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German Pages 280 Year 2014
Alexa Geisthövel, Bodo Mrozek (Hg.) Popgeschichte
Histoire | Band 48
Alexa Geisthövel, Bodo Mrozek (Hg.)
Popgeschichte Band 1: Konzepte und Methoden
Gefördert durch das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam.
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Inhalt
Einleitung
Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek | 7 Pop und Politik
Detlef Siegfried | 33 Popkultur und Geschlechternormen. Männlichkeit und Weiblichkeit in der Bonner Republik
Uta G. Poiger | 57 Pop und Generationalität. Anmerkungen zu einer vernachlässigten Beziehung
Lu Seegers | 79 Subkultur und Cultural Studies. Ein kulturwissenschaftlicher Begriff in zeithistorischer Perspektive
Bodo Mrozek | 101 Auf der Suche nach dem Publikum. Popgeschichte aus der »Production of Culture«-Perspektive
Klaus Nathaus | 127 Mobil hören. Klang- und technikhistorische Zugänge zum Pop und seinen »Nutzern«
Heike Weber | 155 Lebenssteigerung. Selbstverhältnisse im Pop
Alexa Geisthövel | 177 Pop- und Emotionsgeschichte. Eine viel versprechende Partnerschaft
Henning Wellmann | 201
Geschichtsmaschine Pop. Politik und Retro im vereinten Fernseh-Deutschland
Thomas Lindenberger/Heiner Stahl | 227 Autorinnen und Autoren | 271
Einleitung A LEXA G EISTHÖVEL /B ODO M ROZEK
Braucht Popgeschichte Theorie? Es ist nicht allzu lange her, da war Theorie selbst Pop. Die mit der Buchreihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft sozialisierte akademische »Generation stw« hat Theorie »als Pop rezipiert«1, die im Merve-Verlag erschienenen theoretischen Schriften las man so, »wie man Platten hörte« und in den 1980er Jahren taugte der theoriegesättigte »Popdiskurs« sogar als betriebswirtschaftliche Grundlage für Publikumszeitschriften.2 Auch die Geschichtswissenschaft hat in den siebziger bis neunziger Jahren ihren eigenen Theorieboom erlebt, der sich, ausgehend von der Initialzündung der Neuformierung des Faches als »Historische Sozialwissenschaft«, in verschiedene Richtungen verzweigte. So kontrovers damals über Modelle gestritten wurde, es blieb doch die gemeinsame Überzeugung, dass die Quellen erst dann zu sprechen beginnen, wenn man sie mit scharf gestellten Fragen konfrontiert. In jüngster Zeit wird die Theorieplatte jedoch nicht mehr ganz so oft aufgelegt und einige besonders häufig gespielte Exemplare knistern mit der Patina leicht angekratzten alten Vinyls oder gar Schellacks. Eine gewisse Theoriemüdigkeit hat sich ausgebreitet, zumindest gegenüber den ganz großen Weltdeutungsversuchen und gegenüber theoretischem Schauwerk in den Einleitungen historiographi1
Bürger: Die Stunde der Theorie, S. 6.
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So Cord Riechelmann aus Anlass des Nachrufes auf den Gründer des theorieorientierten Merve-Verlages Peter Gente. In: Tageszeitung vom 11.2.2014. Anschaulich schildert die ebenso musik- wie theoriehungrige Subkultur: Schmidt: Als ich mal dazu gehörte.
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scher Monographien, das in den Hauptteilen der Bücher dann kaum mehr eine Rolle spielt.3 Anders sieht es nach wie vor in Nachbardisziplinen aus, deren Selbstverständnis sich stärker auf theoretische Modelle der Welterklärung gründet und die Pop vorwiegend durch diese Brille wahrnehmen.4 Fächer wie die Philosophie, die Musik-, Film-, Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften haben – um im Bild zu bleiben – etliche Oldies im Plattenregal der Poptheorie und gelegentlich werden sogar neue Hits geschrieben.5 Aus historischer Perspektive erscheint Pop im akademischen Feld daher oft übertheoretisiert und empirisch unterforscht. Aus diesem Grund führt der vorliegende Band nicht die »Theorie«, sondern die niedriger gehängten »Konzepte und Methoden« im Titel. Die »Konzepte« stehen für den deduktiven Part der Popgeschichte, die wie jedes andere Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft auf intellektuelle Selbstverständigung und produktive Abstraktion angewiesen ist. Für ihre Analyse sind zeitlich und räumlich begrenzte Arbeitshypothesen hilfreich, die der Kontextualisierung mit historischen Gesamtnarrativen dienen. Bekannte Interpretamente sind etwa die Amerikanisierung oder Westernisierung als Teil eines transatlantischen Prozesses, der auch auf wirtschaftlicher, politischer und militärischer Ebene stattfand, oder die Körperlichkeiten und Selbstverhältnisse einschließende Liberalisierungsthese der westlichen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, ebenso wie die Transformation von Industriestaaten zu Konsum-, Wohlstands- oder Mediengesellschaften.6 Kann Popgeschichte diese etablierte Konzepte durch neue Methoden bereichern oder sie gar in Frage stellen und korrigieren?
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Vgl. Leo: Zehn Jahre theorieabhängig; Felsch: Merves Lachen.
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Vgl. Hecken: Theorien der Populärkultur.
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Vgl. etwa Grasskamp/Krützen/Schmitt (Hg.): Was ist Pop?; Behrens: Die Diktatur der Angepassten; Goehr/Greif/Jacke: Texte zur Theorie des Pop; Kleiner/ Wilke: Performativität und Medialität.
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Beispiele sind: Doering-Manteuffel/Raphael: Nach dem Boom; ders.: Wie westlich sind die Deutschen?; Herbert: Vom Abendland zur Bürgergesellschaft; Jarausch/Siegrist: Amerikanisierung und Sowjetisierung; Wildt: Vom kleinen Wohlstand; Siegrist/Kaelble/Kocka: Europäische Kosumgeschichte.
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P OPGESCHICHTE : E IN
NEUES ALTES
F ELD
Dieser Band thematisiert Popgeschichte für Historiker. Das klingt nur im ersten Moment nach Tautologie. Denn Popgeschichte gibt es schon, allerdings wird sie in der Regel nicht von Historikerinnen, nicht nach den handwerklichen Standards und entlang der Fragen historischer Forschung geschrieben. In der massenmedialen Geschichtskultur scheint Pop längst allgegenwärtig: in Sachbüchern, die an einzelne Interpreten, Bands oder Stilrichtungen erinnern, in oft aus privater Sammelleidenschaft entstandenen kleinen Ausstellungen und Museen, als Oldie-Format in Rundfunk und Fernsehen, in Histotainment-Reihen sowie in zahlreichen Youtube-Videos.7 Auch der Ausstellungsbetrieb und die politische Bildung haben das Thema längst in ihr Repertoire aufgenommen.8 Das Spektrum reicht vom Anekdotisch-Kuriosen über sorgfältig recherchierte thematische Box-Sets bis zu aufwändigen Dokumentationen, die Quellensammlungen eigenen Rechts darstellen.9 Durch seine Intellektualisierung ist Pop während der vergangenen 25 Jahre auf seinem Marsch durch die Institutionen akademisch in alten und neuen Disziplinen heimisch geworden.10 Mit dem Typus des Pop-Intellek-
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Vgl. etwa http://popgeschichte.wordpress.com/. Zu Oldie-Shows im Fernsehen vgl. den Beitrag von Thomas Lindenberger und Heiner Stahl in diesem Band.
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Vgl. etwa Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Rock! oder die Ausstellung Glam! The Performance of Style, die in Deutschland 2013 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt lief, Pih/Darren/Hollein (Hg.): GLAM.
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Vgl. etwa Bill Gerhhart/Ken Sitz (Hg.): Atomic Platters. Cold War Music from the Golden Age of Homeland Security. Bear Family Records BCD 16065-1/6 FM (2005. 6 CD-Box/Buch); Imran Ayata/Bülent Kullukcu (Hg.): Songs of Gastarbeiter Vol. 1. Trikont US-0453 (2014. Digipack mit Booklet). Für den deutschsprachigen Buchbereich vgl. etwa Teipel: Verschwende Deine Jugend; Denk/von Thülen: Klang der Familie. Beispiele für Fernseh-Dokumentationen sind 7 Ages of Rock (Regie: Francis Whatley, BBC 2007) oder Sex & Musik (Regie: Chloé Mahieu/Lila Pinell, ARTE/F 2014).
10 Dies zeigt die Gründung etlicher akademischer Periodika an: In den USA erscheint etwa das Journal of Popular Music Studies seit 1988, die französische Zeitschrift Volume! La revue des musiques populaires seit 1998, die britische
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tuellen haben sich neue Akteure im Verbund von Feuilleton, Hörsaal und Internet eine nicht unbeträchtliche Deutungsmacht erarbeitet. 11 Zumeist geht es ihnen um die Gegenwart, um die Beobachtung der eigenen »Gesellschaft« oder »Kultur«, auch um die Erneuerung intellektueller Positionen nach Marxismus und Psychoanalyse, um die Selbstpositionierung in einem politischen Feld.12 Da es häufig um Veränderung, vor allem um Innovationen oder Verfallserscheinungen geht, erstreckt sich der Deutungsanspruch zwangsläufig auch auf den Abgleich mit der Vergangenheit, also auf Geschichte.13 Den Anfang haben seit den 1960er Jahren Journalisten, freie Sachbuchautoren und Musikkritiker gemacht.14 Beispielhaft ist das Buch Mystery Train. Images of America in Rock’n’Roll Music von Greil Marcus aus dem Jahr 1975. Es handelt vom Rock’n’Roll zwischen den späten 1940er und den frühen 1970er Jahren. Anhand sechs exemplarischer Bands bzw. Einzelinterpreten macht Marcus Inventur; auf der Suche nach nicht weniger als dem, was Amerika ausmache, »its possibilities, limits, openings, traps«.15 Konsequent bürstet er gängige Interpretationen und Zuständigkeiten gegen den Strich. Es geht ihm darum, »to deal with rock’n’roll not as youth culture, or counterculture, but simply as American culture.«16 Von dieser Haltung – Pop als signifikanten Bestandteil von Gesellschaft zu verhandeln und nicht als Nischenphänomen – könnten deutsche Historiker lernen; in den USA ist dies auch in wissenschaftlichen Publikationen
Zeitschrift Popular Music History seit 2004. 2010 wurde das Journal of European Popular Culture gegründet und 2012 die interdisziplinäre deutschsprachige Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik. 11 Vgl. Geisthövel: Böse reden. 12 Vgl. Hinz: Cultural Studies; Geer: »If you have to ask«. 13 So führt die seit 1995 erscheinende (eher essayistische) Zeitschrift Testcard den Untertitel Beiträge zur Popgeschichte. Vgl. auch Jacke: Zurück zum Beton. 14 Neben Greil Marcus in den USA waren dies vor allem die Kritiker Jon Savage in Großbritannien und Diedrich Diederichsen in Deutschland, aber auch Romanciers wie Tom Wolfe, Norman Mailer, Thomas Meinecke oder Rainald Götz. 15 Marcus: Mystery Train, S. 5. 16 Ebd., S. 4.
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bereits geläufig.17 Allerdings ist Marcus’ Umgang mit Geschichte durchaus problematisch, denn Mystery Train ist in erster Linie ein Selbstverständigungsbuch, das um die Essenz des Amerikanischen kreist. Marcus bezieht sich zwar auf den Wandel der Nachkriegsepoche, betont aber weniger Brüche und Innovationen als die Variation, die Anfechtung und Neubelebung uramerikanischer Motive. Noch im Vorwort zur fünften Auflage von 2008 bestätigte Marcus, die von ihm beschriebenen Figuren »had at once drawn upon and transfigured certain bedrock, ineradicable strains of American experience and identity«.18 Das ist, überspitzt gesagt, Kultur- oder Völkerpsychologie, wie sie zwischen 1750 und 1950 mit einer starken Konjunktur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gängige Münze war. Sie argumentiert historisch, aber sie kennt nur die ganz großen Einschnitte, Ideen und Gestalten, nenne man sie nun den »faustischen Menschen« oder »American spirit«. Der Wille zum großen Ganzen vernachlässigt Details wie Heterogenes, das sich nicht in eine gemeinsame Erzählung bringen lässt, und nicht zuletzt auch die empirische Beweisführung. Auch essayistische Annäherungen und Versuche von Gesamtdarstellungen liegen bereits vor.19 In jüngster Zeit wird verstärkt Geschichtlichkeit und Geschichtsbewusstsein in der Popkultur diskutiert.20 Allerdings ist die Grundhaltung dabei oft eine abwehrende, wie dies zuletzt sehr ausgeprägt in dem breit rezipierten Buch Retromania. Pop Culture’s Addiction to its Own Past des britischen Musikjournalisten Simon Reynolds der Fall war. Dass sich Nichthistoriker mit der Popgeschichte beschäftigen, ist einerseits gut, denn die Geschichte gehört nicht der Geschichtswissenschaft allein. Andererseits verzichtet das bisherige Nachdenken über Pop auf
17 Vgl. etwa Echols: Hot Stuff, sowie die Übersicht von Pfleiderer: Geschichtsschreibung populärer Musik. 18 Marcus: Mystery Train, S. xvi. 19 Hervorzuheben sind im deutschsprachigen Raum die musikwissenschaftlichen Pionierarbeiten von Peter Wicke, darunter: Vom Umgang mit Popmusik; ders.: Von Mozart zu Madonna, in Großbritannien vor allem die musiksoziologischen Arbeiten von Simon Frith, vor allem: The Sociology of Rock; ders.: Performing Rites sowie die musikgeschichtlichen Bücher von Charlie Gillett, etwa: The Sound of the City. 20 Zierold/Jacke: Pop, die vergessliche Erinnerungsmaschine. Zu Geschichte als Stoff von Populärkultur vgl. Korte/Paletschek (Hg.): History goes Pop.
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Kompetenzen und Erkenntnisse, die Historikerinnen zur Diskussion beisteuern könnten. Dazu zählt nicht nur der professionelle, d. h. kritische Umgang mit Quellen unterschiedlicher Art, der allzu abstrakten Zugängen gewissermaßen die empirische Bodenhaftung verleiht. Geschichtswissenschaft kann insgesamt auch eine Ernüchterung und Distanzierung leisten und damit als Korrektiv in einem Feld dienen, das stark vom Hype, der Selbstverkultung und der Mystifizierung geprägt ist. Zudem erlaubt der breitere Blick auf unterschiedliche zeithistorische Settings die Einordnung von Popphänomenen in größere Zusammenhänge, die in der Binnenperspektive einer Szene oder dem Fokus auf einen Star naturgemäß fehlt. Und nicht zuletzt fällt die Historisierung von Popdebatten und -theorien in das Ressort der Zeitgeschichte. Doch sind nicht nur zeithistorische Fragen relevant für ein Verständnis von Pop. Umgekehrt gilt, dass sich Gesellschaften der Zeitgeschichte nach 1945 kaum mehr verstehen lassen ohne die Sphäre der Popkultur und deren Mechanismen und Dichotomien von Star und Fan, Mainstream und Protest, die Bedeutung von Klängen und Bildern für die Erinnerungskultur, die performative Bildung geschlechtsspezifischer Rollenbilder (und ihre Infragestellung), die Etablierung sexualisierter symbolischer Praktiken und deren Einfluss auf öffentliche Moral und die Grenzen des Sag- und Zeigbaren ebenso wie die Produktion und Rezeption neuartiger Medientechniken und Konsumgüter: All dies sind integrale zeithistorische Phänomene, die in toto die Signatur der Epoche entscheidend mitprägen. Dennoch hat sich das Fach bisher – von wenigen Ausnahmen abgesehen – diesem wichtigen Thema gegenüber indifferent gezeigt. Zwar können etwa in Gesamtdarstellungen Phänomene der Populärkultur mittlerweile nicht mehr ganz außen vor gelassen werden, weil ihre alltagsgeschichtliche Relevanz evident ist.21 Oftmals finden sie aber nur dann die Aufmerksam-
21 So sucht man den Begriff Pop im Sachregister des fünften Bandes von HansUlrich Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte vergeblich, während sich in Eric Hobsbawms The Age of Extremes immerhin die Pop Art findet (und in beiden Werken Vermerke zu Jugend/Jugendkultur, besonders viele in Letzterem). In Ulrich Herberts (ohne Sachregister erschienener) Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert ist Pop bereits integraler Bestandteil der Nationalgeschichte (vgl. etwa S. 682ff.; S. 809ff.; S. 996ff.).
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keit von Historikern, wenn sie sich als Krisensymptome deuten lassen und somit als Gegenstand kulturkritischer Betrachtung eignen.22 Nun zeichnet sich ein gewisses Umdenken ab.23 In den vergangenen Jahren setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass Popkultur keine bloße Ergänzung zur geschichtsmächtigen Sphäre des Politischen darstellt, sondern vielmehr einen »Kommunikationsraum, in dem große Teile der Gesellschaft über ihre Bedürfnisse verhandeln« und in dem daher »Politik gemacht wird«.24 Einzelne Historikerinnen haben die schematische Sicht auf ästhetische Praktiken wie Kleidung und Tanz aufgeweicht, indem sie sie monographisch etwa mit dem Kalten Krieg oder Großprozessen wie »Demokratisierung« und »Westernisierung« in Verbindung gebracht und dabei ebenso originelle wie plausible Ergebnisse hervorgebracht haben.25 Beispielsweise ist es Detlef Siegfried gelungen, das Verhältnis von Politik und Konsum in den 1960er Jahren durch die Analyse popkultureller Praktiken neu in den Blick zu nehmen.26 Solche Studien zeigen, dass Pop kein kulturalistisches Beiwerk ist, während die vermeintlich »harten Fakten« der Geschichte in den Sphären von Wirtschaft und Politik produziert werden. Die Politisierung junger Menschen in den späten 1960er Jahren etwa ist nicht zu verstehen ohne die Dynamiken der jungen Popkultur der fünfziger und sechziger Jahre.27 Dies gilt auch für den Aufstieg der Kulturgüterindustrie zu einem der stärksten Wirtschaftszweige der postindustriellen Gesellschaften, für das alternative Milieu der siebziger und die Friedensbewegung der achtziger Jahre.28 Ohne Pop, so lässt sich konstatieren, sind die Massen-
22 Vgl. etwa Gassert: Vermarktung des Zeitgeists. 23 Prominent werden Popdiskurse etwa behandelt bei: Schildt/Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte, bes. S. 98-120. 24 Borsò/Liermann/Merziger (Hg.): Transfigurationen des Politischen, S. 13. 25 Zum Begriff der Westernisierung vgl. Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? 26 Vgl. Siegfried: Time. Weitere Pionierstudien sind Grotum: Die Halbstarken; Poiger: Jazz, und, aus dem Bereich der historisch arbeitenden Kulturanthropologie, Maase: BRAVO Amerika. In Frankreich vor allem: Sohn: Age tendre. 27 Vgl. dazu auch Schildt/Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau; ders./Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten. 28 Vgl. Reichardt: Authentizität, S. 595-605; Baur: Nukleare Untergangsszenarien.
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demokratien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr angemessen zu beschreiben – ohne Pop keine Zeitgeschichte.
W AS
IST
P OP ? S EMANTISCHE A NNÄHERUNGEN
Um es vorwegzunehmen: Eine endgültige Definition von Pop als Gegenstand der Geschichtswissenschaft wird auch dieser Beitrag nicht liefern. Stattdessen sollen aber einige historiographische Kontinuitäten und Brüche aufgezeigt werden. Denn das unter Modeverdacht stehende Forschungsfeld Pop ist keineswegs neu, vielmehr lässt es sich in eine weit zurückreichende Tradition der Geschichtsschreibung stellen. Historiker haben seit Langem verwandte Termini im Repertoire. Dies lässt sich vom »Populären« (das mit der Kurzform »Pop« denselben Wortstamm teilt) bis in die Antike zurückverfolgen29, und umfasst die verwandte »Popular-« oder »Massenkultur« ebenso wie den Komplex des »Vergnügens«. Diese älteren Begriffsschöpfungen sind teils empirisch an den Merkmalen der jeweiligen Epoche, und teils anhand theoretischer Rückprojektionen aus dem 20. Jahrhundert entwickelt worden. So hat etwa Peter Burke in seiner klassischen Studie zur Popular Culture im Europa der Frühen Neuzeit diese definitorisch an Gramscis skizzenhafte Vorstellungen einer nicht-offiziellen Kultur der »subordinate classes« angelehnt und in ein Phasenmodell unterteilt, das Epochen wie die der religiösen Reform, wirtschaftlichen Nutzung und der Literarisierung umfasst.30 Den Begriff des Vergnügens verbinden seine Verfechter eng mit Prozessen der Urbanisierung, der Industrialisierung und den dadurch bedingten
29 Lat. populus bezeichnete die Gesamtheit der erwachsenen, männlichen römischen Bürger unter Ausschluss von Frauen, Kindern, Fremden und Sklaven und ist Grundlage für die spätere res publica. Etymologisch leitet es sich vermutlich aus dem Begriff puple her, der im Etruskischen die waffenfähige Jugend bezeichnete. Schon damals war der Begriff vieldeutig: Es »ist durchaus möglich, daß auf dem röm. Staatsgebiet weitere populi existieren«. Vgl. Hartmut Galsterer: populus. 30 Burke: Popular Culture, Prologue (unpag.) sowie S. 207-286.
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Emanzipationsprozessen sozialer Gruppen seit Mitte des 19. Jahrhunderts.31 Betrachtet man die Periodisierungen, die mit diesen Begriffsbildungen einhergehen, so fällt auf, dass sie nicht im luftleeren Raum reiner Theorie erfunden, sondern zumeist an konkreten medialen, sozioökonomischen oder politischen Spezifika bestimmter Epochen entwickelt wurden. Doch handelt es sich bei diesen Konzepten zumeist um länger zurückliegende Epochen, etwa die Frühe Neuzeit oder das 19. Jahrhundert. Kann man sie als Pop avant la lettre begreifen? Zumindest in der longue durée umfassen epochale Kulturbegriffe in manchen Modellen auch zeithistorisches Gebiet. Kaspar Maase etwa fasst unter den Oberbegriffen »Vergnügen« und »Massenkultur« die musikalischen Epochen des Rock (seit den Sechzigern) und des Pop (seit Anfang 1970), nähert sich damit aber musikalischen Stilepochen an.32 Auch bei anderen Definitionen hat man es zumeist mit epochalen Zuschreibungen zu tun, die sich nicht notwendigerweise überzeitlich anwenden lassen. Zum anderen handelt es sich bei allen genannten Fällen um Differenzbegriffe, die den größeren (und ebenso unscharfen) Begriff der Kultur durch Abgrenzung unterteilen. Die meisten dieser begrifflichen Konstrukte sind bipolar und das auch nicht erst in neuester Zeit. So unterscheidet etwa Jacques Le Goff die Popular Culture von der »erlernten« Kultur des Mittelalters, oder Carlo Ginzburg die orale Volkskultur der Frühen Neuzeit von den »Lektürecodes« der Schrift- und Hochkultur.33 Die Popkultur jener frühen Jahre finden ihre Analytiker auf Jahrmärkten und Dorfplätzen, im Karneval ebenso wie bei rauschhaften »Veitstänzen« und in tradierten Liedern und Geschichten.34 Die moral panics jener Epochen um das subversive Potenzial kultureller Inhalte werden bereits in scharfen Debatten ausgefochten und führen nicht selten in die Kerker der Zensoren oder die Folterkeller der Heiligen Inquisition. Der jüngere Massenkulturbegriff hingegen, der sich schon bei Denkern der klassischen Moderne wie Siegfried Kracauer, Theodor W. Adorno oder Walter Benjamin ausprägte und von manchen Historikern übernommen
31 Im Anschluss an Max Weber: Maase: Grenzenloses Vergnügen; stadtgeschichtlich: Becker/Littmann/Niedbalski (Hg.): Die tausend Freuden. 32 Maase: Grenzenloses Vergnügen, S. 253. 33 Ginzburg: Der Käse, S. 61, 80, 90, 100. 34 Vgl. exemplarisch Bachtin: Rabelais.
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wurde, rekurriert auf genuine Prozesse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Bevölkerungswachstum, Verstädterung, Demokratisierung, Mediatisierung und vor allem die Industrialisierung von Kultur.35 Die dichotomischen Begriffspaare von Historikern älterer Epochen leben in diesen neuzeitlichen Zuschreibungen teils fort: inoffizielle versus offizielle, subalterne versus hegemoniale, städtische versus agrarisch geprägte Kultur. Das diesen Begriffen eingeschriebene Abgrenzungspotenzial ruft eine grundsätzliche Frage auf: Wollen wir Kultur überhaupt unterteilen in gehoben oder trivial, high oder low brow, white oder blue collar, E oder U? Oder übernehmen wir damit nicht höchst fragwürdige Kategorien, die in vergangenen Kämpfen um kulturelle Vorherrschaft geprägt wurden und in denen teils noch der Dünkel selbst erklärter »gebildeter« Schichten mitschwingt? Reproduzieren wir, indem wir den Terminus Pop-Kultur positiv verwenden, nicht ungewollt ein hierarchisch gedachtes Kulturmodell, das es aus analytischer Sicht eigentlich zu vermeiden gilt? Um dieser Falle zu entkommen, können Historiker auch einen anderen Weg gehen. Sie können Pop zunächst einmal nicht als einen analytischen, sondern als einen Quellenbegriff auffassen.36 Pop wäre dann nicht, was wir heute selbst definieren, sondern was von bestimmten Akteuren in einer bestimmten Zeit aus bestimmten Interessen dafür gehalten wurde. Ein solches Verständnis von Pop implizierte einen konstruktivistischen Zugang, der eher daran interessiert wäre, die Abgrenzungsdebatten im Kulturbegriff der Zeitgenossen selbst in den Blick zu nehmen. Dabei können Pophistoriker auf umfangreiche begriffs- und diskursgeschichtliche Grundlagenarbeit zurückgreifen. Wie Thomas Hecken nachgewiesen hat, liegen die Ursprünge des Pop-Begriffs als three letter word in der angloamerikanischen Musiktradition der 1940er Jahre, in der Werbeästhetik der amerikanischen Konsumgesellschaft und in den seriellen Verfahren einer an der industriellen Massenproduktion orientierten Richtung der bildenden Kunst, der Pop Art. Seine Entstehung und Ausdifferenzie-
35 Kracauer etwa sprach von »Zerstreuungsfabriken«, vgl. ders.: Ornament der Masse. Vgl. zur Kulturkritik in der klassischen Moderne u.a. Adornos und Benjamins: Hecken: Theorien der Populärkultur, S. 35-45. 36 Als Quellenbegriff in seiner Diskursgeschichte von Pop im Notting Hill Carnival verwendet ihn explizit Klöß: »Pop is not popular«.
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rung lässt sich damit in der Mitte des 20. Jahrhunderts zwischen den 1940er und 1960er Jahren verorten.37 Die Autorinnen dieses Bandes – und dies gilt auch für den Nachfolgeband mit Fallstudien – eint keine gemeinsame Definition von Pop und auf entsprechende verbindliche Vorgaben haben seine Herausgeber verzichtet. Mit Ausnahme der zeitlichen Eingrenzung: Die methodischen Texte in diesem Band orientieren sich ebenso wie die empirischen Fallstudien im zweiten Band explizit an der Zeitgeschichte nach 1945. Beide Bände nähern sich der Popkultur mit Methoden der Historiographie. Für die Verwendung der Kurzform Pop, die sich seit den 1960er Jahren etabliert, spricht eine Schlussfolgerung, die sich aus seinem Charakter als Quellenbegriff ableiten lässt: Wenn die Zeitgenossen in der Mitte des 20. Jahrhunderts Bedarf für einen neuen Terminus hatten, dann hatte offenkundig der historische Wandel die subjektive Notwendigkeit für eine Zäsur auf der Begriffsebene geschaffen. Diesen Verschiebungen nach 1945 auf die Spur zu kommen, könnte eine gemeinsame Aufgabe sein, die bei aller Verschiedenheit der Ansätze und trotz konträrer Einzeldefinitionen popgeschichtlich arbeitende Forscherinnen und Forscher verbinden kann. Dies ist das begriffliche Angebot, das diese Bände unterbreiten: Sie verstehen Pop nicht nur als einen sozio-kulturell differenzierenden Begriff, sondern vor allem auch als einen zeitlich spezifischen – auch wenn damit einige Probleme einhergehen. Manche ergeben sich aus dem Differenz-Charakter des Begriffs. Versteht man Pop (wie zur Zeit der Entstehung des Begriffs) vor allem als eine Klammer für nicht-etablierte Kultur, also als Exklusion von der so genannten offiziellen oder Hochkultur, so ergeben sich gewisse Probleme aus dem rasanten historischen Wandel, dem Kultur im 20. Jahrhundert unterliegt. Wurden etwa Comics in den 1950er Jahren noch als »Schmutz und Schund« bekämpft und selbst in westlichen Demokratien auf Scheiterhaufen demonstrativ verbrannt38, so finden sie sich schon in den 1980ern in Bibliotheken und Museen wieder und füllen seit einigen Jahren die Jubiläumsschuber der von Zeitungsverlagen herausgegebenen Klassiker-Editio-
37 Vgl. Hecken: Pop, bes. S. 14, 60-75. Zur Nähe zwischen bildender Kunst und Popmusik in den sechziger Jahren vgl. Braun: Where was Pop? 38 Laser: Heftchenflut und Bildersturm, S. 79.
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nen: Die nicht-etablierte Popkultur von gestern wird damit zur subventionierten Hochkultur.39 Eine weitere Schwierigkeit bringt die angloamerikanische Prägung des Pop-Begriffs mit sich. Im Französischen etwa, wo der musikalische Oberbegriff nicht Pop lautet (sondern varieté), hat er nicht dieselbe Tradition, was zu internationalen Verständigungsschwierigkeiten führt.40 Zu verhandeln ist daher auch im internationalen Kontext, was genau unter einem solchen Sammelbegriff zu fassen wäre.41 Diese Fragen hat die Geschichtswissenschaft bisher kaum behandelt. Das liegt sowohl an einer langjährigen Fixierung der Zeitgeschichte auf primärpolitische Ereignisse und Zäsuren als auch an der von der traditionellen Sozialgeschichte Bielefelder Prägung vorgegebenen Überbetonung sozio-ökonomischer Prozesse und der Dominanz von Strukturbedingungen bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber kulturellen Inhalten: Während zwar die Arbeiterschaft als soziale Gruppe zum Gegenstand wurde, hat man die in der Arbeiterkultur verhandelten Motive und Stoffe zumeist sträflich vernachlässigt. In manchen Lesarten des Begriffs »Massenvergnügen« lebt diese Ignoranz unbewusst fort: Proletarische Freizeitgestaltung ist Vergnügen, bürgerliche hingegen Bildung. Auch diese Wertungen sind dafür verantwortlich, dass Pop im akademischen Diskurs bislang eher randständig behandelt wurde, während etwa der studentische Protest der eigenen Bildungsschicht viele Regalmeter füllt. Zu den Mindestanforderungen an ein Konzept von Pop in der Zeitgeschichte gehört also, jegliches kulturkritische Bias zu vermeiden. Aber welche positiven Bestimmungen lassen sich treffen? Man kann sich vermutlich darauf einigen, dass technisch reproduzierte Kulturinhalte eine zentrale Rolle spielen sollten. Eine brauchbare Arbeits-
39 Selbiges gilt für Filme und Musik, etwa des Jazz oder auch der Beatles, die mittlerweile zunehmend als Klassik des 20. Jahrhunderts rezipiert werden. 40 In Frankreich wird eher die »culture du rock« als Oberbegriff für Musik, Moden und Politisierungen erforscht, während Pop dort als musikalisches Untergenre verstanden wird. Vgl. Chastagner: De la culture rock; Tamagne: Séminaire: histoire sociale du rock, online: http://pophistory.hypotheses.org/1302 (Abruf vom 8.7.2014). 41 Ein Forum dafür bietet der von Redakteuren aus verschiedenen Ländern betreute dreisprachige Gruppen-Blog PopHistory auf der geisteswissenschaftlichen Blogging-Plattform hypotheses: http://pophistory.hypotheses.org.
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definition scheinen uns offene Gegenstandbeschreibung von Pop-Musik zu bieten wie sie zuletzt etwa Diedrich Diederichsen vorgeschlagen hat: »Pop-Musik ist der Zusammenhang aus Bildern, Performances, (meist populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpfte Erzählungen. Es ist ein Zusammenhang, den man seit ungefähr Mitte des letzten Jahrhunderts beobachten kann. Seine Elemente verbindet kein einheitliches Medium, wenn es auch von entscheidender Bedeutung ist, dass sich unter den Medien, die Pop-Musik benutzt, die technische (Ton-)Aufzeichnung befindet. Den notwendigen Zusammenhang aber zwischen z. B. Fernsehausstrahlung, Schallplatte, Radioprogramm, Live-Konzert, textiler Kleidermode, Körperhaltung, Make-up und urbanem Treffpunkt, zwischen öffentlichem, gemeinschaftlichem Hören und der Intimität von Schlaf- und Kinderzimmer stellt kein Medium her – die Hörer, die Fans, die Kunden von Pop-Musik selbst sorgen für diesen Zusammenhang.«42
Definitionen wie diese (ähnliche fänden sich etwa in Marshall McLuhans frühem Konzept der »Volkskultur des industriellen Menschen«)43 schlagen den Bogen von den lebensweltlichen Konzepten der Kulturwissenschaften, die Kultur als einen Raum verstehen, in dem Werte und Normen konstitutiv verhandelt werden, zu den konkreten technologischen Umbrüchen des (post-)industriellen Medienzeitalters, vermeiden aber den seit Horkheimer und Adorno lange Zeit so dominanten kulturkritischen Einschlag.44 Pop (-Musik) ließe sich damit als eine komplexe Konstellation von Klängen, Bildern, Akteuren, Medien, Raum- und Zeitregimes verstehen, deren Elemente miteinander weder beliebig noch deterministisch verbunden waren. Ein derart breites Dach lässt Raum für Heterogenität in der Sache, die jedoch in einem übergreifenden Erfahrungshorizont aufgehoben ist. Mit dieser Gegenstandsbeschreibung ist es auch möglich, einzelne Elemente und
42 Diederichsen: Über Pop-Musik, S. XI. 43 Vgl. McLuhan: Die mechanische Braut. 44 Diederichsen, der als Kritiker stets ästhetische Werturteile fällt (die sich der Historiker gewöhnlich bemüht auszuschalten), entfernt sich mit seiner Definition von jenen affirmativ-essentialistischen Besetzungen des Pop-Begriffs, die im jüngeren Popdiskurs (bzw. Diskurspop) oftmals anklingen, etwa, wenn Pop als eine Art Prädikat für besonders avantgardistische oder politisch korrekte Gegenwartskunst verwendet und gewissermaßen als Programm verstanden wird.
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deren Koppelung in frühere Zeiten vorzudatieren, ihre vollständige Ausprägung aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusetzen. Popkultur ließe sich so nicht nur als Kategorie der Differenz, sondern vor allem als eine epochale verstehen: Pop wäre damit ein Zeitabschnitt, der sich von älteren Perioden der Populärkultur bzw. ländlich geprägten Volkskultur wie auch von der industriellen Massenkultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts signifikant unterscheidet. Faktoren hierfür finden sich teils in allgemeinhistorischen Narrativen, etwa in transatlantischen und zunehmend auch globalen Verflechtungen, Individualisierungs- und Liberalisierungsprozessen ebenso wie in Prozessen von Urbanisierung und Technisierung. Aber auch originär popgeschichtliche Faktoren sind noch weiter herauszuarbeiten. Dies können etwa neue Vertriebswege für kulturelle Inhalte durch die leichter handelbaren Vinylschallplatten nach 1955 sein, die endgültige Verschiebung vom Handel mit Noten hin zu Tonaufnahmen, eine ausdifferenzierte Medienlandschaft, die zunehmend durch das Fernsehen und dessen gruppenspezifischen Programmangebote geprägt wird, sowie die »Glokalisierung« urbaner Jugendkulturen und deren neue Praktiken von Fandom und Do-It-Yourself (DIY).45 Eingehender zu diskutieren wären unter dieser Prämisse Epochengrenzen. Für die Entstehung massenmedialer Öffentlichkeiten etwa gelten nicht die üblichen an politisch-militärischen Einschnitten orientierten Zäsuren46, sondern eher solche des Medienwandels durch technologische Entwicklungen (wie Phonographie oder Digitalisierung und transnationale Prozesse, etwa die quasi weltweite Verbreitung des Rock’n’Roll um 1956).47 Weiter-
45 Versteht man Pop in diesem Sinne als kulturhistorische Epoche, so ließen sich ihr u.U. selbst Produkte der »Klassik« zurechnen und etwa Star-Dirigenten als popkulturelle Phänomene verstehen, die ebenso wie Rock-Musiker in erster Linie der kulturindustriellen Vermarktung technisch reproduzierter Klangkunstwerke dienen. Auch die Rezeptionsweisen nähern sich im 20. Jahrhundert an: Elektronische Musik wird in Konzerthäusern aufgeführt, sinfonische Orchester spielen vor Feuerzeug-schwenkendem Publikum in Freiluft-Arenen. 46 Dies heben auch hervor: Borsò/Liermann/Merziger: Transfigurationen des Politischen, S. 25. 47 Ähnlich hat McLuhan den Buchdruck als mediengeschichtlichen Epochenbeginn interpretiert, vgl.: ders: Die Gutenberg-Galaxis. Vgl. zum Medienwandel aus zeithistorischer Sicht: Bösch: Mediengeschichte.
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hin wäre zu bestimmen, inwieweit das »Jazz Age« der 1920er und 1930er Jahre als Teil von Pop oder als dessen Vorgeschichte zu betrachten ist.48 Gleichzeitig sollte eine reflektierte geschichtswissenschaftliche Popforschung jene Zäsurbildungen kritisch hinterfragen, die Popkultur selbst beständig hervorbringt: Epochenlabel, die im Dekaden-Takt nach »Rocking Fifties« oder »Swinging Sixties« unterscheiden, sind zunächst einmal zu misstrauen, denn hier handelt es sich zumeist um Marketingkonstrukte, die im milden Glanz der Nostalgie schimmern, als Signaturen ganzer Epochen aber zu Verkürzungen neigen, weil sie nicht-ästhetische historische Faktoren zumeist ausblenden.49 Ein Charakteristikum von Pop in seiner Hochphase in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist unstrittig die Bindung kultureller Inhalte an materielle Träger, die – wie zuvor schon schriftliche – industriell produziert und stückweise gehandelt werden konnten und als deren sinnfälliges Symbol man die Jukebox verstehen kann.50 Die grundlegende Elektrifizierung erfasste im 20. Jahrhundert nicht nur Vertriebswege, sondern auch die kulturellen Inhalte selbst, die zunehmend arbeitsteilig von Ingenieuren hergestellt wurden. Dies prädestiniert audiovisuelle Kulturen zu Pop-Phänomenen erster Ordnung, doch würde ein erweiterter Pop-Begriff auch andere ästhetische Massenphänomene in Zeiten ihrer technischen Reproduzierbarkeit umfassen, etwa Mode, Produktdesign und Sportereignisse. Ob die »digitale Revolution« des frühen 21. Jahrhunderts und der von ihr ausgelöste Niedergang der Musikindustrie sowie die Krise der Printmedien als
48 Dies gilt für Jazz als internationalisierte Musik mit afroamerikanischen Wurzeln ebenso wie für die Kultur der Weimarer Republik. Vgl. etwa Nicholson: Jazz and Culture in a Global Age; Jelavich: Berlin Alexanderplatz. Am deutschen Beispiel wäre auch die Frage nach Brüchen und Kontinuitäten zur Massenkultur im NS neu zu stellen. Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. 49 Sie eigenen sich aber als Untersuchungsgegenstände, denn nach Sabrow können auch »Epochenillusionen« als »strukturbildende Fluchtpunkte« die Vorstellungswelt neu ordnen und so Realitäten schaffen, vgl. ders.: Zäsuren. 50 Anregungen kommen vor allem von den sich seit einigen Jahren konstituierenden historischen Sound Studies und der Visual History, die neben Fragen der technischen Innovation auch die Veränderung kultureller Wahrnehmung erforschen. Vgl. etwa Schulze: Klang und Körper; Morat: Der Klang; Paul: Visual history.
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Ende eines Pop-Zeitalters zu verstehen ist, oder – im Gegenteil – als dessen Beginn, wird von künftigen Historikergenerationen zu beurteilen sein.51
A USSICHTEN An neuen Großtheorien besteht wenig Bedarf. Pop wird von den Autoren dieses Bandes vielmehr als ein Feld verstanden, das spezifische Wirtschaftsformen und Politiken hervorgebracht hat und das sich in spezifischen Praktiken, Diskursen, Medien und Materialitäten realisiert, die es in ihren Mechanismen und Wirkungsweisen zu verstehen gilt. Popgeschichte kann aber auch etablierte Narrative auf den Prüfstand stellen. So lässt sich etwa das Erklärungspotenzial der Amerikanisierungs-Erzählung in Frage stellen, wenn man Amerika selbst vergleichend oder transnational einbezieht, denn dort wurden ähnliche Diskussionen über »Schmutz und Schund« geführt wie in Europa, freilich aber nicht als Abwehr vermeintlich amerikanischer Einflüsse. Auch die auf klassische Märkte und Unternehmensarchive (und damit auf die Sphäre der Produktion) fixierte Wirtschaftsgeschichte lässt sich um neue pop-spezifische Distributionskanäle erweitern, wie Schallplatten-Tauschringe, Fanclubs, DIY-Produktionen wie Re-Mix und Sample, alternative Wirtschaftsethiken wie in der Global Music bis hin zu den FileSharing-Diensten unserer Tage.52 Als Ergänzung etablierter Perspektiven hilft Popgeschichte, neues Material in den Blick zu nehmen. Leitend kann hier der von Kaspar Maase so benannte Prozess der »Ästhetisierung des Alltags« sein, den er Ende des 19. Jahrhundert einsetzen lässt. Er bezeichnet damit den wachsenden »Hunger nach Schönem«, womit das lustvoll angeeignete »Konsumschöne« gemeint ist, das auch hässlich, eklig oder beängstigend sein kann. Maase betont, dass ästhetische Erfahrung »spezifische Gratifikationen« – Lebenssinn durch Erlebnisse – bereithalte und daher nicht (vollständig) auf gesellschaftliche, ökonomische oder politische Prozesse zurückgeführt werden
51 Vgl. zur »digitalen Revolution«: Danyel: Zeitgeschichte der Informationsgesellschaft, bes. Abschn. 7. 52 Vgl. etwa die grundsätzlichen Überlegungen von de Certeau: Kunst des Handelns; konkret zur »Weltmusik«: Peres da Silva: Globale Klänge.
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könne.53 Eine andere Perspektive könnte darauf zielen, moderne Gesellschaften im Hinblick auf ihre Komplexität und daraus resultierende spezifische Beobachtungsverhältnisse zu analysieren (ohne dass damit Machtverhältnisse aus dem Blick geraten).54 Kurzum: Historikerinnen können lernen, sich übergreifende Narrative für die Popgeschichte zuzutrauen. Das ist keineswegs als »Verpoppung« von Geschichte misszuverstehen. Pophistoriker mögen ihrem Gegenstand biographisch nahe sein und von Spezialkenntnissen profitieren, die sie womöglich selbst als Fans oder Pop-Praktiker erworben haben, doch sollten sie Distanz zum Gegenstand ihres Forschungsinteresses wahren. Auf die ganz große Geste, die Poptheorie oft in ihrem Umgang mit Geschichte kennzeichnet, sollten sie daher verzichten. Popgeschichte muss damit leben, dass in Sachbuch und Essayistik steilere Thesen und im Pop-Feuilleton packendere Storys und anregendere Partygespräche produziert werden. Popgeschichte hingegen muss nicht selbst Pop werden. Bevor aber neue Narrative entstehen können, muss geforscht werden. Das ist nicht nur eine Frage der Interpretation. Das neue Themengebiet erfordert andere Quellenkompetenzen und ein spezifisches Verständnis für Medien und Materialien.55 Wer etwa das anspielungsreiche Spiel mit Rollenvorbildern und selbstreflexiven Zitaten verstehen will, mit denen seit einigen Jahrzehnten Pop ein eigenes Gedächtnis – und damit eine Historizität – ausbildet, der braucht Spezialkenntnisse in Genres, Themen und Praktiken. Hier treten teils praktische Probleme etwa der Archivierung auf: Tonträger sind in Bibliotheken weniger leicht zugänglich als Bücher, noch schwerer sind Artefakte wie Textilien oder massenkulturelle Produkte zu finden. Und wie beschreibt man einen Tanz, wie ein Musikvideo? Wie »liest« man ein Produkt oder eine Ware?56 Die Texte dieses Bandes fächern ein Spektrum möglicher Forschungsfragen und Herangehensweisen auf. Einige von ihnen verknüpfen Pop mit vorhandenen Debatten über Politik, Geschlecht und Generation in der zwei-
53 Maase: Der Banause, Abschnitt II. 54 So etwa schon bei Lindenberger: Vergangenes Hören, S. 84. 55 Vgl. zu pop-spezifischen Quellen: Lindenberger: Vergangenes Hören; ders.: Der Feind tanzt mit; Geisthövel: Auf der Tonspur; Mrozek: Geschichte in Scheiben; Siegfried: Sgt. Pepper & Co; Laar: Vinyl Culture. 56 Vgl. etwa Leonard: Constructing histories through material culture.
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ten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Andere historisieren oder diskutieren Theoriemodelle wie die Cultural Studies und »Production of Culture«. Es gibt Beiträge zu neueren Forschungsschwerpunkten wie der Technik- und Emotionsgeschichte oder der Geschichte des Selbst und auch die Rolle von Pop in der Erinnerungskultur wird reflektiert. Die Beiträge stammen ganz bewusst nicht aus unterschiedlichen Disziplinen, sondern fokussieren mehrheitlich auf die besonderen Verfahren und Interessen der Geschichtswissenschaft. Interdisziplinäre Sammelbände zum Thema Pop gibt es bereits etliche, und damit die Geschichtswissenschaft mit einem eigenen Standpunkt in die Debatte eintreten kann, diskutiert und bündelt der vorliegende Band vorhandene, bisher aber isolierte Ansätze zur Popgeschichte. Natürlich kann er nicht das gesamte Spektrum möglicher zeithistorischer Zugriffe auf Pop abbilden. Wir verstehen ihn als einen Anfang, der Diskussionen, Ergänzungen und Folgeprojekte anstoßen möge. Um das Forschungsgebiet Popgeschichte nicht nur methodisch zu ordnen, sondern auch empirisch zu bestellen, ergänzt diesen Band ein weiterer mit einer umfangreichen Sammlung empirischer Fallstudien. Ihm voraus ging eine Tagung im Roten Salon der Berliner Volksbühne, organisiert vom Arbeitskreis Popgeschichte und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.57 Am ZZF, das beide Bände dankenswerter Weise gefördert hat, kann das Thema Pop im Rahmen der Mediengeschichte bereits auf eine mehrjährige Tradition zurückblicken. Dies ist in erster Linie Jürgen Danyel zu verdanken, auf dessen Vorarbeiten auch dieser Band aufbaut.58 Seine Entstehung hat er beratend und tätig unterstützend eng begleitet, wofür die Herausgeber ihren besonderen Dank aussprechen. Eingangs wurde zwar die Metapher von Theorie als Pop bemüht, doch ist Geschichtswissenschaft so wenig Pop, wie ein Buch eine Schallplatte ist. Dennoch bedient sich dieses Buch einer originär popkulturellen Tradition, die auf Tonträgern entstanden ist. Um sich bei den Käufern ihrer Schallplatte zu bedanken, »beschenkten« deren Produzenten sie gelegentlich, indem sie zusätzliches Audiomaterial und oftmals ganze Musikstücke in einer verborgenen Schallrille im Vinyl oder ganz am Ende einer CD versteckten,
57 Vgl. den Tagungsbericht: Geisthövel/Mrozek: PopHistory. Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären. 03.11.2011-05.11.2011, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 31.01.2012, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4034. 58 Vgl. von Klimó/Danyel (Hg.): Pop in Ost und West.
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ohne es auf dem Cover aufzuführen.59 Auf der Berliner Tagung haben wir einen profunden Theoretiker und Kenner der Popgeschichte um eine keynote lecture gebeten. Der Redner entschied sich für ein originär popspezifisches Verfahren: Aus seinen eigenen Werken hatte er Text-Passagen auf Blätter in unterschiedlichen Größen kopiert, die er neben dem Pult aufstellte wie ein DJ seine Schallplatten. Im Verlaufe des Vortrages zog er immer wieder spontan neue Blätter heraus, legte andere beiseite, brach ab und setzte neu an. So entstand ein Remix, der eigene Texte in neuer Kombination zusammenfügte. Da es sich streng genommen um bereits veröffentlichtes Material handelt, wir aber der popgeschichtlich interessierten Leserschaft Inhalt und Sound dieses einzigartigen Samples gerne zugänglich machen wollen, haben wir uns entschieden, die Transkription dieses Vortrages in diesem Buch in Form eines hidden track zu veröffentlichen.
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59 Ein frühes Beispiel ist das Stück Her Majesty auf dem Beatles-Album Abbey Road (Apple PCS 7088) von 1969. Nach der Einführung der Compact Disc, deren Bespielung für das Auge unsichtbar war, haben Popmusiker vor allem am Ende von CDs Stücke »versteckt« – nach teils sehr langen Pausen.
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Pop und Politik D ETLEF S IEGFRIED
In diesem Beitrag werden Überschneidungen zwischen Popkultur und Politik diskutiert, wie sie von staatlicher Seite und den Medien sowie von Produzenten und Rezipienten von Popkultur immer wieder unterstellt wurden. Dabei sollen »politische« ebenso wie »nicht-« oder »vorpolitische« Aspekte des Pop betrachtet werden. Der Schwerpunkt liegt auf der Popmusik, mit Seitenblicken auf verwandte Genres wie Popliteratur, empirisch stehen im Mittelpunkt die Bundesrepublik und die DDR seit der Mitte der 1950er Jahre, einbezogen werden Konzepte und Diskurse ebenso wie Praktiken der Akteure. Im Einzelnen werden Instrumentalisierungen für politische Richtungen beleuchtet, die aus dem Charakter des Pop als Massenkultur (und seiner Spannung zu möglichem Avantgardismus) rühren: Popmusik als Signum für eine »Liberalisierung«, »Amerikanisierung« oder »Westernisierung«, als Artikulations- und Mobilisierungsmedium für links- und rechtsradikale Strömungen. Hier kommen auch theoretische Deutungen in den Blick, wie sie etwa bei Walter Benjamin oder den Cultural Studies (Birmingham) zu finden sind. Häufig wird die Verknüpfung von Pop und Politik mit einer Authentizitätszuschreibung verbunden, wie sie insbesondere der Rockmusik appliziert wurde. Ob sich diese Verbindung löste, als »Pop« ent-essentialisiert und als beliebig kombinierbares System von Zeichen gedeutet wurde, ist allerdings fraglich. »Politisch« war Popmusik nicht nur, wenn sie mit politischen Texten operierte oder mit politischen Zuschreibungen versehen wurde. Auch die in den Praktiken der Akteure aufzufindende »Massendemokratisierung« (Max
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Weber) im Sinne der Teilhabe breiter Schichten an allen Belangen der Gesellschaft ließen Popmusik zu einem Politikum werden.1 Hier spielten gesellschaftliche Transformationen im Hinblick auf Milieuzugehörigkeiten, sozialen Aufstieg, Geschlechterverhältnisse, ethnische Grenzziehungen etc. eine zentrale Rolle. Auch der Kult der Oberfläche, der sich gegen Authentizitätszuschreibungen richtete, war nicht per se »unpolitisch«. Selbstverständlich stellt das Politische nur einen Teilaspekt von Popkultur und Popmusik dar. Insbesondere in Deutschland wurde Popkultur häufig auf politische Aspekte verengt, indem sie einerseits als künstlich und manipulativ, andererseits als Befreiungsinstrument beschrieben wurde. Tatsächlich umfasst Popmusik ein vielfältiges Spektrum an Themen und Stimulanzien, die nicht auf das Politische zu begrenzen sind. Im Gegenteil – eine solche Reduktion würde das Entscheidende ausblenden: die Tatsache nämlich, dass die Gemeinschaftsbildungs- und Mobilisierungskraft der Popmusik dort entsteht, wo die Gefühle regieren, die in erster Linie durch den Sound erzeugt werden. Hier gehen auch entscheidende Emanzipationsprozesse – Überwindung traditioneller Geschlechterrollen, Verselbständigung vom Elternhaus, Vergemeinschaftung mit Peers – vonstatten, jenseits dessen, was als »große Politik« beschrieben wird. Nicht durch Opposition und Protest wurden sie hervorgerufen, sondern »durch das Aufgreifen der Möglichkeiten, die die veränderten Umweltverhältnisse« boten – und dennoch haben sie politische Implikationen.2 Gleichzeitig ist die emotionale Qualität der Popmusik ein ideales Transportmittel für politische Botschaften – gerade weil sie gemeinschaftsbildend und mobilisierend wirkt. Die komplexe Beziehung von Popmusik und Politik hat einen historischen Wandel durchlaufen, in dem bestimmte Tendenzen jeweils vorherrschend waren, ohne allein bestimmend gewesen zu sein. Sie sind nicht zu verstehen ohne ihren jeweiligen Kontext. Denn immer war Popmusik ein Medium gesellschaftlicher Problemlagen, die sie artikuliert und moderiert hat. So lässt sich umgekehrt aus ihrer Analyse auch ein Bild des gesellschaftlichen Wandels gewinnen. Daher ergibt es Sinn, »Popgeschichte« auch für eine »neue Politikgeschichte« fruchtbar zu machen.3
1
Maase: Populärkultur; Wicke: Music.
2
Göbel: Mädchen, S. 20.
3
Vgl. Frevert: Neue Politikgeschichte.
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»A MERIKANISIERUNG « UND »V ERFÜHRUNG «. Z USCHREIBUNGEN DURCH S TAAT , J UGENDSCHUTZ UND K ULTURKRITIK Wie insbesondere Kaspar Maase und Uta Poiger für die Bundesrepublik nachgewiesen haben und Michael Rauhut für die DDR gezeigt hat, sind Politisierungsimpulse im Hinblick auf Popmusik sehr häufig, insbesondere in repressiven Kontexten, nicht von unten, sondern von oben gekommen.4 Immer wieder haben staatliche Organe, Kirchen und andere Autoritätsträger populäre Musik und ihren kulturellen Raum als aufsässig definiert und negativ bewertet. Angeblich richtete sie sich gegen die politische Ordnung oder gegen eine jeweils herrschende kulturelle Norm. Das Schlagwort der »Amerikanisierung« eignete sich besonders gut zur politisch-kulturellen Delegitimierung neuer Stile.5 Es setzte bei der in Deutschland traditionell verbreiteten Vorstellung an, kulturelle Präferenzen der Masse seien »uneigentlich«, entstünden also nicht von innen heraus, gleichsam urwüchsig im Selbst des Einzelnen, sondern würden von außen manipuliert – insbesondere von einer profitorientierten »Konsum-« und »Bewusstseinsindustrie«. Von daher konnte man sich etwa in Westdeutschland den Aufstieg der Beatmusik in den frühen 1960er Jahren vielfach nur vorstellen als einen Vorgang der »Verführung« Minderjähriger, die der Manipulation besonders zugänglich erschienen. Im Kontext eines virulenten Antikommunismus waren sie aus dieser Sicht anfällig für Verführung durch Hedonismus und Kommunismus gleichermaßen. Den theoretischen und empirischen Hintergrund für derartige Betrachtungen lieferten Studien aus den USA, die in der Bundesrepublik als Interpretationsmuster vorlagen, als sich hier ein relevanter Massenkonsum überhaupt erst zu entwickeln begann. Sie beschäftigten sich aus einer liberalen Perspektive kritisch mit den gesellschaftlichen und ideellen Folgen der amerikanischen Konsumgesellschaft und erschienen am Ende der 1950er Jahre in deutschen Übersetzungen: Vance Packards Die geheimen Verführer, David Riesmans Die einsame Masse (beide 1958) und John Kenneth Galbraith’ Gesellschaft im Überfluß (1959). Packards Darstellung der Manipulationstechniken der Kultur4
Maase: BRAVO; Poiger: Jazz; Rauhut: Beat.
5
Nathaus: Produktionssysteme.
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industrie, die an nationalsozialistische und stalinistische Praktiken erinnerten, insbesondere aber Riesmans Theorem vom »außengeleiteten« Menschen, der im Gegensatz zum bürgerlichen »innengeleiteten« Individuum den charakteristischen Typus der Konsumgesellschaft darstellte, gingen als Topoi in die kulturkritische Debatte der Bundesrepublik ein und blieben noch bis weit in die 1970er Jahre hinein wirkungsmächtig.6 Gleichzeitig wurde die entstehende Popmusik als Bedrohung einer als erwünscht deklarierten Normalität geächtet, weil sie Minderheitenstile legitimierte. In beiden deutschen Staaten wurden »Halbstarke« als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung betrachtet, jungen Männern gewaltsam die Haare geschnitten, weil man sie als »verweiblicht« ansah. Häufig waren vermeintliche Bedrohungen der überkommenen Geschlechterordnung Gegenstand von moral-panic-Kampagnen. Auf diese Weise wurden minoritäre Stile von oben mit einer politischen Bedeutung aufgeladen, die von den Urhebern oder Ausübenden nicht intendiert war. Auf der anderen Seite war das Provokationspotenzial, das in derartigen Empfindlichkeiten lag, ideal geeignet zur Erregung von Aufmerksamkeit in einer immer stärker medial durchformten Gesellschaft, so dass damit auch kalkuliert gearbeitet wurde. Dies gilt für Teile der Kulturindustrie ebenso wie für die Akteure neu aufkommender Subkulturen. Bei der Konzeption des TV-Beat-Club rechnete der Anthropologe und Jazzkenner Ernest Borneman mit der Empörung Erwachsener und schlug vor, in die Sendung Leute einzuladen, »die mit entrüsteter Stimme erklären, wie schlecht Jazz für die Moral der Jugend ist«. Dies sei bei seinen englischen Jazz-Sendungen »immer eine der populärsten Attraktionen« gewesen.7 Und 1965 hoffte der Verleger Gerd Bucerius auf Kritik der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, um die Auflage des Stern hochzutreiben.8 Später dienten kurze Haare, Haken-
6
Vgl. Helmut Lethens Interpretation, in der Außenleitung als positives Gegenbild (»Radartyp«) zum traditionell innengeleiteten Deutschen gedeutet wird (Lethen: Verhaltenslehren, S. 245 ff.).
7
Jazz-Club. Ein Programmvorschlag von Ernest Borneman, 8.6.1964, Radio Bremen, Beat-Club 1.
8
Bucerius schickte dem Amt eine Stern-Serie über Jugendliche mit der Bemerkung: »Sehr freuen würde ich mich über – möglichst scharfe – Kritik. Das hilft uns für dieses Jahr.« (Bucerius an Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, 6.2.1965, Bundesarchiv Koblenz, B 117/38.).
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kreuzschmuck und gezielter Dilettantismus in der Punk-Szene in ähnlicher Weise zur Erregung von Aufmerksamkeit in einer weit ausdifferenzierten kulturellen Landschaft. Anders als in der Bundesrepublik, wo Beat- und Rockmusik in den 1960er und 1970er Jahren von unten politisch aufgeladen wurden, ging die Politisierung in der DDR nach wie vor hauptsächlich von oben aus. Die SED betrachtete Popmusik als Ausdruck einer Geisteshaltung mit politischen Implikationen, die staatliche Regulierung erforderte. Zwar materialisierten sich auch in der Bundesrepublik Vorbehalte zum Teil noch in den 1970er Jahren durch Zensur in den Medien, doch verfügten die rabiaten Kritiker nicht über ein vergleichbares Durchsetzungspotenzial wie die ostdeutsche Staatspartei. Gleichwohl wurde am Ende der 1960er Jahre auch in der DDR der innere und äußere Druck so stark, dass die SED-Spitze in der Jugendpolitik einen Kurswechsel einleitete und Beatmusik nicht nur zuließ, sondern auch förderte – nicht zuletzt, um ihre Ausrichtung kontrollieren zu können. Insbesondere die Weltfestspiele der Jugend in Ost-Berlin, die 1973 unter den Augen der Weltöffentlichkeit in einer entspannten Atmosphäre Beatmusik allerorten boten, waren ein Zeichen innerer Liberalisierung unter erziehungsdiktatorischen Auspizien. Gleichwohl setzte sich in den staatlichen Instanzen im Zweifelsfall die Law-and-order-Richtung durch und zog die Zügel straffer an, wenn es geboten schien. Vor allem das Milieu der aus den Großstädten verdrängten Bluesanhänger, die in den mittleren und späten 70er Jahren von Konzert zu Konzert zogen und die gesellschaftlichen Konventionen durch ein nachlässiges Erscheinungsbild, demonstrativen Müßiggang und Selbstbestimmung konterkarierten, wurde als »negativdekadente« Erscheinung bekämpft – und mit ihnen die Bands, deren Anhang sie bildeten. 9 Einen Höhepunkt erreichten diese Disziplinierungsbemühungen mit dem Verbot der Klaus Renft Combo im September 1975. Ähnlich ambivalent war das Verhältnis zur Punk-Bewegung: Während manche Punkbands in den letzten Jahren der DDR durch FDJ-Konzerte und Präsenz in den Medien Anerkennung erlangten, wurden insbesondere Gruppen mit einem politisch oppositionellen Selbstverständnis staatlich verfolgt.10
9
Rauhut: Kunden-Buch.
10 Boehlke/Gericke: Future.
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P OLITISIERUNG VON UNTEN . P OPMUSIK IM Z EICHEN VON P ROTEST
UND
R EVOLTE
Seit Mitte der 1960er Jahre wurde Popmusik auch von unten politisiert, weil viele Akteure einer »Gegenkultur« nicht nur generell an einer »jungen Kultur« (Rolf Ulrich Kaiser) interessiert waren, sondern auch politische Vorstellungen hatten, die sich konträr zur politischen Kultur der Bundesrepublik und der DDR verhielten.11 Wichtigste Inspirationsquelle war die USFolkmusik mit ihren Wurzeln in der amerikanischen Arbeiter- und Bürgerrechtsbewegung, repräsentiert etwa durch Woody Guthrie und Pete Seeger, die über jüngere Protagonisten wie Joan Baez und Bob Dylan größere Massen der nachfolgenden Generationen beeinflussten – nicht zuletzt dann, wenn sie ihren politischen Ansatz allmählich erweiterten hin zu anderen, »unpolitischen« Themen eines alternativen Alltags. Hinzu kamen deutsche Traditionen wie das Arbeiter- und Revolutionslied des 19. Jahrhunderts, jiddische Folklore, das revolutionäre Liedgut der Weimarer Republik, Widerstandslieder aus dem »Dritten Reich«. Das vom Bund-Verlag veröffentlichte, weit verbreitete Liederbuch (später Liederkiste u. a. Titel) mit dem roten Luftballon gibt einen guten Überblick über das, was in den 1970er und 1980er Jahren gesungen wurde. Hier spielte dezidiert politisches Liedgut eine große Rolle, nicht zuletzt von Liedermachern wie Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader und Wolf Biermann. Hinzu kamen aus dem Folkboom der 1970er Jahre stammende Gruppen, die »das demokratische Volkslied« popularisierten, wie Zupfgeigenhansel (gegründet 1974) und Liederjan (1975), die auch in den 1980er Jahren noch einen vernehmbaren Ton im Sound von Alternativmilieu und neuen sozialen Bewegungen ausmachten. Aber das Spektrum dessen, was in den 1960er und 1970er Jahren als politische Popmusik angesprochen wurde, reichte weiter. Unter den dezidiert politischen Rockbands erzielten Ton Steine Scherben mit einer Kombination aus aggressivem Sound und mobilisierenden Texten, ergänzt durch sensible, balladenhafte Songs, auch langfristig den größten Einfluss. Besonders sichtbar wurde der instrumentelle Charakter der Rockmusik bei der Umformung des politischen Kabaretts Floh de Cologne in eine Rockband, die ein größeres und jüngeres Publikum erreichen sollte. Doch zahlreiche
11 Siegfried: Time.
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Indikatoren, etwa die Karriere des Begriffs »progressiv« als Bestimmung von Rockmusik, verweisen darauf, dass das, was als politisch betrachtet wurde, weit unterhalb der Texte ansetzte, nämlich beim Sound. Welch große Rolle in dieser Zeit dem Klang als Träger politischer Bedeutungen zugeschrieben wurde, lässt sich etwa an einer Umfrage unter Rockmusikern in den frühen 1970er Jahren ermessen, derzufolge 53 Prozent von ihnen sich ganz allgemein vorgenommen hatten, zur Gesellschaftsveränderung beizutragen, und 42 Prozent sich zum Ziel setzten, bei ihrem Publikum gesellschaftskritische Haltungen zu fördern – nicht allein durch politische Liedtexte oder Statements, sondern mehr noch über Komposition und Arrangement der Stücke.12 Vor allem der E-Gitarre wurde ein solches Potenzial zugerechnet. Auch wenn derartige Vorstellungen mehr als vage blieben, so war doch der politische Anspruch an Rockmusik bei Produzenten wie Rezipienten bemerkenswert hoch und in dieser Ausprägung ein Spezifikum der Zeit sowie der Nationalkultur. Als Eigenart der deutschen Szene erschien dieses Phänomen jedenfalls nichtdeutschen Bands – besonders wenn sie aus Großbritannien kamen und auf die regelmäßig insistierenden Fragen deutscher Interviewer nach ihrem politischen Anliegen zunehmend ungehalten reagierten. Der Sänger der britischen Band Led Zeppelin, Robert Plant, beklagte sich 1973 im Interview mit der Zeitschrift Pop ausführlich über die Politisierung ihrer Musik in Deutschland, die bereits bei ihrer ersten Tournee im Frühjahr 1970 zu Krawallen geführt hatte, und brachte seine Sicht auf die Kurzformel: »Das deutsche Publikum ist an und für sich O.K., nur viel zu politisch.«13 Dabei mussten politische Reflexionen oder Aktivitäten mit der Produktion oder Rezeption von Musik keineswegs verbunden sein. Zu diesem Zeitpunkt konnte sich als »progressiv« verstehen, wer die »richtige« Musik hörte.
D IE THEORETISCHE W ENDE : P OLITISIERUNG DURCH M ASSENDEMOKRATISIERUNG Theoretisch legitimiert wurde ein Verständnis der Rockmusik als revolutionäres Medium – und zwar nicht über die Inhaltsseite, sondern wegen ihrer
12 Dollase u.a.: Rock People, S. 210 ff. 13 Pop, Nr. 11, 1973, zit. nach Sounds, Nr. 2, 1974, S. 20.
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Produktionstechnik – über die Rezeption Walter Benjamins, der hier gegen die Kritische Theorie der Frankfurter Schule in Stellung gebracht wurde. Einmal mehr zeigt sich darin, dass Popkultur in ihren Anfängen in linken Bewegungen besonders große Aufmerksamkeit fand – auch wenn sie umstritten war. Von der Herkunft mancher Theoretiker wie Stuart Hall, über die »demokratisch-sozialistische Prägung« der britischen Pop Art bis hin zum pop-affinen Jugendmagazin der französischen KP oder Praktiken bei den sozialistischen Falken in der Bundesrepublik – der parallele Aufschwung von Popkultur und linken Bewegungen hat gegenseitige Befruchtungen zur Folge gehabt.14 Walter Benjamin wurde zum theoretischen Heros jenes aktivistischen Teils der Studentenbewegung, der sich nicht von den modernen Medien abwandte, sondern sie in revolutionärer Absicht in Besitz nehmen wollte. Während Theodor W. Adornos Kritik der Kulturindustrie keinen Ausweg aus dem Zirkel von Manipulation und »rückwirkendem Bewusstsein«15 der Rezipienten sah, eröffnete Benjamins Essay zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit einen Weg, die modernen Massenmedien als Werkzeuge der Emanzipation zu begreifen.16 Für die Rockmusik als bedeutendste auditive Neuschöpfung der Medienkultur hat dies der Literaturkritiker und Musikkolumnist Helmut Salzinger 1972/73 am ausführlichsten begründet. Salzinger sah »die gegenkulturelle Bewegung« als »einzige gesellschaftliche Kraft«, die die Forderung Benjamins erfüllen könne, die Konsumindustrie mit kulturellen Neuerungen nicht nur zu beliefern, sondern gleichzeitig auch »umzufunktionieren«. 17 Ihm zufolge zielte Benjamins Postulat einer »Politisierung der Kunst« nicht auf eine politische Tendenzkunst. Rockmusik sei »revolutionäre Musik« – ganz unabhängig von etwaigen politischen Texten und überhaupt von politischen Urteilskriterien, sondern vielmehr im Lichte von Benjamins Ästhetik, derzufolge die Produktivkräfte Technik und Massenproduktion zur Überwindung des Kapitalismus drängten:
14 Zitat nach Hecken: Pop, S. 76. 15 Horkheimer/Adorno: Dialektik, S. 129. 16 Benjamin: Kunstwerk. 17 Salzinger: Benjamin, S. 93. Das Folgende ebd., S. 107 f. Vgl. auch schon Salzinger: Rock Power, S. 230 ff.
