiargumenten wird eine spezifische „leere" Theta-Rolle zugeordnet, die Chomsky mit # markiert. Wörter wie Garaus verhalten sich
19
Sätze wie Sie haben der Stadt den ökologischen Garaus gemacht sind non-standardmäßige Modifikationen des Typs (b) und sind folglich keineswegs als Beweis der semantischen Autonomie der Konstituente Garaus zu betrachten.
292
Dmitrij
Dobrovol'skij
also syntaktisch wie ein Komplement, haben aber keine eigentliche Kasusrolle.20 Die Funktion des thematischen Subjekts übernimmt das idiomexterne Komplement (in diesem Fall ein Patiens-Aktant im Dativ). Die topikalisierte NP (das thematische Subjekt) und das grammatische Subjekt fallen hier also nicht zusammen. Das thematische Subjekt wird durch die Dativ-NP den lästigen Hausgenossen bzw. der bäuerlichen Landwirtschaft und das grammatische Subjekt durch die Nominativ-NP der Garaus ausgedrückt. Vgl. dazu auch (33). (33a) (33b) (33 c) (33d)
Ihm Ihm Ihm Ihm
wurde der Garaus gemacht. wurde das Fell über die Ohren gezogen. wurde die Pistole auf die Brust gesetzt. wurde Feuer unter dem Hintern gemacht.
In Sätzen wie (33a-d) ist der referentielle Status der NP-Konstituente nicht von Bedeutung, weil sie nur syntaktisch die Position des Subjekts hält. Das semantische Subjekt (in diesem Fall das topikalisierte Patiens) wird durch das Dativkomplement ihm ausgedrückt.21 Es behält seinen Kasus aus der Aktivkonstruktion, verändert aber meistens seine Position im Satz, indem es ins Vorfeld rückt und damit topikalisiert wird. Meistens ist mit der Topikalisierung auch die Veränderung der kommunikativ-funktionalen Rolle verbunden, und zwar wird das topikalisierte Patiens zum Thema der Äußerung. Das kommunikative Ziel der Passivierung besteht (ähnlich wie in den unter 4.1 und 4.2 behandelten Fällen) in der Argumentrestrukturierung und Argumentreduktion. Um also die nichtteilbaren Idiome, die keine offene Akkusatiwalenz haben, passivieren zu können (mit dem Zweitakt-Passiv-Ergebnis), müssen zwei Bedingungen gleichzeitig erfüllt werden: Erstens muß eine idiominterne Akkusativ-NP vorhanden sein, die bereit ist, die Funktion des grammatischen Subjekts des Passivsatzes zu übernehmen; zweitens muß im Aktantenpotential des Idioms ein Komplement mit der passenden Kasusrolle vorhanden sein, das die Funktion von Thema bzw. Topik des passivischen Satzes übernehmen kann. Im Deutschen handelt es sich dabei meistens um ein Dativkomplement. Dies ist aber keine obligatorische, geschweige denn eine universelle Bedingung. So kann z. B. im Russischen eine PP diese Funktion übernehmen (34). (34)
20
21
Na nem byl postavlen krest. „Auf ihn wurde ein Kreuz gestellt" = ,Er wurde als hoffnungslos abgeschrieben'
Im Unterschied zu meiner Interpretation der „leeren" Kasusrolle meint Chomsky, daß die ThetaRolle # allen Idiomteilen zuzuordnen ist, weil er grundsätzlich davon ausgeht, daß die Idiomteile nie als bedeutungstragende Elemente fungieren können. Vgl. die folgende Bemerkung von Wierzbicka (1988: 17) zum Begriff des semantischen Subjekts: „Roughly speaking, the semantic prototype of .subject' is based on the concept of .independent topicality'".
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
293
Wenn die erstgenannte Bedingung nicht erfüllt wird (d. h. es gibt keine NP mit dem Kopf im Akkusativ, die zum grammatischen Subjekt vorrückt), kann in bestimmten Fällen immerhin das unpersönliche bzw. Eintakt-Passiv gebildet werden, wie in (15-16). Fälle, die in diesem Abschnitt behandelt werden, scheinen für die Theorie der Phraseologie besonders interessant zu sein, weil es sich dabei möglicherweise um eine idiomspezifische Eigenschaft der Sprachstruktur handelt, d. h. um Elemente einer Grammatik der Idiome. Im Unterschied zu Verben und nichtidiomatischen Phrasemen (VPKollokationen verschiedener Typen, vor allem Funktionsverbgefügen) kann bei der Passivierung von VP-Idiomen das Semantische vom Syntaktischen getrennt werden. Während im Standardfall das Subjekt des passivischen Satzes sowohl morphosyntaktische als auch semantische Eigenschaften eines Subjekts kombiniert, werden diese Eigenschaften in den hier behandelten Fällen auf verschiedene NPs verteilt, und zwar auf das „semantisch leere" idiominterne Akkusativkomplement, das zum Passivsubjekt promoviert wird, und auf das idiomexterne Komplement, das seine morphosyntaktischen Eigenschaften beibehält. Man könnte meinen, daß dieses Phänomen auch bei der Passivierung von Funktionsverbgefügen mit der vergleichbaren Diathese und einem internen Akkusativkomplement begegnet, vgl. Satz (35) und sein russisches Äquivalent (36). (35) (36)
dt. Ihm wurde Hilfe geleistet. russ. Emu byla okazana pomoäö'.
Auch hier handelt es sich um die Promovierung des wendungsinternen Akkusativkomplements zum Subjekt und die Topikalisierung des Dativarguments. Der entscheidende Unterschied von (35) und (36) gegenüber (33) und (34) besteht aber darin, daß das wendungsinterne Akkusativkomplement eine klar definierbare eigene Bedeutung hat und somit nicht zu einem rein grammatischen, sondern zu einem durchaus „vollwertigen" Passivsubjekt wird. Vgl. (35a) und (36a). (35a) (36a)
dt. Bedeutende Hilfe wurde den Flüchtlingen im vorigen Jahr geleistet. russ. SuSdestvennaia pomoäC byla okazana bezencam v proSlom godu.
