Leitmedien: Konzepte - Relevanz - Geschichte, Band 1 [1. Aufl.] 9783839410288

Der Begriff des »Leitmediums« steht aktuell zur Disposition. Gibt es noch Leitmedien? Erregte früher meist der angenomme

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German Pages 352 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Historische und intermediale Entwicklungen von Leitmedien. Journalistische Leitmedien in Konkurrenz zu anderen
Leitmedien durch Präsenz. Anmerkungen zur Mediendynamik
Gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Koorientierung. Die Leitmedien der modernen Gesellschaft
Die Funktion der Koorientierung für den Journalismus
Kino-Öffentlichkeit. Vom Umbruch der Medien zum Umbruch von Medienöffentlichkeiten
Leitpotential kritischer Gegenöffentlichkeiten. Eine kritische Meta-Analyse bisheriger Forschung
Leitmedien als Indikatoren politischer Krisen und Umbrüche. Das Beispiel der Weimarer Republik
Alte und neue Leitmedien aus Publikumssicht
Dahinter steckt meistens ein kluger Kopf. Mehr und dissonantere Leitmedienlektüre infolge der Bildungsexpansion?
Vom universellen zum vernetzten Intellektuellen. Die Transformation einer politischen Figur im Medienwandel von der Buchkultur zum Internet
Das Internet als Leitmedium der Wissensgesellschaft und dessen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wissenskultur
Social media und fotografische Praktiken. Eine Analyse der Auswirkung neuer Kommunikationstechnologien auf Schnappschussgewohnheiten
„And Now Here Is What Really Happened.“ CNN und Warblogs als konkurrierende Deutungsinstanzen im Irakkrieg 2003
Das Mobiltelefon – Leitmedium moderner Arbeitsnomaden?
„Das Volk folgt. Das sagt ja schon der Name.“ Paradoxe Diskurse um die Werbung als Leitmedium im Liberalismus
Autorinnen und Autoren
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Leitmedien: Konzepte - Relevanz - Geschichte, Band 1 [1. Aufl.]
 9783839410288

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Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hrsg.) Leitmedien

Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Peter Gendolla.

Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hrsg.)

Leitmedien Konzepte – Relevanz – Geschichte, Band 1

Medienumbrüche | Band 31

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © 2009 Cappellmeister, www.cappellmeister.com Lektorat & Satz: Daniel Müller, Annemone Ligensa Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1028-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla Vorwort ....................................................................................................................... 9 Daniel Müller/Annemone Ligensa Einleitung ................................................................................................................11 Jürgen Wilke Historische und intermediale Entwicklungen von Leitmedien. Journalistische Leitmedien in Konkurrenz zu anderen ..............................29 Henning Groscurth/Gebhard Rusch/Gregor Schwering Leitmedien durch Präsenz. Anmerkungen zur Mediendynamik .............53 Otfried Jarren/Martina Vogel Gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Koorientierung. Die Leitmedien der modernen Gesellschaft...................................................71 Benjamin Krämer/Thorsten Schroll/Gregor Daschmann Die Funktion der Koorientierung für den Journalismus.............................93 Corinna Müller/Harro Segeberg Kino-Öffentlichkeit. Vom Umbruch der Medien zum Umbruch von Medienöffentlichkeiten ..............................................................................113 Jeffrey Wimmer Leitpotential kritischer Gegenöffentlichkeiten. Eine kritische Meta-Analyse bisheriger Forschung...................................127 Josef Seethaler/Gabriele Melischek Leitmedien als Indikatoren politischer Krisen und Umbrüche. Das Beispiel der Weimarer Republik.............................................................151 Lars Rinsdorf Alte und neue Leitmedien aus Publikumssicht ..........................................171

Dominik Becker Dahinter steckt meistens ein kluger Kopf. Mehr und dissonantere Leitmedienlektüre infolge der Bildungsexpansion?.................................. 199 Thomas Ernst/Dirk von Gehlen Vom universellen zum vernetzten Intellektuellen. Die Transformation einer politischen Figur im Medienwandel von der Buchkultur zum Internet................................ 225 Daniela Pscheida Das Internet als Leitmedium der Wissensgesellschaft und dessen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wissenskultur ............. 247 Asko Lehmuskallio Social media und fotografische Praktiken. Eine Analyse der Auswirkung neuer Kommunikationstechnologien auf Schnappschussgewohnheiten.......................................................................... 267 Johanna Roering/Anne Ulrich „And Now Here Is What Really Happened.“ CNN und Warblogs als konkurrierende Deutungsinstanzen im Irakkrieg 2003...................... 285 Katrin Tobies Das Mobiltelefon – Leitmedium moderner Arbeitsnomaden?............... 311 Holger Gamper „Das Volk folgt. Das sagt ja schon der Name.“ Paradoxe Diskurse um die Werbung als Leitmedium im Liberalismus................................... 331 Autorinnen und Autoren ................................................................................... 347

Inhaltsübersicht Band II Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla Vorbemerkung zum zweiten Band Michael Giesecke Leitmedien und andere Kandidaten für kommunikationswissenschaftliche Prämierungsanalyse Rainer Leschke Form als Leitmedium oder Die Ordnung nach dem Verschwinden der Mediendispositive Helmut Schanze Die Macht des Fernsehens – Leit- und/oder Dominanzmedium? Andreas Ziemann Von ‚evolutionary universals‘ zu ‚Leitmedien‘ – Theoriehintergründe und Begriffsklärung Leander Scholz „why the medium is socially the message“ – Marshall McLuhan und die Theologie des Mediums Thomas Weber Leitmedien in der mediologischen Analyse Stefan Kramer Mediale und kulturelle Leitfunktionen. Zwischen Substanz, Form und Struktur der Kommunikation Jens Ruchatz Vom Nutzen und Nachteil der Leitmedien für die Medienhistoriographie. Am Beispiel der Fotografie Peter Haber Die Leitmedien der Geschichtsschreibung

Jan Hodel Informationsraum in der Wissenschaftskommunikation Peter Brandes Leitmedium Plastik? Zur Konstruktion und Funktion eines Paradigmas im ästhetischen Diskurs um 1800 Christian Kassung Die Störung am Apparat. Vom Telephon zum Handy Klaus Kreimeier Invasion der Einzelhändler. Leitmedien und wie sie zerfallen Britta Neitzel/Rolf F. Nohr/Serjoscha Wiemer Benutzerführung und Technik-Enkulturation. Leitmediale Funktionen von Computerspielen Dominika Szope Social software – ein neues Leitmedium? Dagmar Venohr Warum Mode (k)ein modernes Leitmedium ist … Autorinnen und Autoren

Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla

Vorwort Der vorliegende Band ist aus der Jahrestagung des Forschungskollegs (SFB/ FK) 615 „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen am 15./16. November 2007 hervorgegangen. Wegen des erfreulich großen Rücklaufs auf den Call for Papers wurden außer den Beiträgern, die auf der Konferenz vorgetragen haben und deren entsprechende Texte in den beiden Bänden mit einer Ausnahme vollständig versammelt sind, auch eine Anzahl weiterer Interessenten, die bei der Konferenz aus Zeitgründen im dicht gedrängten Programm leider nicht berücksichtigt werden konnten, um Ausarbeitungen ihrer Abstracts für die vorliegenden Sammelbände gebeten, sowie auch einige weitere Teilprojektleiter des Forschungskollegs selbst. Ziel war es nicht, möglichst viel bedrucktes Papier zu produzieren, sondern möglichst viele relevant scheinende Positionen und Aspekte zum Thema zu versammeln, natürlich ohne irgendwie Vollständigkeit anstreben zu können. Der erste Dank der Herausgeber gilt den Autoren der beiden hier vorgelegten Bände, für ihre anregenden Beiträge, ihre Geduld und die gute Zusammenarbeit im redaktionellen Prozess. Weiter ist nochmals allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kollegs zu danken, die an der Organisation der Jahrestagung und der zwischen die beiden Konferenztage eingeschobenen Podiumsdiskussion im Siegener Apollo-Theater beteiligt waren, insbesondere den Angehörigen des Koordinationsbüros: Anneli Fritsch, Nicola Glaubitz, Christoph Meibom, Georg Rademacher und Nadine Taha. Ebenso gilt unser Dank auch nochmals den engagiert diskutierenden Teilnehmern der Podiumsdiskussion – Prof. Dr. Klaus Kreimeier (der auch mit einem eigenen Beitrag im zweiten Band vertreten ist), Rüdiger Malfeld vom WDR, Magnus Reitschuster (Intendant des Apollo-Theaters), Ralf Schnell (Rektor der Universität Siegen), Klaus Schrotthofer (seinerzeit Chefredakteur der Westfälischen Rundschau) sowie dem Medienjournalisten Fritz Wolf. Bei der Formatierung der Beiträge haben schließlich Alessandro Lombardo und Jessica Strike wertvolle Hilfe geleistet.

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Daniel Müller/Annemone Ligensa

Einleitung 1

Aktualität und Einordnung der „Leitmedien“-Diskussion

„Leitmedium“ ist seit einigen Jahren eine häufig verwendete Bezeichnung, ja ein Modewort. Der Duden – „Leitmedium“ der deutschen Lexikographie? – verzeichnet den Begriff im Universalwörterbuch erst seit 2007 und in genretypisch lapidarer Kürze1, der Brockhaus – „Leitmedium“ der deutschen Enzyklopädistik? – noch in seiner letzten (21.) gedruckten Ausgabe von 2006 gar nicht2. Wer sich mit dem „Leitmedium“ Computer in das „Leitmedium“ Internet (oder besser in das World Wide Web) begibt und dort mit Hilfe des „Leitmediums“ Suchmaschine nach Varianten von „Leitmedium“ und dem abgeleiteten Adjektiv „leitmedial“ sucht, der stößt auf eine Vielzahl von Nennungen, am 27. August 2009 etwa beim Marktführer Google auf „ungefähr 77.200“3. Dabei ist schnell erkennbar, wie heterogen die einer Prämierung als „Leitmedium“ für wert befundenen Phänomene sind. Das liegt offensichtlich erstens darin begründet, dass das Grundwort „Medium“ selbst ausgesprochen vielfältig besetzt ist, und zweitens in den zu klärenden Fragen, was als „leitend“ interpretiert und wie dieses „leiten“ bewertet wird. Als Folge solcher Unbestimmtheit, zugleich diese aber auch verstärkend, erscheint der Begriff auch in den einschlägigen Fachlexika der Kommunikationswissenschaft (als Sozialwissenschaft verstanden) und der Medienwissenschaft (als Kulturwissenschaft verstanden) bis heute – so weit wir sehen4 – nicht mit einem eigenen Eintrag.

1

Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion: „Leitmedium“. Der Eintrag lautet „Leit|me|di|um, das: zentrales, führendes Medium“.

2

Zwahr: Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bänden, hier Bd. 16, S. 580.

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„Leitmedien OR Leitmedium OR Leitmediums OR leitmedial OR leitmediale OR leitmedialem OR leitmedialen OR leitmedialer OR leitmediales“.

4

Siehe zu diesem argumentum e silentio etwa Winkler: Basiswissen Medien; Bentele u.a.: Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft (vgl. auch Bentele u.a.: Öffentliche Kommunikation); Sjurts: Gabler Kompakt-Lexikon Medien; Bentele u.a.: Handbuch Public Relations; Roesler/Stiegler: Grundbegriffe der Medientheorie; Noelle-Neumann u.a.: Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation; Koschnick: Focus-Lexikon Werbeplanung, Mediaplanung, Marktforschung, Kommunikationsforschung, Mediaforschung; Schanze: Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft; Kühner/Sturm: Das Medien-Lexikon; Jarren: Politische

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Daniel Müller/Annemone Ligensa | Einleitung

Auch explizite Auseinandersetzungen mit dem Begriff sind bisher selten; die wichtigsten Ausnahmen sind ein Beitrag von Jürgen Wilke aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht5 sowie ein Definitionsvorschlag von Udo Göttlich aus medienwissenschaftlicher Perspektive6. Auf Letzteren bezieht sich auch die Wikipedia7 (das unangefochtene „Leitmedium“ der elektronischen Nachschlagewerke). Auch das Aufkommen des Begriffs ist nicht ohne Weiteres zu klären. Die Suche im „Karlsruher Virtuellen Katalog“8 – digitales „Leitmedium“ der deutschen Bibliotheksrecherche? – fördert als ältestes Werk mit dem Begriff „Leitmedium“ (bzw. einer Variante) im Titel eine Monographie von 1970 über berufliche Bildung zutage, worin das Fernsehen als Leitmedium bezeichnet, aber für diesen Begriff weder eine Definition angeboten noch auf eine Herleitung aus anderen Werken verwiesen wird.9 Zweitälteste Belegstelle ist hier eine unveröffentlichte Diplomarbeit von 1980, in der ebenso definitions-, kommentar- und verweislos die Karikatur als „Leitmedium im Politikunterricht“ bezeichnet wird.10 Die Herkunft des Begriffs bleibt also klärungsbedürftig. Auffällig ist, dass er keine exakte englischsprachige Entsprechung hat; vergleichbare Begriffe sind dominant medium, medium of influence, Bildungen mit opinion leader = Meinungsführer sowie die auch im Deutschen – Elite-, Prestige-, Qualitätsmedien

Kommunikation in der Mediengesellschaft; Pape: Wörterbuch der Kommunikation; Bohrmann/Ubbens: Zeitungswörterbuch; Kreuzer: Sachwörterbuch des Fernsehens; Silbermann: Handwörterbuch der Massenkommunikation und Medienforschung; Koszyk/Pruys: Handbuch der Massenkommunikation (ältere Ausgaben als dtv-Wörterbuch zur Publizistik); Döhn/Klöckner: Medienlexikon; Dovifat: Handbuch der Publistik; Eisner/Friedrich: Das Fischer Lexikon. 9. Film, Rundfunk, Fernsehen. Heide: Handbuch der Zeitungswissenschaft brach mit der 6. Lieferung und dem Stichwort „Kommunistische Presse“ ab; vgl. aber Bd. I, Sp. 1198 und s.u. zu den „publizistischen Führungsmitteln“. Vgl. auch Traub: Grundbegriffe des Zeitungswesens sowie Dusiska: Wörterbuch der sozialistischen Journalistik; Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig: Wörterbuch der sozialistischen Journalistik. 5

Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“.

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Göttlich: „Massenmedium“.

7

„Leitmedien“. Der Verweis auf Göttlich: „Massenmedium“ ist dabei jedoch wegen unvollständiger bibliographischer Angaben nicht leicht nachzuverfolgen – den Hinweis, dass es sich um eine Publikation des Siegener Vorgänger-SFB 240 „Bildschirmmedien“ handelt, verdanken wir Martina Vogel.

8

„Leitmed$“.

9

Roth: Mobilisierung der Berufsbildung.

10 Weiß: Die Karikatur als Leitmedium im Politikunterricht.

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Daniel Müller/Annemone Ligensa | Einleitung

bzw. -presse – verbreiteten Teilsynonyme mit elite, prestige und quality.11 Eine genauere Untersuchung der Entsprechungen in anderen Sprachen mit umfangreicher kommunikations- und medienwissenschaftlicher Literatur scheint reizvoll. Bemerkenswert erscheint zwar die semantische Nähe zum Wort von den „publizistischen Führungsmitteln“12 im Sprachgebrauch der sich zur „Publizistik“ erweiternden „Zeitungswissenschaft“ im NS-Staat. Es wäre jedoch wohl zu einfach, einen deutschen Sonderweg in Sachen „Leitmedien“-Forschung aus diesen NS-„Führungsmitteln“ abzuleiten, solange die Begriffsgeschichte nicht geklärt ist (vom Anklang an die opinion leaders im Englischen abgesehen); inhaltlich ohnehin. Denn Wilke führt, ganz offensichtlich zu Recht, die Unterscheidung ein zwischen voluntaristischen Leitmedien, wie sie für moderne Diktaturen typisch sind (Staatsrundfunk und -nachrichtenagenturen, im Pressebereich zentrale Parteiorgane wie Völkischer Beobachter, Neues Deutschland oder Pravda) und solchen, die sich in freieren und offeneren Gesellschaften (also z.B. ohne extrem privilegierten Zugang zu Informationen) am Markt behaupten müssen. Salopp ausgedrückt: Konrad Adenauer hätte – ganz abgesehen vom Wunsch nach einem Kanzlerfernsehen – sicher dem Rheinischen Merkur gern eine bedeutendere „leitmediale“ Rolle als dem Spiegel zugemessen, aber das lag trotz Richtlinienkompetenz nicht in seiner Hand, da der Spiegel sich dieser Rolle im (halb-)freien Spiel der Kräfte gewachsener zeigte. Dennoch könnte das Fehlen einer exakten englischsprachigen Entsprechung Anlass für die Frage sein, ob nicht dem Begriff „Leitmedium“ Konnotationen anhaften, die Ausdruck einer spezifisch deutschen Haltung gegenüber „kulturellen Eliten“ (wie dem Bildungsbürgertum) sind. Die beiden zweifellos mehr zufällig ausgewiesenen Bezugnahmen von 1970 und 1980 zeigen jedenfalls schon eine Dichotomie, auf die noch kurz einzugehen sein wird: zwischen der Zuweisung eines Leitmediencharakters im Allgemeinen, schlechthin; und eines Leitmediencharakters im Besonderen, Speziellen, in einem beschränkten Bereich, kenntlich gemacht durch eingrenzende adverbiale Bestimmungen, vorangestellte Adjektive (z.B. „Literarische Leitme11 Donsbach: The International Encyclopedia of Communication. 12 Traub-von Grolman: Die Verflechtung der publizistischen Führungsmittel „Zeitung“ und „Film“ und ihre soziologischen Wechselwirkungen; Artelt: Die deutschen medizinischen Zeitschriften der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts als publizistische Führungsmittel zu einer neuen Heilkunde; Zeitungswissenschaftliche Vereinigung: Repetitorium der Zeitungswissenschaft; Eckert: Der Rundfunk als Führungsmittel; Walter: Die Werbung für den deutschen Film durch den Einsatz publizistischer Führungsmittel; List: Die Tageszeitung als publizistisches Führungsmittel; Menz: Die Zeitschrift als Führungsmittel; Günther: Der Film als politisches Führungsmittel; Lüddecke: Nationalsozialistische Menschenführung in den Betrieben; ders.: Die Tageszeitung als Mittel der Staatsführung.

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Daniel Müller/Annemone Ligensa | Einleitung

dien“13) oder nachgestellte Genitive (z.B. „Leitmedium des Geschichtsunterrichts“14). Es geht also – am eher kommunikationswissenschaftlich besetzten Begriff „Öffentlichkeit“ verdeutlicht – einerseits um „Leitmedien“ in der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit, andererseits um „Leitmedien“ in bestimmten Teilöffentlichkeiten bzw. Publikumssegmenten, Sparten, Regionen. In diesem letzteren Sinne zeigt sich der Begriff zunächst einmal nicht als modern, sondern vielmehr als bloß modisch. Wenn wirtschaftlich am Erfolg von Special-Interest-Organen (oft sogar Very-Special-Interest-Organen) Interessierte ihre jeweilige Veröffentlichung als „Leitmedium“ der betreffenden community anpreisen, so ist das nicht viel mehr als die in der Hoffnung auf Werbewirksamkeit aufgestellte Behauptung von Marktführerschaft in einem eng umgrenzten Bereich. Interessegeleitet ist zweifellos auch die Selbstzuschreibung von Leitmedialität aus Medienbetrieben bzw. ihrem Umfeld in Bezug auf die erste, allgemeinere Frage nach dem – heutigen – (gesamt)gesellschaftlichen Leitmedium (übrigens zweifellos auch manche Zuschreibung aus Kommunikations- und Medienwissenschaft, so wie auch umgekehrt manche Kritik am Begriff des Leitmediums – so berechtigt solche Kritik in vielen Fällen auch ist – interessegeleitet ist). Hier soll dieser erste, allgemeinere Anspruch interessieren, um eine weitere, sehr wichtige Dichotomie aufzuzeigen. Fragt man, welchen Medien heute vergangen- oder gegenwartsbezogen der Charakter von Leitmedien zugeschrieben wird, so zeigen sich sofort zwei gegensätzliche Forschungstraditionen, die eine kulturwissenschaftlich orientiert (Medienwissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie etc.), die andere sozialwissenschaftlich (Kommunikationswissenschaft, Publizistik, Journalistik mit Anknüpfung an Politikwissenschaft, Soziologie etc.). Die kulturwissenschaftliche Tradition, den Begriff des „Leitmediums“ zu gebrauchen, fokussiert weniger auf Einzelgegenstände (z.B. bestimmte Presseorgane) oder dahinterstehende Akteure (Meinungsführer) als vielmehr auf die durch das Aufkommen – nicht schon die Erfindung/Entdeckung, sondern erst die gesellschaftliche Durchsetzung – neuer Techniken entstehenden Mediensysteme und -ökologien, in denen Hierarchien15 und damit auch „dominante“

13 Klussmann/Mix: Literarische Leitmedien. 14 Rüsen: „Das ideale Schulbuch“. 15 Gegen solche Hierarchien und ihr Umbrechen spricht in keiner Weise „Riepls Gesetz“, wonach eingeführte Medien nicht verschwinden. Gegenstand der Riepl’schen Betrachtungen sind Rauchzeichen, deren medienökologischer Relevanzverlust in den letzten zwei Jahrtausenden offensichtlich sein dürfte. Vgl. Riepl: Das Nachrich-

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Medien ausgemacht werden, etwa das Buch, dann die Zeitung bzw. die periodische Presse überhaupt, z.T. Film und Hörfunk, dann wieder einhellig das Fernsehen und schließlich das Internet (alternativ der Computer oder auch Multimedia). In diesem Sinne konzentriert sich die Verwendung des „Leitmedien“-Begriffs in der Medienwissenschaft auf die Variante „Dominanzmedium“. Verwerfungen in der etablierten Medienhierarchie, also Übergänge von der einen Dominanz zur anderen (oder gar das Verschwinden von Dominanz als solcher), lassen sich als Medienumbrüche deuten, weswegen sich das Thema im Kontext des Forschungskollegs „Medienumbrüche“ als sehr fruchtbar erwies. In der sozialwissenschaftlichen Tradition wird diese medienökologische Betrachtungsweise eher am Rande vermerkt; Schwerpunkt ist hier die Fokussierung auf Einzelphänomene (bestimmte Medien oder -organe) als meinungsbildende oder -führende Instanzen. Seine Aktualität gewinnt der Begriff derzeit aus dem Umbruch in Medienangebot und -nutzung, den die Digitalisierung und speziell das World Wide Web ausmachen. Im Bereich des Feldes „Dominanzmedium“ lässt sich dies deuten als ein Verschwinden der Leitmedien bzw. ein Aufgehen in umfassenden – multimedialen – Meta-Medien, aber auch als unmittelbare Ablösung des bisher dominanten Fernsehens durch das nunmehr dominierende Internet (bzw. allgemeiner: den Computer, oder spezieller: das World Wide Web). Es ist vor allem diese letztere Interpretation, die erhebliche Forschungs- und Kommunikationsanstrengungen auslöst, indem die „Platzhirsche“ der bisher meist behaupteten Dominanz – also Vertreter von Presse, Hörfunk und Fernsehen – den eigenen Relevanzverlust vehement bestreiten, wobei sich echte Überzeugungen und „strategische Kommunikation“ schwer trennen lassen. Es ist bezeichnend, dass diese Instanzen plötzlich Schützenhilfe selbst von denjenigen erhalten, die sonst Monopolisierungstendenzen von Meinungsbildung scharf kritisieren. Das Internet löst anscheinend Ängste nicht nur (wie seinerzeit das Privatfernsehen in Deutschland) vor Trivialisierung und Kommerzialisierung des Medienangebots aus, sondern auch vor Verlust an durch gemeinsamen Mediengebrauch hergestellter oder gewahrter gesellschaftlicher Kohäsion. Im Bereich des Feldes „Meinungsführermedium“ ist es weniger die Diskussion (Behauptung/Zurückweisung) dramatischen Wandels, die ins Auge springt, sondern vielmehr das Konstatieren von Kontinuität, wenn man den „Kanon“ der als Leitmedien untersuchten Organe in vielen Beiträgen betrachtet. Hier überwiegen Titel, die auch in einer analogen Darstellung mit Bezug auf die Bonner Republik ganz ähnlich auftauchen könnten. Interessanterweise tenwesen des Altertums, S. 5. Auch haben sich seither auch „echte“ Substitutionen ergeben.

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dominiert in diesen Beiträgen nicht etwa das Fernsehen (mit Formaten wie der Tagesschau), dessen Leitmedialität Ausgangspunkt vieler Überlegungen ist, sondern die Tages- und Wochenpresse. Dominanzmedium (vom Fernsehen zum Internet?) und Meinungsführermedien (weit überwiegend aus dem Pressebereich) sind hier also nicht kongruent; nicht erst das Aufkommen des Internet, sondern schon der Siegeszug des Fernsehens erscheint für diesen kommunikationswissenschaftlichen Fokus eher folgenarm. Diese Kontinuität ergibt sich daraus, dass weniger Medien und Medialität per se als vielmehr die gesellschaftlichen Akteure, die Medien produzieren und nutzen, Ansatzpunkt der Überlegungen sind. Diese weit zurückreichende Kontinuität könnte durch den derzeitigen Technikwandel durchaus eine Verstärkung erfahren; dadurch dass die – zunächst also meist als Presseerzeugnisse – beschriebenen „Leitmedien“ der Sozialwissenschaftler nicht länger auf den technischen Kanal des bedruckten Papiers – der dead wood edition oder wood pulp edition, wie es im Englischen despektierlich heißt – angewiesen sind, sondern die übergreifenden Medienmarken Spiegel oder FAZ in einem Comeback der Schrift auch online erfolgreich sein können, indem sola scriptura nicht mehr das Bekenntnis zur Zellulose bedeutet. Fragen nach Medienkonvergenz und -konsonanz sind insofern immer mitgestellt, wenn es heute um Leitmedien geht. In Abwandlung der bekannten „Lasswell-Formel“ ließe sich die zentrale Frage der Leitmedien-Forschung folgendermaßen formulieren: „Wer/was leitet wen, womit, wie und wohin?“, wobei sich einzelne Forscher jeweils auf unterschiedliche Teilaspekte konzentrieren. Die Antworten sind keineswegs bereits eindeutig gegeben, da die derzeitigen Entwicklungen wegen ihrer erhöhten Geschwindigkeit und der zunehmend globalen Vernetzung, die die Komplexität erheblich vergrößert, schwer einzuschätzen sind. Solche Fragestellungen deuten an, dass es aus Sicht der Herausgeber bedauerlich gewesen wäre, kommunikationswissenschaftliche und medien(kultur)wissenschaftliche Sichtweisen streng zu trennen. Das Phänomen der „Leitmedialität“ umfasst typische Aspekte aus beiden Bereichen. So war die Siegener Konferenz von vornherein darauf angelegt, beide „Seiten“ ins Gespräch zu bringen, und erfreulicherweise ist auch ein stärkeres Eingehen aufeinander zu konstatieren als in vielen anderen Forschungsfeldern mit gemeinsamer Schnittmenge üblich. Die Aufteilung auf zwei Bände ist zunächst einmal publikationstechnischen Gründen geschuldet (ein einzelner Band hätte mit deutlich mehr als 600 Seiten ein denkbar unhandliches Format erhalten). Aus pragmatischen Gründen hat sich die Aufteilung ergeben, dass die ganz oder eher kommunikationswissenschaftlich orientierten Beiträge im ersten, die ganz oder eher medienkulturwissenschaftlich konzipierten im zweiten Band vereint wurden. Eine über-

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Daniel Müller/Annemone Ligensa | Einleitung

greifende Synthese war ohnehin nicht angestrebt (dafür sind die institutionellen Klüfte, aber auch die Komplexität des Themas zu groß). Es ging darum, die verschiedenen Zugangsweisen – einschließlich grundsätzlicher Kritik am Begriff und/oder Konzept „Leitmedium“ – produktiv aufeinander zu beziehen. Es wäre daher sehr bedauerlich, wenn die „Fächerkulturen“ nur jeweils den „eigenen“ Band rezipieren würden, denn es haben sich, wie auch auf der Tagung selbst, neben scharfen Widersprüchen auch viele Berührungspunkte ergeben, die von mehreren Beiträgern beider Bereiche explizit reflektiert werden.

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Übersicht über die Beiträge in beiden Bänden

Jürgen Wilke aktualisiert in seinem Beitrag seine grundlegenden Überlegungen von 1998. Dabei geht es nach einer Begriffsexplikation zunächst systematisch um (mögliche) Kriterien und Merkmale von Leitmedien, nämlich: ihre Verbreitung/Reichweite – einerseits beim allgemeinen Publikum, andererseits bei Eliten/Entscheidungsträgern; die Stärke der (subjektiven) Bindung des Publikums; die Nutzung durch Journalisten; Expertenurteile; publizistische Leitfunktion im Sinne von Inter-Media Agenda-Setting; Zitierhäufigkeit. Die letzten drei Punkte verweisen stark auf den Aspekt der Koorientierung (s.u.). Insbesondere wird der Unterschied zwischen voluntaristischen (u.a. am Beispiel des NS-Regimes) und nicht voluntaristischen – durch Koorientierung herausgebildeten – Leitmedien hervorgehoben, ebenso der zwischen gesamtgesellschaftlichen und anderen Leitmedien. Abschließend wechselt Wilke zur diachronischen Perspektive, wie sie eher für die Medienwissenschaft typisch ist, und ermöglicht damit neue Konturierungen historischen Medienwandels. Henning Groscurth, Gebhard Rusch und Gregor Schwering setzen sich in ihrem Beitrag explizit mit Wilkes Beitrag von 1998 auseinander, indem sie die von Wilke auf Binnendifferenzierungen innerhalb der Presse angewandten Kriterien auf Medienkonstellationen übertragen bzw. weiterentwickeln. Am Beispiel der „Webcam“-Kolumne in den „Berliner Seiten“ der FAZ beschreiben die Autoren (Form-)Präsenz – hier die Adaptation eines Web-Formates durch ein Printmedium – als einen möglichen Indikator (unter mehreren) für eine leitmediale Mediendynamik. In der Betonung der Form ergeben sich Anknüpfungen zum Beitrag von Rainer Leschke im zweiten Band. Die bei Wilke angesprochene Koorientierung – als Ausrichtung journalistischen Handelns am Verhalten von Journalisten anderer Medien, wodurch sich Medien in Leitmedien einerseits und in abhängige oder „Gefolgschaftsmedien“ andererseits differenzieren lassen lassen – stellen Otfried Jarren und Martina Vogel ins Zentrum ihrer Überlegungen. Grundlegend wird der Aufbau

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der verschiedenen Öffentlichkeitsebenen von der Encounter-Ebene hin zur Medienöffentlichkeit erörtert. Als spezifische Funktion von Leitmedien wird ihre besondere Rolle für die gesellschaftliche Selbstbeobachtung herausgearbeitet. Auch hier gibt es eine kurze diachronische Betrachtung. Die Funktionen der Koorientierung werden im Beitrag von Benjamin Krämer, Thorsten Schroll und Gregor Daschmann weiter vertieft. Erörtert werden dabei die Reduktion von Komplexität und Kosten sowie die Rolle der Koorientierung für die Legitimierung journalistischen Handelns, aber auch für strategische Positionierung. Leitmedialität ist danach an die Erfüllung dieser Funktionen geknüpft. Corinna Müller und Harro Segeberg stellen ihr Konzept der „Kinoöffentlichkeit“ (als Beispiel der „Kulturöffentlichkeit“) vor, mit dem sie exemplarisch Medienumbrüche nicht als Auf- oder Abstieg einzelner Leitmedien, sondern komplexer als Verschiebungen innerhalb eines Systems deuten, in dem Öffentlichkeit über mehrere Ebenen gestuft erscheint. Die Autoren weisen damit zugleich aus filmwissenschaftlicher Perspektive in ihrem Eingehen auf den kommunikationswissenschaftlich geprägten Begriff der Öffentlichkeit darauf hin, dass die bei der Mediennutzung wichtige Funktion der Unterhaltung (im Unterschied zu Information) in der Debatte um Leitmedialität bisher zu wenig beachtet wurde. Jeffrey Wimmer fragt – gut beziehbar auf die auf Koorientierung konzentrierten Beiträge – nach möglichen Leitfunktionen von Medien der Gegenöffentlichkeit (Alternativmedien), wobei er anhand einer systematischen Matrix die Ergebnisse einer umfangreichen Literatursynopse auswertet. Im Ergebnis konstatiert er eine Ergänzungsfunktion der Gegenöffentlichkeit, wobei die komplexe Interaktion mit den gesellschaftlichen Leitmedien auf allen Ebenen noch unzureichend erforscht scheint. Leitmedien der Weimarer Republik werden von Josef Seethaler und Gabriele Melischek untersucht, womit sie unmittelbar an frühere Untersuchungen anknüpfen.16 Im Rückgriff auf den soziometrischen Ansatz von Jakob Levy Moreno wird hier die von Wilke angeführte Zitierhäufigkeit innerhalb des Kreises der führenden Berliner Zeitungen untersucht. Zitierhäufigkeit als ein Ausdruck von Koorientierung, jedenfalls aber von gegenseitiger Wahrnehnumg, zeigt dabei in der Krise von 1932 interessanterweise einen dramatischen Rückgang. Lars Rinsdorf richtet seinen Fokus auf das bisher zu sehr vernachlässigte Thema der Rezeption und Nutzung. Über die Nutzungsdauer und die Zuwendung zu Medienmarken – über Distributionswege hinweg – folgt eine Darstel16 Melischek/Seethaler: „Zur soziometrischen Bestimmung von Leitmedien am Beispiel der Berliner Tageszeitungen 1928-1932“.