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»Während die Agenten der Kulturindustrie lediglich einen Massenartikel an den Mann zu bringen glauben, vertreiben sie zugleich den Sprengstoff, mit dem die Fundamente ihres Systems unterminiert werden. Das aber ist nicht so sehr das Ergebnis einer dieser Kunst übergestülpten inhaltlichen Tendenz, sondern ihrer Herstellungstechnik.«18
Kunst war demokratisch, weil sie reproduzierbar geworden war – potenziell jedermann konnte sie nicht nur rezipieren, sondern auch produzieren. Salzingers Interpretation fand Widerhall, weil sie die von Benjamin ausgehende »Bewegungssuggestion« auf das Gemisch aus radikaler Politik und Hedonismus anwandte, das seit 1967 in der Gegenkultur brodelte.19 Eine längerfristig theoretisch einflussreiche Schule, die gleichfalls den Eigensinn der Akteure bei der Rezeption und Produktion von Popmusik hervorhob und damit politische Implikationen unterhalb einer semantisch explizit politischen Ebene behauptete, war das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) der Universität Birmingham.20 Dessen Arbeiten aus den 1970er Jahren hoben – vor allem mit Blick auf Jugendsubkulturen aus der Arbeiterklasse – die Selbsttätigkeit der Akteure hervor und zeigten, dass die Produkte der Kulturindustrie von den Individuen unabhängig von intendierten Absichten genutzt und mit eigenem Sinn aufgeladen wurden.21 Insgesamt verlor die Vorstellung einer automatischen Entpolitisierung durch Populärkultur schon in den 1960er und 1970er Jahren erheblich an Bedeutung – nicht nur durch theoretische Suchbewegungen, sondern auch durch die Erfahrung eines parallelen Aufstiegs der konsumtiven Möglichkeiten und der Politisierung. Partizipation über Konsum erschien so als politisch im Sinne einer »Massendemokratisierung« (Max Weber). Selbstentfaltung durch vermehrte Teilhabe stärkt die Stellung des Individuums in der Gesellschaft und begünstigt eine »Politisierung der Alltagspraktiken«.22
18 Salzinger: Benjamin, S. 125. 19 Lethen: Spiel, S. 55. Zum Verhältnis von Politik und Gegenkultur vgl. den Überblick von Langston: Beethoven. 20 Vgl. zum Subkultur-Konzept den Beitrag von Bodo Mrozek in diesem Band. 21 Vgl. Hall/Jefferson (Hg.): Resistance; Hebdige: Meaning; Mungham/Pearson (Hg.): Working Class Youth Culture; Willis: Profane Culture. 22 De Certeau: Kunst, 21. Vgl. Appadurai: Introduction. Michael Wildt: Konsumbürger, spricht vom »Politische[n] als Optionsfreiheit und Distinktion«; zeit-
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L IFESTYLE P OLITICS Als Kennzeichen der politischen Kultur post-industrieller Gesellschaften hat Anthony Giddens die gegenseitige Durchdringung von Politik und Lebensstil konstatiert: Die (post-)moderne Lebensweise beinhaltet auch politische Haltungen, die sich in Alltagshandlungen, wie etwa im Konsum oder bei Freizeitaktivitäten, widerspiegeln.23 Wie stark sich Politik und Lebensstil seit Mitte der 1960er Jahre in der Populärkultur vermischten, lässt sich auf dem Gebiet der Rockmusik an Musikern wie Udo Lindenberg exemplifizieren, der sich häufig politisch äußerte und bei zahlreichen politischen Musikerinitiativen führend dabei war. Im Kontext der Friedensbewegung entwickelte sich der Austausch von Lederjacke, Schalmei und E-Gitarre zwischen Udo Lindenberg und Erich Honecker 1987 zum Höhepunkt eines spannungsvollen, von Neugier und Kalkül, Kritik und Ironie geprägten Verhältnisses.24 Der Musiker, der sich schon lange für das andere Deutschland interessiert hatte und seit 1982 zu dessen prospektivem Bündnispartner gegen den NATO-Doppelbeschluss aufgestiegen war, setzte sich kritisch mit der DDR auseinander, ohne feindselig zu wirken. Trotz seines Erfolgstitels Sonderzug nach Pankow (1983) – einer respektlosen Bewerbung um einen Auftritt in Ost-Berlin, die von den DDR-Medien boykottiert wurde – durfte Lindenberg am 25. Oktober 1983 im Palast der Republik spielen; der Rundfunk übertrug sogar seine Kritik an der Raketenstationierung in beiden deutschen Staaten. Nach einem Knüppeleinsatz gegen DDR-Jugendliche, die an Pfingsten 1987 einem Rockkonzert auf der anderen Seite der Mauer lauschten, vermachte Lindenberg »Honey« seine Lederjacke – auch dieses an sich politikferne Utensil war mit symbolischem Kapital ausgestattet und sollte den SED-Chef zu mehr Liberalität bewegen. Sogar bis in den deutschen Schlager, den vermeintlichen Kernbereich des Gesellschaftsfernen, drang die semantische Politisierung vor. Dass Lieder von Peter Alexander, Chris Roberts und Katja Ebstein die 1970er Jahre in der Schlagerwelt zum »Jahrzehnt der Menschen, Nachbarn und anderer
genössisch stellte Blücher: Generation, S. 381, im Hinblick auf Jugendliche fest: »Konsumverhalten und Verhalten im politischen Feld weisen Parallelen auf.« 23 Giddens: Modernity. 24 Rauhut: Schalmei. Vgl. Felber: Rock.
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Minderheiten« (Elmar Kraushaar) machten, deckte sich mit den Bestrebungen von Kommunen und sozialen Bewegungen zum Aufbau einer Kommunikationskultur von unten, wie sie in der allseits geteilten Zielsetzung einer »Kultur für alle« zum Ausdruck kam.25 Am wirksamsten gelang es Udo Jürgens, die allgemeine Stimmung musikalisch so umzusetzen, dass sich eine große Masse Einzelner persönlich berührt fühlte und damit jener »magische Moment« entstand, »an dem der Zeitgeist zu singen beginnt« (Peter Wicke). Jürgens hatte in den 1960er Jahren mit unpolitischen Liedern wie Merci Chérie Erfolg gehabt, bewies aber in den Folgejahren, dass man auch mit gesellschaftsbezogenen Schlagern, wenn sie nur glaubwürdig erschienen, ganz an die Spitze der Hitparaden gelangen konnte. Nachdem das politisch allzu plakative Lieb’ Vaterland (Text: Eckhard Hachfeld) 1971 eine Kontroverse, aber keinen ökonomischen Erfolg ausgelöst hatte, fand Jürgens den richtigen Ton mit Griechischer Wein, einem Lied über Isolation und Heimweh unter Arbeitsmigranten, das 1974 wochenlang die Hitlisten anführte. Auch die nachfolgenden Songs waren hoch platziert: Ein ehrenwertes Haus (1975), das spießige Reaktionen auf die Ehe ohne Trauschein aufs Korn nahm, und Aber bitte mit Sahne (1976), ein ironischer Kommentar zu den Folgen des Wohllebens. Während Roy Black oder Heino auch weiterhin traditionalistische Geschmacksrichtungen bedienten, thematisierten in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren Mary Roos, Gitte oder Wencke Myhre auch andere, in der Schlagerwelt bis dahin umgangene Aspekte des gesellschaftlichen Wandels: Homosexualität, Frauenemanzipation und das gewandelte Männerbild. Schon in den 1970er Jahren war Popmusik nicht nur Begleiter der gleichzeitig entstehenden neuen sozialen Bewegungen gewesen, sondern auch als eigenständiges politisches Mobilisierungsmedium aufgetreten. Während Ton Steine Scherben oder Franz K. für die Jugendzentrumsbewegung eine wichtige Rolle spielten, mobilisierten Musiker in den Initiativen Rock Against Racism oder Rock gegen rechts gegen die xenophob-neonazistische Welle um 1980. Derartige organisierte Musikerinitiativen fanden ihre Fortsetzung und mediale Ausbreitung im Kontext der großen Bewegungen der 1980er Jahre. Über die breiter angelegte Initiative Künstler
25 Port le roi: Schlager, S. 146 ff.; Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Melodien.
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für den Frieden hinaus waren Bots, BAP, Klaus Lage und andere musikalische Repräsentanten der Friedensbewegung und mobilisierten ihre Klientel für ihr politisches Ziel.26 Wie weit das allerdings schon weitgehend entpolitisierte Ansinnen eines »Friedens« über die deutschen Grenzen hinaus den kleinsten gemeinsamen Nenner gesellschaftlicher Stimmungen kennzeichnete, belegt die Tatsache, dass den erstmaligen Spitzenplatz für die Bundesrepublik im European Song Contest die von Ralph Siegel promotete Saarländerin Nicole mit Ein bisschen Frieden 1982 in Harrogate errang. Während auf der einen Seite Popmusik zum globalen Vehikel politischer Kampagnen wurde und zu einem Träger der Lifestyle Politics, war ihre politische Ausrichtung immer weniger eindeutig »progressiv«. Globale Medienevents wie Live Aid (1985) und Concert for Nelson Mandela (1988) demonstrierten, dass Musikgenuss und globale Verantwortungsethik miteinander verschmolzen, während die Auseinandersetzung um Paul Simons Album Graceland daran erinnerte, wie wenig eindeutig gut gemeinte musikalische Statements wirklich waren.27 Schockierend wirkte sich in der linken Szene die Erkenntnis aus, dass Rockmusik nicht mehr automatisch links codiert war. Seit Mitte der 1980er Jahre kamen Rechtsrock-Bands wie Störkraft und Landser auf, deren nationalistische und rassistische Texte den Hintergrundsound des neonazistischen Aufschwungs in den frühen 1990er Jahren bildeten. Während Günter Amendt noch 1985 angenommen hatte, die jungen Altersgruppen seien »immer alright«, konstatierte Diedrich Diederichsen angesichts dieser Welle, Generationszugehörigkeit sei kein Ausweis richtiger Gesinnung – diese »kids« jedenfalls seien »not alright«.28
A UTHENTIZITÄT UND Z EICHEN . P OLITISCHE I MPLIKATIONEN DER POSTSTRUKTURALISTISCHEN P ERSPEKTIVE UM 1980 Während die linke Intelligenz der 1960er und 1970er Jahre den Aufschwung der Popkultur auch als Gelegenheit nahm, Erfahrungshunger durch Begegnung mit der Wirklichkeit zu stillen und in der Tradition der 26 Baur: Untergangsszenarien. 27 Meintjes: Graceland. 28 Konkret 5/1985, S. 68; Diederichsen: Kids; Annas/Christoph: Soundtracks.
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»Volksfreunde« die Nähe zum Populären als symbolisches Kapital im Kampf um Deutungsmacht einzusetzen, lehnten ihre Nachfolger in den 1980er Jahren derartige Verbrüderungen ab.29 Verachtet wurden identifikatorische Politiken, wie sie das musikalische Umfeld der Friedensbewegung repräsentierte, von jener »punkaffinen Intelligenz«, die das ironische Spiel mit Zeichen bevorzugte, aber damit keine Antipolitik, sondern eine »Politik zweiter Ordnung« betrieb.30 Insbesondere lehnte sie Authentizitätsbehauptungen ab, wie sie der Rockmusik anfangs inhärent und durch das Engagement zahlreicher Bands für Friedens- und andere Bewegungen auf das politische Feld transponiert worden waren. Wie Hakenkreuze bei Auftritten von Punkbands keine Parteinahme für den Nationalsozialismus darstellten, sondern provozieren sollten, war die Aufforderung »Tanz den Adolf Hitler« durch die Band Deutsch Amerikanische Freundschaft nicht für bare Münze zu nehmen.31 Allerdings war im postmodernen Allerlei auch faschistische Ästhetik als Inspirationsquelle wieder diskursfähig geworden, wenn auch nur in Grenzen. Ob es sich bei den Positionen der »punkaffinen Intelligenz« um spezifisch deutsche Phänomene handelte, ist nicht ausgemacht. Auf der einen Seite richtete sich ihre Kritik gegen den Authentizitätskult der 1970er Jahre – und damit gegen essenzialistische Neigungen, die in der deutschen Geschichte eine problematische Rolle gespielt hatten. Auf der anderen Seite wollte sie »die Integrität des Rebellischen retten« (Thomas Meinecke), indem sie nicht behauptete, sich den gesellschaftlichen Zwängen entziehen zu können, sondern auf Widerstand innerhalb des gegebenen Rahmens setzte. Aber auch die Ersetzung des rebellischen Pathos durch Camouflage per Anpassung, Idealisierung von Distanz, Durchblick und »starken Gedanken« als Ausweis nichtkonformer Haltung war nicht ganz neu, sondern Teil einer längeren geistesgeschichtlichen Tradition in Deutschland. Andererseits wurde sie mit Ironie verkoppelt, wie es schon Susan Sontag in ihren Notizen über Camp 1964 postuliert und am Pop eine Entthronung des Ernsthaften und die Attraktion der zeichenhaften Oberfläche hervorgehoben hatte: Stil siegt über Inhalt, Ästhetik über Moral und Ironie über die Tragödie.32
29 Wietschorke: Volk. 30 Geisthövel: Strategien, S. 386. 31 Rauen: Pop. 32 Sontag: Notes.
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Ob die Hermetik der Sprache und Gruppenbildung, Ideale von Differenz, Kampf und Entschiedenheit auch in anderen Ländern den Diskurs der PopIntelligenz bestimmte, wäre zu überprüfen. Gut möglich, dass sich hier, in der radikalen, aber politisch letztlich vergeblichen Intellektualisierung der Kritik im Zeitalter des Massenkonsums eine deutsche Spezifik zeigt, die nicht gleich zu einem Sonderweg stilisiert werden muss.
K ULT DER O BERFLÄCHE . »A NTIPOLITISCHE « W ENDE
UND
G EGENBEWEGUNGEN
Keine auf den ersten Blick politische Botschaft transportierte die seit den späten 1980er Jahren auf der Basis digitalisierter elektronischer Musik operierende Technoszene, die, wie man an der Entwicklung der Berliner Love Parade beobachten kann, sich im Laufe der frühen 1990er Jahre zu einer Massenbewegung entwickelte und besonders große Resonanz in Deutschland fand, wo sich, begünstigt durch die Öffnung der Mauer, eine weitläufige Subkultur herausbildete.33 Politische Implikationen wurden häufig abgelehnt, auch wenn subkutane Entwicklungen durchaus Emanzipationsprozesse sichtbar werden ließen – die Profilierung durch Körpereinsatz etwa oder der Aufstieg weiblicher DJs. Auch autonomistische Abwehrbewegungen waren erneut zu beobachten. Einer Kommerzialisierung der Szene stellten sich DJs wie Alec Empire und das Frankfurter Label Mille Plateaux entgegen, während seit 1997 eine Fuck Parade als Gegendemonstration zum Massenhype der Berliner Love Parade figurierte.34 Die Wende gegen den Sinnzwang, wie er auch in der Karriere des European Song Contest in subkulturellen Szenen zum Ausdruck kam, versah die zeichenhafte Oberfläche mit neuer Legitimität, die das Spiel mit Identitäten zuließ und damit Lebensstilen Ausdrucksmöglichkeiten bot, die frei von Anpassungszwängen waren. Eine auf den ersten Blick antipolitische Wende nahm die Popmusik, nun eng verbunden mit der Pop-Literatur, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Diesem Genre sind nach der Entdeckung großer Vorläuferfiguren wie Hubert Fichte und Rolf Dieter Brinkmann eine Reihe jüngerer Schriftsteller zugeordnet worden, die bei starkem Gegen-
33 Weber: Miniaturstaat; Klein: Electronic Vibration. 34 Robb: Demise, S. 265 ff.
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wartsbezug die alltags- und populärkulturelle Zeichenwelt in ihre literarische Produktion aufnahmen und überdies häufig auf anderen medialen Feldern kreativ waren – Film, Theater, Turntable –, sich aber ansonsten erheblich unterschieden.35 Geprägt wurde die neue Pop-Literatur anfangs von Autoren wie Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre, die als »Enkel-Generation« der Pop-Literaten der 1960er Jahre betrachtet worden sind, sich aber als »Gegengegenkultur« (Diedrich Diederichsen) vom Protesthabitus vorgängiger Jugendszenen absetzten.36 Sie pflegten ein ironisches Verhältnis zu ihrer Umwelt, das mit einem demonstrativen Interesse für Oberflächenphänomene wie äußeres Erscheinungsbild, Konsumgüter und Marken korrespondierte, aber auch ein ostentatives Desinteresse für Politik und Theorie ausstellte. Die besonders markante Affinität zur Popmusik, wie sie schon der Erfolgsroman High Fidelity des Briten Nick Hornby literarisch umgesetzt hatte, repräsentiert etwa Stuckrad-Barre, dessen Bücher um dieses Thema kreisen.37 Seine Lesungen in Clubs und Kinos inszenierte er im Stile von Popkonzerten, beim Musiksender MTV moderierte er eine Literatursendung. Selbst nicht zimperlich im Austeilen, litt des Autors Reputation, als er 2001 die Zeitschrift Titanic verklagte, die sich über seine mediale Allgegenwart lustig gemacht hatte. Den Auftakt zur neuen Pop-Literatur hatte schon zuvor Christian Kracht mit dem Roman Faserland (1995) gegeben, der den Alltag von Oberschichtsprösslingen zwischen Sylt, München und der Schweiz schildert. Das Buch wurde als Wortmeldung einer neuen Generation wahrgenommen, die unter dem Titel Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett (1999) auch ein kollektives Statement abgab, symbolträchtig im Hotel Adlon formuliert. Florian Illies begrüßte Krachts Erstling als generationellen Befreiungsschlag: »Es wirkte befreiend, dass man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68er-Generation, den man immer als albern empfand, auch öffentlich albern nennen konnte.«38 Das »Gründungsphänomen« (Moritz Baßler) hielt nicht viel vom Etikett des »Pop-Literaten« und reanimierte mit seinem zweiten Roman 1979 (2001) die Vorstellung vom
35 Degler/Paulokat: Popliteratur. 36 Frank: Nachfahren. 37 Paulokat: Stuckrad-Barre; Mertens: Robbery. 38 Zit. n. Baßler: Pop-Roman, S. 115.
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drohenden Untergang eines dekadent schwächelnden Abendlandes eben in jenem Moment, als sie nach dem 11. September 2001 neue Plausibilität beanspruchte. Weniger die Neigung zum Populären als die spezifische Mischung aus Ästhetizismus und konservativem Weltbild provozierte voraussehbar polarisierte Reaktionen. Der konservativ-elitäre Grundzug dieser frühen Ausprägung der neueren Pop-Literatur hat kulturkritische Vorbehalte gegenüber der Popkultur noch einmal reaktiviert, ohne dass die seit den 1960er Jahren niedergerissenen Schranken zwischen Hoch- und Populärkultur wieder aufzurichten gewesen wären. Auch der gelegentlich zu vernehmende Befund eines Hegemonieverlusts linker Popkritik erwies sich als voreilig. Autorinnen wie Alexa Hennig von Lange oder Sibylle Berg thematisierten unscharf gewordene Geschlechterverhältnisse nicht aus männerbündischer Perspektive, während Suhrkamp-Autoren wie Rainald Goetz und Thomas Meinecke popkulturelle Praktiken in verschiedenen Medien mit theoretischen Interessen verbanden. Ähnlich artikuliert Kathrin Röggla nicht nur avantgardistische Ambitionen, sondern auch einen politischen Anspruch. Bei diesen Autoren treten am stärksten Parallelen zum Geschehen in der Popmusik hervor, wo insbesondere mit der »Hamburger Szene« im Umfeld von Musikern wie Jochen Distelmeyer und Bernd Begemann sowie Bands wie Die Sterne und Tocotronic in den 1990er Jahren der »Diskurspop« der »Pop-Linken« etabliert wurde. Zum wichtigsten Autor einer interkulturellen Literatur mit politischem Anspruch wurde Feridun Zaimoglu, der die Sprache türkischstämmiger Jugendlicher zu Gehör brachte und damit eine konfliktreichere Wirklichkeit beschrieb, als man sie hinter den Internatsmauern von Schloss Salem erahnen mochte.39 Zaimoglu betrachtete die Pop-Literatur à la Kracht und Stuckrad-Barre als »reaktionäres Kunsthandwerk« und förderte in subversiver Absicht popkulturelles Material zutage, das die selbstverständliche Dominanz einer westdeutschen Middle-classJugendkultur in Frage stellt.40 Blickt man auf die internationale Wahrnehmung, dann fällt auf, dass deutscher Pop insbesondere als Kunst Aufmerksamkeit erregte, als intellektuelle Ausdrucksform, der spezifisch deutsche Attribute zugeschrieben wurden. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Deutschland pro-
39 Skiba: Hybridität. 40 Ernst: MTV.
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duzierter Pop auch massenkulturell anschlussfähig war. Nicht nur Kraftwerk, NDW-Bands und Techno – auch in der Disco-Welle spielen westdeutsche Produktionen eine Rolle, wie etwa Boney M. oder Giorgio Moroders »Munich Sound«, den Stars wie Donna Summer zu Weltruhm brachten. Aber selbst eine deutsch singende und martialisch auftretende Band wie Rammstein war international erfolgreich, indem sie ihre drastische Ästhetik als unpolitisch definierte, sich vom Nationalsozialismus distanzierte und politisch links verortete. In den USA, wo die Band enormen Erfolg hat, wird ihr Symbolhaushalt nicht mit dem Nationalsozialismus identifiziert, sondern eher mit der homosexuellen Sado-Maso-Szene.
F AZIT Ob mit expliziten politischen Texten oder nicht, populäre Musik hat immer dazu gedient, die Angelegenheiten der Gegenwartsgesellschaft zu verhandeln. Zur Verhandlung genutzt wird alles, was gerade greifbar ist, so dass die Kombination von US-Rock à la Jimi Hendrix mit dem radikalen Arbeitersong von Brecht und Eisler in den 1970er Jahren ebenso denkbar ist wie 1990er-Jahre-Rap und die ewige Wiederkehr der Liebe und Triebe. Aus der Perspektive derer, die sich die jeweils vorhandenen Impulse aneignen, ist deren nationale Herkunft nicht von Belang. Denn die Aneignung gehorcht nicht etwaigen Interessen des Senders, sondern findet stets nach eigenen Kriterien statt und ist, mit den Worten Gabriele Kleins, »ein erneuter Akt der Produktion«. 41 Wie Rob Kroes an Beispielen der US-Populärkultur gezeigt hat, werden etablierte Symbole in allen Teilen der Welt genutzt, um sie mit eigensinnigen Bedeutungen ironisch aufzuladen bzw. umzudefinieren, und oftmals entgegengesetzte Zwecke zu erfüllen.42 Historisch betrachtet waren Massenkonsum und Demokratisierung häufig positiv miteinander verkoppelt. Gesellschaftlicher Eingriff durch selektive Konsumpraxis als »materielle Kultur der Politik«43 zeigte sich nicht nur in jenen Sub- und Gegenkulturen, die in den 1960er Jahren entstanden, als Inkarnationen einer praktischen Konsumkritik »folklorisiert« und damit zur
41 Klein: Vibration, S. 295. 42 Kroes: Mall. 43 Daunton/Hilton: Politics.
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Ausnahme von der Regel stilisiert wurden.44 Sie verkörperten lediglich radikale Formen eines grundsätzlich subversiven Mechanismus: Konsumenten verwirklichen und produzieren im Alltagsgebrauch der vorgefundenen Waren einen Eigen-Sinn, der das formative System der kulturindustriellen Produktion unterläuft, in den Gebrauchsweisen verborgen liegt und historiographisch sichtbar gemacht werden kann. 45 In ihren »Aneignungspraktiken« sind die »Indikatoren der Kreativität auf[zu]spüren«, aber auch das widersprüchliche Wechselspiel zwischen kulturindustrieller Produktion von oben und Eigen-Sinn-Produktion von unten: die »mikroskopischen, vielgestaltigen und zahllosen Verbindungen zwischen Manipulieren und Genießen«, kurz, »die flüchtige und massive Realität einer gesellschaftlichen Aktivität, die mit ihrer Ordnung spielt«.46 Die Parallelentwicklung von wirtschaftlicher Prosperität und Politisierung in den 1960er Jahren, in minderem Umfang auch in den 1970er und 1980er Jahren, widerlegt die angesichts des »Wirtschaftswunders« grassierende Annahme von der automatischen Entpolitisierung durch Konsum, aber sie bedeutet nicht, dass wirtschaftliche Besserstellung zwangsläufig mit zunehmendem Interesse an den Belangen der Gesellschaft einhergehen muss. Konsum ist weder ein Reich der totalen Manipulation noch eines der unbegrenzten individuellen Freiheit, sondern eine gemischte Sphäre, deren konkrete Ausgestaltung von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig ist und sich in den Praktiken der Akteure vergegenständlicht. In der Mediengesellschaft ist der Einfluss der Kulturindustrie allgegenwärtig, aber das immer weiter ausdifferenzierte Spektrum von Waren, Dienstleistungen und Ideen, das in der kulturindustriell erzeugten Totalität zur Verfügung steht, gibt nicht nur einen Rahmen vor, sondern ermöglicht auch Entscheidungen. Ob und wie diese Spielräume genutzt werden, hängt von den Zeitumständen und von sozialen Bestimmungsfaktoren wie Herkunft, soziale Lage, Geschlecht, Ethnizität etc. ab – und ist damit historisch wandelbar. Daher ist Popmusik auch für eine Kulturgeschichte des Politischen nutzbar zu machen. Nicht nur ihre Instrumentalisierung durch politische Parteien oder Bewegungen zeigt Wandlungsprozesse in der Performanz des
44 De Certeau: Kunst, S. 12. 45 Lüdtke: Eigen-Sinn. 46 De Certeau: Kunst, S. 19 f. u. 31.
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Politischen an, den Versuch, stärker an emotionalen Bedürfnissen der Zielgruppe anzuknüpfen und sich selbst mit neuesten Trends im kulturellen Feld in Verbindung zu bringen. Darin drückt sich die Tendenz einer gegenseitigen Durchdringung der Sphären von Politik und Alltag aus, wie sie schon in der frühen Losung der Frauenbewegung »Das Private ist politisch« expliziert worden war. Aus dem historischen Abstand schält sich deutlicher heraus, dass der am Beginn der popkulturellen Sattelphase in Anlehnung an amerikanische Analysen viel beklagte »Privatismus« nur sehr begrenzt die Realität der Bundesrepublik in den späten 1950er Jahren widerspiegelte. Vielmehr zeigt sich, dass neuartige Strömungen und kulturelle Felder entstanden, die mit dem herkömmlichen Schema politischer Partizipation – Menschen schließen sich in Parteien und Verbänden zusammen, um ihre Ansichten zu artikulieren und im parlamentarisch-repräsentativen Rahmen zu verbindlichen Normen zu erheben – nicht zu erfassen sind. Vielmehr brachen »privatistische Bewegungen«47 – also Subkulturen – dieses starre Schema von unten her auf, nutzten die neuartigen Artikulationsmöglichkeiten der sprunghaft erweiterten Öffentlichkeit und implantierten so der Gesellschaft ein weniger »formalisiertes« und stärker »informalisiertes« (Norbert Elias) System von politischen und kulturellen Optionen. Ein wesentlicher Mechanismus, der zu dem grundlegenden Wandel im Selbstverständnis der Westdeutschen führte, war die kontroverse Thematisierung privater Lebensverhältnisse und Alltagsprobleme unter demokratischem Vorzeichen.48 Daher dürfen scheinbar »unpolitische« Erscheinungen aus der Analyse nicht ausgeschlossen werden. Zum Verständnis gesellschaftlicher Transformationen ist es unabdingbar, den Wandel »unpolitischer« Felder zu explorieren und auf Politisierungseffekte hin zu untersuchen. Dabei sollte nicht per se eine Politisierung des Alltags unterstellt, sondern offen nach dem Verhältnis von »Privatem« und »Politischem« gefragt werden. Dass Themen der privaten Lebensführung öffentlich kommuniziert wurden, war ein zentrales Merkmal der Demokratisierung, aber von ebenso starker politischer Bedeutung war auch, dass der private Bereich – anders als in diktatorischen Regimes – vor dem Zugriff der Politik geschützt werden konnte.
47 Kentler: »Subkulturen«, S. 409. 48 Dazu schon früh erhellend die Diskussion aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive, exemplarisch: Hausen: Öffentlichkeit.
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Die Ablehnung von »Sinn« und der Bezug auf die Oberfläche war im Kern eine solche Gegenbewegung gegen Essentialismus und Bekenntniszwang. Gerade weil sich die öffentliche Meinung zum erwünschten Stand dieses Spannungsverhältnisses ständig verschob, bietet sich hier ein hervorragender Ansatzpunkt für eine politische Kulturforschung, die den Sound der Zeit ernst nimmt.
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Popkultur und Geschlechternormen Männlichkeit und Weiblichkeit in der Bonner Republik U TA G. P OIGER
Die Nachkriegsgeschichte ist wie vielleicht keine andere Ära der deutschen Geschichte von Historikern erschlossen worden, die der Kategorie Geschlecht viel Beachtung erweisen.1 Allerdings haben in den letzten Jahren Historikerinnen zuweilen die Nützlichkeit dieser Kategorie als zu vereinfachend in Frage gestellt.2 Ausgehend davon stellt sich die Frage, wie man den Zusammenhang von Pop und Geschlecht analysieren kann. Was sagt uns der Umgang mit Pop zu der Frage, wie moderne Gesellschaften Geschlechternormen und Geschlechterbeziehungen gestalteten? Ich stütze mich bei den folgenden Überlegungen auf die Annahme, dass der Umgang mit populärer Kultur ein wichtiger Faktor bei der Veränderung von Geschlechternormen ist. Insbesondere eignet sich eine pophistorische Perspektive dazu, die sich wandelnde Beziehung von Geschlecht, Rasse und Sexualität zu analysieren. Zugleich bietet eine solche Untersuchung die Möglichkeit, die Instabilität von Geschlechternormen in der 40-jährigen Geschichte der Bundesrepublik zu skizzieren, wobei innerdeutsche und internationale Prozesse solche Veränderungen mitgestalteten.
1
Vgl. Moeller: Geschützte Mütter; Fehrenbach: Cinema in Democratizing Germany; Poiger: Jazz, Rock, and Rebels; Heineman: What Difference; Herzog: Politisierung der Lust; Harsch: Revenge of the Domestic.
2
Boydston: Gender as a Question of Historical Analysis.
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Krisen von Geschlechterrollen und -normen lassen sich in jeder historischen Periode feststellen, und doch gibt es Phasen, in denen sie besonders intensiv in Frage gestellt wurden. Für die Geschlechtergeschichte der Bonner Republik richtet sich das Augenmerk auf drei Phasen, in denen sich Veränderungen von Geschlechternormen in Debatten zu populären Musikund Modestilen oder auch in der Formierung von Gegenkulturen verorten lassen: Jazz und Rock’n’Roll in den fünfziger Jahren, Beat und Soul in den sechziger und frühen siebziger Jahren und schließlich Punk in den späten siebziger und achtziger Jahren. Zugleich lässt sich feststellen, dass Popkultur in den fünfziger Jahren oft stark politisiert wurde, und zwar durchaus von öffentlicher Seite. Dagegen waren es vor allem Sub- oder Gegenkulturen3, die Popkultur in den folgenden Jahren eine politische Wirkung zusprachen, während Verantwortliche aus der Jugendpolitik solche Interpretationen seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre weitgehend ignorierten und insgesamt zu einer zumindest scheinbaren Entpolitisierung von Popkultur beitrugen. Solche Entpolitisierung bedeutete auch, dass Wissenschaftler sich oft schwer tun, die Veränderungen, die Popkultur in Bezug auf Habitus und Geschlechterrollen beförderte, ernst zu nehmen und ihre Einbindung in breitere Machtbeziehungen zu erkennen.4 Dabei eignet sich gerade der historische Blick auf die Popkultur und ihre Fans, um die performativen und instabilen Aspekte von Geschlechterrollen und deren Vielfalt aufzuzeigen. Es macht durchaus Sinn, von mehr als zwei Geschlechtern auszugehen. Theorien wie die des »Gender Trouble« und der »queer studies« wurden seit den achtziger und neunziger Jahren von Feministinnen formuliert, die dabei auf popkulturelle Phänomene wie Punk oder Drag Bezug nahmen. Zwei Aspekte sind hier besonders wichtig: eine differenziertere Auseinandersetzung mit diversen Formen der Sexualität und des »Körpermachens« sowie die Erkenntnis, dass ein binäres Geschlechtermodell, das eindeutige Rollen für Frauen und Männer annimmt, zu einer bestimmten Zeit und in bestimmten Kontexten formuliert wurde, dass es vielleicht sogar seinen Höhepunkt der Akzeptanz in den Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegsjahrzehnte erreichte. Zugleich haben verschiedene Stimmen den Eurozentrismus der Geschlechterstudien hinterfragt. Und schließlich hat die Einbeziehung des Konzepts »trans-gender«
3
Vgl. den Beitrag von Bodo Mrozek im vorliegenden Band.
4
Vgl. Poiger: Jazz, Rock, and Rebels.
P OPKULTUR UND G ESCHLECHTERNORMEN
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die Konzeption von Geschlecht als sozialen Ausdruck biologischer Grundlagen mit entweder männlicher oder weiblicher Ausprägung weiter unterminiert.5 Um die Dynamik von Politisierung und die Entpolitisierung von Stilen und deren Beziehung zu Geschlechternormen zu analysieren, ist es aus methodischer Sicht wichtig, eine breite Quellenbasis einzubeziehen: von Berichten in Mainstream- ebenso wie in alternativen Medien über soziologische und psychologische Studien bis zu Berichten von Behörden und Protokollen politischer Debatten. Zugleich ist zu beachten, dass sich Kontroversen über populäre Kultur immer auch auf Konsumkultur bezogen. Die Einbeziehung vielschichtiger Kontexte führt Historiker weg von simplifizierenden Interpretationen der Popkultur, die entweder auf die Manipulation der Kulturkonsumenten abzielen oder eine befreiende Wirkung annehmen. Zugleich kann ein solcher Ansatz aufzeigen, wie unterschiedlich Männer und Frauen als Produzenten und auch Konsumenten populärer Kultur auftraten.
H EISSE R HYTHMEN , MÄNNLICHE A GGRESSIONEN UND H ETEROSEXUALITÄT In der BRD und auch der DDR der fünfziger Jahre waren viele Aspekte der Popkultur, insbesondere amerikanischen Ursprungs, aus unterschiedlichen Gründen umstritten. Pädagogen, Wissenschaftler und Politiker diskutierten vor allem Einflüsse auf Jugendliche, machten sich immer wieder Gedanken über politische Auswirkungen und versuchten zuweilen, diese einzudämmen. Besonders beunruhigte sie der vermeintliche Zusammenhang zwischen Popkultur und Aggressivität bei jungen Männern und eine angebliche Sexualisierung bei jungen Frauen. Solche Befürchtungen kulminierten, als die Presse in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre eine Welle von so genannten Halbstarkenkrawallen konstatierte. Diese erschienen nur als Spitze des Eisbergs. Immer mehr junge Männer hingen in den Straßen herum, trugen Jeans und hörten in aller Öffentlichkeit die neuesten Hits aus der Musikbox oder dem Transistorradio und erregten damit eine Debatte über
5
Vgl. Butler: Unbehagen; McRobbie: Top Girls; Sedgwick: Epistemology of the Closet; Puar: Terrorist Assemblages; Munoz: Disidentifications.
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die Amerikanisierung der Kultur und die Erosion der Ordnung im öffentlichen Raum. Bei Krawallen und in Cliquen spielten junge Frauen eine untergeordnete Rolle, doch berichtete die Presse auch von jungen Frauen in den Vereinigten Staaten, der Bundesrepublik und anderen europäischen Ländern, die ekstatische Bewunderung für Idole aus Film und Musik, wie zum Beispiel James Dean oder Elvis Presley, an den Tag legten. Es war nur eine Minderheit der Jugendlichen, die neue Kleidungsstile mit auffälligem Verhalten verbanden. Und doch stellte ihr Benehmen das Ideal der so genannten Hausfrauenehe in Frage, in der Frauen sich vor allem den Kindern widmeten, während beschützende Ehemänner und Väter das Familieneinkommen verdienten. »Gesunde« Familien mit klar definierten Geschlechterrollen und die Zähmung der Sexualität zu reproduktiven Zwecken schienen vielen ein Garant von Stabilität und eine wichtige Abwehr gegen Nationalsozialismus und Staatssozialismus, wie auch gegen die angebliche Bedrohung durch die (amerikanische) Konsumkultur. Viele Männer waren aus dem Krieg nicht zurückgekehrt oder hatten physische oder psychische Wunden. Wenn auch die Gewalttaten während des Nationalsozialismus und der deutschen Besetzung weiter Teile Europas kaum ein Thema waren, so herrschte doch das Gefühl, dass Männer als Beschützer von Familien versagt hatten. Während des Krieges waren Frauen in größerer Zahl berufstätig und nach seinem Ende für Zusammenhalt und Unterhalt der Familien verantwortlich. Schon in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre verschärften steigende Scheidungsraten und Beziehungen zwischen deutschen Frauen und Besatzungssoldaten Ängste vor schwachen Männern und allzu starken Frauen. In den fünfziger Jahren schien dann das Benehmen von jungen Männern und Frauen, die dem Rock’n’Roll frönten, die Geschlechterordnung einer sich erst »remaskulinisierenden« Bundesrepublik zu bedrohen. Der Tradition katholischer Kulturkritik folgend, sahen Konservative in Westdeutschland in den fünfziger Jahren beispielsweise Jazz, Rock’n’Roll-Tänze oder viele Filme als eine Bedrohung des »christlichen Abendlandes« an. Zugleich benutzten Verantwortliche aus Kultur und Jugendarbeit in beiden deutschen Staaten zuweilen Begriffe wie »dekadent« und »entartet«, die dem Sprachgebrauch der Eugenik und völkischer Ideologie entstammten, um vor amerikanischen Einflüssen auf die deutsche Jugend zu warnen. Obwohl die DDR die Berufstätigkeit von Frauen förderte und die Familie nur dann als Baustein des Sozialismus sah, wenn sich ihre Mitglieder öf-
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fentlich zum sozialistischen System bekannten, war auch dort monogame Heterosexualität in der Ehe das explizite Ideal für Männer und Frauen. Zugleich hegte die DDR-Führung stärkere Befürchtungen vor möglichen politischen Motiven von Popkultur. So prangerte sie zum Beispiel westdeutsche Konzerte von Bill Haley, bei denen es zu Krawallen gekommen war, als Teil der »psychologischen« Kriegsführung des Westens an. Auch verbot die FDJ zum Beispiel Jazzfanclubs, weil das Benehmen von Musikern und Fans nicht als respektabel galt und weil man den Verdacht hegte, dass solche Klubs vom Westen gesteuert sein mochten. Auch gingen Verantwortliche gegen das Auseinandertanzen beim Rock’n’Roll vor, das nicht den Vorstellungen vom guten Tanzen entsprach, bei denen der männliche Partner »führte«. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre setzte sich im Westen insgesamt eine liberalere Haltung zum popkulturellen Konsum durch: Stile, die wenige Jahre zuvor noch Staub aufgewirbelt hatten, waren nun für viele Experten und Politiker durchaus akzeptabel. Diese Veränderungen fanden in einer Zeit statt, in der Wirtschaftsminister Ludwig Erhard das Ende der Nachkriegszeit und »Wohlstand für alle« zur Losung der bundesrepublikanischen Demokratie erklärte. Psychologische Erklärungen für jugendliches Fehlverhalten hielten Einzug und erweiterten in mancher Hinsicht das Spektrum akzeptabler Stile und Verhaltensweisen. Sozialwissenschaftler, oft von amerikanischer Forschung beeinflusst, sahen den Konsum von Filmen und Jazzmusik, die zuvor als gefährlich gegolten hatten, nun als einen wichtigen Teil der Entwicklung männlicher Jugendlicher an. Denn er half angeblich, ihre Aggressionen in die richtigen Bahnen zu lenken und ihre »natürliche Abenteuerlust« auszuleben. Konsum von populärer Musik verlor hier weitgehend seine historischen Assoziationen mit der Kultur der Arbeiterschicht oder der »rassischen Degeneration«. Nicht die Popkultur selbst, sondern Familien mit schwachen Vätern und dominierenden Müttern seien der Hauptgrund für jugendliches Fehlverhalten. Zunehmend schien es sogar, als könnten heterosexuelle Beziehungen vor der Ehe die Probleme einer überzogenen männlichen Aggressivität lösen. Staatliche Stellen unterstützten solche Visionen von der positiven Bedeutung der Popkultur. Ab 1960 eröffnete zum Beispiel der West-Berliner Senat mehrere staatlich unterstützte »Jazzcafés«. Im »Jazz-Saloon« servierte Jugendsenatorin Ella Kay höchstpersönlich nicht-alkoholische Getränke und Bier für die jugendlichen Gäste, die dort zu heißen, aber nicht allzu
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heißen amerikanischen Rhythmen tanzen konnten. Es war kein Zufall, dass diese Klubs das Wort Jazz im Namen führten. Während zahlreiche westdeutsche Kommentatoren Anfang der fünfziger Jahre alle amerikanische Musik als Jazz und Jazz wiederum als bedrohlich angesehen hatten, galt er mittlerweile als modern, jugendlich und gleichzeitig respektabel. So grundverschiedene Politiker wie Franz-Josef Strauß, Anfang der sechziger Jahre Bundesverteidigungsminister, und Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, sahen Jazz als die passende musikalische Form für die BRD an. Jazz wurde gar zu einem Aushängeschild: 1964 entsandten die Goethe-Institute westdeutsche Jazzgruppen in mehrere asiatische Länder.6 Jugendsenatorin Kay war zufrieden mit dem Erfolg der Jazzklubs, die ihr zufolge berechtigte Wünsche erfüllten.7 Während Plakate zur Eröffnung ein Bustier als Symbol weiblicher Sexualität mit einer Trompete kombinierten, zeigten Bilder in der Presse ein respektables Publikum: junge Frauen in Röcken und junge Männer in Anzügen. Hosen für junge Frauen und Jeans für junge Männer waren »nicht erwünscht«. Zu Beginn der sechziger Jahre war der amerikanische Modeimport Jeans, der natürlich von zahlreichen deutschen jungen Männern und Frauen getragen wurde, also durchaus noch umstritten.8 Ein Sozialarbeiter berichtete, dass viele Besucher wegen der heißen Rhythmen kämen, in den Klubs aber auch gutes Benehmen lernten und so nicht mit dem »Schlaghammer, sondern mit der Jazztrompete« erzogen würden.9 Sozialarbeiter, Soziologen und Politiker in vielen deutschen Städten sahen staatlich geförderte Einrichtungen wie Jazzcafés oder auch Filmklubs als probates Mittel, die Jugend zum kritischen Umgang mit der Konsumkultur, und besonders amerikanischen Importen, zu erziehen. Ein Bericht des West-Berliner Senats sprach von einer »skeptischen Generation« in einer außengeleiteten Gesellschaft, von Jugendlichen, die keinen Halt mehr in den sozialen Normen der bürgerlichen Gesellschaft fanden. Die Verfasser benutzen Konzepte, die der amerikanische Soziologe David Riesman und sein deutscher Kollege Helmut Schelsky in den fünfziger Jahren einge-
6
Vgl. Poiger: Jazz, Rock, and Rebels, S. 211-224; Berendt: Das Leben, S. 323.
7
Totenkopf bürgerlich, in: Revue, Nr. 19, 1962.
8
Vgl. Poiger: Jazz, Rock, and Rebels, S. 210-214.
9
Herbert Rudershausen: Jugendpflege in der Bar, in: Der Rundbrief 10 (1960) 9/10.
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führt hatten. Riesman und Schelsky waren zwar der Konsumgesellschaft gegenüber kritisch eingestellt, bestätigten aber auch deren Stabilität. Diese grundsätzliche Ambivalenz gegenüber Popkultur und Konsum im Allgemeinen und amerikanischen Einflüssen in der Jugendkultur im Besonderen zeigten auch die staatlichen Interventionen.10 Die Entpolitisierung des Jugendkonsums hatte aber auch ihren Preis. So verdeutlichte 1959 eine Karikatur in einer halboffiziellen Westberliner Jugendzeitschrift, wie harmlos Halbstarke waren. Die Figur Felix trug enge Jeans, Lederjacke und Entenschwanz. Neben der Zeichnung war sein Monolog zu lesen: Er faulenzte morgens, hatte gerade seine Freundin abserviert und interessierte sich nun für eine »Puppe« mit »Proportionenenorm«, die er seinem Freund ausspannen wollte. Die Karikatur machte sich lustig über den amerikanisierten Felix, der Begriffe wie »Drive« und »Fans« gebrauchte. Zugleich stellte die Karikatur Frauenverachtung zwar als lächerlich, aber auch normal dar.11
M ODE
UND
G EGENKULTUREN
Mitte der sechziger Jahre verloren die USA ihren Status als Exporteur der umstrittensten Produkte der Jugendkultur, und der Rock’n’Roll trat auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zunehmend hinter einem neuen Stil zurück. Eltern, Sozialarbeiter und Politiker machten sich nun Gedanken über die Beatmusik britischer Bands, wie der Beatles und der Rolling Stones, und über die legere Kleidung und langen Haare besonders ihrer männlichen Fans. Radiostationen wie der amerikanische Soldatensender AFN, sein britisches Pendant BFBS, Radio Luxemburg und Piratensender in der Nordsee waren in Ost wie West Hauptquellen für amerikanische und britische Musik. Derweil scheuten manche westdeutsche Stationen sich bis Mitte der sechziger Jahre, Rock oder Beatmusik zu senden.12
10 Senator für Jugend und Sport: Bericht über die Situation der Berliner Jugend, in: Der Rundbrief 10 (1960) 11/12. 11 Blickpunkt (September 1959), abgedruckt in Lindemann/Schultz: Die Falken in Berlin, S.148. 12 Vgl. Siegfried: Draht zum Westen.
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Kulturkonservative meldeten sich auch weiterhin zu Wort. In der BRD warnte die Zeitschrift deutsche jugend 1964 vor möglichen politischen Auswirkungen der Beatles-Welle: »die jugendliche Massenhysterie könnte […] auch in gefährlichere Bahnen gelenkt werden. Die Rattenfänger aus Liverpool sind vergleichsweise harmlos.«13 Zwei Jahre später sorgte der AfroAmerikaner Jimi Hendrix für Aufregung, der seine Musik gleichfalls in Großbritannien machte und nun im deutschen Fernsehen auftrat. Ein Realschullehrer beschwerte sich in einem Brief an den Bayerischen Rundfunk: »Glauben Sie wirklich, dass die verwahrlosten, unappetitlichen Gestalten, die sich da zuckend vor dem Mikrophon produzierten, geeignet sind, unserer an sich labilen Jugend als nachahmenswertes Vorbild zu dienen?« Bei solchen Aussagen schwangen zum Teil rassistische Tendenzen, Ängste um männlichen Anstand, eine gute Arbeitsmoral und politische Verlässlichkeit mit.14 Wie schon in den fünfziger Jahren hielten manche Westdeutsche eine Abgrenzung nach drei Seiten für nötig: gegen die westliche und besonders die amerikanische Konsumkultur, gegen den Nationalsozialismus und gegen die kommunistischen Rivalen.15 Trotz oder auch wegen solcher Befürchtungen wurde Jugendlichkeit im Laufe der sechziger Jahre immer mehr Teil der Vermarktungsstrategien für Konsumgüter und Populärkultur. Zeitungen und Zeitschriften hatten schon seit den Fünfzigern viel über kontroverse amerikanische Stile berichtet, auch wenn zunächst nur eine Minderheit der deutschen Jugendlichen diese annahmen. 1965 schließlich gründeten die westdeutschen Rundfunkanstalten die erste Jugendmusiksendung des deutschen Fernsehens, den BeatClub, in dem dann auch Hendrix seinen Auftritt hatte. Gleichzeitig änderten sich die Geschmäcker: War es Anfang der sechziger Jahre noch eine Minderheit der Jugend, die amerikanische oder westliche Popmusik bevorzugte, so war es am Ende des Jahrzehnts die Mehrheit. Zudem galten Jugendliche immer mehr als Trendsetter, die der älteren Generation einiges voraus hatten und diese dadurch immer mehr beeinflussten, unter anderem bei der Verbreitung westlicher Musik- und Modestile.16
13 deutsche jugend 12 (1964), zit. n. Siegfried: Vom Teenager, S. 593. 14 Zit. n. ebd., S. 595. 15 Vgl. ebd. und Poiger: Jazz, Rock, and Rebels. 16 Vgl. Siegfried: Time.
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Eine jugendlich-antinationalistische Haltung wurde zum Markenzeichen für manche Jugendsendungen und -zeitschriften, und Programmleiter oder Herausgeber integrierten die Unterstützung der Internationalisierung in die Vermarktung und machten Aussagen wie die des Realschullehrers lächerlich.17 Auch Manfred Weißleder, der Gründer des Hamburger »Star-Clubs«, in dem die Beatles Anfang der sechziger Jahre vor einem Publikum aus Arbeiter- und Mittelschicht spielten, sah Mode und Musik als politische Ausdrucksformen einer anti-militaristischen Männlichkeit. In seinem Blatt Star-Club-News, das er als Alternative zur Bravo konzipierte, erklärte Weißleder 1964: »Jedem nüchtern denkenden Menschen ist […] ein Beatle-Haircut lieber als der militärische Plätzchenschnitt unserer jüngeren Geschichte. Und elektrische Gitarren erzeugen einen angenehmeren Klang als das Landsknechtsgetrommel und die Fanfaren der schon wieder gen Ostland drängenden neuen Jugendverbände.«
Weißleder griff damit diejenigen an, die zwar Freiheit predigten, aber den korrekten Geschmack in Mode und Musik vorschreiben wollten.18 Solche Interpretationen von international orientierten jungen Männern als Gegenstück zu Militarismus, Nationalsozialismus und Expansionismus hatte es schon in den fünfziger Jahren gegeben, beispielsweise in den Äußerungen Joachim Ernst Berendts zum Jazz. Sie kritisierten den nationalsozialistischen Rassismus, der alles »Undeutsche« auszumerzen gesucht hatte. Allerdings verkannte diese Deutung, dass der Nationalsozialismus allen öffentlichen Bekundungen zum Trotz sich durchaus im aktiven Wettbewerb mit nicht-deutschen Modellen, beispielsweise mit Hollywood und amerikanischem Jazz befunden und zum Teil Importe von Filmen oder Musik zugelassen hatte, um einen Schein konsumgesellschaftlicher Normalität zu wahren.19 Zudem verkannte diese Interpretation auch die politische Geschmeidigkeit kultureller Stile.
17 Vgl. Siegfried: Draht zum Westen, S. 101-102; ders.: Vom Teenager, S. 613615. 18 Zit. n. Siegfried: Vom Teenager, S. 602. 19 Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein; Gassert: Amerika im Dritten Reich; Wiesen: Creating the Nazi Marketplace.
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In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre war eine international orientierte Gegenkultur in der BRD immer mehr daran interessiert, neue, demokratische Formen der Selbstbestimmung zu finden. Geschlechternormen waren Teil dieser Suche. Mitglieder der Gegenkultur versuchten sexuelle und persönliche Beziehungen zu schaffen, die nicht von traditionellen sozialen Grenzen belastet waren, und diese in neuen Formen des Zusammenlebens auszudrücken. Die westdeutsche Gegenkultur war keinesfalls eine einheitliche Bewegung und sie erfasste nur einen kleinen Teil der Jugend, aber sie konnte doch die Populär- und Alltagskultur beeinflussen. Für Mitglieder von Gegenkultur und Studentenrevolte war die Konsumkultur der westlichen Welt ein Problem – auch wenn sie selbst auf Angebote der Unterhaltungs- und Konsumindustrien zurückgriffen. Manche Anhänger der Revolte schlossen sich in den sechziger Jahren Kommunen an, viele andere wurden in der Hausbesetzerbewegung der siebziger Jahre aktiv. In ihren Augen war die Herstellung neuer Lebensbedingungen ein zentraler Bestandteil der politischen Auseinandersetzung mit dem politischen und wirtschaftlichen System des Westens. Neue Lebensbedingungen bedeuteten auch eine Neuverhandlung von Geschlechterrollen und Sexualität, die durchaus kontrovers in alternativer und Mainstreampresse verfolgt wurde.20 1967 war ein Jahr voller Veränderungen: Demonstrationen, etwa gegen den Vietnamkrieg, wurden zahlreicher und größer. Das Aussehen von Demonstranten wandelte sich beträchtlich und war zugleich Indiz für weitergehende Umbrüche in Stil- und Moralvorstellungen. Äußerliche Veränderungen waren unter männlichen Demonstranten radikaler als unter weiblichen: Junge Männer, vor allem Studenten, ersetzten Anzüge und strenge Kurzhaarschnitte durch Jeans, legere Jacken und längere Haare. Frauen trugen bei Demonstrationen Röcke und hohe Stiefel, aber eher nicht die Miniröcke und Baby-Doll-Kleider, die Modehäuser im Angebot hatten. Der Stilwandel schien ein Teil mentaler und sozialer Veränderungen zu sein, und Musiker wie die Beatles, die Rolling Stones, Jimi Hendrix oder auch Janis Joplin oder Bob Dylan traten hier als internationale Trendsetter auf. Manche Teilnehmer der Gegenkultur nutzten den sexuellen Tabubruch in verbalen und fotografischen Selbstdarstellungen, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu lenken. Unter dem Einfluss der situationistischen Internationale wurden Mitglieder der berühmt berüchtigten Kom-
20 Vgl. Siegfried: Time; Brown: West Germany and the Global Sixties, 7. Kapitel.
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mune 1 mit Plänen für ein angebliches Puddingattentat auf den amerikanischen Vizepräsidenten, Auftritten auf dem Kurfürstendamm, bei dem sie vorbeigehende Käufer anpöbelten, oder Fotos von Rainer Langhans und Uschi Obermaier im Stern zu einem Phänomen der Popkultur. Phantasien, die die männlichen Mitglieder der Kommune 1 in Westberlin förderten und satirisch kommentierten, waren heterosexuell und sexistisch. In einem Magazin berichtete ein Mitglied der Kommune 1, dass die Männer dort versuchten, die Frauen davon zu überzeugen, regelmäßig die Partner zu wechseln und Sex als einen Ausdruck der Lust, nicht der Liebe zu sehen. Bald gab es Klagen von Seiten der Frauen, die männlichen Kommunarden übten neue Formen des sexuellen Zwangs aus. Und doch waren solche Aktivitäten und ihre Rezeption in den Medien auch Teil breiterer Veränderungen. Vor- und außereheliche heterosexuelle Beziehungen wurden weit mehr akzeptiert als zuvor, und Zeitgenossen sprachen von einer »Sexwelle«. Fotografien von Frauen in Posen, die »Sexiness« suggerierten, hatte es seit Ende des fünfziger Jahren in Magazinen wie Twen gegeben, doch sahen die späten sechziger und siebziger Jahre eine Explosion weiblicher Nacktheit auf den Titelseiten von Zeitschriften inklusive des linken Politmagazins konkret. Radikale und Linksliberale interpretierten den Nationalsozialismus nun als Unterdrückung von Sexualität und hielten konservative Sexualfeindlichkeit für einen Überrest faschistischer Werte. Gleichzeitig war die untergeordnete Rolle von Frauen in Kommunen und in der Berichterstattung über Gegenkulturen auch der Kontext für die Gründung von Frauengruppen in den späten sechziger und siebziger Jahren.21 Die weit verbreitete Kritik an der Konsumkultur öffnete zugleich Spielräume für feministische Interpretationen von Geschlechternormen. In einer der frühesten Streitschriften der zweiten Welle des westdeutschen radikalen Feminismus kritisierte Karin Schrader-Klebert 1969, die Gesellschaft behandle Frauen wie Waren. Schrader-Kleberts Hoffnung auf einen Bewusstseinswandel war im Einklang mit der Suche nach Authentizität, die so wesentlich war für viele Mitglieder der Gegenkulturen der sechziger Jahre und ihre Nachfolger in den siebziger Jahren. Diese Suche drückte sich zum Beispiel in nicht-elektronischer Folkmusik oder auch in Modestilen aus.22
21 Vgl. Herzog: Politisierung der Sexualität. 22 Zur Suche nach Authentizität vgl. insbesondere Siegfried: Time; Reichard: Authentizität und Gemeinschaftsbindung; Ege: Schwarz werden.
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Mode wurde zeitweise eine Zurschaustellung politischer Haltungen. Stile, die Barbara Til für die Jugend in der Londoner Kings Road beschrieben hat, wurden Ende der sechziger Jahre auch in Deutschland beliebt; »Klamotten in schreienden Farben, nackte, gebräunte Beine unter kurzen Röcken, scheckige Hosen und Hemden, bestickte Blusen und Westen, Kleidung aus Peru, Mexiko, Afrika, Indien oder sonst woher.«23 Die Herkunft der Kleidung war oft für Beobachter, und wahrscheinlich auch ihre Träger, nicht eindeutig. Während in den fünfziger Jahren kontroverse Modestile, insbesondere Jeans und Lederjacken, als amerikanisch angesehen wurden, war dies für die Mode der Gegenkultur durchaus nicht mehr der Fall. In den USA und Europa kamen die Moden der Gegenkulturen vielfach aus Ländern der »Dritten Welt« und konnotierten nicht-europäische oder nicht-amerikanische Stile, wie zum Beispiel Schmuck an den Fußgelenken. Til deutet diese Moden als einen Versuch, sich »bürgerlicher Traditionen« zu entledigen, »Raum zu schaffen für einen toleranten, kosmopolitischen Auftritt«. Kleidung wurde »zum wichtigen Instrument der Ablehnung bürgerlicher Normen und Wertvorstellungen«.24 Das gleiche galt für die Jeans, die der ostdeutsche Schriftsteller Ulrich Plenzdorf 1973 zu einer Gesinnung machte: »Jeans sind eine Einstellung und keine Hose«.25 Moden wurden so in der Bundesrepublik wie der DDR Ausdruck der Sehnsucht nach individueller und gesellschaftlicher Veränderung. Jedoch verschwanden mit ihnen nicht automatisch rassistische Haltungen unter den Konsumenten ausländischer Kulturgüter; kultureller Eklektizismus war nicht deckungsgleich mit einem größeren Engagement für die Rechte anderer. Oft waren den europäischen Konsumenten die Ursprünge kultureller Stile gar nicht bewusst. »Palestinensertücher« waren zwar sehr verbreitet in den siebziger Jahren, aber viele Jugendliche wussten nichts von ihrer symbolischen Bedeutung im Nahostkonflikt zwischen der PLO und Israel. Wie in vielen Jugendstilen zuvor wurden Elemente der Gegenkulturmode bald von Bekleidungskonzernen aufgegriffen. Diese Stile wurden zuerst in Straßenständen oder kleinen Geschäften verkauft, bald erschienen sie aber auch in der Jugendabteilung von C & A. 1967 pries die Werbung Kostüme im
23 Til: Anarchie und Kleiderwirbel, S. 104. 24 Ebd., S. 105-106. 25 Wolle: Die heile Welt der Diktatur, S. 240-241; Plenzdorf: Die neuen Leiden.
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»Mao-Look« der Roten Garden an.26 So sahen sich viele, die nach Authentizität suchten, in einem Dauerkampf mit den Mächten der Kommodifizierung, die in der Tat schnell mit dem Renommee einer internationalen Rebellion Geld zu machen suchten. Und doch zeigte die Werbung zuweilen vielschichtigere Bilder als die alternative Presse. Ab 1967 porträtierte Charles Wilp, ein Pionier der Werbeindustrie, schwarze Frauen in erfolgreichen Werbekampagnen für deutsche Firmen, um zum Beispiel Mineralwasser oder Cola zu verkaufen. Wilp berief sich einerseits auf die Tradition des Exotismus und zeigte gleichzeitig Symbole schwarzen Glamours und des black pride wie den Afro. Ikonografisch waren seine Bilder und Filme interessanter als die pornografischen oder primitivistischen Darstellungen schwarzer Frauenkörper, die man zum Beispiel in der konkret sehen konnte. Wilps Werbung war Teil einer vielschichtigen »Afro-Amerikanophilie«, die sich auch in der Bewunderung vieler Westdeutscher für Soul, Black Power oder sexuelle Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen äußerte. Oft idealisierte derartige »Afro-Amerikanophilie« schwarze Kultur als authentisch, in der Musik, Ästhetik, Politik und das Alltägliche eine Einheit bildeten, im Gegensatz zu den Erfahrungen der Fremdbestimmung in der westlichen Moderne.27
F EMINISTISCHE K RITIK
UND
P UNK
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre kritisierten Feministinnen zunehmend den Sexismus in der Popkultur und begannen zugleich die Existenz eines binären Geschlechtersystems in Frage zu stellen. Seit ihrer Gründung durch die Feministin Alice Schwarzer 1977 machte die Zeitschrift Emma die Frage, wie Frauen in der Öffentlichkeit dargestellt werden sollten, zu einem zentralen Thema. Emma verwies regelmäßig auf Sexismus in der Werbung und den Mainstream-Medien. Mit einer berühmten Klage zog die Redaktion 1978 gegen das westdeutsche Magazin Stern vor Gericht, dessen Darstellung von Frauen den Emma-Journalistinnen und vielen ihrer Unterstützer erniedrigend erschien. Die von Emma als Beispiele angeführten Bilder waren Stern-Titel mit Fotografien fast nackter junger Frauen und »ein
26 Vgl. Til: Anarchie und Kleiderwirbel. 27 Vgl. Ege: Schwarz werden.
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praller Frauenhintern« in suggestiver Pose. Auf einem der Bilder sah man das blanke Hinterteil einer offensichtlich weißen Frau auf einem Fahrrad, auf einem anderen den Rücken der nackten und stark geschminkten Jamaikanerin Grace Jones, die sich in der New Yorker Edeldiskothek »Studio 54« lächelnd zum Betrachter umwandte, »in der Hand ein phallisches Mikrophon« und eine fesselartige Kette um ihren Knöchel. Letztere Aufnahme prangerte Emma als sexistisch und rassistisch an. Laut Emma machten die Stern-Titel, gemeinsam mit vielen anderen Darstellungen in den Medien, Frauen zu »verkaufsfördernden Objekten«. Solche Bilder seien ein Verstoß gegen ein »elementares Menschenrecht, verankert im Artikel 1 unseres Grundgesetzes... nämlich gegen die Menschenwürde aller Frauen.« Zwar verlor Emma vor Gericht, aber der Fall lenkte Aufmerksamkeit auf die Bedingungen, unter denen Frauen in den Medien gezeigt wurden. Es war nun möglich, den Vorwurf des »Sexismus« zu erheben und daraus eine umstrittene öffentliche Angelegenheit zu machen, auch ohne Rechtsverbindlichkeit.28 Andererseits konnte Emma nicht erkennen und ihren deutschen Leserinnen nicht vermitteln, dass Graces Jones mit ihren Selbstinszenierungen aktiv mehrere Normen überschritt. Jones thematisierte, dass Frauen und Sklaven historisch zu Waren geworden waren, und zugleich stellte sie eine neue Form des androgynen Glamours dar, der stark mit der Discokultur jener Zeit und Popidolen wie David Bowie verbunden war. Ab 1979 stellte sich Emma hinter die Ästhetik des Punk. Im Januar druckte die Zeitschrift ein Interview von Alice Schwarzer mit Nina Hagen sowie einen von Hagen gezeichneten Cartoon zum Thema Make-up. Inspiriert durch eine Reise nach England 1977 wurde die aus der DDR stammende Nina Hagen eine der frühen deutschen Anhängerinnen und Förderinnen einer Punk-Ästhetik in Musik und Mode. Für Emma zeichnete sie eine Parodie der in Frauenzeitschriften üblichen Vorher-nachher-Bilder. In ihrer Version verwandelte Make-up eine Frau mit kurzem Haar in ein maskenhaftes Bild. »Anmalen ist ein Kampfmittel« lautete einer der Sprüche, die Hagen in den Text einfügte, der die Zeichnungen begleitete, wodurch sie ihren Griff zur Schminke politisierte. Hagen riet zu sichtbarem Rouge und tiefschwarz gefärbten Augenbrauen, ihrem eigenen Aussehen ähnlich, das in seiner Buntheit sowohl dem Ideal eines »natürlichen Aussehens« als auch dem Ideal der sorgfältig zurechtgemachten Frau entgegenstand. Was
28 Stern erniedrigt Frauen, wir klagen an, in: Emma, Juli 1978, S. 12.
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zuvor dem Theater, »Abweichlern« und »Primitiven« vorbehalten war, holte Hagen in den Alltag. Ihre expliziten Vorbilder waren ihre Freundin Ariane (Ariane Forster alias Ari Up von der britischen Frauen-Punk-Reggaeband The Slits) und die Teilnehmerinnen der Walpurgisnacht. Seit 1977 versammelten sich Feministinnen in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai zu Demonstrationen, um die spirituelle Verwandlungskraft von Frauen als Hexen zu feiern und um gegen Gewalt gegen Frauen zu protestieren.29 In ihrem Beitrag wandte Hagen sich ausdrücklich gegen Lipgloss, gegen Farben wie Beige oder Blau und gegen die »Disco«-Aufmachung. Damit verurteilte sie den so genannten »Popper«-Look, einen der völlig anderen Stile, in dem sich junge Menschen damals präsentierten. Die Punk-Ästhetik war eine radikale Abkehr von Schönheitsbildern der Mainstream-Presse. Sie setzte auf übertriebenes Make-up jenseits der stark gefärbten Wimpern einer Elizabeth Taylor in den sechziger Jahren oder des androgynen Glamours eines David Bowie in den siebziger Jahren. Punk verstörte viele durch das Spiel mit zerrissener und verdreckter Kleidung, durch Kleidertausch, der dazu führte, dass Männer wie Frauen Büstenhalter, Netzstrümpfe oder Uniformmützen trugen, durch Hundehalsbänder, die Assoziationen an Sadismus und Masochismus hervorriefen, oder, besonders in Großbritannien, durch NS-Embleme. Der unterschiedslose Make-upGebrauch von Männern und Frauen stellte geschlechtsspezifische Schönheitsideale in Frage. Das Schlagwort »no future« richtete sich insgesamt gegen die Versprechungen von Konsumgüterindustrien und von politischen Systemen. 1989 schrieb der amerikanische Autor Greil Marcus anerkennend über die Sex Pistols: »Die Musik verdammte Gott und den Staat, Arbeit und Freizeit, Heim und Familie, Sex und Vergnügen, das Publikum und sich selbst und machte es dadurch für kurze Zeit möglich, alle diese Dinge nicht als Tatsachen, sondern als ideologische Konstrukte anzusehen, als etwas Fabriziertes, das sich ändern oder völlig abschaffen ließ.«30
29 Unbeschreiblich weiblich. Alice Schwarzer im Gespräch mit Nina Hagen, in: Emma, Januar 1979, S. 8-13; zur Walpurgisnacht vgl. Frauen Media Turm: Chronik der Frauenbewegung, http://www.frauenmediaturm.de/siebenundsieb zig.html (Zugriff am 12. 9.2009). 30 Marcus: Lipstick Traces, S. 12, über Anarchy in the UK von den Sex Pistols.
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Anders gesagt, drückten die Musik und die Mode des Punk ein radikal dekonstruktivistisches Ethos aus, das mit manchen Formen des Feminismus vereinbar war. Punks inszenierten sich bewusst als hässlich und drückten einen Vorbehalt gegen das Schöne aus, den die Philosophin Elaine Scarry als ein Merkmal der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts identifiziert hat.31 Zugleich lässt sich die eklektische Stil-Kombination des Punk als ironischer Kommentar zur Möglichkeit vollständiger Identifikation lesen. Punk nahm somit Abstand von dem Traum, durch gelebte »Identität« zu neuen Formen von Authentizität zu gelangen. Für die Vereinigten Staaten und Großbritannien haben soziologische Studien gezeigt, dass diese Kombination weiße Jugendliche weit stärker anzog als Afro-Amerikaner bzw. -Briten und Männer stärker als Frauen. Einer Umfrage zufolge bezeichneten sich 1981 zwei Prozent der westdeutschen Jugendlichen als Punks, und weiteren fünfzehn Prozent gefiel der Stil. Während Frauen mitunter als Musikerinnen und Fans prominent vertreten waren, fühlten sie sich in den Subkulturen des Punk und den Veröffentlichungen über Punk oft ausgegrenzt.32Andererseits machten die Sichtbarkeit von Frauen und die Infragestellung von Geschlechtsidealen die Punk-Ästhetik auch für Frauen attraktiv, darunter manche, die sich als Feministinnen bezeichneten. Punks spielten mit den Forderungen der Schönheitsindustrie und mit Kritik, auch feministischer, an der Warenkultur. Zugleich waren viele Förderer oder Anhänger des Punk nicht besonders gnädig gegenüber dem Feminismus und allgemeiner gegenüber Bewegungen, die ihrer Ansicht nach in den sechziger Jahren verwurzelt waren. Die Autorin Sonja Seymour betonte, dass Frauen im Punk, im Gegensatz zu anderen Genres der Popmusik, bedeutende Rollen als Musikerinnen spielten, und erklärte ihre Bewunderung für die »betonte Hässlichkeit« der
31 In Deutschland begriffen Presse und Soziologie Punk als internationales Phänomen mit britischen Wurzeln. Vgl. Baacke: Jugend und Jugendkulturen. Zu »hässlich geschminkte[n]« Punks vgl. Punk. Nadel im Ohr, Klinge am Hals, in: Der Spiegel, Nr. 4, 23. Januar 1978, S. 140-147; vgl. auch Baacke: Jugend, S. 60; Scarry: On Beauty. 32 Müller-Wiegand: Zeigt mir, was ihr könnt. Zur raschen Vereinnahmung vgl. Angst vorm Bügelwurm, in: Der Spiegel, Nr. 48, 21. November 1977, S. 158; zu westdeutschen Statistiken vgl. Baacke: Jugend, S. 63. Zur Marginalisierung von Frauen vgl. McRobbie: Feminism and Youth Culture.