Wie diese Beispiele zeigen, kann das kollokationsinterne Akkusativkomplement nicht nur zum grammatischen Subjekt promoviert, sondern auch standardmäßig topikalisiert und durch ein Attribut modifiziert werden. Der Gleichlauf von Thema, Topik und Subjekt wird in den Sätzen (35a) und (36a) im Unterschied zu (35) und (36) durchaus gewährleistet. Die Topikalisierung eines wendungsexternen Aktanten (in diesem Fall des benefaktivischen Dativaktanten) ist also bei Kollokationen (anders als bei Idiomen des Typs (33) und (34)) keine obligatorische Bedingung, die die Passivierung aus kommunikativ-pragmatischer Sicht rechtfertigt.
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Dmitrij Dobrovol 'skij
In Kontexten wie (31), (33) und (34) haben wir es also offensichtlich mit einem idiomspezifischen Phänomen zu tun. Es scheint dabei sinnvoll, auch in diesem Fall relevante Erklärungen in semantischen Termini, und zwar in Termini der Kasusrollen, zu formulieren. Dies würde ermöglichen, semantisch parallele Sätze wie (37-38) einerseits und (37a-38a, b) andererseits adäquat zu beschreiben. (37) (37a) (38) (38a) (3 8b)
Er wurde umgebracht. Ihm wurde der Garaus gemacht. Er wurde betrogen. Ihm wurde das Fell über die Ohren gezogen. Er wurde übers Ohr gehauen.
Die thematischen Subjekte der passivischen Sätze (37), (38) und (38b) unterscheiden sich grammatisch von den thematischen Subjekten der passivischen Sätze (37a) und (38a) (Nominativ vs. Dativ), sind aber vom Standpunkt ihrer Kasusrollen aus identisch: In beiden Fällen handelt es sich um die Topikalisierung des Patiens. Die allgemeine Bedingung der semantischen Transitivität, wie sie unter 3 formuliert wurde, verlangt, daß entweder im Aktantenpotential des Idioms oder in seinem Konstituentenbestand eine NP bzw. PP in der Kasusrolle des Patiens (im prototypischen Fall) oder des Themas (besonders oft bei unbelebten Entitäten) vorhanden ist. Die morphosyntaktischen Charakteristika sind dabei sekundär. Zusammen mit der Forderung nach dem Vorhandensein eines Komplements, das zum grammatischen Subjekt vorrücken kann, bildet diese Bedingimg eine prinzipielle Grundlage für die Passivierung deutscher und russischer Idiome. Ob die Passivtransformation in jedem Fall, in dem sie grundsätzlich möglich ist, auch tatsächlich implementiert werden kann, entscheiden nur der Usus und die pragmatische Zweckmäßigkeit. In diesem Sinne ist die Idiom-Passivierung nur zum Teil ein „regelgeleitetes" Phänomen.
5.
Idiome im Eintakt-Passiv
Obwohl, wie oben bereits gesagt, die Formen des deutschen Eintakt-Passivs, das auch als unpersönliches Passiv bezeichnet wird, keine Passivsemantik aufweisen und nur morphologisch dem Passivparadigma zugeordnet werden,22 müssen sie hier zumindest am Rande 22
„Das sog. .unpersönliche Passiv' ist kein Passiv in dem Sinne, daß keine semantisch-transitive Eigenschaftsübertragung stattfindet. Vielmehr wird jeweils ein Progressiv ausgedrückt [...] Passivischer Sinn ergibt sich also, so können wir jetzt sagen, wenn tatsächlich, wie die Alten schon meinten, ein Handlungstransfer vom Agens zum Endpunkt beim Patiens stattfindet, dann und nur dann. Wo dies deswegen nicht möglich ist, weil keine thematische Rolle den Handlungstransfer übernehmen kann - das Ergebnis dieses Transfers tragen kann - wie bei Intransitiva oder bei
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
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behandelt werden. Einer der wichtigsten Gründe dafür ist, daß in bestimmten Fällen das gleiche Idiom transitiv und intransitiv, d. h. sowohl im Zweitakt- als auch im EintaktPassiv gebraucht werden kann, vgl. (39) und (40). (39) (40)
[...] auch diese Warnung aber ist aller Voraussicht nach in den Wind geredet. (Stern, 30.07.1987) [...] darum sei darauf ebenfalls heute schon entgegnet (auch wenn es abermals bloß in den Wind geredet sein wird). (Stern, 30.07.1987)
In beiden Fällen handelt es sich um das sem-Passiv. Primär sind hier (wie auch bei anderen VP-Idiomen mit der Semantik des Sprechens, vgl. tauben Ohren predigen es wird tauben Ohren gepredigt oder gegen eine Wand reden es wird gegen eine Wand geredet)23 die Formen des Eintakt-Passivs (40). Die Einführung eines Akkusativkomplements, das zum Passivsubjekt promoviert wird [wie diese Warnung in (39)], transitiviert das Idiom und transformiert das unpersönliche Passiv zum Zweitakt-Passiv. Ein zweiter Grund, warum das Eintakt-Passiv hier mit berücksichtigt werden muß, besteht darin, daß es Idiome gibt, die wegen der Spezifik ihres Konstituentenbestandes formal das Zweitakt-Passiv bilden, das jedoch semantisch als Eintakt-Passiv zu interpretieren ist; vgl. (41). (41)
Davon werden die Finger gelassen!