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lung der Zuwendungsmotive zu Medien und schließlich die Frage nach der Zuschreibung von Glaubwürdigkeit. Dominik Becker untersucht anhand von Daten der Media Analyse von 1985 und 2005 (nur alte Bundesländer) ob es richtig ist, dass die Bildungsexpansion mit einer zunehmenden Lektüre von Qualitätszeitungen – in Anlehnung an Wilkes Definition von „Leitmedien“ – zusammenhängt und ob weiterhin mit der Bildungsexpansion die Leitmedienlektüre im politischen Spektrum (in einer begründeten Dichotomie links/rechts) eher konsonanter oder dissonanter wird. Im Ergebnis bestätigt sich der Einfluss der Bildungsexpansion im erwarteten Sinne; dagegen zeigt sich zwar eine signifikante Zunahme von konsonanter Mediennutzung – „rechte“ Leser nutzen also verstärkt „rechte“, „linke“ verstärkt „linke“ Zeitungen –, Becker schränkt den Befund jedoch dahingehend ein, dass es sich auch um einen Alters- (statt Kohorten-)Effekt handeln könnte. Thomas Ernst und Dirk von Gehlen thematisieren den gesellschaftlichpolitischen Einfluss der Intellektuellen im Medienwandel. Idealytpisch gegenübergestellt werden hüben die Autoren der literarischen Buchkultur mit ihrem Anspruch, als autonome Subjekte in gesellschaftliche Debatten einzugreifen und Gehör zu finden, und drüben die im Internet vernetzten Intellektuellen, die sich vielfach als Kollektive begreifen oder inszenieren, zugleich aber in der Regel keinen umfassend-integrierenden Anspruch mehr haben. Dem Bedeutungsverlust der literarischen Buchkultur des Bildungsbürgertums im Medienwandel entspricht damit auch Nachlassen des Einflusses von Autoren wie Günter Grass, Peter Handke, Elfriede Jelinek oder Martin Walser, während die vernetzten Intellektuellen – hier werden Anknüpfungen zu Wimmer aufgezeigt – sich als Teil von Gegenöffentlichkeit(en) begreifen lassen. Daniela Pscheida beschäftigt sich mit dem Internet als Leitmedium der Wissensgesellschaft, weil es als zentrales Medium der Wissensspeicherung fungiert, wozu schließlich die partizipatorischen Formen des Web 2.0 eine neue Komplexitätsstufe hinzufügen. Hier benennt sie weitreichende Folgen auch für die Natur des gespeicherten Wissens, das sich z.B. vom Modus objektiver Wahrheit weg und hin zum Modus des Konsenses entwickelt. Spezifischen Beispielen neuer Digitaltechniken wenden sich Asko Lehmuskallio, Johanna Roering/Anne Ulrich und Katrin Tobies zu. Lehmuskallio untersucht den Einfluss von Social Media („Web 2.0“) auf fotografische Praktiken wie „Schnappschussgewohnheiten“. Roering und Ulrich vergleichen zwei Deutungsinstanzen des Irak-Kriegs von 2003: die eingeführte Marke CNN, die den Irak-Krieg 1991 dominiert hatte, und die konkurrierenden Blogger, hier konkret „Milblogs“ und „Warblogs“. Tobies untersucht die Rolle des Mobiltelefons im Arbeitsalltag von Managern.

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In seinem den ersten Band abschließenden Beitrag untersucht Holger Gamper die Diskurse um das „Leitmedium“ Werbung, vor allem die an Verschwörungstheorien grenzenden und mit dem Ergebnissen der Wirkungsforschung schwer zu vereinbarenden Annahmen der Werbekritik. Beiträge wie der von Gamper (und z.B. auch der von Dagmar Venohr am Ende des zweiten Bandes), die den Begriff des „(Leit-)Mediums“ weit fassen, zeigen auf, dass damit angesprochene Funktionen und Prozesse medienübergreifend sind, d.h. es nicht nur darum geht, welche Medien die größte Relevanz haben, sondern grundsätzlicher, ob und wie Medien überhaupt zur sozio-kulturellen Orientierung beitragen. Michael Gieseckes Arbeiten sind in der Kulturwissenschaft ein ähnlich häufiger Referenzpunkt wie Wilkes in der Sozialwissenschaft. In seinem den zweiten Band eröffnenden Beitrag erläutert Giesecke sein triadisches Medienmodell, um in der Leitmedien-Debatte zwischen den Polen „Medienabsolutismus als Proklamation eines einzigen Leitmediums“ und „Medienökologie im Sinne grenzenloser Pluralität“ einen Mittelweg anzustreben. Rainer Leschke stellt im Gegensatz dazu aus dem von ihm entwickelten medienmorphologischen Ansatz heraus die provokante These auf, dass es gar keine Leitmedien mehr gibt, weil Mediendispositive bzw. insbesondere ihre spezifischen Formen im Prozess der digitalen Konvergenz verschwinden. Damit verlören die bisherigen Medien ihre Prägekraft, ohne dass eine neue entstünde. Andreas Ziemann macht systemtheoretische Ansätze für die Debattefruchtbar. Er interpretiert Leitmedien als evolutionäre Entwicklungen von Mediensystemen, die ihren Status dadurch gewinnen, dass sie im Vergleich zu anderen bessere Problemlösungs- und Anpassungskapazität bieten bei gleichzeitiger interner Komplexitätssteigerung und externer Komplexitätsreduzierung. Diese Entwicklungen sind jedoch nicht zwingend (d.h. immer von Kontingenzen mitbestimmt). Helmut Schanze differenziert hauptsächlich am Beispiel des Fernsehens die Begriffe Leitmedium und Dominanzmedium. Er stellt zurecht heraus, dass es ein zentrales Anliegen der kulturwissenschaftlichen Medientheorie sei, die Eigengesetzlichkeit der Medialität herauszuarbeiten, d.h. dass gesellschaftliche Instanzen nicht nur mit Medien (als Kommunikations-Werkzeuge) arbeiten, sondern dass die spezifischen Charakteristika eines Mediums selbst „mitarbeiten“ (z.B. Printmedien andere Öffentlichkeiten schaffen als audio-visuelle). Dominanzmedien bezeichnet Schanze als „Agenten des Wandels“ (nach Elizabeth Eisensteins Arbeit zur Druckerpresse), wie sie derzeit die digitalen Medien darstellen, „Leitmedium“ – im Sinne einer führenden Rolle bei der Konstitution von Öffentlichkeit – sei aber nach wie vor noch das Fernsehen.

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Leander Scholz widmet sich einem der Gründungsväter der kulturwissenschaftlichen Idee, dass die historisch jeweils dominanten Medien eine umfassende Prägekraft haben: Marshall McLuhan (der wiederum Ideen von Harold Innes adaptiert hat – insofern lagen bereits hier kultur- und sozialwissenschaftliche Ansätze enger beieinander als es inzwischen oft den Anschein hat). Scholz interpretiert das Licht als Urmedium einer historischen Reihe (im Gegensatz etwa zu Michael Giesecke dezidiert teleologisch konzipiert) und arbeitet dessen theologische Konnotationen provokant heraus. Wem das vielleicht nach reiner Metaphorik klingt, der sei daran erinnert, dass religiöse Fanatiker bis heute sowohl zu den heftigsten Mediengegnern als auch den gefährlichsten Medienverwendern gehören.17 Thomas Weber diskutiert ein Beispiel gegenseitiger Formatierung zwischen WWW und Fernsehen (genauer: Videoportale und Pannenshows), das er, angeregt von Régis Debrays „Mediologie“, bis hinein in die konkrete formale Analyse verfolgt; hier ergibt sich ein interessanter Gegensatz zum Beitrag von Leschke. Die Differenz scheint auf der Frage zu basieren, welche Bedeutung man solchen Phänomenen insgesamt zuschreibt. Stefan Kramer untersucht, eingangs am Beispiel von Computerspielen, die Zuschreibung von Medialität (und zumal Leitmedialität) – an die Software, also die Spieleprogramme, oder die Hardware, also Computer bzw. Spielekonsolen – und fordert anhand eines solchen Nachdenkens über den Medienbegriff ein Ablösen der Debatte von solchen Stellvertreterkonflikten. Jens Ruchatz behauptet zunächst provokativ: „Es gibt keine Leitmedien“. Er geht kritisch auf den Gebrauch der „Leitmediums“-Prämierungssucht ein, stellt dann jedoch auch fest, dass Phänomene der Hierarchisierung – ob nun explizit von „Leitmedien“ die Rede ist oder nicht – eine erhebliche Bedeutung für die Ausrichtung der Medienwissenschaft gewonnen haben. So habe die fehlende Einordnung der Fotografie in den diachronischen Kanon der Leitmedien sogar zu ihrer Vernachlässigung in der Medienwissenschaft geführt. Ruchatz mahnt als „Mindestanforderung“ an, dass das Leitmedien-Konzept problematisiert und die Folgen des Begriffsgebrauchs bzw. der Kanonisierung diskutiert werden müssen. Auch die Historiker Peter Haber und Jan Hodel widmen sich anhand der aktuellen Entwicklungen im Bereich Online-Publikationen den Konsequenzen von Leitmedialität für die Wissenschaft – hinsichtlich der eigenen Mediennut-

17 Auch Jonathan Miller, in seinem höchst amüsanten und polemischen Essay zu McLuhan, diagnostiziert einen quasi-religiösen Missionarseifer, sieht jedoch das Wort als sein ‚Urmedium‘. Bekanntlich war in der Bibel „im Anfang“(Joh. 1,1) das Wort, aber Gottes erste Worte waren „Es werde Licht!“, so dass der Frage nach der Priorität eine gewisse Paradoxie innewohnt.

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zung. Haber konstatiert zunächst nach einem Überblick, dass das (gedruckte) Buch bisher seine leitmediale Rolle in der Geschichtswissenschaft behalten hat. Anders sieht es im Bereich der Fachzeitschriften und zumal im Rezensionswesen aus; hier stellt Haber einen erheblichen Umbruch dar, der noch nicht abgeschlossen ist. Hodel geht detailliert auf die Veränderungen ein, die der Informationsraum (bzw. die Informationsräume) innerhalb der wissenschaftlichen community durch den digitalen Umbruch und namentlich das Web 2.0 erfährt. Dabei wird die Frage gestellt, freilich bewusst nicht abschließend beantwortet, inwieweit der Informationsraum selbst als Leitmedium gesehen werden kann. Peter Brandes beschäftigt sich mit dem Stellenwert der Skulpur im ästhetischen Diskurs um 1800. Von besonderem theoretischem Interesse ist die Unterscheidung eines zeitgenössischen de-facto-Leitmediums (Literatur) und einem fiktiven Leitmedium (Plastik) im ästhetischen Diskurs. Diese Überlegungen zu virtuellen, normativen „Medientransgressionen“ lassen sich für andere Medien und Epochen, inklusive der aktuellen Situation, interessant weiterdenken. Christian Kassung plädiert am Beispiel der Telefonie für die Bedeutung detaillierter Technikgeschichtsschreibung. Er stellt fest, dass Medien keine fixen Entitäten sind, sondern sich fast ständig im Fluß befinden. Technische Innovationen seien maßgeblich davon motiviert, Störungen in den Griff zu bekommen, die aller Kommunikation inhärent sind. Leitmedien ließen sich demnach „als solche Kulturtechniken verstehen, die einen virtuosen Umgang mit Kommunikationsstörungen erlauben“ (was sich etwa an Ziemanns Überlegungen allgemeinerer Art anschließen lässt). Klaus Kreimeier analysiert die technisch-institutionellen Bedingungen, das Selbstverständnis und die Rezeption von ausgewählten Filmemachern in verschiedenen Perioden, die durch Interaktion mit anderen Medien geprägt waren, zunächst dem Fernsehen, nun digitalen Produktions- und Distributionstechnologien. Obwohl Göttlich (in seinem oben genannten Beitrag) in seiner historischen Leitmedien-Reihe das Kino gar nicht erwähnt, könnte man sich – sogar trotz dieser einschneidenden technologischen und institutionellen Veränderungen – fragen, ob nicht eine spezifische „kinematographische Imagination“ nach wie vor eine große kulturelle Prägekraft hat. Britta Neitzel, Rolf F. Nohr und Serjoscha Wiemer nehmen das Computerspiel in den Blick, weil es mit seinen Formen, Regeln und vor allem auch durch seine Interaktivität in vielfältiger Hinsicht auf andere Medien ausstrahlt; das Spielerische, so ihre These, durchdringt die gesamte digitale Welt. Insbesondere für die oft unterschätzte Rolle der Nutzer als treibende Kraft (deren stärkere Berücksichtigung z.B. Andreas Ziemann anmahnt) sind wiederum aktuelle Entwicklungen der Social Software, wie sie Dominika Szope in ihrem Beitrag exemplarisch analysiert, ein prägnantes Beispiel. Die neuen Möglichkeiten der Selbstdarstellungs- und Kommunikationsformen virtualisie-

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ren nicht nur außermediale Formen der sozialen Interaktion, sondern ermöglichen auch neue Formen, die in dem Maße erfolgreich sind, wie sie den jeweiligen psycho-sozialen Befindlichkeiten ihrer Nutzer entsprechen und daher für sie „Leitbilder“ werden können, wenn auch postmodern fragmentierte und ironische. Dagmar Venohr schließlich befasst sich mit der Mode, die zwar – wie sie feststellt – selbst kein Medium und daher auch kein Leitmedium ist, aber in ihrem Transport durch Medien, als Transmedium, durchaus leitmedial wirken kann, gerade auch durch ihre Vorgabe von kulturellen Mustern. Bereits dieser kurze Überblick, der nur eine sehr begrenzte Auswahl von Aspekten präsentiert hat, wird deutlich gemacht haben, dass die Debatte gerade erst eröffnet ist, so dass die Hoffnung besteht, dass die Publikation weitere Forschung anregen wird. Abschließend seien daher einige Beispiele von Desideraten aus Herausgebersicht genannt. Ein unterbelichtetes Kriterium scheint z.T. – über Geld spricht man nicht? – der finanzielle Aspekt zu sein, der Relevanz zuschreibt. Die Bruttoumsätze und die Gewinne der einzelnen Medien sind als Anhaltspunkt auch und gerade für diachronische Betrachtungen (Relevanzverschiebungen zwischen den Medien) zweifellos nicht unbeachtlich, tatsächlich hat das Gerangel um „Leitmedien“-Prämierung ja viel damit zu tun, ob auch weiter die entsprechenden Mittel fließen. Auch hier ist der Siegeszug des World Wide Web bisher ein Paradigmenwechsel (oder nur eine Verstärkung eines älteren Trends?) weg von der direkten Finanzierung durch die Nutzer, die Bezahlinhalte bisher relativ konsequent meiden, hin zur immer größeren Dominanz der Werbefinanzierung.18 Zu einem Mediendispositiv gehören immer auch soziale Akteure, d.h. die „Profilbildung“ eines Mediums – und damit sein Leitpotential – ist nicht nur eine Frage seiner Technologie und ästhetischen Formen, sondern abhängig von den jeweiligen Bedürfnissen von Produzenten und Nutzern. Insofern wäre eine Beiligung weiterer Disziplinen sicherlich lohnend (z.B. Wirtschaftswissenschaften, Pädgogik, Psychologie). Ferner wäre es nützlich, Eigenschaften von Medien auch mit dem (quantitativen) Methodenarsenal der Sozialwissenschaften zu analysieren. Verständlicherweise liegt der Schwerpunkt des Interesses auf gegenwärtigen Entwicklungen, so auch in diesen Bänden. Historische Arbeiten können jedoch den Blick schärfen für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Faktoren im Allgemeinen, so dass weitere sehr wünschenswert erscheinen.

18 Zu aktuellen Zahlen und einigen Überlegungen zum Nutzerverhalten, insbesondere illegalem, dessen Konsequenzen noch nicht abzusehen sind, siehe z.B. Taylor u.a.: „Intention to Engage in Digital Piracy“.

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Jürgen Wilke

Historische und intermediale Entwicklungen von Leitmedien. Journalistische Leitmedien in Konkurrenz zu anderen Vorbemerkungen Der Begriff „Leitmedien“ ist zu einem Modebegriff geworden. Dies gilt nicht nur für die mit dergleichen Gegenständen beschäftigten Wissenschaften. Auch in Journalismus und Medienpraxis selbst bedient man sich seiner inzwischen gern, nicht zuletzt als Werbeslogan. Die Inanspruchnahme des Begriffs ist meist auch Indiz für eine gewisse „Nobilitierung“ des betreffenden Mediums, sei es im öffentlichen Ansehen, sei es als Untersuchungsobjekt. Dabei wird oft gar nicht der Versuch gemacht, diese Charakterisierung auch empirisch irgendwie einzulösen. Wenn jedoch alles Mögliche zum Leitmedium erklärt werden kann, dann verliert der Begriff seinen Bedeutungs- und Unterscheidungsgehalt. Er wird völlig unscharf. In der Rede von den „Leitmedien“ schlägt sich die Annahme nieder, dass nicht alle Medien zu jeder Zeit gesellschaftlich von gleicher Bedeutung sind. Irgendwie verfestigt sich darin der Eindruck, dass es eine Hierarchie der Medien gibt, bedingt durch welche Ursachen und Faktoren auch immer. Demzufolge gibt es Medien, die aus der (Viel-)Zahl ähnlicher Produkte herausragen. Sie stehen gewissermaßen „oben“ in einer Rangfolge und erbringen Leistungen, an denen sich die Gesellschaft (und auch andere Medien, die so genannten „Folgemedien“) bevorzugt orientieren. Der Begriff hat insofern einen normativen Beiklang. Systemtheoretisch kann der Begriff als Mechanismus zur Reduktion von Komplexität begriffen werden. Gerade in der schwer überschaubaren Medienlandschaft der modernen Massendemokratien erweist sich ein solcher Reduktionsmechanismus als funktional, und zwar sowohl hinsichtlich der Wahrnehmung als auch als Steuerungsfaktor in intermedialen Prozessen. Um der Unschärfe des Begriffs zu begegnen, möchte ich zunächst seine potentiellen Dimensionen explizieren und die Kriterien bzw. Merkmale systematisieren, nach denen Leitmedien bestimmt werden (können). Dabei schließe ich an schon früher von mir dazu gemachte Vorschläge an.1 Zum zweiten möchte ich auf Randbedingungen und Differenzierungen zur Bestimmung von 1

Vgl. Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“.

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Leitmedien eingehen. Und drittens will ich – notwendigerweise skizzenhaft – in diachronischer Perspektive den Wandel von Leitmedien verfolgen und die historische Anwendbarkeit des Begriffs zu prüfen suchen.

1

Begriffsexplikation

Wer den Begriff „Leitmedium“ hierzulande zuerst in den Sprachgebrauch eingeführt hat, ist unklar. Lexikalische Einträge gibt es dazu bisher – so weit ich sehe – nicht. Mehr oder weniger synonym sind noch andere Begriffe im Gebrauch (gewesen). Ganz auf das Ansehen und den Ruf scheint der Ausdruck „Prestigemedium“ abzuheben.2 Mit ihm wird aber auch die Position im Mediensystem bezeichnet, die einen besonderen Einfluss bedingt. Als Kontrastbegriff dient „Populärmedium“. Dagegen ist „Elitemedium“ von der Zielgruppe und dem Nutzerkreis (und dem auf sie bezogenen Inhalt) abgeleitet. Die Rede vom „Meinungsführermedium“ lehnt sich an das klassische kommunikationswissenschaftliche Konzept des opinion leader an und überträgt dieses von der personalen auf die institutionelle, mediale Ebene.3 Rainer Mathes und Barbara Pfetsch definieren wie folgt: Media opinion leaders are certain prestigious media that other journalists use as a source for information and a frame of reference. Opinion-leading media have a trend-setting function, presenting new issues and interpretations, thus initiating chain reactions in the media system […].4 Auch wenn der Begriff Leitmedium neueren Datums sein dürfte – die hinter ihm stehende Idee ist keineswegs so neu. Der Soziologe Albert Schäffle, einer der Ahnherren der modernen Zeitungswissenschaft, erblickte in der Tagespresse schon Ende des 19. Jahrhunderts „die eigentliche Leitung für die geistigen Wechselwirkungen zwischen den führenden Organen der socialen Geistestätigkeit und dem Publikum.“5 Damit sprach er den gedruckten periodischen Medien insgesamt eine gesellschaftliche Leitfunktion zu: 2

Vgl. Kepplinger: „Systemtheoretische Aspekte politischer Kommunikation“, S. 248f.; vgl. dazu auch Jarren/Donges: Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft.

3

Vgl. Noelle-Neumann/Mathes: „The ,Event as Event‘ and the ,Event as News‘“ und Mathes/Czaplicki: „Meinungsführer im Mediensystem“.

4

Mathes/Pfetsch: „The Role of the Alternative Press in the Agenda-Building Process“, S. 36.

5

Schäffle: Bau und Leben des socialen Körpers, S. 191.

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Weit mehr durch die Presse, als durch Tribüne oder Volksversammlung oder Kanzel oder Katheder oder unmittelbare amtliche Belehrung geht die Leitung aller besonderen geistigen Strömungen, welche den socialen Körper mächtig erregen.6 Unschwer wird man im Begriff Leitmedium eine Analogiebildung zu „Leitartikel“ erkennen können, oder zu anderen im Deutschen vorhandenen Komposita wie Leitbild, Leitgedanke, Leitmotiv, Leitprinzip (neuerdings auch: Leitkultur). Alle diese Zusammensetzungen schließen an das Verb „leiten“ bzw. das Substantiv „Leitung“ an, unterstellen also die Ausübung einer „Leitfunktion“. Bei dieser geht es um eine kausative Beziehung, ja um eine hierarchische Relation, also um „Führung“ und Determination.7 Weitgehend unbestimmt sind in dem Begriff zunächst sowohl die Ursache(n) der Determination als auch deren Resultat(e). Durch das zweite Begriffselement wird gewissermaßen die Büchse der Pandora geöffnet. Denn der Medien-Begriff ist bekanntlich besonders verständnisoffen und deckt in den Kommunikations- und Medienwissenschaften ein sehr breites Spektrum von Erscheinungen ab. Wenn man dem nicht Grenzen zieht, lässt sich auch der „Leitmedien“-Begriff schwerlich präzisieren. Als Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler orientiere ich mich an einem technisch-institutionellen Medienbegriff, verstehe darunter also technische Mittel und Organisationen zur Verbreitung von Aussagen an potentiell große, disperse Publika. Unter diesen Begriff fallen Presse, Hörfunk und Fernsehen, auch der Film sowie neuerdings digitale Medien und Teile der InternetTechnologie. Was ich davon ausschließe, ist z.B. das Telefon (zumindest in seiner bisherigen Form), die Fotografie, der Tanz oder die Mode, die mitunter auch als „Medien“ bezeichnet werden. Ich halte es nicht für zweckmäßig, den Medien-Begriff so weit zu fassen und auch auf diese Techniken oder Zeichensysteme anzuwenden. Denn dabei handelt es sich zunächst nicht um Mittel der Vervielfältigung für große Publika. Die Mode würde nach meinem Verständnis nur mittels Modezeitschriften oder Übertragungen von Modenschauen medialen Charakter annehmen. Selbst unter der von mir vorgenommenen Einschränkung des Medienbegriffs wird der Begriff des Leitmediums noch auf unterschiedlichen Ebenen angewandt. Und zwar zumindest auf zweien: Zum einen ist von Leitmedien hinsichtlich der technisch-materiellen Grundformen der Speicherungs- und Übertragungstechniken die Rede, also von Buch, Presse, Rundfunk (Hörfunk, Fern6

Ebd., S. 201.

7

Etymologisch bedeutet „leiten“ eigentlich „gehen machen“; vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 438.

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sehen) und neuerdings Online-Medien. In diesem Sinne etwa hat Marshall McLuhan von der „Gutenberg-Galaxis“ gesprochen und damit die Vorherrschaft der Druckmedien, insbesondere des Buches, gemeint.8 Zum anderen aber geht es um spezifische Einzelerscheinungen dieser Medien, also bestimmte Zeitungen, Zeitschriften, Sender und Sendungen bzw. mediale Angebote. Zwischen beiden Ebenen differiert noch der Numerus: Bei den Grundformen spricht man eher im Singular von „Leitmedium“, bei den Ausdifferenzierungen ist auch im Plural von „Leitmedien“ die Rede. Der Verwendung im Plural sind jedoch Grenzen gesetzt, soll der Begriff nicht unsinnig werden. Ein Leitmedium kann also eher anhand der technisch-symbolischen Ebene bestimmt werden, also danach, über welche Zeichen und Zeichenträger die Kommunikation vermittelt wird. Dementsprechend gab es lange Zeit nur typografische Medien. Erst mit der Entdeckung der Funkwellen als Übertragungsweg eröffnete sich die Chance für neue Leitmedien auditiver (Radio) oder audio-visueller Art (Fernsehen).

2

Kriterien und Merkmale von Leitmedien

Leitmedien können im Prinzip an sehr unterschiedlichen Kriterien festgemacht werden. In der Literatur geschieht dies auch, ohne dass dies immer deutlich expliziert wird. Folgende Kriterien und Merkmale sind denkbar oder auch verwendet worden.

2.1

Verbreitung und Reichweite

Als Voraussetzung für ein Leitmedium kann seine Verbreitung bzw. Reichweite gelten. In der Presse kann das eine hohe Druckauflage sein, bei den Funkund Onlinemedien die Ausstattung mit Geräten. Daten zur Reichweite, zur Seh- und Hördauer usw. liefern über die Versorgung hinaus tatsächliche Nutzungsdaten, etwa zum Zeitungslesen, Radiohören, Fernsehzuschauen und zur Online-Nutzung. Presse, Hörfunk und Fernsehen haben in Deutschland allesamt hohe Reichweiten. Gemessen an der täglichen Auflagenhöhe müsste man den Typ der regionalen Abonnementzeitung ein Leitmedium nennen (17 Mio. Ex.), gemessen am täglichen Zeitbudget das Fernsehen (2006: 212 Min.) und das Radio (2006: 186 Min.). Als Einzeltitel bei den Zeitungen wäre die BildZeitung zu nennen (3,5 Mio. Ex.), der Spiegel (1,09 Mio. Ex.) bei den Publikumszeitschriften. Solche quantitativen Daten sind zur Bestimmung von Leit8

Vgl. MacLuhan: Die Gutenberg-Galaxis.

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Jürgen Wilke | Historische und intermediale Entwicklungen von Leitmedien

medien gewiss nicht ohne Belang. Für sich genommen dürften sie aber allein kaum hinreichen, eine Leitfunktion zu begründen.

2.2

Verbreitung und Reichweite bei der Elite

Nicht die generelle Verbreitung und Reichweite könnte man als Indikator für ein Leitmedium verwenden, sondern diejenige in der gesellschaftlichen Elite. Dabei wird deren Orientierung und Handeln eine größere Tagweite für die Gesellschaft zugemessen. Operationalisieren lässt sich dies beispielsweise anhand der jährlichen „Leseranalyse Entscheidungsträger in Wirtschaft und Verwaltung“ (LAE). In diese werden Selbständige, Freie Berufe, Angestellte und Beamte (ab einer gewissen Position und Gehaltshöhe) einbezogen, also lauter Gruppen, die wegen ihrer beruflichen Stellung Leitungsfunktionen ausüben. Bestimmte Presseorgane werden jedenfalls von Entscheidungsträgern deutlich häufiger genutzt als durchschnittlich von der Gesamtbevölkerung (Tabelle 1).

Focus Der Spiegel Stern Handelsblatt Manager Magazin Wirtschaftswoche FAZ Süddeutsche Zeitung Die Zeit Die Welt Financial Times Deutschland Cicero Frankfurter Rundschau

Entscheidungsträger 30,1 28,0 21,5 12,7 12,4 11,9 11,6 10,3 9,1 7,9 5,9 2,5 2,4

Gesamtbevölkerung 7,5 9,0 11,7 0,5 1,0 1,1 1,5 2,1 3,3 1,1 0,4 0,6 0,9

Tabelle 1: Presse: Reichweite bei Entscheidungsträgern und Gesamtbevölkerung im Vergleich 2007 (in %).9

Obwohl das Nachrichtenmagazin Focus eine geringere Auflage und Bevölkerungsreichweite hat als der Spiegel, hat das Blatt bei Entscheidungsträgern die größte Reichweite. Deutlich überproportional sind bei Entscheidungsträgern auch die Reichweiten von Stern, Wirtschaftswoche, FAZ, Süddeutscher Zeitung und Die Welt. Hingegen fällt die Frankfurter Rundschau stark ab. Gewissermaßen

9

Quelle: LAE 2007/AWA 2007.

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„Zielgruppenmedien“ der Entscheidungsträger sind das Handelsblatt, das Manager Magazin und die Wirtschaftswoche.

2.3

Bindung

Neben der objektiven Reichweite und Nutzung könnte man den Charakter eines Leitmediums auch an der subjektiven Bindung der Rezipienten ablesen. Diese wird in der Publikumsforschung üblicherweise mit der Frage ermittelt, welches Medium man stark/sehr stark vermissen würde bzw. welches man wählen würde, wenn man sich für eines entscheiden müsste. Die „Massenkommunikations-Studie“ hat diese Bindung seit den siebziger Jahren erfragt (Tabelle 2). 1970

1974

1980

1985

1990

1995

2000

2005

60 42 47 —

53 47 53 —

47 52 60 —

42 54 57 —

51 57 63 —

54 55 58 —

44 58 52 8

45 62 56 40

Es würden stark/sehr stark vermissen … Fernsehen Hörfunk Zeitung Internet

Tabelle 2: Bindung an die Medien: 1970 bis 2005 (in %).10

Die Autoren der Studie stellen dazu in ihrer jüngsten Fassung (2005) fest: Trotz wachsender Nutzung und auch noch zunehmender Reichweite verlor das Fernsehen, nach seinem Siegeszug in den 1960er Jahren bis 1970, im Laufe der Jahrzehnte danach – wenn auch mit leichten Schwankungen – deutlich an Bindung. Dagegen baute der Hörfunk in der Langzeitbetrachtung seit 1970 bei steigender Nutzung seinen Vermissenswert aus, die Wertschätzung der Tageszeitung stieg (bei dieser Abfrageform) seit 1970 trotz tendenziell eher stagnierender bis rückläufiger Nutzung ebenfalls an.11 Die weitere Frage, für welches Medium man sich entscheiden würde, wenn man nur noch eines behalten könnte („Inselfrage“), zwingt die Befragten dazu, 10 Quelle: ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation, berichtet in van Eimeren/Ridder: „Trends in der Nutzung und Bewertung der Medien 1970 bis 2005“, S. 493. 11 Ebd., S. 492.

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die Medien hinsichtlich der persönlichen Wichtigkeit in eine Rangfolge zu bringen. Dabei steht das Fernsehen (mit 44%) an erster Stelle, gefolgt vom Hörfunk (26%). Das Internet, das im Jahr 2000 noch mit 6 Prozent an vierter Stelle rangierte, hat inzwischen die Tageszeitung von diesem Rang verdrängt (2000: 16%; 2005: 12%). Im Jahr 2000 hatten nur 8 Prozent der Bevölkerung gesagt, sie würden das Internet stark oder sehr stark vermissen. 2005 sagten dies bereits 40 Prozent.12 Solche Bindungswerte gibt es auch für einzelne Programme. Dabei dominiert bisher das ARD-Programm. Es stand 2005 an der Spitze sowohl bei der Unentbehrlichkeit als auch bei der Beliebtheit und Qualitätsbewertung. Im Zeitschriftenbereich zeigen sich Indizien für schwächer gewordene Bindungen darin, dass die Zahl sporadischer Leser zugenommen hat bzw. anders ausgedrückt: die Menschen weniger als früher fortlaufend wirklich alle Ausgaben eines Organs lesen.