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Punks; ihr »Aussehen ist ungeschlechtlich und ungeheuerlich«. Seymour brachte die Herausbildung des Punk-Stils in Zusammenhang mit der Jugendarbeitslosigkeit in Großbritannien und auch in Westdeutschland; sie hob hervor, dass die meisten britischen Punkbands nichts mit rechten Jugendlichen zu tun haben wollten. Solch rechte Gruppen junger Männer formierten sich in den folgenden Jahren sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland als Skinheads.33 Den aggressiven Stil der Frauen-Punkband Unter-Rock beschrieb Seymour als nicht »wohlig konsumierbar«. Sie zitierte Songtexte, in denen die Band Lesbischsein als öffentliche Identität reklamierte: »Wir sind keine Kellerasseln, wir sind lesbisch.../ich will in keinem Ghetto leben, für mich soll es auch ein Draußen geben.« Zudem formulierte eine der Musikerinnen den Anspruch, auf Frauen zuzugehen, um ihnen zu zeigen, »dass Frauenbewegung nicht nur zarte Stimmchen und Kaffeeklatsch ist, sondern Frauen können auch aggressiv sein.« Diese Frauen könnten dann erkennen: »dufte/ stark, die haben nicht so Flitterflatterkleidchen lila gefärbt, sondern auch eine Persönlichkeit.« Solche Aussagen karikierten Frauengruppen als wirkungslos und machten sich über die Politik einer »neuen Weiblichkeit« lustig, wie sie manche in alternativen Milieus engagierten Frauen vertraten, die selbst gefärbte Baumwollkleidung, vielleicht sogar aus Großmutters Schrank, trugen, um sich der Massenmode zu entziehen, oder »weiche«, »weibliche« Lyrik schrieben. Seymour berichtete über Spannungen zwischen Unter-Rock und »Bewegungsfrauen«, die der Band vorwarfen, schlechte Kopien von Nina Hagen oder Mick Jagger zu sein. Im Gegensatz dazu verstanden die Mitglieder von Unter-Rock ihren Stil und ihre Musik als »Öffentlichkeitsarbeit für Lesben«, »Gesellschaftskritik« und als Versuch, neue »Bewußtseinsprozesse« zu provozieren. Sonja Seymour begrüßte, dass Unter-Rock und andere weibliche Punks es ablehnten, sich an ein »bestimmtes Frauenbild« anzupassen. Für Frauen wie Seymour waren Punks attraktiv, weil sie die vermeintlich naturgegebenen Geschlechterrollen in Frage stellten, was ein wichtiges Thema in Emma und anderen feministischen Foren war. Die 1977 erschienene, vor allem auf angloamerikanischer Forschung basierende Dissertation der Berliner Psychologin Ursula Scheu wurde oft von jenen zitiert, die Geschlechtseigenschaften, darunter die »Eitelkeit« von Mädchen, auf die
33 Seymour: Struppig; dies.: Punk, in: Emma, September 1980, S. 55.
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Sozialisation zurückführten. Schwarzer und Emma stimmten weitgehend mit dieser Haltung überein, während andere westdeutsche Feministinnen abweichende Ansichten vertraten. Helke Sander ging es zum Beispiel darum, die spezifischen Möglichkeiten zu erkunden, die sich Frauen dadurch eröffneten, dass sie Mütter werden konnten, und andere suchten nach einer weiblichen Essenz, die von der Gesellschaft unterdrückt worden war.34 In ihrer Betonung der Wandelbarkeit ließen Punks jegliche Suche nach einer »Essenz« fragwürdig erscheinen. Seymour und andere Beobachter begrüßten die Sichtbarkeit von Frauen im Punk als Musikerinnen und Roadies statt »als Blickfang und knackige Verpackung sexistischer Rockmusik oder als Schubidiwidua-Backgroundsängerinnen.« 35 Seymour schien dabei sowohl an neuen Formen des Lesbischsein interessiert zu sein als auch an der Möglichkeit der »Ungeschlechtlichkeit«. Was Seymour hier auszudrücken suchte, lässt sich heute mit dem Begriff »queer« fassen. Punk wurde zum Gegenstand intellektueller Faszination zu einem Zeitpunkt, als Bewegungen und Beobachter die Naturgegebenheit der Geschlechter erörterten und als die Vielfalt des sexuellen Verhaltens eine in stärkerem Maße öffentlich diskutierte Angelegenheit wurde. Trotz der Ablehnung, mit der er organisierten Bewegungen und der Konsumkultur begegnete, lässt sich Punk ohne beides nicht denken: In seinem subversiven Gebrauch von Slogans und Gegenständen, die mit der Mainstream-Konsumkultur und der Schönheitsindustrie assoziiert wurden, bediente sich Punk regelmäßig der Kritik an der Konsumkultur, an deren Formulierung auch Feministinnen beteiligt gewesen waren. In diesem Prozess beförderte Punk, wie andere Subkulturen, sowohl Debatten über die Irrtümer des Universalismus als auch Kritik am starren binären Geschlechterbild innerhalb des Feminismus.36
34 Scheu: Wir werden nicht als Mädchen geboren. Zu Scheus Einfluss auf Schwarzer vgl. Schulz: Der lange Atem, S. 194. 35 Alle Zitate aus Hahn/Schindler: Punk, S. 159-173. 36 Eine frühe Formulierung solcher Kritik findet sich bei Rosaldo: The Use.
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S CHLUSS Die historische Erforschung der Popkultur ist wichtig für eine differenzierte Geschlechtergeschichte, und zugleich macht sie einen fruchtbaren Austausch mit der Gendertheorie möglich. Solche Forschung verschafft Einblicke in die diskursive Verhandlung von Rollenbildern, die Sozialisation von Jugendlichen und das Spiel mit Images, Stereotypen und Köperpraktiken. Zugleich zeigt solche Forschung sich wandelnde Bedeutungen von Körpermodifizierungen. Zum Beispiel galten Männerhaarschnitte, die uns heute kurz vor kommen, in den sechziger Jahren als lang und weiblich; oder manche Tattoos und Piercings, die Punks in den siebziger Jahren verbreiteten, können heute eher in der Öffentlichkeit gezeigt werden. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg halfen unterschiedliche Popstile, sowohl bürgerliche Vorstellungen von Geschlechterrollen aufzubrechen als auch solche, die mit Arbeitern assoziiert waren. Jugendliche Popstile verschiedener Schichten glichen sich besonders seit den sechziger Jahren stärker aneinander an. Zugleich lässt sich auch eine Vervielfältigung der Stile beobachten, die mit einer Auffächerung der Geschlechterideale verbunden ist. Die Geschichte der Popkultur von Rock’n’Roll bis Punk ist nicht einfach eine Geschichte zunehmender Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Konflikte über Ausdrucksformen der Popkultur sind ein wichtiger Aspekt der Entwicklung von vielfältigen Ausdrucksformen der Geschlechter, und sie sind ein Gebiet auf dem »Differenz« benannt, verhandelt und auch eingezäunt wird. Das bedeutet zugleich, dass die Popforschung wichtige Beiträge zu der Frage leisten kann, wie sich Geschlecht über andere Kategorien, wie Klasse, Ethnizität oder auch Sexualität, konstituiert. Es bedeutet auch, dass Popforschung zu den queer studies beitragen kann. Ohne Frage wurden in der Bonner Republik die Spielräume für Ausdrucksweisen vielfältiger, und doch gilt es weiter zu erforschen, wie solche Vielfalt im Zusammenhang diverser, nicht zuletzt auch internationaler Machtbeziehungen zu bewerten ist: zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, zwischen verschiedenen Geschlechtern, zwischen verschiedenen Gruppen von Jugendlichen und dem Staat sowie zwischen zwei deutschen Staaten und den Supermächten des Kalten Krieges und auch im Zusammenhang solch wichtigen Entwicklungen wie Dekolonisierung und Migration. Popgeschichte analysiert die Infragestellung von Normen und zugleich muss sie sich auch fra-
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gen, inwieweit solches Infragestellen auf vereinfachenden Vorstellungen vom »Anderen« beruht. Anders ausgedrückt hat die Popgeschichte noch viel darüber zu sagen, wie die Disziplinierung von Geschlecht und Geschlechtern sich auf vielen Ebenen und durchaus auf widersprüchliche Art gestaltet.
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Pop und Generationalität Anmerkungen zu einer vernachlässigten Beziehung L U S EEGERS
»Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, dass im ganzen WDR-Sendebereich seinerzeit etwa die Hälfte aller 11- bis 15-jährigen den Finger auf der Pausentaste ihres Recorders hatten, um die ganz ausgespielten Songs aufnehmen zu können, wenn sie in der Sammlung noch fehlten (Die fürchterliche Angewohnheit an Anfang und Ende in die Songs rein zu quatschen, haben sich Radiomoderatoren glücklicherweise erst später einfallen lassen).«1
So beschreibt ein früherer Hörer seine Aneignung der WDR-Hitparade von Mal Sondock, die in den Jahren 1981 bis 1984 jeden Mittwoch ausgestrahlt wurde, auf einer Homepage, die des us-amerikanischen Radio-DJs gedenkt. Der Hörer äußert auf diese Weise eine »stille«, unter Kindern und Jugendlichen verbreitete generationelle Erfahrung und Aneignung von Popmusik in den 1980er Jahren. Nicht nur dieses Beispiel, sondern auch die zahlreichen Retrodokumentationen und -shows der öffentlich-rechtlichen wie der privaten Fernsehsender, bei denen prominente Schauspielerinnen und Schauspieler, Musikerinnen und Musiker, aber auch ehemalige Politikerinnen und Politiker über ihre persönliche Wahrnehmung von Pop (Musik, Stars und Mode) berichten, weisen darauf hin, dass Pop als ein Anker für
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Zitiert nach http://www.mal-sondock-fanpage.de (Abruf 30.1.2014).
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die altersbezogene, narrative Selbsthistorisierung angesehen werden kann.2 Das ist kaum verwunderlich, vollzog sich doch die Ausprägung und Kommerzialisierung der Rock- und Popmusik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso schichtenübergreifend wie breitenwirksam. Bereits in den 1950er Jahren hatte sich in Westeuropa und den USA gezeigt, dass mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse auch und gerade Arbeiterjugendliche über eine höhere Kaufkraft verfügten. Hinzu kamen längere Ausbildungszeiten und die Zunahme an Freizeit etwa durch den arbeitsfreien Samstag, der 1958 in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt wurde. Eine weit gefächerte Konsumindustrie produzierte Schallplatten, aber auch Mode und Kosmetik für die jungen Verbraucher. Sie nahm Stilelemente verschiedener jugendlicher Szenen auf, reicherte sie an und wirkte somit als »Synchronisator« bei der Entstehung einer neuartigen und in sich differenzierten Jugendkultur, wie Detlef Siegfried betont.3 Diese Jugendkulturen setzten sich in den USA, in West-, aber auch zum Teil in Osteuropa insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren von der Erwachsenenwelt ab, entwickelten große Anziehungskraft und fanden öffentliche Beachtung.4 Ein jugendliches Generationenbewusstsein, das seinen Ausdruck etwa in dem Slogan »Trau keinem über 30« fand, griff von den USA zumindest auf Westeuropa über.5 Die Rock-, Beat- und Popmusik stellte das wesentliche Bindemittel der sozial übergreifenden jugendlichen Massenkultur dar und stand damit nicht zuletzt im Fokus generationeller Aushandlungsprozesse – auf öffentlichen Plätzen, aber auch im Elternhaus.6 In der deutschen Geschichtswissenschaft wurde Popmusik bislang vor allem als Essenz der spezifischen Mischung von Konsum und Politik untersucht, die sich in dem Etikett »1968« symbolisch verdichtete.7 Auch
2
Am 5. April 2003 startete auf RTL die 70erJahre-Show mit Hape Kerkeling. In zwei Staffeln wurden insgesamt elf Episoden ausgestrahlt. Der Komiker erhielt dafür den Deutschen Fernsehpreis (2003) sowie den Bayerischen Fernsehpreis und den Deutschen Comedy Preis (2004). http://www.hapewelt.de/die-70ershow.html (Abruf am 30.1.2014).
3
Siegfried: Sound, S. 37.
4
Schildt/Siegfried: Introduction, S. 3.
5
Vgl. Siegfried: Understanding, S. 70.
6
Siegfried: Sound, S. 40 f.
7
Vgl. die wichtige Arbeit von Siegfried: Time, und ders.: Sound, bes. S. 51.
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wurde die Politisierung der Beatmusik durch die SED in der DDR erforscht.8 Doch generationelle Aneignungen der Popmusik außerhalb des Politischen bzw. über »1968« hinaus sind bisher nur vereinzelt in den Blick der historischen Forschung geraten. Mögliche Gründe dafür möchte dieser Beitrag ebenso erörtern wie die Erkenntnispotenziale einer stärkeren theoretischen Verbindung von Pop und Generationalität aufzeigen.
P OLITISCHE G ENERATIONEN UND HISTORISCHE B EZUGSEREIGNISSE Kriegsjugendgeneration, 45er, 68er, 89er: Es sind vor allem die so genannten politischen Generationen, die in der Historiographie zur deutschen Zeitgeschichte prägnant skizziert worden sind. Konstituiert werden sie – nach dem klassischen Konzept von Karl Mannheim – durch das Erleben einer tief greifenden Umbruchserfahrung bestimmter Alterskohorten in ihrer formativen Lebensphase. Als wichtigste Bezugsereignisse gelten die beiden Weltkriege, auch dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung in Deutschland wird eine, wenn auch untergeordnete, generationsprägende Bedeutung zugeschrieben. So machen beispielsweise Christina von Hodenberg und Dirk Moses die von ihnen konstatierte »Generation der 45er« daran fest, dass ihre (vor allem männlichen) Protagonisten alt genug gewesen seien, um bewusst den Zweiten Weltkrieg sowie Macht und Zerfall des »Dritten Reichs« zu erleben und zugleich noch jung genug waren, um nach 1945 neu zu beginnen.9 Aus dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zogen sie den Schluss, um die Ideale ihrer Jugend betrogen und von einem verbrecherischen System ausgenutzt worden zu sein. Aus diesem Grund hätten sie – seit den späten 1950er Jahren in Führungspositionen auch und gerade im politischen Journalismus vorrückend – die Aufklärung über die Zeit des Nationalsozialismus und die Verwestlichung der Öffentlichkeit vorangetrieben.10 Weitere Möglichkeiten prägender Einflüsse auf die generationelle Selbst- und Fremdverortung bestimmter Alterskohorten durch konsumtive, mediale oder lebensweltliche Erfahrungen werden in
8
Siehe z. B. Wierling: Jugend; Rauhut: Beat; Funk: Klubtramps.
9
Moses: Intellectuals, bes. S. 57.
10 Vgl. Hodenberg: Konsens, S. 448.
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klassischen Darstellungen demgegenüber häufig vernachlässigt bzw. banalisiert. So konstatiert etwa Hans-Ulrich Wehler in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte, dass es nach den 68ern keine »wirklichen« Generationen mehr gegeben habe.11 Generationelle Selbst- und Fremdzuschreibungen wie »Generation Golf« oder »Generation Nutella« erscheinen aus dieser Perspektive um so mehr allenfalls als literarische Kunstprodukte. Der inflationäre Gebrauch des Generationenbegriffs in den Feuilletons verweist aber auf die lebensweltliche Evidenz ebenso wie auf die Bedeutung von Konsum und Populärkultur als generationelle Deutungs- und Identifikationsangebote zugleich.12 Seit einiger Zeit wird die Prädominanz politischer Generationenmodelle hinterfragt, die sich auf historische Ausnahmeereignisse wie die beiden Weltkriege beziehen. Das betrifft zum einen den Zusammenhang von Ursprungsereignis und Generationalität. Ulrike Jureit plädiert dafür, den Konnex von historischem Großereignis und generationell begründeten Erfahrungsgemeinschaften aufzulösen. 13 Wenn die Generationenforschung, so Jureit, auf diese Großereignisse Bezug nehme, bestehe die Gefahr, ganz unterschiedliche Erfahrungszusammenhänge einzuebnen.14 Auch Eva-Maria Silies kritisiert, dass prägende Erfahrungen jenseits von Kriegs-, Umbruchs- oder Gewaltereignissen in der bisherigen historischen Generationenforschung kaum in den Blick gekommen sind.15 Ähnlich wie Ulrike Jureit betont sie, Erfahrungsgemeinschaften bräuchten kein konkretes Geschehnis, sondern eher gemeinsame Bezüge auf eine Erfahrung, aus der ähnliche Schlüsse und damit Deutungen für generationelle Zuschreibungen gezogen werden können.16 Wichtig ist in diesem Zusammenhang zudem der Begriff der Generationalität, denn er zielt »nicht auf eine (rückblickende oder aktuelle) mehr oder weniger idealtypische Konstruktion von quasi ›objektiv‹ fassbaren Generationenstrukturen ganzer Kohorten, sondern auf eine Annäherung an die subjektive Selbst- oder Fremdverortung von
11 Wehler: Gesellschaftsgeschichte, S. 320 f. 12 Maase: Bescheidenheit, S. 222. 13 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 48. 14 Ebd. 15 Vgl. Silies: Liebe, S. 114. 16 Ebd., S. 80.
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Menschen in ihrer Zeit und deren damit verbundenen Sinnstiftungen – dies mit Blick auf die von ihnen erlebte Geschichte und die Kontexte, die sie umgeben, die sie wahrnehmen und in denen sie ihre Erfahrungen machen.«17
In seinem 2008 erschienenen Buch Als wir jung und schön waren spricht der Journalist Matthias Matussek eine altersgruppenbezogene Erfahrung an, die jenseits des politischen Protestes der so genannten »68er« liegt: »Die genuine Versammlungsform jener Zeit ist nicht die Demonstration, sondern das Konzert, das Festival. Es dauert noch zwei Jahre, bis ich gegen die NPD auf die Straße gehe. Aber die Stones sehe ich jetzt schon, und was sind schon diese paar aufgeregten Leute im Audimax der FU im Vergleich mit den Tausenden, die gegen die Bühne anrennen, wenn Mick Jagger ›Jumpin Jack Flash‹ ist. Ich hatte ein Mädchen auf den Schultern und ich kämpfte bis zur totalen Erschöpfung, denn neben all dem Pop-Scheiß um den sanften Mann und die Hermaphroditen des Pop – Jim Morrison, Mick Jagger, Marc Bolan, David Bowie – war es einfach wichtig, einer Frau klarzumachen, dass man sie tragen konnte.«18
Auch wenn Matussek hier von Jugendlichen und Studierenden ausgeht, die gehobenen sozialen Schichten angehörten, dient ihm das Festival doch als Ausgangspunkt einer generationellen Erzählung, die sich auf vermeintlich ähnliche Erfahrungen und Verhaltensstile stützt nach dem Motto: Alle sind ansprechbar, alle sind jung, alle kiffen.19 Außerdem wird die identifikatorische Bedeutung des Pop deutlich, die hier ein Primat vor der Politik hat. Schließlich spricht Matussek die körper- und geschlechtsbezogene Dimension des Pop an. Der Autor und seine gleichaltrigen Bekannten, für die er zu sprechen scheint, identifizieren sich mit den Popstars als leitbildgebend, zugleich grenzen sie sich von ihnen durch ein eher bodenständiges und betont männliches Körperbild ab. Wichtig ist, dass die generationelle Verortung erst durch den Kontakt mit bzw. in der Selbstdarstellung gegenüber den anwesenden Mädchen und jungen Frauen entsteht. Der Gender-Aspekt wird jedoch bei den politischen Generationenmodellen bis heute vernachlässigt. Dementsprechend zielt die Kritik am politi-
17 Reulecke: Einführung, S. VIII. 18 Matussek: Als wir jung und schön waren, S. 63 f. 19 Ebd., S. 63.
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schen Generationenmodell seit einiger Zeit auf die eklatante Vernachlässigung von Frauen. Die Historikerin Christina Benninghaus hat darauf verwiesen, dass auf diese Weise praktisch nur Männer erfasst wurden, die sich im öffentlich-medialen Raum explizit generationell formierten und vor diesem Hintergrund politische Ansprüche formulierten.20 Frauen werden häufig unter diese Generationenzuschreibungen subsummiert, ohne nach der Spezifik weiblicher Selbsthistorisierung zu fragen. Eine explizite Frauengeneration, die sich auf eine gemeinsame historisch-gesellschaftliche Erfahrung bezieht, konnte sich in der öffentlichen Wahrnehmung bislang jedenfalls nicht durchsetzen. Die gesellschaftlich organisierte Familienbezogenheit von Frauen und die diskursive Konstruktion der Mutterschaft wurden lange Zeit in der Generationenforschung gleichsam als »natürliche« Phänomene von langer Dauer angesehen, die keine von vorangegangenen Generationen unterscheidbaren Merkmale und damit auch keine spezifischen Generationserfahrungen und -zuschreibungen zu beinhalten scheinen. Das liegt vor allem daran, dass der Begriff der historischen Generation nach dem klassischen Konzept von Karl Mannheim als dynamisch verstanden wird, während z. B. familiäre Generationenabfolgen nach wie vor vielfach als statisch und sich zyklisch wiederholend gelten. Diese Sichtweise prägt zunächst aber auch jene deutschen Arbeiten, die sich mit der Bedeutung populärkultureller Angebote für die Ausbildung von Jugendkulturen und -szenen beschäftigen. Auch hier wurden Mädchen in erster Linie als Anhängsel von Jungen als wesentlichen Trägern neuer Trends betrachtet.21 Generell jedoch gilt, dass Jugendliche, die sich über populärkulturelle Attri-
20 Benninghaus: Geschlecht, besonders S. 149 f. 21 Angela McRobbie, britische Kultursoziologin am Center for Contemporary Cultural Studies an der Universität Birmingham, hatte sich allerdings bereits um 1980 mit Mädchen als Akteurinnen der Popkultur beschäftigt. Siehe McRobbie (Hg.): Autonomie. Aufgebrochen wurde die auf männliche Jugendliche fixierte Sichtweise in der Geschichtswissenschaft vor allem durch Poiger: Jazz. Poiger beschreibt, wie dezidiert gerade weibliche Rock’n’Roll-Anhängerinnen als »hysterische« Fans in der Bundesrepublik und in der DDR gleichermaßen beschrieben wurden, besonders S. 179 ff. Bis vor kurzem galten Mädchen und junge Frauen im Vergleich zu Jungen und jungen Männern innerhalb eines Milieus immer noch als unauffälliger und angepasster. Dazu Schittenhelm: Dissens, bes. S. 99.
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bute im städtischen Raum bzw. in Veranstaltungsöffentlichkeiten definieren, keine generationelle Sinnstiftung zugeschrieben wird, weil sie sich nicht politisch verorten. Zu denken ist dabei beispielsweise an die »Halbstarken« im Gegensatz zu den »68ern«.22 Eine weitere Differenzierung des herkömmlichen »männlichen« Generationenbegriffs müsste aber für die Zeit ab den 1970er Jahren auch die Migration berücksichtigen. Seit den 1980er Jahren wurden Popphänomene wie Rap, HipHop und Breakdance von Migrantenkindern geprägt, die auf diese Weise oft ganz eigene Generationenkonflikte austrugen, insgesamt in ihrer Altersgruppe aber oft isoliert waren.23 Ulrike Jureit schlägt vor, nicht von manifesten Generationen auszugehen, sondern Generation als erfahrungsgeschichtliche Kategorie aufzufassen und vor allem die kommunikativen Bedingungen zu untersuchen, unter denen generationelle Selbst- und Fremdverortungen vorgenommen werden. Mittlerweile scheint offensichtlich geworden zu sein, dass neben historischen Zäsuren lebensweltliche Bezugsgrößen und kulturelle Phänomene für generationelle Verortungen ausschlaggebend sind.24 Mehr noch: Konsumgewohnheiten oder Medienereignisse scheinen für aktuelle Generationenentwürfe entscheidende Differenzerfahrungen zu markieren.25
K ONSUM , J UGENDKULTUREN UND P OP ALS M ARKER FÜR G ENERATIONALITÄT In den letzten Jahren sind vor diesem Hintergrund im Gegensatz zu den »heroischen« Generationen so genannte »postheroische« Generationen in den Blick gekommen, also altersgruppenspezifische Zuschreibungen, die sich weniger auf politische Ansprüche und Botschaften beziehen, sondern vor allem auf Lebensstil und Konsum bzw. auf die spezifische Mischung von generationeller Selbstverortung, Konsum und Politik abzielen. Dies reflektiert die Tatsache, dass sich Jugendkulturen seit den 1960er Jahren zunehmend diversifizieren und Identifikationsbildungen kleinteiliger und
22 So noch bei Krüger: Elvis-Tolle. 23 Siehe z. B. aus soziologischer Perspektive Nohl: Migration. 24 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 17. 25 Ebd., S. 97. Jureit verweist dabei z. B. auf das Buch von Illies: Generation Golf.
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kurzlebiger werden.26 Dazu passt auch, dass Generationenkonflikte innerhalb der Popkultur nicht mehr nur zwischen Eltern und Kindern, sondern zwischen älteren und jüngeren Geschwistern ausgetragen wurden, z. B. in den Jugendszenen der »Popper« und »Ökos« in den 1980er Jahren.27 Generell setzt sich die Erkenntnis durch, dass Alterskohorten bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch durch nicht-disruptive Entwicklungen vor allem im Bereich des Konsums und der Konsumkultur geprägt wurden, z.B. durch neue Körper- und Frauenleitbilder, die stilbildend wirkten.28 Und dies galt nicht nur für Jugendliche und junge Erwachsene, sondern auch für Kinder, die als eigene Konsumentengruppe entdeckt wurden und durch spezielles Spielzeug, Kleidung und Möbel als Altersgruppe markant abgegrenzt und definiert wurden.29 Hinzu kam, dass Kinder und Jugendliche gerade in den Städten – bedingt durch die Ausweitung von Massenkultur und Konsum – ein ganz anderes visuelles und sensuelles Umfeld erlebten als im 19. Jahrhundert.30 Vor diesem Hintergrund werden seit kurzem auch für Deutschland Konsummuster als Marker für generationelle Identitäten, Selbst- und Fremdverortungen in einer Langzeitperspektive konturiert.31 »It is however a clear advantage of this consumerist model of youthful experience to cut across these great divides in German History and allow for long-term generational formations based on style and habitus which at the same time, puts class and gender in new perspective.«32
Die Vorteile dieser Neuperspektivierung liegen auf der Hand: So kommen nicht nur Frauen und unterschiedliche soziale Milieus stärker in den Blick. Auch transnationale Muster generationeller Verhaltens- und Denkstile fin-
26 Vgl. Maase: Bescheidenheit, S. 241. 27 So z. B. bei Illies: Generation Golf. 28 Cross: Consumption, S. 68. 29 Ebd., S. 72. 30 Schumann: Youth Culture, S. 141 f. 31 Berghoff/Jensen/Lubinski/Weisbrod: Introduction, S. 7, 9. Zur Bedeutung von Konsumgenerationen in den USA vgl. Cross: Consumption, S. 68. Dabei kommen nicht nur altersbezogene Generationen, sondern auch Stil-Generationen in den Blick wie z. B. bei Manning: Italiengeneration. 32 Berghoff/Jensen/Lubinski/Weisbrod: Introduction, S. 10.
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den größere Beachtung.33 Übereinstimmungen zwischen altersspezifischen Ausdrucksformen und Problemwahrnehmungen, die Grenzen einzelner Gesellschaften und Nationen überschreiten, können beispielsweise anhand der Ausprägung der »Halbstarken« in den 1950er Jahren ausgelotet werden, die in den Medien in Großbritannien »Teddyboys«, in Dänemark »Laeder-Jakken« und in Frankreich »Blousons Noirs« genannt wurden.34 Jugendkulturen und Konsum, so ein Fazit der aktuellen Forschung, hatten Einfluss auf Generationenbildung und kreierten generationelle Dispositionen – national wie transnational.35 Im Rahmen der transnationalen Jugendkultur, die sich seit den späten 1950er Jahren in ganz Europa ausbreitete, spielte Rock-, Beat- und Popmusik eine entscheidende Rolle. Sie repräsentierte Weltoffenheit, Eigenaktivität und Partizipation, wobei nicht vorrangig der Text, sondern mindestens ebenso der Sound ihre soziale Bindungs- und Mobilisierungsfunktion begründete.36 Mehr noch: Seit dieser Zeit liefern populärkulturelle Trends entscheidende »überindividuelle Markierungen für gelebtes Leben und für die Erfahrungen, die es prägen und biographisch gliedern«. 37 Die Popkultur dient demnach der individuellen, gruppen- wie altersbezogenen Identitätsfindung und bildet daher einen Schlüssel, um generationelle Selbst- und Fremdverortungen vielschichtig zu untersuchen. Erstens erscheint es lohnend, die Hardware des Pop, also Radio, Schallplattenspieler, Kassettenrecorder, CD-Player in Bezug auf ihre zeitbezogene, identifikationsstiftende Bedeutung zu analysieren.38 Der Schallplattenspieler avancierte seit Mitte der 1950er Jahre zu einem obligatorischen Accessoire nicht nur für Jungen, sondern auch für Mädchen. Er ermöglichte den selbst bestimmten Konsum von Musik in den »eigenen vier Wänden« und unabhängig von den Programmvorgaben des Radios, das zumeist im Wohnzimmer positioniert war. Ab den 1970er Jahren übernahmen diese Rolle dann immer mehr Tonbandgeräte und/oder Stereoanlagen, die nicht
33 Schumann: Youth Culture, S. 127. 34 Vgl. Bude: »Generationen«, S. 35. Bei diesen Zuschreibungen handelte es sich nicht um Generationen, sondern um von den Medien konstruierte Klischees devianter Randgruppen innerhalb bestimmter sozialer Schichten. 35 Schumann: Youth Culture, S. 145. 36 Siegfried: Sound, S. 58. 37 Maase: Bescheidenheit, S. 237. 38 Vgl. den Beitrag von Heike Weber in diesem Band.
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zuletzt das »Aufnehmen« von Musik aus dem Radio ermöglichten.39 Kofferradios und tragbare Kassettenrecorder waren wichtig, um individuellen wie kollektiven Musikvorlieben in Peergroups auch im öffentlichen Raum nachzugehen. Die zuhause oder draußen gehörte Musik diente der Verstärkung persönlicher emotionaler Stimmungen und der Abgrenzung vom Musikgeschmack der Eltern ebenso wie der kollektiven Selbstvergewisserung in der Gruppe/Clique und der Selbstdarstellung nach außen. Zugleich war die Technik Basis und Teil eines kulturindustriellen Ensembles, das in der Bundesrepublik durch die Jugendzeitschrift BRAVO ab 1956 und in ambitionierterer Form durch die Zeitschrift Sounds ab Mitte der 1960er Jahre abgedeckt wurde.40 In der DDR informierte ab 1957 die Monatszeitschrift Melodie und Rhythmus, später auch die Unterhaltungskunst über Trends und globale Entwicklungen in der Popmusik, ohne dabei Jugendliche direkt anzusprechen.41 Besonders wichtig für den Konsum von Popmusik in der DDR wurde ab 1964 im Zeichen einer sanften kulturpolitischen Öffnung der SED der Sender DT 64.42 Der Einzug der Massenmedien in den privaten Raum und die Ausprägung von jugendspezifischen Zeitschriften, die die popkulturellen Interessen ihrer Leserinnen und Leser aufnahmen und moderierten, sind als ein wichtiges Vehikel für generationelle Wahrnehmungen und Narrative des Pops anzusehen. Dabei waren es auch und gerade Musikstars, die zur bedeutsamen Projektionsflächen für individuelle Wünsche und Träume avancierten, die Ausprägung eines persönlichen Stils flankierten und der Kommunikation im Freundes- und Bekanntenkreis dienten. Ulrike Jureit betont, dass für die Gemeinschaftsbildung von Wir-Gruppen, die über unmittelbare Face-to-face-Kontakte hinausreichen, Generationenobjekte unabdingbar sind, an denen sich differente Erfahrungen auf einen gemeinsamen Bezugs-
39 Anders als bei Schallplattenspielern war der Besitz von Stereoanlagen allerdings unter den Geschlechtern ungleich verteilt. Anfang 1975 besaßen nur etwa 17 Prozent junger Frauen im Alter von 15 bis 23 Jahren eine Stereoanlage. Bei jungen Männern in dieser Altersgruppe waren es hingegen 43 Prozent. Auch die Besitzer von Tonbandgeräten sollen überwiegend männlich gewesen sein. Zahlen bei: Siegfried, Sound, S. 61. 40 Ebd. 41 Rauhut: Rock, S. 15. 42 Stahl: Agit-Pop, S. 229.
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punkt ausrichten können.43 Ulrike Jureit bezieht sich dabei auf den britischen Psychoanalytiker Christoph Bollas und sein Konzept von Generationenobjekten. Durch die emotionale Bindung an ein solches Generationenobjekt entstehe ein Gefühl von Gemeinsamkeit, das zwar partiell bleibe, aber aus der Dominanz kontingenter Lebenserfahrungen doch herausrage.44 Generationenobjekte können Ereignisse, Dinge, aber auch Personen sein. Ich gehe davon aus, dass Stars und ihre visuell-mediale Repräsentationen eine solche Funktion einnehmen können und dies auch retrospektiv bzw. in Abgrenzung zu anderen Generationen.45 Dabei erscheint gerade die Bildhaftigkeit von Stars bedeutsam, zumal sie eine emotional-affektive Dimension besitzt. Das Bildkonzept der Jugendzeitschrift BRAVO etwa bediente den Bedarf der Leserinnen und Leser an Identifikation mit den Popstars durch eine quasidokumentarische Unmittelbarkeit in Form von Fotoreportagen und Starporträts.46 Besondere Beliebtheit erlangten die BRAVO-Starschnitte, die über mehrere Hefte verteilt, beliebte anglo-amerikanische wie deutsche Interpreten in Lebensgröße abbildeten. Durch das Auseinanderschneiden, Zusammensetzen und Aufkleben der Starschnitte an die Wand eigneten sich die jugendlichen Rezipientinnen und Rezipienten ihre Stars auf ganz eigene Weise an.47 Auch wenn die »Bravo« stets nach dem Ausgleich der Generationen suchte und skeptisch gegenüber jeglichem Avantgardismus und Radikalismus war, konturierte sie so doch die Stars als lebensnahe und lebensgroße Identifikationsfiguren, mit denen Kinder und Jugendliche ihren Eltern allein schon nonverbal demonstrieren konnten, dass sie durch den Pop womöglich eigene Vorbilder mit Orientierungsfunktion besaßen. 48
43 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 90. 44 Vgl. ebd., S. 91. 45 Vgl. ebd., S. 94 f. 46 1959 hatte die im Münchener Kindler & Schiermeyer-Verlag erscheinende Jugendzeitschrift bereits eine Auflage von 523.000 Exemplaren erreicht. Hochgerechnet sollen laut einer Repräsentativbefragung rund 1,66 Millionen Leserinnen und Leser die Zeitschrift jede Woche rezipiert haben. Zwei Drittel von ihnen waren weiblich, 54 Prozent waren zwischen 12 und 20 Jahre alt. Zahlen bei Maase: Bravo, S. 104. 47 Vgl. Siegfried: Sound, S. 75-80. 48 Ebd, S. 79. Siehe Seegers: Fernsehstars, S. 223.
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Denn die Berichterstattung über Stars und bekannte Bands, die ja vorgeblich auch deren Lebenshaltung und Einstellungen dokumentierte, trug auch dazu bei, Verhaltensnormen und Wertideen öffentlich zur Diskussion zu stellen und für junge Menschen somit im Elternhaus kommunizier- und verhandelbar zu machen. Auf diese Weise konnte also Protest geäußert, aber auch Verständigungsprozesse in Gang gesetzt werden. Darüber hinaus wurden die Leserinnen und Leser durch ein breites Spektrum an Mitgestaltungsmöglichkeiten selbst an der Starproduktion beteiligt. Als »Bravo-Girl« oder »Bravo-Boy«, die per Vorstellung und Abstimmung in der Zeitschrift gewählt wurden, besaßen sie gewissermaßen selbst die Chance, Prominenz zu erlangen. Die jugendbezogene Popkultur war und ist nicht zu denken ohne die Kulturindustrie. Aber als soziales Phänomen, dass das Potenzial für zeitgenössische generationelle Gemeinschaftsstiftungen wie retrospektive generationelle Erzählungen besitzt, beruht sie auf einer breiten Kulturbewegung von unten, deren Basis in performativen Aushandlungen an öffentlichen Orten und Plätzen, sei es bei Konzerten und Festivals der Popstars, sei es in Diskotheken oder in selbst geschaffenen Räumen, z. B. in Jugendzentren oder im Partykeller besteht.49 Als Bestandteil einer altersbezogenen gemeinschaftsstiftenden Performanz des Pop ist zudem, wie Matussek erwähnt, der Konsum von Drogen anzusehen. In den frühen 1960er Jahren waren neben dem Alkohol klassische Drogen wie Amphetamine unter Jugendlichen verbreitet, ab 1967 nahm der Konsum von Haschisch und Marihuana deutlich zu. Getragen wurde die Haschisch-Welle vor allem von Gymniasalschülerinnen und -schülern aus gehobenen Herkunftsmilieus. Ab 1971 ging der Boom jedoch wieder zurück, da die Skepsis junger Leute gegenüber Drogen wieder zunahm und im linken politischen Spektrum kontrovers diskutiert wurde, inwieweit der Drogenkonsum politische Aktivitäten lähme. Dennoch war auch und gerade der Gebrauch von Substanzen wie Haschisch und LSD überformt von einer Drogenkultur, die Wahrnehmungen und Ideale beeinflusste und bei der das Erlebnis in der Gruppe zentral war.50 Gerade in dieser Kombination dürfte Pop in hohem Maße mit Emotionen und Erinnerungen verbunden sein, die retrospektiv als kollektive Erfahrung gedeutet werden könnten.
49 Siehe z. B. Templin: Freiräume. 50 Vgl. Siegfried: Sound, S. 66 ff.
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Die analytische Erfassung einer konsumorientierten Generationalität schließt zudem – anders als das politische Generationenkonzept – so genannte »stille« Generationenerfahrungen mit ein, die gerade nicht öffentlich proklamiert werden. So hat etwa die Göttinger Historikerin Eva-Maria Silies in ihrer Dissertation über die Pille als generationelle Erfahrung gezeigt, dass Frauen durch die Anwendung des neuartigen Verhütungsmittels eine gemeinsame Identität entwickelten, mit der sie sich gegen frühere und spätere Generationen abgrenzten, ohne dass sie sich selbst als »PillenGeneration« bezeichnet hätten.51 Es war nach Silies diese »spezifische körperbezogene generationelle Erfahrung, die junge Frauen in den 1960er Jahren für ihren weiteren Lebenslauf prägte, mehr als Ereignisse der studentischen Protestbewegung oder die Zuschreibung zu einer Generation der 68er.«52 Bei der Rekonstruktion »stiller« Generationenerfahrungen muss berücksichtigt werden, dass diese auch und gerade in den Familien ausgeprägt werden. Für familiale Generationenzusammenhänge ist signifikant, dass sie durch häufig lebenslang bedeutsame emotionale Verbindungen zwischen den Familienangehörigen gekennzeichnet sind und sich durch diese Bindungsintensität, die positiv und/oder negativ ausgeprägt sein kann, von anderen sozialen Verhältnissen unterscheiden.53 Familien leisten vielfältige innergenerationelle Unterstützung, zugleich sind sie aber auch von fortlaufenden generationellen Ablösungsprozessen geprägt, wie der Soziologe Kurt Lüscher mit dem Konzept der Ambivalenz deutlich macht.54 Familiäre und gesellschaftliche Sozialisations- und Identitätsprozesse existieren nicht nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Mehr noch: Erst in den wechselseitigen Beziehungen von Familie und Gesellschaft wird die Dynamik generationellen Wandels deutlich.55 In den Forschungen zu familialen Generationen dominieren Arbeiten zur Beziehungsqualität und -dichte, zu den materiellen und immateriellen Transferleistungen sowie zu den
51 Silies: Liebe, S. 427. 52 Silies: Generation, S. 78. 53 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 31. 54 Lüscher: Ambivalenz, besonders S. 67 ff. 55 Vgl. Jureit: Generationenforschung, S. 64.
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Formen von generationeller Solidarität und Ambivalenz. Dabei werden gesellschaftliche Modernisierungen wie sich wandelnde Geschlechterleitbilder und demographische Veränderungen wie die Verlängerung der Lebenserwartung berücksichtigt.56 Popkulturelle Phänomene wurden in diesem Zusammenhang allerdings noch nicht betrachtet, obgleich sie nicht nur in peer groups, sondern auch im familiären Umfeld angeeignet werden. Dies ist erstaunlich, zumal mittlerweile praktisch alle Alterskohorten mit der Popkultur sozialisiert worden sind. Damit dürfte die Popkultur Gegenstand sowohl von generationellen Verständigungsprozessen in der Familie, aber ebenso auch von generationellen Abgrenzungsprozessen sein. Es ist davon auszugehen, dass diese »stillen Erfahrungszusammenhänge ohne elitären Hegemonialanspruch« um die Popmusik gesellschaftliche Wertwandlungsprozesse flankieren, forcieren, aber auch nachträglich durch individuelle wie kollektive Erinnerungsnarrative konturieren. 57 Für die seit den 1960er Jahren global verbreitete Popkultur war die Mode fast ebenso relevant wie die Musik selbst. Mode wird in der kultursoziologischen Forschung als bedeutsames Feld aufgefasst, auf dem ElternKind-Beziehungen im Allgemeinen und Mutter-Tochter-Beziehungen im Speziellen ausgehandelt werden.58 Kleidung wird in diesem Kontext nicht nur als ein elementares Gebrauchsgut angesehen, sondern dient Individuen und Gruppen stets auch zur kulturellen und sozialen Positionierung in der Gesellschaft. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich generationelle Selbstund Fremdverortungen nicht nur in verbalen Kommunikationszusammenhängen vollziehen, sondern sich auch Dinge als nonverbale »Kollektivsymbole, als Generationszeichen« eignen.59 So verwies etwa die Soziologin Edith Göbel, die sich mit den Lebenswelten 14- bis 18-jähriger Mädchen beschäftigte, im Jahr 1964, darauf, dass es in Bezug auf Freizeit und Mode zwar nur selten ernsthafte Konflikte mit den Eltern gebe, die Lebensstile sich aber stark unterschieden und unter den
56 Vgl. Karstein: Familiale Einheit, S. 54. Siehe allgemein auch Kohli/Szydlik: Generationen; Keppler: Tischgespräche und Lüscher/Liegle: Generationenbeziehungen. 57 Weisbrod: Generationen, S. 3. 58 Siehe z. B. Wagener-Böck: Kleidertransfers. 59 Maase: Bescheidenheit, S. 238.
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Mädchen ein ausgeprägtes Generationenbewusstsein herrsche.60 Zeitschriften wie Twen konstatierten Mitte der 1960er Jahre eine »schleichende Verweiblichung«, da die männliche Mode immer androgyner würde und Mädchen bzw. junge Frauen sich lange Hosen sukzessive nicht nur in der Freizeit, sondern auch im Beruf aneigneten.61 Eine wichtige Rolle spielten dabei auch die Modestile von Popstars, bedingt durch ihre Rolle als Trendsetter. Jugendliche imitieren nicht nur den Modestil von Popstars, es geht dabei stets auch um Körperbilder und Verhaltensweisen (Körpersprache, Frisur, Idiom). Modestile werden eigensinnig angeeignet und öffnen damit einen Möglichkeitsraum für unkonventionelle Geschlechterbilder. Die Textilwissenschaftlerin Heike Jenß geht davon aus, dass Kleidung und Mode in hohem Maße der Selbstinszenierung in sozialer, geschlechter- und altersbezogener Hinsicht dienen: »Selbst-Inszenierungen sind damit auch Positionierungen, sie ermöglichen die soziale Verortung innerhalb der Geschlechterverhältnisse, eine Revision oder eine Reproduktion der klassischen Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit. Sie ermöglichen nicht zuletzt auch Positionierungen im Hinblick auf die Generationenverhältnisse.«62
Ein gewissermaßen transeuropäisches Icon für generationelle Kommunikationsprozesse um Musik und Mode in Peer Groups wie in der Familie war beispielsweise die Sängerin Nina Hagen. Jahrgang 1955, wuchs sie in der DDR als Tochter der Schauspielerin Eva Maria Hagen und des Stiefvaters, des Liedermachers Wolf Biermann, auf. 1977 emigrierte Nina Hagen im Alter von 21 Jahren in den Westen und lebte für kurze Zeit in England, wo sie mit der Punkbewegung in Berührung kam. In Westdeutschland avancierte sie ab 1978 – grell geschminkt und unkonventionell gekleidet – zur öffentlichkeitswirksamen Anhängerin und Förderin der Punk-Ästhetik. 63 Zugleich eroberte sie mit ihrer Band, die später unter dem Namen Spliff bekannt wurde, die Single-Charts und wurde als Popstar vermarktet. Es ist daher davon auszugehen, dass Nina Hagen mit ihrem Outfit und ihren
60 Göbel: Mädchen, S. 395, 401. Zit. nach Siegfried: Time, S. 65. 61 Twen (1966), Nr. 12, S. 59-61, S. 59. Zit. nach Siegfried: Sound, S. 63. 62 Jenß: Sixties Dress, S. 41. 63 Poiger: Das Schöne, S. 232.
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Songs zum Gegenstand von generationellen und geschlechtsbezogenen Ablösungsprozessen wurde. Während Nina Hagen in Westdeutschland schnell zur Anti-Stilikone avancierte, wurden Punks in der DDR ab 1981 kriminalisiert und der staatlichen Repression ausgesetzt.64 Selbst die Jeanshose blieb in der DDR bis in die 1970er Jahre hinein umstritten. In den DEFA-Filmen der frühen 1960er Jahre, die im Zuge des »Kahlschlagplenums« von 1965 verboten wurden, symbolisierte sie gleichsam eine kritische Generation.65 Um so mehr ist danach zu fragen, welchen Stellenwert die Aneignung von westlicher Mode und Musik als generationelle Zeichen in Osteuropa besaß. Vor diesem Hintergrund kann vergleichend für West- und Osteuropa untersucht werden, inwieweit sich anhand der Mode transnationale Muster der Generationenbildung erkennen lassen. Ein weiterer Zugang zum Verhältnis von Generationalität und Mode könnte sein, popkulturelle Retromoden wie etwa aus den 1960er und 1970er Jahren mit generationellen Selbst und Fremdverortungen in Beziehung zu setzen. Bei der Faszination für den Retrochic greifen wohl mehrere Faktoren zusammen: die Nostalgieimpulse von Menschen, die die 1970er Jahre als junge Erwachsene erlebt haben, der idealisierende Rückgriff heutiger Jugendlicher auf eine vermeintlich fröhlichere und buntere Vergangenheit sowie die Unterhaltungs- und Konsumindustrie, die solche Bedürfnisse flexibel bedient.66 Pop sei deshalb nicht mehr als Kommentar zum Weltgeschehen zu verstehen, kritisiert Simon Reynolds in seinem bekannten Buch Retromania, sondern reproduziere sich und zitiere in den letzten Jahren verstärkt aus seiner eigenen Vergangenheit.67 Für den Zusammenhang von Pop und Generationalität ist dies aber umso interessanter, verweist doch der anhaltende Erfolg von Bands wie den Rolling Stones, deren Konzerte von 20-Jährigen ebenso wie von 65-Jährigen besucht werden,
64 Horschig: Punks, besonders S. 40-44. 65 Menzel: Jeans, S. 78-82. Siehe auch Goltz: Introduction, S. 10. 66 Siehe dazu Jenß: Sixties Dress. 67 Reynolds: Retromania. Vgl. Rabea Weihser: Pop am Rande der Erschöpfung. Nostalgie, Sampling-Kultur und Retromania: Recycelt sich die Musik zu Tode? Der britische Kritiker Sam Reynolds stellt die Zukunft des Pop infrage, in: Zeit Online, 14.10.2014, http://www.zeit.de/kultur/musik/2011-10/retromania-simon -reynolds (Abruf vom 19.2.2014).
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darauf, dass die Rezipienten mit der Popmusik nicht nur aufwachsen, sondern auch alt werden. Bestimmte Stile und Bands sind in diesem Zusammenhang zu Klassikern avanciert, die generationenspezifische Lebensgefühle zu vereinheitlichen scheinen. Vor diesem Hintergrund ist Popmusik nicht nur relevant für die Jugend-, sondern auch für die Altersforschung.
F AZIT Die Popkultur, so könnte man behaupten, wirkt wie eine Zeitmaschine.68 Insbesondere die Musik ist ein elementares Medium, um sich individuell, aber auch kollektiv in die Vergangenheit zurückzuversetzen und zeitspezifische Lebensgefühle wieder erfahrbar zu machen. Insofern ist Pop ein elementarer Bestandteil generationeller Erzählungen, mit denen sich Menschen in ihrer Zeit verorten. Zugleich diente Pop bereits zeitgenössisch der Zuschreibung bestimmter altersspezifischer Erfahrungen, sei es um einen gesellschaftlichen Wertezerfall zu beklagen oder um neue Möglichkeitsräume und Freiheiten zu proklamieren. In dieser Funktion sollte Pop auch in der historischen Generationenforschung stärker beachtet werden. Dabei diente und dient er keineswegs nur als Vehikel für Generationenkonflikte, sondern auch für generationelle Verständigungsprozesse. Denn Jugendliche wurden von Erwachsenen seit den 1960er Jahren zunehmend auch als »Pioniere im Dschungel der Konsumgesellschaft« betrachtet, die sich in Sachen Mode, Musik, Film und Medientechnik weitaus besser auskannten als ihre Eltern und mittlerweile selbst mit der Popkultur gealtert sind.69
L ITERATUR Benninghaus, Christina: Das Geschlecht der Generation. Zum Zusammenhang von Generationalität und Männlichkeit um 1930, in: Jureit/Wildt (Hg.): Generationen, S. 127-158.
68 Zur Dimension von Pop als »Geschichtsmaschine« vgl. auch den Beitrag von Thomas Lindenberger und Heiner Stahl im vorliegenden Band. 69 Siegfried: Sounds, S. 45 ff.
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Subkultur und Cultural Studies Ein kulturwissenschaftlicher Begriff in zeithistorischer Perspektive B ODO M ROZEK Sụb|kul|tur bes. Kulturgruppierung innerhalb eines übergeordneten Kulturbereichs (DUDEN, 17. NEU BEARB. U. ERW. AUFLAGE, MANNHEIM U.A. 1973)
In seiner 17. Auflage verzeichnete 1973 das im Duden-Verlag erscheinende Wörterbuch Die Rechtschreibung zwischen den Lemmata »Subkontinent« und »subkutan« erstmals ein neues Wort: »Subkultur«. Schon 1966 war es ins Fremdwörterbuch desselben Verlages eingetragen worden, doch markiert die Aufnahme des Neologismus in den weit verbreiteten »gelben Duden« seinen Eingang in den Kanon der gehobenen deutschen Allgemeinsprache. Tatsächlich ist das Wort mittlerweile so selbstverständlich in die Alltagssprachen eingegangen, dass man seinen Ursprung als soziologischer Fachbegriff darüber fast vergessen könnte.1 Zu seiner internationalen Ver1
Das Oxford English Dictionary nahm das Wort 1986 in seine gebräuchliche Ausgabe auf, nachdem es bereits 1973 im Zusatz zum Short Dictionary und 1976 in der 6. Auflage des Concise Dictionary erschienen war sowie 1980 in der ersten Ausgabe des Oxford American Dictionary. In den Korpora der Académie Française taucht das Wort erstmals 1966 auf; im Wörterbuch Le Grand Robert bezeichnet es eine »Culture propre à un sous ensemble d'un groupe«.
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breitung haben maßgeblich die Cultural Studies britischer Prägung beigetragen. Die kulturwissenschaftliche Disziplin hatte einen prägenden Einfluss nicht nur auf die akademische, sondern auch auf die massenmediale Sicht auf die Popkultur des 20. Jahrhunderts. Wenn sie die Historiographie auch weniger stark beeinflusste, so prägen ihre Modellbildungen doch bis heute nachhaltig die Lesart von Pop als Differenzbegriff zwischen herrschender Eliten- und marginalisierter Massenkultur – als einer Sphäre politisch aufgeladener Symbolik, deren Analyse Auskunft über unterbewusste Prozesse des Wertewandels und der Gruppenbildung verspricht. Der institutionelle Ausbau der Kulturwissenschaften als akademische Disziplin erfolgte parallel zur »kulturalistischen« Wende der Geschichtswissenschaften um die Jahrtausendwende.2 Wenn die Kulturwissenschaften Anfang des 21. Jahrhunderts auch im Begriff stehen, sich von den politischen Paradigmen der frühen Jahre zu entfernen und derzeit eine materialistische Wende vollziehen3, so sind die Cultural Studies doch gerade in der Pop-Theorie bis heute noch immer eine der einflussreichsten Schulen.4 Ihre Begrifflichkeiten und die damit transportierten Modelle haben sich weithin durchgesetzt, auch wenn sie oftmals eher unterschwellig mitgedacht als explizit gemacht werden. Der vorliegende Artikel fragt nach dem Nutzen des traditionellen Subkultur-Modells für die Zeitgeschichte, will aber auch einen Beitrag zur Historisierung dieser Denkschule leisten. Dafür wird zunächst die steile Karriere des Begriffes durch fast ein Jahrhundert und seine transatlantische Reise von der amerikanischen Ostküste in den britischen Norden nachvollzogen. Der Zenit seiner Begriffskarriere in den 1980er Jahren und sein Revival unter veränderten Vorzeichen in den Neunzigern werden diskutiert, bevor der Subkultur-Ansatz historisiert und in einem Ausblick in eine pophistoriographische Perspektive gestellt wird.
2
Vgl. Lindner: Die Stunde, S. 7; Conrad/Kessel: Blickwechsel, S. 18 f.
3
Vgl. Binas-Preisendörfer: Rau, süßlich, transparent, S. 9.
4
Vgl. Hecken: Theorien der Populärkultur, S. 127-135; ders.: Pop, S. 366-371.
S UBKULTUR UND C ULTURAL S TUDIES
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P RE -S UBCULTURAL S TUDIES : A MERIKANISCHE W URZELN Obwohl der Subkultur-Begriff als ein Produkt der Cultural Studies Birminghamer Prägung gilt, ist er weit älter als das dort 1964 gegründete Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS).5 Die Ursprünge der Subkultur-Theorie lagen auch nicht in Großbritannien, sondern in den USA. Bereits während der 1930er Jahre entwickelte die Chicago School of Sociology kriminologische Ansätze, die sich u. a. mit Gangs und Jugendbanden befassten und in Terminologien mündeten, die später als Fundament für neue Begriffsbildungen dienen sollten. Im Fokus der Soziologen stand damals allerdings nicht die Kultur- oder Gesellschaftssoziologie, sondern die Erforschung der Ursachen von urbaner Kriminalität, einem dringenden Problem in amerikanischen Großstädten der Prohibitionszeit. Als Vorläufer für spätere Subkultur-Theorien gilt der von Clifford R. Shaw entwickelte area approach, der bereits 1929 in der einflussreichen Untersuchung Delinquency Areas formuliert wurde.6 Eine Forschergruppe um Shaw hatte darin die Daten von 60.000 männlichen Jugendlichen ausgewertet, die mit der Schulbehörde, der Polizei oder den Gerichten in Konflikt geraten waren, und die Korrelationen mit Wohngebieten untersucht. Die Stadt wurde so gewissermaßen aus der Vogelperspektive in Zonen der Kriminalität aufgeteilt. Deren neuralgische Zentren lagen im Innern der Städte und waren von konzentrischen Ringen abschwellender Kriminalität umgeben. Schon in diesem frühen Konzept der Raumordnung abweichenden Verhaltens wurden Urbanisierung und Kriminalisierung in unmittelbare Nähe gerückt: Die Topographie der Gewalt spiegelte Shaws Ansatz zufolge die neue kulturelle und soziale Situation der Stadt wieder. Der Immigration kam dabei eine entscheidende Rolle zu. Laut Shaw und seinen Kollegen stieg die Kriminalität dort an, wo verschiedene Kulturen aufeinanderprallten, und sank umgekehrt proportional zum Grad der »Akkulturation«. Differenzen, etwa zwischen Nord- und Süditalienern, lebten in den Strukturen der Armenviertel fort und wurden in teils gewaltsamen Auseinandersetzungen ausgetragen. Die Argumentation der so genannten »Chicago Boys«, deren kriminologischer Ansatz auch als hard
5
Zur Entstehung des Centres vgl. Sparks: The Evolution of Cultural Studies.
6
Shaw/McKay: Juvenile Delinquency, S. 5.
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boiled sociology bekannt wurde, bildete die Grundlage für ähnliche Studien in den 1950er Jahren.7 Kriminalität wurde nun nicht mehr ausschließlich sozial, sondern auch ethnisch und urban erklärt und somit stärker als kulturelles Phänomen betrachtet. Von diesen Prämissen ausgehend hatte der Soziologe Milton M. Gordon bereits in den 1940er Jahren neue Identitätskonstruktionen untersucht, die sich aus sozialer Herkunft (Klasse), ethnischem Hintergrund (Rasse), ländlicher oder städtischer Wohnlage (Urbanisierung) und regionaler Identität ergaben. Für die Mixtur dieser vier Elemente, die seiner Meinung nach in der modernen Gesellschaft identitätsstiftend waren, verwendete er einen neuen Begriff: den der Subkultur. Gordon prägte den Begriff in einem Zeitschriftenaufsatz und sah sich selbst als eigentlichen Vater des Konzepts, das sich erst einige Jahrzehnte später über den Umweg Großbritannien auch außerhalb der Wissenschaften verbreiten sollte.8 Gordon hatte einen auf die amerikanische Massengesellschaft anwendbaren Klassenbegriff formulieren wollen, der sich von der marxistischen Theorie zwar inspirieren ließ, diese jedoch als eschatologisch, pauschalisierend und doktrinär kritisierte.9 In einem dem Soziologen Robert MacIver gewidmeten Buch beschrieb Gordon seinen eigenen Subkulturbegriff als ein sozial integratives Konzept, das die übergeordneten Identitäten unterlief: »forming in their combination a functioning unity which has an integrated impact on the participating individual.«10 Von MacIver hatte er die Betonung des Sozialprestiges übernommen (das in anderer Lesart später bei dem französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu zu neuer Geltung kommen sollte) und sich bereits mit der Repräsentation von Klassenlagen auf symbolischer Ebene befasst, etwa mit dem Gegensatz von white collar und blue collar. Milton M. Gordon hatte seinen Subkultur-Begriff dabei ursprünglich nicht am Beispiel mode-orientierter Jugendstile, sondern zur Erklärung allgemeiner Gruppenbildungsprozesse in der amerikanischen Gesamtgesellschaft entwickelt. Die Verbindung des Subkultur-Begriffs mit den abweichenden Erscheinungsformen jugendlicher Gruppenbildung stellte dann ein Buch her, das in den 1950er Jahren als Beitrag zur Debatte
7
Etwa die Untersuchungen von Solomon Kobrin.
8
Vgl. Gordon: The Concept of the Sub-Culture.
9
Vgl. ders.: Social Class, S. 7.
10 Ebd., S. 255.
S UBKULTUR UND C ULTURAL S TUDIES
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um die juvenile delinquency erschien und eine außerordentliche Wirkung entfalten sollte.
J UGEND
ALS R ANDGRUPPE : D IE D EBATTE UM JUVENILE DELINQUENCY IN DEN FÜNFZIGER J AHREN Mitte der 1950er Jahre veröffentlichte Albert Cohen seine Studie Delinquent Boys, auf deren erster Seite gleich der neue Ausdruck »delinquent subculture« vorgestellt wurde.11 Was eine Subkultur sei, erklärte Cohen so: »Every society is internally differentiated into numerous sub-groups, each with ways of thinking and doing that are in some respects peculiarly its own, that one can acquire only by participating in this sub-groups and that one can scarcely help acquiring if he is a full-fledged participant. These cultures within cultures are ›sub12
cultures‹.«
Das Buch baute auf die Soziologie von Shaw und McKay auf, wendete sie aber erstmals auf das abweichende Verhalten Jugendlicher an. Anstatt den vermeintlich schädlichen Einfluss einer industriell produzierten Massenkultur auf Jugendliche zu beklagen, wie es in der damaligen Kulturkritik durchaus üblich war13, betrachtete Cohen den Lebensstil der Jugendlichen wertneutral als eine eigene Kultur. Er konstatierte zwar, dass die von den Jugendlichen konsumierte moderne Massenkultur in Comics, Film und Fernsehen kriminelles Verhalten romantisiere, wandte sich aber energisch gegen die These, die Werke einer fiktionalen Populärkultur verursachten kriminelles Verhalten, wie schon damals häufig argumentiert wurde. Für die Entstehung von Kriminalität sah Cohen nicht das Fehlen einer sozialen Ordnung als ausschlaggebend an, sondern konstatierte vielmehr eine fal-
11 Milton M. Gordon bemerkte später, Cohens auf seinem Begriff basierende Studie sei zwar exzellent gewesen, doch solle man den Terminus Subkultur nicht nur auf den Zeitabschnitt Jugend, sondern auf eine ganze Lebensspanne anwenden. Vgl. ebd., S. 255, Anm. 17. 12 Cohen: Delinquent Boys, S. 12. 13 So etwa Horkheimer/Adorno im »Kulturindustrie«-Kapitel.
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sche Ordnung.14 Sozial sah auch Cohen die juvenile delinquency hauptsächlich in den Arbeitervierteln beheimatet, doch bezog er auch die Mittelschichten ein. Vor allem aber betonte er die kulturelle Komponente bei der Gruppenbildung Jugendlicher, die nicht notwendigerweise kriminell sein mussten. Diese Kulturen verortete er räumlich in den ethnisch gemischten Armutsvierteln der Großstädte und begründete sie dynamisch im Prozess der Urbanisierung. Seine Theorie bezog er auf männliche Jugendliche, da Studien wie die von Shaw erbracht hatten, dass Mädchen keine Gangs formten – eine Aussage, die von der jüngeren Gangforschung widerlegt wurde wie von späteren, von der Geschlechtertheorie beeinflussten Subkultur-Studien.15 Wenn er auch breiteren Kontexten entstammte, so diente der frühe Subkultur-Begriff amerikanischer Prägung doch in erster Linie der Erklärung von Kriminalität. Seine offenere Anlage ließ aber auch ein neues Verständnis für die Entstehung spezifischer urbaner Kulturen zu und trug damit nicht nur den sozioökonomischen, sondern auch den räumlichen und ethnischen Dimensionen Rechnung.
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Während der Subkultur-Ansatz in der amerikanischen Theorie weit weniger Interesse erregte als in Europa und erst durch die Adaption der Birminghamer Schule reimportiert wurde, war ein anderes Konzept weitaus erfolgreicher. Als der Soziologe J. Milton Yinger 1960 für die American Sociological Review eine Übersicht der Subkulturliteratur seit Cohens Buch verfasste, unterschied er verschiedene Traditionen, wobei sein Hauptinteresse einer Richtung galt, die er unter dem Begriff contraculture zusammenfasste. 16 Gegenkultur entsteht Yinger zufolge zumeist aus nicht erfolgreichen Konflikten mit der Mehrheitskultur.17 Dieses Konzept, das vor allem in den 1960er Jahren Karriere machte, stammte ebenfalls bereits aus den
14 Hierbei berief er sich auf die klassische Gang-Studie, die im Chicago der 1930er Jahre Bandenbildung in Slum-Gebieten untersucht hatte: Trasher: The Gang. 15 Vgl. etwa Zahn: Delinquent Girl; McRobbie/Garber: Girls and Subcultures. 16 Yinger: Contra Culture and Subculture, S. 625-631. 17 Vgl. hierzu auch: Gilbert: Cycle of Outrage, S. 136.
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Fünfzigern. Der Kulturanthropologe Walter B. Miller hatte es in seinen Arbeiten zur juvenile delinquency aufgenommen und in verschiedenen Aufsätzen weiterentwickelt.18 Miller sah im Subkultur-Begriff in erster Linie ein lebensweltliches Konzept von Kultur angelegt, das die Entwicklung eines eigenen Wertehorizontes ermöglichte, der sich in Widerspruch, ja sogar in direkter Opposition zur dominierenden Mittelschichtenkultur befand. Für Miller waren die Werte und Verhaltensnormen der Mittelschichten jedoch mit denen der Unterschicht teils kongruent. Juvenile delinquency sei daher ein Weg, aus diesem Wertehorizont auszubrechen, schrieb Miller, der sich damit von Cohens Mittelklasse-Attitüde distanzieren wollte. In einem 1959 publizierten Artikel entfernte sich Miller noch weiter von Cohen. Er definierte urbane Unterschichtenkultur als »a set of practices, focal concerns and ways of behaving that are meaningfully and systematically related to one another«.19 Dabei betonte er besonders den Aspekt der vaterlosen Familie. Bereits in der einflussreichen Theory of Delinquent Gangs formulierten die Soziologen Cloward und Ohlin unter Berufung auf Miller das Konzept der toughness als sozial konstitutiven Faktor innerhalb des abweichenden Wertesystems von Straßengangs.20 Miller war in seiner Definition bereits auf popkulturelle Formate und Inhalte wie die pulp novel oder das GenreKino eingegangen: »The concept of ›toughness‹ in lower-class culture represents a compound combination of qualities or states. Among its most important components are physical prowess, evidenced both by demonstrated possession of strength and endurance and athletic skill; ›masculinity‹, symbolized by a complex of acts and avoidance (bodily tattooing, absence of sentimentality; non-concern with ›art‹ literature; conceptualization of women as conquest objects, etc.); and bravery in the face of physical threat. The model for the ›tough guy‹ – hard, fearless, undemonstrative, skilled in
18 Gesammelt auf der Website der Arizona State University, URL: http:// gangresearch.asu.edu/walter_miller_library/miller-collected-papers. 19 Miller: Implications of Urban Lower-Class Culture, S. 223. 20 Deren Perspektive diente etwa der New Yorker Initiative Mobilization for Youth (MfY) in den 1960er Jahren als Leitbild für die streetwork. Vgl. Typoskript »Facts about MfY«, o. J., Collection of Correspondence and Manuscript Documents, Butler Library, Columbia University, New York City.
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physical combat – is represented by the movie gangster of the thirties, the ›private eye‹, and the movie cowboy.«21
Von dieser Theorie, die der Kausalverknüpfung von »Unterschichten-Kultur« und Kriminalität Vorschub leistete, grenzten sich Cloward-Ohlin in weiten Teilen ab. Sie nutzten jedoch – lange vor den britischen Cultural Studies – ebenfalls den Begriff der Subkultur und unterschieden explizit delinquente von nicht-delinquenten Subkulturen. Entscheidend war der abweichende Wertehorizont innerhalb eines nicht nur klassenbedingten, sondern auch generationell differierenden Wandels der Lebensstile und ethisch-moralischen Orientierungen. Inklusion und Exklusion äußerten sich schon auf der semantischen Ebene bestimmter Jugendszenen, in denen Mitglieder als »cats« oder »chicks« markiert, Außenstehende hingegen als »squares« verächtlich gemacht wurden. Die Zugehörigkeit zur Kultur der Straße wurde jedoch auch durch nichtsprachliche Zeichen konstituiert. Wo abweichendes Verhalten im Sinne eines jugendkulturellen Stils aufhörte und Kriminalität begann, wurde in der weitschweifenden Debatte, die sich zunehmend auf neue Verhaltensweisen oder durch Kleidung ausgedrückte Abweichungen konzentrierte, nicht immer deutlich. Die Grundlagen für eine breitere (wenn man so will: pop-kulturelle) Verwendung eines ursprünglich kriminologischen Hilfsbegriffes waren damit aber gelegt.
P RE -S UBCULTURAL S TUDIES : B RITISCHE V ORLÄUFER Auch in Großbritannien bedienten sich Forscher lange vor den Arbeiten des CCCS des amerikanischen Subkulturbegriffes. Im Unterschied zur späteren Schulbildung des Centres waren diese frühen Arbeiten methodisch jedoch vergleichsweise heterogen. Um sie wissenschaftsgeschichtlich zusammenzufassen, darunter besonders die Bücher von Fyvel, Willmott und Hargreaves22, wurde die Bezeichnung Pre-Subcultural Studies vorgeschlagen,
21 Miller/Kvaraceus: Delinquent Behavior, S. 74-75. Zit. n.: Cloward/Ohlin: Delinquency and Opportunity, S. 66. Vgl. auch: Miller: Lower Class Culture, S. 8. 22 Fyvel: Offenders; Wilmott: Adolescent Boys; Hargreaves: Social Relations.
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die auch für die US-amerikanischen Vorläufer sinnvoll erscheint. 23 Bei näherer Betrachtung dieser Untersuchungen fällt allerdings auf, dass sich nur Tosco Raphael Fyvel eingehend mit Jugendkulturen im eigentlichen Sinne, also unter dem Aspekt der Kultur beschäftigte, während die anderen beiden Bücher eher mit sozialen Problemen von Jugendlichen befasst waren. Fyvels Buch The Insecure Offenders. Rebellious Youth in the Welfare State war das einflussreichste; es erreichte binnen Kurzem mehrere Auflagen und wurde auch ins Deutsche übersetzt.24 Darin thematisiert Fyvel zumindest am Rande bereits vieles von dem, was die späteren Subcultural Studies explizit zum Gegenstand ihres Interesses machen sollten. Er beobachtet die Veränderung der Lebensbedingungen im Nachkriegs-London, die Wirkungen des sozialen Wohnungsbaus auf die Lebensräume der Jugendlichen, ja sogar die Internationalität jugendkultureller Sozialisationsprozesse.25 Vor allem verwendete er bereits mehrfach den Begriff Subkultur – auch wenn der Terminus bei ihm noch nicht den zentralen Status eines Schlüsselbegriffs innerhalb eines hierarchisch gedachten Gesellschaftsmodells besitzt, mit dem er später in Birmingham ausgestattet werden sollte. Doch ebenso wie später Dick Hebdige entwickelte auch Fyvel seinen Kulturbegriff am Beispiel jener neo-edwardianisch gekleideten Jugendlichen, die er in Ost- und Süd-London und in Brixton beobachtet hatte. Im Unterschied zu den Banden der Vorkriegsjahre fiel ihm an diesen von den Medien als »teddy boys« bespöttelten Arbeiterkindern ein neuer Stil auf, der sich in mehreren Aspekten äußerte: einer bestimmten kollektiven Art sich zu kleiden, einer gemeinsamen Sprechweise und einer neuartigen sozialen Aneignung von populärer Musik.26 Im Unterschied zu den Cultural Studies ging es Fyvel jedoch weniger um die Analyse dieser kulturellen Aspekte im Sinne einer Lebensstilsoziologie. Vielmehr war er in erster Linie um die Erklärung von Jugendgewalt bemüht, um ihre Bekämpfung sowie um die Entwicklung neuer Maßnahmen zur Prävention.
23 Dies schlägt vor: Muggleton: From Classlessness to Clubculture, S. 206. Seine Phasenbildung wird hier weitgehend übernommen. 24 Fyvel: Die ratlosen Rebellen. 25 Etwa der Beatniks, vgl. ebd., S. 17. 26 Vgl. Fyvel: ebd., S. 46.