Das Nomen die Finger besetzt [ähnlich wie der Garaus in (31)] syntaktisch die Subjektposition, ist aber kein Subjekt im semantischen Sinne, weil diesem Nomen keine Kasusrolle zugeordnet werden kann. Man könnte denken, daß Idiome des Typs (41) nach dem Prinzip der idiomspezifischen semantisch-syntaktischen Asymmetrien beschrieben werden können. Eine gewisse Ähnlichkeit des Idioms die Finger von etw. lassen mit dem Idiom jmdm. den Garaus machen in bezug auf ihre semantisch-syntaktische Struktur liegt auf der Hand: Das zu promovierende idiominterne Akkusativkomplement hat die „leere" ThetaRolle #. Allerdings weisen diese Idiome auch relevante Unterschiede auf. Die Konstituente die Finger wird nicht unbedingt selbst syntaktisch als Subjekt empfunden, vgl. die umgangssprachliche Variante des Satzes (41): (41 a) Davon wird die Finger gelassen!24
23
24
unthematischem es in unpersönlichen Konstruktionen, ergibt sich niemals passivischer Sinn, sondern ausschließlich die Vorgangslesart." (Abraham in Vorb.: 24-25). Auch im Russischen bilden einige verba dicendi ohne Akkusativkomplement ausnahmsweise eine Art des Eintakt-Passivs, vgl. ob etom mnogo govoritsja v poslednee vremja „in der letzten Zeit wird viel darüber gesprochen". Für dieses Beispiel danke ich Stephan Eispaß.
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Dmitrij Dobrovol 'skij
In (41a) besteht zwischen wird und die Finger keine Kongruenz in der Zahl, folglich bleibt die syntaktische Subjektposition in diesem Fall unbesetzt. Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß das Idiom die Finger von etw. lassen nicht nur aus syntaktischer, sondern auch aus semantischer Sicht intransitiv ist. Hinter der PP von etw. steht kein Objekt, auf das eine agensbestimmte Handlung oder Aktivität gerichtet wäre (vgl. die Bedeutungserklärung in Duden 11 1998: 206: ,sich nicht mit jmdm., mit etwas abgeben'). Somit ist hier die erste semantische Voraussetzung für die Passivierung (s. unter 3) nicht erfüllt, und der Ausdruck (41) bzw. (41a) ist als eine Form des unpersönlichen Passivs einzustufen.25 In diesem Sinne weist (41) eine gewisse Ähnlichkeit mit (17-18) auf, allerdings mit dem Unterschied, daß es sich bei Finger nicht um das sog. innere Objekt, sondern um ein auf der literalen Ebene vollwertiges Akkusativkomplement des Verbs lassen handelt. Vgl. auch (42). (42)
Es wurde nichts gemacht, nur Haare gespalten.
Fälle wie (41-42) scheinen ein Spezifikum der Idiomatik darzustellen, müssen deshalb bei der Theoriebildung der Idiom-Grammatik besonders berücksichtigt werden. Gehen wir nunmehr zur Analyse der Bedingungen über, die für die Bildung des EintaktPassivs von VP-Idiomen erfüllt werden müssen. Die wichtigste Bedingung ist semantischer Natur und gilt dementsprechend für alle deutschen VPs, seien es Verben oder VP-Phraseme. Ihre Bedeutung muß agentiv-aktional sein, d. h. die entsprechende Proposition muß sich auf Aktivitäten oder Handlungen beziehen, und das blockierte Aktivsubjekt „als Bezeichnung für aktivitäts- oder handlungsfähige Wesen, in der Regel also Personen, (mißverstanden werden" [Zifonun/Hoffmann/Strecker et al. (1997: 1805)]. Die Relevanz dieser Bedingung kann an den Beispielen (43-44) demonstriert werden. (43) (44)
jmdm. durch die Lappen gehen, ins Auge gehen auf Nummer sicher gehen, mit jmdm. ins Gericht gehen
Während die Idiome (43) kein Passiv bilden, lassen die Idiome (44) Formen des EintaktPassivs zu, vgl. (44a). (44a)
Diesmal wurde vom Trainer auf Nummer sicher gegangen. Er hat die erkrankten Sportler gar nicht in Betracht gezogen.26
Die Möglichkeit der Passivierung ist in Kontexten wie (44a) vor allem deshalb gegeben, weil die Bedeutung des Idioms agensbestimmt ist: auf Nummer sicher gehen bedeutet so25
26
Dieses Idiom weist femer wichtige pragmatische Restriktionen auf, die seinen Gebrauch im Passiv charakterisieren, und zwar bleibt er auf die Sprechakte einer energischen Aufforderung beschränkt (siehe auch weiter unten). Für dieses Beispiel danke ich Barbara Wotjak.
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
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viel wie .sicher handeln'. Da Transformationen des Typs .sicher handeln' -> ,es wird sicher gehandelt' durchaus zulässig sind, sind auch die entsprechenden Transformationen der Idiomstruktur {aufNummer sicher gehen -> es wird auf Nummer sicher gegangen) akzeptabel. Die gleiche Erklärung gilt für das Idiom mit jmdm. ins Gericht gehen. Seine Bedeutung (so etwas wie Jmdn. streng zurechtweisen') läßt eine agentiv-aktionale Interpretation zu. Die Passivunfahigkeit der Idiome (43) resultiert aus der nichtagentiven semantischen Rolle ihrer Subjekte und nicht, wie traditionell angenommen, aus der Passivunfahigkeit des Verbs gehen. Diese Hypothese erweist sich in zweierlei Hinsicht als falsch: Erstens finden sich passivfahige Idiome mit gehen wie in (44), und zweitens ist mit gehen ein Eintakt-Passiv möglich, denn bei gehen handelt es sich um Aktivitäten von Personen, vgl. (44b). (44b)
Es gab ein reges Treiben. Es wurde gekommen und gegangen. Es wurde auf Bäume geklettert und wieder herabgesprungen. [Beispiel aus Zifonun/Hoffinan n/Strecker et al. (1997: 1806)].
Die Agensbestimmtheit und Aktionalität der aktuellen Bedeutung und der inneren Form des Idioms ist bei der Bildung des unpersönlichen Passivs von VP-Idiomen ohne Akkusativkomplement (genauso wie die Möglichkeit einer agentiv-transitiven Interpretation bei der eigentlichen Idiom-Passivierung; vgl. Abschnitt 3) die wichtigste semantische Voraussetzung. Die grammatischen Bedingungen der Passivierung, die unter 4 besprochen wurden, gelten dagegen für die Bildung des Eintakt-Passivs nicht, vgl. (45) und (46). (45) (46)
Hier wird nicht aus der Reihe getanzt! *Hier wird nicht ins Gras gebissen!