2.4

Mediennutzung der Journalisten

Ein weiterer Weg zur Bestimmung von Leitmedien kann aufgrund der Mediennutzung der Journalisten beschritten werden. Mehrere Gründe lassen sich dafür anführen: Journalisten sind Experten des Mediensystems und haben ein professionelles Urteil, zudem werten sie andere Medien gezielt für die eigene Arbeit aus und verschaffen diesen damit potentiell eine größere Ausstrahlung. Entsprechende Daten aus Journalistenbefragungen liegen vor. Ich stütze mich hier auf die von Carsten Reinemann im Jahr 2000 erhobenen (Tabelle 3).

Tageszeitungen Radio Fernsehen Internet Wochenpresse

Journalisten (2003) 87 77 76 53 39

Gesamtbevölkerung (2005) 30 226 247 34 k.A.

Tabelle 3: Dauer der täglichen Mediennutzung von Journalisten und Gesamtbevölkerung (durchschnittlich in Minuten).13

Durchschnittlich 240 Minuten verbringen deutsche Journalisten im Jahr 2000 mit der Nutzung der klassischen Medien Fernsehen, Hörfunk und Tageszei-

12 Ebd., S. 493. 13 Quelle: Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer; vgl. auch van Eimeren/Ridder: „Trends in der Nutzung und Bewertung der Medien 1970 bis 2005“.

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tung. Das ist deutlich weniger als die durchschnittliche Nutzungszeit bei der Gesamtbevölkerung (2005: 503 Minuten). Hinzu kamen bei den Journalisten 53 Minuten für das Internet. Das ist mehr als im Durchschnitt bei der Gesamtbevölkerung. Die Nutzung der einzelnen Medien bei den Journalisten unterscheidet sich deutlich von derjenigen der Gesamtbevölkerung: Die Tageszeitungen sind bei ihnen überrepräsentiert (2000: 87 vs. 2005: 30 Min. pro Tag), das Fernsehen unterrepräsentiert (2005: 76 vs. 2005: 185 Min. pro Tag). Leitmedien für die Journalisten sind zwar nicht zwangsläufig Leitmedien für alle, können aber zumindest indirekt über deren Vermittlung eine Leitfunktion auch für diese besitzen. Deshalb lohnt noch ein Blick auf die Nutzung von Einzelmedien, also von Tageszeitungen (Tabelle 4), Wochenmedien (Tabelle 5) und Fernsehsendungen (Tabelle 6). (fast) täglich Süddeutsche Zeitung FAZ Bild Die Welt Berliner Zeitung Tagesspiegel Frankfurter Rundschau taz – die tageszeitung Andere Regionalzeitungen Regionale Boulevardzeitungen

73 59 49 41 33 26 26 23 68 15

Tabelle 4: Häufigkeit der Nutzung von Tageszeitungen durch Journalisten 2000 (in %).14

Bei den Tageszeitungen ist die Süddeutsche Zeitung das von den meisten, nämlich drei Vierteln der Journalisten regelmäßig genutzte Blatt. Deutlich weniger, aber immer noch rund zwei Fünftel lesen regelmäßig die FAZ. Schon an dritter Stelle folgt ebenfalls mit drei Fünfteln regelmäßiger Leser die Bild-Zeitung. Die Welt wird von zwei Fünftel, die Frankfurter Rundschau von nur einem Viertel der Journalisten regelmäßig gelesen. Von den Zeitungen der Bundeshauptstadt gibt es eine größere Präferenz für die Berliner Zeitung als für den Tagesspiegel. Knapp ein Viertel der Journalisten liest noch die grün-alternative taz, was angesichts von deren relativ niedriger Auflage (56.000 Exemplare) bemerkenswert ist.

14 Quelle: Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer.

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Der Spiegel Stern Bild am Sonntag Focus Die Zeit Welt am Sonntag

(fast) jede Woche 82 37 30 29 29 28

Tabelle 5: Häufigkeit der Nutzung überregionaler Wochenmedien durch Journalisten 2000 (in %).15

Von den überregionalen Wochenmedien dominiert in der journalistischen Mediennutzung der Spiegel. Der Focus wird deutlich weniger genutzt (im Gegensatz zu den Entscheidungsträgern), wenn auch gleich stark wie Die Zeit. Übertroffen werden diese beiden Zeitschriften noch durch den Stern. Knapp ein Drittel der Journalisten nutzt(e) die beiden Sonntagszeitungen aus dem Springer-Verlag. Zu der inzwischen erfolgreichen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung liegen bisher keine einschlägigen Daten vor. (fast) täglich ARD - Tagesschau (20.00) - Tagesthemen (22.30) - Tagesschau (17.00) ZDF - heute journal (21.45) - heute (19.00) - heute (17.00) Private Sender - ntv - n24 - RTL News (18.45) - SAT1 (18.30)

66 59 18 43 40 6 42 11 10 5

Tabelle 6: Häufigkeit der täglichen Nutzung von Nachrichtensendungen durch Journalisten 2000 (in %).16

Was die Fernsehnachrichten angeht, so sehen die Journalisten diejenigen der ARD in größerer Zahl als diejenigen des ZDF. Schwach ist die Nutzung der Nachrichtensendungen der privaten Anbieter, abgesehen von dem Nachrichtenkanal ntv. Bemerkenswert ist ferner, dass rund die Hälfte der Journalisten im Jahr 2000 häufig oder regelmäßig die Talkrunde Sabine Christiansen sah (inzwi15 Quelle: Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer. 16 Quelle: Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer.

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schen: Anne Will). Das am meisten gesehene politische Magazin war Monitor im Ersten.17 2.5

Expertenurteile

Das Etikett Leitmedien kann auch durch Expertenurteile zuerkannt werden. Außer Journalisten kommen dafür insbesondere politische Akteure oder Pressesprecher in Frage, d.h. Personen, die in ihren beruflichen Funktionen täglich Kontakt mit den Medien besitzen. Während die ersteren vor allem Objekte von Medienberichterstattung sind, bedienen sich die anderen ihrer primär instrumentell. Eine 1998 durchgeführte Untersuchung hat belegt, wie solche Experten in Deutschland die Medien nutzen. Befragt wurden dazu einerseits Bundestagsabgeordnete, andererseits Pressesprecher von großen Unternehmen, Verbänden und Institutionen.18 Ausgewählte Ergebnisse dokumentiert Tabelle 7. Bundestagsabgeordnete (n = 184) Presseorgane - Der Spiegel - FAZ - Focus - Süddeutsche Zeitung - Frankfurter Rundschau - Die Welt - Stern - Handelsblatt - Die Zeit - Bild Fernsehsendungen - Tagesschau (20.00) - Tagesthemen (22.30) - heute (19.00) - heute journal (21.45) - Bonn direkt (So, 19.15) - ntv - Spiegel-TV

Pressesprecher (n = 287)

66 55 52 49 38 36 34 33 20 19

72 69 45 52 35 39 25 38 47 27

82 75 71 60 55 40 7

77 60 57 50 27 16 8

Tabelle 7: Regelmäßig gelesene Presseorgane und regelmäßig gesehene Fernsehsendungen bei Bundestagsabgeordneten und Pressesprechern 1998 (in %).19

17 Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer, S. 176. 18 Vgl. Peter: Expertenurteile über ausgewählte Print- und TV-Medien. 19 Quelle: Peter: Expertenurteile über ausgewählte Print- und TV-Medien.

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Die Daten zeigen gewisse Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zur Mediennutzung der Journalisten. Auch bei den Experten ist der Spiegel das am meisten gelesene Organ und die Tagesschau die primär verfolgte TV-Nachrichtensendung. Der Focus hat bei den Experten einen höheren Stellenwert als bei den Journalisten. Deutlich geringer ist die Bedeutung der Süddeutschen Zeitung, die vor allem von den Pressesprechern weniger gelesen wird als die FAZ. Ziemlich (gut) ein Drittel beider Gruppen lesen auch Die Welt und die Frankfurter Rundschau sowie das Handelsblatt. Pressesprecher nutzen Die Zeit stärker als Bundestagsabgeordnete, umgekehrt ist es beim Stern. Das professionelle Interesse der letzteren hat auch eine starke Nutzung der ZDF-Sendung Bonn direkt zur Folge, es sind doppelt so viele wie bei den Pressesprechern. Wie Tabelle 7 ebenfalls zeigt, wurde die Bild-Zeitung 1998 von einem Fünftel (Bundestagsabgeordnete) bzw. einem Viertel (Pressesprecher) der Experten regelmäßig genutzt. Bei den Journalisten waren es (2000) erheblich mehr, nämlich 59 Prozent. Anfang der 1990er Jahre hatten nur 25 Prozent der repräsentativ befragten deutschen Journalisten diese Zeitung genannt.20 Diese beträchtliche Veränderung ist ein Grund, warum in den letzten Jahren zunehmend die Bild-Zeitung in Deutschland als „Leitmedium“ bezeichnet wird. Sie ist von einem „Schmuddelkind“ gewissermaßen „hoffähig“ geworden. Wenn ein „Populärmedium“ zum Leitmedium werden kann, so kommt eine solche Funktion offenbar nicht mehr ausschließlich „Prestigemedien“ zu. Selbst jemand wie Uwe-Karsten Heye hat als Sprecher des seinerzeitigen Bundeskanzlers Gerhard Schröder davon gesprochen, die Bild-Zeitung habe den Spiegel in Deutschland als Leitmedium ersetzt.21 Die Aussage, zum Regieren brauche man nur „Bild, BamS und Glotze“ wurde auch Schröder selbst zugeschrieben. Immerhin sind solche Aussagen in die Publizistik diffundiert, wie man leicht bei einer Google-Eingabe zum Thema „Leitmedium Bild“ ermitteln kann. Attribute wie „angeblich“ und „vermeintlich“ oder die Verwendung von Anführungszeichen weisen jedoch bei nicht wenigen Autoren auf einen distanziertkritischen Gebrauch dieses Etiketts hin. Interessant sein könnte in dieser Hinsicht auch, aus welchen Presseorganen die Pressespiegel schöpfen, die jeden Tag den politischen Spitzenakteuren von ihren Presseabteilungen vorgelegt werden. Leider wissen wir darüber nichts Genaues.

20 Vgl. Scholl/Weischenberg: Journalismus in der Gesellschaft. 21 Renner: „Light- als Leitmedium“, S. 31.

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2.6

Publizistische Leitfunktion

Eine überzeugende, inhaltlich fundierte Begründung des Leitmedien-Charakters setzt entsprechende empirisch fundierte Nachweise über publizistische Leitfunktionen voraus. Solche Untersuchungen werden heute in der Kommunikationswissenschaft unter dem Konzept des Inter-Media Agenda-Setting durchgeführt. Dabei wird untersucht, welche Themen von einzelnen Medien gesetzt werden, die dann auf andere Medien ausstrahlen. Man spricht hier von einem spill over-Effekt. Theoretische Basis solcher Effekte ist die Koorientierung unter den Journalisten, die Unsicherheiten bei eigenen Publikationsentscheidungen kompensieren soll. Aus den USA liegen Evidenzen zu einem Inter-Media Agenda-Setting-Einfluss der New York Times beim Drogen-Thema vor.22 In Deutschland haben Mathes und Pfetsch nachgewiesen, wie in den 1980er Jahren bestimmte „Gegenthemen“ (z.B. Volkszählung, Personalausweis) zuerst in der AlternativPresse aufkamen (taz) und dann auf die etablierten Zeitungen übergriffen. Der Spiegel verstärkte den Trend, dem sich selbst die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung nicht entziehen konnte.23 Der Befund scheint dafür zu sprechen, dass selbst ein Medium mit geringer Auflage (taz) eine auslösende Leitfunktion haben kann, vermutlich katalysiert durch die beträchtliche Journalisten-Nutzung. Noch differenzierter hat Harald Berens solche Prozesse für die Themen Castor-Transport und den Fall der Ölplattform Brent Spar analysiert.24 Er hat für diese Ereignisse Thematisierungskreisläufe und -schleifen rekonstruiert. Danach kam der intensiven Berichterstattung durch die Nachrichtenagentur und das öffentlich-rechtliche Fernsehen eine auslösende Funktion für die starke Beachtung in den Tageszeitungen zu, worauf diese das Themenfeld erweiterten, was Agentur und Fernsehen ihrerseits wieder in ihrer weiteren Berichterstattung aufgriffen. So präzise und differenziert in solchen Fällen das InterMedia Agenda-Setting belegt werden kann, so lassen sich diese Fälle wohl nicht ohne weiteres verallgemeinern und als hinreichender Beleg für eine generelle Leitmedien-Funktion der untersuchten Medien interpretieren.

22 Vgl. Danielian/Reese: „A Closer Look at the Intermedia Influences on Agenda Setting“. 23 Mathes/Pfetsch: „The Role of the Alternative Press in the Agenda-Building Process“. 24 Berens: Prozesse der Thematisierung in publizistischen Konflikten.

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2.7

Zitierhäufigkeit

Ein weiteres Kriterium, an dem man heute den Leitmedien-Charakter ablesen kann, ist die mit dem obigen Sachverhalt in Zusammenhang stehende Häufigkeit, mit der im Mediensystem andere Medien zitiert werden. Ablesen ließe sich das etwa an den Pressestimmen oder Pressespiegeln, die in der Tagespresse z.T. noch als eigene Rubrik und im Radio als eigene Sendung gebracht werden (beispielsweise die Presseschau Inland jeden Morgen um 6.05 Uhr in SR2). Die hier vorzugsweise zitierten Blätter könnte man gleichsam als „Leitmedien“ betrachten. Die Deutsche Presse-Agentur liefert ihren Kunden jeden Morgen ein breites Spektrum solcher Pressestimmen, überlässt diesen selbst aber deren Auswahl und gegebenenfalls Publikation. Wichtiger aber noch als die Pressestimmen ist die Zitierung von Medien als Quellen von Informationen oder Aussagen in der aktuellen Berichterstattung. Das ist nur durch systematische Auswertungen herauszufinden. Inzwischen werden solche Zitatrankings fortlaufend erhoben. Der kommerziell arbeitende Verein Medien Tenor liefert immer wieder solche Häufigkeitsauszählungen (Schaubild 1). Meistzitierte deutsche Medien im Jahr 2007 0

500

1.000

1.500

2.000

1.228 945

Focus

883

Handelsblatt Süddeutsche Zeitung

768

Wall Street Journal

754 748

Medien

New York Times

706

ARD allgemein

671

Tagesspiegel

631

FAZ

594

Stern

556

Financial Times Berliner Zeitung

555

ZDF allgemein

546 526

Welt am Sonntag

FAS

3.000

1.720

BILD-Zeitung BILD am Sonntag

Welt

2.500 2.577

Spiegel

492 482

FTD

442

BBC allgemein

433 Quelle: Media Tenor

Anzahl der Zitate

Schaubild 1: Meistzitierte deutsche Medien im Jahr 2007.

Die Auszählung der Zitate für das Jahr 2006 (insgesamt mehr als 30.000) zeigt den Spiegel an der Spitze der „Hitliste“, gefolgt von der Bild-Zeitung (was deren Leitfunktion im Bereich der Tageszeitungen unterfüttert). Danach kommen Bild am Sonntag, Focus, und Handelsblatt. Die Süddeutsche Zeitung wird häufiger zitiert als die FAZ, ARD-Fernsehen etwas häufiger als ZDF. Wall Street Journal,

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New York Times und Financial Times (mehr als Financial Times Deutschland) sind ziemlich häufig zitierte nicht-deutsche Tageszeitungen. FAZ und Handelsblatt zählten 2006 indessen zu den „Aufsteigern“ im Zitatranking. Focus und Stern verloren gegenüber dem Vorjahr an Medieninteresse.25 Der meistzitierte Radiosender ist Deutschlandfunk/Deutschlandradio. Von den Internetangeboten werden am häufigsten Spiegel-Online und Netzeitung zitiert, obwohl insgesamt noch selten. Hinsichtlich der Weiterverwendung im Mediensystem dürften die Medienzitate im Basisdienst der Deutschen Presse-Agentur von vorrangiger Bedeutung sein.26 Entsprechende Auswertungen im Jahr 2005 zeigen, dass Zeitungen bei dpa die primär zitierten Medien sind (53%), gefolgt von Zeitschriften (22%). Fernsehen und Radio sind als Zitatquellen nur von nachrangiger Bedeutung (11% bzw. 6%). Seit Anfang der 1990er Jahre wird zunehmend aus Zeitungen zitiert, während insbesondere das Radio als Zitatquelle eingebüßt hat. Medienzitate lassen sich im Prinzip auch retrospektiv zur Ermittlung von Leitmedien heranziehen. Gabriele Melischek und Josef Seethaler haben solche Medienzitate in der Nachwahlberichterstattung von Berliner Tageszeitungen der Weimarer Republik (1928-1932) soziometrisch analysiert.27 Sie kamen zu dem Befund, dass sich das Spektrum der Leitmedien in den genannten Jahren nach „rechts“ verschob, ablesbar am anwachsenden Zitatstatus der die NSDAP unterstützenden Berliner Tageszeitungen und daran, dass mit dem Völkischen Beobachter 1932 auch eine Nicht-Berliner Zeitung an Zitierungen zunahm. Generell ist allerdings zu fragen, ob Leitmedien allein durch Zitathäufigkeit konstituiert werden, unabhängig von der Funktion solcher Zitate. Zumindest als die Parteipresse im Mediensystem eine zentrale Rolle spielte, dienten solche Zitate nämlich häufig der politischen Abgrenzung und waren Anlass zur wechselseitigen Kritik. Ich fasse zusammen: Je nachdem, welche der hier zuvor angeführten Kriterien zugrunde gelegt werden, gelangt man zu verschiedenen „Leitmedien“. Für das Fernsehen generell sprechen die hohe Reichweite und die Sehdauer. Auch die subjektiv wahrgenommene Bindung und die hohe Glaubwürdigkeit, die ihm – wenn auch abnehmend – zugemessen wird, erhärten die Bedeutung dieses Mediums. Innerhalb des Programms sind es wiederum spezifische Sendungen, die Leitfunktion haben: die Hauptnachrichtensendungen Tagesschau 25 Vgl. „Die üblichen Verdächtigen“. 26 Vgl. Reinemann/Huismann: „Beziehen sich Medien immer mehr auf Medien?“. 27 Melischek/Seethaler: „Zur soziometrischen Bestimmung von Leitmedien am Beispiel der Berliner Tageszeitungen 1928-1932“ und „Zerfall der Öffentlichkeit vs. Re-Integration“.

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(Marktanteil 2006: 33,0%) und heute (Marktanteil 2004: 19,4%). Diese Sendungen sind auch für die nachfolgende Zeitungsberichterstattung wichtig, wenn auch eher als Informationsquelle denn als Deutungsrahmen. Auch das Radio erzielt hohe Reichweiten (84%) und wird mehrere Stunden pro Tag genutzt. Gegen einen Leitmedien-Charakter spricht heute allerdings, dass der Hörfunk wegen seines hohen Musikanteils häufig nebenbei, als Kulisse genutzt wird. Im Informationsbereich kommt aufgrund seines hohen Wortanteils dem Deutschlandfunk/Deutschlandradio noch eine vorrangige Rolle zu. Dazu verkündet der Sender stolz auf seiner Homepage:28 Schon am frühen Morgen schalten 47 Prozent der Journalisten, 24 Prozent aller Politiker und 13 Prozent der deutschen Wirtschaftsmanager regelmäßig Deutschlandfunk oder DeutschlandRadio Kultur ein. Gründe, die Abstriche am Leitmedium Tagespresse bedingen, sind sinkende Reichweiten und vergleichsweise geringe Nutzungszeit (täglich ca. 30 Minuten). Ohnehin besteht der Löwenanteil dieses Mediums aus Organen mit nur lokaler oder regionaler Bedeutung. Andererseits genießen einzelne Presseorgane besondere Anerkennung wegen ihrer journalistischen Qualität („Prestigemedien“). Auch sind diese Presseorgane für die Journalisten selbst sehr wichtig, wichtiger als vieles im Fernsehen. Die Bild-Zeitung könnte wegen der Auflage und hohen Reichweite (auch bei den Journalisten) sowie wegen ihrer Themensetzungen und der zunehmenden Zitierhäufigkeit als Leitmedium angesehen werden. Die Zeitung wirbt u.a. damit, dass sie selbst unter den Professoren die höchste Reichweite besitzt.

3

Randbedingungen und Differenzierungen

Leitmedien lassen sich m.E. nicht bestimmen, ohne auf bestimmte Randbedingungen abzuheben und Differenzierungen einzuführen. Zu den Randbedingungen gehören das politische System und das Mediensystem. Zu den notwendigen Differenzierungen gehören Zielgruppen und Medienfunktionen. Wenn wir heute von Leitmedien sprechen, so im Rahmen eines liberaldemokratischen politischen Systems, das Medienfreiheit garantiert, und eines marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems, das allerdings im Rundfunk gewisse Ausnahmeregeln zulässt. Leitmedien bilden sich also durch eine (Medien-)Logik heraus, in die rechtliche, ökonomische, journalistische und gesellschaftliche

28 www.dlf.de.

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Elemente eingehen. Leitmedien bilden sich hier innersystemisch und durch Koorientierungsprozesse heraus. Demgegenüber stehen – zumindest historische – Fälle, in denen staatlicherseits Medien aus übergeordneten Absichten Leitfunktionen verordnet, ja aufgezwungen wurden. Das ist insbesondere in totalitären Systemen und Diktaturen der Fall. Hier wird üblicherweise versucht, sozusagen voluntaristisch „Zentralorgane“ als Leitmedien zu dekretieren. Beispiele dafür waren der Völkische Beobachter im Dritten Reich und das Neue Deutschland in der DDR. Nicht nur durch ihre Auflagenhöhen, sondern auch als Vorbilder, an denen sich andere Blätter zu orientieren oder auszurichten hatten, besaßen sie für die Machthaber den Status von „Leitmedien“. Da der Völkische Beobachter schwer als Leitmedium allgemein verbindlich zu machen war und ihm zumindest zu Beginn des Dritten Reiches eine noch in weiten Teilen bürgerliche Presse gegenüber stand, setzte Joseph Goebbels auf ein anderes „Leitmedium“, den Rundfunk. Beide Medien wurden ausdrücklich zu staatlichen „Führungsmitteln“ erklärt.29 Zahlreiche Zitate aus der damaligen Zeit belegen diese Absicht: Der Rundfunk wird also als Waffe der nationalsozialistischen Propaganda gehandhabt, er hat die Aufgabe, die deutschen Volksgenossen mit dem Ideengut des Nationalsozialismus zu durchdringen und jeden deutschen Menschen so mit nationalsozialistischem Geist zu erfüllen, daß der Wille des Führers, das deutsche Volk zur Nation zusammenzuschmieden, in nächster Zeit Wirklichkeit werden kann. Diese Aufgabe des Rundfunks muß für alle mit ihm verbundenen Kräfte das oberste, unerschütterliche Gesetz sein.30 Und der Propagandaminister selbst sagte kurz nach der Machtübernahme zu dem neuen Führungspersonal im Rundfunk: Ich halte den Rundfunk für das allermodernste und für das allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument, das es überhaupt gibt. Ich bin der Meinung, daß der Rundfunk überhaupt das Volk an allen öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen lassen muß, daß es im Volksdasein überhaupt keinen großen Vorgang mehr geben wird, der sich auf zwei- bis dreihundert Menschen begrenzt, sondern daß eben das Volk in seiner Gesamtheit teilnimmt. Der Rundfunk muß der Regierung die fehlenden 48 Prozent zusammentrommeln, und haben wir sie dann, 29 Vgl. u.a. Lüddecke: Die Tageszeitung als Mittel der Staatsführung; Eckert: Der Rundfunk als Führungsmittel. 30 Hintze: „Staat und Funkwesen“, S. 37.

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muß der Rundfunk die 100 Prozent halten, muß sie verteidigen, muß sie so innerlich durchtränken mit den geistigen Inhalten unserer Zeit, daß niemand mehr ausbrechen kann. Damit ist der Rundfunk ein wirklicher Diener am Volk, ein Mittel zum Zweck, und zwar zu einem sehr hohen und idealen Zweck, ein Mittel zur Vereinheitlichung des deutschen Volkes in Nord und West, in Süd und Ost, zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Proletariern und Bauern.31 Mehrere Vorteile prädestinierten den Rundfunk zum totalitären Leitmedium: Er ließ sich viel leichter zentral lenken als die (zumal anfangs) titelreiche Zeitungspresse. Und mit ihm konnte man die Bevölkerung zu großen Teilen mit einem einheitlichen Programm erreichen. Zu diesem Zweck wurde bekanntlich der preiswerte Volksempfänger produziert. Verfügte 1933 rund ein Viertel der deutschen Haushalte über ein Radiogerät, so waren es 1941 bereits zwei Drittel. Eine ähnlich zentrale Lenkung der Medien betrieb nach dem Zweiten Weltkrieg die DDR. Allerdings war das Zeitungsspektrum dort von Anfang an politisch viel enger als im Dritten Reich. Seit den 1950er Jahren kam neben dem Rundfunk auch das Fernsehen als zentral durch „Komitees“ gelenktes „Leitmedium“ hinzu. Ob voluntaristisch intendierte Leitmedien ihr Wirkungsziel aber tatsächlich erreichen, bleibt eine kritisch zu prüfende gesonderte Frage. Zweifel sind hier nicht unbegründet. Denn das Publikum misst ihnen möglicherweise nur geringe Glaubwürdigkeit zu, was die Leitfunktion mindert. Aber auch wo politischer Pluralismus herrscht, gibt es Randbedingungen für die Herausbildung von Leitmedien. Ich werfe dazu einen Blick zurück ins Deutsche Kaiserreich. Kann man damals schon so etwas wie „Leitmedien“ identifizieren? Die Vermehrung der Lokalzeitungen und Regionalausgaben bedeutete damals eher eine Ausdifferenzierung des Pressemarktes. Hinzu kam die parteipolitische Polarisierung. Presseorgane übernahmen die „SprecherFunktion“ für politische Akteure. Von allgemeinen, gesellschaftsweit akzeptierten „Leitmedien“ wird man daher im Kaiserreich kaum ausgehen können. Sondern man wird diesen Begriff allenfalls richtungsgebunden spezifizieren und von fragmentierten Leitmedien sprechen können. Beispiele hierfür wären die Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung für die Konservativen, die National-Zeitung für die Liberalen, die Germania für den politischen Katholizismus, der Vorwärts für die Sozialdemokratie. Die Rote Fahne für die Kommunisten kam später dazu. Auch wenn die Parteipresse längst verschwunden ist, lassen sich heute noch rechte bzw. konservative (Die Welt, FAZ) und progressive bzw. linke (SZ, Frankfurter Rundschau, taz) Leitmedien unterscheiden:

31 Mitteilungen der Reichs-Rundfunkgesellschaft, S. 4.

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Sie sind der jeweils ‚passende‘ Resonanzboden für die Akteure der verschiedenen politischen Lager und zugleich das wichtigste Leitmedium für die Folgemedien mit entsprechender politischer Neigung.32 Den Begriff „Leitmedium“ wird man vielleicht auch pressetypologisch spezifizieren müssen. Beispielsweise könnte man den Berliner Lokal-Anzeiger als „Leitorgan“ der Generalanzeiger-Presse postulieren. Zumindest war dieses Blatt am Ende des 19. Jahrhunderts der erfolgreichste Titel dieser Art (Auflage: 150.000 Exemplare). Allerdings war dieser Zeitungstyp seinerseits weniger dazu prädestiniert „Leitfunktionen“ zu übernehmen: Er richtete sich stark kommerziell an den Leserinteressen aus, bezog nicht dermaßen politisch Stellung wie die Meinungs- und Parteipresse, auch wenn er keineswegs immer so neutral war, wie oft behauptet worden ist. Insbesondere der Berliner Lokal-Anzeiger vertrat nach der Jahrhundertwende rechtsgerichtete Positionen. Nicht nur hinsichtlich der politischen Fronten, sondern noch in anderer Hinsicht scheint eine Differenzierung von Leitmedien unumgänglich, und zwar nach demographischen Zielgruppen der Gesellschaft. So wäre vielleicht zu unterscheiden zwischen Leitmedien für Männer und Frauen, und bei den letzteren wiederum nach dem bürgerlichen bzw. feministischen Segment. Die 30 Jahre alt gewordene Emma war gewiss ein „Leitmedium“, wenn auch primär für die Frauen- und Emanzipationsbewegung, nicht aber für die Gesamtheit der weiblichen Bevölkerung in Deutschland. Was diese angeht, dürften sich mehrere Organe das Etikett Leitmedium streitig machen (Brigitte, Freundin usw.). Und wenn vom Internet heute schon als „Leitmedium“ gesprochen wird, so doch mit ausdrücklicher Einschränkung noch auf die Jugendlichen. Die Bindung an Computer und PC war laut JIM-Studie 2006 bei dieser Gruppe am größten (26%), die Bindung an Fernsehen und Internet gleich groß (19%).33 Eine weitere Differenzierung von Leitmedien müsste unterschiedliche Medienfunktionen in Betracht ziehen. Jedenfalls wird man den Leitmedien-Charakter schwerlich funktionsübergreifend bestimmen können, also unabhängig davon, ob es um Information, Themensetzung, Deutung, ob es um Musikgeschmack, Show-Business oder Mode geht. Im Fernsehen müsste vielleicht nach Formaten differenziert werden, also nach Nachrichtensendungen, Talkshows, Magazinen usw.

32 Schulz/Kindelmann: „Die Entwicklung der Images von Kohl und Lafontaine im Wahljahr 1990“, S. 14. 33 Vgl. Feierabend/Kutteroff: „Medienumgang Jugendlicher in Deutschland“, S. 86.

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Leitmedien in diachronischer Perspektive

Diachronisch gesehen scheint es so, als ob Leitmedien einander historisch ablösten. Durch Johannes Gutenbergs Erfindung der Drucktechnik wurde gewissermaßen das Buch zum ersten neuzeitlichen „Leitmedium“. Aber schon in der Reformation liefen „neue Medien“ dem umfänglichen Buch den Rang ab: Flugblätter und Flugschriften wurden in großer Zahl und hohen Auflagen gedruckt. Zumindest für einen begrenzten Zeitraum erfüllten diese Medien eine Leitfunktion in der öffentlichen Debatte. Ohne sie hätte Martin Luther nicht die durchdringende Resonanz finden können. Seit 1605 traten die politischen Zeitungen auf. Deren Chance, zum neuen Leitmedium zu werden, war künftig vor allem durch das fortlaufende, periodische Erscheinen bedingt. Doch wird man zunächst noch kaum davon sprechen können, dass die Zeitung das Buch als Leitmedium ablöste. Dafür war sie nach Zahl und Auflage noch nicht stark genug. Allerdings erschienen Ende des 17. Jahrhunderts bereits ca. 60 deutschsprachige Tageszeitungen, wenngleich durchschnittlich nur in 400 bis 500 Exemplaren. Die geschätzte Gesamtauflage der Tagespresse betrug zu diesem Zeitpunkt ca. 25.000 Exemplare. Für jedes dieser Exemplare müssen allerdings mindestens 10 Leser angesetzt werden, so dass ca. 250.000 Rezipienten regelmäßig erreicht worden sein dürften. Hundert Jahre später hatte sich die Reichweite dann verzehnfacht. Woche für Woche wurden mehr als 300.000 Exemplare abgesetzt. Sie erreichten mindestens 3 Millionen Menschen, ein Drittel der für die Rezeption überhaupt infrage kommenden Bevölkerung. Auch die Relation zum Buchmedium verschob sich dadurch: Mithin kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Zeitung hinsichtlich ihrer Verbreitung mit Ausnahme der Bibel und der kirchlichen Erbauungsschriften von keinem anderen Druckerzeugnis erreicht wurde.34 So sehr die Reichweite (zusammen mit der Kumulation) dafür zu sprechen scheint, dass die Zeitung am Ende des 18. Jahrhunderts schon die Position eines säkularen Leitmediums (zumindest für die aktuelle Unterrichtung) einnahm, so gibt es andere Gründe, die eine solche Funktion relativieren. Noch beschränkten sich die Zeitungen weitgehend auf neutrale, faktenbezogene Berichterstattung. Sie verfolgten noch keine publizistischen Linien, ihnen fehlte zumindest eine Leitfunktion in der politischen Tendenz. Sie haben die Menschen umfangreich informiert, aber noch kaum selbst Meinungsbildung betrie34 Vgl. Welke: „Zeitung und Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert“, S. 77.