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Diese Perspektive auf den Konflikt, mithin das Primat der Kriminologie, teilt Fyvel mit den meisten in den USA und auf dem europäischen Festland entstandenen sozialwissenschaftlichen Studien jener Jahre. Die einseitige Beschäftigung mit jugendkulturellen Phänomenen unter dem Aspekt der Straßengewalt war oftmals einer sensationslüsternen Medienberichterstattung geschuldet, zumal in Großbritannien, wo die Presse traditionell keine Abonnenten hatte, sondern am Kiosk mit dramatischen Schlagzeilen um den Leser warb. Hinzu kamen politische Instrumentalisierungen durch gesellschaftliche pressure groups. Die öffentliche Debatte jener Jahre ertönte als ein vielstimmiger, oftmals in der Tonlage alarmistischer Untergangsszenarien vorgetragener Chor.
B IRMINGHAMER S CHULE : D IE S UBCULTURAL S TUDIES IN IHRER KLASSISCHEN P HASE Das 1964 an der Universität Birmingham gegründete Centre for Contemporary Cultural Studies konzentrierte sich von Anfang an auf die Erforschung populärer Kultur. Am CCCS war die Begriffsbildung von zentraler Bedeutung für die inhaltliche Neupositionierung der jungen Kulturwissenschaften ebenso wie für die Beschäftigung mit dem Populären. Die Gründer des Centres, Richard Hoggart und Raymond Williams, stammten selbst aus der Arbeiterklasse und hatten mithilfe von Stipendien an englischen Eliteuniversitäten studiert. Ihnen ging es nach eigenem Bekunden auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit um die Ausweitung des an den Wertvorstellungen der traditionellen Eliten gewachsenen Kulturbegriffes und damit um die Aufwertung der so genannten ordinary culture.27 Wie schwierig es war, ein solches Anliegen im stark von sozialer Ungleichheit, Privatisierung und Elitenideologie geprägten britischen Bildungssystem durchzusetzen, zeigt nicht nur die vergleichsweise schwache Bindung des aus der Erwachsenenbildung hervorgegangenen Zentrums an die Universität, sondern auch die Kritik, der das Centre sich stetig ausgesetzt sah – nicht zuletzt aufgrund seiner wissenschaftstheoretischen Positionierung. Methodisch war das CCCS anfangs eher literaturwissenschaftlich orientiert, doch nachdem Hoggarts enger Mitarbeiter Stuart Hall die Leitung übernommen hatte,
27 Vgl. Marchart: Cultural Studies, S. 23.
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vollzog das Centre eine Wende hin zur Soziologie.28 Hall, der bald zum weltweit bekanntesten Vertreter der Cultural Studies avancierte, war auf der Suche nach anschlussfähigen Methoden. Dabei schwebte ihm nicht weniger als eine gänzlich neue Kulturtheorie vor. Im Birminghamer General-Theory-Seminar wurde das kulturelle Feld fortan nicht nur mit den Ansätzen Max Webers, Georg Simmels, der Frankfurter Schule oder Georg Lukács’ neu vermessen. Erhebliche theoretische Anstrengungen galten dem ehrgeizigen Ziel, die marxistische Klassentheorie zu reformieren und auf zeitgerechte Weise umzuformulieren. Anleihen machten Hall und seine Mitstreiter bei undogmatischen Marxisten wie Louis Althusser, vor allem aber bei dem von Antonio Gramsci formulierten Konzept der kulturellen Hegemonie, das vielen der am Centre entstandenen Studien das theoretische Fundament lieferte.29 Hall war es auch, der die jungen Cultural Studies den Theorien der französischen Strukturalisten und ihren Kritikern öffnete, darunter postmoderne Denker wie Julia Kristeva, Jacques Derrida, Michel Foucault und Roland Barthes. Die Fokussierung der französischen Denker auf gesellschaftliche Machtfragen, Theorien der Repräsentation und der Zeichenhaftigkeit von Kultur schienen besonders geeignet, das neue Forschungsfeld gegenwärtiger Jugendkulturen unter den polit-ökonomischen Kriterien eines reformierten, an die Bedingungen der Gegenwart angepassten Marxismus zu vermessen. Die Kombination von reformierter Klassentheorie und französischem Poststrukturalismus prägte auch den Umgang der Cultural Studies mit der Jugendkultur entscheidend. Jugendkultur und abweichendes Verhalten rückten schon früh in ihren Fokus. Bereits im Alter von 27 Jahren hatte Stuart Hall unter der Überschrift Politics of Adolescence am Beispiel jener von Fyvel erforschten »teddy boys« das Unvermögen der marxistischen Linken kritisiert, die neue Arbeiterjugend einzubinden – ein Anliegen, das er noch als Vordenker der Cultural Studies verfolgen sollte, nun allerdings in theoretischem Sinne.30 Unter Halls Herausgeberschaft veröffentlichte eine Gruppe von Forschern des Centres Mitte der siebziger Jahre den Sammelband Resistance Through Rituals31, in dem die theoretischen Anleihen bei Gramsci und Althusser auf
28 Ebd., S. 90. 29 Vgl. Gramsci: An den Rändern der Geschichte. 30 Hall: Politics of Adolescence? (zit. nach: Marchart, S. 95). 31 Hall/Jefferson (Hg.): Resistance Through Rituals, S. 9.
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dem praktischen Feld der empirischen Jugendforschung erprobt wurden. Die Beiträge bezogen sich vor allem auf einen Paragraphen aus Antonio Gramscis skizzenhaftem Entwurf zu einer Geschichtsschreibung der »subalternen Gruppen«. Gramsci räumte darin selbst ein, die Geschichte gesellschaftlicher Randgruppen sei »notwendigerweise bruchstückhaft und episodisch«: »Zweifellos gibt es in der geschichtlichen Aktivität dieser Gruppen eine Tendenz zur Vereinigung, sei es auch nur auf provisorischen Ebenen, aber diese Tendenz wird durch die Initiative der herrschenden Gruppen fortwährend gebrochen, und deshalb kann sich erst bei Vollendung des geschichtlichen Zyklus zeigen, ob er erfolgreich abgeschlossen wird. Die subalternen Gruppen erleiden immer die Initiative der herrschenden Gruppen, auch wenn sie rebellieren und sich auflehnen: erst der »dauerhafte« Sieg bricht die Unterordnung, und auch nicht sofort. In Wirklichkeit sind die subalternen Gruppen, auch wenn sie zu triumphieren scheinen, nur in Alarmbereitschaft (diese Wahrheit lässt sich anhand der Geschichte der französischen Revolution mindestens bis 1830 demonstrieren). Jede Spur autonomer Initiative seitens der subalternen Gruppen sollte deshalb für den integralen Historiker von unschätzbarem Wert sein; daraus ergibt sich, dass eine solche Geschichte nur durch Monographien behandelt werden kann und dass jede Monographie eine sehr große Anhäufung von Materialien verlangt, die häufig schwer zusammenzutragen sind.«32
Dabei hatte Gramsci sich allerdings nicht etwa mit den Randgruppen in Großstädten unter den Bedingungen einer kapitalistischer Gesellschaft beschäftigt, sondern mit historischen Außenseitern, etwa römischen Sklaven, sizilianischen Briganten, Beneventer Banden und Mailänder Lazzarettisten. Die Begründer der Cultural Studies nahmen diese Gedanken bei der Entwicklung einer politischen Theorie der Randgruppen als Anregung, da sich die in einem Spannungsverhältnis zu den herrschenden gesellschaftlichen Eliten stehenden subalternen Gruppen leicht mit dem bereits aus der amerikanischen Soziologie vertrauten Begriff der Subkultur verbinden ließen. Überdies schien die in faschistischer Haft entstandene Theorie Gramscis mit der Bemerkung über die »Alarmbereitschaft« auch eine Erklärung für die bislang ausgebliebene Revolution der britischen Arbeiterschaft zu bieten – ein zentrales gegenwartspolitisches Problem für marxis-
32 Gramsci: An den Rändern.
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tisch inspirierte Gesellschaftswissenschaftler, deren Interesse nicht nur auf theoretischem Gebiet bestand. Stuart Hall bezog auch in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte über Jugend und Kriminalität Stellung. Bestärkt in seinem Interesse an den moral panics, den übertriebenen Reaktionen auf den angeblichen Kulturverfall der Jugend, wurde Hall durch den so genannten Handsworth-Fall. In Birmingham hatten am 5. November 1972 drei Jugendliche mit Migrationshintergrund in dem von afrikanischen und asiatischen Einwanderern bewohnten Viertel Handsworth einen Arbeiter ausgeraubt und zusammengeschlagen, um ihm 30 Cent und ein Päckchen Zigaretten zu rauben. Der als »the mugging« bekannt gewordene Fall wurde von den Medien aufgegriffen und über Wochen hinweg ausgeschlachtet. Als ein Gericht die jugendlichen Täter zu Haftstrafen von insgesamt 40 Jahren verurteilte, nahmen Hall und seine Mitarbeiter den Fall zum Anlass, sich mit den Mechanismen dessen zu befassen, was sie moral panics nannten33: ein gesellschaftliches Gefühl der Bedrohung, das sich in eine kollektive Panik hinein steigern kann, ausgelöst durch eine Person, eine Gruppe, eine Veränderung oder Episode – so wie der Handsworth-Fall, der sich bei näherer Untersuchung als keineswegs repräsentativ für eine statistisch signifikante Zunahme von Überfällen herausstellte, sondern im Gegenteil eine Ausnahme war.34 Der programmatische Titel des Sammelbandes Resistance Through Rituals formulierte schließlich die politische Richtung der Subcultural Studies. In ihrer gemeinsamen Einleitung erklärte das aus John Clarke, Stuart Hall, Tony Jefferson und Brian Roberts bestehende Herausgeber-Kollektiv seine Absicht, es wolle mit den vorliegenden Aufsätzen den politisch neutralen Begriff der Jugendkultur demontieren und an seiner Stelle den Begriff der Jugend-Subkulturen einführen. Diese würden konstituiert durch »their relation to class cultures, and to the way cultural hegemony is maintained, structurally and historically.«35 Der Band versammelte Aufsätze der Mitglieder der Subkultur-Gruppe des Centres, die drei Jahre zuvor gegründet worden war. Den theoretischen Teil eröffnete – unter Berufung auf Marx,
33 Auf das Thema bezogen hatte das Modell aus der Katastrophenpsychologie zuerst Cohen: Folk Devils. 34 Vgl. Hall: Song of Handworth Praise, S. 75; ders. u.a.: Resistance, S. 10. 35 Ebd., S. 9.
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Gramsci und den britischen Historiker E. P. Thompson – eine klassenbasierte Definition von Kultur.36 Kultur, als »the distinctive shapes in which this material and social organisation of life expresses itself«, sei machtspezifischen Eigentumsverhältnissen unterworfen. Ebenso wie die Produktion materieller Werte den Mechanismen von Eigentum, Macht und Herrschaft unterliege, repräsentiere auch die Produktion immaterieller Werte die Machtverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft. Da die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft aber nach Hegemonie (im Sinne Gramscis) strebten, so konkurrierten auch deren kulturelle Ausdrucksformen um die Teilhabe an gesellschaftlicher Macht: »Dominant and subordinate classes will each have distinct cultures.«37 Dabei ging das CCCS von einem so genannten Zwei-KulturenModell aus, das aus einer herrschenden (bürgerlichen) und einer unterdrückten (proletarischen) Kultur besteht. Innerhalb der Kulturen können sich Unterkulturen herausbilden, denen bestimmte funktionale Leistungen zugeschrieben werden. Am CCCS begann man denn auch unverzüglich damit, sich den subalternen Gruppen der Gegenwart in Form von Einzelstudien zu widmen – ganz wie Gramsci es in seinen Gefängnisheften gefordert hatte. Die theoretisch wohl einflussreichste Schrift erschien im Jahr 1979. Dick Hebdiges Untersuchung mehrerer britischer Jugendstile Subculture. The Meaning of Style38 führt das Wort Subkultur programmatisch im Titel und ist in ihrem Einfluss kaum zu unterschätzen. Hebdige gehörte zwar selbst der Subkultur-Gruppe des CCCS nicht an, doch bezog er sich explizit auf deren Arbeit, insbesondere auf Resistance Through Rituals. Hebdiges Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt, beeinflusste den aufkeimenden Pop-Journalismus der achtziger Jahre und trug wesentlich zur Verbreitung des soziologischen Begriffs der Subkultur bei. 39
36 Kultur wird dabei definiert als »the distinctive ›way of life‹ of the group or class, the meanings, values and ideas embodied in institutions, in social relations, in systems of beliefs, in mores and customs, in the uses of objects and material life.« Ebd., S. 12. 37 Ebd., S. 12. 38 Hebdige: Subculture. 39 In Deutschland erschien es 1983 in dem von Diedrich Diederichsen u.a. herausgegebenen Band Schocker – Stile und Moden der Subkultur.
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In der Soziologie selbst fand er international Niederschlag vor allem in der Armuts-, Randgruppen- und Minoritätenforschung, ebenso in der Stadtund Kriminalitätsforschung. In Deutschland wurde sein Modell nur punktuell verwendet und theoretisch vergleichsweise wenig rezipiert oder weiterentwickelt, mit wenigen Ausnahmen.40 Zwar entstanden in den siebziger und achtziger Jahren eine Fülle von Arbeiten, die einzelne Subkulturen vorstellten, diese meist jedoch nicht theoretisch hinterfragten – was aus soziologischer Sicht kritisiert wurde.41 Zudem verlor der Begriff zunehmend an Kontur, weil er seit Beginn der achtziger Jahre zunehmend synonym zu den konkurrierenden und teils erfolgreicheren Begriffen Milieu, Alternativkultur oder Lebensstil verwendet wurde.
N EUBELEBUNG IN DEN N EUNZIGERN : D IE P OST -S UBCULTURAL S TUDIES Der klassische Ansatz der (Sub-)Cultural Studies, der im Wesentlichen ein weiterentwickeltes Klassenmodell verfolgte und das Phänomen kulturell homogener, zumeist urbaner Gruppenbildung insbesondere Jugendlicher als politisch »widerständig« legitimierte, geriet im Verlaufe der neunziger Jahre gänzlich in die Krise. Einerseits war der von Marxisten erhoffte politische Widerstand in der sozialen Realität der Gegenwart weitgehend ausgeblieben und gerade die aus Jugendsubkulturen hervorgegangenen neuen kulturellen Ausdrucksformen wie der afroamerikanische HipHop tendierten weniger zu den noch in den siebziger Jahren stark ausgeprägten Emanzipationsbewegungen, sondern zeigten im Gegenteil eine ausgesprochene Neigung zu einer Semiotik des Turbokapitalismus, wie die Musikvideos vieler Rapper anschaulich vorführten.42 Andererseits verloren die Jugendszenen innerhalb einer in diverse Milieus fragmentierten westlichen Erlebnisgesellschaft (Gerhard Schulze) zu-
40 Vgl. vor allem Schwendter: Theorie der Subkultur. 41 Vgl. Vaskovics: Subkulturen – überholtes analytisches Konzept?, S. 593-594. 42 Als »widerständig« im intendierten Sinne ließen sich Hausbesetzer-Szene oder Ereignisse wie die aus der Punk-Bewegung hervorgegangenen Chaos-Tage interpretieren, die jedoch rituell und vereinzelt waren.
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nehmend an Signifikanz.43 Die an Popmusik orientierten Fraktionen lösten sich in der integrativen Clubkultur mit ihren hedonistischen Massenveranstaltungen und Techniken von Remix und Sample zunehmend auf und fanden sich allenfalls als Zitate ihrer selbst in neuen, oftmals ironisch gebrochenen Kontexten wieder. Mit abnehmenden moral panics bei steigender gesellschaftlicher Toleranz und sich überlappender Lebensstile und veränderten Selbstbildern büßten sie zudem ihre politisch-gesellschaftliche Relevanz ein. Wie aber geht man mit Subkulturen um, deren subversive Zeichensetzungen – in der Sprache der Cultural Studies – selbst zum hegemonialen Lebensstil geworden sind, erfunden von einer subkulturell inspirierten kapitalistischen Bekleidungsindustrie, die sich von Soziologen und Trend-Scouts beraten lässt?44 Während einige Vertreter der Cultural Studies ihre eigenen Ansätze aus den siebziger Jahren revidierten, versuchten jüngere Forscherinnen im Zuge der Cultural Turns der neunziger Jahre eine Neubelebung des Subkulturansatzes. Impulse gingen von der Institutionalisierung popkultureller Forschung im Manchester Institute for Popular Culture (MIPC) aus, das sich intensiv mit der neuen Situation der so genannten Club Culture befasste.45 Darin ging es vor allem um das Schwinden von Bedeutungen innerhalb der Clubkulturen und die Auflösung des Individuums in gemeinschaftsorientierten Erlebnispraktiken wie dem Rave. Entgegen dem Trend der »postmodernen« Auflösung von Bedeutungen wurde gerade die Clubkultur als Ort von Körperdiskursen und neuen kulturellen Praktiken untersucht. Entscheidende Anregungen kamen von der Ethnologie, die Jugendkulturen in Großstädten als »urban tribes« verstand. Andy Bennet analysierte die inner-
43 Schulze beschrieb die Erlebnisgesellschaft des späten 20. Jahrhunderts als ein Nebeneinander verschiedener, sich überlappender Erlebnismilieus. 44 Modemarken wie Fred Perry stricken mittlerweile ihren eigenen Mythos mit semidokumentarischen Internet-Videos, in denen Subkulturexperten und Veteranen unterschiedlicher Szenen zu Wort kommen, dabei aber dem übergeordneten Ziel dienen, zum Wohle der Marke symbolisches in ökonomisches Kapital umzuwandeln. Vgl. The Don Letts Subculture Films. http://vimeo.com/52431977 (Abruf vom 29.5.2014). 45 Hier besonders die Arbeiten von Redhead: The End-of-the-Century-Party; ders. (Hg.): Rave Off; ders: From Subcultures to Clubcultures; ders. u.a. (Hg.): The Clubcultures Reader.
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halb der Clubkultur vorhandenen Konzeptionen individueller und kollektiver auf Musik basierender Identitäten als »neo-tribes«.46 Sarah Thornton interpretierte mit Hilfe der Kultursoziologie Pierre Bourdieus die Popkultur als System von »distinction« und sprach von »subkulturellem Kapital«.47 Andere Forscher sahen gar »new ethnicities« aus den kulturellen Techniken der Club-Kultur hervorgehen, die nicht nur die bisherigen Subkulturen, sondern auch gängige Auffassungen etwa von Blackness oder Britishness in Frage stellten und zu temporären Zusammensetzungen führten, dem diasporic code-switching.48 David Muggleton, der die Subkulturen mit Hilfe der Soziologie Max Webers untersucht hatte, schlug für diese und andere nicht mehr dem klassischen Birminghamer Schema zuzuordnenden Ansätze schließlich den Sammelbegriff Post-Subcultural Studies vor.49 Diese theoretisch wenig einheitlichen Ansätze eint ein gemeinsames Interesse an Popoder Club-Kultur, daher sind sie weniger als Schulenbildung und mehr als Forschungsperspektive zu verstehen, denn, so paraphrasierte ein einschlägiger Band Stuart Hall, »the era seems long gone of working-class youth subcultures ›heroically‹ resisting subordination through ›semiotic guerrilla warfare‹«.50
A USBLICK : Z EITHISTORISCHE P ERSPEKTIVEN Während die These der Cultural Studies, es habe sich bei den durch einen von der Mehrheitskultur abweichenden Stil zusammengehaltenen Jugendkulturen – verkürzt gesagt – um eine Art politische Opposition gehandelt, für demokratische Gesellschaften wie Großbritannien durchaus umstritten war, so ließ sie sich auf dem Feld der deutschen Diktaturen zweifelsfrei belegen.51 Die an Musik und Mode orientierten »Zazous« und »Swings« im
46 Vgl. hierzu seine auf Michael Maffesolis Tribe-Begriff basierende Arbeit: Popular Music. 47 Vgl. Thornton: Club Cultures. 48 Vgl. Back: New Ethnicities. 49 Muggleton: »From Classlessness to Clubculture«. Der Terminus wurde bereits 1987 verwendet in: Chambers: Maps for the Metropolis. 50 Muggleton/Weinzierl: What is ›Post-subcultural Studies‹ Anyway?, S. 4. 51 Vgl. Maase: BRAVO Amerika; ders.: Die Schönheiten des Populären.
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Paris und im Hamburg der 1940er Jahre wurden von der Gestapo verfolgt und mit KZ bedroht und in der Jugendsubkultur so genannter »wilder Cliquen« bzw. »Edelweißpiraten« erwuchs in vielen Fällen aus dem abweichenden Stil eine politische Opposition gegen den Nationalsozialismus bis hin zu gewaltsamem Widerstand.52 Auch in den staatssozialistischen Diktaturen wurde anhand zahlreicher Fälle belegt, wie Akteure aus Jugendkulturen für ihre kulturelle Freiheit Gefängnis in Kauf nahmen und in Einzelfällen sogar mit dem Leben bezahlten.53 Außerhalb der historischen Jugendforschung hat das Subkultur-Konzept in der deutschen Zeitgeschichte dennoch vergleichsweise wenig Anklang gefunden54, auch wenn von dem Terminus zunehmend selbstverständlich Gebrauch gemacht wird, meist jedoch ohne den dazugehörigen theoretischen Überbau zu rezipieren.55 Anstatt sich auf Konzepte der Cultural Studies zu beziehen, hat sich die Zeitgeschichte eher an »Theorien mittlerer Reichweite« orientiert, etwa dem Komplex der Amerikanisierung, der Konsum- bzw. der Protestgeschichte, dem Generationenmodell oder der Frage nach einem Wertewandel. Popkulturelle Artikulationen wurden dabei allzu oft als bloße historische Vorstufe des Politischen verstanden, das schließlich im manifesten Protest der Achtundsechziger zeithistorisch »relevant« wird, während zeichenhafte Differenzen und weniger artikulierte Abweichungen der mittleren und unteren Schichten weniger Beachtung fanden als etwa der Studentenprotest der Bildungsschicht (der viele Forscher selbst entstammen). Jüngere Arbeiten zu alternativen Lebensstilen geben dem Begriff des »Milieus« den Vorzug, der weniger hierarchisch als das auf Hegemonie gegründete Subkultur-Konzept ist und weniger an Konflikten orientiert als das dezidiert politische Modell der Counter Culture.56 Auch die Begriffe »Szene« und – in jüngster Zeit vermehrt – »Netzwerk« konkurrieren mit den Subkulturmodellen, sind aber offener angelegt. Wie die steile Begriffskarriere der imagined communities beispielhaft zeigt,
52 Vgl. etwa Lindner: Die Wilden Cliquen; Pohl: »Schräge Vögel«. 53 Vgl. etwa Klier: Michael Gartenschläger. 54 Bis auf wenige Ausnahmen, vgl. etwa Poiger: Jazz, Rock, and Rebels, S. 10; Siegfried: Time is on my Side, S. 27, 365, 592, 737. 55 So etwa: Wolfrum: Geglückte Demokratie, S. 164; Wehler: Bundesrepublik, S. 160, 167, 203. 56 Vgl. etwa: Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft, S. 38 f.
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besteht aber noch immer Bedarf an Modellen für Prozesse kultureller Gruppenbildung, die ein Kernproblem von Gesellschaftsgeschichte bleiben. Die Geschichtsschreibung entdeckt daher zunehmend die Mitglieder distinkter Minderheiten als handelnde Akteure ihrer historischen Tableaus, etwa Hip-Hopper in der DDR oder afrokaribische Körperdiskurse in postkolonialen Gesellschaften. 57 Auch die für die noch zu schreibende Geschichte der Computerisierung unverzichtbare Analyse der subversiven Ethik der Hacker-Kultur kann von Modellen der Sub- bzw. Gegenkultur profitieren. 58 Eine von der Semiotik inspirierte Lesart nicht-sprachlicher Zeichen könnte auch zur oft proklamierten (und selten eingelösten) Überwindung der Fokussierung auf Schriftquellen beitragen, indem sie den Blick etwa auf vestimentäre Zeichen lenkt, ebenso wie sich historische Sound Studies und die Visual History bereits erfolgreich um die Interpretation audio-visueller Informationen bemühen.59 Wenn solche Perspektivierungen geeignet sind, insbesondere marginalisierte Gruppen als Akteure historischer Prozesse zu identifizieren und ihnen (ähnlich wie die Alltags-, die Sozial- oder die Geschlechtergeschichte) mehr Handlungsmacht einzuräumen, so reicht dies freilich nicht aus. Neben dieser eher konsumentenzentrierten Perspektive muss auch der Brückenschlag zur Ebene der Produktion von Kultur geleistet werden, etwa zur Musik- oder Modeindustrie. Um die alten Antagonismen zwischen einer vorwiegend auf die Produktion und einer auf den Konsum konzentrierten Forschung zu überwinden60 – und damit das alte Schisma der Popkulturforschung –, müssen die Übergänge zwischen diesen vermeintlich getrennten Sphären analysiert werden: auf Konsumentenseite etwa in der Figur des »Prosumenten«, der einen kreativen Konsum pflegt und sich – im Sinne Michel de Certeaus – durch einen »listenreichen Umgang mit den Produkten« auszeichnet, etwa in der Praxis des Re-Mixens, bei der aus kulturhistorischen Artefakten neue Produkte erschaffen werden.61 Aber auch auf Seite der Produktion spielen aus der Subkultur rekrutierte Akteure eine immer
57 Vgl. Schmieding: »Das ist unsere Party«; Kusser: Körper in Schieflage. 58 Vgl. Danyel: Zeitgeschichte der Informationsgesellschaft. 59 Vgl. Morat: Sound Studies; Paul: Visual History. 60 Zur produktionsorientierten Perspektive vgl. den Beitrag von Klaus Nathaus im vorliegenden Band. 61 De Certeau: Kunst des Handelns.
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größere Rolle. Mit dem (sub)kulturellen Kapital distinkter Kennerschaft ausgestattete Agenten vermittelten zwischen beiden Sphären und brachten neue Berufe hervor: Diskjockeys, Trend-Scouts, Popkritiker, Konzertveranstalter und Band-Manager prägten zunehmend das kulturelle Feld in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus historischer Perspektive muss man trotz solcher Chancen die tendenziell ahistorischen kulturwissenschaftlichen Theoriebildungen in ihrer Entstehungszeit verstehen. Die mit vergleichsweise wenig Abstand zu den Ideologien des Zeitalters der Extreme entstandenen Großtheorien erscheinen immer mehr als zeitgebundene Phänomene, die ihrerseits nach Historisierung verlangen. So zutreffend manche Annahmen zu Beginn des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts noch gewesen sein mögen, so sehr zeigt die weitere historische Entwicklung, dass sie sich nicht a priori zur überzeitlichen Generalisierung eignen. Anglo-amerikanische Popmusik etwa mag um 1965 noch weitgehend ein Jugendphänomen gewesen sein (und schon weit weniger eines von Klasse als noch wenige Jahre zuvor), doch stellen in den auch demographisch veränderten westlichen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhundert längst nicht mehr Jugendliche, sondern Über-Vierzigjährige die Mehrheit der Popmusikkäufer. Auch muss in einer Zeit, in der die Sozialisation mit anglo-amerikanischen musikalischen und textilen Moden mittlerweile alle lebenden Generationen erfasst hat, die Frage nach dem abweichenden – in der Terminologie der Cultural Studies: widerständigen – Potenzial popkultureller Sozialisation anders gestellt werden. Wenn etwa die Beobachtung mancher Soziologen zutrifft, dass sich die Gesellschaft auf Ebene der Lebensstile weniger hierarchisch als vorangegangene darstellt und die Individualisierung bei gleichzeitiger Toleranz gegenüber Abweichlern gestiegen ist62, dann taugen popkulturelle Zeichen nur noch bedingt als Äußerungen von Protest. In einer Moden gegenüber weitgehend toleranten Gesellschaft, die Jeans und unkonventionelle Frisuren für geschäftstauglich erachtet und auch mit dissonanten Klängen kein grundsätzliches Problem mehr hat, sind womöglich Kulturen der Intoleranz die eigentlichen Subkulturen. Diese These scheinen etwa die bewussten Subkultur-Anleihen von Neo-Nazis seit den achtziger Jahren zu belegen, die mit camouflierter Markensymbolik politisch codierten Widerstand ge-
62 Etwa die weniger hierarchische Modellbildung in Schulze: Erlebnisgesellschaft.
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gen hegemoniale Toleranz-Einstellungen ausdrücken.63 Um solche grundsätzlichen Verschiebungen in den Blick zu nehmen, muss eine zeithistorisch informierte Popforschung statische Dichotomien überwinden – und vermeintliche politische Gewissheiten hinter sich lassen. Nicht nur künstlerische Avantgarden, sondern auch Massenphänomene wie Schlager oder Volksmusik verdienen die Aufmerksamkeit einer breit aufgestellten historischen Popforschung, die unter dem Paradigma des »Sub« allzu oft auf spektakuläre Konflikt- und Kleinstkulturen verengt war und damit nur wenig repräsentativ für ein Gesamtbild von Pop. Will die Geschichtsschreibung Pauschalisierungen vermeiden, so muss sie jedoch auch solche Akteure in den Blick nehmen, die sich jenseits des Mainstreams bewegten oder sogar den Trends der jeweiligen Epoche zuwider liefen. Dafür wird es weiterhin Modelle für abweichende Gruppenbildungen brauchen.64 Ansätze zu einer Geschichtsschreibung »subalterner« Gruppen werden daher auch künftig eine Rolle in der Pop- wie in der Zeitgeschichte spielen: Geschmacksavantgarden müssen ebenso berücksichtigt werden wie unterdrückte Minderheiten, die als Gradmesser der Toleranz von Gesellschaften dienen.65 Um diese Modelle den veränderten historischen Kontexten anpassen und sie bestenfalls weiterentwickeln zu können, ist es hilfreich, ihre eigene Theoriegeschichte zu kennen.
L ITERATUR Back, Les: New Ethnicities and Urban Culture: Racisms and Multiculture in Young Lives, London: UCL Press 1996. Bennet, Andy: Popular Music and Youth Culture: Music, Identity and Place, Basingstoke u.a.: Palgrave 2000.
63 Etwa mit der 2002 gegründeten Modemarke Thor Steinar. Bereits Mitte der Neunziger wurde am »Symptom der rechten Jugendszene« das »Ende der Jugendkultur, wie wir sie kennen« ausgerufen. Vgl. Editorial, in: Die Beute 4/94 (Themenheft Subkultur), S. 2; sowie Diederichsen: The Kids are not alright. 64 Vgl. Hierzu auch: Mrozek: Popgeschichte; ders.: Panic on the Streets. 65 Dies betrifft auch den Umgang mit sexuellen Abweichlern, etwa queeren Subkulturen in homophoben Gesellschaften, aber auch Subkulturen des Missbrauchs.
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Auf der Suche nach dem Publikum Popgeschichte aus der »Production of Culture«Perspektive K LAUS N ATHAUS
Ein Historiker, der vor 30 Jahren eine Geschichte der Populärmusik im 20. Jahrhundert hätte schreiben wollen, wäre in seiner Disziplin wohl in den Verdacht geraten, er wolle sein Hobby zum Beruf machen. Solche Vorbehalte sind einer Anerkennung der historischen Relevanz des Gegenstandes »Populärkultur« gewichen. Dies ist zum Teil ein Resultat des cultural turn, dessen Vertreter und Vertreterinnen Fragen nach Wahrnehmungs- und Deutungsmustern historischer Akteure und der kulturellen Repräsentationen auf die historiographische Agenda setzten und diese Aspekte bevorzugt an »weichen« Themen jenseits von Politik und Wirtschaft untersuchten. Vor allem aber scheint sich die gewachsene Akzeptanz des Gegenstands dem Umstand zu verdanken, dass er über Fragestellungen und Narrative erschlossen wurde, die in der Politik- und der Sozialgeschichte entwickelt worden waren und zu Ergebnissen führten, mit denen sich an die »allgemeine Geschichte« anschließen ließ. So wurde Populärkultur entweder als Manifestation politisch-kultureller Vorstellungen untersucht, die das politische Handeln ihrer Trägergruppe leiteten und dadurch zur Erklärung politischer Entwicklungen herangezogen werden können.1 Oder sie wurde als »Kampf1
Vgl. etwa die von Werner Faulstich herausgegebenen Bände zur Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts; Hornberger: Geschichte wird gemacht; Fifka: Rockmusik in den 50er und 60er Jahren.
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platz« betrachtet, auf dem Klassen, Geschlechter, Alterskohorten und Subkulturen um kulturelle Hegemonie stritten. Populärkultur gilt in dieser Sicht häufig als Mittel, mit dem ihre Anhänger ihre Autonomie gegen Bevormundung behaupteten und »Eigensinn« in der Ästhetisierung ihrer Lebenswelt bewiesen.2 Zuweilen stößt man aber auch auf die skeptische Position, nach der vordergründige Emanzipationsgewinne lediglich subtilere Zwänge verschleierten und tiefer wirkende Disziplinierungen implementierten. In dieser, an die Dialektik der Aufklärung erinnernden Erzählung half Populärkultur einem »neuen Geist des Kapitalismus«, sich der Köpfe und Herzen ihrer Anhänger zu bemächtigen.3 Bei allen Unterschieden in ihrer Bewertung des Populären ist diesen Ansätzen gemein, dass sie Populärkultur als eine Art von Öffentlichkeit behandeln, in der Normen und Werte repräsentiert, einsozialisiert oder ausgehandelt wurden. Grundlegend ist die Annahme, dass in der Teilhabe an Populärkultur prinzipiell jeder bestimmte, im besten Fall seine eigenen Vorstellungen vom Wahren, Schönen und Guten kohärent zum Ausdruck bringe und dass sich mittels der Analyse von Bedeutungsmustern und Praktiken allgemein geteilte verhaltensleitende Dispositionen herausschälen lassen. Zu fragen ist jedoch, ob diese Herangehensweise dem Gegenstand gerecht wird. Werden die Besonderheiten und die eigenen Entwicklungsdynamiken populärkultureller Phänomene in Rechnung gestellt, wenn man sie als Manifestation von Verhaltensdispositionen konzipiert? Und wie wird sich die noch im Entstehen begriffene Popgeschichte zu dieser Herangehensweise positionieren? Wird sie mehr leisten, als den Gegenstand »Populärkultur« für die Analyse unter den in der Disziplin jeweils angesagten Forschungsansätzen – gestern politische Kultur und »Eigensinn«, heute Konsum, Generationen, Bildlichkeit, Körper und Emotionen – zu empfehlen? Vermag sie das sachlich, zeitlich und sozial Spezifische von »Pop« zu fassen? Weit davon entfernt, diese Fragen abschließend beantworten zu wollen, möchte der vorliegende Artikel mit einem Plädoyer für eine gegenstandsbezogene Herangehensweise an das Thema Pop zu der erst beginnenden Diskussion um Popgeschichte beitragen. Er problematisiert zunächst einmal
2
Maase: BRAVO Amerika; ders. (Hg.): Die Schönheiten des Populären; Hüser: RAPublikanische Synthese; Ross: Media and the Making of Modern Germany.
3
Malinowski/Sedlmaier: »1968« als Katalysator; Holert/Terkessidis (Hg.): Mainstream der Minderheiten.
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die oben skizzierte Perspektive, den gesellschaftlichen Umgang mit populären Musikrichtungen, Filmen oder Kleidermoden als Abstimmung über kollektive Leitideen, als Diskurs über Normen oder als Ausdruck verhaltensprägender Mentalitäten zu betrachten, als zu einfach. Denn diese Sichtweise blendet aus, dass das populärkulturelle Repertoire der Klänge, Bilder, Objekte und Ereignisse, das Popphänomene erst ermöglichte, eben nicht als eine Art »Folklore der Industriegesellschaft«4 einer allgemeinen sozialen Praxis entsprang oder eine vorab gegebene Nachfrage befriedigte, sondern das Resultat höchst kontingenter, arbeitsteiliger und eigendynamischer Produktionsprozesse darstellt, die in modernen Gesellschaften Spezialisten übertragen sind und vorrangig über Massenmedien geschehen. Diese Vermitteltheit des Repertoires ist, so argumentiert der vorliegende Beitrag, die Grundbedingung von Populärkultur im 20. Jahrhundert. Sie ernst zu nehmen erfordert, die bislang noch wenig untersuchte Anbieterseite von Populärkultur in den Blick zu nehmen und bei der Erforschung von Pop von einer eigendynamischen Angebotsentwicklung auszugehen. Der erste Teil des folgenden Beitrags stellt dazu die »Production of Culture«Perspektive als einen Ansatz vor, der fragt, wie die Interaktion von Kulturproduzenten und -vermittlern unter den für »kulturelle Produktionssysteme« maßgeblichen Strukturbedingungen die massenhaft zirkulierenden Inhalte prägte. Diese Perspektive bietet zunächst einmal einen Analyserahmen zur Erforschung von Prozessen der Produktion und Vermittlung von Kulturinhalten, die jedem Popphänomen vorangehen. Der zweite Teil befragt die Repertoireentwicklung auf ihre gesellschaftlichen Folgen und skizziert, welche Periodisierungen und Hypothesen sich für eine Popgeschichte aus der »Production of Culture«-Perspektive ergeben. Für zentral erachtet er die Verknüpfung zwischen kommerzieller Massenkultur und der Identität von Künstlern und Rezipienten. Diese ermöglichte erst die Rede von »authentischer« Populärkultur und bildete die Folie, vor der die Etablierung neuer Identitäten im Medium der Massenkultur als provozierende Abweichung wahrnehmbar wurde. Die Verknüpfung von Populärkultur und Identität geschah zumindest im US-amerikanischen Fall um 1900 und löst sich im Zuge einer explosionsartigen Zunahme von Subkulturen, Szenen oder Lifestyles seit der Wende zu den 1980er Jahren auf, wodurch eine Periode der Popgeschichte zum Abschluss kam. In der Forschung wird die
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Levine: The Folklore of Industrial Society.
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Verbindung von Populärkultur und Identität zumeist als Resultat des Ausdrucksstrebens von Minderheiten betrachtet. Aus der Produktionsperspektive dagegen erscheint sie primär als Ergebnis einer fortschreitenden Ausdifferenzierung des populären Repertoires in Genres, mit denen die Anbieter von Populärkultur – ohne den Prozess zentral zu steuern – für Vergesellschaftung folgenreiche soziale Klassifikationen durchsetzten.
P OPULÄRKULTURELLER R EPERTOIREWANDEL AUS DER »P RODUCTION OF C ULTURE «-P ERSPEKTIVE Die »Production of Culture«-Perspektive beschäftigt sich mit der Frage, in welcher Weise Kulturinhalte vom Musikgenre bis zum kulinarischen Trend geprägt werden von den »Systemen«, in denen sie hergestellt, verbreitet, bewertet und konserviert werden.5 Der Begriff »System« steht zunächst einmal für das Zusammenspiel spezialisierter Kulturanbieter, die auf die Vorauswahl, Herstellung, Verbreitung und Interpretation von Inhalten Einfluss nehmen. In der Populärmusik beispielsweise waren dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem Musikverleger, A&R-Manager in Tonträgerfirmen, Musikproduzenten, Studiotechniker und -musiker, das Personal von Marketing- und Vertriebsabteilungen, Musikredakteure in Funk und Fernsehen, Groß- und Einzelhändler, Marktforscher und Kritiker. Die Interaktion zwischen diesen Spezialisten ist Strukturbedingungen unterworfen, zu denen unter anderem das Urheberrecht und die Verfügbarkeit von Verbreitungstechnologien, die Beziehungen zwischen kulturproduzierenden Unternehmen, die professionelle Sozialisation der Akteure, die Organisation von betrieblichen Entscheidungsabläufen und die gängigen Annahmen über die Nachfrage zählen. Die »Production of Culture«Perspektive geht davon aus, dass diese Strukturbedingungen das Handeln von Kulturproduzenten – und dadurch schließlich auch die Inhalte – stärker beeinflussten als allgemeingesellschaftliche Großtrends (wie Demographieentwicklung, Wertewandel, sozioökonomische Veränderungen) oder politische und wirtschaftliche Zäsuren (etwa Kriege, Regierungswechsel, Wirtschaftskrisen), auf die kultureller Wandel üblicherweise zurückgeführt wird.
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Peterson/Anand: The Production of Culture Perspective.
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Die »Production of Culture«-Perspektive kristallisierte sich in der US-amerikanischen Soziologie Mitte der 1970er Jahre zu einem eigenständigen Ansatz heraus und entwickelte sich dort zu einer vorherrschenden Forschungsrichtung der Kultursoziologie. In Europa hingegen wurde der Ansatz bislang selten rezipiert.6 Dies mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass in der Alten Welt die Kritische Theorie bis in die 1980er Jahre prägend blieb und auch die Zuständigkeit für die Erforschung der »Kulturindustrie« beanspruchte. Zu deren Verständnis hat sie indes de facto wenig beigetragen. Denn die Kritische Theorie betrachtet die massenhafte Herstellung und Verbreitung kommerzieller Kulturinhalte als einen Automatismus, der von der Basisstruktur der kapitalistischen Gesellschaft in Gang gehalten wird. Da der Ansatz voraussetzt, dass sich die »Kulturindustrie« im Gleichschritt mit dem Kapitalismus entwickelt und sich durch die Analyse rein ökonomischer Gesetzmäßigkeiten begreifen lässt, sind die Ergebnisse kritischer Studien zur Populärkultur eher dürftig, sofern man sich für die konkreten Abläufe von Kulturproduktion interessiert. Den Apparat der »Kulturindustrie« auf seine Eigenheiten hin zu untersuchen und nach den Handlungsmöglichkeiten der involvierten Akteure zu fragen, schien der Kritischen Theorie kaum der Mühe wert und lag auch nicht im pädagogischen Interesse, dem sich die Frankfurter Schule verpflichtet hatte und das ihren Untersuchungen die immer gleiche Pointe von der Enthüllung des »Massenbetrugs« vorgab.7 Die Kritische Theorie vernachlässigte aber nicht nur die agency von Kulturproduzenten, sondern auch die der Rezipienten. An diesem Punkt formierte sich die Gegenbewegung, welche die europäische sozialwissenschaftliche und historiographische Forschung von Populärkultur seither im hohen Maße prägt. Nachhaltig stellten vor allem die Cultural Studies die Manipulationsthese der Kritischen Theorie in Frage und bemühten sich um den Nachweis, dass sich Rezipienten nicht von den Botschaften der Massenkultur blenden lassen, sondern in produktiver Aneignung einen eigenen Sinn erzeugen. Die kulturkritische Vogelschau der Frankfurter Marxisten wich einer hoffnungsfrohen Untersicht der Birminghamer Neomarxisten, die ein ums andere Mal in der Praxis der Rezipienten Akte der Autonomie
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Gebesmair: Die Erfindung der Hochkultur.
7
Beispielhaft Kayser: Schlager; Mezger: Discokultur. Grundlegend Horkheimer/ Adorno: Dialektik der Aufklärung.
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und des Widerstands ausmachten.8 Der auch in der Geschichtswissenschaft einflussreiche Ansatz der Cultural Studies verlagerte den Fokus ganz auf die Konsumenten als die »eigentlichen Produzenten« von Kultur. Die Produktionsseite wurde dabei mit dem pauschalen Begriff des »Machtblocks« belegt und blieb folglich ebenso diffus wie in der Kritischen Theorie, mit dem Unterschied, dass sie dort das Bewusstsein der Rezipienten steuert, während sie hier die Folie bildet, vor der sich die Widerständigkeit des »aktiven Publikums« abzeichnet. Weiterhin vernachlässigt blieben die Akteure, Strukturen und Prozesse der Herstellung massenkultureller Inhalte, sieht man einmal ab von Ausnahmen wie den soziologischen Studien von Simon Frith und Keith Negus. Diese Autoren brachten ihre persönliche Erfahrung als Musiker und Kritiker in die Wissenschaft ein. Obwohl ihre Arbeiten mitunter historisch ausgerichtet sind und Interesse an der Zusammenarbeit mit der Geschichtswissenschaft bekunden9, hat die interdisziplinäre Zusammenarbeit noch kaum begonnen. Kehren wir zurück in die USA. Dort ähnelte Anfang der 1970er Jahre die Ausgangslage in der sozialwissenschaftlichen Kulturforschung der in Europa noch insofern, als die dominierenden Ansätze ein Korrespondenzverhältnis zwischen Kultur und Gesellschaft unterstellten und davon ausgingen, dass man zum Verständnis von Gesellschaften Symbole als Manifestation von Normen, Werten und mentalen Weltbildern interpretieren müsse. Die Vertreter der entstehenden »Production of Culture«-Perspektive machten demgegenüber darauf aufmerksam, dass die konkreten Mechanismen, in denen Gesellschaften leitende Ideen hervorbringen bzw. umgekehrt Kultur Gesellschaft prägen sollte, im Dunkeln blieben. Tatsächlich würden, so der Einwand, Kultur – definiert als kohärentes Set verhaltensleitender Vorstellungen – und Gesellschaft lediglich durch Korrelationen und Analogiebildung freihändig miteinander in Beziehung gesetzt. Die Verfechter der »Production of Culture«-Perspektive zogen daraus den Schluss, die immateriellen Aspekte von Kultur zunächst auszublenden und sich stattdessen auf die beobachtbaren Prozesse der Entstehung und des Wandels der materiellen Ausdrucksseite (bezeichnet als »expressive symbols«) zu konzentrieren. Denn die allgemein verbreiteten Symbole wie Rock’n’Roll-Schall-
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Im Überblick Marchart: Cultural Studies.
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Frith: Sociology of Rock; ders.: The Industrialization of Popular Music; ders.: Music industry research; Negus: Producing Pop.
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platten, Superhelden-Comics und Wild-West-Filme emergierten ja nicht irgendwie, sondern wurden von bestimmten Personen in bestimmten Strukturzusammenhängen »gemacht«. Dieses »Machen« von Kulturinhalten erforschte die »Production of Culture«-Perspektive mit den damals hoch im Kurs stehenden organisations-, industrie- und arbeitssoziologischen Methoden und Modellen. Der Ansatz reformulierte »Kultur« als organisationssoziologisches Problem und trug dadurch zu einer »Neubelebung« des Themas innerhalb einer Soziologie bei, die sich als »harte« Wissenschaft profilierte und dabei von der als »weich« geltenden Kultur abgewandt hatte.10 Der exklusive Fokus auf Content und die bewusste Ausblendung des Bedeutungsaspekts von »expressive symbols« provozierten im Lauf der Zeit wirkmächtige Kritik, welche die Vertreter der »Production of Culture«-Perspektive in den vergangenen 15 Jahren veranlasste, sich um die Einbeziehung von »meaning« und »reception« zu bemühen. Bevor ich auf die diesbezüglichen Erweiterungen eingehe, will ich zur Veranschaulichung der Perspektive ein Fallbeispiel skizzieren, ganz im Sinne des Ansatzes, der nicht als Kulturtheorie, sondern als Perspektive zur Orientierung empirischer Studien verstanden werden wollte. Zur Illustration bietet sich Richard A. Petersons Artikel Why 1955? an, der den Aufstieg des Rock’n’Roll in den USA Mitte der 1950er Jahre von der Anbieterseite her nachvollzieht.11 Peterson war bis zu seinem Tod 2010 derjenige, der regelmäßig Fallstudien des Forschungsfeldes zusammenführte und aus zum Teil verstreuten Arbeiten eine übergreifende Perspektive profilierte.12 Anhand einer Auswertung der Billboard-Popularity-Charts konstatiert Peterson zunächst, dass Rock’n’Roll-Musik in einem Zeitraum von zwei, drei Jahren um 1955 ihren Durchbruch erfuhr. Hatten Ende der 1940er Jahre noch die vier führenden Schallplattengesellschaften RCA, Columbia, Capitol und American Decca 80 Prozent der meistverkauften Titel herausgebracht, war ihr Anteil an den Hits zehn Jahre später auf ein Drittel gefallen. Kleine Produktionsfirmen hatten Marktanteile erobert mit Musik, die sich vom weichgespülten Big-Band-Jazz und samtigem Gesang durch härtere, aggressive Sounds abhob. Die musikwirtschaftliche und stilistische Wach-
10 Peterson: Revitalizing the Culture Concept. 11 Peterson: Why 1955? 12 Bennett: Richard A. Peterson; Santoro: Culture as (and after) Production.
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ablösung fiel in die politisch-kulturell vergleichsweise ereignisarme Periode der Eisenhower-Präsidentschaft und datierte auf einen Zeitpunkt, an dem die Baby-Boomer-Generation noch die Grundschule besuchte. Da politische Ereignisse und Demographieentwicklung den raschen Aufstieg der Rockmusik also nicht zu erklären vermögen, sucht Peterson auf der Angebotsseite nach Faktoren, die diese Entwicklung beförderten. Er untersucht das Zusammenspiel der wichtigsten Akteure der Musikproduktion und -verbreitung und berücksichtigt dabei den Einfluss von Strukturbedingungen, welche den Handlungsraum der Beteiligten begrenzten. Peterson unterscheidet sechs Strukturdimensionen: • • • • • •
Recht und Regulierung (z. B. das Urheberrecht und die Rundfunkregulierung) Technologie (etwa das Auftauchen neuer Kommunikationsmedien) Industriestruktur (das Verhältnis zwischen musikproduzierenden und -verbreitenden Firmen) Organisationsstruktur (Hierarchien und funktionale Differenzierung in einzelnen Unternehmen) professionelle Sozialisation (Ausbildung und berufliche Erfahrungen, die das Selbstbild und das Verhalten von Kulturproduzenten prägten) Marktperzeption (die Annahmen der Anbieter über die Präferenzen von Musikkonsumenten).
Die sechs »Facetten« sind aufeinander bezogen. Beispielsweise zieht die Etablierung einer neuen Verbreitungstechnologie neue Regulierungen nach sich, die Beziehungen zwischen Organisationen verändert und neuen Vorstellungen von Professionalität und vom Publikum zum Durchbruch verhilft. Die grundlegende Annahme der Perspektive besagt, dass die Strukturbedingungen das Zusammenspiel der Produzenten strukturierten und dadurch den resultierenden Content prägten. Im vorliegenden Fall gaben technologische Neuerungen wichtige Anstöße zu Veränderungen in der Musikbranche. Erstens zog das Fernsehen, das in den 1950ern zum neuen Medium der Familienunterhaltung avancierte, einen Großteil des Publikums, der Werbegelder, der technischen Infrastruktur und des Personals vom Radio ab, wodurch sich die Position dieses für die Musikverbreitung wichtigsten Mediums in der Unterhaltungsindustrie verschob. Zweitens eröffnete die Erfindung der Vinylschallplatte, die
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leichter zu transportieren war als die bruchanfälligen Schellack-Scheiben, neuen unabhängigen Großhändlern den Marktzugang. Drittens schuf die Verfügbarkeit erschwinglicher Transistorradios die Bedingung dafür, dass innerhalb der Familien zeitgleich unterschiedliche Musik gehört werden konnte – eine wichtige Voraussetzung für die Adressierung eines jugendlichen Zielpublikums. Die Rolle des Radios in der Musikvermittlung wandelte sich ferner durch rechtliche Veränderungen, die schon einige Jahre zuvor in Kraft getreten waren und sich in der Konkurrenzsituation mit dem Fernsehen als folgenreich erwiesen. 1947 hatte die für die Vergabe von Sendelizenzen zuständige Behörde begonnen, zahlreiche im Krieg unbearbeitet gebliebene Anträge abzuarbeiten, und dabei relativ freigiebig Lizenzen erteilt, mit dem Ergebnis, dass Mitte der 1950er noch mehr kleine Sender um schrumpfende Werbeetats kämpften. Am Vorabend des Rock’n’Roll-Booms benötigten Radiosender billigen Content, kleine Plattenfirmen konnten dank unabhängiger Zwischenhändler Tonträger in die Läden bringen, und Empfangsgeräte eröffneten den Zugang zu differenzierteren Hörergruppen. Die Bedingungen für einen Umbruch in der Musikwirtschaft waren gegeben. Doch warum profitierten gerade Rock’n’Roll-Produzenten von der Situation? Eine wichtige Voraussetzung für die Präsenz der Macher dieser Musik war mit der Gründung einer zweiten Verwertungsgesellschaft, Broadcast Music, Inc. (BMI), im Jahr 1939 gegeben, die Verlegern, Komponisten und Autoren von bis dahin ausgegrenzten Genres wie Race, Hillbilly, Jazz und Latin die Möglichkeit eröffnete, aus der öffentlichen Aufführung ihrer Schöpfungen Tantiemen zu beziehen. Zuvor hatte die American Society of Composers, Authors and Publishers (ASCAP), welche die Werke der genannten Richtungen nur in Ausnahmen in ihren Katalog aufnahm und deren Autoren mit geringen Tantiemensätzen abspeiste, als einzige Urheberrechtsvereinigung Musikverbreitern Lizenzen zur Nutzung ihres Repertoires erteilt. Die ASCAP nahm faktisch eine Monopolstellung ein, was bedeutete, dass allein die ihr angeschlossenen Bezugsberechtigten von ihren Einnahmen profitierten und umgekehrt die Musiknutzer geringes Interesse hatten, zusätzliche Musik neben dem erwiesenermaßen zugkräftigen ASCAP-Repertoire ins Programm zu nehmen. Dieses Repertoire bestand weit überwiegend aus den Nummern der etablierten New Yorker Musikverlage und umfasste neben Standardtiteln der Tanz- und Unterhaltungsmusik die bekannten Filmmelodien und großen Plattenhits. Als die ASCAP
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1939 die Gebührensätze deutlich erhöhte, formierte sich Widerstand in der Radiobranche, welcher zur Gründung von BMI führte. Die Gesellschaft musste schnell einen Katalog aufbauen und verhalf dadurch den Verlegern und Songschreibern in bis dahin marginalisierten Genres Zugang zu Aufführungsgebühren als Einnahmequelle. Zwar einigten sich Radioindustrie und ASCAP ein Jahr später, doch BMI hatte sich in der Zwischenzeit konsolidiert und bot in den Folgejahren Autoren »alternativer« Musik eine Einkommensquelle. Um den Aufstieg der Rock’n’Roll-Produzenten weiter zu erklären, verweist Peterson auf die Unterschiede in der Unternehmensorganisation, den Marktvorstellungen und den professionellen Rollen zwischen Platten-Majors und Radiosyndikaten einerseits und den »Independents« und kleinen Sendern andererseits. Wichtig war erstens, dass die großen Plattenfirmen Mitte der 1950er Jahre noch annahmen, dass die für die Hörer kostenlose Ausstrahlung ihrer Titel im Radio dem Schallplattenverkauf schadete. Während sie die Sendung ihrer Schallplatten aus dieser Überlegung heraus untersagten, begannen die »Indies« damit, ihre Aufnahmen den Radiostationen unentgeltlich zur Verfügung zu stellen und sogar für das Abspielen zu bezahlen. Auf diese Weise fanden sie vor ihren großen Konkurrenten heraus, dass die Verbreitung über den Äther die beste Werbung für den Schallplattenverkauf war. Vor dem Hintergrund der medienökologischen Turbulenzen der 1950er Jahre kamen den kleinen Unternehmen ihre flexible Organisationsstruktur sowie das professionelle Selbstverständnis ihres Personals zugute. In den großen Firmen orientierte sich das Personal an komplexen Hierarchien, formalisierten Abläufen und professionellen Routinen, weshalb Entscheidungen gewissermaßen bürokratisch getroffen und Musik »handwerklich« produziert wurde. Dagegen hatten bei den »Indies« Unternehmer und showmen das Sagen. So waren kleine Firmen eher als die starr organisierten Majors in der Lage, schneller auf das zu reagieren, was sie als Veränderungen der Nachfrage beobachteten. Studien wie Why 1955? nehmen Episoden des kulturellen Wandels in den Blick, der sich in Veränderungen auf der Ebene des Contents abzeichnet. Diesen Wandel versuchen sie zu erklären, indem sie – soweit möglich – die Perspektive der an der Herstellung und Vermittlung dieses Contents Beteiligten einnehmen und ihr Verhalten mit Blick auf Möglichkeiten und Beschränkungen nachvollziehen. Dadurch werden Kausalbeziehungen er-
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kennbar, die über eine größere Plausibilität verfügen als bloße Korrelationen und Analogien zwischen Kulturinhalten und gesamtgesellschaftlichen Trends. In den Blick geraten Aspekte wie das Urheberrecht, die Medientechnologie sowie Arbeit und Organisationsentwicklung in den Kulturindustrien, die in der Geschichtswissenschaft allenfalls in Ansätzen untersucht wurden, deren Erforschung jedoch für das Verständnis des populärkulturellen Repertoirewandels bedeutsam ist. Die älteren Studien nach der »Production of Culture«-Perspektive offenbaren aber auch die Beschränkung des Ansatzes in seiner ursprünglichen Fassung, die sich aus der Ausblendung von Bedeutungsfragen ergibt. Peterson erklärt wohl, warum eine zuvor am Rand der Musikwirtschaft stehende Gruppe von Akteuren mit bestimmten Dispositionen in einer von Strukturverschiebungen geprägten Situation zum Zuge kam. Der Klang, der Look, die Bilder, Gesten, Praktiken, Verhaltensnormen, Sozialbeziehungen und Wertungen, die mit Rock’n’Roll einhergingen, blieben jedoch ausgeklammert, solange der Ansatz sich gegen konkurrierende Theorien profilierte. In dem Maße, in dem der cultural turn Fragen nach Wahrnehmungsweisen, Deutungsmustern und Praktiken auf die Agenda brachte, rief die Reduktion auf die materielle Seite von Kultur Kritik hervor, auf die Vertreter der Produktionsperspektive mit Erweiterungen reagierten. Zum einen zogen sie den Fokus von der jeweiligen »Industrie« auf »Felder« kultureller Produktion auf.13 Dadurch kamen weitere Intermediäre wie etwa Kritiker in den Blick, die nicht bloß mit kulturellen Objekten handelten, sondern an der Konstitution von Bedeutungen mitwirkten. Ein Beispiel sind Studien zum amerikanischen Kinofilm, an dessen Entwicklung in den 1950er und 1960er Jahren die »alte« Produktionsperspektive vor allem die Strukturverschiebungen vom Studiosystem zum Regiefilm interessiert hätte. Die Erweiterung des Fokus von der Industrie auf das Feld lenkte den Blick auf die kulturelle Aufwertung des populären Films zu einer Kunstform. Hatten zuvor die Stars und der eingängige Plot im Zentrum der Filmwerbung und der Rezensionen gestanden, legten Kritiker nun Kriterien wie gesellschaftspolitische Relevanz, Originalität oder ästhetische Komplexität an, die sie der Hochkultur entlehnten. Institutionell abgestützt wurde dieser Trend unter anderem durch Filmwettbewerbe, die ab den spä-
13 An diesem Punkt weist die Perspektive Überschneidungen mit Bourdieus Arbeiten zum kulturellen Feld auf. Vgl. Bourdieu: The Field of Cultural Production.
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ten Fünfzigern in amerikanischen Großstädten veranstaltet wurden, sowie die Einrichtung der ersten Film-Departments an US-amerikanischen Universitäten, die signalisierten, dass man das populäre Medium »ernsthaft« betrachten könne. Während sich unter dem Einfluss des Fernsehens einige Akteursgruppen vom Kinofilm abwandten, betraten Filmwissenschaftler und Kunstkritiker das Feld, in dem sie bei abnehmender Gegenwehr neue Maßstäbe und Deutungen zu etablieren vermochten. Die »Intellektualisierung« des Kinofilms wiederum hatte Auswirkungen auf seine Produktion, seine diskursive Rahmung sowie die Adressierung des Publikums.14 Über die Hinwendung zu Feldern und deren Bewertungskategorien bewegte sich die Produktionsperspektive auf den Aspekt der Rezeption zu, der dann über die Erforschung von Genres in den Gegenstandsbereich des Ansatzes hineingeholt wurde. Im Fall der Musik werden Genres definiert als »systems of orientations, expectations, and conventions that bind together an industry, performers, critics, and fans in making what they identify as a distinct sort of music.«15 Als »Bündel von Konventionen« sind Genres gleichermaßen relevant für die Anbieter und die Konsumenten von Kultur. In der Musik beispielsweise verständigen sich Komponisten und Musiker mittels Genreterminologie; Tonträgerfirmen unterhalten Abteilungen für einzelne Genres und Genregruppen, die von entsprechendem Personal mit jeweils eigenen Strategien produziert und beworben werden; Genrekategorien kanalisieren im Rundfunk, im Tonträgerhandel und auf dem Veranstaltungskalender das Angebot.16 Auf der anderen Seite suchen Hörer_innen ihre bevorzugte Musik mit Hilfe von Genrebezeichnungen und rezipieren sie oft in genrespezifischer Weise; man denke an das »Headbanging« von Metal-Fans, das beifällige Jauchzen nach der Soloeinlage beim Jazz oder die stille Kontemplation bei Philharmoniekonzerten. Genres beinhalten ästhetische Schemata, welche die Verknüpfung von Content mit Bedeutung ermöglichen, und bilden mithin eine wichtige Schnittstelle zwischen Produktion und Konsum. Die auch für Rezeptionsstudien interessante Frage, mit der sich die »Production of Culture«-Perspektive befasst, zielt auf die Institutionalisie-
14 Baumann: Intellectualization and Art World Development. 15 Lena/Peterson: Classification as Culture, S. 698. 16 Zur strukturierenden Kraft von Genres auf der Anbieterseite siehe etwa Negus: Music Genres.
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rung eben dieser Konventionen, die Produktion und Konsum übergreifen und für alle Beteiligten Kulturinhalte, Aneignungspraktiken, Interpretationsmuster und Wertungen als »angemessen« und »authentisch« für ein bestimmtes Genre erscheinen lassen. Die Perspektive betrachtet beispielsweise die Etablierung des strahlendweißen Cowboys als Personifikation des Stils, der auch als Hillbilly bezeichnet wurde, als höchst erklärungsbedürftig.17 Die entscheidenden Ursachen für die Herausbildung dieser und anderer kultureller Formen vermutet sie auf der Anbieterseite. Zugleich jedoch teilt die »Production of Culture«-Perspektive die Beobachtung, die rezeptionsorientierten Studien zu Grunde liegt, nach der Kulturkonsumenten sich letztlich ihren eigenen Reim auf das ihnen Gebotene machen. Sie begreift Untersuchungen zur Produktion und zur Rezeption als komplementär, beharrt aber darauf, dass die Analyse des gesamten Prozesses der Bedeutungserzeugung auf der Anbieterseite, bei den Entscheidungen der Kreativen und professionellen Vermittler über die Auswahl, Bearbeitung und Verbreitung von Repertoires zu beginnen habe. Zusammengefasst bietet die »Production of Culture«-Perspektive zwei grundlegende Erkenntnisse über das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft, die ein neues Nachdenken über Fragestellungen und Methoden der historischen Erforschung von Populärkultur nahelegen. Erstens haben Studien, die von der Anbieterseite ausgehen, gezeigt, dass sich Kulturinhalte vergleichsweise rasch und oft asynchron zu den bekannten politik- und sozialgeschichtlichen Wendepunkten massenhaft verbreiteten. Der Durchbruch des Rock’n’Roll im Jahr 1955 ist nur ein Beispiel dafür.18 Für geschichtswissenschaftliche Forschungen zum Thema bedeutet dies, dass sie nicht ohne weiteres von den politikgeschichtlichen Periodisierungen und Einschnitten ausgehen können. Stattdessen müssen sie die Eigendynamik der Kulturproduktion in Betracht ziehen und nach den dem Gegenstand eigenen Zäsuren und Entwicklungsverläufen fragen. Zweitens problematisiert der produktionsorientierte Ansatz das häufig unterstellte Wechselverhältnis von Kulturanbietern und -konsumenten, das in Begriffen wie dem des »Aushandelns« zum Ausdruck kommt. Wenn man mit der Produktionsperspektive die Sicht von Produzenten einnimmt,
17 Peterson: Creating Country Music. 18 Vgl. etwa Ohmann: Selling Culture; Manuel: Cassette Culture; Griswold: American Character.
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wird deutlich, dass diese stets in einer Gegenwart über ein Repertoire entscheiden, das erst in der Zukunft auf Resonanz stoßen kann, wobei ihnen lediglich Nachfragedaten und Erfahrungen aus der Vergangenheit zur Orientierung dienen können. Hinzu kommt, dass über das Publikum mannigfaltige und interpretationsbedürftige Informationen vorliegen, die durchaus keine Klarheit darüber schaffen über das, was die Leute wollen. Vielmehr nutzen einzelne Kulturanbieter diese Informationen als Ressource, um die eigene Position im Feld zu stärken. Wie empirische Studien aus der Soziologie zeigen, werden Marktforschungsdaten vor allem zur Legitimation von Entscheidungen herangezogen, wobei die interessierten Akteure jeweils diejenige Interpretation der Zahlen stark machen, die ihren eigenen Zwecken nützt.19 Beispielsweise konstruieren Lektoren in großen Buchverlagen, die ein Manuskript zur Veröffentlichung führen wollen, Ähnlichkeiten zwischen dem betreffenden Text und aktuell erfolgreichen »comp(arative) titles«, um eine intersubjektive Bewertung des Manuskripts im Kreis der Verantwortlichen zu ermöglichen und die notwendige Zustimmung weiterer Entscheidungsträger zu gewinnen.20 In solchen für den populärkulturellen Wandel zentralen Situationen ist die Ungewissheit der künftigen Nachfrage zunächst einmal das Ausgangsproblem, dem kulturproduzierende Organisationen mit Marktforschung, aber auch der Entscheidung für »Stars«, mit bewährten Genreformeln und dem Vertrauensvorschuss für Produktionserfahrung oder »track record« begegnen. Zugleich eröffnet die prinzipielle Unbekanntheit des Publikums, die aus der widersprüchlichen Vielfalt seiner fortlaufenden Beobachtung resultiert, Chancen, neue, noch unerprobte Repertoires und Formate durchzusetzen. Ein Beispiel: Die in schlecht beleumundeten Bars von Bands und Jukeboxen gespielte und vom Musikbusiness weitgehend ignorierte HonkyTonk-Musik rief in dem Moment breiteres Interesse in der Branche hervor, als die Aufsteller der Musikboxen über die in den Automaten eingebauten Zählwerke die Häufigkeit der Anwahl von Platten ermittelten und die Daten zu einer Hitliste zusammenstellten, die dann regelmäßig in der führenden Branchenzeitschrift Billboard veröffentlicht wurde. Der Nachweis eines substantiellen Publikums für eine Musik, die wegen ihres rauen Sounds und ihrer anstößigen Texte nicht im Radio gespielt wurde, bewog Plattenfirmen
19 Mit weiteren Hinweisen Napoli: Audience Evolution. 20 Childress: Decision-making, S. 614 f.
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dazu, vermehrt Schallplatten mit diesem Sound zu veröffentlichen.21 Honky Tonk ist ein Beispiel dafür, wie die quantitativ belegte Existenz eines Publikums Widerstände und Überzeugungen der etablierten Kulturproduzenten überwinden kann. Nach der »Production of Culture«-Perspektive existieren moderne Publika in zwei unterschiedlichen Aggregatzuständen. Zunächst einmal handelt es sich beim Publikum um leibhaftige Menschen, die an verschiedenen Orten der Welt in Kinos, vor Fernsehgeräten oder an Plattenspielern Kultur konsumieren und diese eigenwillig in ihr Leben einweben. Für Kulturproduzenten jedoch sind diese Menschen in der Vielfalt ihrer Bedürfnisse und Umgangsweisen mit Kulturinhalten nicht zu fassen. Im 20. Jahrhundert, in dem Kultur über eine zunehmende Zahl technischer Medien an ein tendenziell globales Publikum verbreitet wurde und die Beobachtung dieses Publikums mit jedem neuen Medium an Facetten gewann, vergrößerte sich der Abstand zwischen Anbietern und Nachfragern. Folglich orientieren sich Anbieter von Kulturinhalten an einem letztlich fiktiven Publikum, das sich in wechselnden Anteilen aus Ahnungen, Erfahrungen und systematisch erhobenen Daten zusammensetzt. Das Publikum beeinflusst also durchaus die Repertoireentwicklung, allerdings nur sehr indirekt als die Summe leibhaftiger Rezipienten. Den Ausschlag gibt vielmehr das von Kulturanbietern imaginierte Publikum, das man in der soziologischen Forschung deshalb auch als das »institutionell effektive Publikum« bezeichnet hat.22
P OPULÄRKULTUR ALS M OTOR SOZIALER D IFFERENZIERUNG : P OPGESCHICHTE VON DER A NGEBOTSSEITE Die »Production of Culture«-Perspektive unterbricht das häufig unterstellte Korrespondenzverhältnis zwischen Kultur und Gesellschaft bzw. Kulturanbietern und -konsumenten und gelangt so zu lokalen Erklärungen für kulturellen Wandel, der als Resultat des Zusammenspiels spezialisierter Produzenten unter den für sie leitenden Strukturbedingungen erkennbar wird. Die Frage, die sich nun stellt und auch für den heuristischen Wert der Perspek21 Rasmussen: »The People’s Orchestra«. 22 Ettema/Whitney (Hg.): Audiencemaking.