Die beiden Idiome aus der Reihe tanzen und ins Gras beißen sind nicht teilbar und haben in ihrer Argumentstruktur keine Aktanten, die zum Passivsubjekt promoviert werden könnten. Sie sollten also nach allen für die Passivtransformation (d. h. für die Bildung des Zweitakt-Passivs) relevanten Kriterien passivunfahig sein. Die Tatsache, daß sich diese Idiome in bezug auf die Passivbildung unterscheiden,27 läßt sich nur aus semantischer Sicht erklären: Während aus der Reihe tanzen eine vom Agens kontrollierbare Handlung bezeichnet, läßt ins Gras beißen (wie auch alle Lexikoneinheiten mit der Bedeutung .sterben') im Normalfall keine Handlungsinterpretation zu.
27
Allerdings ist das Passiv des Idioms aus der Reihe tanzen nur unter bestimmten kontextuellen Bedingungen akzeptabel; vgl. *Es wird aus der Reihe getanzt. In bestimmten Kontexten ist möglicherweise auch (46) akzeptabel, es handelt sich aber in solchen Fällen eindeutig um sprachspielerische Abwandlungen der Idiomstruktur, also um Erscheinungen, die hier zunächst ausgeklammert werden. „Es ist richtig, daß perfektive Intransitiva wie ankommen, sterben nicht ganz plausibel passiviert werden - aber es ist eben nicht ausgeschlossen" (Abraham in Vorb.: 19)
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Die Forderung der Kontrollierbarkeit der Handlung bzw. Aktivität, die das Idiom bezeichnet, durch das Agens ergibt sich in Fällen wie (45-46) aus der Tatsache, daß die Verwendung des Eintakt-Passivs von den eigentlich nicht passivfähigen einwertigen Verben (vor allem von den Nicht-Handlungsverben) pragmatischen Restriktionen unterliegt. Sie ist nur in den Sprechakten einer energischen Aufforderung möglich, d. h. in Kontexten wie Es wird hiergeblieben!; Jetzt wird aber geschlafen!; Hier wird sich hingelegt!; Jetzt wird sich gewaschen! [vgl. Duden 4 (1984: 183)]. Da es sinnlos ist, jemanden zu einer Aktivität aufzufordern, die er bzw. sie nicht kontrollieren kann, ist das Passiv in diesen ohnehin recht seltenen Fällen nur dann möglich, wenn die Kontrollierbarkeit gegeben ist. Die betreffenden pragmatischen Einschränkungen müssen bei der Beschreibimg des Idiom-Eintakt-Passivs berücksichtigt werden. Dadurch unterscheidet sich das EintaktPassiv des Typs (41) bzw. (45) vom Eintakt-Passiv des Typs (15-16). Zu den letzteren vgl. auch nichtidiomatische Formen, die aus semantischer Sicht transitive Züge aufweisen, wie Ihm wird gratuliert; Auf ihn ist zu wenig geachtet worden; Dem Antrag wird von der Kommission stattgegeben, oder auch Hier wird gearbeitet [Beispiele aus Flämig et al. (1981: 546)]. Die letztgenannten Formen sind nicht an bestimmte Sprechakte gebunden, sie sind in Zeitformen und Illokution frei und können eine Agensangabe enthalten. In der Bildung dieser Passivformen mit allen relevanten Restriktionen unterscheiden sich die VP-Idiome nicht von den entsprechenden Verben.
6.
Zu pragmatischen Faktoren des Idiom-Passivgebrauchs
Im vorigen Abschnitt wurde darauf hingewiesen, daß gewisse Formen des Eintakt-Passivs starken pragmatischen Restriktionen unterliegen, indem ihr Gebrauch auf bestimmte Sprechakte beschränkt ist. Diese Beschränkungen sind allerdings nicht idiomspezifisch, sondern erstrecken sich auf den ganzen Verbbereich des Deutschen und werden an die Idiome vererbt. Es fragt sich, ob es weitere relevante (möglicherweise auch idiomspezifische) pragmatische Faktoren gibt, die den Gebrauch der Idiome im Passiv begünstigen bzw. behindern. Die Aufdeckung solcher Faktoren würde helfen, die Frage zu beantworten, unter welchen Bedingungen überhaupt das Bedürfnis entsteht, das betreffende Idiom ins Passiv zu setzen. Oben wurde bereits gesagt, daß bei weitem nicht alles im Bereich des Idiom-Passivs aufgrund semantischer und grammatischer Regeln erklärt werden kann. Vieles bleibt „lexikonbasiert". Mit anderen Worten, es gibt Fälle, in denen die Passivierung entsprechend den relevanten Regeln möglich sein sollte, de facto aber nicht implementiert wird. Der Verweis auf den Usus ist im Grunde keine Erklärung, denn hinter
Pragmatische Faktoren bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen
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dem Usus stehen bestimmte diskursive Gewohnheiten konkreter Sprecher, die meistens kommunikativ-pragmatisch bedingt sind. Im folgenden soll nicht versucht werden, exhaustive Antworten auf diese Frage zu finden. Dies wäre angesichts des begrenzten Umfangs der Arbeit und der zugrundeliegenden empirischen Daten kaum denkbar. Es soll vielmehr ein Versuch unternommen werden, die möglichen Wege der Erforschung pragmatischer Phänomene im Bereich der Idiom-Passivierung aufzuzeigen. Grundsätzlich gibt es zwei methodische Möglichkeiten, an die Aufdeckung und Beschreibung pragmatischer Phänomene dieser Art heranzugehen. Das sind (a) der zwischensprachliche Vergleich und (b) die Untersuchimg von Textkorpora. Im Ergebnis einer zwischensprachlichen Analyse können bestimmte einzelsprachliche Besonderheiten festgestellt werden, die sich nur aufgrund relevanter Konventionen der Diskursgestaltung erklären lassen und somit die Bereicherung des metasprachlichen Instrumentariums um eine pragmatische Komponente erfordern. Die Hinwendimg zu größeren Samples von authentischen Kontexten, die den Textkorpora entnommen sind, liefert zunächst empirische Daten zum realen Gebrauch bestimmter sprachlicher Formen und wirft somit die Frage auf, warum nicht alle potentiell akzeptablen Möglichkeiten in Wirklichkeit realisiert werden. Die Rolle der einzelsprachspezifischen Konventionen bei der Passivierung von Idiomen wird bei der Gegenüberstellung quasiäquivalenter Idiome verschiedener Sprachen evident. So läßt sich das deutsche Idiom (47) leicht passivieren, vgl. (47a). Auch eine unpersönliche man-Form ist möglich (47b). Das quasiäquivalente russische Idiom (48) erfüllt die gleichen semantischen und grammatischen Bedingungen für die Passivierung wie (47), jedoch erscheinen Passivformen wie (48a) äußerst fraglich. Statt dessen würde man in Situationen, in denen die Blockierung des Aktivsubjekts aus kommunikativer Sicht verlangt wird, zu unpersönlichen Formen wie (48b) greifen. (47) (47a) (47b) (48) (48a) (48b)
dt. jmdm. das Fell über die Ohren ziehen Ihm wurde das Fell über die Ohren gezogen. Man hat ihm das Fell über die Ohren gezogen. russ. drat'/sodrat' tri Skury s kogo-libo „von jmdm. drei Felle abziehen" S nego byli sodrany tri skury. „Von ihm wurden drei Felle abgezogen." S nego sodralli tri skury. „Von ihm hat man drei Felle abgezogen."