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ben. Dafür fehlte auch noch der politische Resonanzraum. Solche Intentionen wurden viel eher von Zeitschriften verfolgt. Deshalb begegnet man gerade im 18. Jahrhundert der Absicht, Zeitschriften als gesellschaftliche Leitmedien in Deutschland zu etablieren, sei es für die Sittenbildung (Moralische Wochenschriften), sei es für Literatur, Politik- und Staatskunde usw. Das drückt sich zum Teil dann auch schon in den Titeln aus, beispielsweise bei den so genannten „Nationaljournalen“ wie dem Teutschen Merkur (1774ff.), dem Deutschen Museum (1776ff.) und dem Journal von und für Deutschland (1784ff.).35 Aber diese Zeitschriften hatten häufig nur bescheidene Auflagen und waren allenfalls unter der hoch gebildeten Bevölkerung bekannt und verbreitet. Doch waren sie für den intellektuellen Diskurs und die „Meinungsführer“ gewiss wichtig. Robert Eduard Prutz, der erste deutsche Pressehistoriker, hat Mitte des 19. Jahrhunderts in diesem Zusammenhang schon von „centralisierenden Organen“ gesprochen und damit den Leitmedien-Begriff gewissermaßen antizipiert.36 Selbstverständlich hat es in der Zeitungsgeschichte immer wieder Organe gegeben, denen aus den unterschiedlichen, in der Begriffsexplikation genannten Kriterien die Funktion von „Leitmedien“ attestiert werden könnte. Für die fortgeschrittene Neuzeit muss man unbedingt den Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten erwähnen, der am Ende des 18. Jahrhunderts eine Auflage von 30.000 Exemplaren erzielte. Nicht nur wegen seiner Reichweite, auch aufgrund seiner faktengesättigten, um Objektivität bemühten Berichterstattung hatte er Vorbild-Charakter und war ein „Prestigemedium“.37 Andere Zeitungen haben aus ihm geschöpft und ihn, wie man sagte, „ausgeschrieben“. Für die erste Hälfte des 19. Jahrhundert ist immer wieder die Augsburger Allgemeine Zeitung als Leitmedium genannt worden. Zwar erreichte sie nicht so hohe Auflagen wie einst der Hamburgische Correspondent. Sie hatte kaum jemals mehr als 6.000-8.000 Abonnenten. Aber die Qualität dieser Zeitung war hochgerühmt, was selbst Karl Marx, der sie nicht mochte, zu der Bemerkung veranlasste, sie sei „das einzige Organ mit mehr als lokaler Bedeutung“.38 Am Beispiel der Augsburger Allgemeinen Zeitung lässt sich freilich auch studieren, dass „Leitmedien“ eine begrenzte Lebenszeit haben und welken können. In ihrem Fall war das nach 1848 der Fall. Über die fragmentierten „Leitmedien“ im Pressewesen des Kaiserreichs wurde oben schon gesprochen. Otto von Bismarck machte die Norddeutsche Allgemeine Zeitung zu einem offiziösen, gouvernemental inspirierten „Leitmedi-

35 Vgl. Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 129ff. 36 Vgl. ebd., Bd. 1, S.1f. 37 Vgl. Tolkemitt: Der Hamburgische Correspondent. 38 Zit. nach Müchler: „Wie ein treuer Spiegel“, S. 4.

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um“. Sie wurde von seinen Nachfolgern mit dem gleichen Ziel genutzt. Damit wollte man gerade die politische Fragmentierung überspielen. Dem in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auftretenden Rundfunk fehlte zunächst die Verbreitung, um als Leitmedium gelten zu können. Das änderte sich jedoch im Dritten Reich mit den besagten Folgen. Auch die alliierten Besatzungsmächte bedienten sich nach 1945 zunächst vor allem des Radios, um die deutsche Bevölkerung zentral zu unterrichten. In der Presse lizenzierten sie auflagenstarke regionale Zeitungen, denen sie „Leitorgane“ mit zonenweiter Reichweite hinzufügten, sozusagen als „Modell“ des erwünschten neuen Journalismus: die Amerikaner Die Neue Zeitung, die Briten Die Welt und die Franzosen die Mainzer Allgemeine Zeitung. Auch bei diesen handelte es sich folglich um Fälle intendierter Leitmedien zur „Umerziehung“ der Deutschen. Ob das Radio, nachdem der Wiederaufbau der Presse nach dem Zweiten Weltkrieg vollendet war, noch als Leitmedium gelten konnte, lasse ich dahingestellt. Bernd Weisbrod spricht ihm eine solche Funktion von den 1930er bis 1950er Jahren zu.39 Doch lief diese in den 1960er Jahren mit dem Aufstieg des Fernsehens ab. Binnen weniger Jahre setzte sich dieses neue Medium durch und erreichte eine weitgehende gesellschaftliche Sättigung. Wenn es zum Leitmedium wurde, so nicht zuletzt wegen seiner Organisationsform, dem öffentlich-rechtlichen Monopol, zunächst durch die ARD allein und dann auch durch das ZDF. Große Verbreitung bei limitierter Anbieterzahl, der Programmauftrag sowie die Rezeptionsmodalitäten dürften die Rolle als Leitmedium begünstigt haben. Das änderte sich seit Mitte der 1980er Jahre mit der Einführung des privat-kommerziellen Fernsehens. Zwar weitete sich dadurch der Fernsehkonsum weiter aus, aber die Marktanteile zersplitterten jetzt. Wenn die Befürworter der Dualisierung des Rundfunks eine, wie sie sagten, „Entautorisierung“ des Fernsehens anstrebten, so lässt sich dies auch als Versuch verstehen, seine Funktion als Leitmedium zu schwächen. Stehen wir angesichts der Digitalisierung und der Karriere des Internets vor der Etablierung eines neuen Leitmediums? Oder gar von mehreren? Denn das Internet als Ganzes ist ja eigentlich kein „Medium“, sondern eine Technologie für verschiedene Kommunikationsmodi. Immerhin hat sich diese Technologie bisher schneller durchgesetzt als alle anderen Kommunikationstechniken zuvor. Binnen zehn Jahren stieg die Nutzung von 6,5 Prozent (1997) auf 59,5 Prozent (2006).40 Das hat es noch beim Fernsehen nicht gegeben. Von einem Sättigungsgrad ist das Internet allerdings noch entfernt, und es ist frag-

39 Vgl. Weisbrod: „Medien als symbolische Form der Massengesellschaft“, S. 277. 40 Vgl. van Eimeren/Fees: „Schnelle Zugänge, neue Anwendungen, neue Nutzer?“.

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lich, ob es eine solche in absehbarer Zeit tatsächlich erreichen wird. Unter dem Begriff des digital divide wird vielmehr diskutiert, welche Kluft in der InternetNutzung noch besteht und ob bzw. wie sie überwunden werden kann. Dies müsste aber geschehen, wenn aus dem Internet ein generelles Leitmedium werden sollte. Doch Zweifel sind nicht nur durch die noch begrenzte Reichweite begründet. Das Internet ist vielmehr auch ein „Medium“, das starke Individualisierung begünstigt. Wenn der Rezipient sein Menü selbst zusammenstellt, zu seinem eigenen „Programmdirektor“ wird, wie man gesagt hat, dann wirkt das der medialen Leitfunktion eher entgegen. Das Internet ist eher ein pull- als ein push-Medium. Droht mit dem Internet also das Ende der bisherigen Leitmedien? Ausschließen lässt sich das vielleicht nicht. Aber in absehbarer Zeit ist das wohl kaum zu befürchten.

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Leitmedien durch Präsenz. Anmerkungen zur Mediendynamik Die Präsenz unter den Top-Ten-Suchtreffern entscheidet über Sein und Nichtsein im Internet. (Holger Schmidt, FAZ)

Aufriss Die Allgegenwart des Computers als ‚Neues Medium‘ fordert neben dem Fernsehen vor allem die ‚alte‘ Presse zur nachhaltigen Überprüfung ihrer Forminventare heraus: Ein Beispiel für eine solche Nachjustierung lässt sich schon in den späten 1990er Jahren finden, als die Frankfurter Allgemeine Zeitung für ihre ‚Berliner Seiten‘ eine computeraffine Form entwarf, von der man sich weitreichende Impulse für eine Nachrüstung des Hauptstadt-Journalismus im Zeichen des Zeitgeistes versprach. Mit dem Entwurf der ‚Webcam‘-Kolumne, die insgesamt ca. 700 mal erschien, berief man sich also auf ein Medium, dem – so jedenfalls lässt sich das Konzept der FAZ-Redakteure deuten – offenbar Vorbildcharakter zukam, und das deshalb als Leitmedium angesprochen werden kann.1 Dabei lässt sich diese Nachahmung insbesondere dann als Adaptation einer medialen Form ansprechen, wenn diese in neuer Umgebung neu kontextualisiert und funktionalisiert wird. Insofern hatte sich die sprachliche Performanz journalistischer Formen, so sah es das Webcam-Konzept der FAZ vor, an den formalästhetischen Qualitäten der adaptierten Kameratechnik zu orientieren: Die sprachlich repräsentierte Webcam-Aufzeichnung artikuliert formalästhetisch besondere Merkmale der Webcam-Bildlichkeit wie etwa die Statik des Blicks, ein Streaming der Bilder, eine zeitliche Angabe am Anfang und am Ende der Aufzeichnung sowie eine hohe Präzision und Dichte der Beschreibung. In diesem Sinne provoziert nun das Beispiel der FAZ-Webcam die These, dass Einzelmedien Präsenzverluste vor allem durch Formadaptationen bei neuen bzw. den jeweils avancierteren Medien zu kompensieren versuchen.2

1

Zur Diskursgeschichte des Computers als Medium vgl. zuletzt Rusch/Schanze/ Schwering: Theorien der Neuen Medien, S. 345-394.

2

Zur morphologischen Makroperspektive auf diesen Zusammenhang vgl. den Beitrag von Rainer Leschke in diesem Band.

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Ausgehend von solchen Beobachtungen an medialen Produkten und Prozessen (hier: der Zeitung und des Internets, respekive der Webcam) sollen im Folgenden mediensystemische Präsenzphänomene als gesellschaftliche Phänomene mediendynamischer Analyse zugänglich gemacht werden. Dazu sind z.B. formdynamische Mikro-Prozesse wie solche Adaptationen, Hybridisierungen oder Normalisierungen in eine Theorie der Mediendynamik zu integrieren und in ihren Interferenzen mit anderen mediendynamischen Prozessen darzustellen. Zugleich kann so auch die Frage nach den konstitutiven Eigenschaften von Leitmedien auf dem multiplexen Niveau von Mediensystemen, d.h. von Mediennutzungen in gesellschaftlichen Kontexten differenziert dargestellt werden. In einem solchen Rahmen kann nämlich – wie oben bereits geschehen – der Begriff der Präsenz fruchtbar gemacht werden, da er, wie zu zeigen sein wird, in hervorragender Weise geeignet ist, die Verhältnisse von Einzelmedien zueinander, d.h. in ihren mehrdimensionalen relationalen Eigenschaften zu beschreiben und mit einer Theorie der Mediendynamik zusammen zu führen. Zugleich ist der Präsenzbegriff als mediensystemisches Konzept jedoch in seiner Spannung zwischen medialen Formenrepertoires und sozialen Steuerungsinstanzen zu begreifen: ‚Präsenz‘ steht als mediensystemisches Konzept nicht einfach für ‚Anwesenheit‘ oder Evidenz, wie dies beispielsweise der gängige Begriff der Medienpräsenz nahelegt, um eine bestimmte Häufigkeit des Vorkommens von Personen, Themen oder Produkten in den Medien zu bezeichnen. Vielmehr markiert Präsenz als mediendynamisches Konzept hier weitaus komplexere Verhältnisse und Vorgänge. Entsprechend kommt es auch darauf an, den Präsenzbegriff in seiner ganzen Vielschichtigkeit auszuweisen.3 Dies wird im Weiteren zunächst durch die Einbeziehung der vor allem von philosophischer Seite vorgebrachten Kritik der Präsenz geschehen.

Präsenz als philosophisches Problem Im Allgemeinen bezeichnet ‚Präsenz‘ schlicht, dass etwas ‚da‘ ist: In einer Präsenzbibliothek sind die Bücher jederzeit vorrätig, eine Präsenzliste stellt Anwesenheit fest. Verfügbarkeit und Anwesenheit sind auch die Eckpunkte der Enzyklopädien, die, im 18. Jahrhundert in Angriff genommen, danach trachteten, die ‚Ordnung der Dinge‘ in einer Welt des Wissens objektiv präsent zu machen und zu halten, d.h. erstere in „eine (und nur eine) Grundstruktur der gesamten

3

Vgl. dazu zuletzt die Untersuchungen von Mersch: Was sich zeigt oder Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik.

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Welt der Dinge und ihrer Darstellung“ zu überführen.4 Spätestens zum Ende des 19. Jahrhunderts war dann die Frage nach der Präsenz keineswegs mehr so eindeutig zu beantworten. Wo die Aufklärer noch davon geträumt hatten, sich der Welt vergewissern zu können, ist nun – nicht zum ersten Mal, dafür aber nachhaltig – eine Skepsis am Werk, die sich bei einem der später einflussreichsten Autoren dieser Epoche wie folgt niederschlägt: Für Friedrich Nietzsche gibt es keine Präsenz mehr, jedenfalls keine, die irgendwie wirklich wäre. „Wir glauben“, schreibt Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, „etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge“.5 Sieht man also genau hin, kommt das Bezeichnete mit dem Bezeichnenden nie zur Deckung. Nietzsche weiter: „Wir theilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen Übertragungen!“6 Nicht nur, so die Konsequenz, steht das Wissen völlig ahnungslos vor den Dingen – es hat sie nicht präsent –, es kann sich nicht einmal einer Präsenz seiner selbst versichern, wenn es innerhalb eines „beweglichen Heer[s] von Metaphern“7 seinen Grund verliert, d.h. erkennen muss, dass „der Intellekt seine Hauptkräfte in der Verstellung [entfaltet].“8 Damit geht Nietzsche endgültig über Immanuel Kant hinaus. Denn konnte dieser noch hoffen, dass eine Präsenz, wenn schon nicht im ‚Ding an sich‘, so doch in den selbstbewussten Leistungen des Subjekts zu finden sei, erschüttert jener auch das noch. Dabei spielt für Nietzsche die Sprache eine zentrale Rolle. Es ist dieses Medium als Hort der Metaphern und Metonymien,9 das die Behauptung von Präsenz wenigstens zweifelhaft werden lässt.10 Von Präsenz kann demnach nicht länger die Rede sein, bis, so bringt Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos seine Sehnsucht auf den Punkt, die „Spra-

4

Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 54. Ferner: Die „Enzyklopädien wurden in der utopischen Erwartung zusammengestellt, eines Tages werde das Wissen über die Welt komplett sein und dieses komplettierte Wissen werde als Grundlage für die Schaffung neuer, den Bedürfnissen des Menschgeschlechts vollkommen angepasster sozialer und politischer Institutionen dienen.“ (Ebd., S. 52)

5

Nietzsche: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, S. 879.

6

Ebd., S. 878.

7

Ebd., S. 880.

8

Ebd., S. 876.

9

Vgl. ebd., S. 880. In diesem Sinne hatte sich schon Novalis gefragt, was denn „durch das Medium der Sprache wahr seyn“, also Präsenz beanspruchen kann (Novalis: Schriften, Bd. 2., S. 108).

10 Vgl. Kalb: Desintegration., S. 58ff.

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che, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen“ (wieder-)gefunden ist.11 Das jedoch erschien sowohl Nietzsche als auch Hofmannsthal – dessen Lord Chandos das Sprechen einer solchen Sprache ja auf den jüngsten Tag verschiebt – als schier unmögliches Unterfangen. Mehr noch: Da eine als Medium (und nicht als Instrument) aufgefasste Sprache Präsenz in Frage stellt, erweist sich die Veranschlagung von Präsenz als ein Trugschluss bzw. – mit Nietzsche – als jene Lüge, die zuletzt auf Verhältnisse der Willkür und Unterdrückung zielt. Insofern nämlich eine präsenzfixierte Nutzung von Sprache über deren Metaphorizität schweigt, weil sie die Metaphern „als die Dinge selbst [nimmt]“, d.h. sich letztere allein präsent macht, etabliert sich eine „Convention“, mit der die Sprachnutzer „schaarenweise in einem für alle verbindlichen Stile […] lügen.“12 Zugleich erwächst aus dieser Übereinkunft, ein „Ding als roth, ein anderes als kalt“ zu bezeichnen, der Zwang, hier jeden Nonkonformismus zumindest zu marginalisieren. Denn für Nietzsche führt diese Konvention unweigerlich dazu, eine „Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen“, welche der „anschaulichen Welt“ gegenübertritt, um sie zu schematisieren. Präsenz in diesem Sinne ist die Installation einer Wahrheit, die sich im Zuge ihrer doppelten Bewegung (Verleugnung der Lüge) zu dem Maß aufschwingt, auf das alles zurückgeht: Der Mensch, so Nietzsche, stellt jetzt sein Handeln als vernünftiges Wesen unter die Herrschaft der Abstractionen: er leidet es nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden. An die Stelle der vielfältigen Medialität eines Mediums als Kosmos vor allem der „Anschauungsmetapher[n]“13 tritt jetzt ein Räderwerk der Begriffe, d.h. der ‚erblassten Metaphern‘, als ideologische Konstruktion von Präsenz. Ähnlich sieht es Hofmannsthals Lord Chandos, wenn er sich angesichts des „Verhältnisspiel[s]“ der Begriffe „in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt“ wähnt.14 Präsenz meint demnach nicht einmal mehr eine Illusion, sondern nur noch ein Gefängnis zur Abschottung gegen das Außen und zur Disziplinierung nach/des Innen.

11 Hofmannsthal: „Ein Brief“, S. 54. Für eine diesbezüglich ausführliche Lektüre des ‚Chandos-Briefs‘ vgl. Rusch/Schanze/Schwering: Theorien der Neuen Medien, S. 173-178. 12 Nietzsche: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, S. 883 und 881 (alle folgenden Zitate ebd.). 13 Ebd., S. 882. 14 Hofmannsthal: „Ein Brief“, S. 50.

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Dies ist u.a. die Spur, in der Jacques Derrida in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts dazu ansetzt, „Präsenz“ als Annahme einer „Substanz/Essenz/ Existenz“, als Behauptung der Authentizität des „betrachteten Dinges“, als Vorstellung einer „Selbstpräsenz des cogito, Bewusstsein“ unter Generalverdacht zu stellen: „Der Logozentrismus“, so schreibt Derrida, fußt auf „der Bestimmung des Sein des Seienden als Präsenz“.15 Was steht damit auf dem Spiel? Wie gesagt, und wie bereits mit den obigen Zitaten angedeutet ist, schließt Derrida (und auch andere Vertreter des ‚Poststrukturalismus‘) an Nietzsche und dessen Kritik der Präsenz an, wenn er die Behauptung derselben an die Verkennung der Ursachen dieser Behauptung knüpft: Präsenz, lautet somit das Argument, ist nicht das, was einfach ‚da‘ ist, sondern das, was allererst zu einem ‚Da‘ gemacht wird, und was darin diverse Probleme aufwirft bzw. versucht, gerade diese Probleme zu verschleiern. Das Exempel, an dem Derrida dies ausbuchstabiert, bezieht sich wiederum auf die Sprache, d.h. die Schrift.16 Schrift, akzentuiert Derrida, ist innerhalb der philosophischen Tradition des Abendlandes ein vor allem misstrauisch beäugtes Medium, da sie der Entzug von Präsenz auszeichnet (vgl. etwa Platons Schriftkritik). Dagegen steht die Mündlichkeit für Anwesenheit, was für Derrida gleichzeitig heißt, dass die Hochschätzung der Stimme in der abendländischen Kultur das Symptom einer Privilegierung des Logos als Denken von dessen primärer Anwesenheit in dieser Kultur ist: Das in diesem Sinne ‚logozentrische‘ Weltbild unterliegt einer Metaphysik der Präsenz, wenn es mit der Stimme zugleich die ‚Substanz‘, das cogito u.ä. zum Maßstab erhebt. Hier lässt sich nun einwenden, dass ein solches Präsenzdenken immer schon (siehe Nietzsche) einen Entzug von Präsenz impliziert. In der Spur der Schrift, argumentiert Derrida darüber hinaus, werden diese Zusammenhänge nun offensichtlich, da sich in ihr sowohl der Entzug als auch der Versuch, den Entzug zu kompensieren andeuten, d.h. die Grenzziehungen des Logozentrismus ins Zwielicht geraten. Insofern Schrift zuvorderst als nachträgliche Fixierung des gesprochenen Worts, als dessen ‚Supplement‘, konzipiert wird, zeigt sich die Abschottung des logozentrischen Präsenzdenkens gegen Anderes und wird gleichzeitig durch dieses unterlaufen. Somit gilt es, die Wertschätzung von Präsenz zunächst als eine „Tilgung der Spur, das heißt einer originären différance, die weder Absenz noch Präsenz [ist]“17 aufzufassen. Präsenz wird damit nicht als eindeutiger Fixpunkt, sondern als in der Bewegung von Präsenz und Absenz Entstehendes sowie durch diese Bewegung gefährdetes Konstrukt deutlich. 15 Derrida: Grammatologie, S. 26. 16 Vgl. im Folgenden auch Mersch: Was sich zeigt, S. 109-111. 17 Derrida: Grammatologie, S. 286.

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Reflektieren wir auf diese Weise die Veranschlagungen und Kritiken des Präsenzbegriffs, wird klar, dass der Gebrauch dieses Begriffs nicht unproblematisch ist.18 Nichtsdestoweniger haben die philosophischen Interventionen gegen und Dekonstruktionen von Präsenz der alltäglichen Verwendung des Begriffs nicht geschadet. Wir sprechen auch weiter von einer Präsenzbibliothek, da wir erwarten, dass die dort eingelagerten Bücher vorrätig sind, und füllen ebenso weiter Anwesenheitslisten aus, um unsere Präsenz bei einer Veranstaltung zu dokumentieren. Dennoch: Will man nicht dem schlichten Phantasma einer sich bruchlos und von selbst aufdrängenden Präsenz/Empirie aufsitzen, kommt man um die Argumente der genannten Autoren nicht herum. Präsenz – das kann demnach und zudem, dies ist diesen Texten ebenfalls zu entnehmen, im Kontext einer Medienanalyse19 nur hinsichtlich einer vielschichtigen, inneren und äußeren Gemengelage aus sich wechselseitig beeinflussenden, überlappenden, ver- und einschränkenden Bahnen und Formaten gedacht werden.

Leitmedium: Erste Überlegungen (Jürgen Wilke) Eine der wenigen Einlassungen zur Leitmedien-Thematik wird von Jürgen Wilke für die Publizistikwissenschaften formuliert.20 Doch obwohl er sich dabei auf die Beobachtung eines stark erweiterten Medienangebots seit den 1950er Jahren stützt, in dem sowohl das Radio als auch das Fernsehen das leitmediale Monopol der Presse nachhaltig in Mitleidenschaft ziehen, geraten in Wilkes Zugriff Medienkonstellationen, und also auch die Frage nach Leitmedien-Konkurrenzen, nicht systematisch in den Blick: So ist an anderen Stellen des vorliegenden Bandes [i.e. Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland] davon die Rede, in der Bundesrepublik Deutschland sei das Fernsehen im Zuge seiner Ausbreitung in den sechziger Jahren zu einem Leitmedium geworden bzw. die Presse und auch das Radio hätten ihre Leitfunktion an dieses neue Medium abge-

18 Gumbrecht spricht sogar von einer „in den geisteswissenschaftlichen Fächern systematisch geübte[n] Einklammerung von Präsenz“ und macht nun im Gegenzug die Tendenz stark, „ein gewisses Verlangen nach Präsenz wiederzuerwecken.“ (Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 12) 19 Es ist ja gerade das Verdienst der hier aufgerufenen Autoren von Nietzsche bis Derrida, dass sie für die Sprache nicht von deren Zuhandenheit, sondern ihrer komplexen Medialität ausgehen. Vgl. auch Jäger: „Die Sprachvergessenheit der Medientheorie“, S. 9-30. 20 Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“.

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geben. Andererseits werden aber auch einzelne publizistische Organe der Presse als Leitmedien bezeichnet. Und um solche soll es auch in diesem Beitrag gehen.21 Es bleibt in Wilkes Studie also bei explizit einzelmedienspezifischen Befunden. Zudem wendet sich Wilke gegen die Reduzierung allein auf Reichweiten-Verhältnisse, wenn er anmerkt: Ein Leitmedium besitzt eine starke Verbreitung bzw. Reichweite; […]. Dieses Merkmal ist zwar durchaus von Belang, für sich genommen aber für ein Leitmedium nicht zwingend.22 Entsprechend setzt Wilke jetzt für seine Definition von Leitmedien auf zusätzliche, vor allem inhaltliche Merkmale, also z.B. Exklusivität und Qualitätsstandards; ein Leitmedium ist für ihn etwa dadurch gekennzeichnet, dass „es vor allem in der gesellschaftlichen Führungsschicht, von Entscheidungsträgern und Angehörigen der Elite genutzt wird.“23 Oder: Leitmedium kann […] ein Qualitätsbegriff sein, der auf Exklusivität, auf besonderen journalistischen Leistungen sowie namhaften Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gründet.24 In dieser Hinsicht gehört zu einem Leitmedium „eine bestimmte publizistische Intention“25, die sich in den ‚Zielgruppenorganen‘ des Pressesystems artikuliert. Bemerkenswerterweise geraten Wilke mit der Vorstellung von ‚Zielgruppenorganen‘ Leitmedienkonstellationen und somit Präsenzverhältnisse in den Blick. Allerdings geschieht dies nur zum Zwecke der Binnendifferenzierung des Pressemarktes. Die mediensystemische – und damit auch die mediendynamische – Relevanz der Leitmedienfrage wird dadurch, wie gesagt, kaum berührt. Indem eine Theorie der Mediendynamik Wilkes Beobachtungen nun sozusagen von innen nach außen stülpt, setzt sie Binnendifferenzen nicht auf dem Niveau von Einzelmedien und entsprechenden Zielgruppenorganen an, sondern differenziert auch auf den Meso- und Makro-Niveaus von Mediensystemen: In diesem Sinne wären Wilkes Reflexionen zu den Binnenkonstellatio-

21 Ebd., S. 303 22 Ebd., S. 302. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 303. 25 Ebd.

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nen und -konkurrenzen der Presse als Leitmedium an solche weiteren systemischen Kontexte und Dynamiken anzuschließen.

Präsenz als mediendynamischer Begriff Nach diesen Vorüberlegungen soll nun zunächst Präsenz als mediendynamischer Terminus in Anschlag gebracht werden. Dazu ist vorauszuschicken, dass Präsenz zunächst generell eine Eigenschaft, unter anderem auch eine Eigenschaft von Medien ist. Was folgt daraus? Es macht zunächst eine Voraussetzung deutlich, nämlich die, dass die Eigenschaft der Präsenz – wie anderen Eigenschaften auch – an gewisse Umstände oder Bedingungen geknüpft ist. Nur wenn entsprechende Bedingungen hinreichend gegeben oder erfüllt sind, erkennen wir z.B. gewissen Dingen, Personen oder Ereignissen eine Eigenschaft zu. Damit stellt sich nun für die Eigenschaft der Präsenz die Frage nach eben diesen Bedingungen. Und für das Konzept der Leitmedien erweisen sich diese Überlegungen weiterführend dann als hilfreich, wenn Leitmedialität durch Präsenzen und Präsenzverhältnisse erklärt und vielleicht sogar gemessen werden kann. Betrachten wir aus dieser Sicht die Präsenz von Medien, so wird deutlich, dass es dabei um ein ganzes Bündel von Eigenschaften oder um eine mehrdimensionale, komplexe Eigenschaft geht. Woraus leitet sich diese Komplexität nun ab? Dazu können wir zunächst mit Wilke festhalten, dass der bloße Blick auf Reichweitenstatistiken die spezifische Präsenz eines Leitmediums oder die von mehreren Leitmedien nicht erklärt. Es müssen weitere Faktoren hinzukommen, d.h. in die Beobachtung und Analyse einbezogen werden. In diesem Sinne möchten wir jetzt auf einen Vorschlag zurückkommen, den Gebhard Rusch in einer ersten Annährung an die Problematik der Medienpräsenz wie folgt formuliert: „Präsenz bezeichnet hier ein Konstrukt aus Reichweite, Medienwissen, öffentlicher und subjektiver Aufmerksamkeit.“26 Was heißt das genau? Schauen wir uns die gerade genannten Begriffe näher an, dann bezeichnet Reichweite den Wert auf einer Skala, mit der sich Präsenzverhältnisse als Relationen der Verbreitung und Zuwendung abtragen lassen. Dabei ist zugleich gesagt, dass solche Verhältnisse sich wesentlich aus dem Verhalten der Mediennutzer ableiten. Deren Akzeptanz und Zuwendung trägt zur Präsenz eines Mediums, eines Themas, eines Stars etc. bei: Welches Produkt also Präsenz hat/ präsent ist, entscheiden nicht zuerst und nicht allein dessen Anbieter. Damit kommt der subjektiven Aufmerksamkeit der Rezipienten eine hohe Bedeutung zu. Gelingt es, die Aufmerksamkeit der Mitglieder des Publikums 26 Rusch: „Mediendynamik“, S. 80.

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durch welche Attraktoren auch immer nicht nur zu erregen, sondern zu binden, d.h. auf der Basis von involvement relativ stabile Interessenlagen oder Betroffenheiten bei den Nutzern zu bedienen, zu erzeugen und aufrecht zu erhalten, ist die Produktion von Präsenz bereits in vollem Gange. Außerdem ist dabei zugleich dem Medienwissen der Nutzer Rechnung zu tragen, das die Sensitivität für Medienangebote und z.T. auch die Nutzungsmodalitäten regelt. So unterscheiden die Nutzer z.B. zwischen bestimmten Genres, mit denen sie wiederum bestimmte Erwartungen verbinden, und sie bringen individuelle Nutzungsstile zur Anwendung. Doch folgt die subjektive Aufmerksamkeit nicht bloß den eigenen Prämissen, sondern gleichfalls der öffentlichen bzw. veröffentlichten Aufmerksamkeit: Das mediale Umfeld trägt durch sein Agenda-Setting ebenso zur Entwicklung der Präsenz von Themen, Sachverhalten und Dingen bei – auf der Tagesordnung stehen niemals beliebig viele Alternativen. In der Präsenzproduktion für Themen und Issues, Köpfe und Karrieren, Produkte und Hersteller zeigen PR, Werbung und Publikumsmedien eine ihrer bedeutendsten gesellschaftspolitischen Funktionen. Aber die Herstellung von Präsenzverhältnissen ist nicht nur für die präsent gemachten Personen oder Dinge folgenreich, sondern auch für die Mittel, die Medien der Präsenzproduktion selbst. In dieser Hinsicht ergibt sich ein erster Fokus der Beobachtung, dessen Teile allerdings nur analytisch scharf zu trennen sind. Von den genannten Faktoren der Präsenzproduktion – Reichweite, subjektive Aufmerksamkeit, Medienwissen und Agenda-Setting – kann weder ein einzelner Faktor herausragende Bedeutung beanspruchen, noch sind die Faktoren im Sinne ihrer bloßen Addition aufeinander bezogen. Vielmehr sind sie miteinander verschränkt und erst aus ihrem mediendynamischen Zusammenspiel emergiert Präsenz. Zugleich eröffnen die bereits benannten Faktoren weitere Horizonte: Die Frage nach dem Faktor der subjektiven Aufmerksamkeit provoziert etwa die nach dem Ort und der Herkunft der Mediennutzer; hier sind Habitus, Präferenzen und Prägungen sozialer Gruppen/Milieus (milieuspezifische Leitmedien) in Rechnung zu stellen. Die Frage nach dem Medienwissen betrifft auch dessen Tiefe, Umfang und Art; hier machen Bildungsvoraussetzungen, Berufstätigkeiten, und Freizeitinteressen ihren Einfluss auf die Präsenzproduktion geltend. Bestimmte Fachzeitschriften und Fach-Web-Portale gelten längst als branchenspezifische Leitmedien und selbst die TV-Unterhaltungsbranche kennt ihre Leitmedien z.B. in Gestalt der großen Samstagabend-Shows, der Krimi-Reihen und Comedy-Shows. Die Frage schließlich nach der öffentlichen Aufmerksamkeit (agenda setting) verweist auf die Verteilung der Definitionsmacht und des symbolischen Kapitals in der Gesellschaft. Hier relativieren die neuen Web 2.0-Medien sehr

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nachhaltig die klassische Angebots- und Nutzungsstruktur. Präsenz kann jenseits und abseits der klassischen Selektions- und Aufmerksamkeitsmuster durch Positionierung, Ranking und Verlinkung als Netzeffekt induziert werden. Es bedarf dazu nicht einmal einer Prophezeihung – und schon gar keiner Selbsterfüllung. So lebt im Web die schon vom TV bekannte Präsenz der Negativität dadurch fort, dass man erst sehen muss, was man ablehnt. Weiterhin sollten auch – wie oben angedeutet – die von Wilke bereits angesprochenen Faktoren der Qualität und Exklusivität berücksichtigt werden; während Qualität auf Leistungsparameter von der Papierqualität einer Zeitung bis zur journalistischen Qualität von Artikeln abgebildet werden kann, setzt Exklusivität auf den Faktor Knappheit, sogar Einzigartigkeit oder Einmaligkeit. Und während über Qualität wiederum entlang sozialer und professionaler Grenzen und Präferenzen trefflich diskutiert werden kann, produziert Exklusivität nur dann (und dadurch) Präsenz, wenn (und dass) sie Nachrichtenwert hat. Nachrichtenfaktoren erweisen sich in diesem Sinne zugleich als Präsenzfaktoren. Schließlich und endlich müssen wir erkennen, dass außerdem Regulationsfunktionen aus Politik, Ökonomie und Kultur das Zustandekommen von Präsenz beeinflussen und diesem ganzen Prozess eine bestimmte Richtung geben: Gesetze und Preise, ästhetische, ethische, Kommunikations- und InteraktionsKonventionen regulieren Wert- und Geschmacksurteile, Einstellungen und Handlungsspielräume. Indem solche Regulationen auf die subjektive Aufmerksamkeit und das Medienwissen der Rezipienten einwirken, verändern sich auch Akzeptanzbedingungen und Relevanz-Einschätzungen. Legt man das Konzept der Präsenz derart mehrdimensional an, ist entlang der einzelnen unterschiedenen Faktoren auch dessen Skalierbarkeit gegeben, z.B. von latent/gering bis virulent/hoch. In bestimmten Momenten kann dies sogar in jene ‚Überpräsenz‘ kippen, mit der (siehe etwa die ‚New Economy‘Blase) die Präsenzproduktion ihre (hier: die ökonomische und technische) Basis verliert und darin schockartig kollabiert. Insgesamt erweist sich Präsenz als mediendynamischer Begriff nunmehr als eine systemisch emergente, mehrdimensionale Eigenschaft, die sich in kognitiver und sozial-strukturativer sowie in kultureller, ökonomischer, technologischer und politischer Hinsicht differenziert erschließen lässt. In Hinsicht auf die Frage nach Leitmedien oder einem Leitmedium sind daraus im Wesentlichen die folgenden Faktoren und Indikatoren für Leitmedialität abzuleiten. -

Der Reichweitenfaktor kennzeichnet ein Medium in seiner Attraktivität und Akzeptanz bei den Nutzern: Als Leitmedium müsste ein Medium eine gewisse Mindestreichweite im jeweils relevanten Publikumssegment aufweisen. Für gesamtgesellschaftliche Medienangebote wird man hier min-

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destens das Erreichen der Massenphase (im Diffusionsprozess und Produktlebenszyklus) ansetzen müssen. Dies ist in etwa der Zeitpunkt, von dem ab der Reichweitenzuwachs exponentiell wird. Die Schwelle zur Massenphase ist auch der Punkt, von dem an die Bekanntheit des Angebots sozial allgemein unterstellt wird. -

Der Prominenzfaktor markiert entsprechend die Informationsdichte um/ über ein Medium. In diesem Sinne kann ein Medium als Leitmedium immer dann angesprochen werden, wenn Wissen von/über dieses Medium flächendeckende Präsenz erreicht hat (jede/jeder kennt mindestens eine Person, die X nutzt).