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tive für Popgeschichte von Interesse ist, lautet: Wie lassen sich unter Berücksichtigung der Eigendynamik der Angebotsentwicklung Populärkultur und Gesellschaft wieder verbinden? Die Antwort darauf lautet, Populärkultur als eigenständigen Faktor des gesellschaftlichen Wandels zu betrachten, der Konventionen der Bedeutung und der Aneignung von Content institutionalisiert. Populärkultur wirkt selbst strukturbildend, indem sie Repertoires von Sinndeutungen und Verhaltensweisen fixiert und verbreitet, Rezeptionskontexte eröffnet und imaginäre Publika adressiert. Die kulturellen Differenzierungen, welche die Produktion von Populärkultur durch die Institutionalisierung von Genres wie Jazz, Blockbuster-Filme oder Miniröcke etablierten, implizierten stets auch soziale Klassifikationen. Sie konfrontierten die Rezipienten mit Erwartungen und strukturierten so Selbst- und Fremdwahrnehmung im Umgang mit Kultur. Für die folgenden Überlegungen ist der Gedanke zentral, dass populärkulturelle Genres sich unter den Bedingungen moderner Kulturproduktion auf bestimmte Rezipientengruppen, mal »die Massen«, mal »Szenen«, bezogen und dadurch Publika konstituierten. Aus dieser Sicht lässt sich aus der »Production of Culture«Perspektive die auch für eine Popgeschichte relevante Frage stellen, welche sozialen Differenzierungen Populärkultur jeweils generierte und inwieweit sich diese neuen Differenzierungen zu etablierten gesellschaftlichen Ordnungen verhielten. Zu überlegen wäre, den Begriff »Pop« für solche Neuerungen zu reservieren, die durch ihre Andersartigkeit überkommene soziale Unterscheidungen herausforderten. Solche Grenzüberschreitungen durch Pop bedurften zunächst einmal einer Ausgangssituation, in der Populärkultur ausdifferenziert und die entsprechenden Stile mit sozialen Gruppen assoziiert wurden. Im Bereich der Musik entstand diese Situation an der Wende zum 20. Jahrhundert, also etwa zum selben Zeitpunkt, als sich durch Urheberrechts- und Medienentwicklung die moderne Kulturwirtschaft herausbildete. Nachdem im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunächst die Trennung zwischen »ernster« Kunstmusik (»E«) und »bloßer« Unterhaltungsmusik (»U«) etabliert worden war, wurden nun im U-Segment Unterscheidungen eingeführt, welche die Grundlage bildeten für die im 20. Jahrhundert folgenreiche Vorstellung, in bestimmten, als »authentisch« bezeichneten Formen von Musik kämen soziale Identitäten zum Ausdruck. Wie Karl Hagstrom Miller in seiner Studie zur Erfindung von Folk- und Popmusik in den Vereinigten Staaten um 1900
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zeigt23, war dies ein vollkommen neues Konzept für Musiker und Rezipienten, die bis dahin die größte stilistische Promiskuität gepflegt hatten. Die Auswahl von Musik war in den meisten Bevölkerungskreisen eklektisch gewesen und hatte sich primär nach dem Anlass gerichtet, zu dem sie erklingen sollte. Musiker hatten sich entsprechend mit der Erwartung konfrontiert gesehen, sehr viele unterschiedliche Musikrichtungen spielen zu können. Dies änderte sich zum einen dadurch, dass die in New York konzentrierten Verleger für Populärmusik und die mit ihnen kooperierenden Vaudeville-Syndikate Musiker und Musik aus dem Süden der USA als »southern« vermarkteten, wobei sie innerhalb dieser Kategorie noch einmal zwischen »weißer« und »schwarzer« Musik unterschieden. Erheblich trugen Folklore-Forscher zur Institutionalisierung ethnisch definierter Genrekategorien bei, indem sie Traditionslinien zu den vermeintlichen »Wurzeln« schwarzer und weißer Folk-Musiken zogen und so die neuen Genres historisch authentifizierten. Grammophonfirmen und Schallplattenhändler führten ebenfalls ethnisch-rassische Klassifikationen ein. Nachdem Plattenfirmen zur weltweiten Erschließung von Absatzmärkten zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu übergegangen waren, in jeder Region lokale Aufnahmen herzustellen, um diese der an westlicher Kunstmusik desinteressierten Ortsbevölkerung zu verkaufen, übertrugen US-Unternehmen in den 1910er Jahren diese Erfahrung auf den heimischen Markt und differenzierten ihr Angebot nicht länger nur nach »E« und »U«, sondern auch nach ethnisch differenzierten Zielgruppen, die sie mit regional spezifischer Musik ansprachen. Die Firmen empfahlen den Händlern, Kundschaft aus lokalen Einwanderergemeinden gezielt mit Repertoire aus ihrem Herkunftsland zu versorgen, um dadurch gut an ihnen zu verdienen. Im Zuge dieser Ausdifferenzierung von Musik und Publikum wurden in den 1920er Jahren auch die Kategorien »race music« und »old-time music« geschaffen, wodurch die Vorstellung weiter gefestigt wurde, dass Konsumenten einen engen Musikgeschmack hätten, der ihre rassisch, ethnisch und sozialstrukturell definierte Identität widerspiegele. Musiker, von denen früher Beweglichkeit in allen möglichen Stilen erwartet worden war, sahen sich nun auf bestimmte Genres festgelegt, denen sie buchstäblich mit Haut und Haaren zu entsprechen hatten. Dass nur Schwarze »authentischen« Blues spielen könnten und Countrymusiker
23 Miller: Segregating Sound.
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weiße Südstaatler zu sein hätten, sind Konventionen, die – zumindest in den USA war dies so, für Europa wäre dies zu überprüfen – Anfang des 20. Jahrhunderts etabliert wurden. Die mit ihnen fest verbundenen Erwartungen schufen einen Hintergrund, vor dem Pop mit sozialen Konventionen brechen konnte. Die gängige Erzählung von Innovationen in der Populärkultur identifiziert lokale Gemeinschaften (Subkulturen), die neue Ausdrucksformen zur Artikulation ihrer Identitäten und zur kulturellen Aushandlung ihrer sozialen Lage finden, als die treibenden Kräfte in der Geschichte der Populärkultur. Die »Production of Culture«-Perspektive geht indes davon aus, dass es zu jeder Zeit sehr viele solcher Gemeinschaften gab, deren Ausdrucksformen zudem flüchtiger und heterogener waren, als die üblichen Genregeschichten nahelegen. Mit Miller könnte man ferner argumentieren, dass ein breiter, eklektischer Geschmack eher der Praxis von Populärkulturkonsumenten und -künstlern entsprach als ein stilistischer Purismus, der Kultur und Identität miteinander amalgamierte. Die vermeintliche Überschreitung, nicht die Selbstbindung an spezifische Ausdrucksformen wäre dann der Normalfall. Dies macht die Institutionalisierung neuer kultureller und sozialer Klassifikationen erklärungsbedürftiger als die subkulturelle Praxis. Voraussetzungen für die Etablierung sozialer Klassifikationen in der Populärkultur entstanden, wie am Beispiel des Rock’n’Roll ausführlich geschildert, durch Verschiebungen innerhalb der zusammenhängenden Strukturbedingungen der Produktion, die in dem Fall den Blick auf das Teilpublikum der Teenager freigab. Für die Dynamik der fortgesetzten populärkulturellen Ausdifferenzierung sorgte vor allem die Beobachtung des Publikums, die in den USA bereits in den 1930er Jahren systematisch für die Medien Radio, Tonfilm und Schallplatte betrieben wurde. Die Publikumsforschung identifizierte immer neue Zielgruppen, die dann mit entsprechend spezifischer Kultur angesprochen wurde; man denke beispielsweise an den oben erwähnten Fall des Honky-Tonk-Sounds. Auf der Suche nach dem Publikum unter der Bedingung von Konkurrenz wurde Populärkultur zu einem Faktor, der neue Konsumentengruppen identifizierte, ihnen Gestalt verlieh – und ihre Übertretungen überkommener Grenzen sichtbar werden ließ. Die zweite Art der Grenzüberschreitung, die in der Forschung zu Populärkultur und im Pop-Diskurs prominent thematisiert wird, fand an der Demarkationslinie zwischen Kunst und Unterhaltung statt. Wie oben erwähnt,
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war die Trennung von »E« und »U« bis zum Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt und erschwerte es Künstlern wie Rezipienten, von einem ins andere Lager zu wechseln. Das Beispiel der Operette des frühen 20. Jahrhunderts als Gattung zwischen Kunst- und Unterhaltungsmusik mag dies verdeutlichen. 24 Operettenkomponisten wie Franz Lehár hatten häufig künstlerische Ambitionen gehegt und Opern komponiert, sahen sich jedoch nach ihren Erfolgen in der Operette auf das »leichte Fach« festgelegt. Die Kritik befestigte einen kategorialen Unterschied zwischen der »albernen« Operette und ihrer ernsthaften Tante, der Oper; kaum eine Besprechung einer Operetten-Neuaufführung kam aus ohne einen Tadel für die Belanglosigkeit des Plots und die Effekthascherei der Musik. Im besten Fall wurden Operetten als »gut gemacht« bewertet. Vor dem Hintergrund dieser rigiden Trennung, die mit einer sozialen Spaltung zwischen dem verstehenden, aufgeklärten und sensiblen Publikum für »ernste« und einem bewusstlos konsumierenden Publikum für »Unterhaltungskultur« einherging, sollten im 20. Jahrhundert Genzüberschreitungen, die im Bereich populärer Kultur ästhetische, politische oder soziale Relevanz reklamierten, herausfordernd wirken. Entsprechende Fälle ballten sich geradezu in den frühen bis mittleren 1960er Jahren, in denen Popmusiker, Filmregisseure und Werbedesigner im Zusammenspiel mit Kritikern in ihren jeweiligen Feldern Bewertungskategorien durchsetzten, welche die kreative Autonomie der Schöpfer und die gesellschaftliche Relevanz des Ausdrucks über die Verkaufszahlen stellten. Rockmusik, Independent-Filme und Werbekampagnen beanspruchten quasi-künstlerische Wertigkeit, und diese Grenzüberschreitung von »pop into art« wirkte zumindest in der Kunst höchst provozierend. Die drei Fälle fallen in die erste Hälfte der 1960er Jahre und somit in eine Zeit, die man allgemein als eine popgeschichtlich interessante Periode erachtet. Jedoch lassen sich Beispiele in anderen Zeiträumen ausmachen, welche erneut die Frage nach der Periodisierung von Pop aufwerfen. So hat der amerikanische Musikhistoriker Elijah Wald die Parallelen zwischen der Intellektualisierung der Rockmusik in den 1960ern und Entwicklungen in der Jazzmusik Mitte der 1920er Jahre herausgearbeitet, was uns wieder auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts zurückverweist. So wie die Beatles und andere künstlerisch orientierte Gruppen den simplen Rock’n’Roll der 1950er Jahre in den »progressiven« Rock der Sechziger überführten, bän-
24 Statt vieler Frey: »Was sagt ihr zu diesem Erfolg?«.
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digten Bandleader wie Paul Whiteman in den 1920er Jahren den Radau der frühen Jazz-Combos in symphonischen Arrangements, die den Jazz salonund konzerthausfähig machten.25 Walds Geschichte amerikanischer Populärmusik im 20. Jahrhundert verdeutlicht, dass es nicht erst des »Zeitgeistes« der 1960er Jahre bedurfte, um unterhaltende in »ernste« Musik zu transformieren. Entscheidend war vielmehr in allen genannten Fällen eine Ausgangssituation, die Kreativen neue Freiräume eröffnete, sie aber auch mit ökonomischer Unsicherheit konfrontierte. Einerseits waren die überkommenen Produktionsstrukturen der Hollywoodstudios, der multidivisionalen Werbeagenturen und des Musikbusiness um 1960 ebenso wie die Musikverlage, Vaudevilletheater und Tanzlokale nach dem Ersten Weltkrieg aus verschiedenen Gründen in Krisen geraten, die eine Flexibilisierung der Produktion nahelegten. So entstanden in den Branchen Musik, Film und Werbung in den frühen 1960er Jahren die »cool jobs in hot industries«26, die durch kreative Eigenständigkeit, kaum formalisierte Anforderungen und relativ geringe Bezahlung gekennzeichnet waren. Ebenso waren in den 1920ern in den von der Prohibition (in den USA) und der »mechanischen« Konkurrenz gebeutelten Tanzlokalen die Gagen geschrumpft und die überkommenen professionellen Anforderungen aufgeweicht. Die letztlich erfolgreiche Strategie, sich von den zahlreichen Dilettanten abzuheben, bestand in den Zwanzigern wie den Sechzigern darin, neue ästhetische Standards zu setzen und entsprechende Meriten zu erwerben. Walds Studie demonstriert, dass sich Pop-Art-Bewegungen in der Musik auch als Professionalisierungsgeschichten interpretieren lassen, in denen in ökonomischen und medienökologischen Umbruchszeiten Kreative im Zusammenspiel mit Kritikern neue Bewertungskategorien etablierten. Mit diesen Kriterien setzten sie sich sowohl gegen die »alten Garden«, die beharrlich an den überkommenen Standards festhielten, als auch gegen die halbprofessionelle Konkurrenz der Gagendrücker durch. Die von Wald aufgezeigten Ähnlichkeiten zwischen der Entwicklung von Rock und Jazz werfen ferner ein neues Licht auf die Position der »progressiven« Populärkultur der 1960er Jahre in der Popgeschichte. Die Musikgeschichte hat die Beatles und andere Bands der Zeit in den Rang musi-
25 Zu ähnlichen Entwicklungen im Deutschland der 1920er Jahre vgl. Nathaus: Popular Music in Germany. 26 Neff/Weininger/Zukin: Entrepreneurial Labor.
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kalischer Neuerer erhoben, während sie Whiteman und andere weiße Bandleader als Usurpatoren »authentisch schwarzer« Musik brandmarkt. Angesichts der Parallelen könnte man nun einerseits Whiteman für seine künstlerischen Innovationen adeln; andererseits könnte man die Beatles, und das legt Walds beinah blasphemischer Titel nahe, als Zerstörer des Rock’n’Roll betrachten.27 Diese Pointe wirft die auch für Popgeschichte relevante Frage auf, welche Grenzziehungen die Aufwertungen von »U« nach »E« überhaupt in Frage stellten. In der Kunst haben, wie erwähnt, solche Übertretungen provozierend gewirkt. Im Publikum indes haben sie bestehende Differenzierungen eher verstärkt. So wurde Rockmusik im Zuge ihres künstlerischen Fortschritts zum Sound besser gebildeter junger Männer aus der weißen Mittelschicht, die Geld, Zeit und die kulturellen Voraussetzungen mitbrachten, Rockalben zu sammeln und sich in das Studium dieser Musik zu vertiefen. Beide Arten von Grenzüberschreitungen, sowohl die von »U« nach »E« als auch die zwischen den im Zuge der Vermarktung etablierten sozialen Differenzierungen, wirkten solange provozierend, als die enge Verknüpfung zwischen Kultur und Identität und die klare Trennung zwischen Kunst und Unterhaltung galten. Beide Klassifikationsschemata haben jedoch seit den 1980er Jahren an Wirkungsmacht verloren. Die wichtigste Entwicklung in dem Zusammenhang war die explosionsartige Vermehrung der Genres, Szenen und Lifestyles seit etwa 1980, die man als Ergebnis technologischer, ökonomischer und rechtlicher Strukturveränderungen betrachten kann. Zu ihren Ursachen gehören unter anderem die Einführung des »offenen Systems« der Produktion, bei der die »Content«-Generierung ausgelagert ist an »Independents«, die wiederum über Distributionsverträge an die »Majors« gebunden sind, die Verfeinerung und Computerisierung der Publikumsforschung, die größere Verfügbarkeit populärkulturellen Wissens und die Vermehrung der Rundfunkkanäle im Zuge der Privatisierung. Mehr unterschiedliche Bedarfe können seither erkannt und schnell befriedigt werden, so dass sich der Markt stärker für nunmehr profitable Nischenprodukte geöffnet hat. In dieser Situation schreitet die kulturelle Segmentierung weiter fort. Jedoch hat sich ihre Verknüpfung mit sozialen Kategorien gelockert. Der Rockmusikhörer beispielsweise wird nun nicht mehr so häufig als »fanatic«
27 Wald: How the Beatles Destroyed Rock’n’Roll.
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angesprochen, der sein Leben ausschließlich diesem Sound verschrieben hat, sondern als Konsument, der sich möglicherweise noch aus anderen Repertoires bedient. Man zielt nicht mehr so sehr auf die Identität des Publikums, sondern immer stärker auf dessen Kennerschaft auf dem großen Markt der Kulturinhalte. Passend dazu hat die Soziologie seit den Achtzigern das Auftauchen des »kulturellen Allesfressers« beobachtet, der seinen Konsum nicht etwa auf anerkannte Hochkultur beschränkt, sondern viele unterschiedliche kulturelle Register zu ziehen vermag, um so seine Peers mit populärkulturellem Wissen zu beeindrucken.28 Der Konsum scheint dabei dem Kritikerdiskurs zu folgen, in dem in den 1980er Jahren die Festlegung auf einzelne, als »anspruchsvoll« oder »authentisch« bewertete Genres einem flexiblen Umgang mit möglichst Verschiedenem Platz gemacht hat, der von Kennerschaft und Insidertum (»Sophistication«) kündet.29 Die grundlegenden Veränderungen seit etwa 1980 bilden einen Einschnitt, der die 80 Jahre zwischen den ersten Ausdifferenzierungen des »Massenpublikums« bis zu seiner Fragmentierung in Konsumentengruppen abgrenzt.
Z USAMMENFASSUNG Dieser Beitrag hat dafür plädiert, die Vermitteltheit moderner Populärkultur zum Ausgangspunkt ihrer Erforschung zu nehmen. Er hat vorgeschlagen, dem Zusammenspiel spezialisierter Kulturproduzenten und -vermittler unter den für sie maßgeblichen Strukturbedingungen größere Beachtung zu schenken, um die Durchsetzung neuer und die kontinuierliche Verbreitung älterer Repertoires zu verstehen. Er hat mit der »Production of Culture«Perspektive einen Ansatz vorgestellt, der aus der Sicht der Anbieter Akteurshandeln unter sich verändernden rechtlichen, technologischen, ökonomischen und kognitiven Bedingungen nachvollzieht. Ein zentraler Befund der produktionsorientierten Forschung ist die Erkenntnis, dass sich Anbieter von Kultur an einem »institutionell effektiven« Publikum orientieren, das sie in Auseinandersetzung mit anderen Kulturproduzenten aus Marktforschungsdaten, Erfahrungen und »Bauchgefühl« konstruieren. Das »institutionell effektive« Publikum dient einmal zur Legi-
28 Savage/Gayo: Unravelling the Omnivore. 29 Vgl. Geer: »If you have to ask«.
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timation von Repertoireentscheidungen, fließt aber zugleich ein in das massenhaft verbreitete Angebot und strukturiert über Konventionen die Rezeption. Zum Besuch eines Metal-Konzerts gehören nun einmal das Headbanging wie das andächtige Lauschen zum Opernabend. In der Durchsetzung sozialer Klassifikationen durch kulturelle Genres erkennt der Beitrag einen zentralen, für Popgeschichte höchst relevanten Aspekt von Populärkultur. Erst ab der Wende zum 20. Jahrhundert stellten professionelle Kulturanbieter Bezüge her zwischen bestimmten Kulturinhalten und der rassischen, ethnischen, sozialen, später auch generationellen und weltanschaulichen Identität ihrer Rezipienten. Diese Verknüpfung von Identität und Populärkultur hat sich infolge von Strukturveränderungen seit den 1980er Jahren gelockert, so dass es scheint, dass soziale Beziehungen im Medium von Populärkultur sich nicht mehr so sehr um die Inklusion und Exklusion aus festen Gemeinschaften als vielmehr um Prestigekonsum und Kennerschaft drehen. Die kontinuierliche Beobachtung des Publikums war eine wichtige Bedingung dafür, dass Popphänomene Überschreitungen zum Vorschein brachten, die quer zu populärkulturellen Identitäten verliefen. Indem der vorliegende Beitrag auf diese Dynamik verweist, plädiert er dafür, Popgeschichte über einzelne Genres hinaus zu verfolgen und nach längeren Linien der Entwicklung zu fragen. Kritisch sollte sie dabei die den meisten Genregeschichten zugrunde liegende Vorannahme reflektieren, der gemäß Genres zuerst im besten Fall stilistisch reine Ausdrucksformen von Subkulturen darstellten, welche dann durch Kommerzialisierung verwässert wurden. Ein genauer Blick könnte im Gegenteil erweisen, dass erst die Kommerzialisierung einer flüchtigen und heterogenen subkulturellen Praxis für feste Kategorien sorgte. Es sei abschließend betont, dass die Entwicklung neuer Kategorien im Zuge der Publikumsbeobachtung kein Selbstläufer war. Um sozial folgenreich zu werden, mussten sie jeweils von Akteuren der Kulturproduktion durchgesetzt werden. Ausdrücklich sei auch bekräftigt, dass die agency von Konsumenten in diesem Beitrag nicht in Frage gestellt wurde. Ganz im Gegenteil sei unterstrichen, dass die Analyse der Vergesellschaftung in populärkulturellen Zusammenhängen einer detaillierten Analyse der Verhaltensweisen, der Blicke, des Körpers und der Sprache im Moment der
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Aneignung bedarf.30 Genrekonventionen wirkten nicht in einem engen Sinn determinierend, sondern definierten einen Möglichkeitsraum, der unterschiedlich ausgestaltet werden konnte. Diese Feststellung dürfte auch verdeutlichen, dass hier keiner Rückkehr zu den Manipulationsthesen der Kritischen Theorie das Wort geredet wurde. Versucht wurde vielmehr, den in der Geschichtswissenschaft noch ungewöhnlichen Gedanken auszuführen, dass es sich bei der Entwicklung des populärkulturellen Repertoires im 20. Jahrhundert um einen höchst kontingenten Prozess handelte, der von keinem Zentrum aus gesteuert wurde und der mangels direkter Kommunikation zwischen Anbietern und Nachfragern auch kein »oben« oder »unten« kannte.
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Mobil hören Klang- und technikhistorische Zugänge zum Pop und seinen »Nutzern« H EIKE W EBER
Popgeschichte ist bisher vor allem eine Geschichte von Musik und Jugendkultur und sie beschreibt, wie bestimmte Musikstile zur Basis und zum Mittel für den Ausdruck eines je spezifischen Lebensgefühls wurden.1 Popästhetische Darstellungen wiederum fokussieren bestimmte Musikstile, deren Macher sowie die sich herausbildenden Hör- und Lebenskulturen der jeweiligen Anhängerschaften. Jedoch ist eine Geschichte des Pops mehr als eine Geschichte von Popmusik, Musikkonsum und der Herausbildung oftmals generationenspezifischer Identitäten und Lebensstile. Neben Hörern, Popstars und Popindustrie müssen am Schnittfeld von Pop-Machern und Pop-Hörern auch die Pop-Medien (Schallplatte, Tonband bzw. Kassette, MP3-Files und Streams) und die für das Hören notwendigen Geräte historisiert werden. Diese materiale Basis des Pop-Hörens – und damit auch Fragen ihrer Produktion, ihrer Aneignung und Nutzung – soll im Folgenden im Vordergrund stehen. Damit wird der Blick der pophistorischen Forschung auf Materialitäten und die Frage von Technik und Techniknutzung gelenkt. Zwar hat die bisherige Popgeschichte durchaus auf die Nutzung von Popmusik geschaut, dabei aber kaum danach gefragt, welche Geräte hierzu überhaupt benutzt wurden und wie diese mitsamt der gehörten Musik das Hörerlebnis mitbe1
Vgl. etwa Maase: BRAVO Amerika; Siegfried: Time Is on My Side.
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stimmten und prägten. Die technische Ausstattung erscheint als von außen gesetzt. Demgegenüber wird hier argumentiert, dass Popmusik und Hörkulturen vielmehr in Wechselwirkung mit den technischen Apparaten stehen und diese einen wesentlichen Bestandteil der jeweiligen Popkulturen bilden. Welche Theorieangebote und Herangehensweisen eine derart ausgerichtete Popgeschichte aus anderen Feldern – und zwar vor allem aus den älteren Cultural Studies, den Science and Technology Studies (STS) sowie den jüngsten Sound Studies – nutzen könnte, wird anhand von drei Bereichen erläutert: den Nutzern und ihren Nutzerkulturen, den Produzenten und der hier eingesetzten bzw. erzeugten Materialkultur der Popmusik und schließlich den sich daraus ergebenden »Objektgeschichten«. Exemplarisch wird die Verknüpfung der vorzustellenden Ansätze anhand einer Objektgeschichte von Kassetten und Kassettengeräten in den 1970er und 1980er Jahren dargestellt. In der Kassetten-Kultur trafen im »analogen« Zeitalter bereits zwei Prozesse zusammen, die das Pop-Hören im »digitalen« Zeitalter fundamental prägen sollten: erstens die Individualisierung des Musikhörens und des Musikverbreitens (oder »Sharings«), die im Mix-Tape ihre Materialisierung fand und als Vorstufe der späteren immateriellen, digitalen Titellisten und des digitalen Samplings interpretiert werden kann, sowie zweitens die Mobilisierung der Situationen des Hörens, die zu einer Neuausrichtung der Körper und Sinne der Pop-Hörer führte. Das Feld der sich soeben formierenden Sound Studies ist sehr weit und nimmt in Teilen insbesondere kultur- und technikhistorische sowie STSspezifische Perspektiven auf.2 Das betrifft zunächst die »Klanglandschaften« einer bestimmten Umgebung. So haben Historiker beispielsweise den Klang der amerikanischen Industrialisierung und Verstädterung des 19. Jahrhunderts oder die akustische Sphäre der NS-Zeit zu beschreiben versucht.3 Weiterhin wird das professionelle Design von Sound unter die Lupe genommen, wobei das Tonspektrum vom Klang des Porsche-Motors bis zum Klang des Synthesizers im Pop reicht. Vor allem Medienwissen-
2
Vgl. die neuerlichen Reader: Sterne: The Sound Studies Reader; Pinch/Bijsterveld: The Oxford handbook of sound studies.
3
Vgl. Smith: Listening to Nineteenth Century America.; Birdsall: Nazi Soundscapes; als weiteres Beispiel bzw. für eine Übersicht vgl.: Gerhard/Schock: Der Sound des Jahrhunderts; Morat: Zur Historizität des Hörens, S. 131-144; ders.: Sounds of Modern History.
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schaftler und Wissenschaftshistoriker stellen die Frage nach dem Status des Hörens für Erkennen und Wahrnehmen, während kulturwissenschaftlich geprägte Studien der Aneignung bestimmter Hörkulturen und Hörtechniken nachgehen. Oft überlagern sich solche Perspektiven; so hat Jonathan Sterne die soziotechnischen Bedingungen für die Herausbildung und Aneignung spezifischer Hörkulturen (audile technique) am Beispiel früher Tonreproduktionen sowie der Verwendung von Kopfhörern beschrieben. 4 Viele Sound-Studien wollen, in Anlehnung an die noch weiter gefassten Sensory Studies, eine umfassende Geschichte des Hörens und der Klänge schreiben. Im Folgenden werden dagegen exemplarisch nur solche Studien erwähnt, die für das Verhältnis von Pop, Technik und Nutzung instruktiv sind.
(P OP -)M USIK , A UDIOINDUSTRIE
UND
T ECHNIK
Popgeschichte hat es mit einem komplexen sozio-technischen Ensemble zu tun, das in stetem Wandel begriffen ist und das sich vielfältig wechselseitig bedingt: Zum Pop gehören die Pop-Macher und die Musikindustrie mitsamt ihren Aufnahmestudios oder Marketingaktionen ebenso wie die Kanäle und Medien der Musikvermittlung und -übertragung, Musikmagazine oder Radio- und Fernseh-Hitparaden. Was sich aus den Science and Technology Studies für dieses unübersichtliche Feld lernen lässt5, ist zum einen deren Fokus auf die materiale Dimension von Gesellschaft und Kultur: Popgeschichte sollte sich auch mit den Instrumenten, Geräten, Tonspeichern und Abspielgeräten beschäftigen. So haben sich bestimmte Musikrichtungen entlang ganz bestimmter Techniken entwickelt und diese sogar wesentlich mitgeformt6: Elektronische Musik etwa hat den Synthesizer zur Grundlage, und der erste MoogSynthesizer bestimmte den Sound des »Synthie-Pop« der 1960er und
4
Vgl. Sterne: The Audible Past.
5
Als instruktive Einführung, was STS zum Feld der Sound Studies beitragen können, vgl.: Pinch/Bijsterveld: Sound Studies.
6
Zum Einfluss von elektronischer und digitaler Technik auf die Produktion von populärer Musik aus einer (konsum)kritischen Cultural-Studies-Perspektive vgl. Théberge: Any Sound You Can Imagine. Allgemein zum Einfluss von Technik auf Musik im 20. Jahrhundert vgl. Braun: »I sing the Body Electric«.
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1970er Jahre. Die Geschichte des analogen Synthesizers, seiner Entwicklung und Verwendung haben kürzlich Trevor Pinch und Frank Trocco über Interviews mit den beteiligten Musikern sowie Ingenieuren und Arbeitern in den frühen Herstellungsbetrieben nachgezeichnet.7 Der Synthesizer diente nicht nur als Audio-Hardware der Pop-Macher; er wurde auch zunehmend als Instrument für Jedermann in Musikläden verkauft, und seine Nutzer erlangten starken Einfluss auf das Design und die Vermarktung der Geräte. Ähnliches gilt für die Geschichte der E-Gitarre, die ebenfalls durch spezialisierte Kleinsthersteller in engem Zusammenwirken mit den Verwendern hergestellt wurde und die durch eine veränderte Aufnahmetechnik zum Leitinstrument in der Rockmusik – man denke etwa an die zentrale Bedeutung von Gitarren-Soli für verschiedene Musikgenres – wurde. 8 Sampling, um ein weiteres Beispiel zu nennen, basiert auf der technischen Möglichkeit, auf alte Aufnahmen zugreifen, sie mittels Computern und entsprechender Musik-Software leicht zusammenstellen und neu vermischen und überlagern zu können. Der Rap der schwarzen amerikanischen Großstadtghettos der 1970er Jahre fußte auf tragbaren Turntables und Lautsprechern, wobei aber erst das Zusammentreffen des Sounds mit der visuellen Praxis des Graffiti-Sprayens das Rappen als subversive Gesamtkunst formte.9 Gerappt wurde auf offener Straße, derweil die Popularität des Raps ohne Kassette kaum denkbar gewesen wäre: Die simple Kassettentechnik ermöglichte eine billige Reproduktion, um der Musik eine breitere Anhängerschaft zu verschaffen. Die Frage der Distribution deutet bereits an, dass nicht nur die Musikinstrumente samt der Hard- und Software auf Seiten des Musikmachens den Sound mitformten. Das Entstehen einer wirtschaftlich bedeutungsvollen Musikindustrie im Laufe des 20. Jahrhunderts führte in der Gesamttendenz auch dazu, dass die Frage des Aufnehmens, Speicherns und Wiedergebens von Musik zur Schlüsselfrage avancierte, um Musik zu verbreiten (und natürlich auch, um als Industrie Geld verdienen zu können). Musik und ihre
7
Vgl. Pinch/Trocco: Analog Days. Sie folgen dabei einer STS-Perspektive: Es geht also weniger um die Musik, sondern um die Frage, welche Akteure die Technik in welchen Arenen wie formten und welche Praxen, Diskurse und materielle Gestaltungen sich dadurch ergaben.
8
Vgl. Millard: The Electric Guitar.
9
Vgl. Rose: Black Noise; Fouché: Analog Turns Digital.
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Aufzeichnung verlagerte sich in diesem Prozess immer stärker vom Konzert und seiner Live-Aufnahme hin zur Aufnahme im Studio zwecks medial vermittelter Verbreitung über Tonträger. Susan Schmidt Horning hat die damit verbundene Professionalisierung der Aufnahmestudios und die enge Zusammenarbeit zwischen Musikern und Aufnahmetechnikern soeben für die USA beschrieben.10 Klangtechnisch ging mit dieser Professionalisierung der Musikproduktion das Konzept der »high fidelity«, der »Naturtreue« einer Aufnahme einher, an die sich auch die Tonmedien und Abspielgeräte tunlichst halten sollten – und das, obwohl es im Falle der Studioaufnahme an sich ja kein eigentliches, naturgetreu wiederzugebendes »Original« mehr gab. Die Stereo-Schallplatte kam in der BRD 1958 auf; Radiogeräte wurden gegen Ende der 1960er Jahre allmählich stereophon. Die 1981 eingeführte CD schließlich versprach als digitales Medium von Anfang an, HiFi-tauglich zu sein, führte aber zu einer erneuten Auseinandersetzung unter technophilen Musikhörern, die den gewohnten, »warmen« Klang der Analogtechnik einer als kalt empfundenen Klangkulisse des Digitalen gegenübergestellten. Erst die Durchsetzung von Aufnahme- und Abspieltechnik hat Musik zu einem uns begleitenden Element des Alltags werden lassen. Popgeschichte ist dabei eng mit der Geschichte der Technisierung des Alltags verknüpft. Denn es waren neben der Haushaltstechnik vornehmlich Musik- und Mediengeräte, welche die Zeitgenossen mit der Welt der Elektronik und später mit Digitaltechnik vertraut machten und die uns daran gewöhnten, dass unser Technikpark zunehmend aus der Ferne stammt, ohne dass wir wüssten, wie und wo genau er hergestellt wurde. Importiert wurde – einsetzend mit den ersten Transistortaschenradios der 1950er Jahre – eine südostasiatische Produktkultur, derweil das Phänomen des mobilen Musikhörens nicht nur ein amerikanisches, sondern sehr bald ein transnationales und von Großstädten ausgehendes Phänomen war; Walkmans beispielsweise wurden zunächst in Tokio und New York gesichtet.
10 Vgl. Schmidt Horning: Chasing Sound.
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»N UTZER « UND »N UTZERKULTUREN «: T EENS ALS M ITGESTALTER DES H ÖR -E QUIPMENTS Folgen wir im Weiteren einem zweiten zentralen Ansatz der Science and Technology Studies und der aktuellen technikhistorischen Forschung: das »Gemachte« und die »Technik« nicht als gegeben anzusehen, sondern die black box des Technisch-Materialen zu öffnen, indem es als Ergebnis eines längeren Aushandlungsprozesses der Gesellschaft – zwischen Industrie, Machern und Nutzern sowie weiteren relevanten Interessensgruppen – analysiert wird. Das Technische bestimmt in einer solchen Perspektive nicht eindimensional, wie sein Design auszusehen hat und wie wir mit den jeweiligen Geräten und Medien umzugehen hätten, sondern ebenso haben soziale, kulturelle und ökonomische Faktoren Einfluss auf die Konstruktion von Technik und als Nutzer bestimmen wir sie auch – direkt oder indirekt – mit. Dass Freizeit und Konsum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben der Arbeit zu bestimmenden Größen der eigenen Identität und des Selbstverständnisses des »Konsum-Bürgers« geworden sind, wird allenthalben in der neueren Geschichtswissenschaft betont.11 Allerdings ist ein solches »konsumistisches Paradigma« nicht mit passivem Konsum gleichzusetzen, wie es sowohl die linke wie auch die konservative Konsum- und Kulturkritik lange Zeit getan haben. Zudem ist aus der Welt des Konsums des 20. Jahrhunderts Technik nicht mehr wegzudenken.12 In der Technikgeschichte wird daher inzwischen verstärkt vom »Nutzer« statt vom »Konsumenten« gesprochen, wie auch Medienwissenschaften und -geschichte sich zugunsten des »Hörers« bzw. »Mediennutzers« vom Begriff des »Rezipienten« verabschiedet haben. Dies unterstreicht, dass Konsum immer auch eine aktive Dimension hat und dass Konsumenten in manchen Bereichen – beim Installieren des Computers oder dem Arrangieren einer Playlist auf dem iPod – zu mitschaffenden »Prosumenten« geworden sind. Worin besteht nun aber die Rolle der Nutzer in der Geschichte von Audioindustrie und Audiotechnik, zumal vor ihrem Übergang in die Digitalität? Die Technikgeschichte verwendet das Konzept des »mutual shaping of technology and society« und der »interpretativen Flexibilität« von Technik, um den Handlungsspielraum von Nutzern zu unterstreichen und
11 So etwa kürzlich: Wirsching: Konsum statt Arbeit? 12 Vgl. Heßler: Die technisierte Lebenswelt.
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offenzulegen, dass Technik im Laufe der Zeit oftmals anders genutzt und »interpretiert« wird als zunächst gedacht.13 Ein instruktives Beispiel liefern die »Aneignung« bzw. »Domestizierung« des Tonbandgerätes in den 1950er und 1960er Jahren und des Kassettenrekorders in den 1960er Jahren.14 Der Ansatz der »Domestizierung« stammt aus den Media Studies und besagt, dass Nutzer ihre Geräte nach und nach aktiv in ihre Lebenswelt integrieren und diese dabei auch verändern.15 Die Anschaffung eines Gerätes betrifft mehr als nur seiden Kauf: Es wird über die Vor- und Nachteile eines bestimmten Modells zu sinniert und aktiv ausgewählt; danach fügt der Nutzer die Technik zum einen örtlich in seinen Wohnraum (oder darüber hinaus in seinen mobilen Alltag) und zum anderen symbolisch und praktisch in die Routinen des Haushalts ein, wodurch sich schließlich auch Veränderungen über das Gefüge des Privaten hinweg ergeben. Für Tonbandgeräte haben Bijsterfeld und Jacobs diesen Prozess untersucht und gezeigt, dass diese Technik zunächst als Möglichkeit vermarktet wurde, als eine Art »Ton-Jäger« ein akustisches Familienalbum anlegen sowie weitere Töne aufnehmen zu können. Produzentenseitig waren sie jedenfalls keinesfalls als eine weitere Technik des Reproduzierens und Verbreitens von Musik – wozu es ja bereits Radio und Schallplattenspieler gab – konstruiert worden. Aber es waren die Nutzer selbst, welche die Geräte vornehmlich hierzu einsetzten. Breitenwirksam durchsetzen sollte sich die Tonbandtechnik jedoch erst mit dem späteren Kassettenrekorder, der sich entlang der mannigfaltigen Nutzungsweisen der Konsumenten als vielfältiges Gerät entpuppte: Autofahrer hörten damit erstmals selbst gewählte Musik während des Fahrens; junge Pop-Hörer wurden zu »Hit-Jägern« und stellten sich per Mitschnitt der Radio-Charts auf billigen Radiorekordern ihre eigenen Mix-Kassetten zusammen. Da die Gerätehersteller mit entsprechend ausdifferenzierten Angeboten auf solche Aneignungsweisen reagierten, lässt sich von einer mittelbaren Mitbestimmung des technischen Wandels durch die Nutzer sprechen.
13 Vgl. Oudshoorn/Pinch: How Users Matter. 14 Vgl. Bijsterveld/Jacobs: Storing Sound Souvenirs; Bijsterveld: »What Do I Do with My Tape Recorder.…?«; Zur Aneignung des Tonbandgeräts in der BRD vgl. auch Röther: The Sound of Distinction, S. 337-404. 15 Vgl. Silverstone/Hirsch: Consuming Technologies.
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Im Fall der Popgeschichte wiederum ist es markant, dass Jugendliche als wesentliche Nutzer hervortreten. Popmusik wie auch die zum Hören notwendigen Geräte prägten in dieser zentralen Phase der Sozialisation die Identitätsfindung, Lebensstile sowie auch das Inszenieren von Jugendlichkeit im Öffentlichen wesentlich mit. Siegfried und andere Historiker haben gezeigt, wie tragbare Plattenspieler und Transistorradios auch dazu dienten, sich öffentliche Plätze anzueignen. Die potenzielle Mobilität des Hörens von Popmusik bedeutete Emanzipation und Freiheit. »Junge Leute möchten beweglich sein. Also sollten auch die Dinge und Gegenstände, die sie tagtäglich benutzten, möglichst transportabel sein. [...] Man möchte seine Musik mitnehmen können – zu einem Freund, auf eine Party, auf eine Reise oder auch nur ins Zimmer nebenan«, schrieb die Jugendzeitschrift Twen 1961.16 Die Möglichkeit, mobil Pop und Rock zu hören, wurde von Jugendlichen höher bewertet als die Soundqualität der in dieser Hinsicht unterlegenen tragbaren Geräte. Allerdings fehlt zur Zeit eine gendersensible Untersuchung zur Aneignung von Pop und Musikequipment. Meist wird für die stärkere Verbreitung von Tonbandgeräten und Stereoanlagen unter männlichen Heranwachsenden deren Technikaffinität ins Feld geführt. Weitere Gründe dürften aber auch in ihrer höheren Finanzkraft zu suchen sein. Außerdem war die Technikaffinität nicht qua Geschlecht gegeben, sondern folgte einer langen historischen Kontinuitätslinie, die man zurück zu den männlichen Radioamateuren der 1920er Jahre führen könnte. Wichtig dürften auch genderspezifische Weisen der Raumaneignung gewesen sein: So diente Unterhaltungselektronik Männern im Häuslichen dazu, sich in dieser feminin konnotierten Sphäre einen eigenen Raum zu schaffen.17 Der Fokus auf die Nutzer und die Frage nach der möglichen Rückwirkung von Nutzerkulturen auf die Produktion wurde auch durch die Cultural Studies befördert. Sie beschäftigten sich bereits in den 1970er Jahren mit dem Bedeutungsgehalt von und dem Umgang mit Dingen, und zwar vornehmlich in jugendlichen Subkulturen. Autoren wie Dick Hebdige betonten die subversiven Elemente in Jugendkulturen, die Heranwachsenden dazu dienten, sich durch den Einsatz und ein spezifisches Arrangement etwa von Frisuren und Kleidung, bestimmten Musiktiteln wie auch von Musik- und
16 Vgl. o.V.: Ein Handliches Thema mit 14 Variationen, S. 30. 17 Vgl. Keightley: »Turn it down!« she shrieked.
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Mobilitätstechniken wie Jukebox oder Vespa vom Mainstream abzusetzen.18 Als subversiv lassen sich aber auch die Tonbandmitschnitte von Radiomusik am Kassettenrekorder oder die späteren illegalen Internet-Musiktauschbörsen benennen. Beide umgingen nicht nur die von Musikmachern bzw. -vermittlern gesetzte Titelabfolge einer Platte durch das Zusammenstückeln der eigenen Lieblingstitel, sondern unterliefen auch die Regelungen des Urheberrechts. Weitere Beispiele einer kreativ-subversiven Nutzung finden sich zuhauf in den diversen subkulturellen Strömungen des Pop; so lassen sich etwa das Umbasteln von alten Phonokoffern zu DJ oder VJ-Turntables nennen oder der Einsatz von Gameboys und Handys als konzertale Musikinstrumente.19 Beschrieben die Cultural Studies zunächst die vom Mainstream abweichenden Subkulturen wie Mods oder Punks, so forderten du Gay et al. anhand einer Studie zum Walkman 1997 dazu auf, einen »circuit of culture« zwischen Produktion und Konsumtion zu verfolgen: »to study the Walkman culturally one should at least explore how it is represented, what social identities are associated with it, how it is produced and consumed, and what mechanisms regulate its distribution and use.«20 Damit forderten Vertreter der Cultural Studies, den Kreis von der Nutzung hin zur Produktion auf ähnliche Weise zu schließen, wie es auch der Ansatz der wechselseitigen Formung von Technik und Gesellschaft für sich behauptet.
P OPGESCHICHTE ALS O BJEKTGESCHICHTEN : K ASSETTEN UND K ASSETTENREKORDER Objekte haben auf mehrfache Weise eine Geschichte und sie werden daher vermehrt auch in der Geschichtswissenschaft ernst genommen, analysiert
18 Vgl. Hebdige: Subculture. 19 Vgl.: Behrendt: Playing the iPhone. Solche subversiven Nutzungen haben ihre Kommerzialisierung in neuen Apps gefunden: Mit der Ocarina App wurde das iPhone zur Flöte, mit der die Nutzer ihre Lieblingshit nachflöteten und sich noch dazu mit anderen »Musikern«, die ebenfalls gerade spielten, verbinden konnten. 20 Du Gay et al.: Doing Cultural Studies, S. 3.
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und teils auch als Quellen herangezogen.21 Zum einen hat jedes Ding selbst eine »Biographie« bzw. eine »Nutzer-Produkt-Biographie«, denn es durchläuft nach seinem Kauf verschiedene Nutzungsphasen: Einer begeisterten Anschaffung – jede_r erinnert sich vermutlich an ihre/seine erste elektroakustische Ausstattung, sei es das eigene Transistorradio oder die erste Anlage – folgt die Veralltäglichung des Gebrauchs, der sich bald in die täglichen Routinen fügt. Die wenigsten Geräte sind vor einer technisch-kulturellen Alterung gefeit und werden durch neues Equipment ersetzt, etwa wenn funktionstüchtigere Technik auf dem Markt erscheint. Zum anderen zeigen die Objekte, als Produktgattung über die Zeit hinweg aufgereiht, den Wandel von Designs und unterschiedlichen Aneignungen und Bedeutungen an. Monika Röther hat anhand der Ausdifferenzierung der Phonogeräte die Pluralisierung der Konsummuster und der Freizeitstile in der BRD während der »langen Sechziger Jahre« verfolgt.22 Sie betrachtet hierzu die Geräte, ihre Vermarktung, ihre Nutzung, die Bedeutungszuschreibungen an die Geräte sowie die Hörsituation selbst, die sie mit dem Konzept des »Dispositivs«, also der Mensch-Apparate-Anordnung, untersucht. So bezeugt der mit Klangregister-Tasten ausgestattete Musikschrank der 1950er Jahre, der die Tradition des Konzertsaals im trauten Heim nachzubilden suchte, eine gänzlich andere Hörkultur als etwa das Transistorradio oder die Stereoanlage. Während die westdeutschen Erwachsenen es sich in der Nachkriegszeit in der privaten Häuslichkeit bequem machten und sich repräsentativ einzurichten suchten, zogen die Teenager mit ihrer »Henkelware«, wie die tragbaren Musikgeräte auch genannt wurden, nach draußen. Zugleich wurde der Musikschrank wenig später – gegen Ende der 1960er Jahre – von der Stereoanlage verdrängt: Sie richtete sich nicht mehr an die sich vor dem Musikschrank versammelnde Familie, sondern an den zumeist männlichen HiFi-Hörer, der sich, halb als Bastler, halb als Prosument, die Anlage im Baukastenprinzip entlang seiner technischen wie audiophilen Ansprüche selbst zusammenstellen sollte. »Immer mehr Knöpfe und Regler«, so Röther, »stärkten das Gefühl seiner Autonomie und Individualität« – die Stereoanlage reagierte quasi auf den Wunsch nach mehr Selbstverwirklichung. Zwar war sie aufgrund der Anschaffungspreise zunächst Erwachsenen vor-
21 Vgl. Ruppert: Fahrrad, Auto, Fernsehschrank; Ortlepp/Ribbat: Mit den Dingen leben. 22 Röther: The Sound of Distinction; Röther: Alltägliche Objekte, S. 327.
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behalten, wobei oftmals improvisierte Arrangements mit selbst gebauten Boxen oder auf Flohmärkten erstandenen Verstärkern vorherrschten. Nach und nach konnten sich aber auch Jugendliche solche Anlagen leisten; als Übergangsgerät bzw. späterer Kern der Anlage diente der Plattenspieler, der am Ende der 1960er Jahre bereits häufiger bei Heranwachsenden als im Haushaltsdurchschnitt anzutreffen war. Wie in der Erwachsenenwelt, so dominierte auch bei den Jugendlichen der männliche Besitz: Mitte der 1970er Jahre hatten 43 Prozent der 15- bis 23-jährigen Männer, aber nur 17 Prozent der gleichaltrigen Frauen eine Stereoanlage , was auch auf die unterschiedliche finanzielle Situation der Geschlechter zurückzuführen sein mag.23 Mit einer solchen Ausstattung konnten nun auch die Raffinessen der Pop- und Rockmusik, die sich aus der Professionalisierung von Tontechnik und -studio ergaben, akustisch erlebt werden. In der Vermarktung von Stereo-Equipment belehrte die Audioindustrie ausgiebig darüber, wie Stereophonie und HiFi-Klang überhaupt zu hören seien. Es entstand nun eine neue, technisch vermittelte Hörkultur, die in der BRD sogar mit der HiFi-Norm (DIN 45500 von 1966) abzusichern versucht wurde.24 Trotz solcher technischen Ambitionen war es die technisch inferiore Kassettentechnik, welche zur Schlüsseltechnik der Ausdifferenzierung, Mobilisierung und Individualisierung der Musikkultur avancierte. Seit den 1970er Jahren war sie Basis unterschiedlichster subkultureller Entwicklungen – von der Entstehung und Verbreitung neuer Musikstile über das Auftauchen neuer Musik-Performances wie dem Breakdancer in der Fußgängerzone hin zum bereits erwähnten jugendlichen »Hit-Jäger«. Die Beliebtheit des Musikhörens per Kassette führte zudem zum Walkman, mit dessen massenhafter Aneignung sich das mobile Musikhören per Kopfhörer durchsetzte. Zugleich wurde die Kassette durch ihren Einsatz in weiteren Bereichen allgegenwärtig: Im Beruf fand sie sich in Diktiergeräten, zuhause im nun aufkommenden Anrufbeantworter und schließlich diente sie als Speichermedium für den frühen Computer. Noch in der Tradition der Tonbandgeräte stehend, vermarktete Philips seinen »taschen-recorder 3300« von 1963 als mobiles, multifunktionales
23 Vgl. Siegfried: Time Is on My Side, S. 435. 24 Vgl. Weber: Das Versprechen, S. 163-166; Röther: The Sound of Distinction, die ausgiebig auch die Stereo-Anlage behandelt, S. 164-258.
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Abspiel-, Aufnahme- und Diktiergerät.25 Erst in der weiteren Fortentwicklung und in der Aushandlung zwischen Nutzern, Geräteherstellern und der Tonträgerindustrie wurde aus dem »sprechenden Notizbuch« eine handliche »Musikbox« für überall. Bis zum Ende der 1960er Jahre hatte die Tonträgerindustrie immerhin rund 1000 verschiedene MusiCassetten (MC)-Titel auf den Markt gebracht und zu Beginn der 1970er Jahre wurde bereits nahezu jeder neu produzierte Musiktitel sowohl als Schallplatte als auch als MC herausgebracht. 1980 wie auch 1990 wurden in der BRD 43 bis 44 Millionen Kassetten (Leerkassetten nicht mitgezählt) verkauft; dazwischen lag eine Phase noch höherer Verkaufszahlen, ehe diese im Zuge der Digitalisierung der Musikkultur schließlich abflauten. Dieser Entwicklungsweg war längst nicht ausgemacht, zumal es auf dem Markt weitere konkurrierende Kassettensysteme gegeben hatte (der »DC-International«-Standard der führenden Gerätehersteller der BRD: Grundig, Blaupunkt und Telefunken, sowie ein autotaugliches System von Saba: »Sabamobil«). Die ersten Nutzer der MC und des Kassettenrekorders waren hauptsächlich Teenager und Autofahrer – geeint im Wunsch, ihre Lieblingsmusik leicht greifbar mitnehmen zu können. Weite Verbreitung fand die Technik, weil sie erstens produzentenseitig sowohl am unteren wie am oberen Ende preislicher und technischer Ansprüche weiterentwickelt wurde: Billige Radiorekorder waren der Verkaufshit der Unterhaltungselektronik der 1970er Jahre; am oberen Spektrum wiederum wurde die Kassette über DolbyRauschunterdrückung, hochwertigere Bänder und weitere Verbesserungen HiFi-kompatibel gemacht. Dazu kam zweitens die subversive und bald massenhafte Nutzung der Leerkassette als Grundlage des eigenen Zusammenschneidens und Verbreitens von Musik. Als in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mehr Leerkassetten als MCs verkauft wurden, sprach der Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft von einer »Gefährdung des gesamten Musiklebens«.26 Seit 1985 flossen 19 Pfennige pro 60 Minuten Leerkassettenband an die GEMA ab, womit die steten Urheberrechtsdebatten zumindest ein formales Ende fanden. Popmusik formte auch deswegen
25 Vgl. dies und folgendes: Weber: Das Versprechen, S. 167-176 und 215-223; Röther: The Sound of Distinction, S. 405-448. Zur Kassette vgl. Millard: Tape Recording and Music Making; ders.: Audio Cassette Culture and Globalisation; Herlyn/Overdick: Kassettengeschichten. 26 Vgl. Zeppenfeld: Tonträger in der Bundesrepublik Deutschland, S. 69.
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Fankreise und Identitäten, weil ein Freund dem anderen die gekaufte LP überspielte und weil das Mix-Tape nicht nur Musikvorlieben preisgab, sondern auch eine Geschichte über einen selbst erzählen konnte. Auch der Walkman eignet sich, um Popgeschichte als Objektgeschichte zu schreiben, wie es bereits die Studie von du Gay et al. von 1997 andeutet. Gegenüber gängigen Musikgeräten war Sonys erster Walkman, der TPS-L2 von 1979 (in der BRD 1980 eingeführt) geradezu beschränkt – man konnte damit nämlich nur per Kopfhörer eine Kassette anhören. Aber gerade in dieser Zuspitzung auf den mobilen, diskreten Hörer lag sein Erfolg: An die Stelle der Leitidee des konzentrierten, kontemplativen, häuslichen HiFiHörens trat nun diejenige eines mobilen, diskret-intimen Hörens am Kopfhörer. Musik wurde zur persönlichen Soundscape, mit der sich die Klänge der Umgebung übertünchen und ästhetisieren ließen. Viele Pop-Sounds sind seither auf das intim-stereophone Hören per Kopfhörer oder auch auf das Nebenher-Hören hin ausgelegt. Die ersten Nutzer des Walkmans waren Stars aus der Klassik- ebenso wie aus der Pop- und Rockmusik-Szene. In der BRD verbreitete er sich dann zunächst vornehmlich unter Jugendlichen und löste eine öffentliche Debatte um Jugendkultur, Konsum und Musik aus, die derjenigen zur Halbstarkenkultur der 1950er Jahre um nichts nachstand. Vorgeworfen wurde den Jugendlichen, die mit Kopfhörern auf den Ohren an öffentlichen Plätzen des Zusammentreffens mit Fremden – sei es in der U-Bahn, in der Fußgängerzone oder im Supermarkt – auftauchten, hedonistisch zu sein, sich nicht mehr für die sie umgebende Gesellschaft zu interessieren und sich stattdessen auf ihre Pop- und Rockmusik zurückzuziehen. Dabei zeigt sich auch hier, dass Pop- und Objektgeschichten nur im Kontext der jeweiligen Zeitgeschichte zu verstehen sind: So fand die Aneignung des Walkmans in der BRD vor der Folie von hoher Jugendarbeitslosigkeit, einem (vermeintlichen) »Null-Bock«-Gefühl der Jugendgeneration und der zeitgenössischen Auseinandersetzung um die zunehmende Individualisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft und ihrer elektronisch gestalteten Freizeit statt. Dies prägte wesentlich seine hiesige kulturkritische Interpretation als Technik für eine Generation, die sich dem gesellschaftlichen Miteinander entziehen wolle.
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M OBILE H ÖRMASCHINEN : P OPGESCHICHTE ALS K ÖRPER - UND S INNESGESCHICHTE Das neuartige »Dispositiv« des Hörens – eben das individualisierte Hören unter Kopfhörern, das zuvor dem (zumeist männlichen) ambitionierten, häuslichen HiFi-Hörer vorbehalten war – verändert die Hörkultur einschneidend im Hinblick auf Körper und Sinne, ohne dass wir derzeit das Ausmaß der Veränderungen gänzlich erkennen können. Ohne die Möglichkeit, sich in vertraute Musik einzuklinken, fühlen sich manche Menschen beispielsweise regelrecht nackt; mit Musik in den Ohren nehmen wir die Umgebung (und auch die Menschen der Umgebung umgekehrt uns) anders wahr; wo sich einst Halbstarke mit lauter Musik an städtischen Plätzen öffentlich inszenierten, findet nun mancherorts »mobile clubbing« statt: per social media einberufene Partys, bei denen sich die Mitmachenden zum leisen Tanzen zur eigenen Kopfhörer-Musik treffen. Abschließend wird daher ausgeleuchtet, inwiefern »mobile Musikmaschinen« auch Untersuchungsgegenstand einer Körper- und Sinnesgeschichte sein müssten. Ehe Popmusik mit dem Walkman als mobiles, intimes Erlebnis inszeniert werden konnte, waren es die Autofahrer gewesen, welche erstmals mobil hörten. Musik-Hören im Auto galt als »Mittelding zwischen Kopfhörer- und Lautsprecherwiedergabe«, bei der einem die Musik »förmlich ins Ohr ›geblasen‹« wurde und man zugleich mobil wie statisch am Hörplatz war.27 Während die Autohülle einen personalisierten und räumlich klar abgekapselten Hörraum schuf, kam der Walkman-Kopfhörer auf den Ohren zwar ebenfalls einem personalisierten Hörraum gleich, in den die anderen nicht mehr eindringen könnten, aber dies, ohne dass der Hörer räumlich von der Umgebung getrennt wäre. Die dauerhafte, direkte Verkabelung von Hörgerät und Ohr stellte ein radikal neues Körper- und Raumkonzept dar.28 Der Walkman-Nutzer kappte nicht nur die akustische Verbindung zur
27 Vgl. o. V. Hi-Fi im Auto: Das Auto als Musikzimmer auf Rädern; Zum Hören im Auto vgl. Bijsterveld et al.: Sound and safe. 28 Vgl. zum Kopfhörer Weber: Head Cocoons. Jonathan Sterne führt die Aneignung der Hörtechnik des diskreten Kopfhörer-Hörens auf das medizinische Stethoskop und entsprechende Hörtechniken in der Telegraphie des 19. Jahrhunderts zurück, vgl. Sterne: The Audible Past.
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unmittelbaren Umgebung, sondern er setzte den Walkman auch durchaus gezielt als Wahrnehmungs- und Emotionsprothese ein. Diese gesellschaftliche Brisanz des Walkmans, oder konkreter: der öffentlich-mobilen Nutzung des Kopfhörers – scheint zumindest der heutigen jüngeren Generation einer vergangenen Zeit anzugehören. Es ist normal geworden, sich im mobilen Alltag mit Laptop, MP3-Player oder Handy zu verkabeln, um sich über das Ansehen von Filmen, das Hören von Musik oder das Plaudern mit Freunden Zeit und Raum für sich selbst zu schaffen. Demgegenüber wurde sie von den Zeitgenossen des späten 20. Jahrhunderts ausführlich diskutiert und von manchen emanzipatorisch, von anderen gesellschaftskritisch gedeutet. So stellte Volker Gransow in kultur- und technikkritischem Tenor fest, der Walkmangebrauch ändere das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit fundamental, da »für ›Öffentlichkeit‹ konstitutive Tätigkeiten wie Hören, Sehen, Sich-Begegnen auseinandergenommen und technotronisch vermittelt neu zusammengesetzt« würden.29 Der DDRMusikwissenschaftler Wilfried Bestehorn hingegen schrieb euphorisch, beim Walkman verschmelze ein technisches Gerät »mit dem Körper, wird Teil des Individuums, unabhängig davon, an welchem Ort es sich aufhält, ob es sich in Ruhe oder in Bewegung befindet. Ein Instrument also zur Befriedigung eines permanenten Musikhungers, Elektronik, die mit der Psyche des Hörers ›verschaltet‹ wird (zur Stabilisierung der Seele und des Geistes) und die Unabhängigkeit des musikhörenden Individuums garantiert.«30
Schon Shuhei Hosokawa, der 1981 eine erste kulturwissenschaftliche Analyse des Walkmans vorlegt hatte, sah im Walkman-Hörer eine »Autonomiedes-laufenden-Ich«: ein autonomes und mobiles Selbst, bei dem Technik und Nutzer verschmolzen. 31 Den Kopfhörer auf den Ohren, setzte der Walkman-Nutzer an die Stelle der akustischen Wahrnehmung des durchquerten Aufenthaltsraums die selbst gewählte »soundscape«: Der Umgebungsraum wird nun primär visuell wahrgenommen, wodurch sich verän-
29 Vgl. Gransow: Der autistische Walkman, S. 97. 30 Bestehorn: Musik und Technik, S. 479. Als Bestehorn dies schrieb, waren die Mini-Rekorder bereits nicht mehr im offiziellen DDR-Handel erhältlich. 31 Vgl. Hosokawa: Der Walkman-Effekt, S. 9.
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derte Sinneseindrücke ergeben und manche Nutzer die Umgebung quasi zur Filmkulisse werden lassen, die sie nun mit dem eigenen Sound unterlegen.32 Erst der Rundfunk wie auch erste Tonspeicher (und ihre entsprechenden Aufnahme- wie Abspielgeräte) wie Phonographen-Walze und Schallplatte ermöglichten im 20. Jahrhundert das Hören von Musik abseits vom Aufführungsort. Bereits Paul Valéry sprach im Hinblick auf das Radio von einer »Eroberung der Allgegenwärtigkeit« durch die Töne, denn Musik könne nun herbeigerufen werden, »wann und wo es uns gefällt«.33 Aufgrund ihrer zunehmend ubiquitären Verfügbarkeit diente Musik über das 20. Jahrhundert hinweg stets der Identitätsfindung wie auch gezielt als Mittel, die eigene Stimmung und Gefühlswelt zu beeinflussen. 34 Mit dem Walkman ließ sich dies erstmals nicht nur diskret, sondern auch völlig ortsunabhängig tun. Darüber hinaus verstärkt sein Einsatz in Mobilitätssituationen das kinästhetische Empfinden von Dynamik und Geschwindigkeit. Michael Bull hat die vielfältigen Einsatzformen von Walkmans und iPods in ethnographischen Studien untersucht: Die Hörer nutzen Musik und Gerät, um lästige Umgebungsgeräusche auszublenden, lästige Routinen oder Räume des Unterwegssein zu ästhetisieren, Anmachen zu entgehen; es geht darum, per selbst gewähltem Sound ein Stück Vertrautheit und Kontrolle in den Alltag zu bringen.35
F AZIT : P OP , J UGENDKULTUREN UND DES E QUIPMENTS DES P OP -H ÖRENS
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Eine Geschichte des Pops, so wurde argumentiert, sollte aus vielfachen Gründen heraus die für das Pop-Machen und Pop-Hören notwendige materiale Basis und damit insbesondere auch Fragen der Technikentstehung, -entwicklung und -aneignung untersuchen. Drei Beobachtungen lassen sich abschließend resümieren: Erstens lassen sich über die Frage nach den Geräten und Schallträgern – ihrer Gestaltung, ihrem Kauf, ihrer Aneignung und
32 Der Walkman wird daher auch von Schätzlein als prothetische Wahrnehmungsmaschine beschrieben, vgl. Schätzlein: Mobile Klangkunst. 33 Valéry: Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit, S. 481. 34 Vgl. zu dieser Rolle von Musik v.a. auch DeNora: Music in Everyday Life. 35 Vgl. Bull: Sounding out the city; Bull: Sound Moves.
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ihrer Nutzung für das Pop-Hören – neue Perspektiven und Theorieansätze in die Popgeschichte integrieren. Dies betrifft insbesondere den Bereich der Sound Studies sowie der historischen wie sozialwissenschaftlichen Technikforschung, des weiteren spezifische historische Subfeldern wie die Körper- und Sinnesgeschichte. Instruktiv scheinen insbesondere Ansätze zur Aneignung von Dingen bzw. Technik, welche den Nutzern »Eigensinn« und Wirkmächtigkeit (»agency«) zusprechen. Diese sehen Konsumenten nicht als passive Mitläufer der Massenkultur, sondern zeigen, wie Nutzer die Populärkultur über ihr Verhalten entscheidend mitbestimmen. Wenn Pop für sich in Anspruch nimmt, subversives oder gar emanzipatorisches Potenzial zu besitzen, so liegt es nahe, dass sich Popgeschichte auch mit solchen Aneignungstheorien beschäftigt. Zweitens ist der Blick auf die verwendeten Musikmaschinen und -medien auch deswegen erhellend, weil im Zuge der enormen Ausdifferenzierung von Musik- und Lebensstilen seit einigen Dekaden nicht mehr eine bestimmte Musikkultur die Heranwachsenden eint – der eine hört Punk, die andere Heavy Metal. Es ist inzwischen weniger die gehörte Musik, welche die Jugend- von der Erwachsenenkultur abgrenzt. Vielmehr scheint es die Gerätebasis zu sein: So waren es in den 1980er Jahren zunächst Jugendliche, die sich einen Walkman anschafften, ehe sich später auch Erwachsene mit Kopfhörern auf den Ohren in die Öffentlichkeit trauten; inzwischen ist es das Hören von MP3-Titeln auf dem Handy, das die Jugend eint.36 Teenager und Heranwachsende sind als »early adopters« und Pioniere von neuartigen mobilen Lebens-, Musik- und Kommunikationsstilen zu wichtigen Akteuren des technisch-medialen Wandels geworden; sie nutzten Gameboys und Handys bereits in Masse, ehe sich auch die älteren Generationen mit solchen Geräten bestückten. Damit verbunden ist nicht zufällig drittens die Mobilisierung des Musikhörens als markante Zäsur in der Geschichte der Musik. Seit den späten 1950er Jahren waren es die jugendlichen Musikhörer, die diese neue, mobile Musikhörkultur prägten. Mobil zu sein war ihnen wichtiger als eine gute Soundqualität; mobil Musik zu hören bedeutete zugleich, sich von vielen Werten und Normen der Erwachsenenwelt zu distanzieren. Die mobilen
36 Zur Geschichte des MP3-Formats, das wir heute überwiegend mit Musik-Sharing verbinden, derweil dies bei seiner Entwicklung zunächst unwichtig war, vgl. Sterne: MP3.
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Hörmaschinen haben den Alltag, seine Mediatisierung und Mobilisierung am Ende des 20. Jahrhunderts enorm geprägt, und die Zeitgeschichte wird nicht daran vorbeikommen, diese Technisierung des mobilen Alltags stärker zu berücksichtigen als bisher.
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Lebenssteigerung Selbstverhältnisse im Pop A LEXA G EISTHÖVEL
Versucht man, historische Selbstverhältnisse im Pop zu überschauen, ergibt sich eines jener Wimmelbilder, die man aus Kinderbüchern oder der niederländischen Malerei des 16. Jahrhunderts kennt. Sie haben kein Zentrum und keine dominanten Sichtachsen, die es erlauben würden, aus der Vielfalt der dargestellten Handlungen, Interaktionen und Ereignisse eine Geschichte, einen strukturierenden Zusammenhang herauszulesen. Stattdessen herrscht ein buntes Nebeneinander eigenständiger Mikrogeschichten, die nur locker durch einen gemeinsamen Schauplatz verbunden sind. Das Tableau könnte in etwa so aussehen: Oben tanzen Raver gut gelaunt aus dem Bild, während ein Geschwader snobistischer Mods auf Motorrollern nachrückt. Ein Punk teilt mit seiner Ratte ganz friedlich eine Dose Bier, aber nur zwei Meter weiter dissen ein paar Riot-Grrrls eine Bande halbstarker Tollenträger, beobachtet von einer Disco-Diva, deren Geschlecht unmöglich zu bestimmen ist. Langhaarige mit Gitarren und Flöten haben sich um ein Lagerfeuer versammelt und erweitern ihr Bewusstsein, kein bisschen gestört von den Satanisten, die Black Metal spielen, dass es dem sensiblen Singer/Songwriter in den Ohren klingt. Die Geschichte der Popkultur konfrontiert uns mit einem breiten Spektrum an Möglichkeiten, ein Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen, es zu pflegen, zu behaupten oder zu verändern. Das liegt auch an der Vielzahl von Kategorien, die Eingang in Selbstverhältnisse fanden: Zuschreibungen von Rasse, Geschlecht, Alter und sozialer Zugehörigkeit, die Unterschei-
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dungen von Mensch und Tier, von Mensch und Maschine, von Profanem und Sakralem. Popkulturelle Selbstverhältnisse waren Verkörperungen, sie bildeten sich an Musik und in Texten, im Umgang mit der Materialität und Symbolik von Dingen, in der Besetzung von Räumen, in der Interaktion von Personen, nicht zuletzt in Selbstdeutungen und -erzählungen. Als Forschungsfeld ist die Geschichte des Pop-Selbst erst im Entstehen begriffen und kann nicht auf eine differenzierte Literatur zurückgreifen. Daher wird dieser Beitrag vor allem Untersuchungsperspektiven skizzieren.
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IN DER
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Dass Selbstverhältnisse Gegenstand der Geschichtswissenschaft geworden sind, liegt noch nicht lange zurück. Zwar gibt es eine historiographische, vor allem ideengeschichtliche Tradition, die sich mit der »Entdeckung« des Individuums und der Entfaltung von Individualität seit der Renaissance beschäftigt. Aber diese geht davon aus, das Subjekt der Individualität sei ein außersoziales, stabiles Ganzes. Wenn im folgenden vom Selbst gesprochen wird, ist demgegenüber eine historisch wandelbare Größe gemeint, die individuellen Handlungsspielräumen unterliegt, aber in sozialen Prozessen hergestellt wird. Die Formel »doing self« bringt dies auf den Punkt: Ein Selbst hat man nicht, ein Selbst macht man, ohne dass dieser Prozess je zum Abschluss kommen würde. Man kann mit Michel Foucault auch von »Arbeit am Selbst« sprechen, was bedeutet, dass der/die Einzelne das eigene Selbst durch vielfältige Interventionen gestalten und erhalten muss. 1 Solche Subjektivierungsvorgänge lassen sich historisch beschreiben und daraufhin analysieren, wie sie politisch und gesellschaftlich gerahmt waren, welche Formen des Selbst in unterschiedlichen historischen Konstellationen möglich und erwünscht waren und welche nicht.2 So verstandene popkulturelle Selbstverhältnisse sind bisher kaum mit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden untersucht worden, was auch damit zu tun hat, dass Pop im Fach lange nicht als ernstzunehmender Forschungsgegenstand galt. Pop wurde, wenn überhaupt, als Symptom gesellschaftlicher Großprozesse wie »Demokratisierung«, »Libe-
1
Foucault: Regierung des Selbst; ders.: Ethik der Sorge um sich.
2
Vgl. etwa Alkemeyer: Subjektivierung; Richter: Das Selbst.