Offensichtlich hat das Passiv im Verbsystem des Russischen eine andere Stellung als im Deutschen. Im Russischen ist das Passiv grundsätzlich eine stärker markierte Form als im Deutschen. Die Argumentreduktion sowie auch die Argumentrestrukturierung wird (wenn sie aus kommunikativen Gründen erforderlich ist) weitgehend mit anderen Mitteln erreicht, und zwar meistens mit Hilfe unpersönlicher Konstruktionen. Dies betrifft in
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besonderem Maße die Passivierung von Idiomen, die im Russischen im Vergleich zum Deutschen relativ selten vorkommt. Im Vergleich des Deutschen mit dem Englischen dominiert dagegen die Passivierung im Englischen. Darauf weist z. B. Doherty (1996: 591) hin: Although the conceptual shift from an active to a passive(-1ike) perspective is systematically available in English and German, the English lexicon has licensed the shift in many more cases than German.
Diese sprachtypologischen Unterschiede sind also lexikonbasiert und letzten Endes auf funktionale Phänomene wie die Thema-Rhema-Gliederung des Satzes zurückzuführen. So hängt die stärkere Affinität des Englischen zur Passivierung mit einer größeren thematischen Freiheit des Subjekts im englischen Satz zusammen [vgl. Doherty (1996: 637)]. Aufgrund der Kenntnis funktional bzw. pragmatisch bedingter Spezifika konkreter Sprachen in der Präferenz bestimmter Strategien der Äußerungsgestaltung lassen sich Prognosen in bezug auf die Frequenz bestimmter syntaktischer Formen im realen Diskurs aufstellen, z. B. (wie in unserem Fall) in bezug auf die Frequenz der Implementierung der Passivtransformation von Idiomen. Die Hinwendung zu Textkorpora gestattet, eine aus pragmatischer Sicht besonders wichtige Frage zumindest approximativ zu diskutieren, und zwar die Frage, was das Idiom-Passiv für die Gestaltung der Äußerung und ihre Verknüpfung mit anderen Äußerungen im Diskurs leistet. In [Zifonun/Hoffinann/Strecker et al. (1997: 1837-1850)] wird daraufhingewiesen, daß die wichtigsten Funktionen des Passivgebrauchs in der Argumentreduktion und Argumentrestrukturierung bestehen. Die Reduktion des agentiven Arguments (d. h. des blockierten Aktivsubjekts) kann einerseits zu einem kommunikativ sinnvollen Ergebnis führen, weil das entsprechende Denotat, das im Kontext nicht genannt wird, aus dem aktualisierbaren Wissen der Kommunikationsteilnehmer abrufbar ist. Andererseits, wenn der durch das blockierte Aktivsubjekt bezeichnete Ereignisbeteiligte im Kontext genannt ist, trägt die Passivierung zur impliziten Themakontinuität bei. Die Argumentrestrukturierung führt entweder zur Thematisierung des Passivsubjekts (unmarkierter Fall) oder seltener zu seiner Hervorhebimg bzw. Neu-Thematisierung (markierter Fall) bei. Die Analyse eines Samples von Kontexten mit Idiomen im Passiv aus den Mannheimer Korpora und ausgewählten Texten der aktuellen Presse hat ergeben, daß es sich bei der Idiom-Passivierung immer um die Argumentreduktion handelt. Im analysierten Sample findet sich kein einziger Beleg mit einem zum präpositionalen Komplement degradierten Aktivsubjekt, d. h. mit einer von- bzw. durch-PP. Das gestattet zu schlußfolgern, daß die Sprecher vor allem in den Fällen zum Idiom-Passiv greifen, in denen die agentive Valenz ausgespart werden muß. Dabei begegnen sowohl Kontexte, in denen das Denotat des
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301
ausgesparten Arguments nicht genannt ist (49), als auch Kontexte, in denen es explizit erwähnt wird [vgl. den Gebrauch des Idioms jmdn. an der Nase herumßihren in (50)]. (49)
(50)
Ja, Frankfurt hatte damals keinen guten Ruf. Inzwischen hat sich viel geändert. [...] Aber anders als München oder Hamburg läßt sich Frankfurt schwerlich lieben. [...] Ob das vielleicht damit zusammenhängt, daß jene Bürger Frankfurts - man unterschätze ihre Zahl nicht - , die der künstlerischen Gegenwelten bedürfen, die also auf Oper und Theater angewiesen sind, hier seit einiger Zeit im Stich gelassen werden, jedenfalls nicht auf ihre Rechnung kommen? (Der Spiegel, 4, 1997) Wenn die neue Gouverneurin angesichts der Grenzüberschreitungen des entfesselten Mobs schliesslich durchschaut, dass sie an der Nase herumgejuhrt worden ist, so steckt darin tragische Ironie. Denn damit widerfährt ihr nun metaphorisch, was ihrem Standesgenossen durch ihren eigenen Protégé schon konkret angetan wurde: mit Stawrogins Attentat auf Gaganow wurde zum erstenmal über die Stränge der sozialen Norm geschlagen. (Urs Heftrich. Die Schrift an der Wand: Dostojewskis „Böse Geister" in neuer Übersetzung. In: Neue Züricher Zeitung, Nr. 271, 21 .-22.11.1998)