-

Der Faktor der subjektiven Aufmerksamkeit indiziert die Intensität der Zuwendung/Nutzung, die ein Medium bei Einzelpersonen erfährt. Demnach zeichnet sich ein Leitmedium durch ein besonders hohes Maß an Zuwendung, also intensive Nutzung aus; viele Einzelne sind bereit, in ein Medium zu investieren, d.h. sich intensiv um Informationen darüber zu bemühen, dessen Anschaffung zu planen bzw. es zu nutzen – kurz gesagt: dieses Medium für sich präsent zu haben. Solche Absichten, Einstellungen und Bindungen werden im Rahmen der Mediennutzungsforschung für die klassischen Medien seit Jahrzehnten erhoben.

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Für den Faktor der öffentlichen Aufmerksamkeit ist anzusetzen, dass ein Leitmedium über breite Medien-coverage verfügen muss, d.h. es findet ein weites Echo in anderen Medien. Diese beginnen, eingehend über dessen Vorhandensein zu informieren, es zu analysieren, zu problematisieren oder sogar zu kopieren (siehe FAZ-Webcam). Gerade Letzteres spricht dann für eine gewisse Paradigmatizität von Leitmedien, insofern diese andere Medien veranlassen, das eigene Formrepertoire zu überprüfen bzw. das eines anderen Mediums neu zu funktionalisieren. So können Formadaptationen unter Umständen als Indikatoren für Leitmedialität gelten. Um dies nun weiter zu präzisieren, ist auf das oben eingeführte Beispiel der ‚Webcam-Kolumnen‘ zurückzukommen und dabei der Begriff der Präsenz formdynamisch zu spezifizieren.

(Form-)Präsenz als Indikator für Leitmedien-Dynamiken Eingangs wurde die These formuliert, dass Einzelmedien Präsenzverluste vor allem durch Formadaptationen bei neuen bzw. den jeweils avancierteren Medien zu kompensieren versuchen. Gerade im Pressesystem lassen sich derartige Kompensationsversuche beobachten, seien es Formen des Edu- und Infotainments, der Boulevardisierung oder etwa – im Fall der Berliner Seiten der

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FAZ – die über 700 ‚Webcam-Kolummen‘. Die von Webcams aufgezeichneten und in private oder öffentliche Homepages eingebetteten Bilder sind seit einigen Jahren hinlänglich bekannt. Der Journalismus adaptiert die formalästhetischen Qualitäten dieser Bildlichkeit für seine eigenen Belange. Dabei geht es um die Problematisierung des Verhältnisses zwischen medialen Formen und ihrer Nutzungen. Die Frage nach Leitmedien-Dynamiken hängt auch davon ab, wer bzw. was in dieser Angelegenheit agens und patiens ist. Mediale Formen lassen sich als ‚Bausteine‘ von Medieninhalten verstehen. Die ‚Exposition‘ etwa ist als Bauelement vornehmlich narrativer Medieninhalte zu begreifen. Wenn mediale Formen, wie oben angedeutet, von einem Medium ins andere migrieren27, sind Anpassungsleistungen im Hinblick auf die neuen medialen Kontexte zu erbringen. Folgend wird dies ‚Adaptation‘ genannt. Adaptationsprozesse lassen sich auf dem Mikroniveau der Theorie der Mediendynamik beschreiben. Im Sinne von Formdynamiken geht es im Folgenden also darum, die Mediennutzungspraktiken medialer Formen und ihre sozialen Kontexte näher zu beleuchten. Es wird im Weiteren davon ausgegangen, dass die Kategorie der medialen Form ohne die der Mediennutzung nicht denkbar ist. Formpräsenz, die als Indikator für Leitmedialität und Leitmediendynamiken dienen kann, realisiert sich erst in der produktiven und rezeptiven Zuwendung in entsprechenden Nutzungskontexten. Die für die Berliner Seiten der FAZ entwickelte Form der ‚Webcam‘ zeichnet der Klappentext der Buchausgabe dieser Kolumnen wie folgt aus: Die sprachliche Webcam „hielt das Gesehene fest. Weder kommentierte sie, noch beurteilte sie. Aus der Präzision bezog sie ihren Charme.“28 Daraus ergab sich nun der Auftritt und das Profil der Texte: Jede statische Observation, welche die journalistische Webcam aufzeichnete, war durch eine exakte Orts- und Zeitangabe am Beginn des Textes einzuleiten, bevor dann der Fließtext mit dem visuellen streaming einer elektronischen Webcam analogisiert wurde. Jede Beobachtung endete erneut mit einer exakten Zeitangabe. Der damit angestrebte Effekt dieser Adaptation, so ist jetzt zu vermuten, sollte der folgende sein: Nicht der subjektive Blick des Journalisten als Interpret des Gesehenen determiniert hier die Form, sondern der technisierte, (vermeintlich) wertfreie und neutral aufzeichnende Blick einer Medientechnologie wird in den ‚Webcam-Kolumnen‘ simuliert. Folglich tritt der Journalist, der – zumindest im Feuilleton – als ‚Flaneur‘ zunächst vor allem durch Mobilität und nicht durch die ortsgebundene Statik der Webcam gekennzeichnet ist, hinter diese und damit hinter das technische Medium zurück. Während sich 27 Zu den mediensystemischen Vernetzungleistungen, die durch die Migration medialer Formen erbracht werden, vgl. den Beitrag von Rainer Leschke in diesem Band. 28 Flamm/Hanika: Berlin im Licht, Klappentext.

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der ‚Flaneur‘ mit und in den sozialen Massen bewegt, insofern er sie beobachtet, um an ihrem Tun kritisch beobachtend teilzunehmen, d.h. sie mithilfe der zeitgenössisch gültigen Deutungsschemata zu interpretieren, stellt die als neutral ausgestellte, sprachlich registrierende ‚Webcam-Beobachtung‘ dazu die größtmögliche Distanz her. Mit dem Wechsel vom ‚Flaneur‘ zur ‚Webcam‘ wird also die Differenz zwischen interpretativen, eher hermeneutischen Originalitätsidealen genügenden Formen und informativen, eher publizistischen Objektivitätsidealen folgenden Formen aufgerufen. Und damit wäre auf die möglichen Nutzungsmodalitäten dieser in einen neuen Kontext versetzten Form abzuheben. Es verhält sich nämlich so, dass die sprachliche Webcam im neuen Medienkontext an ganz andere Mediennutzungspraktiken anzuknüpfen hat, als das bei der bildlichen Webcam im alten Medienkontext der Fall ist.29 So stehen die kulturellen Formen der Zeitungsnutzung mit verschiedenen Ressorts und Rubriken und daher auch mit verschiedenen journalistischen Formaten in Verbindung. Auch wenn die Zeitung überwiegend ein Informationsmedium ist, das durch Formen wie Bericht und Meldung konstituiert ist, so ist sie auch durch Formen wie dem Fortsetzungsroman als Unterhaltungsmedium oder durch räsonierende Formen wie dem Feuilleton als (populäres) Bildungsmedium gekennzeichnet. Mit dem Metropolen-Feuilleton reagieren die Berliner Seiten nun jedoch auf gewandelte Nutzungsmuster, die bisher vor allem mit dem zeitgenössischen Film und weniger mit dem klassischen Feuilleton assoziiert sind. Welche formalästhetischen Qualitäten die Bildlichkeit einer Webcam ausmachen, ist inzwischen weitestgehend bekannt. Unzählige Webcams sind auf privaten Monitoren installiert. Ihre Bilder sind in private Homepages eingebettet oder bebildern das Telefonat mit Verwandten in Übersee. Webcams lassen sich auch im öffentlichen Raum lokalisieren. Sie informieren über das Wetter am Urlaubsort, über die Stausituation auf dem Weg zur Arbeit oder über die Gefahrenlage auf Bahnhöfen. Ihre formalästhetischen Qualitäten sind jedoch immer dieselben und stellen die Bildlichkeit der Webcam als formstiftend aus: exakte Orts- und Zeitangabe, eine dauernde Folge von Einzelbildern oder live streaming, Statik des Blicks. In den ‚Webcam-Kolumnen‘ werden diese Qualitäten sprachlich an das Pressemedium bzw. an das Berliner Metropolenfeuilleton adaptiert. Die adaptierte Form ist zwar als Form stabil, in Hinsicht auf die mediale Oberfläche hingegen ist sie außerordentlich anpassungsfähig.30 Eine solche funktionale Einpassung in feuilletonistische Produktions- und Rezeptionskontexte ist nun

29 Zur Mediengeschichte privater Webcams vgl.: Regener: „Upload“. 30 Vgl.: Leschke: „Mediale Formen zwischen Intermedialität und Vernetzung“.

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im Fall des Feuilletons der Jahrtausendwende ein durchaus riskantes Spiel mit Mediennutzungspraktiken. Das Feuilleton changiert historisch immer schon zwischen Journalismus und Literatur. Allerdings waren entsprechende Formen bisher überwiegend sicher auszumachen. Mit den ‚Webcam-Kolumnen‘ verhält sich dies anders. Denn ob sich Rezipienten diesen Kolumnen als neutralen Aufzeichnungen im Sinne journalistischer Faktizität zuwenden oder ob sie diese als subjektive Erzählung im Sinne journalistischer Fiktionalität auffassen, liegt ganz in deren Zuwendungsweise und in den Nutzungsmodalitäten begründet. Die ‚Webcam-Kolumnen‘ lassen dies in bemerkenswerter Weise offen. Rezipienten der Zeitungs-Webcam können sich insofern an eher literarischen oder an eher journalistischen Genremerkmalen orientieren und möglicherweise entsprechende Gratifikationserwartungen befriedigen. Ausgehend allein von der sprachlichen Form der Webcam sind also erst einmal beide Nutzungsmodalitäten plausibel. Das Feuilleton der späten 1990er Jahre, insbesondere die Berliner Seiten, zeichnet sich jedoch zunehmend durch Ironisierung aus.31 Und in diesem Sinne werden auch die formalästhetischen Qualitäten der Bildlichkeit einer Webcam adaptiert, sodass ein ironischer Bruch mit den klassischen Nutzungsmustern auch hier zu erwarten ist. Indem die Leser nun das zeitgenössische Spiel mit journalistisch-literarischen Mischformen mitspielen, manifestiert sich auch eine entsprechende Mediennutzungspraktik: die spielerische Rezeption. Weder verbleibt die ‚Webcam-Kolumne‘ – mit dem überwiegenden Teil des Feuilletons – ein literarischer Bezirk in der Zeitung, noch haben wir es – gegen den überwiegenden Teil des Feuilletons – mit einer nachrichtlichen Enklave innerhalb des literarischen Bezirks der Zeitung zu tun. Die zeitgenössische Adjustierung der feuilletonistischen Formsprache, die in den ‚Webcam-Kolumnen‘ zum Ausdruck kommt, orientiert sich weniger an journalistischen oder literarischen Genreschemata, als vielmehr an solchen des Spiels.32 Derjenige Teilbereich des Wissens von Rezipienten, der darin angesprochen wird, ist der des Könnens. Daher orientieren sich diejenigen Rezipienten adäquat an dem gewandelten Genreschema des Feuilletons, die nach dem Könnerschafts-Modell nach Gratifikationen suchen.33 Man sieht: Die ästhetische Prozessualität der Mediennutzung – als Zuwendung im Kontext – wird so nicht nur zum Nukleus unseres Präsenzbe31 Todorov: „Ironie in der Tagespresse“. 32 Zum zeitgenössichen Paradigma des Spiels und spielerischer Formlogiken vgl.: Leschke: „Die Spiele massenmedialen Erzählens“; Venus: „Zwischen spielendem Interpretieren und interpretierenden Spiel“. 33 Diese Verfassung des Feuilletons erinnert an Hesses Verständnis des feuilletonistischen Zeitalters als Glasperlenspiel.

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griffs, sondern auch zum Nukleus von Formpräsenz. Aisthesis als Wahrnehmung von Form ist daher immer auch eine Funktion der Nutzungen als Praktiken. Welche Nutzungspraktiken nun die ‚Webcam-Kolumnen‘ aufrufen, hängt ab von soziodemographischen und psychographischen Strukturmerkmalen von Rezipientengruppen und entsprechenden Gratifikationserwartungen an das Feuilleton als Genre. Eher literarisch sozialisierte Zeitungsleser wenden sich der sprachlichen Webcam zu, weil sie sich unterhalten lassen wollen. Die formalästhetischen Qualitäten der Webcam werden kognitiv als Erzählstil verbucht. Faktizitätsorientierte Leserschichten nutzen die Kolummen als nachrichtliche Enklave innerhalb des Feuilletons. Die formalästhetischen Qualitäten werden kognitiv als Faktizität der Erzählung, d.h. als Bericht verbucht. Im Fall der spielerischen Rezeption werden dieselben formalästhetischen Qualitäten kognitiv als Hybridität der Erzählung verarbeitet, so dass entsprechende Gratifikationserwartungen am ehesten durch die ludischen Momente der Erzählung bedient werden. In Abhängigkeit der skizzierten Mediennutzungspraktiken und Gratifikationserwartungen, kulturellen Nutzungsmustern und sozialen Nutzungssettings kann nun auch die Rede von Formpräsenzen genauer bestimmt werden. Formpräsenz realisiert sich nur in der Zuwendung zu den ‚WebcamKolumnen‘ durch spezifische Mediennutzungspraktiken. Formpräsenz, so wurde oben vermutet, könnte in der Theorie der Mediendynamik als Indikator für Leitmediendynamiken dienen. Allein die sprachliche Adaptation der Bildlichkeit technischer Webcams innerhalb feuilletonistischer Kontexte legt dies nahe. Und so erscheint das WWW – und damit pars pro toto die Webcam – als Kandidat für ein neues Leitmedium. Formadaptationen der Zeitung an das WWW und möglicherweise an andere Medien untermauern dies. Jedoch rechnet die bloße Adaptationslogik medialer Formen nicht mit der Koexistenz verschiedener Nutzungspraktiken. Daraus leiten wir nun unser Plädoyer ab: Leitmedialität verlangt Zuwendung im Kontext. Für die Leser der ‚Webcam-Kolumnen‘ kann daher die fiktionale Literatur, die faktuale Presse oder das ludische Feuilleton jeweiliges Leitmedium sein. Über diesen exemplarischen Fall hinaus wird deutlich: Die Frage nach Leitmedien ist durchaus eine Frage der Normativität. Und so setzt sämtliche Normativität der Leitmediendebatte auf der hier skizzierten Grundprozessualität der Mediennutzung auf. So kann Hürriyet Leitmedium der deutschen Türken sein und so kann Jürgen Habermas – und auch Jürgen Wilke – immer wieder die Presse als Leitmedium favorisieren. Über die massenhafte Migration populärer medialer Formen und über ihre mediensystemischen Transformationslogiken hinaus sind Formdynamiken in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet zu sehen. Dazu wäre auch noch über die Resonanz medialer Formen mit kognitiven und sozial-

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strukturativen Prozessen hinaus zu gehen. Formpräsenz manifestiert sich in kontextabhängiger Mediennutzung. Indem Formdynamiken dadurch an konkrete Kontexte gekoppelt sind, werden über die engere Prozessualität von Aistheis und Nutzung hinaus mediensystemische Zusammenhänge aufgerufen. Formpräsenz ist daher nie allein eine Angelegenheit nutzungsendogener Prozesse, sondern stellt sich über die Kopplung mit mediendynamischen MakroProzessen – wie etwa der Technisierung, Ökonomisierung und Politisierung – als ebenso abhängig von exogenen Faktoren dar.

Fazit Leitmedialität ist eine komplexe Eigenschaft. Sie verlangt wesentlich nach einer gewissen Präsenz von Medien, sowohl in quantitativer (Reichweite, Marktanteil) als auch in qualitativer Hinsicht (subjektive und öffentliche Aufmerksamkeit, Prominenz, Paradigmatizität, Qualität). Leitmedialität ist eine relative Eigenschaft. Nicht nur sind die Schwellen der für Leitmedien nötigen Präsenz relativ. Es hängt auch von mediensystemischen, also medienästhetischen, medientechnischen, medienökonomischen, medienpolitischen und mediensoziologischen Bedingungen und Voraussetzungen ab, für welche Publika welche Medien, welche Formate und Angebote Präsenz haben. Leitmedialität ist deshalb auch historisch relativ, wie das Beispiel der FAZ-Webcam zeigt, wo ein ‚neues‘ Medium paradigmatisch für ein ‚altes‘ Medium wird. Während Präsenz als notwendige Bedingung für Leitmedialität gelten kann, ist hinreichend schließlich nur die empirisch bestimmbare ReferenzPräferenz, also die faktische Orientierungsleistung, für die ein Medium in der Bewertung, Beurteilung, und Wertschätzung von anderen Medien in Anspruch genommen wird. Ein Leitmedium ‚leitet‘ Wahrnehmung, Urteil und Handeln in Bezug auf andere Medien in einer Weise, die über die Art und Weise interund transmedialer Bezugnahmen und über Präferenzentscheidungen beobachtet werden kann. Leitmedialität ist in einem doppelten Sinne normativ. Einerseits reflektiert und deskribiert sie als empirischer Befund normative Muster von Publika und Nutzergruppen. Andererseits wird sie als medienpolitisches Konzept im ‚Clash‘ alter und neuer Medien in Stellung gebracht.

Literaturverzeichnis Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983.

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Flamm, Stefanie/Hanika, Iris (Hrsg.): Berlin im Licht, Frankfurt a.M. 2004. Hofmannsthal, Hugo von: „Ein Brief“, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Ellen Ritter, Bd. 31, Frankfurt a.M. 1991, S. 45-55. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004. Jäger, Ludwig: „Die Sprachvergessenheit der Medientheorie. Ein Plädoyer für das Medium Sprache.“ In: Kallmeyer, Werner (Hrsg.): Sprache und neue Medien, Berlin/New York 2000, S. 9-30. Kalb, Christof: Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie, Frankfurt a.M. 2000. Leschke, Rainer: „Die Spiele massenmedialen Erzählens, oder Warum Lola rennt, Schiller zuschaut und Kant die Angelegenheit immer schon begriffen hat“ (http://www. medienmorphologie.de, 23.09.2008.) Leschke, Rainer: „Mediale Formen zwischen Intermedialität und Vernetzung“ (http://www. medienmorphologie.de, 23.09.2008). Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002. Nietzsche, Friedrich: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, München 1999, S. 873-890. Novalis: Schriften, Bd. 2, hrsg. von Richard Samuel u.a., 3. Aufl., Stuttgart 1981. Regener, Susanne: „Upload – über private Webcams“, in: Chi, Immanuel/ Düchting, Susanne/Schröter, Jens (Hrsg.): Ephemer –Temporär – Provisorisch. Aspekte von Zeit und Zeitlichkeit in Medien, Kunst und Design, Essen 2002, S. 140-155. Rusch, Gebhard/Schanze, Helmut/Schwering, Gregor: Theorien der Neuen Medien. Kino – Radio – Fernsehen – Computer, Paderborn 2007. Rusch, Gebhard: „Mediendynamik. Explorationen zur Theorie des Medienwandels“, in: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften, Jg. 7, H. 1, 2007, S. 13-94. Todorov, Almut: „Ironie in der Tagespresse“, in: Publizistik, Jg. 43, H. 1, 1998, S. 55-75. Venus, Jochen: „Zwischen spielendem Interpretieren und interpretierendem Spiel“, in: Game Face, H. 19, 2006. Wilke, Jürgen: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, in ders. (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999, S. 302-329.

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Gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Koorientierung. Die Leitmedien der modernen Gesellschaft Die öffentliche Kommunikation entfaltet „für die Meinungs- und Willensbildung der Bürger eine stimulierende und zugleich orientierende Kraft, während sie das politische System gleichzeitig zu Transparenz und Anpassung nötigt. Ohne die Impulse einer meinungsbildenden Presse, die zuverlässig informiert und sorgfältig kommentiert, kann die Öffentlichkeit diese Energie nicht mehr aufbringen.“ (Jürgen Habermas, Keine Demokratie kann sich das leisten)

Im Zentrum dieses Beitrages steht die Frage, anhand welcher Kategorien aus einer sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektive Leitmedien begriffen und definiert werden können. Im ersten Teil wird die vorliegende kommunikationswissenschaftliche Forschungsliteratur zum Thema Leitmedien gesichtet und diskutiert, d.h. es werden verschiedene Zugänge und Definitionen aus der bisherigen Forschung vorgestellt und kritisch reflektiert. Im zweiten Teil wird der eigene Ansatz entwickelt und begründet: Leitmedien werden als Teil der Massen- und Qualitätsmedien begriffen, die ein spezifisches organisationales Feld auf der Ebene der Medienöffentlichkeit konstituieren. Diesen Medien wird generalisiert eine besondere, weil allseits erwartbare und bekannte gesellschaftliche Beobachtungs- und Reflexionskompetenz zugeschrieben. Insbesondere diese Medien ermöglichen den gesellschaftlichen Akteuren wie den Rezipienten eine rasche und ressourcengünstige Beobachtung zentraler gesellschaftlicher Entwicklungen. Zugleich ermöglichen diese Medien dadurch Prozesse der gesellschaftlichen Koorientierung.

1

Das Leitmedienkonzept im wissenschaftlichen Diskurs

Im sozialwissenschaftlichen Diskurs existiert keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs Leitmedium. Es wurden immer wieder höchst unterschiedliche Versuche unternommen, das Phänomen Leitmedium in verschiedenen Kontexten zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären. In der sozial- und vor allem kommunikationswissenschaftlichen Literatur lassen sich fünf unterschiedliche Ansätze ausmachen.

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1.1

Leitmedien und historische Phasen

In der Literatur findet man diverse Versuche, das Konzept der Leitmedien unter Zuhilfenahme einer Einteilung in historische Phasen zu fassen. Udo Göttlich beispielsweise rekurriert in seiner Definition auf gesellschaftlich-historische Entwicklungsetappen und bezeichnet ein Leitmedium als spezifisches, dominierendes Einzelmedium in einer bestimmten historischen Phase, dem eine Hauptfunktion in der Konstitution gesellschaftlicher Kommunikation und von Öffentlichkeit zukommt.1 Eine gebräuchliche Einteilung in solche Phasen nennt dann folgende Leitmedien: Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war die Flugschrift das führende Leitmedium, abgelöst durch das Buch im 15. Jahrhundert.2 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts übernahm dann der Hörfunk eine leitende Funktion, später begann – beispielsweise gemäß Manuel Castells – das ‚Informationszeitalter‘, und das Fernsehen wurde das zentrale Leitmedium.3 Um die Jahrtausendwende wurde auch das Fernsehen abgelöst, und man liest gegenwärtig immer wieder, dass das Internet zu dem Leitmedium geworden ist bzw. noch werde.4 Offensichtlich ändert sich die Vorstellung darüber, was das führende Leitmedium ist, immer dann, wenn neue Medientechniken oder -technologien populär werden und die Gesamtgesellschaft national oder sogar global durchdringen.

1.2

Leitmedien und soziale Gruppen

Leitmedien werden in der Literatur zudem immer wieder unter Bezugnahme auf bestimmte soziale Gruppen, die sie erreichen, verortet. Jürgen Wilke versteht unter dem Begriff ‚Leitmedium‘ ein Medium, dem gesellschaftlich eine anleitende Funktion zukommt, dem Einfluss auf die Gesellschaft und andere Medien beigemessen werden kann. Wilke nennt verschiedene charakteristische Merkmale von Leitmedien, unter anderem auch jenes der Bezugnahme auf bestimmte soziale Gruppen bzw. Zielgruppen. Leitmedien, so Wilke, würden sich durch eine spezifische Struktur ihres Publikums auszeichnen, so würden

1

Vgl. Göttlich: „Massenmedium“, S. 194.

2

Vgl. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis.

3

Vgl. Castells: Das Informationszeitalter.

4

Vgl. u.a. Plake/Jansen/Schuhmacher: Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit im Internet; Schmidt/Rössler: Medium des Wissens.

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sie vor allem von Entscheidungsträgern und von Angehörigen der Elite genutzt.5 Im Hinblick auf die Elitenorientierung werden häufig Begriffe wie Prestigemedien oder Qualitätsmedien – oder bezogen auf Printmedien: Elitepresse – synonym zum Begriff des Leitmediums verwendet. John C. Merrill beispielsweise verwendet die Begriffe ‚Qualitätspresse‘ und ‚Elitepresse‘ synonym. Auch er schreibt, dass ein Kriterium die primäre Zielgruppe von Qualitätszeitungen – „a well-educated, intellectual readership“ – ist, und dass diese Zeitungen dazu beitragen, Meinungsführer zu orientieren und auch zu beeinflussen.6 Merrill ordnet die Elitepresse hierarchisch an und entwickelt ein Weltzeitungssystem.

1.3

Leitmedien als Bestandteil der gesellschaftlichen Vermittlungsstruktur

In der kommunikationswissenschaftlichen Literatur wird im Zusammenhang mit Leitmedien außerdem vielfach auf die soziale Vermittlungsstruktur Bezug genommen, womit gemeint ist, dass Leitmedien aufgrund ihrer zentralen Stellung als Intermediäre in der Gesellschaft Vermittlungs- und Anschlusskommunikation ermöglichen. Von zentraler Bedeutung in diesem Kontext ist das so genannte InterMedia Agenda-Setting, d.h. die Frage, ob und inwieweit sich die Medien in ihrer Berichterstattung wechselseitig wahrnehmen und beeinflussen. In einem Mediensystem sind gemäß Rainer Mathes und Andreas Czaplicki spezifische Medien als „Vorreiter“, „Mitläufer“ und „Nachzügler“ auszumachen, wobei Leitmedien die Vorreiter-Rolle einnehmen. Diese Medien werden von den in „Folgemedien“ tätigen Journalisten besonders beachtet und es werden Themen sowie Deutungen aus ihnen übernommen.7 Carsten Reinemann kann in seiner Studie empirisch zeigen, dass es auch innerhalb des Journalismus eine entsprechende Beobachtungsstruktur gibt.8 Rainer Mathes und Barbara Pfetsch haben diesen Effekt am Beispiel von ‚Alternativmedien‘ beobachtet und sie sprechen in diesem Kontext von Spill-Over-Effekten von der Alternativ- zur Elitepresse und einer sogenannten Media Opinion Leadership.9

5

Vgl. Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, S. 302.

6

Merrill: The Elite Press, S. 31.

7

Vgl. Mathes/Czaplicki: „Meinungsführer im Mediensystem“.

8

Vgl. Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer.

9

Vgl. Mathes/Pfetsch: „The Role of the Alternative Press in the Agenda-building Process“.

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Hans Mathias Kepplinger hat im Hinblick auf die soziale Vermittlungsstruktur wie -leistung von Medien und unter Bezugnahme auf die politische Berichterstattung die Unterscheidung zwischen Prestigemedien und Populärmedien eingeführt.10 Die Populärmedien sind in dieser Systematik stärker auf Unterhaltung ausgerichtet, während die Prestigemedien im Kontext politischer Kommunikationsprozesse eine zentrale Position innehaben. Grund dafür ist, dass sie sowohl andere Medien – insbesondere eben auch Populärmedien, die sich thematisch an ihnen orientieren –, als auch Eliten aus Politik, Wirtschaft und Kultur und somit wesentliche Teile der Öffentlichkeit erreichen. Eine ähnliche Unterscheidung machen auch Jarren/Donges mit der Differenzierung zwischen Leitmedien und Folgemedien.11 Diese wechselseitige Beobachtung von Medien und Medieninhalten findet dabei auf unterschiedlichen Ebenen statt: auf der Ebene des Mediensystem, auf der Ebene der einzelnen Redaktion und auf der Ebene der Journalisten.

1.4

Leitmedien als spezifische journalistische Vermittlungsleistung

Im Kontext ‚Leitmedien‘ ist zudem der Bezug auf bestimmte Vermittler, also die Beobachtung von als besonders relevant erachteten Journalisten, wichtig. Bestimmte Journalisten, vor allem auch Publizisten und Intellektuellen, wird eine für den politisch-kulturellen Diskurs besondere Stellung zugeschrieben. ‚Leitmedium‘ ist in diesem Sinne auch ein Qualitätsbegriff, der auf besonderen journalistischen bzw. publizistischen Leistungen mit entsprechend namhaften Mitarbeitern gründet (auch Leitartiklern, Kommentatoren). Diesen namhaften Journalisten bzw. Publizisten kommt eine herausragende Funktion zu, weil sie besonders stark innerhalb von Medien und Journalismus wie auch gesamtgesellschaftlich Beachtung finden. Empirisch erkennbar ist vorrangig, dass sich andere Journalisten an diesen Kollegen (‚Edelfedern‘ und ‚Leitartiklern‘) orientieren: Reinemann sowie Patrick Rössler sprechen in diesem Zusammenhang von Kollegen- oder Koorientierung.12 Auch Barbara Pfetsch, Christiane Eilders und Friedhelm Neidhardt rekurrieren auf die Vermittlungsleistung einzelner Journalisten. Sie betonen insbesondere die leitende sowie orientierende Funktion von Leitartiklern und sprechen von einem Kommentariat. Diese Gruppe bezeichnen sie als zentrale gesell10 Vgl. Kepplinger: „Problemdimensionen des Journalismus“. 11 Vgl. Jarren/Donges: Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft; Jarren/ Donges: Keine Zeit für Politik? 12 Vgl. Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer; Rössler: „‚Erst mal sehen, was die anderen machen‘“.