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ralisierung« oder »Individualisierung« (positiv oder negativ im Sinne des Verfalls sozialer Bindungen) thematisiert. Historikerinnen folgten dabei den Bahnen der Kulturkritik, die in rechten wie in linken Ausprägungen die Entwicklung moderner Lebensverhältnisse reflexiv begleitete, dabei aber einen grundsätzlichen Vorbehalt gegen moderne Populärkultur hegte. Auf dem Spiel standen für die einen Autorität, Ernst und kultiviertes Verhalten, für die anderen Kritikfähigkeit und das Potenzial zur Selbstbefreiung. Das autonome Selbst als Herr im Hause des Handelns schien insbesondere durch leicht konsumierbare Oberflächlichkeit und kommerzielle Verführung bedroht. Exzessive populäre Verhaltensweisen wie der Gefühlsausbruch im Fußballstadion, Alkoholrausch, auffällige Kleidung, durchtanzte Nächte erschienen als flüchtige Ausbrüche aus einer durchstrukturierten Existenz und daher nicht als gesellschaftsbildend und -verändernd. Ein neues Deutungsmuster kam Anfang der 1970er Jahre auf, als Sozialwissenschaftler begannen, das gesellschaftspolitische Potenzial der Popkultur zu entdecken. Auf längere Sicht sehr einflussreich wurden die britischen Cultural Studies, die popkulturelle Ausdrucksformen von Jugendlichen als aktuelle Form des Selbstbehauptungskampfes von Unterschichten deuteten. Über Kleidung, Musikkonsum und Verhalten entfalteten Teddy Boys oder Rocker demnach einen auffälligen, Differenz markierenden Stil, mit dem sie sich von der bürgerlichen Normalkultur, aber auch von der überlieferten working class culture absetzten. Im Gegensatz zur kulturkritischen Manipulationsthese erschienen Rezipienten und Konsumenten nun als Akteure, die sich Angebote von Markt und Massenmedien selbstbestimmt anzueignen verstanden.3 Diese Perspektivierung machte es möglich, gesellschaftlichen Wandel nicht mehr nur in Makrostrukturen wie den industriellen Produktionsverhältnissen oder dem Parteiensystem, sondern auch im »weichen« Bereich kultureller Praktiken aufzusuchen. In Westdeutschland kamen solche Impulse weniger von Alltagshistorikern als aus einem Zweig der historisch arbeitenden Volkskunde. Zu nennen ist hier vor allem Kaspar Maase, der die »Ästhetisierung des Alltags« als eine Entwicklung herausstellte, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Gesellschaft über alle politischen Zäsuren hinweg geprägt habe. In wegweisenden Arbeiten konnte er zeigen, wie sich gesellschaftlicher Wandel im Feld der Popkultur vollzog, und zwar
3
Vgl. dazu den Beitrag von Bodo Mrozek in diesem Band.
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gerade auch auf der Ebene von Selbstverhältnissen. 4 Von den Cultural Studies lernen hieß aber nicht nur, Pop als historisches Phänomen ernst zu nehmen; methodisch bedeutet es auch, sich audiovisuelle Quellen zu erschließen und mit denselben handwerklichen Standards zu bearbeiten, wie sie im Umgang mit Texten üblich sind.5 Die Zeitgeschichte des Selbst ist eine Geschichte der Bilder und der Klänge und ihrer Verbindung mit Texten. Eine zweite Welle der kultursoziologischen Betrachtung von Pop setzte im Anschluss an Pierre Bourdieus Analyse »feiner Unterscheidungen« und die Soziologie der Lebensstile ein, die kulturelle Präferenzen als Marker sozialer Differenzierung auswiesen. Übersetzt in zeitgeschichtliche Fragestellungen lautete das Problem der Distinktion etwa: Mit welchen kulturellen Zeichensystemen unterschieden sich in den 1950er Jahren bürgerliche Exis – existenzialistische Jazzfans – von proletarischen Halbstarken und beide wiederum von ihren Eltern und anderen Erwachsenen?6 Mit welchen, auch popkulturellen, Praktiken konstituierte sich in den 1970er Jahren ein linksalternatives Milieu und mit ihm »alternative« Selbstentwürfe? 7 Eine identitätspolitische Wendung formulierte die Frage, welche popkulturellen Praktiken in der Lage waren, die Wertschätzung marginalisierter und dissidenter Subjektformen zu erhöhen, allen voran geschlechtlicher und rassischer Identitäten, die von der hegemonialen Figuration »weiß und heterosexuell« abwichen.8 Mit der Aufwertung von Pop zu einem Gegenstand von Gesellschaftsanalyse und Geschichtsschreibung wurde die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Kultur allerdings nicht obsolet, sondern mit anderen Mitteln fortgesetzt. Guter Pop hieß und heißt: geeignet, Selbstbestimmung, Subversion und Widerstand zu transportieren, und immer in Gefahr, kommerziell vereinnahmt zu werden. Geschichtliche Darstellungen der Popkultur lehnten sich eng an deren Selbsterzählung der Nonkonformität an und
4
Vgl. Maase: Ästhetisierung; als Fallstudie ders.: BRAVO Amerika, etwa das Kapitel »Auf dem Weg zum zivilen Habitus«. Den Begriff »Selbstverhältnis« verwendet er allerdings nicht.
5
Vgl. Lindenberger: Vergangenes Sehen; Geisthövel: Auf der Tonspur.
6
Vgl. etwa Maase: BRAVO Amerika, S. 177-185.
7
Vgl. Reichardt/Siegfried (Hg.): Das Alternative Milieu.
8
Stellvertretend Irving: »I Want Your Hands on Me«.
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trugen dazu bei, eine Art Gegennormalität auszurufen9: Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erklärten progressive Pädagogen, Sozialpsychologen und Gesellschaftsbeobachter den rebellischen, unangepassten Jugendlichen zur treibenden Kraft, die »unpolitische Jugend« nach 1968 zum Bremsklotz des gesellschaftlichen Fortschritts. Jugendliche Devianz, (post)adoleszentes Sich-Ausprobieren avancierte zur notwendigen Phase eines gelungenen Reifungsprozesses. Als »angepasst« geltende Popstile standen daher lange Zeit unter Generalverdacht, bevor sie in den 1990er Jahren in subkulturellen Distinktionsmanövern als Trash zu neuen Ehren kamen.10 Vielleicht war die Abstinenz von Zeithistorikerinnen in diesen Diskussionen eine gute Voraussetzung, um in einer Art verspäteten Zündung die alten Unterscheidungen von Politik und Konsum, Kreativität und Kommerz durcheinanderzubringen. Beispielweise hat Thomas Frank gezeigt, wie Protagonisten der US-amerikanischen Werbewirtschaft innovative Kreativität gegen Konformismus ausspielten und seit den 1960er Jahren den gegenkulturellen Rebellen als eine Figur der Werbung etablierten. 11 Ähnlich argumentierte Detlef Siegfried, in den linken Oppositionsbewegungen der 1960er Jahre seien politisches Engagement und konsumorientierter Lebensstil Hand in Hand gegangen.12 Was es hieß, wenn der gewandte Umgang links politisierter Mittelschichtskinder mit der Warenwelt zum Differenzkonsum wurde, hat Moritz Ege analysiert: Die »Afroamerikanophilie« der Studentenbewegung hatte mit politischen Überzeugungen, aber ebenso viel mit der popkulturellen Aneignung von so genanntem »schwarzem« Lebensgefühl, dem Othering des eigenen Selbst zu tun.13 Und auch die lange fraglose Identifizierung von Popkultur und »Amerikanisierung« gerät ins Wanken, wenn man fragt, in welchem Umfang auch eine Orientalisierung stattfand, wie sich diese zu »westlichen« Einflüssen verhielt und welche Effekte sie auf Selbstverhältnisse hatte: Das gilt für Yoga ebenso wie für Karaoke, Gangnam Style und die Martial Arts,
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So etwa auch die Pionierstudie von Eichstedt/Polster: Wie die Wilden.
10 Zum elitär-ausschließenden Charakter von Trash vgl. Zaimoğlu: Sicarim süppkültürünüze. 11 Frank: Conquest of cool. 12 Siegfried: Time. 13 Vgl. Ege: Schwarz werden. Zu Differenzkonsum vgl. auch Ha: Hype um Hybridität, S. 71-84, 95-96.
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die in der sportlichen Praxis wie auf der Leinwand populär wurden, sowie für mobile Abspielgeräte und modische Kleidung, die im späten 20. Jahrhundert häufig aus ostasiatischer Produktion stammten und sich Technologievorsprung bzw. Billiglöhnen verdankten.14 Neue Impulse für eine Zeitgeschichte des Selbst kommen in jüngster Zeit aus dieser poststrukturalistisch informierten Richtung in der soziologischen Gegenwartsdiagnose und in der Zeitgeschichte, die positiv besetzte Leitideen wie »Liberalisierung« und »Individualisierung« in Frage stellt. Diese Perspektive verbindet sich mit einer herrschaftskritischen Haltung insbesondere zu neoliberalen Gesellschaftsentwürfen, die stark auf die Selbstregulierung der Individuen setzen: Der Ausweitung von Partizipationschancen durch Liberalisierung steht die Verpflichtung des Einzelnen gegenüber, sich selbst im Interesse des (postulierten) Gemeinwohls zu steuern. Diese Geschichte des Selbst arbeitet sehr stark mit körpergeschichtlichen Ansätzen, weil im Anschluss an Michel Foucault der Körper als maßgebliches Interventionsfeld von Herrschaft in den Blick gerückt ist.15 Figurationen wie das »unternehmerische Selbst«, das »beratene« oder das »präventive Selbst« werden als dominante Subjektkulturen im Spätkapitalismus vorgestellt, die im Namen der Entscheidungsfreiheit auf Optimierung und Selbstverwertung setzen.16 Die Brücke zur Popkultur ist dabei bisher selten geschlagen worden, aber zwei mögliche Übergänge deuten sich an. Zum einen erscheint Popkultur als Übungsfeld für bestimmte Fertigkeiten, die mittlerweile als ökonomische Ressourcen gehandelt werden, wie Diversität und interkulturelle Kommunikationsfähigkeit. 17 In diesem Sinne wäre sie also Teil einer übergreifenden Verwertungslogik. Alternativ ließe sich das ungesund und riskant lebende, das »verschwenderische« Selbst des Pop nicht als Erlösung von neoliberaler Subjektivität, aber als ihr diskursiver Gegenpol im Horizont möglicher Selbstverhältnisse verstehen.
14 Vgl. Streng: Kung Fu Pop. 15 Vgl. Möhring: Regierung der Körper. 16 Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst; Lengwiler/Madarász (Hg.): Das präventive Selbst; Maasen/Elberfeld/Eitler/Tändler (Hg.): Das beratene Selbst. 17 Vgl. Kusser: Arbeitsfreude.
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S TOFFE
POPKULTURELLER
S ELBSTBILDUNGEN
Und dann der Minirock! Mein erster […] war absolut häßlich und innerhalb unserer Familie die Sensation, trotz (oder gerade wegen?) meiner krummen Beine. Dazu malte ich mir schwarze Balken über die Augenlider und versuchte zu hungern. Ich war nämlich viel zu fett für die unglaublichen Twiggy-Maße von 78-55-80 […]. Ich stand stundenlang vor dem Badezimmerspiegel und versuchte, mir mit Hilfe von Haarspray und Tesafilm Sechserlocken vor die Ohren zu legen.18
In dieser kurzen Passage, in der sich eine Frau in den 1980er Jahren an ihre Teenagerzeit in den 1960er Jahren erinnerte, klingen mehrere Themen an, die ganz allgemein für die popkulturell inspirierte Ausgestaltung des Selbst zentral sind. Zunächst einmal wird deutlich, dass Popästhetik insofern Arbeit am Selbst bedeutet, als mit der Gestaltung des eigenen Äußeren ein erheblicher Zeit-, Informations- und Materialaufwand verbunden ist. Kleidung, Schuhwerk und Kopfbedeckungen, Schmuck und Accessoires wie die Sonnenbrille mussten nach stilistischen oder modischen Gesichtspunkten ausgesucht, erworben oder hergestellt, probiert und kombiniert werden. Gleiches gilt für Make-up, Frisuren und weitere Behaarung sowie für invasive Eingriffe mit dauerhaften Folgen wie Tattoos und Piercings, wobei der dabei empfundene Schmerz wiederum bedeutsam für das Selbstverhältnis sein konnte. Die ersehnte Twiggy-Figur weist darauf hin, dass die Gestaltung des Körpers nicht an dessen Oberfläche Halt machte. Es galt auch, auf den lebenden Organismus einzuwirken, der dick oder schlank wurde, durch Training Muskeln ansetzte oder durch »schlechte Haltung« verkrümmte, Hellhäutige an der Sonne oder im Sonnenstudio bräunte oder durch das Vermeiden von Tageslicht gewollt oder ungewollt blass machte. So alltägliche Verrichtungen wie Essen oder Sitzen konnten zu Elementen popkultureller Selbstverhältnisse werden, wenn der daraus gebildete Körper entsprechend als »schön«, »souverän« oder »lässig« codiert war. Das setzt sich fort in der Motorik, in der Mimik, in Gesten und Fortbewegungsweisen, sofern sie als Marker bestimmter Popstile dienten, wie etwa der pimp-roll als typische Gangart des Hip Hop. Ein starkes Beispiel für die Arbeit am (Künstler)Selbst ist das Mimiktraining, das die afroamerikani-
18 Kuckuck: Mini, Twist und Twiggy, S. 91.
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sche Sängerin Diana Ross in der Motown charm school erhielt, um die Aufmerksamkeit des weißen Fernsehpublikums von »negroiden« Merkmalen wie den Lippen auf ihre Augen zu lenken.19 Es zeigt, dass solche Körpergestaltungen keineswegs pubertäre Marotten waren, sondern große gesellschaftspolitische Themen wie Geschlecht und Rasse bearbeiteten. Zum Pop-Selbst konnten außerdem körpernah gebrauchte Gegenstände gehören, beispielweise technische Geräte wie Motorroller, Walkman oder der Laptop in der Performance von Elektro-DJs: Bei ihnen »scheint die körperliche Präsenz auf ein unabdingbares Minimum zurückgedrängt, auf am Trackpad spielende Finger und im Monitor versenkte Augen. Man sieht stillgelegte Körper, deren Köpfe – vom Bildschirmlicht spukhaft erhellt – eine kühle Geistigkeit ausstrahlen.«20 Ebenso wie die Techniknutzung war das Sammeln von Tonträgern oder die Verbindung von Popkultur und Trendsportarten, etwa beim Surfen oder Skaten, stark geschlechtlich codiert.21 Weitere Ergänzungen des Subjekts bildeten tierische und menschliche Begleiter, etwa die Ratten der Punks, die Mitglieder einer Band oder die Entourage der Hip Hopper; bei Stars ist sogar das anwesende oder abwesende Publikum als Teil des Selbst in Betracht zu ziehen. All diese produktiven Verrichtungen am eigenen Körper hatten den Charakter von Selbsterfahrungen, aber ihre historische Bedeutung entfaltet sich erst, wenn man sie auch als kommunikative, als soziale Akte versteht: »Keiner handelte an sich für sich allein, viele durften am Körper mitarbeiten, um herauszukriegen, was geht und was nicht.«22 Wer vor dem Spiegel mit Tesafilm an den Haaren bastelte, war zwar für den Moment allein mit sich, aber anwesend waren all die anderen, denen man sich zu präsentieren gedachte: die Peers, deren oft harschen Regeln man sich unterwarf, die Anhänger konkurrierender Stile, Familie und Nachbarn, Passanten im Stadtpark und in der Fußgängerzone. Der Wille zur Unterscheidung von »den anderen« war ein starkes Motiv dieser Anstrengungen, ebenso wie die Kehrseite, der Wunsch dazuzugehören. Beides funktionierte über Distink-
19 Vgl. Lüthe: Color-line, S. 106. 20 Club mediale/Meike Jansen: Vorwort, S. 11. 21 Vgl. Straw: Sizing up Record Collections; Keightley: »Turn it down!«. 22 Linck: »Männer, Frauen«, S. 263.
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tion, die Markierung und das Zeigen von Differenz im verbalen und nonverbalen Miteinander.23 Es würde allerdings zu kurz greifen, die popkulturelle Selbsterfahrung als nichtsoziale Instanz ganz dem Einzelnen zuzurechnen. Denn auch für Wahrnehmungen, Gefühle, Erlebnisse gilt, dass sie meistens nicht einfach passierten, sondern hervorgebracht und kultiviert wurden.24 Man kann zum einen verschiedene Popstile mit spezifischen emotionalen Regimes in Verbindung bringen; zum anderen gab es übergreifende Formen des Wahrnehmens und Fühlens, die in einem breiteren Kontext moderner Subjektivierungstechniken standen: den Selbstversuch und das Stimmungsmanagement. Viele popkulturelle Praktiken des Selbstbezugs waren experimentell25: sich schräger Musik, extremen Lautstärken aussetzen, ob selbst oder von anderen gemacht; ausprobieren, wie viele Stunden marathontanzen man durchhält; zur Musik beliebige Drogen nehmen und schauen, was passiert. Auf der anderen Seite wurden popkulturelle Selbsterfahrungen durch Wiederholung irgendwann vertraut und kalkulierbar, so dass sie ein situationsabhängiges Stimmungsmanagement ermöglichten. Dabei ging es nicht unbedingt um Ausgleich, sondern durchaus um extreme Gefühle und Wahrnehmungen, die gezielt hervorgelockt wurden. Mit den modernen Massenkünsten war seit dem späten 19. Jahrhundert ein differenziertes Angebot von Gelegenheiten entstanden, Erlebnisse zu haben und darunter fielen auch solche, die gemeinhin als negativ galten, wie Ekel, Panik oder Wut. 26 Moderne Kulturkonsumenten lernten, sich beispielweise mit einer Auswahl an vertrauten Musikstücken in unterschiedliche Stimmungen zu versetzen, die den Lebensvollzug unterstützten. Noch wissen Historikerinnen wenig über die routinierte Promiskuität jener Hörerinnen, die keiner ausgewiesenen Subkultur angehörten. Beispielsweise hörten in den 1960er Jahren vermutlich viele Menschen nicht entweder Beat oder Schlager, sondern beides. Zu rechnen ist daher mit Gemengelagen von offenen Selbstversuchen und gezielten Selbsterregungen: Der Besuch im Tanzlokal verhieß unge-
23 Vgl. Hebdige: Meaning of style, S. 100-102. 24 Vgl. Wellmann: »Let fury have the hour«. 25 Zum experimentellen Charakter von Pop-Körpern vgl. Linck: »Männer, Frauen«, S. 264, und allgemein Gamper: Experiment. 26 Vgl. Maase: Der Banause.
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wisse Begegnungen, aber man ging auch dort hin, weil man genau wusste, wie es sich anfühlte, in einer Masse tanzender Körper unterzutauchen. Und es reicht nicht aus, etwa den Konsum von Rauschmitteln pauschal als exzessive Praxis zu behandeln; vielmehr sind konkrete Effekte und Erfahrungswerte zu beschreiben. Wachmachende oder leistungssteigernde Drogen brachten ein anderes Selbst hervor als beruhigende oder halluzinogene oder eine Kombination aus diesen.27 Schließlich ist zu fragen, wie sich jene Stoffe in popkulturelle Selbstverhältnisse einfügten, die im bürgerlichen Verständnis die Gegenpole populärer Unterhaltung bildeten: Politik, Kunst und Reflexion. Aus zeithistorischer Sicht war Pop weder eindeutig politisch noch unpolitisch noch auf eine bestimmte politische Richtung festgelegt: »Rock gegen rechts« gab und gibt es genauso wie Rechtsrock, also Rock von rechts, ohne dass man sagen könnte, das eine sei mehr oder weniger Popkultur als das andere.28 Man kann untersuchen, ob popkulturelle Akteure nach ihrem eigenen Selbstverständnis politisch handelten, ob es ihr Ziel war, im Gebrauch von Pop ein politisches Selbst, ein Aktivist, eine Revolutionärin, ein Oppositioneller, zu sein. Ein einschlägiges Beispiel ist die Kultur der Protestsongs und politischen Musikfestivals in den 1960er und 1970er Jahren.29 Eine wichtige Rolle spielt aber auch die politische Umwelt: In verschiedenen politischen Systemen kann die Selbst- und Fremdpolitisierung einer Subkultur oder eines Popstils beträchtlich variieren. 30 Eine Grundentscheidung betrifft den Begriff des Politischen, den man als Historikerin anlegt: einen eher engen, am politischen System orientierten oder einen, der alle denkbaren menschlichen Beziehungen (und darüber hinaus auch Mensch-Tier-Beziehungen) umfasst. So lässt sich beispielsweise Techno ebenso als unpolitische Feierkultur wie als genuine politische Ausdrucksform deuten.31 Die strikte Unterscheidung von Kunst und Unterhaltung oder Hoch- und Massenkultur gehört zu den durchgängigen Motiven der kulturkritischen Konstituierung und Begleitung von Popkultur sowie der von Zeit zu Zeit
27 Vgl. Schleking: Drogen/Selbst/Gefühl. 28 Vgl. Goodyer: Crisis Music; Annas/Christoph (Hg.): Neue Soundtracks. 29 Vgl. Siegfried: Time. 30 Vgl. den Beitrag von Detlef Siegfried in diesem Band. 31 Vgl. etwa Meyer: Zwischen Parties, Paraden und Protest.
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ausbrechenden moral panics. Gleichwohl lassen sich immer wieder Grenzüberschreitungen zwischen beiden Bereichen beobachten, die die Gültigkeit dieser kategorialen Unterscheidung in Frage stellen. So gab es bereits im »Swinging London« der 1960er Jahre eine gemeinsame Szene für Pop-ArtKünstler und Vertreter des Progressive Rock32, so wie Mitte der 1970er Jahre Punk abermals maßgebliche Impulse aus den Art Schools erhielt. Ob eine bestimmte popkulturelle Praxis Kunst war oder nicht, lässt sich aus historischer Perspektive nicht entscheiden; relevant sind die zeitgenössischen Grenzziehungen, die eng mit Selbstbildern verbundenen Distinktionsmanöver: Popstars konnten sich als »echte« Künstler inszenieren, Konsumenten sich beim Hören anspruchsvoller Konzeptalben mit einem feinsinnigen klassischen Konzertpublikum vergleichen. Umgekehrt stellten Künstler, etwa Popliteraten, unter Beweis, dass sie beide Register, High und Low, meisterten. Ähnliches gilt für Intellektuelle und Professoren, die seit den 1980er Jahren ihr geistiges Selbst nicht nur am Thema Pop bildeten, sondern auch Posen und Überschreitungsgesten teils der Popkultur, teils avantgardistischen Traditionen entlehnten. 33 Einen anderen Akzent hatten Theoriebewegungen im Feld der identity politics, etwa Paul Gilroys Anliegen eines »theorizing black identity«, das auf die popkulturelle Selbsterzählung – die Befreiung weißer Disziplin- und Tabukörper durch schwarzes Leid und schwarzen Rhythmus – mit elaborierten Texten antwortete.34 Im permanenten Prozess der Subjektwerdung boten sich vielfältige, mehr oder weniger frei kombinierbare Elemente an: Coolness und Expressivität, Glamour und Askese, Natur und Antinatürlichkeit, Eigentlichkeit und Camp, Sensibilität und Härte, Erleuchtung und Weltuntergang, Bestätigung und Aufweichung bestehender Geschlechtermuster, schwarz bleiben und »schwarz werden«, Mensch, Monster oder Maschine sein. Wie aber können Historikerinnen aus der Überfülle dieser Stoffe eine historische Erzählung schneidern?
32 Vgl. Braun: Where was Pop. 33 Vgl. Hinz: Cultural Studies und Pop; Geer: »If you have to ask«. 34 Gilroy: Black Antlantic.
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Z USCHNITTE
POPHISTORISCHER
E RZÄHLUNGEN
Das überbordende Material historischer Popkulturen lässt sich auf verschiedene Weisen ordnen. Als Historikerin kann man sich für einzelne Motive der Selbst-Bildung interessieren, die sich durch die Popgeschichte hindurch in verschiedenen Stilen auffinden lassen und im Kontext breiterer gesellschaftlicher Entwicklungen stehen. So hat beispielsweise das Motiv der Coolness Vorläufer in älteren »Verhaltenslehren der Kälte« (Helmut Lethen) wie dem Dandytum, es hat semantisch und praktisch unterschiedliche Nuancen von der Lässigkeit bis zum Zynismus ausgebildet, die Halbstarke, Mods, Glam Rocker, New Waver oder Hip Hopper unterschiedlich ausfüllten. 35 Das coole Selbst lässt sich als Bewältigungsstrategie angesichts moderner Kontingenz oder als Zerfallsprodukt brüchig gewordener Identitäten deuten, und es ist nicht thematisierbar ohne seine Gegenspieler, entspannte Surfer, liebende Hippies oder Spaß-Punks, und ohne die Melangen aus kalt und heiß: »Da bleib ich kühl/ kein Gefühl// Nur deine Blauen Augen/ machen mich so sentimental«.36 Eine andere übergreifende Perspektive könnte sich darauf richten, wie sich Subjekte in konkreten Praktiken jenseits der hergebrachten Großunterscheidung von Produktion und Rezeption fanden, etwa in Kulturtechniken des Variierens oder Improvisierens. Voraussetzung war die Teilnahme an massenmedialer Kommunikation mit ihren zirkulierenden Vorbildern und Phantasmen, an die sich Selbstgestaltungen halten konnten. Dabei konnte oder wollte nicht jeder wie das Magermodel Twiggy oder Curt Cobain leben (und sterben), nicht jede taugte dazu, ein konsequentes Nachtleben zu führen. Häufiger dürfte die eklektische Subjektwerdung durch einen massenmedial vermittelten Zugriff auf heterogene kulturelle Repertoires gewesen sein, die der Kultursoziologe Michael Makropoulos beschrieben hat. Er spricht in diesem Zusammenhang von der »autonome[n] Kombination standardisierter Elemente […], die massenkulturell angeboten und konsumistisch angeeignet werden«.37 Aus dieser Perspektive ließe sich fragen, welche Kontinuitäten und Veränderungen über mehrere Jahrzehnte Popge-
35 Vgl. etwa Stearns: American cool; Frank: Conquest of cool; Tacke/Weyand (Hg.): Depressive Dandys. 36 Aus dem Song Blaue Augen von Ideal: Ideal, WEA, 58 716, 1980 [LP]. 37 Makropoulos: Theorie der Massenkultur, S. 14.
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schichte in Praktiken wie dem Kopieren und Samplen, dem Sammeln und Archivieren beobachtbar sind. Bestätigt sich in der historischen Empirie die Erzählung vom Bruch zwischen analogem und digitalem Zeitalter oder wurde Originalität schon weitaus früher prekär? Welche Selbstverhältnisse realisierten sich in Do-it-yourself-Verfahren, wann, wie und warum wurde aus DIY eine identifikatorische Selbstbeschreibung?38 Während solche Längsschnitte ein bestimmtes Phänomen in seinen Wandlungen über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgen, können synchrone Querschnitte eher die Vielfalt und kontroverse Dynamik an markanten Umbruchspunkten erfassen. Beschäftigt man sich beispielsweise mit popkulturellen Geschlechterverhältnissen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, so eröffnet sich in einem vielgestaltigen Panorama eine große Neuverhandlung von Geschlecht anhand der Konfliktlinie Natur/Authentizität/ Autonomie versus Künstlichkeit/Unterwerfung. Einerseits folgten auch männliche Punk-Musiker dem Rollenbild des dominanten cock rockers, andererseits ebnete das für Männer und Frauen ähnliche Erscheinungsbild Geschlechterunterscheide ein, und Punk-Musikerinnen traten erstmals in nennenswerter Zahl als sich selbst managende Musikerinnen auf. Zudem entlastete die Aufwertung des Hässlichen und Kaputten von hohen Ansprüchen an Körperpflege und Schönheit.39 Zur gleichen Zeit setzte die Disco-Ästhetik – als Gegenspielerin und Komplizin von Punk – auf Glamour und das »Ideal einer reifen, erwachsenen Eleganz«40, oft mit einem Drall ins Halbseidene, der Geschlechtsidentitäten gänzlich zweifelhaft machte, etwa in der Figur der transsexuellen Diva Sylvester (»You make me feel mighty real«). 41 Ebenso verdankte sich der immense Erfolg des Grusicals Rocky Horror (Picture) Show (1973/1975) dem bunten Spiel von Gender-Verwirrungen, künstlichen Menschen und Außerirdischen. Trotz und mit dieser Demokratisierung von Camp machte Disco auch Platz für betont heteromännliche Migrantensöhne wie den Italoamerikaner Tony Manero in dem Film Saturday Night Fever oder deutsch-türkische Hip Hopper, die sich zuerst als
38 Vgl. van Gehlen: Mashup; Gold/Hornung/Kuni/Nowak (Hg.): DIY. 39 Vgl. Poiger: Das Schöne und das Hässliche. 40 Holert: Instant Replay, S. 293. 41 Vgl. Gamson: The Fabulous Sylvester.
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Discobesucher Zutritt zur Musikkultur der Mehrheitsgesellschaft verschafften.42 Punk lässt sich in diesem Zusammenhang als Geste der auftrumpfenden Selbsterniedrigung verstehen, und ganz ähnlich verteidigte der Filmwissenschaftler und Schwulenaktivist Richard Dyer 1979 in dem mittlerweile klassischen Text In Defense of Disco die in linken Kreisen verpönte Musik und Tanzpraxis Disco unter anderem mit dem Argument, die zunächst fast ausschließlich homosexuellen Discobesucher hätten, indem sie ihre Körper einem monotonen Beat unterwarfen, ihre gesellschaftliche Unterdrückung sichtbar gemacht. Etwa gleichzeitig ließ sich die androgyne schwarze Sängerin Grace Jones von dem Fotografen Helmut Newton als gefesseltes Raubtier mit Mikrophon in Szene setzen. Jones erlaubte es sich, in ihrer Selbstdarstellung rassistische und sexistische Motive aufeinanderzuhäufen, ohne aber als Opfer aufzutreten. Dennoch trug das Erscheinen dieses Fotos auf der Titelseite des Magazins Stern 1978 dazu bei, die so genannte »Sexismus-Klage« der Redaktion der feministischen Zeitschrift Emma in Gang zu bringen.43 Die vielleicht nächstliegende Herangehensweise an die popkulturelle Vergangenheit dürfte schließlich eine ethnographische sein, die einzelne ausgeprägte Popstile oder Subkulturen in den Blick nimmt. Das Ergebnis kann eine Miniatur sein, die vor allem die Eigenart und Binnenwelt von Gruppierungen wie Mods, Skins oder Gothic Lolitas erkundet.44 Bei einer stärker zeitgeschichtlichen Ausrichtung würden dagegen auch die Außenund Spannungsverhältnisse zu anderen gesellschaftlichen Akteuren größeres Gewicht erlangen. Jedenfalls hat man es mit der jeweils charakteristische Kombinationen verschiedener Elemente zu tun, die für die beteiligten Subjekte je eigene Erwartungen, Zumutungen und Gratifikationen bereithielten. Ein Beispiel für eine solche Konfiguration ist die elektronische Musikkultur der 1990er und 2000er Jahre, die ein Ensemble von MenschMaschine-Verhältnissen, Soundästhetik, Drogenkonsum, Tanz und gesel-
42 Vgl. Christodoulou: »A straight heterosexual film«; Elflein: Vom neuen deutschen Sprechgesang, S. 284. 43 Vgl. Stern. Magazin, 13. April 1978; Warum wir den stern verklagen! 10 Millionen Frauen protestieren!, Emma, August 1978. 44 Vgl. Grimme: Bittersüße Porzellanpüppchen.
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ligen Praktiken (»Chillen«) an der Schnittstelle zu poststrukturalistischen Theoriebildungen bildet, die die Reflexion auf das eigene »posthumane« Selbst anleiten.45 Im Hip Hop – um ein anderes Beispiel zu nennen – kommen Rap als Sprechgesang mit Sprachwitz, jamaikanische Sound Systems, übergroße Kleidung, die an Gefängniskluft erinnert, eine bestimmte Form des Gehens und Sich-auf-der-Straße-Aufhaltens, die künstlerische Praxis des Tagging (Grafitti) und eine athletische Tanzkunst aus puertorikanischer Tradition zusammen, überwölbt von einem ausgeprägten Wettbewerbsethos und den Regeln des (Dis)Respects. In dieser spezifischen Verbindung spiegeln die Elemente von Hip Hop viel mehr als einen Stil der Popmusik: »eine umfassende Kultur sozial und ökonomisch marginalisierter Jugendlicher« in den Ghettos US-amerikanischer Metropolen.46 Das Bild wäre aber unvollständig, würde man nicht die Wendungen und Windungen popkultureller Selbstwerdungen berücksichtigen, die aus der Mackerkultur Hip Hop ein weibliches Projekt in der Provinz des Deep South machte oder türkischarabische Migrantenkinder in Europa dazu brachte, sich selbst als »Nigger« zu bezeichnen.47
L EBENSSTEIGERUNG Abschließend soll ein übergreifendes historisches Narrativ vorgeschlagen werden, das Popkultur in Diskurse und Praktiken der Lebenssteigerung und damit auch Zeitgeschichte in die Geschichte der Moderne einordnet. Denn das Konzept der Lebenssteigerung verdankte sich einem Verständnis des Menschen als erlebendes Wesen und deutete das »richtig« gelebte Leben im Sinne der Erlebnisfülle um. Die Stationen dieses Motivs im 19. und frühen 20. Jahrhundert – Romantik, Lebensphilosophie, Lebensreform, »Massenkultur«, konservative Revolution usw. – können hier nur stichwortartig erscheinen. Von ihnen erbte die Popkultur, dass das gelungene, weil durch Erlebnisse erfüllte Leben, sein Profil im Kontrast mit dem Syndrom des ungelebten Lebens erhielt. Das konnte unter anderem die prosaische Routine alltäglicher Daseinsverrichtungen, die Einschränkung indivi-
45 Vgl. etwa Bonz: Subjekte des Tracks, Kapitel 3. 46 Elflein: Vom neuen deutschen Sprechgesang, S. 286. 47 Vgl. Love: Hip hop’s li’l sistas speak; Çağlar: Verordnete Rebellion.
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dueller Triebansprüche durch Moralverbote, die Festlegung auf Konventionen und die Bevorzugung der Ratio zu Lasten der leibseelischen Vitalinteressen beinhalten. Das »lebendige« Selbst zu seinem Recht kommen zu lassen konnte im Einzelfall heißen, ganz aus den gewohnten Bahnen herauszutreten, um ein radikal anderes Leben im Namen von Reinheit oder Echtheit, von Intensität oder Souveränität zu führen.48 Pop verkörperte Lebenssteigerung in einem spezifischen historischen Kontext, der ungefähr die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts umfasst, mit einigen guten Gründen aber auch schon in den 1920er Jahren angesetzt werden könnte. Innerhalb dieses Zeitraums variierten unterschiedliche Popstile das Motiv des gelebten Lebens. Das Motto »Live fast, love hard, die young« stammt aus einem Country-Song der 1950er Jahre, der seither von Country-, Rockabilly und Punkmusikern gecovert wurde. Mit der verwandten Maxime »Lebe wild und gefährlich« zitierte die Polit- und Lebensstilrevolte der 68er den Schriftsteller Arthur Schnitzler. We are born to be alive, hieß ein Erfolgstitel der Discoära. »Verschwende deine Jugend«, sangen Deutsch Amerikanische Freundschaft ein paar Jahre später. Und selbst vor dem Schlager machte die Forderung nach kompromissloser Selbstverwirklichung nicht Halt. 1982 besang Gitte Haenning die Lebenssteigerung der reiferen Frau mit Bildungsambitionen: »Jetzt leb ich jeden Tag aus/ Jetzt trink ich jedes Glas leer/ Ich will nicht viel/ Ich will mehr/ Jetzt bin ich frei/ und will alles// Ich lerne Spanisch und Bridge/ Ich spiele Schach und Klavier/ Ich kämpf, gewinn und verlier/ Und geb nicht auf/ Ich will alles// Ich sage nie mehr vielleicht/ Ich schrei hinaus was ich fühl/ Und setze alles auf’s Spiel/ Ich will mehr/ Ich will mehr/ Ich will alles.«49
Nicht immer sprach die Popkultur so explizit aus, wie man richtig leben soll, aber dass sie die Anleitung zum gelebten Leben bereithält, war, so die These, der gemeinsame Subtext verschiedenster popkultureller Strömungen. Hält man sich an Michel Foucault, könnte man sagen, dass sich die »Lebenssteigerung« mit subtilen, durchgreifenden Techniken der
48 Vgl. etwa Buchholz/Latocha/Peckmann/Wolbert (Hg.): Lebensreform. Das Motiv der Lebenssteigerung bereits bei Maase: Der Banause, [6]. 49 Gitte Haenning: Ich will alles, Global, 104 886, 1982 [Single].
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Selbststeuerung verknüpfte. Im Sinne der »Sorge um sich« bzw. der »Arbeit am Selbst« ließe sich »Lebenssteigerung« als Ineinandergreifen von schöpferischen, regulierenden und disziplinierenden Effekten verstehen, die Individuen an sich selbst hervorbringen. Jeder konnte etwas für die eigene Lebendigkeit tun, konnte lebenssteigernde Maßnahmen ergreifen, sich Erlebnissen aussetzen, Sinneseindrücke und Gefühle herbeiführen. Brachte sich das Subjekt in der Auseinandersetzung mit einer selbst gestellten Aufgabe hervor, könnte man von Lebenskunst sprechen. Doch der Imperativ des gelebten Leben konnte auch in einen neuen Leistungsdruck kippen, weil es nicht genügte, beispielsweise spontan und expressiv zu sein, sondern dies nach den Regeln popkultureller Expressivität für sich selbst und andere sichtbar gemacht werden musste: Fühle ich wirklich love and peace? Nehmen andere wahr, wie befreit ich tanze? Pop tendierte zu dionysischen Exzesstechniken und einem Selbstverständnis des Gegenentwurfs, ohne dass man ihn auf präzise Merkmale festlegen könnte. Denn wer glaubt, dass Sex and Drugs and Rock’n’Roll die heilige Dreifaltigkeit des Poperlebens bildeten, muss sich beispielsweise von Straight Edge eines besseren belehren lassen. Diese Spielart des Hardcore-Punk brach Anfang der 1980er Jahre an der US-amerikanischen Ostküste programmatisch mit Rausch und sexueller Promiskuität: »Don’t smoke/don’t drink/don’t fuck« lautete eine einschlägige Songzeile.50 Als Abkömmling der Punk-Bewegung radikalisierte Straight Edge deren asketisches Profil, was nicht bedeutete, dass sich seine Anhänger unauffällig oder angepasst lebten. Vielmehr wurden neben harter Musik andere exzessive Praktiken wie militanter Tierschutz mit gewaltsamen Befreiungen von Labortieren wichtig.51 Ihre Unschärfe hat die Popkultur außerordentlich produktiv gemacht, weil sie anschlussfähig war für vielerlei Praktiken des Lebens. Gelebtes Leben konnte heißen, dass Männer mit nackten, schweißüberströmten Oberkörpern ihren E-Gitarren starke Geräusche entlockten, es konnte aber auch heißen, seiner Zeit schlau und schnell voraus zu sein: »Heute Disco, morgen Umsturz, übermorgen Landpartie«. Es konnte bedeuten, auf dem Soul Allniter die Spanne eines Arbeitstages bis zur Erschöpfung durchzu-
50 Aus dem Song Straight Edge von Minor Threat: Minor Threat EP, Dischord, 3, 1981 [EP].
51 Vgl. etwa Atkinson: Straightedge Bodies.
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tanzen, es konnte sich aber auch darin erschöpfen, sich selbst durch den Konsum von Afri-Cola jede Menge Soul zu attestieren.52 Seit den siebziger Jahren beschwören Retro-Bewegungen das so genannte »Lebensgefühl« verflossener Epochen herauf. Das Popleben kann sich auf Amphetamine oder Apfelsaft, DooWop oder Kettensäge stützen. Sicher ist nur, dass die Botschaft niemals lautet: Sei vernünftig und lebe vorsichtig. Fraglos ist die Popgeschichte reich an individuellen Momenten, die sich ohne konstruktivistischen Vorbehalt als rauschhaft, innovativ und befreiend, kurz: als lebendig beschreiben lassen. Doch als Kultur strebt Pop danach, diese Momente zu verstetigen, zu strukturieren, in eine Ressource zu verwandeln, die vielen zugänglich ist und nicht ständig neu erfunden werden muss. Proteste, Tabubrüche, Subversionen, die sich mit Popkultur verbinden, haben bedeutende Effekte gehabt und dazu beigetragen, bestehende Ordnungen aufzubrechen und neue Verhaltensweisen akzeptabel zu machen. Aber die Popkultur hat im Laufe der Jahrzehnte nicht einfach den Regler von »Unterdrückung« auf »Freiheit« gezogen. Zum einen hatten verschiedene popkulturelle Strömungen durchaus widerstreitende Vorstellungen über Methoden und Ziele der Befreiung. Zum anderen findet sich das popkulturell befreite Subjekt in einem Setting wieder, in dem es zwar weniger fremdbestimmt ist und sich die Regeln selbst aussucht, denen es sich unterwirft, damit aber auch unter erhöhtem Druck steht, sich selbst zu beobachten und zu regulieren. Wenn man so will, lässt sich das Verhältnis von Pop und Leben auch als Paradox beschreiben: dann wäre Popkultur der Zwang, sich zwanglos zu verhalten, die Einübung von spontanem Handeln, eine Schablone für Originalität, kontrollierter Kontrollverlust, routinierte Ekstase.
L ITERATUR Alkemeyer, Thomas: Subjektivierungen als soziale Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: ders./Gunilla Budde/Dagmar Feist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript 2013, S. 33-68.
52 Vgl. Walser: Running with the devil; Meinecke: Neue Hinweise, S. 36; Wall: Out on the floor; Ege: Schwarz werden.
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Pop- und Emotionsgeschichte Eine viel versprechende Partnerschaft H ENNING W ELLMANN »Wir glauben an die Unsterblichkeit der Gefühle? Aber alle Gefühle, selbst die scheinbar edelsten und uneigennützigsten, haben eine Geschichte. Wir glauben an die dumpfe Beständigkeit der Triebe und wir stellen uns vor, sie seien hier und dort, heute wie früher immer noch am Werk. Aber dem historischen Wissen fällt es leicht, sie zu zerlegen, ihre Wandlungen aufzuzeigen, die Zeiten zu benennen, in denen sie stark oder schwach waren, ihre Herrschaft zu verfolgen, ihre langsame Herausbildung und die Entwicklung nachzuzeichnen, in der sie sich schließlich gegen sich selbst wenden und sich zerstören können.«
(MICHEL FOUCAULT: SCHRIFTEN, BD. 2 FRANKFURT A. M.: SUHRKAMP 2002, S. 179.)
Kreischende Beatles-Fans fallen im Angesicht ihrer Stars in Ohnmacht; auf Konzerten streben Anhänger_innen der Hippiekultur zu tausenden nach Harmonie und Frieden unter dem Motto »Make Love Not War«; die Sex
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Pistols schockieren ganz England mit im TV-Vorabendprogramm ungehörten Schimpftiraden; Millionen Menschen tanzen und feiern ekstatisch zu elektronischen Klängen auf der Loveparade; Kurt Cobains Selbstmord erschüttert eine ganze Generation von Musikfans; die »Bieber Mania« um den Sänger Justin Bieber, sorgt bei Teenagern auf der ganzen Welt für Begeisterungsstürme. Allein diese Schlaglichter auf einige Episoden der Popgeschichte zeigen, dass Emotionen in der Popkultur eine entscheidende Rolle spielen. Keines der beschriebenen Phänomene lässt sich umfassend erklären, ohne auch einen Blick auf die Gefühle der Betroffenen zu werfen – seien es die Gefühlsausdrücke der Künstler_innen, die emotionalen Reaktionen der »Fans« oder die Wirkung von Popkultur auf den Rest der Gesellschaft. Befreit man den wissenschaftlichen Blick auf Popkultur von den diskursiven Verengungen, die Betrachtungen von Popkultur, und vor allem darin auftretende Gefühle, immer wieder an Vorstellungen von Authentizität oder Legitimität binden, so eröffnet sich eine viel versprechende Perspektive: Emotionen verlieren ihre Selbstevidenz und erscheinen einerseits als historisierbar, kulturell variabel und kontextualisierungsbedürftig und andererseits als wirkmächtige und erklärende Variablen für popgeschichtliche Zusammenhänge. Auch wenn Foucaults Einschätzung, es falle dem »historischen Wissen« leicht, Emotionen in ihrer zeitlichen und kulturellen Variabilität zu untersuchen, diskussionswürdig ist, so beschreibt er doch schon 1971 die Ausgangsthese der in den vergangenen Jahren immer mehr an Relevanz gewinnenden historischen Emotionsforschung. Emotionen, Gefühle, Stimmungen oder Affekte werden nicht mehr als statische, über die Zeit hinweg identische und stabile Erfahrungsmuster verstanden, sondern als zeitgebundene, historisierbare und wirkmächtige kulturelle und soziale Phänomene, deren Untersuchung wichtige Beiträge zu Betrachtung und Verständnis von Geschichte liefern kann. Diesen wissenschaftlichen Mehrwert kann und sollte sich gerade auch die zeitgeschichtliche Auseinandersetzung mit Popkultur zu Nutze machen. Schließlich scheinen die vielfältigen Zugänge zu Pop wesentlich bestimmt durch emotionale oder affektive Rezeptions-, Partizipations- oder Konsumkatalysatoren, wie etwa Attraktion/Ablehnung, Faszination/Abneigung oder Gefallen/Missfallen.
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Die Beschäftigung mit Emotionen in der Geschichtswissenschaft hat mittlerweile selbst eine über 100-jährige Geschichte.1 Vor allem der 1941 erschienene Aufruf Lucien Febvres, sich der emotionalen Seite der Geschichte zu widmen, gilt als ein Ausgangspunkt der historischen Emotionsforschung. 2 Der Mitbegründer der französischen Annales-Schule begründete seine Forderung, sich den Gefühlen auch aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zu nähern, vor allem mit der Wahrnehmung grundlegender historischer Differenzen zwischen den Gefühlen der Gegenwart und der Vergangenheit. Zwei Jahre zuvor war Norbert Elias’ Werk Über den Prozeß der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen erschienen, in dem er das einflussreiche Narrativ einer fortschreitenden Affektregulierung und »Zivilisierung« der Menschen und ihrer Emotionen von der Vormoderne bis zur Moderne entwickelt.3 Doch auch neben diesen »Klassikern« der Emotionsgeschichte fand eine vielfältige Auseinandersetzung mit der Thematik statt.4 Dabei scheint allen historisch motivierten Auseinandersetzungen gemein, dass sie den Bereich der Gefühle, Affekte und Emotionen im Feld geschichtlichen Wandels verorten. Der Grad der Veränderlichkeit von Emotionen variiert in diesen vielfältigen Auseinandersetzungen jedoch stark. So werden einerseits die individuellen Emotionen oder Affekte als über die Zeit hinweg konstant und invariant konzeptualisiert und mögliche Veränderungen lediglich in den gesellschaftlich konventionalisierten Ausdrucksformen von Gefühlen gesehen. Das andere Ende dieses Spektrums bildet die Annahme, es gebe keine zeitunabhängige, konstante Basis für Gefühle und diese seien stets Produkt gesellschaftlicher und damit historisch verankerter Konstruktionsprozesse. Dieser Widerspruch und damit zusammenhängend die Frage, inwiefern Gefühle, Emotionen oder Affekte sich über die Zeit hinweg ändern, durchzieht seither die Teildisziplin der historischen Emotionsforschung. Zwar ermöglichte diese konfrontative Gegenüberstellung auch
1
Vgl. Plamper: Geschichte und Gefühl, S. 53 ff.
2
Vgl. Febvre: La sensibilité et l’histoire (auf Deutsch: Febvre: Sensibilität und
3
Elias: Zivilisation. Zur Bedeutung und kritischen Reflektion von Elias’ Arbeit
Geschichte); Rosenwein: Worrying, S. 821 ff.; Bourke: Fear, S. 113 f. für die Emotionsgeschichte siehe Rosenwein: Worrying. 4
So etwa bei Wilhelm Dilthey, Karl Lamprecht, Georg Steinhausen oder Kurt Breysig. Vgl. dazu Plamper: Geschichte und Gefühl, S. 56 ff.
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produktive Ergebnisse und Diskussionen, wie etwa William Reddys Auseinandersetzung mit konstruktivistischen und lebenswissenschaftlichen Emotionstheorien zeigt. 5 Jüngst lässt sich jedoch eine Tendenz erkennen, die unterschiedlichen wissenschaftlichen Konzeptionen der Wandlungsfähigkeit von Emotionen selbst zu historisieren und als Ausgangspunkt historischer Forschung zu nutzen.6
W AS
SIND E MOTIONEN ? D EFINITIONSPROBLEME UND ANDERE S CHWIERIGKEITEN Am Anfang der meisten, nicht nur historischen, Auseinandersetzungen mit Emotionen steht ein schwer wiegendes Problem: »Definitions of emotions in various disciplines – psychology, anthropology, sociology, neuroscience, philosophy, to name but a few – are legion.«7 Was genau bezeichnen Wissenschaftler_innen, wenn sie von Emotionen, Affekten oder Stimmungen sprechen? Eine einheitliche Definition ist selbst in der Psychologie nicht zu finden, obwohl diese Disziplin über eine ausgeprägte Tradition in der Emotionsforschung verfügt. 8 Die Vielfalt an Begriffsbestimmungen kann vor allem historisch arbeitenden Emotionsforscher_innen Schwierigkeiten bereiten, da sie mit dem Problem konfrontiert sind, dass zeitgenössische bzw. ahistorische und vor allem universalistisch angelegte Begriffserklärungen immer wieder an ihren Quellen scheitern können. Die Begriffe Gefühl, Affekt, Passion oder Emotion haben in verschiedenen Epochen unterschiedliche Konzeptualisierungen und Bedeutungszuschreibungen erfahren sowie variierende Konjunkturen durchlebt.9 Daraus ergibt sich für emotionsinteressierte Historiker_innen eine schwierige Situation: Müssen sie doch zum einen umreißen, was sie untersuchen, und zum anderen diese Umschreibung möglichst offen halten, um ihren Quellen nicht mit Kategorien zu begegnen, die den eigenen analytischen Blick einschränken. »An-
5
Vgl. Reddy: Navigation.
6
Siehe hierzu Jensen/Morat (Hg.): Rationalisierungen des Gefühls.
7
Gammerl: Emotional Styles, S. 161.
8
Vgl. Mees: Emotionspsychologie; Lewis/Haviland-Jones/Feldman Barrett (Hg.): Handbook of Emotions.
9
Vgl. Frevert/Bailey/Eitler u.a. (Hg.): Gefühlswissen; Newmark: Passion.
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statt daher nach einer klar umrissenen Definition zu suchen«, sollten Gefühlshistoriker_innen, wie Nina Verheyen schreibt, »weit und offen all das in Augenschein […] nehmen, was von historischen Akteuren mit Worten wie ›Gefühl‹, ›Emotion‹, ›Affekt‹ oder ›Leidenschaft‹ bzw. mit semantisch ähnlichen Worten in anderen Sprachen bezeichnet wurde.«10 Diese begriffsgeschichtlich orientierte Herangehensweise bildet eine wichtige Grundlage des historischen Forschens nach Emotionen, doch Plamper wendet zu Recht ein, dass eine Fokussierung auf historische Definitionen von Begriffen nicht ausreicht. »Geschichtswissenschaft, die naturgemäß diachron arbeitet […], braucht zur Bestimmung ihres Untersuchungsgegenstands eine überzeitliche Kategorie, die eine beträchtliche Menge an Gemeinsamkeiten voraussetzt.« 11 Es gilt also den schwierigen Brückenschlag zu bewerkstelligen, einerseits allgemein zu definieren, womit man es zu tun hat, wenn man sich mit Emotionen auseinandersetzt, und andererseits diese Definition so weit zu fassen, dass sie emotionale Phänomene in verschiedenen Epochen analytisch greifbar macht, ohne dem Material zu sehr überzeitliche Kategorien überzustülpen. Insbesondere zwei geschichtlich weit zurückreichende Annahmen bezüglich der Kategorisierung und Funktionsweise von Emotionen sind zunehmend in die wissenschaftliche Kritik geraten. Erstens finden sich immer mehr Ansätze, die eine Aufspaltung des Bewusstseins in das Rationale oder Kognitive und das Irrationale oder Emotionale in Zweifel ziehen. 12 Die Überwindung dieses »cartesianischen Dualismus« erscheint nicht nur deshalb sinnvoll, weil die Trennschärfe dieser Unterscheidung in verschiedenen geschichtlichen Epochen variierte 13 , sondern auch, weil »sich Gefühle in unsere Bewertungen, Überlegungen und Handlungen auch dann ein[-mischen], wenn wir uns gezielt um rationale Reflexion bemühen und von Gefühlen zu abstrahieren suchen« (Gleiches gilt auch für den
10 Verheyen: Geschichte der Gefühle, S. 3. 11 Plamper: Geschichte und Gefühl, S. 49. 12 Vgl. Hitzer: Emotionsgeschichte, S. 6 f.; Eitler/Scheer: Emotionengeschichte als Körpergeschichte, S. 282 f. 13 Zu diesem Dualismus aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive siehe Morat/Jensen: Rationalisierung des Gefühls; aus neurophysiologischer Perspektive siehe Damasio: Descartes’ Irrtums; aus philosophiegeschichtlicher Perspektive siehe Newmark: Passion.
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umgekehrten Fall).14 Im direkten Zusammenhang mit dieser Infragestellung der gegensätzlichen Konzeptualisierung des Vernünftig-/Kognitiven und des Irrational-/Emotionalen wird zunehmend auch die Rolle des Körpers bei der Betrachtung von Emotionen neu verhandelt. Vor allem die Annahme eines biologisch/materiell/universell verankerten Erregungssystems, das nach einem Reiz-Reaktions-Schema bei allen Menschen im Kern gleiche »basic emotions« auslösen kann, deren Varianz dann lediglich in ihren kulturell bedingten Ausdrucksformen und Interpretationen liegt, wird hier kritisiert. »[E]motions are not a bridge between body and mind, are not a set of hardwired arousal systems, are not something radically distinct from reason or thought.«15 Dabei sollte die Infragestellung eines somatisch determinierten Emotionsverständnisses keinesfalls zu einer Ausklammerung des Körpers in der historischen Untersuchung von Emotionen führen. Dem entgegengesetzt argumentieren auch Pascal Eitler und Monique Scheer. Durch den Verweis auf die körperliche Verankerung von Emotionen heben sie die Bedeutung des Körpers und seiner sozialen und kulturellen Formungsprozesse für das Erlernen, Einüben und Praktizieren von Emotionen hervor. »Erfahrung von Emotionen ist […] sehr eng an die Erfahrung des ›eigenen‹ Körpers gebunden, die, so die Annahme, nicht von Geburt an und unveränderbar gegeben ist, sondern erst in der Gesellschaft anderer Menschen erlernt werden muss.«16 Mit der Annahme einer auch materiellen Sedimentierung gesellschaftlicher Emotionsvorstellungen und -praktiken im individuellen, sozial und kulturell geformten Körper bieten Eitler und Scheer eine Konzeptualisierung von Emotionen an, die den Dualismus von Körper und Geist und auch die radikal sozialkonstruktivistische Auffassung von Gefühlen als rein sprachlich konstruiert hinter sich lässt, ohne dabei in einen determinierenden Biologismus zu verfallen. Die zweite Annahme bezüglich Emotionen, die vor allem auch von Historiker_innen kritisiert wird, ist das so genannte »hydraulische Gefühlsmodell«, das Emotionen als »great liquids within each person, heaving
14 Verheyen: Geschichte der Gefühle, S. 4. 15 Reddy: Navigation, S. 94. 16 Eitler/Scheer: Emotionengeschichte als Körpergeschichte, S. 284.
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and frothing, eager to be let out« beschreibt17. Aus emotionshistorischer Perspektive hat sich gezeigt, dass dieses Prinzip selbst historische Bedeutungsschwankungen durchlebte und mit bestimmten bis ins Mittelalter zurückreichenden Denkmustern verknüpft ist, die keinesfalls als universell gültig anzusehen sind.18 Anstatt von einer von innen (individuelles Erleben einer Emotion) nach außen (Ausdruck der Emotion) gerichteten Linearität emotionaler Erfahrungs- und Erlebensmuster auszugehen, setzt sich immer mehr ein »zirkuläres« Emotionsverständnis durch, welches Emotionen gleichzeitig als individuell sowie auch als sozial und kulturell bedingt sieht. Aufgrund dieser wechselseitigen Durchdringung gilt es, »nicht länger zwischen dem vermeintlichen Kern eines Gefühls im Inneren des Individuums sowie einer mehr oder weniger verzerrten ›äußeren‹ Repräsentation zu unterscheiden. Stattdessen wird dafür plädiert, Gefühle als genuin soziale Phänomene zu denken, die in zwischenmenschlicher Interaktion mit Hilfe von Gesten, Mimiken oder Worten nicht bloß nachträglich ausgedrückt, sondern vielmehr modelliert oder sogar hergestellt werden.«19
Ergänzend rät Plamper außerdem »von einer Unterteilung in positive und negative Emotionen« ab und führt weiter aus, dass Kategorisierungen von Emotionen anhand ihres Komplexitätsgrades (»synthetische, einfache und komplexe« Emotionen) problematisch sind. »Überhaupt sollte man, […] den Mischzustand von Emotionen berücksichtigen; Emotionen sind immer komplexer, als die klaren Abgrenzungen der Emotionsbegriffe – ›Angst‹, ›Freude‹, ›Scham‹ – vermuten lassen.«20 Damit verwirft Plamper die zweifelhafte Unterscheidung zwischen einerseits angeblich stark sozial geformten Gefühlen (Nationalstolz oder Vaterlandsliebe) oder Gefühlen, denen eine starke soziale Kontextabhängigkeit und damit Komplexität zugesprochen wird (Eifersucht oder Scham), und andererseits »natürlichen« oder »reinen«, kontextunabhängigen Emotionen (Angst, Wut, Trauer).
17 Rosenwein: Worrying, S. 834; vgl. auch Verheyen: Geschichte der Gefühle, S. 4 und Solomon: True on Emotions, 142 ff. 18 Zur Kritik am »hydraulischen Gefühlsmodell« siehe auch Hitzer: Emotionsgeschichte, S. 7 f. und Rosenwein: Worrying, S. 834 ff. 19 Verheyen: Geschichte der Gefühle, S. 4. 20 Plamper: Geschichte und Gefühl, S. 328.
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Die Kritiken an einer strikten Unterscheidung zwischen Vernunft und Gefühl sowie an dem »hydraulischen Gefühlsmodell« haben weit reichende Konsequenzen für das Verständnis von Emotionen. Sie hinterfragen essentialistische Körperkonzeptionen und biologistische Reduktionen von Emotionen auf rein individuell-körperliche Erfahrungen und öffnen damit Raum für historische Kontingenz und Sozialität. Ausgehend von dieser Öffnung wurden Emotionskonzepte erarbeitet, die vor allem deren kulturelle, soziale und historische Bedingtheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und versuchen, die Wechselwirkungen zwischen individuellem emotionalem Erleben und den dieses Erleben strukturierenden, modulierenden und regulierenden sozialen und kulturellen Ordnungen zu berücksichtigen. Diese neueren Auseinandersetzungen sind es auch, die sich als besonders anschlussfähig für emotionshistorische Untersuchungen von Popkultur zeigen.
»E MOTIVES «, » FEELING RULES « UND DIE F RAGE DER O RDNUNG Die Übertragbarkeit und Anwendung solcher »zirkulären« Emotionsverständnisse auf die Popgeschichte lässt sich beispielhaft an William Reddys Konzept der »emotives« illustrieren. Reddy, der sich ausführlich und kritisch sowohl mit psychologischen als auch ethnologischen/anthropologischen Arbeiten zum Thema Emotionen auseinandergesetzt hat, orientiert sich dabei an der Sprechakttheorie John L. Austins. Emotives versteht er als (vorrangig sprachliche) Äußerungen über den emotionalen Zustand einer Person. Das Besondere an diesen emotives ist, dass sie sowohl Eigenschaften beschreibender (konstativer) als auch weltverändernder (performativer) Äußerungen in sich vereinen.21 Emotives sind damit »[a] type of speech act different from both performative and constative utterances, which both describes (like constative utterances) and changes (like performatives)
21 »Das ist ein Baum« wäre in diesem Sinne eine beschreibende Aussage, wohingegen das »hiermit erkläre ich sie zu Mann und Frau« einer Standesbeamtin eine performative Aussage wäre, da sie direkt die soziale Realität verändert.
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the world, because emotional expression has an explanatory and a self-altering effect on the activated thought material of emotion«.22
In Gefühlsäußerungen, wie zum Beispiel »ich bin traurig« oder »ich liebe dich«, erkennt Reddy somit eine Sonderform von Äußerungen, da sie nicht nur Zustandsbeschreibungen sind, sondern auch einen selbsterkundenden und das eigene Empfinden verändernden Charakter haben. Durch solche, stets gesellschaftlich bedingten Gefühlsäußerungen, werden Feedbackschleifen in Gang gesetzt, die wiederum Einfluss auf das eigene Gefühl haben, sei es in einem bestätigenden, verstärkenden, abschweifenden oder auch zweifelnden Sinne. Auch wenn Reddy, nicht ganz zu Unrecht, vorgeworfen werden kann, dass mit dieser Fokussierung auf sprachliche Äußerungen seine Beschäftigung mit Emotionen in einem »merkwürdig körperlosen Raum« verbleibt23, so liefert sie doch einen Ausgangspunkt, um kulturell reglementierte Emotionsäußerungen und deren gesellschaftliche Stellenwerte und Funktionen in den Blick zu nehmen. Vor allem die Situierung der emotives im Zwischenraum zwischen individueller Wirkung und gesellschaftlicher, historisierbarer Konventionen überwindet damit starre Kausalitäten und Determinismen. Auf eine zeitgeschichtliche Auseinandersetzung mit Popkultur angewendet, kann eine mit dem Konzept der emotives arbeitende Analyse Erkenntnisse über die wechselseitige Beziehung zwischen kulturell bereitgestellten Gefühlsäußerungen und deren Auswirkung auf individuelles Erleben liefern. Man denke nur an die Konjunkturen verschiedener Sprachregelungen, die unterschiedliche Strömungen der Popkultur hervorgebracht haben – von der vom Diktum emotionaler Offenheit geprägten Sprachkultur der Hippies bis zum »FML«24 in Zeiten Sozialer Netzwerke. Unter diesem Gesichtspunkt besonders spannend wäre eine genauere Untersuchung der Wirkung von Liedtexten und deren Rezeption und Aneignung. Wie wirkt sich etwa das in tausenden Popsongs vorgebrachte und millionenfach mitgesungene »I love you« der Popmusik auf emotionale Sprachregelungen und damit auch auf individuelle Emotionen in unter-
22 Reddy: Navigation, S. 128. 23 Eitler/Scheer: Emotionengeschichte als Körpergeschichte, S. 288. 24 Die Abkürzung FML steht für »Fuck My Life« und war 2009 die meist benutzte Abkürzung auf amerikanischen Facebook-Seiten.
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schiedlichen kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontexten aus? Um einer solchen Frage nachzugehen, ließe sich zurückverfolgen, welche Art von Liebesbekundungen in Popsongs zu verschiedenen Zeiten zu finden sind, und anschließend rekonstruieren, welche Parallelen diese mit alltäglichem Sprachgebrauch aufweisen. Lassen sich etwa Ähnlichkeiten zwischen den Liebessemantiken in den 1950er und 1960er Jahren populär werdender Stile wie Rock’n’Roll oder Schlager und Formulierungen in Liebesbriefen, Tagebüchern, Ratgeberkolumnen oder Zeitschriften dieser Zeit finden? Sind solche Übersetzungsprozesse zu identifizieren, ließe sich in einem nächsten Schritt untersuchen, in welchen Sinnkontexten diese liebesbezogenen Sprachregelungen stehen und welche Situationen als adäquat präsentiert werden, sie zu äußern. Welche Sprechweisen und welche Konzepte von Liebe werden beispielsweise im deutschen Schlager der 1950er Jahre vermittelt? Wie wird Liebe hier geschlechtlich codiert und welche Beziehungsformen sind damit verknüpft? Und wer darf überhaupt über welche Form von Liebe singen? Anhand der Klärung dieser Fragen lassen sich mit dem Konzept der emotives Aussagen über die emotionale Wirkung solcher popkulturell vermittelten Sprachregelungen treffen, da emotives durch die Fokussierung auf ihren performativen Charakter über rein diskursive Sinn- und Ordnungsstrukturen hinausweisen. Popkulturellen Artefakten wie Liedern oder Liedtexten ließe sich damit einerseits ein gesellschaftsgestaltender Charakter zuschreiben, der sie gegenüber institutionalisierten politischen Prozessen, etwa der Ehe- oder Sittengesetzgebung, erheblich aufwertet. Andererseits käme ihnen so auch eine Funktion als Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Moral- und Wertvorstellungen und ihrer Inkorporierung in individuelle Gefühlswelten zu. Einen weiteren wichtigen Punkt in der Beschäftigung mit Emotionen bildet die Auseinandersetzung mit den Transmissionsriemen emotionaler Ordnungsvorstellungen zwischen Gesellschaft und Individuum bzw. vice versa. Wie übersetzen sich soziale und kulturelle Emotionsvorstellungen und -ordnungen in individuelle Gefühlszustände? Und wie gehen Individuen mit diesen Gefühlsnormen um? Die Soziologin Arlie Hochschild hat auf diese Fragen schon Ende der 1970er Jahre mit ihrem Aufsatz Emotion Work eine, auch von Historiker_innen, viel rezipierte Antwort vorgeschla-
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gen.25 Entlang der Begriffe »emotion management«, »emotion work« und »feeling rules« erklärt sie, wie sich Individuen mit den Gefühlsregeln einer Gesellschaft auseinandersetzen, und verschiebt somit den Fokus von innerpsychischen Auseinandersetzungen mit Emotionen auf den gesellschaftlichen Einfluss auf und von Gefühle(n). Ihre Ausgangsthese dabei ist: »Emotion, it is argued, can be and often is subject to acts of management. The individual often works on inducing or inhibiting feelings so as to render them ›appropriate‹ to a situation.«26 Anhand einer ausführlichen Studie, die das Emotionsmanagement von Stewardessen untersucht, unterfütterte Hochschild diesen Ansatz in einer später erschienenen Monografie mit empirischem Material.27 Darin kommt sie zu dem Schluss, dass die Erwartungshaltung der Arbeitgeber bzw. der Fluggäste gegenüber Stewardessen, immer fröhlich, freundlich und hilfsbereit zu sein, nicht nur zu einer »oberflächlichen« Veränderung im Verhalten der untersuchten Stewardessen geführt hat, sondern dass sich durch die Emotionsarbeit tatsächlich die Gefühle der Betroffenen ändern. Damit schlägt Hochschild eine Brücke von gesellschaftlich konventionalisierten Gefühlsregeln (»feeling rules«) zu individuellen Gefühlswelten. Wobei jedoch keinesfalls von der simplen Kausalitätskette einer »reibungslosen« Umsetzung der »feeling rules« in individuelle Gefühle ausgegangen werden kann. Denn Emotionsmanagement und Emotionsarbeit bergen auch immer die Gefahr des Scheiterns und sind daher tendenziell ergebnisoffen. »Note that ›emotion work‹ refers to the effort – the act of trying – and not to the outcome, which may or may not be successful. Failed acts of management still indicate what ideal formulations guide the effort, and on that account are no less interesting than emotion management that works.«28 Inspiriert von diesem Ansatz lässt sich fragen, welche Gefühlsregeln etwa im professionellen Bereich der Popkultur gelten und ob hier analoge Inkorporierungsprozesse zu finden sind wie in Hochschilds Beispiel der Stewardessen. Allein die irritierende und unpassende Vorstellung von Performances übellauniger Schlagersänger_innen oder fröhlich lächelnder Heavy-Metal-Künstler_innen legt die Annahme nahe, dass solche Gefühls-
25 Vgl. Hochschild: Emotion Work. 26 Ebd., S. 551. 27 Vgl. dies.: Managed Heart. 28 Dies.: Emotion Work, S. 561.
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regeln auch in der Popkultur eine wichtige Rolle spielen und dabei zwischen verschiedenen Genres und Kontexten variieren. Eine zeitgeschichtliche Forschung, die explizit nach solchen Gefühlsregeln fragt, könnte sich dabei zum einen an Hochschilds Methodik orientieren und versuchen, direkt mit Akteuren der Popkultur, etwa Künstler_innen, Manager_innen oder Medienvertreter_innen, in Kontakt zu treten und diese nach ihren emotionalen Erfahrungen im Popgeschäft zu befragen. Da eine solche Methode der Oral History nur auf die Epoche der Mitlebenden anwendbar und der Zugang zu Zeitzeug_innen mitunter beschränkt ist, bietet sich zum anderen die Möglichkeit, nach dokumentierten Übertretungen popspezifischer Gefühlsregeln zu suchen. Hier könnten sich vor allem Medienberichte als ergiebig erweisen, die sich mit (emotionalem) Fehlverhalten von Künstler_innen beschäftigen. Wie reagiert die (Pop-)Öffentlichkeit darauf, wenn Künstler_innen durch scheinbar unpassende Gefühlsäußerungen oder Aussagen zu ihrem emotionalen Befinden irritieren? Wie Hochschild beschreibt, können gerade auch diese »failed acts of management« Aufschlüsse über die dahinterstehenden Gefühlsregeln geben. Insgesamt bietet Hochschilds Perspektive eine Möglichkeit, die scheinbar allgegenwärtige Frage der Authentizität von Emotionalität in popkulturellen Performances vorerst auszuklammern und sich mit der »emotionalen Arbeit« von Künstler_innen sowie den an sie gerichteten Ansprüchen an emotionales Verhalten auseinanderzusetzen. Der Zusammenhang zwischen Popkultur und Kommerzialisierungs- und Kommodifizierungsprozessen wirft dabei die Frage auf, ob eine ähnliche Tendenz der Vermarktung bzw. Vermarktlichung von Gefühlspräsentationen in diesem Bereich zu finden sind, wie auch Hochschild sie identifiziert hat. Einen ähnlichen Ansatz wie Hochschilds »emotional management« greift auch William Reddy im Zusammenhang mit seinem Konzept der emotives auf, wobei er sich von dem Begriff des Managements löst und stattdessen die Metapher der Navigation verwendet. »›Navigation‹ might be a better metaphor than ›management‹, for what emotives accomplish, because navigation includes the possibility of radically changing course, as well as that of making constant corrections to stay on a chosen course.«29 Durch die Umgehung des Managementbegriffs betont Reddy die tendenzielle Ziel- und Ergebnisoffenheit des Navigierens der eigenen Gefühle,
29 Reddy: Navigation, S. 122.
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welches, auch in seiner Konzeption, stets scheitern und immer wieder neue Ausrichtungen erfahren kann, die nicht unbedingt einer stringenten, konsequent intentionalen Strategie entsprechen müssen, wie der Managementbegriff sie nahelegt. Sowohl Hochschild als auch Reddy gehen bei diesen Überlegungen teilweise von gesellschaftlich auf der Makroebene angesiedelten Strukturen der Gefühlsregulierung bzw. der Gefühlsformung aus. Hochschild zeichnet die Auswirkungen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems auf das »emotional management« in einer Dienstleistungsbranche nach und verhandelt diese dann schließlich unter dem Diktum einer »Kommodifizierung der Gefühle«.30 Reddy untersucht in The navigation of feeling das »emotional regime« des »sentimentalistischen« Frankreich des 18. Jahrhunderts und fasst unter diesem Begriff »the set of normative emotions and the official rituals, practices, and emotives that express and inculcate them« zusammen. Er knüpft explizit das Bestehen und den Bestand politischer Regime an die »Funktionalität« der dazugehörigen emotionalen Regime. 31 Diese Topdown-Perspektive auf emotionale Ordnungen erlaubt größere historische und politische Zusammenhänge in den Blick zu nehmen und, wie bei Reddy zu finden, eine neue Perspektive auf historischen Wandel, der auch durch das »Scheitern« emotionaler Ordnungen bzw. die Inkongruenz oder Inkompatibilität von politischen und emotionalen Regimes erklärt werden kann.32 Auch hier bieten sich Anschlussmöglichkeiten für die Popgeschichte. Zum einen können Konzepte wie Hochschilds »emotion work« und »emotion management« und Reddys Begriff des »Navigierens« eine neue Perspektive auf Aneignungs- und Adaptationsprozesse popkulturell bereitgestellter Gefühlsnormen bieten und deren Bedeutung im Geflecht anderer Emotionsordnungen beleuchten. Als besonders viel versprechend könnte sich hier eine Untersuchung von popkulturellen Räumen in ihrer Funktion als »emotional refuges« im Sinne Reddys erweisen. Unter »emotional refuge« versteht Reddy »[a] relationship, ritual, or organization (whether
30 Vgl. Hochschild: Managed Heart. Zum Zusammenhang von Gefühlen und Kapitalismus siehe auch Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. 31 Reddy: Navigation, S. 129. 32 Vgl. ebd., S. 141 ff., aber vor allem auch Plamper: Geschichte und Gefühl, S. 306 ff. für kritische Punkte dieses Ansatzes.