In (49) handelt es sich um eine bewußte anonymisierende Nicht-Thematisierung. In (50) dagegen wird der agentive Aktant explizit genannt: einmal als der Protégé der neuen Gouverneurin, das zweite Mal als Stawrogin. Die Argumentreduktion dient hier vor allem als Mittel zur Vermeidimg der Redundanz und zur Defokussierung des Agens. Da dabei an das aktuelle Diskurswissen angeknüpft wird, bleibt die Themakontinuität implizit erhalten. Die Argumentreduktion geht meistens mit der Argumentrestrukturierung einher. Ihre Rolle für die Entfaltung des Diskursthemas und die Gewährleistung der Textkohärenz kann zunächst am Beispiel des Idioms jmdn. an der Nase herumßhren in (50) gezeigt werden. Die in dem vorhergehenden Kontext thematisierte Ereignisbeteiligte Gouverneurin Julia Michajlowna Lembke wird im ersten Teilsatz von (50) in Form der deskriptiven Nomination die neue Gouverneurin erwähnt. Diese NP tritt hier als Thema und Topik auf und wird im zweiten Teilsatz als sie anaphorisch pronominalisiert, wobei die thematische Funktion und topikale Position dank der Passivierung des Idioms jmdn. an der Nase herumßhren beibehalten werden. Diese Diathese erlaubt einen unmittelbaren thematischen Anschluß an den ersten Teilsatz. Eine andere Funktion hat die Argumentrestrukturierung im Satz aus Kontext (50), der das Idiom über die Stränge schlagen im Eintakt-Passiv enthält.28 Das durch die Passivierung aus der Subjektposition verdrängte Agens Stawrogin erscheint in demselben Satz innerhalb der PP mit instrumentaler Semantik mit Stawrogins Attentat auf Gaganow. Der korrespondierende Aktivsatz (50a) ist zwar grundsätzlich möglich, hat aber eine andere Bedeutung.
28
Von weiteren Modifikationen wie Einschub des Attributs über die Stränge der sozialen Norm schlagen und der bereits in Dostoevskijs Roman thematisierten Aktualisierung des literalen Plans des Idioms jmdn. an der Nase herumßihren kann im Rahmen unserer Fragestellungen zunächst abgesehen werden.
302 (50a)
Dmitrij Dobrovol 'skij Stawrogin hat mit seinem Attentat auf Gaganow zum erstenmal über die Stränge der sozialen Norm geschlagen.
In (50a) ist Stawrogin als aktiver Urheber der Handlung fokussiert, während er im entsprechenden Satz aus (50) nicht als bewußt Agierender, sondern als eine Komponente des Instruments, mit dessen Hilfe zum erstenmal über die Stränge der sozialen Norm geschlagen wurde, dargestellt ist. Die Argumentrestrukturierung dient hier also zur Verschiebung des Fokus und zur damit verbundenen Veränderung der inhaltlichen Interpretation der betreifenden Textstelle. Im analysierten Sample begegnen bestimmte Idiome, die oft im Passiv gebraucht werden. Eines dieser Idiome ist den Bock zum Gärtner machen. Semantisch läßt sich die Affinität zur Passivierung dadurch erklären, daß die Bedeutung dieses Idioms .einer Person, die fähig zu sein scheint, in einem bestimmten Tätigkeitsbereich, der mit Verantwortung und/oder Macht verbunden ist, großen Schaden anzurichten, erlauben, eben diesen Tätigkeitsbereich zu übernehmen' eher die Folgen der Handlung als ihren Urheber fokussiert und folglich Kontexte der Nicht-Thematisierung des Agens bevorzugt. Es handelt sich also um eine anonymisierende Argumentreduktion, vgl. (51-52). (51) (52)
[...] statt dessen wurde auch noch der Bock zum Gärtner gemacht. (Stern, 19.11.1987) [...] der zweite Komplex dreht sich um die Erteilung von Subaufträgen an das Darmstädter Ingenieurbüro Dittrich, mit dem laut Sitzungsprotokoll der „Bock zum Gärtner" gemacht wurde. (Mannheimer Morgen, 03.03.1988)
Aus kommunikativ-pragmatischer Sicht verdient die Tatsache, daß das Passivsubjekt Bock in allen Kontexten meines Samples zwar thematisiert, aber nicht topikalisiert wird, besondere Aufmerksamkeit. Die entsprechende Umstellung der Konstituente Bock würde zu einem kaum akzeptablen Ergebnis fuhren, vgl. (52a). (52a)
'[...] mit dem der Bock laut Sitzungsprotokoll zum Gärtner gemacht wurde.