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schaftliche „Meinungsmacher“.13 ‚Leitmedium‘ ist in diesem Kontext ein Qualitätsbegriff, der auf besonderen journalistischen Leistungen und namhaften Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gründet und es wird dabei vorrangig auf Prozesse der Meinungsbildung abgehoben.

1.5

Leitmedien als unterstellbare Medienwirkung

Schließlich werden Leitmedien auch im Hinblick auf die erzielte oder erzielbare Wirkung beim Publikum definiert. Dieser Einfluss kann einerseits direkt bezogen auf das Publikum gesehen werden (wie: Fernsehen als Leitmedium). Andererseits werden aber auch indirekte Wirkungsvermutungen angestellt, so wenn beispielsweise über den Einfluss der Boulevardpresse auf politische Entscheidungen oder Akteure reflektiert wird. Kepplinger postuliert vor allem einen Wirkungseinfluss von Leitmedien auf das ganze Mediensystem, d.h. auf andere Medien, auf Eliten und auf Teile des Publikums.14 Er betont damit die strukturelle Komponente: Bestimmten Medien kommt aufgrund ihrer Position in der gesellschaftlichen Vermittlungsstruktur eine als wirkungsmächtig anzusehende Position zu. Leitmedien besitzen also vor allen dann ein großes Wirkungspotenzial, weil und wenn sie die Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur erreichen und dadurch Entscheidungen mit weit reichenden Konsequenzen beeinflussen können oder könnten: Was die führenden Medien aufgreifen, wird auch zum Thema der zuständigen Eliten. Leitmedien sind hier als Meinungsführermedien anzusehen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der sozial- und kommunikationswissenschaftliche Forschungsstand über Leitmedien bislang disparat ist. So wird nur selten wechselseitig auf Arbeiten Bezug genommen. Charakteristisch für die vorliegenden Konzepte zu Leitmedien ist: -

Orientierung an Einzelmedien;

-

Fokussierung auf bestimmte historischen Phasen;

-

Orientierung auf die Mikroebene; und

-

Fokussierung auf Nutzungs- und Wirkungsannahmen.

Im folgenden Abschnitt soll ein sozial- und kommunikationswissenschaftliches Leitmedienkonzept entwickelt und begründet werden.

13 Vgl. Pfetsch/Eilders/Neidhardt: Das „Kommentariat“. 14 Vgl. Kepplinger: „Problemdimensionen des Journalismus“.

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2

Leitmedien als Medien der öffentlichen Kommunikation

Leitmedien in einem sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Kontext zu definieren, erfordert den Rückgriff auf drei Konzepte: Medien als Institutionen aufzufassen, den Organisationsbegriff im Kontext mit Medien zu klären und Medien als Teil der Öffentlichkeit moderner Gesellschaften zu konzipieren.

2.1

Medien als Institutionen

Zum ersten werden Medien hier im Sinne der kommunikationswissenschaftlichen Definition von Ulrich Saxer als institutionalisierte Organisationskomplexe begriffen. Saxer definiert Medien als „komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen“.15 Er verweist mit seiner Definition sowohl auf Medien als Organisationen wie auch auf den Faktor, dass es sich bei Medien um Institutionen handelt. Institutionen ermöglichen soziale Beziehungen durch Regel- und Normsetzung, sie sind auf Dauer gestellt, regeln Erwartungen und ermöglichen damit spezifische Formen der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung und Verständigung. Medien prägen als auf Dauer gestellte Organisationen und somit Institutionen Erwartungen bezüglich der gesellschaftlichen Kommunikation, und zwar vorrangig bezogen auf die gesellschaftlichen Akteure, die sich der Medien bedienen, um ihre Informationen zu verbreiten. Zugleich beobachten gesellschaftliche Akteure sich und die Reaktionen Dritter aufgrund ihrer Mitteilungen über die Medien untereinander. Das Publikum wiederum hat durch die Rezeption passiv Anteil an den Debatten (Teilhabe), kann sich aber jederzeit auch aktiv einbringen (Teilnahme). In der Massenkommunikation, die von (professionellen) Journalisten und ihrem Auswahlverhalten (Selektionsprogramm) geprägt ist, werden aber vor allem gesellschaftliche Akteure berücksichtigt, weil ihre Erklärungen, Positionen, Absichten und Entscheidungen von besonderer Relevanz für alle Gesellschaftsmitglieder sind. Das Publikum weiß um diese Leistung der Medien der öffentlichen Kommunikation generell, vermag zugleich auch zwischen Anbietern und Angeboten zu unterscheiden und wendet sich den jeweiligen Medien mit unterschiedlichen Erwartungen zu, um informiert oder unterhalten zu werden. Das Publikum weiß dabei in der Regel nicht nur um die unterschiedlichen Angebote der Medien, sondern zumeist auch um die jeweiligen Angebotsquantitäten 15 Saxer: „Der Forschungsgegenstand der Medienwissenschaft“, S. 6.

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wie -qualitäten in spezifischen Bereichen (also Politik-, Wirtschafts- oder Kulturberichterstattung oder bezogen auf Unterhaltungs- wie Bildungsangebote) und wählt – zumal in bestimmten sozialen Situationen – durchaus bewusst aus. Aufgrund der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung bildet sich eine soziale Ordnung der Medien, in Form einer allgemein bekannten wie anerkannten Hierarchie der Medien, heraus. Diese ist sozial variabel, d.h. nicht dauerhaft und statisch, sondern wandelbar, aber diese Ordnung ist als relativ stabil anzusehen. Die Medien selbst tragen stets dazu bei, diese Positionierung im Medien- wie im konkreten Gesellschaftsgefüge zu behaupten, so durch anhaltende publizistische Leistungen selbst, aber auch – und das ist ein jüngeres Phänomen – durch entsprechende Werbe-, Marketing- und PR-Maßnahmen. In Grenzsituationen bei der Informationsbeschaffung, so zeigen empirische Studien, wählt das Publikum deshalb bestimmte (als glaub- und vertrauenswürdig eingeschätzte) Medien aus und vertraut bestimmten Medienorganisationen mit ihren Angeboten mehr als anderen.16 Je nach Nutzungsinteresse und -zeitpunkt kann die Medienwahl zwar variieren, aber bezogen auf allgemeine publizistische Leistungen sind bestimmte Medien, vor allem die Leitmedien innerhalb der Qualitätsmedien, relevant, weil diesbezüglich relativ stabile Erwartungsmuster auf Basis von Erfahrungen und des Images bei den Rezipienten bestehen. Es zeigt sich empirisch, dass einerseits konkreten Medienorganisationen und andererseits auch konkreten medialen Angeboten (Medieninhalten) mit spezifischen Erwartungen begegnet wird. Beide Faktoren sind im publizistischen Prozess zugleich relevant: Medienorganisation und Medieninhalte stehen erkennbar in einem engen Zusammenhang zueinander und werden vom Publikum integrativ erfasst und bewertet. So erklärt sich, dass beispielsweise dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder gewissen nationalen wie lokalen Qualitätsmedien, repräsentiert durch bestimmte Organisationstypen, insbesondere bezogen auf Informationsangebote, anhaltend eine hohe Kompetenz zugeschrieben wird – und anderen eben nicht. Bezogen auf die Kategorien Glaubwürdigkeit und Vertrauen wird diesen Medien ebenso eine hohe Bedeutung zuerkannt. Es sind also bestimmte, auf Dauer gestellte Medienorganisationen mit ihren bekannten publizistischen Leistungen, die institutionelle Bedeutung erlangen: Informationsproduzenten wie Rezipienten wissen grundsätzlich um den Umgang mit Informationen, um die Publikationsweise und auch um das Nutzerpotenzial wie -profil.

16 Vgl. Reitze/Ridder: Massenkommunikation; außerdem Bonfadelli: Forschungsprogramm UNIVOX 2006/2007.

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2.2

Medien als spezifischer Organisationstyp

Zum zweiten können Medien als spezifische Organisationen begriffen werden, nämlich als Intermediäre in Form intersystemischer Organisationen der Gesellschaft. Medienorganisationen sind als intersystemische Organisationen charakterisiert durch eine systematische Verquickung von Gruppeninteressen, öffentlichen Aufgaben und Formen der bürokratischen oder auch ökonomischen Programmimplementation.17 Medien als intersystemische Organisationen verfügen über drei zentrale Eigenschaften, nämlich -

eine hybride Struktur, sie sind durch keinen inklusiven Organisationszusammenhang konstituiert, sondern weisen Netzwerkstrukturen auf;

-

universalistische Leistungserwartungen und

-

intermediärer Charakter, d.h. von ihnen wir eine vermittelnde Leistung erwartet und erbracht.18

Diese Merkmale sind zu erfüllen, wenn von Medien der öffentlichen Kommunikation gesprochen werden soll. So kann empirisch gezeigt werden, dass das Publikum sowohl an Medienorganisationen als auch an publizistische Angebote gewisse Anforderungen stellt – nur dann werden publizistische Leistungen als relevant und zudem als glaubwürdig beurteilt. Es ist der intermediäre Charakter von Medienorganisationen, der eine publizistische Aktivität erst zu einer publizistischen Leistung werden lässt. Wie Klaus-Dieter Altmeppen gezeigt hat, weisen Medienorganisationen in hohem Maße Netzwerkstrukturen auf, und sie bilden zwei unterschiedliche Teilorganisationen aus: das Medienmanagement und die Redaktion.19 Beide Organisationsteile haben unterschiedliche Aufgaben und sie beziehen sich auf unterschiedliche Umwelten. Das Medienmanagement ist vorrangig für die Beschaffung der ökonomischen Ressourcen zur Medienorganisation zuständig. Zu den Aufgaben des Medienmanagements gehört es aber auch, mit politischen Organisationen die politischen Marktbedingungen auszuhandeln (Einfluss auf Regulierung und medienpolitische Programme wie Entscheidungen). Es geht dabei um die Sicherung der Märkte und um die Absicherung der den 17 Bode/Brose: „Zwischen den Grenzen“, S. 120. 18 Vgl. ebd. 19 Vgl. Altmeppen: Journalismus und Medien als Organisationen.

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Medien gewährten ökonomischen wie rechtlichen Privilegien. Aufgrund dieses Austausches sind Medienorganisationen politisch relevant und aktiv: So unterstützen Medienorganisationen bekanntlich bestimmte politische Vorhaben, Programme und Personen. Im Management von Medien finden sich vielfach Personen, die auch politisch agiert haben oder (partei-)politisch agieren. Zudem pflegt das Management vielfältige Austauschbeziehungen mit ökonomischen Akteuren zur Beschaffung von Ressourcen. Die Redaktion als zweiter Organisationsteil ist vorrangig für die publizistische Leistungserbringung zuständig, wozu auch Austauschbeziehungen – aber eben andere als beim Medienmanagement – mit politischen Organisationen und Akteuren gehören. Diese sind, wie bei den Leitmedien empirisch beobachtet werden kann, zum Teil sehr eng, indem bestimmte politische Haltungen und Positionen in das publizistisch-redaktionelle Programm einfließen oder sogar übernommen werden (‚Gesinnungspublizistik‘, ‚Richtungspublizistik‘). Vermittelt über diesen Bezug auf Politik, die für die Bearbeitung gesamtgesellschaftlicher Probleme zentraler Adressat ist und allein deshalb gesellschaftsweite Beachtung erlangt, erreichen die Medien die Gesellschaftsmitglieder. Der redaktionell-publizistische Bezug auf Politik kann dabei höchst unterschiedlich ausfallen, bei bestimmten Medien auch einen ausgeprägt unterhaltenden Charakter haben. Die Medienorganisation insgesamt bezieht sich also in zweifacher Weise auf die Politik bzw. die Akteure des politischen Systems, und diese Austauschbeziehung wird durch das Postulat der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben begründet und legitimiert. Politik wie Medien betonen ihre öffentliche Aufgabe. Durch diese Kommunikation bezogen auf die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben bleiben die Medienorganisationen grundsätzlich in einem politischen, einem allgemeinen gesellschaftlichen Orientierungshorizont. Öffentliche Aufgabe – das ist der Klammerbegriff für das Verhältnis der Medien zur Politik und damit zugleich auch zur Gesellschaft, denn dadurch werden entsprechende Medienorganisationen zu gesamtgesellschaftlich relevanten Institutionen. Die Betonung der öffentlichen Aufgabe ist nicht nur historisch-normativ entstanden oder gar nur normativ relevant, sondern der Bezug auf die öffentliche Aufgabe ist zudem ökonomisch bedeutsam, weil durch dieses Postulat die intermediäre Funktion und Leistung begründet wird, was ökonomische Vorteile mit sich bringt: Wer seine gesamtgesellschaftliche Vermittlungsleistung betont, der nimmt für sich in Anspruch, übergreifend und integrierend zu wirken und möglichst viele zu erreichen beziehungsweise anzusprechen. Diese Zielausrichtung bzw. dieser postulierte Anspruch ist für informationsvermittelnde Akteure, Werbetreibende, die PR-Branche und die Rezipienten gleichermaßen relevant. Auch stärker auf Unterhaltung ausgerichtete Medienorganisationen ver-

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mitteln über die Unterhaltung hinausgehende Beiträge zur gesellschaftlichen Entwicklung, nicht allein, weil das aufgrund von staatlich-politischen Regulierungsmaßnahmen eingefordert wird, sondern auch aufgrund des Interesses des jeweiligen Publikums an Nachrichten oder Orientierungsbeiträgen – alles aus Gründen der ökonomisch bedeutsamen Publikumsbindung. Medien als intersystemische Organisationen behaupten und übernehmen also – aus normativ-kulturellen Anforderungen wie aus ökonomischen Kalkülen heraus – eine hochgradig institutionalisierte Vermittlungsrolle für Akteure aus allen gesellschaftlichen Teilsystemen. Für diese Leistung werden den Medien der öffentlichen Kommunikation durch Politik und Recht Privilegien eingeräumt, es werden ihnen von anderen Akteuren Ressourcen (Informationsbereitstellung; Werbemittel) bereitgestellt, und die Rezipienten halten diese Medien für grundsätzlich gesellschaftlich relevant (Akzeptanz). Die Leistungen, die von diesem Organisationstyp (intersystemische Organisation) erbracht werden, werden folglich von zahlreichen Akteuren bzw. Gruppen aus der Gesellschaft mit beeinflusst und kontrolliert. Diese gesellschaftliche Positionierung wie auch Mitbeeinflussung ermöglicht den Massenmedien eine gesamtgesellschaftliche Durchdringung. Das gilt in allgemeiner Form für die Presse, die lange Zeit von politischen Gruppen maßgeblich getragen und geprägt wurde, und dies gilt explizit für den von gesellschaftlichen Gruppen mit kontrollierten öffentlichen Rundfunk, aber beispielsweise auch für Regulierungsbehörden. Medien als intersystemische Organisationen sind im Übrigen durchaus mit anderen gesellschaftlichen Intermediären – wie Parteien, Verbänden oder Akteuren der Neuen Sozialen Bewegungen – vergleichbar, weil sie einerseits öffentliche Aufgaben wahrnehmen und dafür Privilegien erhalten, andererseits aber auch eigenständige ökonomische Zielsetzungen verfolgen können und dürfen. Daraus ergibt sich eine besondere, letztlich als sehr stabil anzusehende gesellschaftliche Akzeptanz und Legitimationsbasis. Die Medien der öffentlichen Kommunikation sind also Organisationen, die aus zwei unterschiedlichen Teilorganisationen bestehen, und die eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen oder deren Wahrnehmung postulieren und entsprechend gesellschaftlich agieren und auch beeinflusst werden. Dabei ist der Grad an Wahrnehmung der öffentlichen Aufgabe, was Quantität als auch Qualität angeht, in einer hoch differenzierten Medienlandschaft bei den unterschiedlichen Massenmedien natürlich unterschiedlich. Aber: Nur dieser Organisationstyp, also das Medium als intersystemische Organisationsform, vermag publizistische Leistungen zu erbringen, die grundsätzlich gesamtgesellschaftliche Relevanz und Anerkennung zu finden vermögen. Ist keine intersystemische Organisation gegeben, wie das beispielsweise bei vielen Anbietern und Angeboten im Internet der Fall ist, so können keine anerkannten publizistischen Leistungen erbracht werden. Die gesamtgesellschaftliche Anerkennung

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einer publizistischen Leistung ist also höchst voraussetzungsvoll und immer geknüpft an ein entsprechend relevantes – als publizistisch einzustufendes – Angebot und an einen entsprechenden institutionalisierten Leistungserbringer, also eine intersystemische Organisation.

2.3

Medien als institutionalisierte Ebene der Öffentlichkeit

Zum dritten ist in diesem Kontext schließlich auch Öffentlichkeit zu berücksichtigen, weil öffentliche Kommunikation unterschiedliche Reichweiten und somit Relevanz besitzt. Neidhardt unterscheidet zwischen der encounter-Ebene, der Ebene der Versammlungs- oder Themenöffentlichkeit und der Ebene der Medienöffentlichkeit.20 Auf der encounter-Ebene, als einfachem und jederzeit zugänglichem sozialen Interaktionssystem, findet sich keine Differenzierung in Leistungs- oder Publikumsrollen, so dass jeder als Sprecher oder in der Publikumsrolle auftreten kann. Die räumliche, zeitliche und soziale Beschränktheit auf dieser Öffentlichkeitsebene führt zu einem fließenden Übergang zwischen privater und öffentlicher Kommunikation mit einem prinzipiell dispersen, aber begrenzten Publikum. Für die Gesamtgesellschaft ist diese Ebene nur partiell relevant. Fallweise werden Themen, aufgrund erfolgreicher agenda-setting-Strategien von Akteuren oder aufgrund der journalistischen Beobachtung, zu Medienthemen. Auf der Ebene der Themen- und Versammlungsöffentlichkeit ist in sozialer Hinsicht ein gewisser Grad an Rollenteilung notwendig, d.h. Sprecher, Vermittler und Publikum wechseln weniger oft die Rollen als auf der encounter-Ebene. Vor allem Themenöffentlichkeiten, so beispielsweise im Internet (Blogs), weisen eine größere soziale Stabilität auf, vermögen für eine gewisse Dauer Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und verfügen insoweit über ein größeres Publikumspotenzial.21 Vor allem können Themen und Meinungen auf dieser Ebene, zumal wenn sie auf eine gewisse Dauer gestellt werden, von Journalisten beobachtet und für die Medienberichterstattung ausgewählt werden. Themen auf dieser Ebene haben somit eine größere Chance, auch zu Themen in den Massenmedien zu werden. Encounter-Ebene und Themenöffentlichkeit erreichen aber immer nur teilweise die allgemeine Öffentlichkeit und die dort verhandelten Themen und Meinungen sind vielfältig, erscheinen unstrukturiert und können insgesamt ohne eine weitere Verarbeitung nicht gesellschaftsweit und kollektiv wahrgenommen werden. Auch deshalb sind Themen und Mei20 Vgl. Neidhardt: „Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen“. 21 Vgl. Neuberger: „Onlinejournalismus“; Neuberger/Nuernbergk/Rischke: „Weblogs und Journalismus“.

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nungen auf diesen Ebenen gesamtgesellschaftlich von geringerer Reichweite und somit Relevanz. Am folgenreichsten vollzieht sich öffentliche Kommunikation auf der Ebene der Medienöffentlichkeit: Medien als Organisationen sind auf Dauer gestellt, die Differenzierung in Leistungs- und Publikumsrollen ist hier stark ausgeprägt. Professionelle Berufsgruppenangehörige selektieren Informationen auf Basis eines systematischen Programms (Nachrichtenwerte) und bezogen auf ein publizistisches und redaktionelles Programm. Potentiell können die so erzeugten Informationen gesamtgesellschaftliche Verbreitung, Beachtung und schließlich auch – direkt wie indirekt (so durch Anschlusskommunikation auf allen Öffentlichkeitsebenen) – Wirkung erzeugen.22 Aufgrund der allgemeinen Sichtbarkeit und der Unterstellbarkeit von Wirkungen der Medien agieren auf dieser Ebene die gesellschaftlichen Akteure, und zwar in einer strategischen Weise: Als Sprecher von Interessen versuchen sie diese zu thematisieren und durchzusetzen. Dabei können die Sprecher unterschiedliche Rollen ausüben.23 In Kooperation mit (bestimmten) Journalisten und (bestimmten) Medien erzeugen sie Themen, um damit das Publikum zu erreichen und in verschiedenen Rollen (z.B. als Bürger oder Konsument) anzusprechen. Eine die Gesellschaft wie einzelne Gruppen in der Gesellschaft orientierende oder anleitende Funktion üben die Massenmedien deshalb aus, weil sie alle Gesellschaftsmitglieder erreichen und damit für die öffentliche wie auch die private Meinungsbildung und für das Entscheidungsverhalten relevant sind. In der Rolle als Konsument oder Bürger können die Gesellschaftsmitglieder mittels der Medien die Absichten, Entscheidungen oder Handlungen von kollektiven oder individuellen Akteuren mit verfolgen und ihr Verhalten daran ausrichten. Die gesellschaftliche Koordination erfolgt über die Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse, so wie sie in den Massenmedien (Nachrichten, Informationsangebote) dargeboten werden. Je nach Nutzungsmotiv und -zeitpunkt sind – zumal unter den heute vorherrschenden Viel-Kanal-Bedingungen – höchst unterschiedliche Medien mit ihren Angeboten relevant. Je ausdifferenzierter, vielfältiger und komplexer die Ebene der Medienöffentlichkeit wird, desto relevanter werden dabei zugleich jene Medien, die für bestimmte soziale Gruppen, sachliche Themenkomplexe oder bestimmte Räume eine übergreifende, dauerhafte und in einer bestimmten Qualität erwartbare Leistung zu erbringen vermögen. Die Ebene Medienöffentlichkeit ist also vielfältig differenziert, so auch nach Qualitäts- und Folgemedien oder nach Leitund Folgemedien. 22 Vgl. Blöbaum: Journalismus als soziales System; Rühl: Journalismus und Gesellschaft. 23 Vgl. Neidhardt: „Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen“.

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Massenmedien

n Medienöffentlichkeit

m Massenmedien Gegenöffentlichkeit

n Themenoffentlichkeit

m Versammlungsöffentlichkeit Quartier- und Betriebsöffentlichkeit

n Encounter

m Spontanöffentlichkeit Abbildung 1: Öffentlichkeitspyramide.24

Medienöffentlichkeit

Leitmedien

Qualitätsmedien Massenmedien

Abbildung 2: Leitmedien als Teil der Medienöffentlichkeit.

24 Nach Donges/Jarren: „Öffentlichkeit und öffentliche Meinung“ in Anlehnung an Neidhardt: „Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen“.

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Qualitäts- und Leitmedien bilden sich also aus politischen, sozialen wie ökonomischen Gründen aus und stellen eine Art soziale Infrastruktur dar, indem sie institutionalisiert sind: Informationsvermittler (gesellschaftliche Akteure) und Informationssucher (Rezipienten) orientieren sich so aneinander, und aufgrund dieser auf Dauer gestellten und allgemein bekannten Beziehungsstruktur bilden sich spezifische Erwartungen aus, auch bezüglich der Informationsvielfalt oder -qualität. Diese Ausrichtung ist zudem ökonomisch relevant, weil es zu einem entsprechenden Verhalten bei den Rezipienten wie auch der werbetreibenden Wirtschaft, welche zusammen die Massenmedien entsprechend finanzieren (Werbung), kommt.

3

Das Konzept Leitmedien

Medien werden hier mit Saxer als „komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle“ begriffen.25 Sie sind institutionalisiert als Teil der Öffentlichkeitsstruktur der Gesellschaft und übernehmen intermediäre Leistungen. Sie weisen Organisationscharakter auf und können, aufgrund einer Reihe von entsprechenden Merkmalen, als intersystemische Organisationen aufgefasst werden. Die Medien der öffentlichen Kommunikation beziehen sich aus Gründen der politischen und kulturellen Anerkennung sowie aus Gründen der Marktdurchdringung sowie ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz auf die Gesamtgesellschaft. Je nach Zwecksetzung ist dieser Anspruch unterschiedlich ausgeprägt, und es variieren die allgemeinen journalistischen Angebote in Quantität und Qualität, beispielsweise bezogen auf Nachrichten oder politische, wirtschaftliche, kulturelle etc. Informationen. Welche generellen Besonderheiten weisen nun die Leitmedien der Gesellschaft auf?

3.1

Leitmedien sind Massenmedien

Massenmedien sind nach Emil Dovifat und Jürgen Wilke über Universalität, Aktualität, Periodizität und allgemeine Zugänglichkeit, d.h. über ihre gesamtgesellschaftliche Verbreitung definiert.26 Nur diesen Medien, die zudem auch einen entsprechenden publizistischen Anspruch verfolgen, wird eine gesamtgesellschaftliche Relevanz aufgrund ihrer anhaltenden, allgemein akzeptierten

25 Saxer: „Der Forschungsgegenstand der Medienwissenschaft“, S. 6. 26 Zit. nach Noelle-Neumann/Schulz/Wilke: Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation.

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und bekannten Informations- und Orientierungsleistungen zuerkannt. Aber nur eine bestimmte Gruppe der Massenmedien gehört zu den Leitmedien. Leitmedien weisen zwar ein hohes Maß an politischer Orientierung auf, doch ist diese Ausrichtung das Ergebnis historischer Prozesse, und keineswegs allein und dominant die Folge politischer (Regulierungs-)Entscheidungen oder -vorgaben. Unter Marktbedingungen, zumal unter vielfältigen soziokulturellen wie ökonomischen Konkurrenzverhältnissen, streben – und dies lässt sich auch im historischen Prozess zeigen – Medienorganisationen stets nach einer dauerhaften und allgemein sichtbaren wie anerkannten Marktposition, eben nach dem Status Leitmedium. Dieser hebt sie aus den anderen Massenmedien hervor und ermöglicht ökonomische Vorteile, so wenn größere Teile der Gesellschaft erreicht werden. Charakteristikum von Massenmedien ist, dass sie aufgrund ihrer Institutionalisierungsform allgemein zugänglich und allgemein verfügbar sind. Massenmedien sind damit Push- und nicht – wie beim Internet – Pull-Medien: Nur Push-Medien sind potentiell in zeitlicher und sozialer Hinsicht für alle Rezipienten verfügbar, sie strukturieren damit das (Informations-)Verhalten der Mehrzahl der Rezipienten an jedem Tag in einer spezifischen Weise. Auch die an der Verbreitung von Informationen und Deutungen interessierten gesellschaftlichen Akteure wissen um diese strukturierende und vereinheitlichende Bedeutung der Push-Medien: Nur Push-Medien können uneingeschränkt dem sozialen Bedürfnis nach größtmöglicher Sichtbarkeit von Akteuren, Prozessen und Entscheidungen als auch dem Bedarf an institutioneller und organisationaler Repräsentation zu einheitlichen Zeitpunkten entsprechen. Die Unterstellbarkeit von allgemeiner Wahrnehmung und Nutzung, das Wissen um die Wahrscheinlichkeit der Herstellung eines Publikums, macht die besondere Relevanz der Massenmedien, und somit vor allem auch von Leitmedien, auf Seiten sowohl der Informationsanbieter als auch der Rezipienten, aus. Die Relevanz von Leitmedien beim Publikum wie auch bei den gesellschaftlichen Akteuren ergibt sich aufgrund der Unterstellung einer besonderen Sichtbarkeit dieser Medien in der sozialen Ordnung in der Gesellschaft, wie auch in der Annahme einer besonderen Wirksamkeit dieser Medien für Themen und Deutungen -

bei den an den dargestellten Prozessen beteiligten Akteuren;

-

bei anderen Medien (aufgrund der Wahrnehmung durch andere Journalisten, z.B. durch ‚Folgemedien‘) und

-

aufgrund der berechtigten Annahme von Wahrnehmung und möglicher Wirkung von Thematisierungs- und Deutungserfolgen bei Eliten als auch beim allgemeinen Publikum.

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Otfried Jarren/Martina Vogel | Gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Koorientierung

3.2

Leitmedien sind Qualitätsmedien

Qualitätsmedien können von anderen Massenmedien unterschieden und vom Publikum auch erkannt werden: Selbst Rezipienten, die bestimmte Qualitätsund Leitmedien nicht nutzen, wissen um deren Existenz, können Qualitätsmedien benennen und vermögen diese einzuordnen. Die Publikumsforschung zeigt, dass beispielsweise die Nutzer privat-kommerzieller Fernsehprogramme diesen eine geringe Glaubwürdigkeit beimessen, während andererseits den öffentlichen Programmen mehr Kompetenz und auch Glaubwürdigkeit zuerkannt wird.27 Leitmedien jedoch müssen noch mehr Qualitäten besitzen als Qualitätsmedien, zu denen auch Lokal- und Regionalzeitungen, bestimmte Zeitschriften oder Radio- wie Fernsehsendungen gehören können. Mit ihnen verbindet man in einem allgemeinen Sinne „the promise of improved journalism“. Zudem, und das unterscheidet die Leitmedien von den anderen Qualitätsmedien, beziehen sie sich in besonderer Weise auf laufende Meinungs- und Willensbildungsprozesse. Und das nicht nur bezogen auf die Politik, sondern bezogen auf alle relevanten öffentlichen wie privaten Entscheidungsvorgänge.

3.3

Leitmedien sind als Qualitätsmedien normativ positioniert

Im Unterschied zu Qualitätsmedien, z.B. öffentlich-rechtlichen Radio- oder Fernsehangeboten, weisen Leitmedien zudem eine explizit normative und insoweit eine relativ geschlossene publizistische wie redaktionelle Grundhaltung oder Linie auf. Leitmedien sind somit – wie alle Massenmedien – in thematischer Hinsicht universelle Medien, doch sind sie zugleich normativ exponiert. Diese normative Exponiertheit ist aber nicht allen Medien, die man zu den Qualitätsmedien zählen kann, eigen: Regional- oder Lokalzeitungen verstehen sich häufig als ‚Forumsblätter‘ und verzichten auf dezidierte publizistische und politische Positionen. Sie flaggen sich zumeist als ‚neutral‘, ‚unabhängig‘ und ‚objektiv‘ aus. Ähnliches gilt für Programme öffentlich-rechtlicher Radio- und Fernsehsender: Zwar bieten sie, wie die Qualitätsprintmedien grundsätzlich auch, normativ geprägte publizistische Leistungen an, aber es ist kein normatives publizistisches Programm auf Dauer auszumachen. Im Unterschied dazu die Leitmedien: Aufgrund ihrer ausgeprägten politischen Positionierung (Repräsentation bestimmter gesellschaftlicher Interessen) und Orientierung (Beobachtungsleistung wie Kommentierung) sind Leitmedien grundsätzlich als normativ – und damit zumeist als gesellschaftspolitisch – 27 Vgl. Bonfadelli: Forschungsprogramm UNIVOX 2006/2007.

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klar exponierte Medien zu begreifen, weil sie in spezifischer Weise auf jene Bereiche, Themen und Akteure fokussieren, die die allgemeinen Angelegenheiten einer Gesellschaft betreffen. Sie bieten eben nicht nur „the promise of improved journalism“, sondern positionieren sich zugleich normativ, was sich u.a. auch an der Leitartikel- und Kommentarpraxis zeigt. Sie unterscheiden sich damit von den ‚Forumsmedien‘ innerhalb der Qualitätsmedien, und auch von Nachrichtenagenturen und Informationsdiensten, die vorrangig Informationsverbreitung oder -vermittlung in einem breiten und pluralen Sinne betreiben. Die normative Positionierung bei Leitmedien ist, wie bei der Presse, nicht das Ergebnis politischer Regulierungsbemühungen: In allen demokratischen Ländern finden sich Leitmedien entsprechend der großen gesellschaftspolitischen cleavages, so in Form konservativer, liberaler und sozialdemokratischer Blätter. Diese Ausrichtung entlang der großen politischen Linien innerhalb der Nationalstaaten bei den Leitmedien hat auch ökonomische Gründe: Zum einen können so die bestehenden Gesinnungsgemeinschaften, auch wenn sie heute kleiner geworden sind als sie vormals waren (‚Partei-‘ oder ‚Gesinnungspresse‘), als Märkte erschlossen (und der Werbung angeboten) werden. Zum anderen ermöglicht eine derartige normative Leitmedienstruktur den in- wie ausländischen Akteuren und Beobachtern die gezielte, sichere, rasche und ressourcenschonende Beobachtung von gesellschaftlichen Entwicklungen: Leitmedien reagieren auf Veränderungen und verdichten. Auch aus informationsökonomischen Gründen machen daher normativ ausgeflaggte Leitmedien Sinn.