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informal or formal) that provides safe release from prevailing emotional norms and allows relaxation of emotional effort, with or without an ideological justification, which may shore up or threaten the existing emotional regime.« 33 Zum anderen ermöglicht die Vorstellung von gesellschaftlich etablierten Gefühlsregeln, sei es im Sinne von »feeling rules« oder von »emotional regimes«, den Blick auf die Konflikte, Brüche und Reibungsflächen zwischen hegemonialen und devianten, affirmativen und widerständigen emotionalen Ordnungen zu richten. So können etwa die Auseinandersetzungen der Studenten- und Hippiebewegung mit dem »Establishment« in den 1960er und 1970er Jahren auch als ein Kampf um die Definitions- und Regelungsmacht von Gefühlsordnungen gelesen werden.34 Eine so ausgerichtete Popgeschichte kann die bisherige historische Forschung zu diesen Konflikten und Transformationsprozessen um wichtige Facetten bereichern. Vor allem der Blick auf die (Protest-)Musik der Zeit und die darin enthaltene Kritik an bestehenden bzw. Vorstellungen anderer emotionaler Ordnungen können sich hier als aufschlussreich erweisen. Zum einen um Erkenntnisse über die inhaltliche Form der Kritik an bestehenden Umgangsformen mit Emotionen zu erhalten, zum anderen aber gerade auch, um die Rolle von Musik im Speziellen und Popkultur im Allgemeinen als Distributions- und Affizierungsmotor dieser Entwicklungen zu beleuchten. Eine These wäre in diesem Zusammenhang, dass musikalisch geäußerte Kritiken oder Utopien eine wesentlich, nicht nur emotional andere Wirkung entfalten als beispielsweise Flugblätter oder Zeitschriften. Um dies zu überprüfen, ließen sich etwa Erfahrungsberichte von Konzerten in Zeitschriften, Briefen oder Tagebüchern auf geäußerte Zusammenhänge von emotionalem Musikerleben und politischer Willensbildung hin untersuchen. Analoges wäre auch für Filmerfahrungen viel versprechend. So könnte beispielsweise die Wirkung von Filmen wie Dennis Hoppers zum Kultfilm gewordener Road Movie Easy Rider (1969) aus dieser Perspektive beleuchtet werden, um Einblicke in die Zusammenhänge von Popkultur und Auseinandersetzungen um emotionale Ordnungsvorstellungen zu erhalten.35 Im
33 Reddy: Navigation, S. 129. 34 Vgl. Tanner: Motions and Emotions; Davis: Provokation als Emanzipation; Nolte: Gesellschaftsstrukturen. 35 Easy Rider. USA 1969, 95 Min., Regie: Dennis Hopper, Drehbuch: ders./ Peter Fonda, Produktion: Peter Fonda/William Hayward/Bert Schneider.
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Zentrum des Films steht der Konflikt zwischen verschiedenen Lebenswandeln in den USA, der schließlich zum Mord an den zwei Protagonisten führt. Die beiden Drogen dealenden, hippiesken Motorradfahrer geraten auf ihrer Reise durch die USA immer wieder mit konträren Moralvorstellungen, Werten und Normen in Konflikt, werden verhaftet, zusammengeschlagen und schließlich auf ihren Motorrädern aus einem Auto heraus von Rednecks erschossen. In diesem Kontext müsste die Frage genauer untersucht werden, wie in der filmischen Darstellung die offensichtliche Kollision divergierender Moral- und Normvorstellungen mit der Auseinandersetzung um Gefühlsregeln oder emotionale Regime in Verbindung steht. Was wird als Auslöser für die zahlreichen Konflikte im Film dargestellt und sind diese Auslöser eventuell verknüpft mit der Verwendung bestimmter emotionaler Sprachreglungen, dem Ausdruck von Gefühlen oder einer angenommenen Verwerflichkeit bestimmter Emotionen? Gerade bezogen auf die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Umbrüche in den 1960er und 1970er Jahren wäre es sicherlich auch lohnend, popkulturelle Räume unter dem Gesichtspunkt von Reddys »emotional refuges« zu betrachten. Welche Rolle spielten etwa Konzerte, Festivals oder Filmvorführungen der Hippies für ihr emotionales »Navigieren« in einer von »falschen« Vorstellungen im Umgang mit Emotionen geprägten Gesellschaft? Sollten diese Räume tatsächlich (auch) als »emotionale Refugien« fungiert haben, also als Rückzugsräume, in denen vorherrschende emotionale Normen und Standards für gewisse Zeit außer Kraft gesetzt bzw. ihre Wirkungen kritisch reflektiert werden konnten, so verweist dies auf eine wichtige Rolle der Popkultur in der politischen Auseinandersetzung um emotionale Ordnungsvorstellungen. Nicht nur im Sinne von Räumen, in denen Kritik entwickelt und verbreitet werden konnte, sondern auch als Kontexte, in denen es möglich war, abweichende Umgangsformen mit Emotionen zu praktizieren und zu erleben, wie in der Hippiekultur etwa die »freie Liebe« oder das gezielte Thematisieren und Reflektieren des eigenen Gefühlsempfindens. Die zu strikte Orientierung auf Makrostrukturen emotionaler Ordnungen birgt allerdings zum einen die Gefahr, eine verallgemeinernde oder egalisierende Perspektive auf die Gefühlsordnungen einer Epoche oder Gesellschaft einzunehmen, und zum anderen das oft friedliche Nebeneinander und die Vielschichtigkeit emotionaler Ordnungen aus dem Blick zu verlieren. Diesen Einwand brachte prominent die Mediävistin Barbara
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Rosenwein vor, die mit dem Begriff der »emotional communities« versucht, der Gleichzeitigkeit und Diversität emotionaler Ordnungen innerhalb einer Gesellschaft Rechnung zu tragen: »People lived – and live – in what I propose to call ›emotional communities‹. These are precisely the same as social communities – families, neighborhoods, parliamants, guilds, monasteries, parish church members – but the researcher looking at them seek above all to uncover systems of feeling.«36 Weiter betont sie die kontinuierliche Fluktuation zwischen diesen Gemeinschaften. Menschen bewegen sich beständig von einer »emotional community« zu einer anderen und versuchen sich dabei der jeweiligen Umwelt anzupassen.37 Diese Betonung der synchronen Vielfältigkeit verschiedener »emotionaler Gemeinschaften« oder auch »emotionaler Stile« in einer Gesellschaft sollte gerade bei einer emotionsinteressierten Auseinandersetzung mit Popkultur Beachtung finden.38 Die Vorstellung einer auch in ihren emotionalen Erlebens- und Ausdruckspraktiken differenzierten Gesellschaft erlaubt eine vergleichende Perspektive auf unterschiedliche, parallel existierende und nicht zwangsweise konfligierende »Gefühlsstile«. Dadurch kann nicht nur der viel zitierten Flüchtigkeit spät- oder postmoderner Gemeinschaften und Vergemeinschaftungsformen Rechnung getragen werden, auch kann sich der Fokus auf die Übergänge und das Nebeneinander, die Exklusivität bzw. Inklusionsfähigkeit popkultureller emotionaler Gemeinschaften richten. Diese Perspektive legt damit synchrone und diachrone Vergleichsmöglichkeiten nahe, die sich darauf konzentrieren, Ähnlichkeiten, Unterschieden und Wandlungsprozessen in der emotionalen Konstruktion und Konstitution verschiedener popkultureller Gemeinschaften nachzugehen. Denkbar wären hier Untersuchungen des Wandels emotionaler Ordnungsvorstellungen bestimmter Szenen im zeitlichen Verlauf. So ließe sich etwa analysieren, wie sich Vorstellungen vom richtigen Umgang mit Emotionen (in Sprache, Ausdruck, künstlerischer Darstellung, Erleben) in deutschen Hip-Hop Szenen zwischen den späten 1980er und den 2010er Jahren verändert haben – von der ersten Welle Begeisterter, die stark von der USamerikanischen Hip-Hop-Kultur geprägt waren, bis zu Anhängern des
36 Rosenwein: Worrying, S. 842. 37 Vgl. ebd., S. 842 f. 38 Vgl. Gammerl: Emotional Styles; Reddy: Emotional Styles.
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deutschen Gangsta-Raps, der Ende der 1990er populär wurde. Ein analoger Vergleich wäre auch lohnend für zeitlich parallel existierende Gemeinschaften. Hier wäre zum einen ein genreübergreifender Vergleich möglich, der sich mit der Frage beschäftigt, wie sich etwa die emotionalen Ausdrucks- und Erlebensmuster aufkommender englischer Punkszenen der 1970er Jahre von denen der bereits etablierten Hippiegemeinschaften unterschieden. Aber auch Perspektiven auf andere Unterscheidungskriterien, wie sozialer Status, Geschlecht oder geographische Positionierung, wären hier viel versprechend.
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BREITERER Z UGANG – UND SOZIALE P RAKTIKEN
S UBJEKTIVIERUNG
Betrachtet man die bisher vorgestellten Ansätze und Konzepte der historischen Emotionsforschung genauer, erwecken sie teilweise den Eindruck, sich theoretisch-methodisch recht stark auf Emotionen als distinkte, isolierbare analytische Kategorie zu konzentrieren. Es erscheint daher lohnenswert, diese Ansätze in einen breiteren theoretischen Kontext zu stellen. Hierfür bieten meines Erachtens vor allem Andreas Reckwitz’ Arbeiten zur Subjekttheorie und zu einer Theorie sozialer Praktiken einen viel versprechenden Ausgangspunkt.39 Durch das Kombinieren verschiedener Ansätze entwirft Reckwitz mit seinen kultursoziologischen Überlegungen ein fundiertes theoretisches Gerüst zur Untersuchung kultureller und sozialer Ordnungen und Strukturen und deren Wechselwirkungen mit individuellem Handeln, Denken und Fühlen. Reckwitz’ am Poststrukturalismus orientierte Lesart des Sozialen und Kulturellen als von symbolischen und materialen Ordnungen strukturierten und gleichzeitig kontingenten Erfahrungs- und Handlungsräumen er-
39 Vgl. Reckwitz: Subjekt; ders.: Das hybride Subjekt; ders.: Soziale Praktiken; ders.: Unscharfe Grenzen; ders.: Affective Spaces. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Reckwitz sich in seinem Buch Die Erfindung der Kreativität unter anderem auch selbst explizit der Popforschung gewidmet hat. Eines seiner Kapitel setzt sich mit der Entstehung des popkulturellen Starkults auseinander und verknüpft diese mit der »massenmedialen Konstruktion expressiver Individualität«. Siehe ders.: Die Erfindung der Kreativität, S. 239 ff.
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möglicht es, die emotionalen Ebenen und Komponenten von Wahrnehmung und Handeln aus der Perspektive ihrer kulturellen und sozialen Strukturiertheit in den Blick zu nehmen. Dieser Ansatz liefert eine Möglichkeit, die oftmals stark partikular auf Emotionen fokussierten oder auf empirische Fallstudien begrenzten Ansätze der historischen Emotionsforschung in den breiteren Kontext einer Kulturtheorie einzubetten, mit der sich Emotionen als lediglich eine Komponente im subjektbildenden Geflecht von Sinn- und Bedeutungskonstrukten, Handlungs(an-)geboten und materialen Konstellationen verstehen lassen.40 Einen Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet dabei die maßgeblich von Foucault angestoßene Auseinandersetzung mit Prozessen der Subjektivierung, also der Selbstwerdung, in deren Zentrum die Annahme steht, das Subjekt sei »nur scheinbar eine A-priori-Instanz, der Autonomie, der Moralität, der Selbsterkenntnis oder des zielgerichteten Handelns. Es wird zu einer solchen erst dadurch, dass es sich machtvollen kulturellen Kriterien unterwirft.« 41 Diesen »machtvollen kulturellen Kriterien« gilt es nachzuspüren, um Erkenntnisse über die in einer Gesellschaft zirkulierenden Möglichkeiten zu gewinnen, sich als intelligibles Subjekt zu positionieren, und damit auch Aussagen treffen zu können über die hierin implizierten und in »Affektkulturen« organisierten emotionalen Dispositionen. »Als Affektkulturen sollen hier Komplexe von sozialen Praktiken, kulturellen Diskursen (die nicht nur textuelle, sondern auch visuelle Diskurse umfassen) und zugehörigen Artefakten (zum Beispiel Medientechnologien oder räumliche Strukturen) verstanden werden, welche im Individuum eine spezifische Hervorlockung oder Hemmung von bestimmten Emotionen, sinnlichen Orientierungen und Affiziertheiten betreiben. [Herv. i. Orig.]«42
Damit benennt Reckwitz auch gleich die »analytischen Schlüssel«, die zur Erforschung von Affektkulturen nützlich sein können: Diskurse, soziale Praktiken und Artefakte. Vor allem die Fokussierung auf soziale Praktiken zur Untersuchung von Emotionen scheint besonders fruchtbar, wie auch Monique Scheer aufgezeigt hat. In ihrem, vor allem von Bourdieu inspirier-
40 Vgl. ders.: Umkämpfte Maskulinität. 41 Ders.: Subjekt, S. 24; siehe dazu auch Foucault: Subjekt und Macht. 42 Reckwitz: Umkämpfte Maskulinität, S. 182.
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ten Ansatz plädiert sie dafür, Emotionen selbst als eine Art sozialer Praktiken zu verstehen: »[P]ractices not only generate emotions, but […] emotions themselves can be viewed as a practical engagement with the world. Conceiving of emotions as practices means understanding them as emerging from bodily dispositions conditioned by a social context, which always has cultural and historical specificity.«43
Auch Reckwitz betont eine praxeologische Ausrichtung bei der Erforschung von Emotionen, setzt diese in direkte Verbindung mit räumlichmaterialen Anordnungen und formuliert dazu drei heuristische Prämissen: »1. Every social practice involves an affective-perceptive structuration worth of analysis. 2. Every social practice involves an artifact-space structuration worth of analysis. 3. Affects are often directed at artefacts/objects and are structured by the spaces these artefacts/objects form.«44 Sowohl bei Scheer als auch bei Reckwitz wird deutlich, dass Emotionen unabdingbar mit körperlichen Praktiken verbunden und diese wiederum nur in ihrer sozialen und kulturellen Kontextualiät sinnvoll zu entschlüsseln sind. Dieser Fokus auf soziale Praktiken ermöglicht es zum Beispiel, popkulturelle Tanzstile als soziale Praktiken zu betrachten, die eng mit spezifischen Affizierungen und konventionalisierten Emotionsausdrücken verknüpft sind – und vermutlich gerade deswegen eine so wichtige Rolle in der Popkultur einnehmen. Genauer betrachtet stellt das Bewegen zu Musik eine höchst voraussetzungsreiche, kulturell reglementierte körperliche Praktik dar, die immer eines gewissen Trainings und der Routinisierung bedarf, die auch das Erlernen und Verkörperlichen bestimmter emotionaler Ausdrucks- und Erlebensformen implizieren. Einerseits werden diese durch soziale, kulturelle und räumliche Kontexte geprägt. Wird etwa unerlaubterweise in Kinos getanzt, wie zu Fred F. Sears 1956 erschienenem Rock’n’Roll-Film Rock Around the Clock in deutschen Kinos häufig geschehen, oder in der Disko, wo das Tanzen als kulturelle Praxis bereits etabliert ist?45 Andererseits ist
43 Scheer: Emotions, S. 193. 44 Reckwitz: Affective Spaces, S. 249 [H.i.O.]. 45 Rock Around the Clock. USA 1956, 77 Min., Regie: Fred F. Sears, Drehbuch: Robert E. Kent, Produktion: Sam Katzman.
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entscheidend, wie das Bewegen zu Musik im jeweiligen popkulturellen Umfeld verstanden und reflektiert wird – etwa als Aggressionsventil auf Punk- oder Hardcorekonzerten, als künstlerische und sportliche Angelegenheit, wie zum Beispiel das Breakdancing im Hip-Hop, oder als trancehaftes Versinken in der Musik, wie im Techno. Dabei sollte stets das Zusammenspiel von Diskursen, sozialen Praktiken und Artefakten in Form von selbstbildenden, subjektivierenden Komplexen oder Konstellationen im Hinterkopf behalten werden. Analog werden auch Gefühle nicht isoliert von ihren historisch spezifischen Kontexten erlebt und ausgedrückt, sondern sie werden von diesen geprägt, hervorgebracht, ermöglicht und mit Sinn und Bedeutung versehen. Daraus folgt, dass zum einen aus dieser Perspektive die Suche nach »reinen« Emotionen immer erfolglos bleiben muss. Zum anderen eröffnet sich allerdings die Möglichkeit, verschiedenste Phänomene nach ihren spezifischen Formen der Emotionalisierung oder Affizierung zu befragen und somit der Komplexität emotionaler Erfahrungen und Ausdrucksformen Rechnung zu tragen. Im Bereich der Popkultur bieten sich hierfür etwa die Fragen nach Körperverhältnissen oder bestimmten Ästhetiken an. Wie werden Körper in unterschiedlichen popkulturellen Zusammenhängen inszeniert, präsentiert, geschlechtlich codiert, mit Bedeutung versehen und damit spezifischen Emotionalisierungen zugänglich gemacht? Welche Praktiken können, dürfen oder sollen sie ausführen und wie sind diese emotional konnotiert? Führt man sich etwa verschiedene Körperbilder und -ideale vor Augen, die in popkulturellen Kontexten zu finden sind, so lässt sich erkennen, dass diese spezifischen Zugriffe auf Körperlichkeit immer auch in Zusammenhang mit einer bestimmten Form der Emotionalität stehen und auf verschiedene Modi der Affizierung verweisen. Exemplarisch lässt sich das verdeutlichen, indem man David Bowies fragile, androgyne Körperinszenierungen vom Anfang der 1970er Jahre im Vergleich mit den hypermännlichen, Kraft und Aggressivität ausstrahlenden Körperpräsentationen des Hardcore-Punksängers Henry Rollins gute zehn Jahre später betrachtet. In der Rolle der fiktiven Figur Ziggy Stardust tritt David Bowie oft stark geschminkt, mit teilweise mit Mustern bemaltem Gesicht, rot gefärbten Haaren und oft in bunter und hautenger Kleidung auf, die seine extrem schlanken Körperformen sichtbar machen. Zudem bewegt er sich mit grazil, kontrolliert und tänzerisch wirkenden
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Bewegungen auf der Bühne. Im Gegensatz dazu präsentiert Henry Rollins in seinen Performances einen durchtrainierten, muskulösen, tätowierten und meist ab Gürtel aufwärts unbekleideten Körper, dessen Bewegungen brachial und hemmungslos scheinen. Hier wird mit verschiedenen Gestiken, Mimiken, modischen Aufmachungen und Körperformen auf kulturelle Zeichen und Bedeutungen verwiesen, die immer auch bestimmte emotionale Konnotationen in sich tragen und durch ihre Präsentation emotionale Projektionsflächen sowie exemplarische Angebote für soziale und kulturelle Eigenpositionierungen bieten. Diese unterschiedlichen Inszenierungen von Körperlichkeit sind dabei eng mit (sub-)kulturellen bzw. szene- oder genrespezifischen Ästhetiken verknüpft, deren Untersuchung ebenfalls Rückschlüsse auf bestimmte emotionale Dispositionen zulässt. Diesen Punkt betont auch Reckwitz: »Ästhetische Wahrnehmungen schließen eine spezifische Affiziertheit des Subjekts durch einen Gegenstand oder eine Situation ein, eine Befindlichkeit oder Erregung, ein enthusiastisches, betroffenes oder gelassenes Fühlen.«46 Wobei hier nicht von einem Verständnis von Ästhetik als »Theorie der Beurteilung von Kunstwerken« ausgegangen wird, sondern vielmehr geht es »darum, daß jede Gestaltung von Umwelt, jegliche Formation der Oberfläche der Welt in unser Befinden eingeht. Jeder Raum, in dem man sich befindet, jede Blümchentapete, jede S-Bahn-Gestaltung, jede Atmosphäre in Verkaufsräumen etc. ist Ästhetik«.47 Reckwitz misst dem Körper eine besondere Bedeutung für die ästhetische Praxis zu und unterscheidet diese von ihrer Bedeutung im zweckund normrationalen Handeln. »In der ästhetischen Praxis tritt der Körper hingegen als leibliche Instanz sinnlichen Affiziertwerdens und/oder als performativer Aufführungsort einer von anderen sinnlich wahrnehmbaren Darstellung hervor.« 48 Damit, so Reckwitz, hat der Körper in der ästhetischen Praxis nicht mehr vorrangig einen funktionalen oder instrumentalen Charakter, sondern wird zum »Selbstzweck, selbst- und vorgangsbezogen in seinem Fühlen und Sich-Zeigen«. 49 Ähnliches nimmt Reckwitz auch für die Verwendung von Zeichensystemen im Kontext äs-
46 Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 24. 47 Böhme: Atmosphären, S. 15. 48 Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 27. 49 Ebd.
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thetischer Praktiken an, da diese hier nicht in erster Linie Informationen vermitteln sollen, sondern aufgrund »ihrer Mehrdeutigkeit und ihrer Fähigkeit, narrative, ikonografische oder andere semiotische Formen hervorzubringen«, vor allem dazu dienen, Gefühle anzusprechen.50 Daran anschließend lässt sich etwa fragen, welche kulturellen Zeichen, Bilder und Symbole als ästhetische Ausdrücke in verschiedenen popkulturellen Bereichen verwendet werden und wie diese emotional codiert sind bzw. in den jeweiligen Sphären mit bestimmten Emotionen verknüpft werden. Erinnert sei hier etwa an die (emotionale) Umdeutung des Hakenkreuzes in den englischen Punkszenen Mitte bis Ende der 1970er Jahre. Das gesellschaftlich verhasste und verpönte Symbol des Nationalsozialismus wurde zum modischen Provokationsaccessoire und erhielt dadurch, zumindest innerhalb der Punkszenen, eine völlig neue emotionale Zuschreibung.51
F AZIT Das noch junge Projekt einer Popgeschichte, wäre, ohne den Blick auch auf die Rolle von Gefühlen in der Popkultur zu richten, sicherlich unvollständig. Es lohnt sich daher, die hier skizzierten theoretischen und methodischen Herausforderungen anzunehmen, die mit der historischen Untersuchung von Emotionen einhergehen, da sich ein doppelter Erkenntnisgewinn daraus ergaben kann. Nicht nur trägt eine Einbeziehung emotionshistorischer Perspektiven zum Verständnis von Popkultur bei, ebenso profitiert die Emotionsgeschichte von einer zeitgeschichtlichen Forschung, die die Rolle der Popkultur ernst nimmt. Aus dieser Zusammenführung könnten sowohl neue Forschungsfragen entstehen, als auch von der Geschichtswissenschaft bisher eher unbeachtete Quellen in den Fokus rücken. Beispielsweise wären zeitgeschichtliche Untersuchungen der Entwicklung und gesellschaftlichen Bedeutung von Gefühlen wie Wut, Liebe oder Trauer schwer vorstellbar ohne Überlegungen anzustellen zum Stellenwert der Popkultur in der Vermittlung, Etablierung oder auch Veränderung von Gefühlsnormen. Eine solche Perspektive könnte dazu beitragen, den Einfluss von Popkultur auf weiter reichende soziale, kulturelle und
50 Ebd. 51 Vgl. Hebdige: Subculture, S. 116 ff.
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politische Prozesse näher zu beleuchten und damit die Bedeutung der Popgeschichte insgesamt aufzuwerten. Dazu müssten folglich auch popkulturelle Quellen stärker berücksichtigt werden. Popsongs, populäre Filme oder Jugendzeitschriften würden so eine zentrale Stellung in der Untersuchung einnehmen und neben ihrer konsum- oder kulturhistorischen Betrachtung auch als wichtige Quellen der Emotionsgeschichte neue Beachtung finden. Studien, die sich mit der jüngsten Geschichte auseinandersetzen und nicht zumindest an der Peripherie die Gefilde der Popkultur streifen, scheinen somit kaum möglich. Ein Fundus an Arbeiten, die diesen Schnittmengen mit dem nötigen Augenmaß Rechnung tragen, kann daher beiden Forschungsfeldern nur zugute kommen.
L ITERATUR Bourke, Joanna: Fear and Anxiety: Writing about Emotion in Modern History, in: History Workshop Journal 55 (2003), S. 111-113. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. Damasio, Antonio R.: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken, und das menschliche Gehirn, Berlin: List 2010. Davis, Belinda: Provokation als Emanzipation. 1968 und die Emotionen, in: vorgänge 4 (2008) 164, S. 41-49. Eitler, Pascal/Monique Scheer: Emotionengeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009) 2, S. 282-313. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Basel: Haus zum Falken 1939. Febvre, Lucien: La sensibilité et l’histoire: Comment reconstituer la vie affective d’autrefois? in: Annales d’histoire sociale 3 (1941), S. 5-20. Ders.: Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen, in: Claudia Honegger (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 313-334.
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Geschichtsmaschine Pop Politik und Retro im vereinten Fernseh-Deutschland T HOMAS L INDENBERGER /H EINER S TAHL
Aus historischer Sicht gibt es gute, ja geradezu zwingende Gründe, sich für Popmusik und Popkultur zu interessieren. Ganz allgemein sind Klang und Hören mittlerweile auch in der deutschen Geschichtswissenschaft angekommen.1 Dabei ist die kulturwissenschaftlich interessierte Beschäftigung mit Musik, mit den sozialen Handlungen im Kontext von Musikkultur und ihren Formen der Partizipation epochenübergreifend etabliert, auch wenn das vielleicht noch nicht so sehr für den Blick auf auditive Kulturen in ihrer ganzen, auch die nicht-musikalischen Klänge einbeziehenden Vielfalt, gilt.2 Für das 20. Jahrhundert kann insbesondere die Popkultur als Zugang zu »vergangenem Hören und Sehen« wie zum »Hören und Sehen« des Vergangenen genutzt werden.3 Gerade die ihr eigentümliche Massenbasis lässt sie unablässig Überlieferungen produzieren, deren Umfang und Vielfalt für
1
Morat: Der Klang der Zeitgeschichte; Müller: »The Sound of Silence«, S. 1-29; Paul/Schock: Der Sound des Jahrhunderts.
2
Ross: The Rest is Noise. Tagungsbericht »The Cold War and American Music 1945-2000«, in: H-Soz-u-Kult, 6.9.2012, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=4375. Tagungsbericht »Hegemoniale Strukturen der Musik. Besatzungspolitiken, Emotionen und ihr Transfer im Europa der Weltkriege 1914-1949«, in: H-Soz-u-Kult, 21.4.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/tagungsberichte/id=3624.
3
Lindenberger: Vergangenes Hören und Sehen.
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eine Gesellschaftsgeschichte jenseits der disziplinären Sparten- und Spezialgeschichten von Musik, Film, Fernsehen, Mode etc. enorme Chancen und Herausforderungen zugleich darstellen. Die mittlerweile evidente Historizität der Popkultur zeigt sich aber nicht lediglich bei der Beobachtung von außen, der sie sich als Steinbruch vergangener Artefakte und ihrer Aneignungen darbietet. Historie ist in Pop als kulturelles System selbst eingeschrieben. Popkonsument_innen bilden sich mittels der von der Unterhaltungs- und Kulturindustrie zur Verfügung gestellten Angebote zu (pop)historisch bewussten Konsument_innen. Der Form und dem Inhalt nach entsprechen diese Angebote den zahlreichen Infrastrukturen und Akteursgemeinschaften, die die Popkultur und -industrie tragen. Sie reichen vom unablässigen Recyceln vergangener Produkte auf den je aktuellen Medienträgern über die authentizitäts- und integritätsbewussten Sammlergemeinschaften von Originalmaterialien und die Anhänger_innen einer – unplugged – »historischen Aufführungspraxis« bis zum Hochamt des Dreigenerationen-Mega-Events ewiger Stars der internationalen und nationalen Popgeschichte wie den Rolling Stones und Bob Dylan, Nena und den Puhdys. Wir schlagen daher folgende Hypothese vor: Pop hat sich in Gesellschaften wie der unseren zu einer Geschichtsmaschine eigener Art entwickelt. Anhand eines generischen TV-Formats, der Chartshow oder Ranking-Show und deren Variante, der Ostalgie-Show, die dieses Format 2003 im deutschen Fernsehen etablierte, soll dieser Grundgedanke im Folgenden entwickelt werden.
W ARUM »G ESCHICHTE «? Zunächst eine Vorbemerkung zur Begrifflichkeit: Hier ist bewusst von »Geschichte« in einem außerwissenschaftlichen Feld, der Popkultur, die Rede. Für das, was historisches Wissen, mithin Geschichtsbewusstsein im engeren Sinn, und dessen Alltagsrelevanz in unserer Gesellschaft genannt werden kann, sind die von der Popkultur generierten Wissensbestände – so unsere Überlegung – mindestens ebenso bedeutsam wie die von in staatlichem Auftrag handelnden Bildungsagenturen oder von kommerziellen Medienunternehmen in Umlauf gesetzten fiktionalen Repräsentationen des Vergangenen, die sich auf politische oder anderweitig gesellschaftlich relevante Ereignisse und Vorgänge beziehen. Der gelebte Alltag spiegelt sich in
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persönlichen Hitlisten. Popsongs saugen Zeitgeschehen auf.4 Die Chronologien der Popgeschichte sind den meisten Erwachsenen, so unsere Vermutung, geläufiger als die der »großen Geschichte« derselben Zeitabschnitte. Es hat sich eingebürgert, die Gesamtheit der Repräsentationen der Vergangenheit als »Erinnerungskultur« oder »Gedächtniskultur« bzw. »memory culture« zu bezeichnen.5 Dabei wird weder zwischen den beteiligten Institutionen und Akteuren noch zwischen den äußerst disparaten Modi des Vergangenheitsbezugs unterschieden. Ihrer Abkunft nach zielen Konzepte wie »Erinnnerungs-« oder »Gedächtniskultur« zum einen auf die von Mitgliedern konkreter sozialer Gruppen geteilten (»kollektiven«) Erinnerungen6, zum anderen auf gesellschafts- und generationenübergreifende symbolische Repräsentationen epochalen Wandels, insbesondere auch der diesen Wandel begleitenden katastrophischen Ereignisse.7 Die Historizität der Popkultur, und insbesondere der massenhaft praktizierte Umgang mit ihr, bleibt in diesen Vorschlägen, so selbstverständlich sie auch erlebt und praktiziert wird, ausgespart. Gerade dank ihrer »Trivialität« unterfliegen das Wissen um die Geschichte des Pop und seine Bedeutung für zahlreichen Menschen mühelos die Radarsysteme jener Diskurs-Aktivist_innen in Politik und Feuilleton, die mit Leitbegriffen wie »kulturelles Gedächtnis« und »Geschichtspolitik« das Feld des öffentlich Sagbaren abstecken. Im Kampf um die Lufthoheit geraten die Unterströmungen des Populären aus dem Blickfeld. Allenfalls am Rande wird die sekundäre »VerPoppung« des Historischen im herkömmlichen Sinne, wie sie sich etwa an seiner Entdeckung als profitablem Content in den Programmen privater Fernsehstationen ablesen lässt, registriert. Der Sammelband History goes Pop von Barbara Korte und Sylvia Paletscheck, eine durchaus substantielle Bestandsaufnahme zur »Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres«, spart folgerichtig die völlig selbstverständliche Präsenz des Historischen im Pop als Folge seiner fortwährenden Selbst-Historisierung aus.8
4
Vgl. Gebhardt/Stark: Wem gehört die Popgeschichte, Kap. 9 BR’D’DR, S. 291.
5
Vgl. Sabrow: Die Zeit, S. 37.
6
Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis.
7
Nora: Erinnerungsorte; Assmann: Der lange Schatten.
8
Korte/Paletscheck: Geschichte in populären Medien und Genres, S. 9-60; vgl. Paletschek: Why Analyse Popular Historiographies, S. 10.
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Dagegen behaupten wir: Pop funktioniert unter anderem auch als populäre historische Erzählung jenseits der Wegmarkierungen professioneller Historisierung sowie politisch und medial vermittelter »Bildung« der Öffentlichkeit. In ihr sind kulturelles Gedächtnis und Gegenwart auf eine Weise verflochten, die es nahelegen, Popkultur selbst als ein relativ eigenständiges Netz von Erinnerungsräumen und Gedächtnisorten aufzufassen. Dieses Geflecht könnte wiederum ohne Geschichte als einem reflektierten gesellschaftlichen Verhältnis zu vergangenen Realitäten nicht existieren.9
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KAM ES ZUR
H ISTORISIERUNG
DES
P OP ?
Bevor wir uns einem Beispiel von in der Gegenwart virulenten Formaten der Selbsthistorisierung von Pop zuwenden, sei an den Vorgang seiner ursprünglichen Konstitution als neues, abgrenzbares Kultur- und Sozialisationsmuster erinnert. Rhythm-&-Blues-Stücke bildeten ab Mitte der fünfziger Jahre den Ausgangspunkt einer spezifisch an Teenager gerichteten und von diesen selbstbewusst angenommenen Assemblage von Sound, Kleidung, Haarschnitt, Tanz und Aufführungspraxis. Ihr Transfer nach Großbritannien brachte mit dem etwas schnelleren Nachspielen in einer auf Gitarren und Schlagzeug reduzierten Vierer-Besetzung eine erste Ablösung des ursprünglichen Klangbilds und mit diesen Vereinfachungen den massenhaften Einstieg von Amateuren. Verbunden mit einem schrofferen Anschlag und einem anderen, einem britischen Akzent entwickelte sich dieser »Beat« zum stilprägenden Soundtrack und damit zur auditorischen Markierung von Jugend(er)leben in den mittleren 1960er Jahren. In der akademischen Geschichte des Pop wird dieser Zeitraum von höchstens vier oder vielleicht fünf Jahren als die Kernzeit der Swinging Sixties bezeichnet, die um 1969 vollends ausfaserte.10 In dieser Zeit wurde Popkultur zu einem altersspezifischen Bestandteil der Kulturindustrie, mit einer eigenen Produkt- und Angebotspalette, die sich über unterschiedliche Medienformate – Comics, Bücher, Filme, Musik,
9
Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis , S. 11-33.
10 Siegfried: Time Is on My Side, S. 30.
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Fernsehen und Radio – erstreckte.11 Mit Christoph Jacke verstehen wir dabei unter »Popkultur« zunächst »denjenigen kommerzialisierten, gesellschaftlichen Bereich, der Themen industriell produziert und massenmedial vermittelt, die durch zahlenmäßig überwiegende Bevölkerungsgruppen mit Vergnügen genutzt und weiterverarbeitet werden; bis hin zur Produktion neuer Medienangebote.«12 Zugleich konstituierte sich Pop als Handlungsraum zwischen Mainstream und verschiedenen kulturellen Unterströmungen (Substreams), der von Konjunkturen der Kulturindustrie und der werbetreibenden Wirtschaft abhängig ist. Die Produktion, die Bewerbung und Vermarktung von audiovisuellen Konsumgütern und deren alltagskulturellen Einarbeitungen im Dispositiv Pop kann somit zugleich als asymmetrisch verflochtene Komplementärerzählung gesellschaftlichen Wandels aufgefasst werden: Kein hegemonialer und mithin profitträchtiger Mainstream kommt ohne minoritär-innovative Herausforderungen, ja Gegnerschaften und Negationen aus. Das unablässige Spiel der Öffnungen und Erweiterungen wird immer wieder gestört, und zwar durch mitunter heftige Deutungskonflikte um die Grenzen des »In« und »Out«. Im Alltag der noch jugendlichen Konsument_innen prägt sich Pop daher als unablässige Konfliktgeschichte mit den ihr eigenen Identitätseffekten nachhaltig ein. Genau das machte Popkultur als Unterhaltung – weiterhin Jacke folgend – zu »eine[r] durchorganisierte[n], institutionalisierte[n] und professionalisierte[n] Unterhaltungsindustrie«, die alles andere als diffus war, sondern sich durch »Reflexivität und Ausdifferenzierung« auszeichnete.13 Als »prägende Bestandteile von Pop« erzeugen sie »ein Unterscheidungswirrwarr, das Grenzen nicht auflöst, sondern neu justiert«.14 Diese Logik der permanenten Innovation, des Außenseiter-MainstreamMechanismus, der Verwischung und Neuetablierung von Grenzen erlangte seit den sechziger Jahren in allen modernen Gesellschaften konstitutive Bedeutung für die Sozialisation von Teenagern. Deren Wirkungsweise ist nur praxeologisch zu verstehen: Pop-Sozialisation ist ein essentiell somatischer Vorgang. Daran teilzuhaben erfordert intensiven, das Selbst, den Leib verausgabenden Körpereinsatz. Der Gebrauch des Körpers zielt auf Entäuße-
11 Vgl. Danyel/von Klimó (Hg.): Pop in Ost und West. 12 Jacke: Einführung in Populäre Musik und Medien, S. 43. 13 Ebd., S. 235. 14 Ebd., S. 247.
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rung. Das führt zur bewussten Ausbildung von Habituskompetenzen und ermöglicht es, die Individualisierung mit den Verfahren von Peer-groupVergemeinschaftung zu verknüpfen. Popkultur eröffnet zugleich Zugänge zum eigenständigen Umgang mit Sexualität und zu Orientierungswissen über den sozialen Raum: Sie erlaubt den spielerischen und selbstbezogenen Umgang mit Codes und Markern für »unten« und »oben«, »Fortschritt« und »Rückschritt«, »Avantgarde« und »konservativ«, »Freiheit« und »Zwang«, »Autonomie« und »Heteronomie«, aber auch »echt« und »unecht«, »authentisch« und »künstlich«. An diese Pubertät und Adoleszenz wesentlich ausmachenden Grunderfahrungen hefteten sich mit den Gleichaltrigen geteilte Popereignisse an: Ein nie versiegender Quell von Erlebnisgenerationen begann zu sprudeln, denen allerdings im Gegensatz zu den nachhaltige politische Geltung reklamierenden Generationen der »Flakhelfer«, »Kriegsteilnehmer«, »68er« etc.15 der moralisch unbeschwerte Charme des Flüchtigen und zeitlich Gebundenen anhaftete. Seitdem wird von der überwiegenden Mehrzahl der Erwachsengewordenen die Zeit »damals«, als man noch »jung« war, zumindest auch als eine Abfolge von persönlichen »Phasen« erinnert, in denen man sich mal dezidiert so oder so kleidete und frisierte. Wichtig wurde, sonnabends nur mit denen oder jenen zu verkehren, ein entschiedener Anhänger oder Gegner dieser oder jener Stilrichtung zu sein und natürlich die mit ihr assoziierten Vorlieben und Werte zu teilen. Das Ende der Swinging Sixties brachte dann erstmals den Verlust popjugendlicher Unschuld. In den USA zogen die Wehrpflichtigen nun in den heißen Krieg in Vietnam, und nicht, wie vordem Elvis, ins beschauliche Germany. Die Verkopplung von Popmusik und der Jugendrevolte der späten sechziger Jahre ließ das Gefühl vom Ende der unpolitischen Aufbruchphase zur Gewissheit werden, monumental und zeitlos gültig in dem Film American Graffiti in Bild und Ton gesetzt. In diesen Jahren begann die USMusikindustrie damit, gezielt die Liebhaber der schon länger nicht mehr aktuellen Musik anzusprechen: »Adult Stations« sendeten »Oldies« für die erste Generation derjenigen, die vom Sound ihrer Jugendjahre nicht lassen wollten. Die kommerzgetriebene Orientierung der Konsumenten anhand von je aktuellen und genrespezifischen Hitlisten lieferte das chronologische
15 Vgl. Jureit: Generation sowie den Beitrag von Lu Seegers in diesem Band.
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Gerüst dieser Historisierung. Ähnlich den Ligatabellen und Statistiken des Profisports lassen sich daraus im Rückblick die All-Time-Stars der jeweiligen Liebhabergemeinden destillieren und unablässig neu verwerten.
N OSTALGIE ALS T RIEBKRAFT DER P OPHISTORISIERUNG Die verschiedenen Zwischenschritte und Etappen der Entfaltung dieses inhärenten Potenzials der Selbsthistorisierung des Pop bis in unsere Tage sind das Thema von Simon Reynolds’ grundlegender Studie Retromania. Er erzählt diese Geschichte in erster Linie aus der Perspektive der britisch-USamerikanischen Entwicklung, die – mit einigem Recht – stellvertretend für deren transnationale und mithin generische Charakteristika zu nehmen ist. Reynolds beginnt mit dem Befremden über die sich im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts angeblich auf breiter Front durchsetzende Vorherrschaft des wieder aus der Mottenkiste hervorgeholten Materials in der Popkultur gegenüber dem Kreativ-Unbekanntem. Seit circa 2000 stehe Pop nicht mehr in erster Linie für das schlechthin Neue im Hier und Jetzt, sondern für eine unablässige Bewegung des Sich-Vergewisserns seiner Herkunft und seines Werdens, sei es in lustvoll-nostalgischer oder reflektiert-historisierender Weise. Popkultur sei der eigenen Vergangenheit wie einer Droge verfallen, ja erlegen. 16 Das Recycling der Pop-Historizität ist das Aufputschmittel für die Medien-und Unterhaltungsindustrie. Ob man seinen pessimistisch-resignierten Blick auf die heutige Popkultur als in der Gleichzeitigkeit von Geschwindigkeit und Stillstand befangener Bewegung teilt oder nicht, nützlich sind seine Beobachtungen für unsere Fragestellung allemal. Den endgültigen Durchbruch der Retromanie datiert er auf die frühen nuller Jahre, als den Zuschauern in amerikanischen und britischen Fernsehprogrammen neue Show-Formate zur Wiederbegegnung mit der eigenen Popsozialisation angeboten wurden. Die Serie I Love the 80s (I Love 1980; …1981, …1982, ...) des MTV-Ablegers VH1 adressierte gezielt die Erwachsengewordenen der ersten Generation verkabelter Jugendlicher; später folgten I Love the 70s. Die britischen Pendants von
16 Reynolds: Retromania, insbes. S. 3-54, 403-428.
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Channel 4 (Top 10 of …) und BBC (Blues Britannia, Folk Britannia, …) repräsentierten demgegenüber die Qualitätsfernsehen-Variante. In Deutschland hingegen verdankte sich der Durchbruch dieses zwischen Nostalgie und Historismus changierenden Formats einer im Zeichen der deutschen Vereinigung errichteten Tabuzone des kollektiven Gedächtnisses: Demnach gab es nichts Positives in der untergegangenen Diktatur. Während der gesamten 1990er Jahre haftete in der überregionalen, von öffentlich-rechtlichen Medien geprägten Öffentlichkeit positiven Erinnerungen an das Leben in der DDR unweigerlich der Geruch der fortbestehenden oder nachträglichen Befürwortung des SED-Regimes an. Wenn überhaupt artikulierbar, wurden sie umgehend als »falsch« oder politmoralisch minderwertig marginalisiert und mittels eindeutiger Botschaften über den durch und durch diktatorischen Charakter der DDR-Vergangenheit übertönt. Die seit Mitte der 1990er Jahre in den »neuen Bundesländern« volkstümlichen Ostalgie-Abende wurden als bedauerliche Nebenwirkung von kapitalistischer Privatisierung und Elitenneubildung missverstanden, die angeblich nur im Milieu der ihrer Privilegien beraubten Parteigänger des untergegangenen Systems Resonanz fand. In diese Situation platzte, nach einigen kontroversen Vorboten wie Sonnenallee und Helden wie wir, im Frühjahr 2003 der Publikumserfolg des Spielfilms Good Bye, Lenin! Es folgte der kurze Sommer der OstalgieShows, deren Erfolg als Türöffner für die von nun an auch im deutschen Fernsehen heimischen Chart- bzw. Retro-Shows fungierte. Dass diese melancholische Tragikomödie zu allem anderen als unbeschwerter Rückschau auf eine vorgeblich unpolitische Idylle ostdeutscher Kleine-Leute-Existenzen einlud 17 , ging im lautstarken Medienrummel um die Auftritte von DDR-Altstars wie Katharina Witt und ostdeutschen Idolen wie Axel Schulz völlig unter. Die Lizenz zur enthemmten Ostalgie auf nationaler Bühne schien dennoch gegeben. Zugleich eignete sich diese genüsslich-harmlos daherkommende Trivialisierung und Ironisierung ostdeutscher Vergangenheit – sozusagen unter der Hand – als Vehikel politischer Aushandlungsprozesse. Mit der TV-Tauglichkeit der DDR-Popsozialisation als Quelle des allgemeinen Amüsements ging es zugleich um die Anerkennung der Ostdeutschen in der Vereinigungsgesellschaft. Sie brauchten sich mit ihren Erinnerungen an »damals« nicht mehr zu verstecken, im Gegenteil: Sie
17 Lindenberger: Zeitgeschichte am Schneidetisch.
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konnten auf ihren ganz speziellen historischen Beitrag zur Legende von der rebellischen Virulenz des Pop stolz sein, in aller Öffentlichkeit.18
»S ONST
KEINE P ROBLEME «: P OPSOZIALISATION IN DER KOMMUNISTISCHEN D IKTATUR Dies nachzuvollziehen verlangt einen kurzen historischen Einschub: Popkultur war im SED-Staat bis ganz zuletzt ein nie versiegender Quell staatspolitischer Brisanz geblieben. Die Aneignung von Popkultur und die öffentliche Selbstinszenierung als Popkonsument bildeten eine ständige Konfliktlinie zwischen dem SED-Staat und seinen Jugendlichen. Wer sich zu sehr und zu ernsthaft gemeinsam mit Gleichaltrigen Popkultur aneignete und reproduzierte, geriet unweigerlich in die Nähe von »politisch-ideologischer Diversion« und »politischer Untergrundtätigkeit« (so die Stasi-Begriffe für gegenkulturelle und staatsfeindliche Aktivitäten). Das konnte auch etwas Romantisch-Abenteuerliches an sich haben, wurde aber vor allem als lästige Gegenwart eines ständigen Misstrauens registriert. Ganz in diesem Sinne eröffnet der 16-jährige Held des Spielfilms Sonnenallee seine Erzählung mit den lakonischen Worten: »Ich lebe in der DDR. Ansonsten habe ich keine Probleme.«19 Das Hin und Her von »liberalem« und »hartem« Kurs entwickelte sich zu einer Konstante der Popsozialisation jedes DDR-Jugendlichen, ganz gleich, ob er/sie sich nun ausschließlich am Westen orientierte, auch die DDR-eigene »Tanzmusik« konsumierte oder sich einfach den besten Mix aus beiden Angeboten selbst zusammenstellte. Der aktuelle Musikstil, eine beliebte Band, ein Kleidungsstück, eine Haartracht war mal erlaubt, mal geduldet, mal verboten, oder je nach örtlichen Verhältnissen alles zugleich. Popsozialisation war in der DDR eine vielfältige, vielschichtige Anordnung. Wie anderswo, in Ost und West, waren dabei Alterskohorten, regionale Ausgestaltung bzw. Zulassung (sub-)kultureller Angebote an Livemu-
18 Ein ähnlicher Anerkennungseffekt lässt sich in der »Brauchbarkeit« der vergangenen DDR-Wirklichkeit für Spielfilm-Stoffe, die international vermarktet werden können (Good Bye, Lenin!, Das Leben der Anderen), erkennen, vgl. Lindenberger: Kino als Aufarbeitung? 19 Sonnenallee. Vgl. Lindenberger: Sonnenallee, S. 87-95.
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sik, Veranstaltungsorte, musikalische Präferenzen, Aufnahme- und Abspielgeräte sowie die technische Empfangbarkeit von Rundfunk- und Fernsehprogrammen strukturelle Bedingungen eines im Hintergrund ablaufenden Prozesses, welcher Erwachsenwerden heißt. Das Re-Enactment dieser durch und durch widersprüchlichen Erfahrungen hatte den Erfolg der erwähnten Spielfilme ausgemacht. Doch derart komplexe Geschichten über die Verflechtung von Menschen, Herrschaft und der Medienlandschaft des Kalten Kriegs gelangten zunächst nicht eins zu eins ins Unterhaltungsfernsehen, und damit blieb ihnen ein Stück weit Anerkennung in der hegemonialen, von westdeutschen Sichtweisen bestimmten Medienöffentlichkeit versagt. Die Ostalgie-Show bot einen Ausweg.
D IE O STALGIE -S HOW Genau genommen ist die Ostalgie-Show ein hybrides Format und damit ein ephemerer Ausnahmefall. Eigentlich erfordern TV-Formate klare Linien, vereinfachte Erzählungen und – in ganz besonderem Maße – Wiedererkennbarkeit. Im Falle der Ostalgie-Shows, deren massive Bildschirmpräsenz nun bereits mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt, verhält es sich ein großes Stück weit anders: Die im Sommer 2003 in privaten wie öffentlichrechtlichen Sendern grassierenden Unterhaltungsabende – die Ostalgie Show des Zweiten Deutschen Fernsehens mit Andrea Kiewel und Marco Schreyl, Ein Kessel DDR (MDR), moderiert von der ostdeutschen Eisschnellläuferin Franziska Schenk, die DDR-Show bei RTL, präsentiert von Oliver und Katharina Witt, oder die zwei Folgen von Meyer & Schulz – Die ultimative Ost-Show mit SAT 1-Nachrichtenmoderator Ulrich Meyer und Ost-Boxer Axel Schulz – stifteten durch erzählte individuelle, teilweise sehr private Erinnerungen an Konsum- und Popkultur öffentlich inszenierte Gemeinschaftserlebnisse. Sie erzählten aus den Grauzonen des realsozialistischen Alltags. Sie spürten die Untiefen einer Diktaturerinnerung auf, in der Grillen, Goldkrone und die Bee Gees eher zusammengehörten als die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Farben des Sozialismus. Versuchen wir zunächst einen Eindruck davon zu vermitteln, wie eine solche, den erwähnten US-amerikanischen und britischen Vorbildern nach-
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empfundene, Retro-Show ungefähr funktionierte.20 Das, was popkulturelle Praxis im Alltag ausmacht, nämlich individuell gestalteter Konsum von Popmusik, die Kommunikation darüber im Freundes- und Bekanntenkreis und die Verarbeitung des mit Popmusik verbundenen Symbolrepertoires zu individuellem Lebensstil (Kleidung, Haartracht, Habitus), wird lustvoll nachinszeniert. Eine Talkshow-Runde von mehr oder weniger prominenten Zeitzeugen diskutiert und kommentiert vergangene Zeiten, schildert individuelle Erlebnisse, zeigt Fotos von sich selbst »von damals« (mit langen Haaren, in Schlaghosen etc.), natürlich möglichst in unterhaltsamer Form, schlagfertig, anzüglich, mit Selbstironie, Veralberungen und Imponiergehabe – ein gelassenes Re-Enactment vergangener Kommunikationspraxis, wie sie elementar zur jugendlichen Freizeit gehörte. Abbildung 1: »Die 30 lustigsten Lieder« (RBB-Screenshot vom 9.2.2013)
Auf Rang acht, zwischen Trude Herr und Frank Zander, der Titel Da Da Da von Trio, einer der erfolgreichsten Hits der Neuen Deutschen Welle. Im Hintergrund läuft der Music-Clip von 1982, hier mit Trio-Sänger Stefan Remmler, im Vordergrund kommentierend Popette Betancor (»Musikerin«). 20 Eine satirische »Blitzanalyse« dieses Formats ist als YouTube-Clip der vom Sender EinsPlus in Auftrag gegebenen Comedy-Sendung Walulis sieht fern zu besichtigen, vgl. »Die dümmsten… Ranking-Shows aller Zeiten«, http://www. walulissiehtfern.de/videos/duemmsten_rankingshows_aller_zeiten.
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Dazwischen werden Musik-Clips einer Hitliste eingeblendet, wobei jeder Hit seinerseits von einer Handvoll »Promi-Zeitzeugen« eingeleitet wird: Fernsehbekannte Publikumslieblinge (Musiker, Schauspieler, häufig aus dem Comedy-Genre) erinnern sich in kurzen, kaum zehn Sekunden dauernden Stegreifszenen vor der Kamera an ihr Erlebnis, als damals der betreffende Hits ganz groß raus kam, stimmen die Melodie kurz an und bewegen sich dazu, indem sie den betreffenden Sänger und seinen Präsentationsstil oder den zum Hit seinerzeit grassierenden Modetanz imitieren, versuchen also das körperlich-ästhetische Erleben »von damals« wiederaufzuführen, ergänzt um gefühlsintensive, aber sinnarme Ausrufe wie »das war damals der Hammer«, »echt irre«, »ein Wahn! – Sinns! – Hit!« und kleinen Reminiszenzen an die erste große Liebe oder die erste schlimme Trennung, an die sie der betreffende Hit erinnere. Erst nach diesen kurzen Einstimmungen fährt der Music-Clip ab, wird meistens nicht ganz ausgespielt, sondern nur so weit, dass auch dem Zuschauer erinnerndes Wiedererkennen von Melodie, Sänger und Stil möglich ist, bevor zum nächsten Hit, wieder mit Einführung durch fernsehbekannte Zeitzeugen, übergeleitet wird. Die inszenatorische Komplettierung des Showprogramms erfolgt durch im Studio live stattfinde Kurzauftritte einer kleineren Auswahl von Altstars (etwa Udo Lindenberg, Nina Hagen, Cindy und Bert), die ihren Hit von damals noch einmal präsentieren und in die Talkrunde einbezogen werden. Der Authentizitätswert dieser Auftritte wird verbürgt durch die sofort erkennbare Differenz zwischen der historischen Konserve des betreffenden Hits und der zwei, drei Jahrzehnte später präsentierten Wiederaufführung: Die Stimmen sind gealtert, der Sound aktualisiert, die Bewegungen gesetzter – gerade diese an Ort und Stelle verkörperte Patina kann den Schauwert der »Echtheit« für sich reklamieren. Das wirkte durchaus unbeabsichtigt, zufällig und daher beweglich. Eine »Story« wurde in keiner Weise »eingeordnet«, sondern stand einfach für sich. Ostalgie-Shows brachen das autoritative lineare Erzählen von der sozialistischen Diktatur auf. Sie setzten einen Kontrapunkt zu den wohlgeordneten Narrativen des antitotalitären Konsenses, nicht indem sie etwa »für« diese Vergangenheit Position bezogen, sondern indem sie einen trivialisierten, spielerischen Umgang mit Zugehörigkeiten anboten. In solchen TVShows sprachen die »Experten« nicht von Repression, Verfolgung und Zersetzung durch das MfS, sondern von Küssen, Klamotten und Karrieren im System – und durchaus auch trotz des Systems. Ironischerweise wurde
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gerade dadurch zugleich das urliberale Credo, wonach Freizeit privat und Interventionen des Staates in jeglicher Form abzuwehren seien, in Reinform inszeniert. Im Gegensatz dazu erschienen die sozial akzeptierten, staatlich geförderten oder zivilgesellschaftlich gerahmten Formen des Aufarbeitens und Gedenkens an die DDR unbeweglich und verkrustet. Folgerichtig fremdelten die Institutionen, die auf dem erinnerungs- und geschichtspolitischen Feld den Ton vorgeben und sich gleichsam an der Schnittstelle von wissenschaftlicher Forschung und Public History bewegen, mit dieser naiven Unbeschwertheit gegenüber den visuellen und Audiospuren von gelebter, erinnerter Vergangenheit. Ostalgie-Shows loteten die Seichtigkeiten wie Abgründe gesellschaftlicher Gegenerzählungen aus. Die darin aufgeworfenen Selbstverständigungen verweisen auf eine strukturelle Resistenz medial übersättigter Gruppen der Bevölkerung, die bis dahin ihr Wissen um das eigene Leben in der DDR bewusst gegenüber den öffentlich geführten sowie veröffentlichten Debatten um das Erinnern von Diktaturerfahrung abgeschottet hatten.21 Diese Retro-Fernsehshows erzeugten durch die idealisierten »Wir-gegen-Sie«-Abgrenzung eine emotionale Bindekraft. In diesem Format konnte sich jede_r auch noch so angepasste DDR-Bürger_in als Opponierende_r in den Kulissen der Bilder und Töne denken – und sich auf diese Weise als doppeltes Subjekt in der Weichzeichnung der Popkultur konstruieren. Dabei verschwindet der Bürger als Objekt herrschaftlichen Handelns zunächst hinter dem Bildschirmvorhang attraktiver Fastfood-Unterhaltung. Christoph Dieckmann brachte die Popqualität dieser »Fernsehereignisse« folgendermaßen auf den Punkt: »Der wahre Mythos ist doch die eigene Jugend. Die einen feiern, was sie liebten, die anderen, dass sie’s glimpflich überstanden haben. So oder so: Ostalgie beendet eine Enteignung. Sie beharrt auf persönlicher Geschichte, auf unverkürzter Biografie. Den Doktrinen der Großhistorie ruft sie ein heiteres Aber zu.«22
21 Leuerer: Heile Welt der Ostalgie, S. 46-59. 22 Dieckmann: Ostalgie.
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Ostalgie werde in dem Augenblick dumm, wenn sie diese Ironie und Individualität verliere. Inszenierte Kollektividentitäten widerstreben daher dem von Dieckmann zu Recht hervorgehobenen Individualismus. Der unpolitische und verharmlosende Exploitation-Charakter dieser Shows war offenkundig und zog – durchaus nachvollziehbar – harsche Kritik auf sich. Zugleich wirkten sie, die sich den erwähnten Vorarbeiten des Qualitätskinos verdankten, ihrerseits als Türöffner: Wie um zu zeigen, dass auch die Westdeutschen bzw. die vereinten Deutschen gemeinsam über Erinnerungen verfügen, die sich popkulturell inszenieren lassen, führte nun auch das bundesdeutsche Fernsehen das Format der Retro-Shows über die besten Hits und Trends der 60er, 70er, 80er, ausdifferenziert nach Genres (Rock, Volksmusik, Love Songs) in das Repertoire ein, bei den Privatsendern wie bei den öffentlich-rechtlichen Regionalprogrammen.
G ESCHICHTSMASCHINE P OP : N UR EINE »A NGELEGENHEIT VON A MATEUREN «? Die Inszenierung und Bearbeitung kommunikativer Erinnerung reproduziert und reaktualisiert die Chrono-Logik popkultureller Zyklizität. Dabei fungiert eine vergangene Medienlandschaft als gemeinsames, geteiltes symbolisches System (shared symbolic system) im Sinne Talcott Parsons, »auf das die Handelnden zur Bestimmung von Handlungssituationen und Handlungsmöglichkeiten als verbindlichen Orientierungsrahmen zurückgreifen können.«23 Durch eine spezifisch ästhetische Kommunikationspraxis in der Vergangenheit sind kulturelle Markierungen gegeben und überlieferbar, die sehr konkrete, sich auf die Authentizität dieser Artefakte stützende Bezugnahmen und Vergewisserungen ermöglichen. Nun könnte man sich als Zeithistoriker_in mehr oder weniger gelangweilt oder auch amüsiert zurücklehnen und fragen: Was haben OstalgieShows mit Geschichte, Macht und Politik zu tun? Wir könnten uns dem Soziologen Thomas Ahbe zugesellen und uns die Sache folgendermaßen vom Leibe halten: »Ostalgie bearbeitet in laienhafter Weise die ostdeutsche Durchschnittsperspektive auf einen wichtigen Erfahrungsbruch: Die friedliche Revolution und die Einführung der bundesdeutschen Verhältnisse in
23 Parsons: Social System, S. 11.
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Ostdeutschland.«24 Da sie keine Geschichtsdarstellung ist, bleibt sie für Ahbe »eine Angelegenheit von Amateuren«.25 Abbildung 2: »Die 30 lustigsten Lieder« (RBB-Screenshot vom 9.2.2013)
Sven Oswald und Daniel Finger (»Moderatoren radioeins«) kommentieren den 1982er Neue-Deutsche-Welle-Hit Da Da Da von Trio: Finger: »Also das ist…ehmm… das ist große Kunst. […] Es gibt, glaub ich, Cover-Versionen auf der ganzen Welt davon, bis hin nach Fernost und so… Das ist wie ein guter Wein, der Song, der wird mit den Jahren immer besser.« Oswald: »Ist durch diesen Song nicht der Begriff Dadaismus geprägt worden?« – Finger: »Ich befürchte, nein. Ich befürchte, es war andersrum.«
Doch damit kann es für uns »Profis« nicht sein Bewenden haben. Wie seinerzeit, als Historiker_innen die Methode der Oral History für sich entdeckten, gilt auch hier: »Laien« sind immer auch »Expert_innen« dafür, wie sie die Zeitläufte erlebten.26 Sie sind diejenigen, die zumindest im Hinblick auf das von ihnen gelebten Leben und dessen je individuelle Umstände keineswegs erschöpfend, aber dennoch kompetent Auskunft geben können. Die Kompetenz erweist sich in Erzählungen von hohem indexikali24 Ahbe: Medienbilder, S. 97-124. 25 Ahbe: ›Ostalgie‹ als Laienpraxis, S. 781-802. 26 Kuhn: Oral History – feministisch, S. 166; Wierling: Oral History, S. 109.
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schen Wert. Sie kommen nicht ohne die vielen kleinteiligen und für sich genommen unwesentlich erscheinenden Verweise auf das für die historische Konstruktion unverzichtbare Wer-Wo-Wann-Wie konkret angebbarer Personen und Gegenstände aus. Zum Beispiel beobachtete Thomas Ahbe in seiner bereits zitierten Kritik der Ostalgie-Shows eine Verschiebung der DDR-Repräsentationen von Leistungen »der« DDR – ein Abstraktum – zu Leistungen von konkreten Personen aus der DDR. Im ZDF habe man sich dem Alter der Zielgruppe entsprechend auf Weltspitzensportler, auf Schauspieler und Schlagersänger konzentriert, die in der DDR ihre große Zeit hatten. Bei den Privatsendern standen Medienmenschen, Stars, Sternchen im Mittelpunkt, die Erfolg und Prestige nach 1990 errungen hatte. Gerade das lustvoll sprunghafte Erzählen vergangener popkultureller Praxis spricht das Amateurwissen an. Es ist ein Verfahren, dass die Geschichtlichkeit des Pop mit dem individuell Erlebten verknüpft. Gerade dank der darin zwangsläufig enthaltenen Schilderungen konkreter und zeiträumlich eingrenzbarer Erfahrungen wird die Historizität des Pop zu einem Sachverhalt, für den sich die Beteiligten – in der Show und vor dem Bildschirm – zu interessieren beginnen. Im Spezialfall der Ostalgie-Shows stößt es damit in Tabuzonen des Umgangs mit der jüngsten Vergangenheit vor, bis die »Profis« der zeithistorischen Forschung und vor allem die zahlreichen Semiprofis der Geschichtspolitik davon Kenntnis nehmen und ihren Themenkanon überdenken müssen. Die (durchaus empfehlenswerten) Begleitmaterialien der Bundeszentrale für politische Bildung legen davon ein instruktives Zeugnis ab.27 Allgemeiner: Wer sich über das Vergangenheitserleben und Geschichtsverständnis in unserer Gesellschaft Gedanken macht und Vermutungen dazu anstellt, sollte sich klar machen, dass gerade diese Formate eine kommunikative Aktualisierung von individuellen Vergangenheiten ermöglichen, die viele der »Mitlebenden«, die die Zeitgeschichte als Adressaten wie Gegenstände der Forschung im Visier hat, unmittelbar anspricht, und dies mit einiger Wahrscheinlichkeit unmittelbarer als die Gegenstände der »großen« Politik- und Sozialgeschichte, die sie sonst bevorzugt bearbeitet. Im »herkömmlichen« Feld der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte haben die Forschungen von Harald Welzer die Nachwirkungen massenmedial vermittel-
27 Vgl. die Reihe »Filmhefte«, http://www.bpb.de/shop/lernen/filmhefte/.
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ter Repräsentationen gerade auch fiktionalen Charakters auf die Erinnerungen an Erlebnisse während der NS-Zeit herausgearbeitet.28 Mit ähnlichen Fernwirkungen des Konsums von Massenmedien haben wir zu rechnen, wenn wir uns als Zeithistoriker den Epochen des Wirtschaftswunders, der Fundamentalliberalisierung der sechziger Jahre, des Modell Deutschlands bis hin zur Vereinigung zuwenden. In diesen Erinnerungshaushalten nehmen, so die hier vorgeschlagene Hypothese, Erlebnisse der Popsozialisation eine primäre Vermittler- und Speicherfunktion zwischen dem Selbst und der vergangenen Realität ein. Im speziellen Fall der hier zur Veranschaulichung angeführten RetroShows zeigt ein genauerer Blick außerdem, dass gerade in diesen Politik, die damalige wie die heutige, keineswegs ausgeklammert ist. Das gilt nicht nur für den Sonderfall der Ostalgie-Shows. Im Gegenteil, Politik ist, auch in den angelsächsischen Vorbildern, ganz selbstverständlich präsent. Das liegt zum einen daran, dass in der Medienerinnerung Popereignisse und spektakuläre politische Ereignisse, da sie schon seinerzeit in erster Linie medial vermittelt wurden, nah beieinanderliegen. Fernsehbilder wie jene vom Attentat auf einen Präsidenten oder jenem Terroranschlag in einer westlichen Metropole gehen in das popkulturelle Gedächtnis ein und stehen dort Seite an Seite mit den jeweiligen Megahits und damals neuesten Trends. Diese Evokation des Politischen ist, zumindest in den hier genannten nordamerikanischen und europäischen Beispielen, durchaus nicht ohne Tendenz: Events und die Formsprache des Mediums Fernsehen konstruieren überwiegend eine Art Whiggish History des progressiven Mainstreams, die auf die sich als tolerant, friedfertig und »multi-kulti« verstehende Gesellschaft unserer Tage zuläuft. Zu den nostalgischen Reminiszenzen gehören notwendigerweise auch die Widerstände von verständnislosen Autoritäten, gegen die man damals zu bestehen hatte, gehören auch Hinweise auf die Brisanz damaliger Verletzungen sexualpolitischer und ethnokultureller Grenzziehungen – gehörte auch, filterlose Karo-Zigaretten am Markennamen anzuzünden und so »gegen den Staat« zu rauchen. Das Motiv der gelungenen Grenzüberschreitung wird im deutschen Fall geschärft durch einen weiteren Umstand: Die dem Publikum vertraute Popgeschichte wird mehr beiläufig, also ohne großes Aufheben darum zu ma-
28 Vgl. Welzer: Opa war kein Nazi.
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chen, als eine deutsch-deutsche, als im doppelten Sinne des Worte geteilte Erfahrung präsentiert. Ostdeutsche Erfahrungen auch in nicht speziell der DDR gewidmeten Retro-Shows einzubeziehen, entspricht zunächst dem überdurchschnittlichen Anteil der Ostdeutschen an den Zuschauern der Privatsender. In den Talkrunden und unter den die Musik-Clips einleitenden »Promi-Zeitzeugen« sind immer auch einige beliebte Ostdeutsche, deren Geschichten, wie zu erwarten, systembedingte Eigenheiten aufweisen (deutlich mehr Ärger mit der Obrigkeit, Aufwachsen und Leben unter dem permanenten Verdacht der politisch-ideologischen Abweichung), die aber zugleich die herausragende und vergleichbare Wertigkeit des zu kommentierenden Popereignisses auch unter diesen anderen Umständen aus eigenem Nach-Erleben heraus beglaubigen. Besonders evident verkörpern Künstler, die die DDR verlassen mussten (etwa Nina Hagen) bzw. dort als Westkünstler Kultstatus genossen (Udo Lindenberg), dieses Potenzial von Poperlebnissen, deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten zu entdecken und im Nachhinein zu stiften. Zusammen mit ihren westdeutschen Altersgenossen arbeiten Akteure dieser Retro-Shows also an einer Erzählung der gemeinsamen und zugleich geteilten popkulturellen Sozialisation Jugendlicher im geteilten Deutschland seit den sechziger Jahren. Die Kommunizierbarkeit dieser Geschichte beruht auf den mit dem alltäglichen Medienkonsum verbundenen Praxen des Hören und Sehens, wie sie sich in der Konstituierungsphase von jugendlichen Subkulturen als integraler Bestandteil von Habitus- und Lebensstilmodellierungen herausgebildet haben. Seitdem werden sie, Altersgruppe für Altersgruppe, tradiert und neu erfunden, weiterentwickelt und umgewälzt. Das erlaubt die Rekonstruktion vergangener Mediennutzungen. Sie fragt nach den Inkorporierungen und Sinnproduktionen, deren biographisches wie soziales Potenzial über aktuelle Manipulation- und Verwertungskalküle gegenwärtiger wie vergangener Anbieter hinausweist. Zugleich liefern diese Überschreitungen immer wieder das Rohmaterial für neue Angebote. Das fortwährende Ineinandergreifen der in diesem Kreislauf verbundenen Akteure und Mechanismen macht Popkultur zu einer Geschichtsmaschine eigener Art. Die Untersuchung ihrer Wirkungsweisen und ihrer jeweiligen Hervorbringungen eröffnet ein weites Feld für die Zeitgeschichte des vergangenen Hören und Sehens.