Mögliche Gründe dafür liegen in der intuitiven Präferenz der Realisationen eines Idioms, in denen seine Teile nicht auseinandergerissen werden, d. h. überall, wo es nur möglich ist und den kommunikativen Absichten nicht entgegenläuft, wird die topologische Einheit des Idioms bewahrt. Auf ähnliche Fälle wurde oben bereits hingewiesen (vgl. Fußnote 17). Der Unterschied zu jenen Fällen besteht darin, daß es sich beim Ausdruck den Bock zum Gärtner machen um ein semantisch teilbares Idiom handelt. Das bedeutet, daß die Topikalisierung bestimmter Idiomteile nicht nur in den Fällen vermieden wird, in denen diesen Idiomteilen keine Bedeutung zugeordnet werden kann (was an sich selbstverständlich ist), sondern auch in den Fällen, in denen die betreffenden Idiomteile Träger einer selbständigen Bedeutung sind und eine kommunikativ-pragmatisch gleichwerige Alternative zur topikalen Umstellung vorhanden ist. Die Sprecher bevorzugen die Alternative, die den Verzicht auf den Gleichlauf von Subjekt, Thema und Topik verlangt, jedoch nicht die
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Trennung der Konstituente Bock von der Konstituente zum Gärtner. Man kann also in diesem Zusammenhang von nicht trivialen pragmatisch-syntaktischen Restriktionen sprechen, die spezifisch für Idiome sind. Die Analyse des korpusbasierten Samples hat ferner ergeben, daß die Passivierung mit idiomexterner NP-Promovierung annähernd die gleiche Frequenz aufweist wie die Passivierung mit idiominterner NP-Promovierung. Es finden sich sogar Kontexte, in denen die beiden Passivarten innerhalb eines zusammengesetzten Satzes vorkommen und einen identischen referentiellen Bezug haben, vgl. (53). (53)
[...] käme Kohls Kandidat, Waldemar Schreckenberger, der wegen politischer und administrativer Pannen im Kanzleramt als Chef dieses Amtes aufs Abstellgleis gestellt wurde, an die Spitze des Rechnungshofs, so würde, meint der Abgeordnete Esters, ,4er Bock am Gärtner gemacht. (Die Zeit, 29.03.1985)
Während das Passivsubjekt des Teilsatzes der wegen politischer und administrativer Pannen im Kanzleramt als Chef dieses Amtes aufs Abstellgleis gestellt wurde eine idiomexteme NP darstellt, ist das Passivsubjekt des Teilsatzes so würde [...] der Bock zum Gärtner gemacht eine idiominterne NP, und zwar die Konstituente Bock. In (53) sind die beiden Passivsubjekte koreferent. Damit ist evident, daß die Konstituente Bock ihr eigenes semantisches Potential hat. Obwohl in der Fachliteratur zur Phraseologie verschiedentlich behauptet wird, es gebe keine semantische Teilbarkeit der Idiomstruktur, weil alle Idiome per definitionem nichtkompositionell seien, zeigen Beispiele wie (53), daß die Teilbarkeit bestimmter Idiome ein real existierendes Phänomen ist, das für die Textgestaltung eine wesentliche Rolle spielt.
7.
Schlußbemerkungen
Das syntaktische Verhalten der Idiome richtet sich nicht ausschließlich nach dem Usus (wie dies in strukturalistischen und generativistischen Idiomatik-Konzeptionen z. T. angenommen wurde), sondern stellt ein in hohem Grade regelgeleitetes semantisch basiertes Phänomen dar. Die entsprechenden Restriktionen sind folglich nicht völlig arbiträr, sondern in bestimmtem Maße prognostizierbar. Dies schließt jedoch nicht aus, daß in manchen Fällen nur der Usus über die Akzeptabilität der jeweiligen Transformation entscheidet. Diese vor allem in der Tradition der kognitiven Phraseologieforschung postulierten Prinzipien wurden in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der Passivtransformation überprüft und fanden ihre Bestätigimg. Die Bedingungen für die Passivierung deutscher und russischer Idiome sehen wie folgt aus.
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1. Allgemeine semantische Voraussetzung: Das Idiom muß sowohl seiner aktuellen Bedeutung als auch seiner inneren Form (d. h. der bildlichen Bedeutungskomponente) nach als eine agentiv-transitive VP interpretierbar sein. Mit anderen Worten, das Idiom muß - figurativ und wörtlich genommen - eine agensbestimmte Handlung oder Aktivität bezeichnen und entweder in seinem Aktantenpotential oder in seinem Konstituentenbestand eine NP bzw. PP in der Kasusrolle des Patiens oder Themas aufweisen. Ohne diese Voraussetzung ist das Zweitakt-Passiv generell nicht möglich. 2. Allgemeine grammatische Voraussetzung: Das Idiom muß entweder in seinem Aktantenpotential oder in seinem Konstituentenbestand eine Akkusativ-NP aufweisen, die bei der Argumentrestrukturierung zum Subjekt promoviert werden kann. 3. Im letzteren Fall muß die betreffende Akkusativ-NP eine relativ selbständige Bedeutung haben, um die Argumentrestrukturierung aus kommunikativer Sicht zu rechtfertigen. 4. Wenn die betreffende Akkusativ-NP im Konstituentenbestand des Idioms keine relativ selbständige Bedeutung hat und die Passivtransformation trotzdem implementiert wird, muß im Aktantenpotential des Idioms eine offene Stelle für eine NP bzw. PP vorhanden sein, die die Funktion des Themas übernehmen bzw. in die Topik-Position verschoben werden kann. In diesem Fall handelt es sich um die sog. idiomspezifischen semantisch-syntaktischen Asymmetrien. 5. Die Bildung des Eintakt-Passivs, das eine idiosynkratische Form des deutschen Verbsystems darstellt, richtet sich nach anderen Prinzipien. Die allgemeine semantische Bedingung dafür besteht darin, daß der Inhaltsplan des betreffenden Idioms agentiv-aktional sein muß. Mit anderen Worten muß sich sowohl die aktuelle Bedeutung als auch die innere Form des Idioms durch die Agensbestimmtheit und Aktionalität auszeichnen. Wenn das Eintakt-Passiv von genuin nicht passivfähigen einwertigen Verben gebildet wird, kommen zusätzliche pragmatische Restriktionen hinzu, und zwar ist dies nur in den Sprechakten einer energischen Aufforderung möglich. Dies betrifft auch die Idiome mit der entsprechenden Semantik. Diesbezüglich unterscheiden sich die VP-Idiome in der Bildung des Eintakt-Passivs nicht von den entsprechenden Verben. 