3.4

Leitmedien als organisationales Feld innerhalb der (Qualitäts-)Massenmedien

Leitmedien konstituieren innerhalb der Qualitätsmedien, die ein Teil der Massenmedien sind, ein spezifisches organisationales Feld. Dieses Feld entsteht durch die anhaltenden Interaktionen einerseits zwischen dem Medienmanagement und der Redaktion mit ihren jeweils ressourcenrelevanten Umwelten. Dadurch bilden sich spezifische Normen und Regeln aus, die ein bestimmtes Leitmedium publizistisch und redaktionell (publizistische und redaktionelle Linie) verfolgt. Zum anderen beobachten und interagieren die innerhalb eines organisationalen Feldes miteinander verbundenen Leitmedien: Während sie sich in publizistischer und redaktioneller Linie gezielt voneinander abzusetzen versuchen, übernehmen sie voneinander bestimmte journalistische Genres, Berichterstattungsformen, Werbe-, Marketing- oder PR-Maßnahmen und pflegen eine bestimmte journalistische Kultur. Über den Nationalstaat hinaus sind Formen der

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Zusammenarbeit zwischen Leitmedien (Übernahme von Beiträgen; Zitationen etc.) zu beobachten. Das macht deutlich, dass es sich bei Leitmedien um ein relativ stabiles organisationales Feld handelt. Leitmedien konstituieren innerhalb der Massenmedien somit ein spezifisches organisationales Feld, und zwar aufgrund ihrer exponierten gesellschaftspolitischen Stellung, der damit verbundenen thematischen wie normativen Ausrichtung (journalistische Beobachtungsleistung und Kommentierung), sowie aufgrund ihres ausgeprägten Bezuges zu gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozessen. Im organisationalen Feld der Leitmedien gelten gleiche Normen und Regeln für Publizistik und Journalismus, dies betrifft -

das Medienunternehmen mit einem expliziten publizistischen Selbstverständnis;

-

den Redaktionstyp und die Redaktionsstruktur;

-

die redaktionelle Arbeitsweise;

-

die Ausrichtung an Autoren und Diskursbeiträge (Ideengenerierung und Ideenvermittlung; Einbezug von Intellektuellen) und

-

den spezifischen Bezug auf die Rezipienten (im In- und Ausland).

Im nationalen wie im internationalen Maßstab lassen sich bei den Leitmedien der Presse viele Ähnlichkeiten finden.

4

Gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Koorientierung – die Leitmedien der Gesellschaft

Leitmedien erbringen für die Gesellschaft spezifische und von der großen Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder (an-)erkannte Beobachtungs-, Vermittlungs- und Repräsentationsleistungen. Diese erbringen sie auf einem hohen publizistischen und journalistischen Niveau. Sie beziehen sich dabei sowohl auf die nationalstaatliche als auch auf die internationale Ebene. Die Leitmedien in diesem Feld weisen gemeinsame Merkmale auf, weil sie -

eine explizite normative publizistische Linie verfolgen (z.B. „für Marktwirtschaft“);

-

ein explizites redaktionelles Programm durch Themenselektion wie Kommentierung verfolgen und dadurch

-

spezifische gesellschaftliche Interesse repräsentieren und diese vermitteln und sich dabei im öffentlichen Diskurs aufeinander beziehen.

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Das von den Leitmedien gebildete organisationale Feld innerhalb der medialen Massenkommunikation ist hierarchisch, d.h. die Leitmedien stehen an der Spitze und werden deshalb in besonderer Weise von anderen Redaktionen und Journalisten beobachtet: Ihre Themen und Deutungen gelten als relevant, sie werden aufgegriffen (Folgemedien; inter-media agenda-setting-Effekte; wechselseitige Beobachtung der Leitmedien: dadurch Integration von Themen und Sichtweisen und deren Interpretation). Durch Themenselektion und Kommentierung beobachten die Leitmedien auf eine bestimmte Weise bestimmte gesellschaftliche Felder, Akteure und Prozesse. Sie beziehen sich dabei auch auf interne Vorgänge bei ‚ihren‘ Akteuren und sind insoweit ‚nahe‘ am (Teil-)Geschehen. Durch Themenauswahl und -darstellung vermitteln sie immer bestimmte Sichtweisen oder Deutungen. Durch diese Themenselektion, ihre Deutung und Kommentierung repräsentieren sie bestimmte gesellschaftliche Interessen und deren Akteure. Das macht sie für diese Akteure (‚Wie ist die Darstellung über uns in unserem Umfeld?‘), aber auch für alle anderen Akteure (‚Was machen die anderen und was sagt deren eigenes Umfeld dazu?‘) relevant. Und damit sind die Leitmedien für das allgemeine Publikum besonders relevant: Die Rezipienten haben damit Anteil an akteursinternen Prozessen und deren Deutung. Damit ist eine gezielte und kostengünstige Beschaffung von Informationen für Akteure wie auch Einzelne möglich, um über Absichten, Debatten, Pläne und Entscheidungen informiert zu sein. Dass sich dieses Interesse vor allem und vorrangig auf Politik bezieht, hat mit der besonderen Bedeutung des politischen Systems und seinen Akteuren zu tun: An sie werden Interessen adressiert, sie bereiten Entscheidungen vor und es werden durch das politisch-administrative System Entscheidungen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz getroffen. Insoweit sind Leitmedien vorrangig politische Medien. Leitmedien dienen – sieht man einmal von ihrer normativen Funktion ab, die die Leitmedien in sich pluralisierenden westlichen Gesellschaften tatsächlich partiell eingebüsst haben – nach wie vor in besonderer Weise der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, weil sie in spezifischer Weise Beobachtungsleistungen erbringen, die für Rezipienten Entscheidungsrelevanz besitzen können. Sie werden deshalb beachtet und anerkannt, und zwar durch andere Akteure, andere Medien und eben auch durch das allgemeine Medienpublikum. Damit tragen sie zur gesellschaftlichen Koorientierung bei: Sie leisten dies durch die Reduktion von sozialer Komplexität in einer für die Rezipienten sozial bekannten und akzeptierten Weise. Sie tun dies durch ein gesellschaftsweit akzeptiertes Entscheidungs- und Auswahlprogramm entlang spezifischer und bekannter publizistischer wie redaktioneller Linien sowie durch Kommentierung. Sie sind damit Leuchttürme im gesellschaftlichen Diskurs.

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Die Funktion der Koorientierung für den Journalismus Niemand liest so viele Zeitungen wie die Journalisten, die im übrigen zur Ansicht neigen, daß jedermann sämtliche Zeitungen läse. (Pierre Bourdieu, Über das Fernsehen)

Einleitung Journalistisch zu arbeiten heißt einerseits, Ausschnitte aus dem Geschehen in der Welt auszuwählen,1 und andererseits diese zu deuten und auf eine bestimmte Weise zu rekonstruieren. In immer wieder neuen Geschehnissen muss das Vertraute gefunden werden (aber auch umgekehrt im Alltäglichen das Neue), denn sonst wäre die Informationsflut weder für die Berichterstatter noch für das Publikum zu bewältigen, sei es in ihrer Menge oder in ihrer Vielgestaltigkeit. Was relevant und deutbar erscheint, muss sich selbst und anderen verständlich gemacht werden; das Irrelevante und allzu Eindeutige ebenso aussortiert werden wie das, was abwegig oder allzu abgelegen erscheint. Hier haben sich im Journalismus verschiedene Techniken und Routinen herausgebildet. Neben Handlungs- und Wahrnehmungsschemata, die sich auf redaktionsinterne Vorgänge beziehen, spielt die Orientierung an anderen Medien eine wichtige Rolle. Sie stellt eine wichtige und außerordentlich zeitintensive Routine insbesondere im tagesaktuellen Journalismus dar,2 bleibt aber erklärungsbedürftig: Wieso beschäftigen sich Journalisten so eingehend mit fremden Medien, wo man doch naiv annehmen könnte, der Ereignislage selbst (vermittelt durch eigene Anschauung, Agenturen, Korrespondenten, Pressemitteilungen etc.) müsse das alleinige Interesse gelten? Offensichtlich ziehen Journalisten daraus einen direkten beruflichen Nutzen, was zu der Frage führt: Wie bedingt oder erleichtert die Orientierung an anderen Medien den Journalismus in der Praxis? Der vorliegende Beitrag systematisiert Überlegungen zu Funktionen der Koorientierung für den Journalismus, seien es nun latente oder manifeste. Im Vordergrund stehen dabei Funktionen für den Journalismus selbst, weniger

1

Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Massenmedien, S. 7, stellt fest: „Mitteilen heißt auswählen.“

2

Insbesondere Reinemann hat die Nutzung anderer Medien durch Journalisten detailliert untersucht. Vgl. Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer.

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für andere soziale Systeme oder die Gesellschaft insgesamt, die in zweiter Konsequenz von Koorientierung positiv oder negativ betroffen sein können. Die dargelegten Theoriebausteine bleiben dabei formal und abstrakt, so dass sie an die verschiedenen Journalismuskonzeptionen und Paradigmen der Journalismusforschung anschlussfähig sind, etwa mit der Vorstellung eines informierenden, eines politisch-strategischen oder eines ökonomisierten Journalismus, mit der systemtheoretischen oder handlungstheoretischen Perspektive.3 Zunächst gilt es jedoch, den hier zugrunde liegenden Begriff der Koorientierung näher zu bestimmen.

Begriffsbestimmung Unter journalistischer Koorientierung verstehen wir die Ausrichtung journalistischen Handelns am Verhalten von Journalisten anderer Medien. Dies liegt vor allem dann vor, wenn seitens einer Redaktion die Berichterstattung einer davon unabhängigen weiteren Redaktion beobachtet wird, um daraus Konsequenzen für die eigene journalistische Arbeit zu ziehen. Koorientierung kann proaktiv oder reaktiv sein: Sie kann vor der Veröffentlichung eigener Inhalte geschehen. Sie kann jedoch auch dazu dienen, nach der Veröffentlichung die eigene Tätigkeit zu kontrollieren und zu legitimieren.4 Im Folgenden beschränken wir unsere Betrachtungen auf die proaktive Form. Die Rezeption anderer Medien kann dabei durchaus sehr beiläufig geschehen, bedeutsam ist lediglich, dass sie für die eigene Produktion eine Rolle spielt. In diesem Fall sind mindestens zwei Medien beteiligt: Ein beobachtetes und ein beobachtendes.5 Ersteres bezeichnen wir nachfolgend als Leitmedium, letzteres als abhängiges oder Gefolgschaftsmedium. Besonders relevant ist natürlich der Fall, dass eine Redaktion ihr Verhalten an dasjenige einer anderen angleicht (deren Organ sodann Leitmedium in unserem Sinne ist);6 es kann jedoch auch vor3

Zur Auffassung eines (auch) interessegeleiteten und politisch agierenden Journalismus vgl. z.B. Kepplinger: „Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie publizistischer Konflikte“, Staab: Nachrichtenwert-Theorie: formale Struktur und empirischer Gehalt; zur Ökonomisierung im Journalismus vgl. z.B. die Beiträge in Jarren/Meier: Ökonomisierung der Medienindustrie: Ursachen, Formen und Folgen. Für konsistente systemtheoretische Beschreibungen des Journalismus vgl. z.B. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, oder Marcinkowski: Publizistik als autopoeitisches System. Für einen konsequent handlungstheoretischen Ansatz vgl. Fengler/Ruß-Mohl: Der Journalist als „homo oeconomicus“.

4

Reichart: Die Mediennutzung von Fernsehjournalisten, S. 93f.

5

Der Prozess der gegenseitigen Beobachtung wird hier zunächst ausgeklammert.

6

Breed: „Newspaper ,Opinion Leaders‘ and the Process of Standardization“.

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kommen, dass gerade gegenteilige Konsequenzen gezogen werden oder auch geschlussfolgert wird, das Verhalten der anderen Redaktion sei für die eigene Tätigkeit (augenblicklich oder dauerhaft) irrelevant. Orientierung an den Inhalten anderer Medien kann in zwei verschiedenen Dimensionen stattfinden: stilistisch und inhaltlich. Nicht weiter betrachtet wird hier, inwieweit sich Redaktionen stilistisch, also sowohl in der Sprache wie auch in der sonstigen Gestaltung der Medienprodukte, an anderen orientieren.7 In der inhaltlichen Dimension kann zunächst die Einteilung von Geschehnissen in Ereignisse, Ereignisstränge und Themen – also die Konstruktion des Gegenstandes der Berichterstattung8 – Gegenstand der Koorientierung sein. Zur Auseinandersetzung mit fremden Konstruktionen der Vorkommnisse gehört stets die Einschätzung ihres Nachrichtenwerts. Hier können wiederum andere Medien Hinweise geben, nämlich durch konventionalisierte Signale der Relevanz, die je nach Mediengattung z.B. durch Platzierung, Umfang oder die besondere Ankündigung von Beiträgen gesetzt werden können. Sind der Zuschnitt und der sachliche Kern eines Ereignisses oder Themas festgelegt, kann ihre Deutung trotzdem noch teilweise offen sein. Ein Thema kann auf verschiedene Weise „gerahmt“ werden, d.h. es bieten sich unterschiedliche Perspektiven darauf an – z.B. Personalisierung oder Sachorientierung – und damit zusammenhängend unterschiedliche Verantwortungszuschreibungen.9 Auch hier ist Koorientierung für eine Redaktion womöglich hilfreich, genauso wie bei der Bewertung von Problemen, Maßnahmen und Akteuren.10 Verschiedene Vorgänge können dabei als Sonderformen von Koorientierung verstanden werden. Zunächst sind dies redaktionsinterne Prozesse der gegenseitigen Orientierung, Anpassung, Kontrolle und Herstellung von Kon-

7

In Interviews mit Fernsehjournalisten zeigte z.B. Reichart, dass diese Anregungen für Kameraeinstellungen aus anderen audiovisuellen Medieninhalten (insbesondere auch aus Kinofilmen und Werbespots) entnehmen. Dabei trennen einige Befragte streng zwischen Inhalt und Machart: Formal gute Sendungen werden trotz Ablehnung des Inhalts bewundert. Vgl. Reichart: Die Mediennutzung von Fernsehjournalisten, S. 86 ff.

8

Zu diesem Vorgang vgl. etwa Tuchman: Making News. A Study in the Construction of Reality.

9

Vgl. Iyengar: Is Anyone Responsible? How Television Frames Political Issues; Rhee: „Strategy and Issue Framing in Election Campaign Coverage: A Social Cognitive Account of Framing Effects“; Scheufele: Frames – Framing – FramingEffekte.

10 Nicht nur in Bezug auf die Bewertungsdimension wurden Leitmedien auch als Meinungsführer im Mediensystem bezeichnet, vgl. Mathes/Czaplicki: „Meinungsführer im Mediensystem: ‚Top-Down-‘ und ‚Bottom-Up‘-Prozesse“.

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formität.11 Hierbei handelt es sich um eine sehr abstrakte Orientierung von Journalisten, wie sie im Prozess der beruflichen Sozialisation vonstatten geht. Im Zuge dessen lernen Berufseinsteiger nicht nur durch Rezeption des eigenen Mediums und durch Beobachtung von Kollegen sowie deren Anleitung,12 sondern wohl auch anhand fremder Berichterstattung die Regeln journalistischer Arbeit kennen. Darüber hinaus können sich Medien auch in Bezug auf ihre Arbeitsweise (also die Organisation der Redaktion oder des Medienunternehmens und die darin ablaufenden Prozesse) aneinander orientieren, und nicht nur in Bezug auf das Ergebnis, die publizierten Inhalte. Von dem gewählten Begriff der Koorientierung abzugrenzen ist die direkte Übernahme von Agenturberichterstattung, da Agenturdienste für diesen Zweck bezogen und bezahlt werden und es sich somit um ein „Outsourcing“ journalistischer Eigenproduktion handelt. Nicht weiter berücksichtigt wird auch der Fall, in dem fremde Medien (oder deren Berichterstattung) der explizite Gegenstand oder Bezugspunkt der eigenen Beiträge werden. Zu diesen Formen der Selbstbezüglichkeit zählen etwa der Medienjournalismus (also metamediale bzw. metajournalistische Darstellungsformen) und andere Formen der Selbstthematisierung,13 das direkte oder indirekte Zitat fremder Beiträge bzw. die explizite Übernahme von Informationen und der Fall, dass sich Inhalte verschiedener Medien auf offensichtliche Weise zueinander verhalten wie Rede und Gegenrede (etwa im Falle des „Debattenfeuilletons“) oder auch wie Original und Parodie. Je nach Periodizität der beiden beteiligten Medien und nach dem Grad des Orientierungsbedarfs seitens der Journalisten des „abhängigen“ Mediums können diese die Berichterstattung des Leitmediums nur in Bezug auf ein sehr umgrenztes Ereignis oder einen anderen spezifischen Gegenstand beobachten, oder sie orientieren sich grundsätzlich hinsichtlich der Behandlung eines umfassenderen Themas. Dies kann insbesondere dann notwendig werden, wenn noch keine eigene Berichterstattung zu einem konkreten Ereignis vorliegt, die Orientierung bieten könnte. Die Behandlung eines übergeordneten Themas oder Ereignisstranges durch ein Leitmedium kann dann Anhaltspunkte für die Berichterstattung über untergeordnete Ereignisse liefern. Bei der Erforschung von Koorientierung hat dies zur Konsequenz, dass diese inhaltliche Ebene beachtet werden muss, wie sie in der Praxis gesetzt wird, und nicht einfach vom 11 Breed: „Social Control in the Newsroom“; Weischenberg u.a.: Die Souffleure der Mediengesellschaft, S. 145ff. 12 Zur journalistischen Sozialisation vgl. Weischenberg: Journalistik, Bd. 2, S. 525ff.; Breed: „Social Control in the Newsroom“. 13 Vgl. z.B. Malik: Journalismusjournalismus. Funktion, Strukturen und Strategien der jounalistischen Selbstthematisierung.

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Forscher willkürlich gewählt werden kann. Es muss also berücksichtigt werden, wie anhand bestimmter Schemata und Routinen unstrukturierte Geschehnisse sich im Prozess der Nachrichtenproduktion zu Ereignissen, Ereignissträngen und Themen zusammenschließen, und diese Gliederung des Gegenstandes muss in eine Untersuchungsanlage einfließen. Insgesamt steht hier der Fall im Mittelpunkt, dass sich bei der aktuellen Berichterstattung zweier Redaktionen verschiedener Medien zu einem von ihnen unabhängigen Thema eine Redaktion am Produkt einer zweiten orientiert (die Tätigkeit eines dritten Mediums kann dabei aber durchaus das Thema sein). Wir betrachten hier überdies eher die kurzfristigen Prozesse der Koorientierung, die sich auf einen bestimmten, mehr oder weniger begrenzten Gegenstandsbereich beziehen.

Komplexitäts- und Kostenreduktionsfunktion von Koorientierung Wenn journalistisch zu arbeiten heißt, Ausschnitte aus dem Geschehen in der Welt auszuwählen, dann bedeutet dies, dass diese Komplexitätsreduktion der (Nachrichten-)Umwelt mittels relativ begrenzter Ressourcen auf individueller, organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene erfolgen muss. Auf individueller Ebene besteht aufgrund der begrenzt verfügbaren kognitiven Kapazitäten ein zweifacher Selektionsdruck auf den einzelnen Journalisten. Erstens muss die Entscheidung für den Ausschnitt des Geschehens erfolgen, bei dem eine adäquate Aufarbeitung und Interpretation für das Publikum vorgenommen werden kann. Zweitens müssen der Produktionszyklus des Mediums sowie die Wahrscheinlichkeit der Veränderung der Ereignislage berücksichtigt werden. Erst durch den interpretativen Abschluss des Geschehens, also die Verdichtung des Geschehens zu einer Sinneinheit wie Ereignis, Thema oder Tag, kann eine den Produktionszyklen der Massenmedien adäquate Vermittlung erfolgen. Zwar sind vor allem bei Funk- und Onlinemedien beliebig viele Berichterstattungszeitpunkte denkbar, allerdings wird der Ereignisfluss dennoch nur in Ausnahmefällen (im Rahmen einer Live-Berichterstattung etwa) als Ganzes übertragen. Die Beschränkung auf abgegrenzte oder Teilereignisse ist die Regel. Journalisten müssen sich bei der Nachrichtenerstellung folglich dem Problem stellen, dass aus normativer Perspektive das „richtige“ Ereignis ausgewählt werden muss, wobei diese Entscheidung aus ökonomischer Perspektive nur geringen zeitlichen und kognitiven Aufwand erfordern darf. Damit kann das Prinzip der Nachrichtenauswahl als Zweck-Mittel-Problem verstanden werden, die richtige Entscheidung ressourcensparsam zu treffen. Dabei ist anzunehmen, dass die Reduktion von Unsicherheit zu einer Lösung bzw. einer deutli-

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chen Minimierung dieses Problems beiträgt.14 Die Orientierung an Themenauswahl und Zuschnitt anderer Medien kann hierbei einen entscheidenden Beitrag auf allen Stufen des journalistischen Produktionsprozesses leisten: So kann die Beobachtung des Verhaltens anderer Medien dem einzelnen Journalisten bei der Recherche Aufschluss darüber geben, welche Ereignisse bzw. Ereigniselemente in der eigenen Berichterstattung berücksichtigt werden müssen.15 Der Blick in andere Medien verrät, was bereits publiziert ist und welche Aspekte noch der Bearbeitung bedürfen. Gleichfalls bieten andere Medien für die Erstellung und die Publikation des eigenen Artikels einen Interpretationsrahmen an und geben Aufschluss über die Gewichtung einzelner Aspekte sowie ganzer Themen insbesondere in Bezug auf Umfang und Platzierung. Das einzelne Ereignis ist zudem nicht nur bereits ausgewählt und mit den journalistischen Interpretationsrahmen und Nachrichtenwerten Umfang und Platzierung aufbereitet,16 es wird auch in einer journalismuskompatiblen Form präsentiert, was Adaptionen formal erleichtert. Koorientierung stellt jedoch nicht die einfache Übernahme von Inhalten dar, vielmehr werden die einzelnen Elemente den eigenen Bedürfnissen angepasst (z.B. an die Zielgruppe oder regionale Besonderheiten) und entsprechend für das eigene Medium „übersetzt“. Folglich sorgt Koorientierung zwar für eine Ähnlichkeit in der Berichterstattung, nicht aber zwingend für Konsonanz. Die Orientierung an anderen Medien stellt dabei nicht nur eine komplexitätsreduzierende Strategie der Unsicherheitsreduktion dar, sie ist darüber hinaus auch noch kostengünstig,17 da aufwändige eigene Recherchearbeit reduziert wird. Koorientierung führt somit auf individueller Ebene zu einer Steigerung der Effektivität, indem sie Entscheidungen von Journalisten ermöglicht bzw. vereinfacht, und der Effizienz, indem sie gleichzeitig Ressourcen einspart. Die Tragweite der Effizienzsteigerung durch journalistische Koorientierung zeigt sich jedoch erst aus organisatorischer Perspektive des Medienunternehmens als Ganzes. Auf organisatorischer Ebene sind die Komplexität und Vielfalt der (Nachrichten-)Umwelt vor allem mit dem Problem begrenzter Personalkapazität verknüpft. Den Kosten für die Beschäftigung eines umfangreichen Mitarbeiterstabs, welcher den Anforderungen einer komplexen Ereignislage gerecht wird, stehen Bestrebungen, wenn nicht der Gewinnmaximierung,

14 Zum Motiv der Unsicherheitsreduktion vgl. Atkin: „Instrumental Utilities and Information Seeking“. 15 Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer, S. 227ff. 16 Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Massenmedien, S. 117; Reinemann: „Routine Reliance Revisited“, S. 860. 17 Ebenda.

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so doch der Wirtschaftlichkeit gegenüber.18 Dabei stellt die Einsparung von Personalkosten eine mögliche Strategie dar: So werden etwa Redaktionen verschiedener Ausgaben fusioniert, Korrespondentennetze weitmaschiger gelegt, einzelne Journalisten mit mehreren Produktionsschritten betraut, fest Angestellte durch freie Mitarbeiter ersetzt sowie alternative, kostengünstige Publikationsformen entwickelt. Gleichwohl steht diesen Einsparungen der Anspruch gegenüber, den Rezipienten weiterhin ein qualitativ hochwertiges Produkt anbieten zu können. Dementsprechend müssen die verbleibenden Kräfte effizienter eingesetzt werden. So kann statt auf ein eigenes Rechercheteam auf die Rechercheergebnisse eines anderen Mediums zurückgegriffen werden oder die über Nachrichtenagenturen versendeten Texte werden in Anlehnung an andere Medien überarbeitet und platziert. Auf gesellschaftlicher Ebene findet durch journalistische Koorientierung ebenfalls eine Komplexitätsreduktion statt. Durch die Orientierung der Medien aneinander entstehen aus Sicht der Rezipienten ereignis- oder themenspezifisch mehrere Gruppen von Medien, deren Mitglieder sich hinsichtlich der Berichterstattung weitgehend ähneln. Indem nicht jedes Medium unterschiedlich berichtet, findet nicht nur auf Seiten des Kommunikators eine Verringerung von Vielfalt und Komplexität statt, sondern auch auf Seiten der Rezipienten. Dadurch werden zwei Dinge gewährleistet: Erstens wird durch die Beschränkung auf wenige aktuelle Themen die Konstanz und Koordination eines öffentlichen Diskurses durch den Journalismus erst ermöglicht. So können dauerhafte Anstrengungen zur Lösung der in der Berichterstattung dargestellten Probleme unternommen und die Vernetzung von (Teil-)Problemen explizit verdeutlicht werden. Zweitens können bestimmte Themen als bekannt vorausgesetzt werden, was die Anschlussfähigkeit von Folgeberichterstattung gewährleistet.19 Journalisten können Folgeberichterstattung vornehmen, ohne die bereits bestehenden Publikationen resümieren zu müssen. Auf allen drei Ebenen kommt Leitmedien eine besondere Rolle zu. Sie zu beobachten führt sowohl auf individueller als auch auf organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene zu einer weiteren Komplexitätsreduktion. Es müssen nicht alle Medien beobachtet werden, sondern nur die relevanten, die Leitmedien. Sie erhöhen somit die gegenseitige Koordination bzw. Steuerbarkeit im Mediensystem und in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen mit Bezug zum Mediensystem.

18 Heinrich: Medienökonomie, Bd. 1, S. 191ff. 19 Vgl. hierzu wie zum Vorhergehenden Luhmann: Die Realität der Massenmedien.

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Legitimationsfunktion von Koorientierung Wenn im Zusammenhang mit Koorientierung von Legitimation die Rede ist, so müssen zwei Sachverhalte unterschieden werden: die Legitimation von Koorientierung und Koorientierung als Strategie zur Legitimation journalistischen Handelns. Im ersten Fall steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit es gesellschaftlich wünschenswert ist, dass sich Medien aneinander orientieren und welche Folgen dieses Verhalten für das Handeln des Einzelnen und für die auf den Journalismus bezogenen gesellschaftlichen Teilsysteme hat. Diese Überlegungen sollen jedoch trotz ihrer gesellschaftlichen Relevanz an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Vielmehr kann dann von einer Legitimationsfunktion der Koorientierung gesprochen werden, wenn Koorientierung als Strategie zur Rechtfertigung journalistischen Handelns herangezogen wird. Legitimes Handeln bedeutet hierbei für den einzelnen Journalisten die normativ richtigen Auswahl- und Publikationsentscheidungen zu treffen und gleichzeitig beim Publikum den Eindruck von Vollständigkeit und Relevanz zu wecken bzw. zu wahren. Argumentativ wird der Legitimationsbegriff dabei eng mit dem der journalistischen Qualität verknüpft. Journalisten schreiben diese einerseits teilweise unhinterfragt dem Gegenstand der Berichterstattung zu, andererseits verweisen sie auf die Wünsche des Publikums. In Bezug auf die normativ richtige Auswahl- und Publikationsentscheidung kann zunächst auf ein großes Maß an Vielfalt verweisen werden. Die Komplexität des Ereignisflusses zu reduzieren heißt nämlich nicht, Vielfalt auszuschalten. Vielmehr muss eine Auswahl erstens die „gegenständliche Vielfalt“ der „die verschiedenen Lebensbereiche betreffenden Ereignisse, Informationen und Themengebiete“ ebenso berücksichtigen wie den Bezug auf zweitens „verschiedene geographische bzw. regionale Räume“, drittens auf „verschiedene kulturelle bzw. ethnische Gruppen“ und viertens „auf verschiedene gesellschaftliche bzw. politische Interessen.“20 Leitmedienorientierung ist hier in dreierlei Hinsicht hilfreich. Erstens haben Leitmedien zumeist überregionale Bedeutung, so dass deren Inhalte oftmals auch regionale, thematische und perspektivische Vielfalt widerspiegeln. Selbst bei Themen, bei welchen das einzelne Leitmedium eine bestimmte Position bezieht, ist es wahrscheinlich, dass auf kontroverse Positionen eingegangen wird und andere Leitmedien andere Positionen vertreten. Zweitens markieren Leitmedien die entscheidenden Themen, Akteure und deren Ansichten, indem sie sie in einer Debatte hervorheben. Journalisten der Gefolgschaftsmedien bekommen so eine mögliche Gewichtung der Vielfaltskriterien präsentiert. Drittens liegen die Inhalte bereits journalistisch aufbereitet vor. Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, genügen 20 Hier nach Schatz/Schulz: „Qualität von Fernsehprogrammen“, S. 694.

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diese bereits den formalen Anforderungen des Journalismus. Dies betrifft auch journalistische Qualitätskriterien wie etwa die Wahrhaftigkeit der Berichterstattung, deren bereits erfolgte Prüfung durch die Leitmedien unterstellt wird. Hierdurch stellt Koorientierung auch eine Vereinfachung journalistischer Arbeitsroutinen dar. Neben dem Verweis auf den Erhalt von Vielfalt trotz Selektion kann journalistische Arbeit auch durch eine Betonung ihrer Rechtmäßigkeit legitimiert werden. Dabei gibt die geltende Rechtsprechung die Regeln vor, mit welchen Journalisten eine Publikation oder eine bewusste Nicht-Publikation begründen können. So wird etwa die Berichterstattung über Prominente und die Einschränkung von deren Persönlichkeitsrechten mit dem öffentlichen Interesse legitimiert.21 Koorientierung an anderen Medien ermöglicht Journalisten hierbei abzuschätzen, wie weit die geltende Rechtsprechung ausgelegt werden kann, also wie sehr andere Rechtsgüter durch die eigenen Arbeitsweisen bei Recherche, Edition und Publikation beschnitten werden können, ohne sanktioniert zu werden. Die Legitimation des eigenen Handelns durch Betonung der Rechtmäßigkeit funktioniert dabei auch präventiv, wenn unklar ist, ob die Grenze der Rechtmäßigkeit überschritten ist. So haben etwa während des Karikaturenstreits zahlreiche deutsche Tageszeitungen zumindest einen Teil der Karikaturen aus der dänischen Zeitung Jyllands-Posten abgedruckt mit dem Hinweis darauf, dass man sich von den Karikaturen distanziere, aber ein öffentliches Interesse am Sachverhalt an sich bestehe und Medien hier eine Chronistenpflicht hätten.22 Auch hier dient Koorientierung dazu das eigene Verhalten zu rechtfertigen, indem Leitmedien als Beispiel für erfolgreiches, rechtlich folgenloses Handeln herangezogen werden. Die Orientierung an Leitmedien gibt hierbei eine besonders hohe Sicherheit, da diese im Zentrum gesellschaftlicher Aufmerksamkeit zu stehen scheinen. Über die Abschätzung des eigenen Handlungsspielraums hinaus wird durch den Verweis auf Leitmedien auch die Erfüllung gesellschaftlicher und rechtlicher Anforderungen vereinfacht. So kann, wenn die Quellenlage aus Sicht des eigenen Mediums unklar ist, der Pflicht nach wahrhaftiger Berichterstattung durch den Satz „Wie Bild berichtet…“ relativ einfach genüge getan werden. Dadurch können Inhalte zeitnah kommuniziert werden, während die Entwicklung des Themas abgewartet bzw. die eigene Produktion eingeleitet werden kann. Neben der Begründung journalistischen Arbeitens durch die (scheinbare) Bestätigung einer normativ richtigen Auswahlentscheidung wird Legitimität im 21 Ein gutes Beispiel ist hier das Caroline-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Bundesverfassungsgericht: BVerfGE 101, S. 361). 22 Naab: Die Gesichter der Meinungs- und Medienfreiheit, S. 4.