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F ILMOGRAPHIE American Graffiti. USA 1973, 108 Min., Regie: George Lucas, Drehbuch: ders./Gloria Katz/Willard Huyck, Produktion: Francis Ford Coppola. Das Leben der Anderen. Deutschland 2006, 137 Min., Regie/Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck, Produktion: Max Wiedemann/Quirin Berg mit Dirk Hamm/Florian Henckel von Donnersmarck. Good Bye, Lenin! Deutschland 2003, 121 Min., Regie: Wolfgang Becker, Drehbuch: Bernd Lichtenberg/Wolfgang Becker, Produktion: Stefan Arndt/Katja De Bock/Andreas Schreitmüller. Sonnenallee, Deutschland 1999, 92. Min., Regie: Leander Haußmann, Drehbuch: Thomas Brussig/Detlev Buck/Leander Haußmann, Produktion: Claus Boje/Detlev Buck.
L ITERATUR Ahbe, Thomas: Medienbilder, Ostalgie und Geschichtspolitik. Ein Überblick. Die diskursive Konstruktion Ostdeutschlands und der Ostdeutschen seit dem Beitritt der DDR, in: Ute Dettmar/Mareile Oetken (Hg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder und Jugend-) Literatur und Medien, Heidelberg: Winter 2010, S. 97-124. Ders.: ›Ostalgie‹ als Laienpraxis in Ostdeutschland. Ursachen, psychische und politische Dimensionen, in: Heiner Timmermann (Hg.): Die DDR in Deutschland, Berlin: Duncker und Humblot 2001, S. 781-802. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: Beck 2006. Danyel, Jürgen/Árpád von Klimó (Hg.): Pop in Ost und West. Populäre Kultur zwischen Ästhetik und Politik, in: Zeitgeschichte-online, Mai 2006 (überab. Oktober 2011), URL: http://www.zeitgeschichte-online. de/themen/pop-ost-und-west [Zugriff 3.12.2013] Dieckmann, Christoph: Ostalgie. Honis heitere Welt. Das Unterhaltungsfernsehen verklärt die DDR. Anmerkungen zu Wohl und Wehe der Ostalgie, in: Die Zeit, Nr. 36, 28.8.2003, URL: http://www.zeit.de/2003/ 36/Ostalgie_/seite-4 [Zugriff 3.12.2013] Gebhardt, Gerd/Stark, Jürgen: Wem gehört die Popgeschichte?, Berlin: Bosworth Music Group 2010.
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Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a. M.: Fischer 1991. (fr. Paris 1950) Jacke, Christoph: Einführung in Populäre Musik und Medien, Berlin: Lit 2009. Jureit, Ulrike: Generation, Generationalität, Generationenforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, http://docupedia.de/ zg/Generation?oldid=84611 [Zugriff 27.1.2014] Korte, Barbara/Sylvia Paletscheck: Geschichte in populären Medien und Genres, in: dies. (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld: transcript 2009, S. 9-60. Krotz, Friedrich: Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007. Kuhn, Annette: Oral History – feministisch, in: Hannes Heer/Volker Ullrich (Hg.): Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Reinbek: Rowohlt 1985, S. 165-173. Leuerer, Thomas: Die heile Welt der Ostalgie – Kollektive politische Erinnerung an die DDR durch mediale Verzerrung? in: Thomas Goll/ders. (Hg.): Ostalgie als Erinnerungskultur? Symposium zu Lied und Politik in der DDR, Baden-Baden: Nomos 2004, S. 46-59. Lindenberger, Thomas: Kino als Aufarbeitung?, in: Berger, Heinrich/Melanie Dejnega/Regina Fritz/Alexander Prenninger (Hg.): Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen, Festschrift für Gerhard Botz, Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 2011, S. 599-610. Ders.: Zeitgeschichte am Schneidetisch. Zur Historisierung der DDR in deutschen Spielfilmen, in: Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. Ders.: Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 1 (2004) 1, S. 72-85; zugleich http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208148/default.aspx [Zugriff 3.12.2013] Ders.: Sonnenallee. Ein Farbfilm über die Diktatur der Grenze(n), in: WerkstattGeschichte 9 (2000) 26, S. 87-95. Morat, Daniel: Der Klang der Zeitgeschichte. Eine Einleitung, in: ders./ Christine Bartlitz/Jan-Holger Kirsch (Hg.): Politik und Kultur des
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Klangs im 20. Jahrhundert, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 8 (2011) 2, S. 172-177. Müller, Jürgen: »The Sound of Silence«. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, in: Historische Zeitschrift 292 (2011) 1, S. 1-29. Nora, Pierre (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, München: Beck 2005 (fr. Paris 1984-1992). Ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die Gedächtnisorte, in: ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin: Wagenbach 1990, S. 1133. Paletschek, Sylvia: Introduction. Why Analyse Popular Historiographies? in: dies. (Hg.): Popular Historiographies in the 19th and 20th Centuries. Cultural Meanings, Social Practices, Oxford/New York: Berghahn 2011, S. 1-18. Parsons, Talcott: The Social System, New York: Free Press of Glencoe 1951. Paul, Gerhard/Ralph Schock (Hg.): Der Sound des Jahrhunderts. Ein akustisches Porträt des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, Bonn/Berlin: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Reynolds, Simon: Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann, Mainz: Ventil 2012. Ross, Alex: The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören, München: Piper 2013. Sabrow, Martin: Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen: Wallstein 2012. Siegfried, Detlef: Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen: Wallstein 2006. Welzer, Harald/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall (Hg.): »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a. M.: Fischer 2002. Wierling, Dorothee: Oral History, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart: Reclam 2003, S. 81-151.
So tun als gäbe es kein Morgen oder: 2000 Light Years from Home1 K LAUS T HEWELEIT Soon as three o’clock rolls around/ You finally lay your burden down/ Close up your books, get out of your seat/ Down the halls and into the street/ Up to the corner and ‘round the bend/ Right to the juke joint you go in/ Drop the coin right into the slot/ You gotta hear something that’s really hot. CHUCK BERRY: SCHOOL DAYS (CHESS 1653)
Der Song School Days von Chuck Berry bringt sehr genau die Schulsituation des Jahres 1957, natürlich die amerikanische, auf den Punkt. Es heißt gelegentlich, die Texte im Pop würden nichts sagen. Zumindest auf Chuck Berry, den Pop-Poeten, traf dies nie zu. Ich selbst war zu dieser Zeit in Glückstadt, da gab es in der Nähe keine Jukebox, in die man »the coin right into the slot« werfen konnte, aber etwas weiter weg gab es das schon. Es kam alles mit einem Jahr Verspätung ungefähr in Deutschland an. 1957
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Dieser Beitrag ist das Transskript eines am 3. November 2011 als key note der Tagung »PopHistory. Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären« im Roten Salon der Berliner Volksbühne gehaltenen Vortrags, bei dem der Autor bereits veröffentlichte eigene Texte sampelte und der hier in Form eines hidden track erscheint (vgl. die Einleitung in diesen Band, S. 25). Um den oralen Charakter des Textes zu erhalten, wird auf Nachweise und Fußnoten verzichtet.
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aber war Chuck Berry ein Star. »The guy behind you won’t leave you alone.« Denn in der Schule gab es genau diese Situationen: Jemand stopfte einem Bleistiftreste in den Kragen oder piekte einen und man konnte sich nicht umdrehen und ihm eine scheuern, weil man sonst rausgeflogen wäre. Die Schulsituation war auf dieser Ebene relativ unsolidarisch und unangenehm. Aber Rock stiftete vielleicht so etwas wie eine erste Gemeinsamkeit. Wenn man von der technischen Seite her an Popgeschichte herangeht, dann gibt es nach Diedrich Diederichsen einige Vorbedingungen. Erstens ist das die neue Aufnahmetechnik, nämlich Mikrophone, die selbst sanfte Stimmen so aufnehmen konnten, dass sie sexy wirkten: Neue Aufnahmetechnik führt zu Sex im Ohr. Dann sind es die tragbaren Soundsysteme, Radios, Plattenspieler, die man ins Schwimmbad mitnehmen oder im Schlafzimmer haben konnte. Und damit eröffnet sich ein Bereich, der für das ganze Pop-Phänomen entscheidend ist: Die Spannung zwischen Öffentlichkeit und Intimität. Öffentliche Phänomene waren durch Technik auch zuhause im Schlafzimmer, also in der Intimität erlebbar, und das ist in einer Phase der Adoleszenz, in der sich das Selbst konstituiert, entscheidend. Dann gibt es bald Gruppen, die sich bildeten, Anhänger von bestimmten Sounds, die dann Subkulturen heißen, später tribes. Diederichsen nennt das totem sounds. Dann kommt das Visuelle hinzu, Kleidung, Frisuren, Plattencover, man sieht immer attraktiv und anders aus, die Magazine – in Deutschland Bravo – vervollständigen das. Es kommt also auf die Balance an zwischen primitiv, generationell und der Intimität des Hauses: invasive Medien im Schlafzimmer. Mit dem Gefühl: Dies ist real. Die Musik wird nicht gehört als besonders schön und wahr, sondern weil sie generationell stark von der Elterngeneration abgrenzt, so dass man das Gefühl erhält: Wir existieren.
F INALLY LAY YOUR BURDEN DOWN : S OUND ALS M EDIUM DER K ÖRPER - UND G EMEINSCHAFTSBILDUNG Genau dieses Gefühl hatte man bis dahin in Deutschland nicht. Speziell den Lehrern gegenüber nicht und durchweg nicht bei den Eltern, die Fragen nach der Vergangenheit auswichen. Das Gefühl der ganzen Umgebung gegenüber war, dass man kein Existenzrecht hatte. Dieses Gefühl der Irrealität löste sich hier erstmals auf. Zum ersten Mal bekam man Boden unter
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die Füße. Vor dem Plattenradio, das waren in Schleswig-Holstein die Sender AFN in Bremerhaven und BFN in Hamburg, erfuhr man, dass PopSongs von Werten handelten, nicht so sehr des Subjekts, sondern vom Aufbau des Körpers und des Selbstgefühls. Dies war der scheinbare Widerspruch. Auf Konzerten antwortete man dem Sänger im Chor, nämlich als ein Haufen identischer Individualisten. Einerseits: Ich bin wie ich nur ich, andererseits bin ich, was ich höre und wie ich mich kleide. Diesen Widerspruch gibt es so nur im Pop, wenn man aber etwas weiterdenkt, dann gibt es diesen Widerspruch natürlich überall. Widersprüche gibt es nach Rolf Dieter Brinkmann nur im Schreiben und im Denken, nicht aber in der Realität, wo die Dinge nebeneinander existieren und Widersprüche nicht existent sind. Das ganze dumme Gefasel von der Masse und vom Massenmenschen haben wir uns anhören müssen, bis Elias Canetti kam, ein absoluter Individualist, der erklärte, dass man erst in der Masse einen Körper hat. Wir haben gesehen, dass die Erwachsenenwelt absolut wahnsinnig war, entweder Faschismus oder Atomkrieg, Wiederbewaffnung, Koreakrieg. Schließlich 1956 hüpft die Weltgeschichte in die Blue Suede Shoes, der Hamburger erscheint gleichzeitig mit James Dean und der Aufhebung der Rassentrennung an amerikanischen Schulen durch das Oberste Gericht. 1957 diskutierten alle, die sonst auf dem Schulhof die Fußballergebnisse besprachen (und diesmal die Mädchen eingeschlossen), das Stück, das auf Platz eins der Top 10 im BFN stand, beim British Forces Network. Dieser Sender hatte am Sonntagabend zur damals noch nicht so genannten Prime Time nichts besseres zu tun, als eine halbe Stunde lang Buddy Holly, Guy Mitchell, Tennessee Ernie Ford, Peggy Lee, Nat ›King‹ Cole, Johnny Ray, Conny Francis, Petula Clark, Elvis Presley, Harry Belafonte, Chuck Berry, Little Richards, Fats Domino, The Platters, Danny & The Juniors, Jerry Lee Lewis über den Sender zu jagen, und zwar genau in der Reihenfolge, die ihnen Jukebox-Bestücker und Magazin-Macher als die Renner der vergangenen Woche an der britischen Rock’n’Roll-Front gemeldet hatten. Das unerwartete Aufsteigen und Absteigen dieser Stücke in den Charts löste ein Seelenbeben in den Teenagerbrüsten aus, gegen das die fußballerischen Leiden und Wonnen der vorangegangenen Jahre sich eher mickrig ausnahm. Die Leute explodierten vor Wut oder Freude, wenn »ihr Stück« einen Sprung nach oben oder unten in den Top 10 gemacht hatte. Zehn Stücke, alle knapp unter drei Minuten lang, samt Ansage und Kurz-
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kommentar in einer halben Stunde untergebracht. Diese schafften die Elterngeneration als die tonangebende aus dem Weg. Es wäre untertrieben zu sagen, sie brachten nur die Eltern oder FaschoGeneration ins Grab. Dies schafften sie natürlich auch. Aber es war viel umfassender und radikaler: 1956/57 ist mit einiger Sicherheit das Datum des rapidesten Generationenbruchs, den es je gegeben hatte. An den Top10-Diskussionen waren wirklich alle beteiligt, Jungs und Mädchen, angepasste Schleimer, Streber und Petzen ebenso wie die Rowdy-Fraktion. Oh Boy von den Crickets sollte ebenso lange auf Platz eins bleiben wie der HSV an der Tabellenspitze. Wieder war das Radio das entscheidende Medium. Es hatte Ergebnisse gebracht und man agierte sie aus: durch Selberspielen, Tabellenschreiben und so weiter. Und nun mit Plattenkaufen, Plattenhören, selber Gitarre oder Schlagzeug Lernen und Singen. Dass Medien eigene Aktivitäten eindämmen oder gar verhindern, habe ich nie geglaubt. Bei mir war es das Gegenteil. Und natürlich waren wir radio addicts im Wortsinn. Fußball wie Rockmusik waren aus dem Radio gekommen und gingen über in den Körper als dessen wichtigste Stabilisatoren wie auch als Umwälzer seiner Strukturen. Niemand der Erwachsenen, die ich kannte, mit Ausnahme der Dauergesänge meiner Mutter, die aber auch eher medial waren als persönlich, hatte auch nur annähernd einen ähnlichen Anteil am Aufbau der Person wie diese Medien und die durch sie gestifteten Tätigkeiten. All diese Medien, die die neuen Gefühle einer ganzen Generation stifteten, blieben streng außerschulisch. Den Lehrern war die Musik zu laut und zu primitiv. Das Kino, das dazu gekommen war, war ihnen zu seicht und zu bunt, das Leben insgesamt also zu lebendig. Dem Ansturm der neuen Medien und der sich umstrukturierenden Körperlichkeit der Jungen hatte die alte Generation 1957 nichts entgegenzusetzen als die Kategorie des besseren Geschmacks und das eigene Abgestorbensein. Der gute Geschmack, dieser abgehalfterte Gaul aller Begriffslosen, ist heute aber mit Recht das diskreditierteste aller Orientierungsmittel. Die sechziger Jahre werden heute als die politisierten betrachtet. Man fasst das ganze Jahrzehnt von seinem Ende her auf. Die Zahl 68 verschlingt das Ganze, dabei laufen seine ersten Jahre, speziell die Jahre von ’62 bis ’67, unter einem anderen Zeichen, dem des sexuellen Aufbruchs – oder auch: Ausbruchs – unter dem Zauber der Pille. Politik als Thema spielte eine vergleichsweise geringe Rolle. Politisch war man, ohne es zu wissen
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und zu wollen. Zwar würden die verschiedenen Formen der Abweichung darauf hinauslaufen, sich irgendwann als politisch links zu finden in der BRD-Gesellschaft, weil das ihr vorschriftsmäßiger Oppositionsort war, aber das wusste man nicht und es war nebensächlich. Nicht nebensächlich war etwas Anderes, Näherliegendes. Das brodelnde Affektbündel, als das die meisten sich erlebten, das merkwürdige Gefühlsgemisch im eigenen Körper, ein Durcheinander aus Erwartung und Behinderung, Aufgeladensein und Objektlosigkeit, stimuliert bis zum Unaushaltbaren, ohne direkte Droge, von gleichzeitiger Gewissheit einer ziemlichen Sinnlosigkeit des Ganzen. Nicht nebensächlich war der Körper des anderen Geschlechts als der versprochene Schlüssel zu diesem Affektgemisch. Wer den versprochen hatte? Keine Ahnung, jeder, sogar der Pastor im Konfirmandenunterricht, ebenfalls ohne es zu wissen. Wendepunkte in der Geschichte sind, wie wir seit Plutarch und Greil Marcus wissen, meist solche, die die Geschichte nicht mitmachen will. Dieses Mal wollte sie. Die Wendungen im Sexuellen schlugen ein paar Jahre später um in die bekannte Kulturrevolution der Jugendlichkeit, die bis heute die Lebensformen der Westgesellschaft bestimmt. Am Schönsten kann man das vielleicht sehen in Jean-Luc Godards Masculin Féminin von 1965, in dem die »Miss 19« im Interview gefragt wird, wo gerade Krieg ist in der Welt, und das nicht wusste, und auch »man« mit 19 wusste es ebenfalls nicht, weil man es nicht wissen wollte. Man wollte wissen, und das brennend, was los ist mit der Sexualität. Das sind die frühen Sechziger, die Liebe als Schlüssel zur Wirklichkeit und als praktische Poesie der Körper. Den Aufmerksamen unter den Jugendlichen entgeht nie, dass die starken Ängste der Erwachsenen vor dem Sexuellen immer etwas zu tun haben mit unterdrückten Gewaltgeschichten der Vergangenheit. Die politischen Schlächter-Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, die dreißiger und vierziger Jahre in Europa, haben ihre Spuren hinterlassen in den Körperkellern aller Nationalitäten; in Deutschland war diese Koppelung von allgegenwärtiger Gewalt mit deformierter Sexualität besonders stark. Es war geradezu eins der Nazi-Kriegsziele gewesen, das Land von der »falschen Sexualität«, mit der es spätestens seit den Zwanzigern überzogen war, zu befreien und anstelle der jüdischen eine andere Form von Sexualität, die deutsche, zu setzen, diesen ganzen Komplex von aufstrebender Weltmacht, Herrenrasse, die Durchdringung ihrer Körper mit aufgegeilter Welteroberungserwartung,
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geartet von der spezifisch reinen Sexualität des Deutschen. Man kann auch sagen: die Kodierung ihrer Sexualität mit Mord und Totschlag. Und jetzt steckten sie voller Schuldgefühle, die sie weitergaben als Angst vor dem Sexuellen. Das kriegte man mit als Heranwachsender in den fünfziger und sechziger Jahren, man wollte unter allen Umständen, das war überhaupt das Lebensziel Nummer eins, eine andere Sexualität entwickeln. Man glaubte zu wissen, dass die Entwicklung einer eigenen Sexualität, die abweichen sollte von der verklemmten und gewalthaltigen der Elterngeneration, einen Eingang in ein eigenes, nicht-faschistisches Leben eröffnen würde. Dazu kam die sexuelle Stimulierung der Teenagerkörper durch Elektrifizierung und Motorisierung, durch Knattermaschinen, eine andere Elektrisierung des Lebens als die durch Weltkriegsradio und Panzermotoren. Rolf Dieter Brinkmann, Deutschlands größter Beat-Poet, hat mit Blick auf diese Alten die klagenden Zeilen geschrieben: »Warum dachte ich dauernd an den Tod, als ich diese Gesellschaft sah? Waren sie jemals jung gewesen?« Nein, waren sie nicht. Und man selbst würde nicht so werden wie diese Alten, bösartig in ihrer Mischung aus Sauberkeitsmoral und politischem Dreck, den sie überall auf der Welt angerichtet sahen durch alle und jeden, bloß nicht durch sie selber. Was es sonst noch gab im Leben war zwar auch von Interesse, aber von zweitrangigem, denn ohne die Lösung des sexuellen Problems würde es ein Leben nicht geben. So viel war unausgesprochen klar. Klar wie diese Gedichtzeilen: »Die Nacht ist klar/ die Nacht ist kühl, was einmal war/ ist eine Platte/ am stärksten ist, du/ hast ’ne Latte, ’ne Menge/ Lust und das Gefühl,/ die Nacht ist klar, die/ Nacht ist kühl. Fußnote: Hail, hail Rock’n’Roll/ deliver me from the days of old. Chuck Berry«. Erlöse mich von den Taten der Alten: Dazu war die Musik gemacht, dafür war die Sexualität gemacht, dazu waren Brinkmanns Verse gemacht im angemessenen Rockerton des Moments. »Roll rüber, Beethoven! Die Jungen/ waren richtig gewesen. Sie haben Kilo/ Meterweit gesehen, solange die Batterien/ liefen. Ihre Gesichter waren klar,/ als sie auf die andere Straßenseite gingen,/ wo die Motorräder standen./ Sie zeigten die Narben auf den Rücken/ und Händen. Es gab eine Menge zerquetschtes/ Korn, Heu und Kamillengerüche am Abend./ Sie fickten die Mädchen auf dem Feldweg«
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– zumindest war es das, was sie wollten. Motorräder waren es zwar kaum, zu denen hinübergegangen wurde, vielmehr Mopeds, aber auch das waren richtige Maschinen, geeignet, dem Sex der Alten zu entkommen. Es hat vermutlich nie vorher eine derart sexuell aufgeladene Generation gegeben, boys AND girls, die gleichzeitig so dicht an der Schwelle einer möglichen Erfüllung ihrer sexuellen Nahziele stand, zumindest des Anscheins dieser Erfüllung. Das war etwa 1962, als die erste Rock-Generation die Elternhäuser verließ und die sexuellen Abenteuer sich in die gemieteten Mansarden verlegten. Aus den überbevölkerten Abenden der Elternabwesenheit wurde die Möglichkeit von Nächten zu zweit allein im wirklich Realen. All das resultierte in einer ständigen Übererregtheit, in hektischem Verhalten, uncoolen Überfällen und in überschnellen Ergüssen beim Akt, wenn es denn mal dazu kam. Schon der eigenen sexuellen Störungen, Ungeschicktheiten und Dummheiten wegen musste man Experte werden für Psychoanalytisches. Der Ausbruch war gedacht, halb unwissentlich, halb bewusst, als therapeutischer. Was später »sexuelle Revolution« heißen sollte, bestand Anfang der Sechziger vielmehr aus einem großen Durcheinander und einem großen Unwissen, aber einer ebenso großen Entschlossenheit, diesem Unwissen abzuhelfen, koste es, was es wolle. Eine massenhafte, nicht vaterkontrollierte Sexualität als Sprungbrett zu Selbstständigkeit und affektiver Loslösung vom Elternhaus, Folge der Pille (ab 1962), hatte es für junge Frauen vorher nie gegeben. Sexuell aktive, selbständige junge Frauen, zuvor vor allem existent als bedrohliche Phantasiegebilde in Männerköpfen, bevölkerten mit einem Mal das Öffentliche, die Straße wie den tönenden Luftraum. Die vollständigste theoretische Aufzeichnung all dessen, was in diesen Jahren passiert, ist in Popsongs geschehen. Wenn man die Lyrics der Popsongs aneinanderhängt, hat man die Theorie der sexuellen Aufklärung komplett. Das gilt auch für das Kino: Seit Godard und Antonioni findet Filmkritik vor allem im Film selbst statt – in der Rockmusik ebenfalls.
P EEL
SLOWLY AND SEE
Melancholie war das einzige genuine Gefühl zum Weltzustand, das in aufmerksamen Jugendlichen entstehen konnte nach der Vernichtung der Idee Mensch durch den Zweiten Weltkrieg, durch die Konzentrationslager, und
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durch die Atombombe. Eine Generation, mit eher melancholischer als sentimentaler Gefühlsstruktur fängt an, unter dem Schirm der Pille sich körperlich zu berühren. Vielleicht ist es dieser Melancholie aus dem Gefühl des Nichtwiedergutmachenkönnens der Nazi-Verbrechen zu verdanken, dass viel schöne Berührungen darunter waren, und nicht bloß der mächtigen Hilfe der Beatles. Das Leben bekam eine verlässliche körperliche Diesseitigkeit, aus der wie von selber veränderte Arten und Weisen hervorgingen, das eigene Leben leben zu wollen. Ich bin sicher, dass es ein Achtundsechzig ohne diesen Vorlauf nicht gegeben hätte. Eine Sexualität, so gleichgültig gegenüber den Absichten und Zwängen der Familiengründung und des Kindergebärens, war in unserer Kultur vorher nicht bekannt. Es ging um sexuelle Lüste, an der Berührung und an dem Verständnis anderer. Lust an Freundschaft, an weicher Haut und einer milden Atmosphäre für die Gedanken. Lust an etwas Schwebendem. Wer verliebt war, und es wurde erwidert, schwebte, man konnte das sehen. Es war die Lust an genau dem, das die schlauen Dichter der Moderne seit 50 Jahren für außer Kraft gesetzt erklärt hatten: nämlich die Lust an der Liebe und zwar auch und gerade als Erkenntnismittel. Die Abkoppelung des Beischlafs von der Gefahr Kind/Zwangsehe machte den Kopf frei für die Wahrnehmung von unverheirateten Frauen und Männern, beweglich ohne Kind selbst entscheidend. Die neu getroffene Option der jungen Männer ging ganz deutlich gegen die Hausfrau in spe. Eine intelligente und möglichst schöne Geliebte war die Utopie, eine Geliebte, die dabei war, das Leben zu lernen wie man selber, die mit im Kino, in der Kneipe, in den Cafés saß. Frauen, die nicht mit Ehegerede zu erobern waren, sondern mit Unbekümmertheit, Frechheit und: Wissen. Die Nacht, hatte sie einmal begonnen, sollte dauern. Nicht einmal zu stören durch Dinge wie Tanz. Die Tür schließen, wie das Lou Reed formuliert auf der Bananenplatte der Velvet Underground: »If you close the door/ the night could last forever/ leave the sunshine out/ And say ›hello‹ to never./ All the people are dancing/ and they’re having such fun/ I wish it could happen to me -/ But if you close the door/ I’d never have to see the day again.«
Es geht um Körperverwandlung, die Musiken, die Beziehungen, die sich daraus entwickeln, auch das Tanzen. Dazu gehört das Überwältigt-Werden.
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Alles ist noch möglich. Man kann werden. Popsongs löschen dabei die historische Zeit: Alles wird Augenblick, das Leben wird Moment. Technologisch indizierte Wahrnehmung, aus Radio, Platte, Kino führt zu der Formulierung: elektrische Generation. Das ist wichtig mitzudenken. Marshall McLuhans The Mechanical Bride, Untertitel: Volkskultur des industriellen Menschen, 1951 publiziert, acht Jahre vor Richard Hamiltons Pop-Bild, fünf Jahre vor Chuck Berry. In dem Buch gibt es die Werbung, die Filmstars, die Comics, dazu jeweils eine Seite Text von McLuhan, der eigentlich ein konservativer Filmwissenschaftler war, all dies nicht ausstehen konnte und lieber zurückgezogen an einem College elitäre Literatur gelehrt hätte. Aber er kam nicht vorbei an den Annoncen, Werbeanzeigen usw. Das ist das erste Poptheoriebuch, später kommen die bekannteren Werke hinzu, aber hier nimmt er bereits einen Satz wahr, den er dort noch gar nicht formuliert hat: »The medium is the message.« McLuhan nimmt als Erster die Elektrizität als Medium des Pop wahr. Das ist nicht mehr die Gutenberggalaxis, Fords Fließband, die Vereinzelung des Individuums. All dies geht über in das, was wir jetzt Popkultur nennen, aber 1951 gab es noch keinen Rock’n’Roll, auch wenn das Ganze bei McLuhan hier bereits entwickelt ist. Es ist die Stimme von Bob Dylan, The Voice, die nicht nur die Sechziger ausdrückt, sondern die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Text und Stimme sind untrennbar: »Your sons and your daughters/ Are beyond your command«: Welche Zeile hätte exakter als in The Times They Are aChangin‘ die Kündigung des Generationenfriedens enthalten, die Anfang der Sechziger den alten Eltern der Weltkriegsgeneration seitens ihrer Kinder erging. Es ist in dieser Stimme. Und zwar in ihrer absoluten Unwahrscheinlichkeit. Das genau ist das Wort für die Komplettheit des Ausbruchs, wie bei Billie Holiday und Elvis: Das Unwahrscheinliche hält Einzug unter die Realitäten. Ein Kondensat aus der Überwirklichkeit, ein Wunder an Physischem, das die großen, die unvergleichlichen Stimmen macht. Billie Holiday der Dreißiger und Vierziger, Elvis der Fünfziger, Dylan der Sechziger. Dann lösen sie sich daraus, enthalten eine ganze Epoche, manchmal ein halbes Jahrhundert, manchmal mehr, enthalten aber auch all diese Mikro- und Makrosekunden, in denen eine Generation, ein Land, ein geschichtlicher Zustand zu sich kommt. In Dylan war zu hören, ist zu hören und wird einst zu hören sein, was jeweils aktuelle Geschichtsvernichter zu löschen versuchen aus der Aufzeichnung der Revolten der Generationen
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überhaupt und insbesondere derjenigen nach WK II: die Verabscheuung des Krieges, die Vergötterung des Sexuellen, das aushäusige Leben – the road –, der Glaube an die Musik, die Platzierung der Kunst und der Körper über den Ansprüchen aller Politrealitäten. Das hat Achtundsechzig zum Teil zurückgenommen. (Ich jedenfalls würde sofort den gesamten SuhrkampLaden tauschen gegen die gesammelten Columbia Records.) Dazu kommt als ein thematisches Ingredienz von Pop aber auch der Gestus der Verschwendung und Verausgabung. Wenn wir Lou Reeds Text von Velvet Underground hören mit Nicos Stimme in Sunday Morning, klar wie nach dem Sonntagmorgenkater, »all those wasted years so close behind«, all die verschwendeten Jahre so dicht hinter uns, auf den Fersen sozusagen. Und dann Eric Burdon »when I think of all the good time / I’ve been wasting having good times […] when I was drinkin’/ I should’ve been thinkin’«: Nein, sinnlose Verschwendung und Verausgabung, für Georges Batailles Grundkonzepte allen Lebens, sind längst ausgewandert aus den Sphären des Ernsten und geschrumpft oder erweitert zu Grundkonzepten des Pop. Sie spotten der Verschwendung, sie zeugen vom unversiegbaren Reichtum jener Musiken. Wolfgang Neuß verschwendet gleich das ganze Prinzip Hoffnung in einem einzigen Satz: »Was brauche ich ein Prinzip Hoffnung, wenn ich durch Rock’n‘Roll Gewissheit habe.« Schöner kann man es nicht sagen. »Es schien, als könnte in der Arena des Pop buchstäblich alles geschehen. […] Die Welt des Pop befand sich in einem Wettrennen mit der Welt an sich, der Welt der Kriege und Wahlen, der Arbeit und der Freizeit, der Welt der Armen und der Reichen, der Weißen und der Schwarzen, der Männer und Frauen. Und 1965 konnte man spüren, dass die Welt des Pop im Begriff stand, diesen Wettlauf zu gewinnen.«
Dieser Satz von Greil Marcus ist großartig formuliert, wie so oft bei Marcus heillos übertrieben, also unsinnig, und gleichzeitig absolut präzise wahrgenommen.
E LEKTRIK , K LANG , K ÖRPER : J IMI H ENDRIX Voll aufgedrehte Verstärker ermöglichen die Tongebung mit nur einer Hand, die zweite wird frei für andere Bewegungen. Das ist der Hintergrund
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vom »Zweit-Spieler«, den Leute immer entdecken wollten, die Jimi Hendrix zum ersten Mal spielen hörten, aber da war nur einer. Beim gleichzeitigen Spiel von zwei Saiten, wobei die eine gezogen ist, ergeben sich Intervalle, die die sauberen Tonleiterskalen sprengen, Viertel- und Achtelton-Abstände, wie sie in orientalischer Musik vorkommen oder von Synthesizern elektronisch erzeugt werden. All diese Verwischungen des sauberen Klangs verlassen den Ordnungsraum, den Normkörper der westlichen Musik. Sie richten sich wie alles intensiv von der Norm abweichende verstärkt an die Affekte, gehen auf Potenzierungen der Körperlichkeit der Musik. (Bei Sun Ra waren es die Drums und die Saxophone, die angelehnt sind an die menschliche Stimme, den Schrei.) Und auch Hendrix‘ Gitarre schreit. Somit transzendieren diese Klänge das Soul-Universum wie auch das Rock-Universum, was diese Musiker space nennen, sich selber in einer anderen Galaxie verankern statt in einem anderen historischen Kontinent. Alles, was neuer Klang war, sollte Eingang finden in ihr Schaffen dessen, was music in der Setzung von Albert Ayler ist und weiter werden sollte: »the healing force of the universe«. Wenn man noch einen Punkt von Hendrix‘ Spielweise herausnimmt, nämlich in derselben Paraphrasierung gleichzeitig schneller und langsamer zu werden, also gegenrhythmisch zu arbeiten, dann sind das Funktionen, die man in den verschiedenen Funktionen des menschlichen Körpers wiederfindet: Atmung, Stoffwechsel, Herz, Blut, Motorik, Denken. »Hendrix was a body building guitar player«, fand angetörnt Gitarrist Ralph Towner. Es sind Gerätebauer, Elektroingenieure, Bastler, die das liegengebliebene Weltkriegs- und das neuentwickelte Weltrauminstrumentarium für musikalische Ausdruckszwecke nutzten und so weiterentwickelten, dass Klanggeräte herauskamen, Klangmaschinen. Bei Hendrix ist der Verstärker nicht nur der seines Instruments, sondern auch Pfeiler des Wunsches nach einer anderen Galaxie, einer Ausbruchssehnsucht, Raumschiff zu einer anderen Körperbasis, von der aus die electric skies zu erreichen sind. Wobei der fleischliche Körper der sich ins All Erhebenden größte Schwierigkeiten hat, sich zu entscheiden, auf welchen Schwingen er dahin gelangen soll: auf den Schwingungen der neuen Sounds, auf den Schwingungen der körperlichen Liebe oder auf den vibrations bestimmter Drogen, die im Jahr 1969 »bewusstseinserweiternde« heißen. […] Es handelt sich immer um die Frage nach der richtigen Droge beim Betrachten der Funktionsweisen eines Sozialkörpers.
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Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich der Droge Blutrausch, Rassismus, Auslöschung Anderer verschrieben. Politische Namen: Faschismus, Stalinismus. Zentren: Deutschland und die Sowjetunion, zwei Verlierernationen von World War One. Wiederhabenwollen, was man nie hatte: den Sieg im Weltkrieg. Alles ausrotten, was sich in den Weg stellte, egal ob äußerer oder innerer Feind. Daseinsform: Orgie, das Töten als Droge, ein Hit auch in anderen Kulturen. Die Zentraldroge der Sechziger – »music is the healing force of the universe« – verschob die politische Szenerie komplett. Resultat war eine Generation, von der nicht mehr Tötung verlangt war und die auch nicht mehr danach verlangte und daher entschieden dagegen war, als Uncle Sam doch noch mit der Nötigung hervorkam. Vietnam: Die power für die Verweigerung kam aus neuen Technologien, solchen, die sonst für Kriegszwecke entwickelt und eingesetzt werden. Die Elektrifizierung der Musik ist weniger Missbrauch von Heeresgerät, wie Friedrich Kittler meint, sie ist viel mehr sein für den Moment gelingendes kidnapping: Zur dauerhaften Enteignung hat es nicht gereicht. Aber der entscheidende Schritt von der Blues- und Soul-Welt zur neuen Galaxie der Rock Music liegt in den neuen Technologien. Hendrix: Mit Musik kann ich alles erklären. Wie in der Kindheit, wo man noch auf natürliche Weise high wird. Mit Musik kannst du Leuten direkt ins Unterbewusstsein predigen. Ein Musiker, der wirklich was zu sagen hat, ist wie ein Kind, das von seiner Umwelt noch nicht allzu sehr beeinflusst ist, das noch nicht allzu viele Fingerabdrücke auf seinem Gehirn hat. »Who hasn’t had too many finger prints across his brain.« Darum ist Musik so viel intensiver als alles andere, was Du fühlst – soweit Hendrix. Immer wo er in Musik denkt, fallen ihm Formulierungen zu, wie preaching into sub consciouss – direkt ins Unterbewusste seiner Zuhörer, weil er gesehen hat, wie sich seine Musik direkt dorthin wandte. Auf Electric Ladyland heißt das Ganze dann electric lady, die elektrische Frau, sie erwartet dich und die Zeile, die die ganzen politischen Gegensätze auslöscht – Gut und Böse liegen Seite an Seite, wenn elektrische Liebe den Himmel durchbohrt. »Good and evil lay side by side/ when electric love is penetrating the sky.« Das führt zur Formulierung eines neuen geschichtlichen Zustands, also das, was in der Politik die sich bekämpfenden Parteiungen sind, wird in electric love auf dieser Ebene theoretisch-praktisch überwunden.
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T HIRD BODY : P OP ALS KÖRPERVERWANDELNDES M EDIUM Hier ist die materielle Realität von Schallwellen angesprochen, die verändert auf menschliche Körperzellen einwirken, die auch Schwingung sind. Robert Jordain, Gehirnforscher und Musiktheoretiker aus New York, hält es für erwiesen, dass musikalische Reize nicht nur im Gehirn, sondern primär in der Muskulatur abgespeichert werden: Der Körper speichert und es entsteht zwischen der Musik und einem selber so etwas wie ein dritter Körper, da wo die Schallwellen eines Lautsprechers mit den entgegenströmenden Wellen der eigenen Körperlichkeit zusammenstoßen und sich zu einer neuen Materialität im Raum verbinden. Dieser dritte Körper ist ähnlich wie in der Psychoanalyse beschrieben die Vorstufe zu einer neuen Personenform. Psychoanalyse spielt ohnehin die ganze Zeit im Hintergrund: Die Formel von »Hollywood als Traumfabrik« erkennt in Freud nicht weniger als Hollywoods eminentesten Produzenten, den Theoriebruder der GoldwynMayers. Alles andere als ein Zufall, dass die Figur des Sigmund Freud durch unzählige Musikvideos geistert: als eitler shrink der HollywoodHeroinen wie auch als guter Freud und Helfer in allen Lebenslagen. Die zweite große Traumschiene, auf der Pop-Songs den Dr. Freud für sich in Anspruch nehmen, ist die andere Seite, die große, böse Liebe, der Rausch der Übertretung. Stärker als in vielen Analytiker-Texten lebt das Subversive der Psychoanalyse in Popsongs. Sie haben den Vorteil, nicht um Kassenpatienten werben zu müssen, sie müssen frech sein als Welt, in der sich Teenager-Wahnsinn und Künstler-Extremismus begegnen können. Psychoanalyse und Rock sind Spielformen des ständigen Anlaufs auf ein neues, wilderes Leben. Das Böse, die Übertretung, spielt dabei eine große Rolle, besonders in der Biographie. Elvis, der King, hat in der Übertretung zu leben, sonst wäre er keiner, ist aber in den Worten Greil Marcus’ gleichzeitig Geschichtsschreiber Amerikas. Es handelt sich dabei um die Realisierung der göttlichen Ansicht, das Leben sei zu machen aus der Reihe der saturday nights, ihrer Berührungen und Sounds. Follow that Dream, wie das bei Joseph Conrad heißt, Leben, als gäbe es kein Morgen. Das ist von einer Reihe von Generationen so praktiziert worden auf sehr riskante Weise und viele haben es nicht überlebt: »I’m evil/ my middle name is misery/ I’m evil/ so don’t you mess around with me.«
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Ü BERSCHREITUNG DER K ÖRPERGRENZEN , ALLER G RENZEN INS A LL Ich habe einmal Hendrix mit Büchner verglichen, der tot war mit 23. Büchners Lenz, Woyzeck, Leonce und Lena, Danton’s Tod sind von einer solchen Wucht, dass sein schmales Werk bis heute nicht Mangel, sondern Überfluss verströmt. In Büchners Sprache musste der deutsche Feudalismus dem Körper der Republik Platz machen. In Hendrix’ Musik verlöscht der Ideologiekörper des 20. Jahrhunderts, der Gehorsamkeitskörper der faschistischen Blöcke, ebenso wie der Zurichtungskörper der sozialistischen Überzeugungsgarden: alle beide in hohem Maße euphorisch mörderisch. Sie verschwinden im elektrifizierten body jüngerer Bevölkerungsteile auf Ausbruchskurs nach dem Zweiten Weltkrieg. Rock ist die Musik westlicher Demokratien in ihren post-nationalen, prä-technokratischen Öffnungsphasen. Den gewünschten Übergang aus den bürgerlichen Industriegesellschaften in eine sozialistische Revolution gab es faktisch nicht. Es gab aber den Übergang aus dem formierten Körper in einen individuell vibrierenden, drogengefährdeten, hedonistischen, sexualisierten, kunstinfizierten, semi-toleranten, verantwortungsfreien Körper. Rock ist die Musik, die ihn strukturiert. Wie das unter Drogenbedingungen auch ausgesehen hat, kann man einem Brief von Blalla W. Hallmann entnehmen, der 1968 in San Francisco Robert Crumb und andere Zeichner traf und in die Acid-Scene abtauchte. Brief im Juni 1968 an deutsche Freunde: »In der Politik ist hier was los, wie Du wahrscheinlich auch in Deutschland mitkriegst. Zwei politische Morde [Martin Luther King und Robert Kennedy] Wahljahr, Vietnamkrieg und ein bevorstehender Bürgerkrieg. Hier ist alles aufgescheucht und beunruhigt. Dazu kommt, dass jetzt Tausende in die Städte fliehen, da nach Vorhersagen Teile Kaliforniens in den Pazifik sinken sollen. Das soll mit dem Asteroiden zusammenhängen, der sehr nahe an der Erde vorbeifliegt. Wenn Du also was in den Nachrichten hörst, weißt Du was los ist, und da kannst Du an mich denken. Du machst Dir kein Bild was hier los ist. Deutschland ist tiefstes Mittelalter im Vergleich zu hier. Drugs (Opium, Heroin, LSD, Marihuana usw.) werden hier genommen wie bei uns Bier. Nur die Auswirkungen sind etwas anders. Immer mehr Leute drehen hier durch, werden ganz einfach irre, verrückt. Durch meine Amerika-Fahrt bin ich etliche Erfahrungen reicher geworden, das kannst Du mir glauben. Amerika
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ist ein einziges Irrenhaus. Bis auf weiteres viele Grüße und alles Gute und Liebe, Euer Wolfgang.«
Das Irrewerden steht ihm selbst bevor. Aus dem psychedelischen Trip wird eine manifeste Drogenpsychose, Hallmann flippt aus, wird in die Psychiatrie zwangseingewiesen, Abschiebehaft, und in Deutschland wieder in die Psychiatrie, wo er weiter seine »irren« Bilder gemalt hat.
S ERIELLE K ÖRPER : P OPGESCHICHTE ALS K UNSTGESCHICHTE Pop-Art wurde 1962 mit den Bildern Richard Hamiltons und in der WarholFactory von Campbell’s Tomatensuppendosen ebenso wie von den millionenfachen Massenpressungen von Singles inspiriert. Sie hat das aufgelöst, was Walter Benjamin anhand der Fotografie ausgeführt hat: Aura-Verlust des Kunstwerkes in Zeiten seiner Massenreproduktion, nur genau umgekehrt. Das Kunstwerk als gewünschter Gegenstand hat umso mehr Aura, wenn es von 30 Millionen Menschen gekauft wurde. Wenn 30 Millionen eine Jeans tragen, dann ist das gerade toll. Das Serielle dabei erstreckt sich bis auf die Person. Dem Seriellen hat Andy Warhol sich immer angepasst, indem er sich als Typ dargestellt hat, als Mensch ohne Charakter, als Typus in einem Dandy-Anzug, als wandelnder Medienverbund, immer gleichbleibend designter 62,5-Kilo-Körper, der aufnimmt, mischt und wiedergibt, was er sieht und hört: ein Rekorder in Menschengestalt. Warhol: »In den Fünfzigern hatte ich eine Affäre mit meinem TV-Set, geheiratet habe ich aber erst 1964, als ich mein erstes Tonbandgerät bekam.« Seine berühmten Witze mit seinen Serien, die master pieces, noch einmal Warhol: »Als Picasso starb, las ich in der Zeitung, er habe 4.000 Meisterwerke hergestellt in seinem Leben, da dachte ich: Das kann ich an einem Tag. Auf meine Weise, mit meiner Technik. 4.000 und sie werden alle Meisterwerke, weil sie alle das gleiche Gemälde werden.«
Der Gott-Artist macht niemals bzw. immer Witze, vor allem aber lässt er seine Technik antworten. 4.000 Mal Technik am Tag, 33 Mal Revolution in der Minute, auf der Schallplatte; 24 Mal Wahrheit in der Sekunde, im Film.
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Der Satz dahinter ist: I can – Ich kann das. Im Laufe seines Lebens war Warhol zunächst Zeichner, dann Werbegrafiker, dann Maler. Er arbeitete mit Siebdruck, mit Mode, mit Rockmusik (Velvet Underground), mit Film, mit Fernsehen, mit verschiedenen Handwerkstechniken wie der Blattgoldkunst, mit Journalismus, mit Klatsch, mit public events, mit Konfigurationen des gender switching, mit Disco-Techniken usw. Zu diesem ausgeprägten medialen Bewusstsein gehört es, die Finger vom ältesten traditionellen Medium gelassen zu haben, nämlich vom alphabetischen Schreiben. Es gibt zwar Bücher von Warhol, Popism, Tagebücher, The Philosophy of Andy Warhol (from A to B and Back Again), aber sie sind sämtlich telefoniert, aus Telefonaten zusammengesetzt. So wird Warhol auch zum Erfinder des Mediums »ungeschriebenes Buch«. Kein Subjekt soll kreiert werden, aber ein amerikanischer Körper. Markennamen sind die Kernzellen westlicher Identität, wie Camille Paglia es formuliert hat, oder, wie Warhol es ausdrückte: »die gleiche Cola für alle«. Liz Taylor bekommt keine bessere Cola, der Präsident auch nicht, stattdessen: mediale Selbstvervielfältigung in Serien als Lebensprozess. Das Gleiche gilt dann bei ihm für die Sexualität. Sein Mitarbeiter der ersten Jahre, Gerard Malanga, hat das so formuliert: »Es war beinahe so, als sei Andy asexuell gewesen. Er schreckte vor physischer Berührung zurück. Ich glaube, dieses Zölibatäre gab ihm eine ungeheure manipulative Macht über die extrem schönen Leute, die er um sich versammelte«. Alle in der Factory hatten bestimmte sexuelle Oberflächenorganisationen: homosexuell, transvestitisch, heterosexuell. Nur er selbst hielt sich aus diesen Beziehungen körperlich heraus. Die sexuelle Unbestimmbarkeit der Serie wiederholt sich so in der sexuellen Unbestimmbarkeit Warhols, in dessen Filmen das Transvestitische die Oberfläche bestimmt. Auf der Ebene seines psychischen Geschlechts hat er sich zeitlebens der Stimme enthalten. Warhol über seine Transvestiten-Filme: »Mich faszinieren die Jungs, die ihr ganzes Leben lang versuchen, echte Mädchen zu sein. Sie müssen so hart arbeiten! Doppelarbeit. All die angeblich männlichen Zeichen loszuwerden und sich all die weiblichen Zeichen zuzulegen. Ich will sagen: Es ist allerschwerste Arbeit, wie das komplette Gegenteil dessen auszusehen, wofür die Natur dich eingerichtet hat und dann die Frauen-Imitation von etwas zu sein, das zuerst eine Phantasie ›Frau‹ war. […] Eine Zeitlang traten in unseren Filmen viele
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Transvestiten auf, weil die echten Mädchen in unserem Kreis einfach durch nichts in Erregung zu bringen waren, die Transvestiten aber durch alles.«
Erregung, während er schwieg. Diesen Bogen muss man meiner Meinung nach unbedingt einbringen in eine Betrachtung der Popgeschichte, denn es läuft genau zeitgleich mit den Sachen von Dylan ab, der Warhol ja dann auch über den Weg läuft in New York. Das, was wir erst gender mainstreaming und jetzt queer policy nennen, also: Judith Butler, Madonna, bis hin zu Lady Gaga. Das sind heutige Formen der damaligen Erfindungen der Warhol Factory. Da geht die ganze Geschichte los: auf der Bananenplatte und später von Lou Reed in seinem Walk on the Wild Side, festgehalten in den Zeilen »Holly came from Miami, F.L.A./ Hitch-hiked her way across the USA«. Holly Woodlawn, Candy Darling usw.: All das sind Namen der Transvestiten aus den Warhol-Filmen vom Ende der Sechziger. Diese Drehung, nicht nur der Weg zum eigenen Körper, sondern auch Verlassen der Fixierung von Sexualität. Die Warhol-Factory ist Laboratorium davon, während er selbst, mit seiner katholischen Mutter zusammen wohnend, mit ihr Sonntags in die Kirche geht. Das scheinbar Sündige der Factory, die Spaltung also der Person, die nicht als einheitlich gedacht wird, sondern als Konglomerat, all dies gehört zu dem, was Marshall McLuhan 1951 in The Mechanical Bride zusammenfasste unter dem Begriff der »Volkskultur des industriellen Menschen«. Den Begriff Popkultur gab es, wie gesagt, noch nicht. Und er fügte sofort hinzu, dass das Volk mit der Herstellung dieser Volkskultur aber nicht das Geringste zu tun hat, die zu einem großen Teil aus Laboratorien, Studios und Werbeagenturen stammt.
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ALS
M EDIENGESCHICHTE
Zu diesem Komplex gehören auch Comics notwendig dazu. Was wir in den Fünfzigern als Micky Mouse kennenlernen, las das ganze Land: »Comics kept the country together.« Die ersten erschienen in den 1890er Jahren, Supermann wurde erst 1938 erfunden, Comics stiften amerikanische Nationalidentität. In Deutschland wurde das als Massenpsychose bezeichnet, übrigens mit demselben Wort, das der Anführer des Fähnlein Fieselschweif, Mister Helmut Schmidt aus Hamburg, auch für die 68er gebrauchte: Massenpsychose. Was für Komiker, diese Politiker! Immer noch denkt diese
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Landplage von Politik-Freaks, sie habe irgendetwas bedeutet oder etwas Bedeutendes getan für ihr Land, die Menschen, uns oder so. Bestätigt, aber nur traurig ist, wie sehr ihre abgrundtiefe Totalnichtigkeit neben dem zu erwartenden Spaß dazu beitrug, Dinge wie die monatliche Micky Mouse sehnsüchtig zu erwarten, schnellstens die einleitende Donald-, Dagobert-, oder Düsentrieb-Story mit den Augen aufzusaugen, die Seiten zu liebkosen im Rhythmus ungehemmter Kicher-Emotionen. Der Comic arbeitet mit Kadrierungen wie der Film. Carl Barks arbeitete wie Orson Welles in Citizen Cane: Jedes neue Panel macht objektiv eine neue Einstellung. Wir haben das alles aufgenommen, ohne darüber nachzudenken, was etwa das Kino in der Nouvelle Vague oder bei Antonioni Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger machte, all das hat man in den Comics bereits aufnehmen können; ebenso Porno als Erkenntnismittel, ins Leben gerufen in den Underground-Comics von Robert Crumb. Die Großkünstler des Pop, ich habe das in meinem Buch der Könige ausgeführt, tendierten dazu, bewusst oder unbewusst (Warhol ganz bewusst), etwas aufzubauen, was die Helden der Frühmoderne Kunststaaten genannt haben. Zu diesen Staaten gehören ganz bestimmte Ingredienzien. Benn als Orpheus’ Nachfolger, Hamsun als »Orpheus des Nordens«, Céline als Ludwig XIV.: An diesen Images wird sehr bewusst gebaut, in den Veröffentlichungen oder im Radio, wo immer diese Künstler reden, läuft der gesamte autobiographische Entwurf immer im Zusammenhang mit solchen Doppelungen der Person. Das kann man bei Warhol genauso sehen. Er wird Kunstkönig von New York und arbeitet in allen Medien, die irgend greifbar sind, betreibt die Technifizierung seiner Person, indem er sich als wandelnden Rekorder bezeichnet und das Schreiben weglässt, genau das alte Medium, in dem die alten Speicherungen liefen. Die Pop-Leute sind eben absolut nicht theoriefeindlich. Sie denken ihre Theorie-Entwürfe mit, wissen dabei ziemlich genau, was sie tun und wovon sie besser ihre Finger lassen sollen. Warhol macht zum Beispiel in der Anfangsphase von MTV noch mit: Andy Warhol’s 15 minutes bezogen auf seine Formel »everybody will be famous for 15 minutes«, die er später abgewandelt hat zu »everybody will be famous in 15 minutes« und damit ins Absurde wendete. Miles Davis kann man ähnlich beschreiben, Dylan bis heute ebenso. Man muss nur dessen Image-Wechsel betrachten, wie er seit den Sechzigern in ganz unterschiedlichen Klamotten, mal mit amerikanischen Hüten, mal französischem Bohème-Outfit sich präsentiert, mit Bart und ohne, all
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dies ist eng verknüpft mit ganz bestimmten Produktionsphasen und drückt diese auch aus. Wenn man also einen theoretisch zusammenfassenden Schluss ziehen will, dann vielleicht diesen: Der Star als Mythos, Umlaufbahn, nach dem Tod: Stern am Himmel (so wie die Griechen etwa Kassandra an den Himmel projiziert haben), so kann man sagen, dass Medien eine Realitätsart produzieren, in der Mythos und Geschichte metaphysisch und körperlich, zeitlich und räumlich nicht mehr auseinanderfallen. Technische Medien produzieren Himmelskörper am einen Ende ihres Regenbogens, die Stars, Körper im Instant Karma, wie Lennon es genannt hat. Dazu gehören reale Endlichkeiten wie Schall- und Bildwaren und an ihrem anderen Ende, den Konsumenten bzw. Fan, also: uns. Dazu eine Beschreibung von Tracy Johnson, die eine Dylan-Seite im Netz betreibt: »Es war ein regnerischer Tag im Oktober 1983. Ich war kribbelige 16 Jahre alt, als mir klar wurde, dass es das Schicksal von Bob Dylans Worten und Musik sein würde, mein Leben drastisch zu verändern. Eine Hochzeit beinah, wenn nicht mehr. Eine unio mystica«.
Was an diesem kühlen Oktobertag geschah? Tracys Mutter kam nach Hause mit Bob Dylans Greatest Hits unterm Arm mit den Worten »Hab ich für Dich gekauft. Ich dachte natürlich, irgendetwas, das sie interessiert, könne mich nicht die Bohne jucken. Aber Mama, mit Schärfe in der Stimme: ›Du wirst Dir das anhören‹.« Später in der Nacht, sagt Tracy, kam sie aus dem Bett, um die Songs nochmal und nochmal zu hören und nach einer Woche konnte sie alle auswendig. »Endlich, endlich«, so schreibt sie, »hatte ich eine Stimme gefunden, die mein Verlangen artikulierte, meine Gedanken und meine Verletzlichkeit.« Sie fasst das zusammen: »Bob, you’ve given so many of us voices. So many of us have received courage and dignity through your words. You’ve touched the lives of the gentle, the inarticulate, the guardians, the protectors of the mind, the aching, the wounded, the luckless, the abandoned, and the forsaken.«
Fans gelten ja aller Übereinkunft nach als eher würdelos, da sie sich und alle Selbstkontrolle aufgäben. Hier aber nun, bei Tracy Johnson, das Wort dignity – Würde. Würde, die einem überall versprochen wird, die man aber nicht bekommt. Menschen müssen sie sich nehmen und bekommen sie
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vielleicht zugestanden in ihrer Gestalt als Fans. Der schönste kleine Text aus ihrem Buch ist der Bericht eines Fans, David Whiting-Smith, Gitarrist, Maler und Poet aus Paso Robles, California, der mit zwei Freunden Bob Dylans Haus in Point Dume ausfindig macht. Sie haben etwas zu rauchen dabei und ködern damit den Gartenwächter. Der bestätigt ihnen, dass Bob anwesend sei. So setzen sie sich in den Hof, der Bodyguard ist nett, der Gärtner gesellt sich hinzu, sie machen sich über das Budweiser her, mit dem der Kühlschrank vollgestopft ist, und verbringen einen halben Tag chatting im Hof des Meisters. Leute kommen und gehen und werden eingelassen, angemeldet natürlich. David Whiting-Smith fragt, wie es denn mit ihnen sei. Die Antwort des Gärtners: »Oh, letzte Woche grad, war Johanna von Orleans da und auch Jesus und Buddha haben auch versucht, am Tor zu rütteln«. »So saßen wir dann bis Sonnenuntergang. Bob ließ sich nicht sehen, aber es war toll, den ganzen Tag auf seinem Besitz zugebracht zu haben, wissend, er war gerade um die Ecke«. Eine kleine Würde, immerhin. All so was arbeitet mit daran, dass die nächste Platte von Buddha Bob nicht unbedingt schlechter wird als die vorangegangene. Und wenn sich viel solcher dignity anhäuft, vielleicht sogar besser.
Autorinnen und Autoren
Geisthövel, Alexa, Projektmitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Politische Kommunikation im 19. Jahrhundert, Wissenschaftsgeschichte der Psychologie und der Anthropologie, Geschichte medizinischer Aufschreibetechniken, Disco und Punk um 1980. Publikationen: mit Jürgen Danyel/Bodo Mrozek (Hg.): Popgeschichte. Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958-1988, Bielefeld: transcript 2014; Ein spätmoderner Entwicklungsroman: »Saturday Night Fever«/»Nur Samstag Nacht« (1977), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013) 1, S. 153-158; Auf der Tonspur. Musik als zeitgeschichtliche Quelle, in: Martin Baumeister/Moritz Föllmer/Philipp Müller (Hg.): Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 157-168. Lindenberger, Thomas, Leiter der Abteilung »Kommunismus und Gesellschaft« am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), apl. Prof. für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Arbeitsschwerpunkte: Deutsche und europäische Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts; Geschichte des Kommunismus im Kalten Krieg; Filmgeschichte. Publikationen: mit Annette Vowinckel/Marcus Payk (Hg.): Herrschaft und EigenSinn, in: Studien zur Gesellschaftsgeschichte, Köln u.a. 1999; mit Jan C. Behrends (Hg.): Cold War Cultures. Perspectives on Eastern and Western European Societies, 2. Aufl. New York/Oxford: Berghahn Books 2014; Underground Publishing and the Public Sphere. Transnational Perspectives, Wien, i. E.
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Mrozek, Bodo, assoziiert am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF); Dissertationsprojekt am Arbeitsbereich Zeitgeschichte des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Transnationale Kultur- und Zeitgeschichte, Popgeschichte, Historische Jugendforschung. Publikationen: mit Alexa Geisthövel/Jürgen Danyel (Hg.): Popgeschichte. Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958-1988, Bielefeld: transcript 2014; Écouter l’histoire de la musique. Les disques microsillons comme sources historiques de l’ère du vinyle, in: Le Temps des Médias. Revue d’histoire 22 (2014), S. 92-106; Popgeschichte. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6.5.2010, URL: http://docupedia.de/zg/ Popgeschichte?oldid=84650. Nathaus, Klaus, Associate Professor in Western Contemporary History (after 1918), University of Oslo. Arbeitsschwerpunkte: Produktion populärer Kultur und Musik im 20. Jahrhundert; vergleichende Sozialgeschichte Großbritanniens und Deutschlands seit dem späten 19. Jahrhundert. Publikationen: (Hg.): Europop: The Production of Popular Culture in Twentieth Century Western Europe, Sonderheft des European Review of History 20 (2013) 5; From Dance Bands to Radio and Records: Pop Music Promotion in West Germany and the Decline of the Schlager Genre, 1945-1964, in: Popular Music History 6, 3 (2011), S. 287-306; Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum: Populärmusik und soziale Differenzierung in Westdeutschland, ca. 1950-1985, in: Martin Rempe/Jürgen Osterhammel/SvenOliver Müller (Hg.): Kommunikationschancen. Entstehung und Fragmentierung sozialer Beziehungen durch Musik im 20. Jahrhundert, Göttingen: V&R Uni Press 2014. Poiger, Uta G., Dean of the College of Social Sciences and Humanities und Professorin für Geschichte an der Northeastern University. Arbeitsschwerpunkte: deutsche Geschichte; Geschlechtergeschichte; Kulturgeschichte der Amerikanisierung und Globalisierung. Publikationen: Jazz, Rock, and Rebels: Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley: University of California Press 2000; mit Alys Eve Weinbaum/Lynn M. Thomas/Priti Ramamurthy/Madeleine Yue Dong/Tani E. Barlow (Hg.): The Modern Girl Around the World: Consumption, Modernity, and Globalization, Durham: Duke University Press 2008; Beauty, Cosmetics, and Vernacular Ethnology in Weimar and Nazi Germany, in:
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Thomas Kühne/Hartmut Berghoff (Hg.): Globalizing Beauty: Consumerism and Body Aesthetics in the Twentieth Century, New York: Palgrave 2013, S. 191-212. Seegers, Lu, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH). Arbeitsschwerpunkte: Medien-, Generationen- und Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert. Publikationen: »Vati blieb im Krieg«. Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert – Deutschland und Polen, Göttingen: Wallstein 2013; mit Daniela Münkel (Hg.): Medien und Imagepolitik im 20. Jahrhundert. Deutschland – Europa – USA, Frankfurt a. M./New York: Campus 2008; Prominenz und bürgerlicher Wertewandel in der Bundesrepublik (1965-1980), in: Gunilla Budde/ Eckart Conze/Cornelia Rauh (Hg.): Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010, S. 271-284. Siegfried, Detlef, Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen. Arbeitsschwerpunkte: Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik und Westeuropas nach 1945, Konsumgeschichte, linksradikale Bewegungen im 20. Jahrhundert. Publikationen: Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, 2. Aufl. Göttingen: Wallstein 2008; mit Axel Schildt: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik 1945 bis zur Gegenwart, München: Hanser 2009; Sound der Revolte. Studien zur Kulturrevolution um 1968, Weinheim/München: Juventa 2008. Stahl, Heiner, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Historischen Seminar der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Sound History, Mediengeschichte, Raum/Zeitforschung. Publikationen: Jugendradio im Kalten Ätherkrieg. Berlin als eine Klanglandschaft des Pop (1962-1973), Berlin: Landbeck 2010; Sounding out Erfurt. Does the Song Remain the Same?, in: Carrie Smith-Prei/Gwyneth Cliver (Hg.): Bloom and Bust. Urban Landscapes in the East since German Reunification, New York: Berghahn 2014, S. 151-185; »Ein Sputnik ist heute abgestürzt«. Das Jugendradio DT64 in der Vorwendezeit der DDR, in: Gerhard Paul/Ralph Schock (Hg.): Der Sound des Jahrhunderts. Ein akustisches Porträt des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, Bonn/Berlin: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013, S. 508-511.
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Theweleit, Klaus, Schriftsteller, Rentner. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse der Gewalt, Genderforschung, Poptheorie. Publikationen: Recording Angels’ Mysteries (= Buch der Könige, Bd. 2), Basel: Stroemfeld Roter Stern 1994; mit Rainer Hoeltschl: Jimi Hendrix. Eine Biographie, Berlin: Rowohlt Berlin 2008; (Hg.): How does it feel: Das Bob-DylanLesebuch, Berlin: Rowohlt Berlin 2011. Weber, Heike, Juniorprofessorin für Historische Wissenschafts- und Technikforschung am Interdisziplinären Zentrum für Wissenschafts- und Technikforschung, Bergische Universität Wuppertal. Arbeitsschwerpunkte: Schnittfelder von Technik-, Umwelt- und Konsumgeschichte, Technik im Alltag, Mobilität und Medien, Hausmüll und Recycling. Publikationen: Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielefeld: transcript 2008; mit Dorit Müller (Hg.): Special section: Media and Mobility, in: Transfers 3 (2013) 1, S. 65145; (Hg.): Sonderheft »Entschaffen«: Reste und das Ausrangieren, Zerlegen und Beseitigen des Gemachten, in: Technikgeschichte 81 (2014) 1. Wellmann, Henning, Promotionsstipendiat am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Populäre Musikkulturen, sozialwissenschaftliche Emotionsforschung, Macht und Widerstand in zeithistorischen Kontexten. Publikationen: »Let the fury have the hour, anger can be power«: Praktiken emotionalen Erlebens in den frühen deutschen Punkszenen, in: Bodo Mrozek/Alexa Geisthövel/Jürgen Danyel (Hg.): Popgeschichte, Bd. 2. Zeithistorische Fallstudien 1958-1988. Bielefeld: transcript 2014, S. 291-311; mit Thomas Berthold: Aktive Stadtgestaltung von unten: Ultras und Stadt, in: Forum Stadt 39 (2012), S. 193-204.
Histoire Stefan Brakensiek, Claudia Claridge (Hg.) Fiasko – Scheitern in der Frühen Neuzeit Beiträge zur Kulturgeschichte des Misserfolgs Februar 2015, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2782-4
Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (3., überarbeitete und erweiterte Auflage) Februar 2015, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2366-6
Katharina Gerund, Heike Paul (Hg.) Die amerikanische Reeducation-Politik nach 1945 Interdisziplinäre Perspektiven auf »America’s Germany« Januar 2015, 306 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2632-2
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Histoire Sebastian Klinge 1989 und wir Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall März 2015, ca. 430 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2741-1
Felix Krämer Moral Leaders Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre Dezember 2014, ca. 430 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2645-2
Detlev Mares, Dieter Schott (Hg.) Das Jahr 1913 Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs September 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2787-9
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Histoire Sophie Gerber Küche, Kühlschrank, Kilowatt Zur Geschichte des privaten Energiekonsums in Deutschland, 1945-1990 Dezember 2014, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2867-8
Ulrike Kändler Entdeckung des Urbanen Die Sozialforschungsstelle Dortmund und die soziologische Stadtforschung in Deutschland, 1930 bis 1960 Februar 2015, ca. 420 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2676-6
Sibylle Klemm Eine Amerikanerin in Ostberlin Edith Anderson und der andere deutsch-amerikanische Kulturaustausch Februar 2015, ca. 440 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2677-3
Wolfgang Kruse (Hg.) Andere Modernen Beiträge zu einer Historisierung des Moderne-Begriffs Januar 2015, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2626-1
Livia Loosen Deutsche Frauen in den Südsee-Kolonien des Kaiserreichs Alltag und Beziehungen zur indigenen Bevölkerung, 1884-1919 Oktober 2014, 678 Seiten, kart., zahlr. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2836-4
Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel, Jürgen Danyel (Hg.) Popgeschichte Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958-1988 November 2014, 384 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2529-5
Anne Katherine Kohlrausch Beobachtbare Sprachen Gehörlose in der französischen Spätaufklärung. Eine Wissensgeschichte
Claudia Müller, Patrick Ostermann, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.) Die Shoah in Geschichte und Erinnerung Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland
März 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2847-0
Dezember 2014, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2794-7
Nora Kreuzenbeck Hoffnung auf Freiheit Über die Migration von African Americans nach Haiti, 1850-1865
Peter Stachel, Martina Thomsen (Hg.) Zwischen Exotik und Vertrautem Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten
Februar 2014, 322 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2435-9
November 2014, 296 Seiten, kart., 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2097-9
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Kultur- und Medientheorie bei transcript Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.)
SABOTAGE! Pop als dysfunktionale Internationale
2013, 256 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 E, ISBN 978-3-8376-2210-2 Funktionalität wird sabotiert! Dieses Buch untersucht an sieben populär- und popkulturellen Feldern, wie Sabotage entsteht, wie sie sich medial, technisch, gesellschaftlich, kulturell und politisch auswirkt – und wie sie selbst wiederum unterlaufen wird – durch Gegensabotage. Die Beiträge zeigen: Sabotage und Gegensabotage, Dysfunktionalisierung und Refunktionalisierung sind seit dem Entstehen populärer Kulturen im 19. Jahrhundert und von Popkulturen ab Mitte der 1950er Jahre gleichsam Motor und Narkotikum ihrer Formierungen und Fortschreibungen. Der Band unternimmt eine (Medien-)Geschichtsschreibung des Pop und des Populären anhand dieser Fokussierung, die bislang nicht im Blick der Populärkulturforschungen lag.
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Zeitschrif ten bei transcript Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Thomas Hecken, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur und Kritik (Heft 4, Frühjahr 2014)
2014, 170 Seiten, kart., 16,80 E, ISBN 978-3-8376-2633-9 »POP. Kultur und Kritik« analysiert und kommentiert die wichtigsten Tendenzen der aktuellen Popkultur in den Bereichen von Musik und Mode, Politik und Ökonomie, Internet und Fernsehen, Literatur und Kunst. »POP« liefert feuilletonistische Artikel und Essays mit kritisch pointierten Zeitdiagnosen. »POP« bietet wissenschaftliche Aufsätze, die sich in Überblicksdarstellungen zentralen Themen der zeitgenössischen Popkultur widmen. Die Zeitschrift richtet sich sowohl an Wissenschaftler/-innen und Studierende als auch an Journalisten und alle Leser/-innen mit Interesse an der Pop- und Gegenwartskultur. Im vierten Heft geht es um Europa und Deutschland, die WM in Brasilien, Coverversionen, Camp, RTL, Artcore u.a.
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