6. Wenn die genannten Bedingungen eingehalten werden, heißt dies noch nicht, daß die Passivtransformation in jedem Fall möglich ist. Es handelt sich vielmehr darum, daß die Nichteinhaltung dieser Bedingungen die Passivierung bzw. die Bildung des EintaktPassivs ausschließt. Damit die Passivbildung auch wirklich zustande kommt, müssen zusätzliche pragmatische Bedingungen erfüllt werden. Das, was traditionell als Unvorhersagbarkeit des Usus beschrieben wurde, ist aus pragmatischer Perspektive ein kommunikativ motiviertes Phänomen. In bezug auf die Passivierung bedeutet es, daß Kontextbedingungen vorliegen müssen, die Argumentreduktion und/oder Argumentrestrukturierung, die meistens im Dienste der thematischen Progression steht, erforderlich
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machen. Dabei wird aus dem analysierten Material evident, daß die Argumentreduktion im Bereich des Idiom-Passivs immer vorkommt, und die Argumentrestrukturierung somit vielmehr als eine Begleiterscheinung anzusehen ist. Damit die Argumentreduktion pragmatisch sinnvoll ist, muß die Semantik des betreffenden Idioms so beschaffen sein, daß sie die Nicht-Thematisierung des Agens als unmarkiert zuläßt. Dies kann z. B. daran liegen, daß nicht die Ausfuhrung der Handlung selbst, sondern vielmehr ihre Folgen fokussiert werden. Ein weiteres relevantes Moment ist die Beschaffenheit des Kontextes. Wenn der Kontext die Thematisierung des „Nichtagens" verlangt (ohne dabei seine Topikalisierung unbedingt zu erfordern), ist die kommunikativ-pragmatische Affinität zur Passivtransformation vorhanden. Was die tatsächliche Frequenz verschiedener Passivformen angeht, so begegnet das Zweitakt-Passiv bedeutend häufiger als das Eintakt-Passiv, so wie insgesamt im Deutschen. In diesem Sinne unterscheiden sich die VP-Idiome nicht von den Verben. Die Passivierung mit idiomexterner NP-Promovierung weist annähernd die gleiche Frequenz auf wie die Passivierung mit idiominterner NP-Promovierung, was die Rolle der semantischen Teilbarkeit der Idiomstruktur bei der syntaktischen Modifizierbarkeit von Idiomen sichtbar macht. Die analysierten empirischen Daten haben ferner gezeigt, daß im Bereich der IdiomPassivierung weder kreative Modifikationen noch fehlerhafte Abweichungen vom Standard anzutreffen sind.29 Die Passivierung wird also zur standardmäßigen Einbettung des Idioms in den Kontext benutzt. Gerade aus pragmatischer Sicht stellt sich die Frage nach den Ursachen. Sie scheinen in der Existenz konkurrierender Formen zu liegen. Wenn das kommunikative Bedürfiiis nach Argumentreduktion und/oder Argumentrestrukturierung besteht und die hier formulierten Regeln die Bildung des Passivs nicht zulassen, gibt es immer noch die Möglichkeit, dieses kommunikative Bedürfiiis zu erfüllen, indem z. B. im Deutschen auf einen man-Satz zurückgegriffen wird. Analoge Möglichkeiten finden sich auch in anderen Sprachen (Russisch, Englisch, Französisch usw.). Daraus ergibt sich, daß die Verletzung der Regeln in diesem Fall kommunikativ nicht gerechtfertigt ist. Das schließt natürlich nicht aus, daß es Fälle gibt, in denen der Akzeptabilitätsgrad der betreffenden Passivform von verschiedenen Sprechern unterschiedlich beurteilt wird. Das liegt aber nicht an der sprachspielerischen Intention, sondern an der Tatsache, daß der Akzeptabilitätsgrad des Idiom-Passivs ein graduierbares Phänomen darstellt. Diese Gradu29
So findet sich in dem von Glspaß (1998) analysierten Korpus zu Bundestagsdebatten kein einziger Beleg einer fehlerhaften Idiom-Passivierung, obwohl sonst nichtintendierte Abweichungen unterschiedlicher Typen vertreten sind. Dies kann als eine zusätzliche Bestätigung für das Vorhandensein relevanter Regularitäten bei der Idiom-Passivierung betrachtet werden. Die meisten Versprecher finden sich bekanntlich im Bereich lexikonbasierter und nicht regelgeleiteter Phänomene.
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ierbarkeit resultiert daraus, daß die Parameter, die die Passivierung regeln, z. T. selbst graduierbar und individuell definiert sind. Dies bezieht sich vor allem auf die semantische Teilbarkeit der Idiomstruktur. „Individuais will naturally differ regarding how readily they perceive the metaphorical basis of an idiom, resulting in variability of judgments." [Nunberg/Sag/Wasow (1994: 525)]. 7. Im ganzen zeugen diese Ergebnisse der vorliegenden Arbeit von der Validität eines der wichtigsten Postulate der kognitiven Linguistik, das besagt, daß die Beschreibung der Sprachstruktur grundsätzlich in konzeptuell-semantischen Termini erfolgen kann. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der in der kognitiv orientierten Phraseologieforschung oft diskutierten Gegenüberstellung von semantisch teilbaren und nichtteilbaren Idiomen zu. Das syntaktische Verhalten der teilbaren Idiome erinnert vielmehr an das syntaktische Verhalten nichtidiomatischer Wortverbindungen, während die nichtteilbaren Idiome hinsichtlich der transformatonellen Bedingungen eher den Wörtern ähnlich sind. Nichttriviale Besonderheiten der Idiomsyntax ergeben sich ferner aus der Asymmetrie zwischen der lexikalischen Gegliedertheit (Polylexikalität) der Idiome einerseits und ihrer relativen semantischen Integrität andererseits. Im Fall der Passivtransformation manifestiert sich das im Fehlen des „Gleichklangs" zwischen semantischen und syntaktischen Eigenschaften des Passivsubjekts bzw. zwischen seiner thematischen Funktion und topikalen Stellung.
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