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Journalismus durch die Erweckung des Eindrucks von auf die Rezipienten bezogener Relevanz und Vollständigkeit der Berichterstattung hergestellt. Hinsichtlich der Relevanz von Berichterstattung kann die Entscheidung über die Publikationswürdigkeit zwar anhand der Zuschreibung von Nachrichtenwerten erfolgen, diese bleibt jedoch ohne die Orientierung an anderen Medien, besonders an Leitmedien, vergleichsweise unscharf. Während die Zuschreibung von Nachrichtenfaktoren als Strategie der Nachrichtenauswahl bei der Sozialisation von Journalisten vermittelt werden kann23 bzw. bestimmte Ereignisse aus Sicht des Journalismus immanent wichtig zu sein scheinen, ist dies bei der Frage nach Interpretation und Zuschnitt nur bedingt möglich. Eine valide Aussage über die Wertigkeit eines Ereignisses als Nachricht können Journalisten nur durch Triangulation treffen, indem nämlich den eigenen Kriterien diejenigen der anderen Medien gegenübergestellt werden.24 Leitmedien sind hierfür aus zwei Gründen besonders geeignet. Zum einen misst das Publikum diesen eine besondere Bedeutung zu, zum anderen orientieren sich besonders viele Medien an ihnen. Journalisten können sich so ein Bild davon machen, was üblich ist und ihre Entscheidungen mit eben diesem Argument begründen. Vergleichbare Überlegungen lassen sich in Bezug auf die Akzeptanz anführen. Zahlreiche Autoren25 zeigen auf, dass Journalisten kein bzw. ein unzureichendes Bild ihres Publikums haben. Im Gegensatz dazu müssen Medien permanent zeigen, dass sie wissen, was das Publikum wissen möchte. Der damit verbundene Anspruch auf Vollständigkeit lässt sich nur durch eine umfassende Umweltbeobachtung realisieren. Da sich aber das Publikum der direkten Beobachtung durch den einzelnen Journalisten weitgehend entzieht, fungieren der wirtschaftliche Erfolg oder das wahrgenommene Prestige anderer Medien, insbesondere der Leitmedien, als Indikator. Koorientierung ersetzt demnach die Publikumsbeobachtung. Da Medien im Regelfall um die Aufmerksamkeit des Publikums konkurrieren und die Aktualität der Berichterstattung als entscheidende Messgröße gilt, realisiert Koorientierung auch die Konkurrenzbeobachtung. Koorientierung liegt hier in ihrer reaktiven Form vor: Durch die Nutzung der Konkurrenzmedien erfährt der einzelne Journalist, welche Themen wie auf der Agenda der Konkurrenz platziert wurden und gewinnt Auskunft über den Bearbeitungsstand eines Ereignisses bzw. einer Ereignisfolge oder eines Themas. Bei nahezu identischer Berichterstattung, welche die angemessene Qualität der eigenen Arbeit demonstriert und diese so legitimiert, dienen kleine Differenzierungen zwar dem Image, aber sonst herrscht Angst 23 Breed: „Social Control in the Newsroom“; wobei auch hier häufig vom Verweis auf Qualitätsmedien Gebrauch gemacht wird. 24 Kepplinger: „Der Nachrichtenwert der Nachrichtenfaktoren“. 25 Exemplarisch Donsbach: „Journalisten zwischen Publikum und Kollegen“.

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davor, dass man ein Thema nicht wie alle anderen aufgreift.26 Dementsprechend können etwa nach dem Versenden von Vorabmeldungen der Konkurrenz die eigenen Anstrengungen koordiniert werden, um zum nächsten Erscheinungstermin nicht hinten anzustehen, oder es kann durch anderweitige Beobachtung anderer Medien sichergestellt werden, dass man kein wichtiges Thema verpasst. Die von Schatz und Schulz27 angeführte Qualitätsdimension der journalistischen Professionalität legitimiert die genannten Legitimationsstrategien, indem berufliche Praktiken zunächst in eine dem Berufsfeld vertraute Vorgehensweise, dann in eine für die Ausübung des Berufs notwendige Praxis überführt und ex post begründet oder kodifiziert werden. Dies kann sowohl in Bezug auf das Handwerk im Rahmen von Ratschlägen oder Journalistenhandbüchern erfolgen als auch auf normativer Ebene über die Erstellung eines Verhaltenskodex und die Einführung von Sanktionsmaßnahmen bei Verstößen.28 Koorientierung liefert dabei im Fall der Sozialisation von Berufsanfängern Beispiele guter Praxis: Besonders Leitmedien werden jungen Kollegen als Beispiel guter Berichterstattung genannt.29 Es kann jedoch argumentiert werden, dass professionelle Normen letztlich Strategien darstellen, um in der alltäglichen Berichterstattung Kompetenz zu demonstrieren30. Sie bedienen letztlich aber nur Wahrnehmungsheuristiken der Rezipienten. Koorientierung gibt dabei Aufschluss darüber, welche Strategien die Kollegen nutzen. Dazu gehört etwa, gegensätzliche Meinungen zu präsentieren, Behauptungen bzw. Analysen mit eigentlich randständigen zusätzlichen Informationen zu unterfüttern, die eine Verallgemeinerbarkeit der Behauptungen nahelegen. Außerdem nutzen Journalisten alltägliche Fallbeispiele als Beleg für ihre Behauptungen,31 um so im Sinne einer allgemeinen, offen zutage liegenden „Wahrheit“ zu argumentieren. Schließlich kann durch die Strukturierung des einzelnen Kommunikats Objektivität suggeriert werden: Wichtige Aspekte werden zu Beginn eines Beitrags genannt, weniger wichtige gegen Ende.

26 Vgl. Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 32. 27 Schatz/Schulz: „Qualität von Fernsehprogrammen“. 28 Deutscher Presserat: Pressekodex; Deutscher Presserat: Beschwerdeanleitung. 29 Breed: „Social Control in the Newsroom“; Scholl/Weischenberg: Journalismus in der Gesellschaft, S. 98. 30 Zur Demonstration z.B. der Objektivität der Berichterstattung vgl. Tuchman: „Objectivity As Strategic Ritual“, S. 665ff. 31 Gibson: „The Implications of Exemplification Theory For Newsroom Diversity Policies“; sowie im Überblick: Daschmann: „Effects of Exemplification and Exemplars“.

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Insgesamt sichert Koorientierung als Legitimationsfunktion die Stabilität im journalistischen System im positiven wie im negativen Sinn. Einerseits ermöglicht Koorientierung eine routinierte Arbeitsweise mit relativ verlässlichen Heuristiken. Andererseits gelingt dies dadurch, dass das Verhalten aller mit dem Verhalten aller gerechtfertigt wird. Dadurch entzieht sich die Prüfung journalistischer Qualitätskriterien nahezu völlig einer Einsicht von außerhalb des Systems Journalismus. Das Fehlen eines archimedischen Punktes und die resultierende Zirkularität der Legitimation sorgen dafür, dass der einzelne Journalist stabile Arbeitsbedingungen vorfindet. Sie tragen aber auch dazu bei, dass Missstände, welche das System als Ganzes betreffen, nicht erkannt werden bzw. deren Überwindung behindert wird.

Strategische Funktion von Koorientierung Die Orientierung an anderen Medien übernimmt in zweierlei Hinsicht eine strategische Funktion im Journalismus. Zunächst stellt sie als Orientierung am Verhalten der Kollegen, wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt, ein Mittel der Sozialisation dar. Dabei spielen in Bezug auf die Kollegen innerhalb wie außerhalb der eigenen Redaktion Annäherung und Abgrenzung gleichermaßen eine Rolle. Koorientierung dient damit der Distinktion von (Interessens-) Gruppen innerhalb des Systems Journalismus, indem sie als Heuristik die Bestimmung sozialer und psychischer Distanzen32 der einzelnen Akteure zueinander ermöglicht. Für den einzelnen Journalisten erlaubt dies eine Positionierung innerhalb des Systems und bildet die Grundlage für strategisches Handeln. Dies umfasst sowohl den Wunsch nach materiellem und beruflichem Erfolg als auch das Streben nach Ansehen und Einfluss oder zumindest Teilhabe an einer publizistischen „Strömung“, die einflussreich ist. Auch auf organisatorischer Ebene ist Koorientierung unter strategischen Gesichtspunkten funktional. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel erläutert, ist die Orientierung an anderen Medien eine Heuristik zur Bestimmung der Haltung der Bevölkerung bzw. der Zielgruppe. Die Imitation des Verhaltens eines anderen Mediums kann im Markt publizistisch wie ökonomisch erfolgreich sein. Leitmedien wird dabei hinsichtlich des Verhaltens die Rolle eines Vorbilds zugesprochen, welches das Gefolgschaftsmedium zu imitieren versucht. Der Imitation des Verhaltens soll dann die Imitation des publizistischen und ökonomischen Erfolgs folgen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Zuverdienste der deutschen Zeitungsverlage mit Produkten außerhalb des Angebots 32 Tajfel: Differentiation Between Social Groups; Tajfel/Turner: „The Social Identity Theory of Intergroup Behavior“.

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der Tagespresse. Im Gegensatz dazu kann aber auch die Strategie bewusster Abgrenzung von anderen Medien zu publizistischem und wirtschaftlichem Erfolg führen. Dies ist vor allem in gesättigten Märkten der Fall. Hier kann die Positionierung in Marktnischen, welche für große, etablierte Marktteilnehmer unattraktiv sind (etwa besonders kleine Zielgruppen) relevant sein. In beiden Fällen ist Koorientierung dann besonders attraktiv, wenn der Aufwand dafür gering ist.

Schlussfolgerung und Ausblick Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten detaillierter verschiedene Funktionen der Orientierung an Leitmedien beschrieben wurden, sollen zum Abschluss diese Überlegungen zur Funktionalität und Dysfunktionalität der Koorientierung verallgemeinert und mit Blick auf die Ebenen des Journalismus und der Gesellschaft zugespitzt werden. Insgesamt ermöglicht Koorientierung, sofern sie angleichend wirkt, eine Koordination und Konstanz innerhalb des Mediensystems oder innerhalb bestimmter Gattungen oder Gruppen von Medien. Dies wirkt in zwei Dimensionen: Entlang der Zeitachse werden Themen und Ereignisstränge konstanter behandelt und im Querschnitt tritt über verschiedene Medien hinweg eine Konzentration auf bestimmte Themen ein. Auch wenn einzelne Medienberichte hinsichtlich ihrer Gestalt eine Geschlossenheit aufweisen, nicht zuletzt durch narrative und andere konventionelle Formen und den zugrunde liegenden Ereignisbegriff, der dem Betrachter sehr vertraut und damit natürlich erscheint, sind doch Berichte notwendigerweise fragmentarische Darstellungen der Realität.33 Ordnung entsteht oft erst im Rückblick, und die notwendige Arbeit, um Ordnung in der Informationsflut kognitiv herzustellen, wird nicht immer vollständig durch die aktuellen Medien selbst geleistet, sondern auch in hohem Maße durch die Rezipienten.34 Hierbei ist es jedoch hilfreich, wenn nicht notwendig, dass bereits zumindest implizit der Berichterstattung Schemata unterlegt sind, die einen thematischen und sachlichen Zusammenhang von Einzelberichten herstellen. Dass solche Schemata entstehen und dauerhaft angewendet werden, ist wohl nicht nur eine Folge der Arbeitsweise einzelner Redaktionen, sondern auch der Orientierung aneinander. Medien setzen sich selbst und der Gesellschaft auf zweifache Weise Themen: zunächst überhaupt

33 Vgl. schon Park: „News As a Form of Knowledge: A Chapter in the Sociology of Knowledge“. 34 Vgl. hierzu Graber: Processing the News.

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durch die Abstraktion von Geschehnissen zu Themen, und dann durch die Betonung einiger davon auf Kosten anderer.35 Die medienübergreifende Beachtung bestimmter ähnlich abgegrenzter Themen und Ereignisse ist dann funktional, wenn sie die Fähigkeit zur Verarbeitung von Komplexität innerhalb des Journalismus und damit potenziell die Fähigkeit anderer System zur konzentrierten Lösung von Problemen erhöht. Dies gilt weniger, wenn die Berichterstattung im Grenzfall identisch wird, was ineffizient wäre, sondern wenn trotz gemeinsamer Gegenstände verschiedene Medien arbeitsteilig unterschiedliche analytische Leistungen liefern, wenn also Themen verschieden kommentiert und gleichermaßen für bestimmte Zielgruppen, Systeme oder Regionen „übersetzt“, aktualisiert und mit weiteren Informationen und Deutungen angereichert werden. Koorientierung reduziert somit im Optimalfall Themenvielfalt, ohne innerthematische Vielfalt zu beschneiden. Allerdings muss die Frage nach der Funktionalität von Koorientierung auch in kritischer Absicht gestellt werden. Insbesondere ist dies nötig, weil gerade durch die Koorientierung sich Praktiken im Journalismus zu Normen verfestigen und Geltung nicht zuletzt dadurch erlangen, dass die Berichterstattung vieler oder aller Medien unhinterfragt diesen Prinzipien folgt. Eine starke Beachtung und damit Wirkung von Leitmedien führt zu einer Standardisierung der Berichterstattung oder, falls Koorientierung nicht nur als Gefolgschaft, sondern z.B. auch als teilweise routinemäßige Gegenprogrammierung zur Konkurrenz verstanden wird, zumindest zu einer stärkeren Vorhersehbarkeit der Medieninhalte und möglicherweise einer erlahmenden Kreativität bei ihrer Produktion. Dies steht natürlich den auch im Journalismus selbst geforderten Prinzipien der Vielfalt und Unabhängigkeit entgegen. Auf abstrakterer Ebene ist die Fähigkeit des Mediensystems gefährdet, durch echte inhaltliche und organisatorische Differenzierung der Komplexität der Geschehnisse in der Welt gerecht zu werden. Sowohl die Konzentration auf eine gewisse Zahl an Themen als auch die Offenheit für neue Gegenstände und vielfältige Sichtweisen der Berichterstattungsgegenstände steigern die Fähigkeit der Gesellschaft, Probleme zu identifizieren und zu lösen. Einseitige Orientierung an Leitmedien und damit eine einseitige Tendenz zur Konsonanz (bzw. zu wohlgeordneter Differenzierung) kann dagegen innovationsfeindlich wir-

35 In diesem Rahmen ist von einer bestimmten Dimension der Koorientierung, nämlich in Bezug auf Themenwichtigkeit, auch von intermedialen Einflüssen und „intermedialem Agenda-Setting“ gesprochen worden, vgl. Breen: „A Cook, a Cardinal, His Priests and the Press“; Danielian/Reese: „A Closer Look At Intermedia Influences On Agenda Setting“, Reese/Danelian: „Intermedia Influence and the Drug Issue“.

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ken; Diskurse fahren sich fest, der Journalismus und die Gesellschaft können nicht mehr auf neue Bedingungen reagieren, die Funktion der Medien, zu entdecken und zu überraschen, wird nicht mehr erfüllt. Bestärken sich Medien gegenseitig darin, dass ein Thema von überragender Bedeutung sei, kann dies zu einem „Leerlauf“ und einer „Überhitzung“ in der Berichterstattung führen:36 Die geringe Relevanz der Informationen steht in keinem sinnvollen Verhältnis mehr zum Umfang der Berichterstattung, unbedeutende Ereignisse und Spekulationen verstopfen auf Kosten anderer Themen die Kanäle, der Journalismus wird ineffizient. Er beruft sich jedoch übereinstimmend auf dieselben Prinzipien der Professionalität und scheint dadurch legitimiert. Überdies wird das Mediensystem als Ganzes leichter extern steuerbar, wenn die gegenseitige Orientierung stark ist. Leitmedien werden zum Einfallstor für Induktionsversuche37 seitens der Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen, Organisationen und Politik; das Mediensystem ist leichter zu beeinflussen oder durch von brisanten Themen ablenkende Inszenierungen zu blockieren. Anhand der vorgestellten Funktionen lässt sich abschätzen, inwieweit journalistische Organe als Leitmedien durch andere abgelöst werden können. Sie werden dann (teilweise oder ganz) von anderen verdrängt, wenn diese im Vergleich zu ihnen mindestens funktional äquivalent sind und der Aufwand, der für deren Nutzung anfällt, in einem rentableren Verhältnis zur Funktionserfüllung steht. Potenzielle Leitmedien müssen eine geeignete Periodizität aufweisen. Hier sind elektronische Medien und insbesondere journalistische Internetangebote im Vorteil, da durch sie aktuelle Ereignisse schnell aufgegriffen werden. Jedoch verfügen Tageszeitungen über eine wesentlich größere Menge an Informationen als z.B. konventionelle Rundfunk-Nachrichten, sind räumlich variabel und erscheinen, im Gegensatz zu den Fernsehnachrichten, etwa zu Beginn des journalistischen Arbeitstages. Darüber hinaus müssen Journalisten den möglichen Leitmedien Kompetenz und Legitimität zuschreiben, also Objektivität und Universalität bzw. Vielfalt der Berichterstattung im Sinne ihrer journalistischen Definition (die ja immer eher entlastende Konstrukte als empirisch erfüllter und erfüllbarer Anspruch sind38), Relevanz der Gegenstände, also die „richtigen“ (d.h. in der Profession gültigen) Selektionskriterien, und eine angemessene interpretatorische Leistung, insbesondere eine anschlussfähige Konstruktion von Ereignissen. Bei dieser Zuschreibung wird es nicht immer sachlich zugehen – vielmehr spielen womöglich kulturell verwur36 Vgl. z.B. Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft, S. 39f. So kann auch der falsche Eindruck entstehen, gewisse Probleme hätten sich zu einer wahren Welle aufgetürmt, vgl. z.B. Fishman: „Crime Waves As Ideology“. 37 Zum Begriff vgl. Bentele u.a.: „Von der Determination zur Intereffikation, S. 242. 38 Vgl. Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Massenmedien, S. 7ff.

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zelte Hierarchien (z.B. Printmedien vor Fernsehen) und Strategien der Selbstlegitimierung und Kompetenzdemonstration seitens der Medien für ihren Status als Leitmedien eine Rolle. So mögen z.B. Online-Medien ein geringeres Legitimitätsproblem aus Sicht des klassischen Journalismus haben, wenn sie an traditionelle Verlage und Print-Leitmedien angebunden sind. Neue Kommunikationsformen und -angebote, wie etwa Weblogs, mögen im Einzelfall, ähnlich den älteren Alternativmedien, die Funktion der Entdeckung neuer Themen erfüllen,39 jedoch steht einer Anerkennung oft entgegen, dass die Aufbereitung von Ereignissen und Themen nicht mit den professionellen Normen und Routinen im klassischen Journalismus kompatibel ist. Es muss jedoch festgehalten werden, dass Koorientierung wohl nicht auf bestimmte Mediensysteme und Phasen der Medienentwicklung und nicht auf die heutigen Leitmedien begrenzt bleibt, sondern wohl funktional wird und bleibt (dabei jedoch auch nachteilige Effekte zeitigen kann), sobald und solange Medien durch ihre räumliche und zeitliche Verbreitung füreinander leicht verfügbar sind und ihr Nutzen zur Orientierung effizient ist. So kann man die Prognose wagen, dass auch in Zeiten des Internet Leitmedien weiterhin existieren werden, wenn sich auch womöglich noch ungekannte Konfigurationen und Netzwerke der Koorientierung bilden.

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39 Vgl. zur themensetzenden Funktion von Alternativmedien: Mathes/Pfetsch: „The Role of the Alternative Press in the Agenda-Building Process“.

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Kino-Öffentlichkeit. Vom Umbruch der Medien zum Umbruch von Medienöffentlichkeiten Unser Beitrag möchte ein Beschreibungsmodell vorstellen, das es ermöglichen soll, für Medienumbrüche nicht den Aufstieg und Abstieg einzelner Leitmedien, sondern Veränderungen und Verschiebungen innerhalb einer in mehreren Medien operierenden Mediengesellschaft verantwortlich zu machen. Um dieses Untersuchungsmodell zu entwickeln, nehmen wir das von Michael Giesecke entwickelte Konzept einer koevolutiven Mediengeschichte auf,1 ergänzen es um den Begriff Medien- und Kino-Öffentlichkeit und versuchen damit die Perspektiven einer Mediengeschichte zu skizzieren, in der – so unser Vorschlag – nicht von der Vorherrschaft einzelner Medien, sondern von wechselnden Ungleichgewichten in prinzipiell instabilen, weil plural verfassten Medienöffentlichkeiten ausgegangen werden sollte. Gegen einen solchen Versuch, den Begriff Öffentlichkeit für die Medienforschung fruchtbar zu machen, könnte man einwenden: Gibt es denn die dabei vorausgesetzte ‚Öffentlichkeit‘ überhaupt? Oder muss man sich darunter nicht ein virtuelles Konstrukt vorstellen, das Jürgen Habermas in den frühen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwarf,2 um die düstere Zerfallsgeschichte „einer einstmals funktionierenden bürgerlich-aufklärerischen Öffentlichkeit“3, wie den Schattenriss einer längst vergangenen Epoche, an die Wand zu projizieren? Immerhin handelt es sich dabei um ein Modell, das auf Phänomene des 18. und 19. Jahrhunderts in England, Frankreich und Deutschland bezogen ist und sich in anderen Kulturen derart dezidiert weder historisch noch sprachlich wiederfindet – ein Modell zudem, das aufgrund seiner lange auf Deutschland konzentrierten Rezeption den Anschein eines ,deutschen Sonderwegs‘ erwecken konnte.4

1

Vgl. Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft.

2

Vgl. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit.

3

Schildt: „Das Jahrhundert der Massenmedien“, S. 186.

4

Eine breitere Rezeption im englischsprachigen Raum beginnt im Jahr 1989 mit einer Übersetzung unter dem Titel The Structural Transformation of the Public Sphere (Boston, MA) und einer großen interdisziplinären Konferenz an der University of North Carolina (Chapel Hill, NC). So Habermas im „Vorwort zur Neuauflage 1990“, in: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 11.

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Hinzu kommt, dass die normative Geltung der mit dem Begriff Öffentlichkeit verknüpften regulativen Idee heute auch für seine Befürworter nicht unerheblich dadurch beeinträchtigt wird, dass sich die mediengeschichtliche Basis dieser Idee spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert dramatisch verändern sollte. Denn spätestens seit dem Aufkommen technischer Massenmedien um 1900 ist unter ‚Öffentlichkeit‘ nicht mehr eine vorwiegend ‚literarisch‘ verfasste Öffentlichkeit aus prinzipiell gleichberechtigten Diskursteilnehmern zu verstehen,5 sondern der Begriff muss sich jetzt mit sehr unterschiedlich verankerten Formen einer massenmedial ,vermachteten‘ Öffentlichkeit auseinandersetzen. In diesen Kontexten werden, so Habermas in einer seiner jüngsten Äußerungen zum Thema, „politische Öffentlichkeiten durch die Art mediengestützter Massenkommunikation überflutet, die sich keineswegs durch deliberative [sprich: räsonierend-argumentative] Züge auszeichnet“.6 Denn da – so Habermas weiter – den Massenmedien Rundfunk, Kino oder Fernsehen „schon aufgrund ihrer Struktur Züge einer diskursiven Auseinandersetzung fehlen“, können sie zur Entstehung „reflektierter öffentlicher Meinungen“ nur „unter günstigen Umständen“ etwas beitragen. Voraussetzung hierfür ist, dass die „Prestigemedien“ einer „nationalen Qualitätspresse“ „die Rolle von Meinungsführern im intermedialen Austausch“ übernehmen.7 Nur dann ist die (vergleichsweise verhalten bis schwach geäußerte) Hoffnung berechtigt, dass „auf längere Sicht Leser, Hörer und Zuschauer zu politischen Themen vernünftig Stellung [nehmen], wenn auch auf der Grundlage mehr oder weniger unbewusster Prozesse.“8 In solchen Formulierungen zeigt sich die printmediale Hartnäckigkeit eines Öffentlichkeitsmodells, in dem ungeachtet aller Medien-Erweiterungen ‚Öffentlichkeit‘ mit der normativen Vorstellung einer kritisch räsonierenden, weil gedruckten Informations-Öffentlichkeit gleichgesetzt wird. Dies führt bis in die neuesten Publikationen Habermas’ hinein dazu, dass gerade inmitten eines aufmerksam registrierten „unübersichtlichen Geländes der mediatisierten Kommunikation“9 an der unverzichtbaren Leitfunktion einer die Bestände der Massenmedien ebenso sortierenden wie beliefernden „‚räsonierenden‘ Publi5

Vgl. u.a. Requate: „Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse“; Führer u.a.: „Öffentlichkeit – Medien – Geschichte“; Schildt: „Das Jahrhundert der Massenmedien“.

6

Vgl. dazu das Kapitel „Zur Vernunft der Öffentlichkeit“, in: Habermas: Ach, Europa, S. 154f.

7

Ebd., S. 158, 172, 175 (Hervorhebungen im Original).

8

Ebd., S. 179.

9

Vgl. Habermas im Vorwort zu Peters: Der Sinn von Öffentlichkeit, S. 8.

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zistik“ festgehalten wird; nur deren Organe können die für eine „demokratische Meinungs- und Willensbildung“ unverzichtbare Rolle von „Leitmedien“ übernehmen.10 Dies lässt darauf schließen, dass das Modell Öffentlichkeit für die zu Beginn skizzierte Vorstellung einer konsequent dehierarchisierten Mediengeschichte nur dann fruchtbar gemacht werden kann, wenn es aus seiner exklusiven Verklammerung mit der normativen Vorstellung einer in erster Linie politisch informierenden Öffentlichkeit herausgelöst wird. Erst dann vermag das Modell Öffentlichkeit seine produktiven Anregungen auch dort zu entfalten, wo es nicht in erster Linie um politische Information und Aufklärung, sondern auch – oder besser: vor allem – um Unterhaltung geht,11 und zwar um kommerzialisierte Unterhaltung – Kulturindustrie eben. Wenn man vor diesem Hintergrund am Beschreibungsmodell Öffentlichkeit festhalten will, dann ist es – erstens – notwendig, die in dieser Öffentlichkeit abgebildeten Handlungen und Normen nicht länger mit einer bestimmten historischen Schrift- und Bildungskultur gleichzusetzen, sondern mit dem Begriff ‚Kultur‘ die Gesamtheit aller Zeichensysteme und Handlungen anzusprechen, in denen in einer Gesellschaft über Werte, Sozial-Rituale und Sinnzuschreibungen kommuniziert wird. Weiter ist – zweitens – festzuhalten, dass der Begriff der Öffentlichkeit nicht an ein bestimmtes Medium gebunden ist, sondern lediglich voraussetzt, dass sich zwischen unterschiedlichen Akteuren mehr oder weniger verdichtete Prozesse der Kommunikation in bestimmten Räumen mit Hilfe bestimmter Medien ereignen. Woraus sich – drittens – folgern lässt, dass Öffentlichkeit überall dort stattfindet, wo Akteure in Räumen mit Hilfe von Medien das herstellen und verdichten, was wir heute Kommunikation nennen. Die dazu erforderlichen Räume können – viertens – im Kaffeehaus des 18. Jahrhunderts oder im Kino des 20. Jahrhunderts die physisch existenten Räume einer bestimmten Veranstaltungsöffentlichkeit bezeichnen oder heute den virtuellen Kommunikationsraum digitaler Internet-Interaktionen meinen. Hinzu kommt – fünftens – die medial generierte Reflexionsöffentlichkeit eines in einer Zeitung oder in einem Fan-Gespräch über die letzte FernsehSportschau oder andere Medienereignisse sich austauschenden Publikums. Man könnte auch pointieren: Öffentlichkeiten sind ohne Medien gar nicht denkbar, und Öffentlichkeiten sind so gesehen stets als plural verfasste Medien-Teilöffentlichkeiten zu denken. Einen derart dehierarchisierten, dynamischen und pluralen Begriff von Medienöffentlichkeit möchten wir im folgenden anhand des Modells einer Kinoöffentlichkeit erproben. In diesem Modell 10 Vgl. Habermas: „Zur Vernunft von Öffentlichkeit“, S. 134ff. 11 Vgl. Requate: „Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse“ und Weßler: Öffentlichkeit als Prozeß, S. 37.

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können bestimmte Medien – erstens – als Leitmedien bestimmter Teilöffentlichkeiten identifiziert werden, als solche Leitmedien – zweitens – eine keineswegs linear aufsteigende Emanzipationsgeschichte entfalten und aus den in deren Verlauf sich einstellenden Wechselwirkungen mit anderen Medien – drittens – eine neue Form von Gesamtöffentlichkeit herausbilden. Im Rahmen eines solchen Begriffkonzepts geht es im Auf und Ab von Leitmedien also nicht um lineare bis kausale Ableitungen (nach dem Muster ‚weil Medium A zum Leitmedium aufsteigt, muss man auf das absteigende Medium B nicht weiter achten‘), sondern um die Annahme von Wechselwirkungen (nach der Prämisse ‚für den Aufstieg eines Mediums bilden andere Medien die ebenso unverzichtbare wie sich selbst verändernde ,Umwelt‘).

1

Dimensionen von Kinoöffentlichkeit

Im Rahmen eines solchen Konzepts von Medienöffentlichkeit verstehen wir unter Kinoöffentlichkeit -

erstens die Gesamtheit aller topographischen, ökonomischen, programmästhetischen und rezeptionshistorischen Faktoren, die zuerst im Rahmen bereits existierender Versammlungsöffentlichkeiten (wie der des Varietés oder des Jahrmarkts) und dann im Rahmen dauerhaft präsenter eigener Veranstaltungsöffentlichkeiten die Produktion, Distribution und Rezeption von Filmen ermöglichen und steuern (also alles, was zum ,Kino‘ im Sinne des französischen Terminus cinéma gehört);

-

zweitens die Gesamtheit aller kulturellen Institutionen, in denen die Öffentlichkeit des Kinos in der Form einer reflexiven Begleitöffentlichkeit kommentiert (Presse), reflektiert (Kinodebatten) und reglementiert (Polizeiberichte, Zensur) wird. Und schließlich sind

-

drittens hinzuzufügen die strategisch anvisierten und/oder tatsächlich erreichten Publikumsschichten des Kinos.

Was die im Rahmen dieses Modells zu berücksichtigenden Faktoren angeht, so verbinden wir mit ihrer Auflistung nicht die Vorstellung, eine jede empirische Untersuchung müsse alle diese Faktoren ebenso vollständig wie mit gleicher Ausführlichkeit erheben und auswerten. Wir gehen vielmehr davon aus, dass die Idee eines Zusammenwirkens aller dieser Faktoren in Form einer heuristischen Leithypothese den Horizont konkreter Falluntersuchungen zur Gestalt und Bedeutung einer Kinoöffentlichkeit im Ensemble kultureller Öffentlichkeiten produktiv erweitert. Die Frage, zu welchen dieser Faktoren im Einzelfall

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recherchiert und ausgewertet werden soll, wird sich an der jeweils zu ermittelnden Quellenlage und am konkreten Forschungsinteresse ausrichten. Will man auf diese Weise spezielle und allgemeine Forschungsperspektiven miteinander verknüpfen, dann erfordert dies eine genaue Unterscheidung zwischen Aussagen, die sich im Rahmen empirisch gesättigter Einzelstudien auf so exakt wie möglich erhobene Einzelfälle beziehen, und Aussagen, die typologisch verallgemeinern und sich darin als Vorgabe für weitere Forschungen bewähren oder auch nicht bewähren. Aus beidem zusammen kann dann so etwas wie ein Gesamtbild zur Entstehung, Etablierung und Differenzierung von Kinoöffentlichkeit entstehen. In alle drei Richtungen haben wir in einem mehrjährigen DFG-Forschungsprojekt Daten aus der Metropolregion Hamburg zur Zeit zwischen 1895 und 1932 gesammelt und im Rahmen einer internationalen Fachkonferenz mit Daten aus anderen Regionen des europäischen und außereuropäischen Auslands verglichen.12 Eine Fortführung der Arbeit in die Zeit nach 1933 hat im Oktober 2007 im Rahmen eines weiteren DFG-Projekts begonnen.13 Als Ergebnis unserer bisherigen Recherchen möchten wir – erstens – die These vertreten, dass die Bedeutung technischer Massenmedien des 20. Jahrhunderts und damit auch des Kinos nicht darin begründet liegt, dass sie die Form einer auf Medien gestützten Informations- und Unterhaltungs-Öffentlichkeit überhaupt erst geschaffen hätten, sondern darin, dass technische Massenmedien eine nur mit ihrer Hilfe herstellbare Intensivierung und Extensivierung dieser Öffentlichkeiten möglich gemacht haben. Dies führt (um die Perspektive komparatistisch über die von uns untersuchte Kinoöffentlichkeit hinaus zu erweitern) dazu, dass akustische und/oder visuelle Daten in Echtzeit übertragen (Radio, Fernsehen) oder beliebig oft und an wechselnden Orten reproduziert werden (Kino); demgegenüber konnten Präsenzmedien wie Theater, Varieté oder Panorama-Rundgemälde in der Regel nur an ihrem jeweiligen Ausstellungsort ihr Massenpublikum mit einem vergleichsweise großen Kostenaufwand faszinieren. Medien, die diesen Medienwandel aktiv mit vorantreiben, können als Leitmedien einer technisch-industriell verfassten Medien-Moderne bezeichnet werden.

12 Zur Auswertung der Phasen bis 1920 vgl. Müller/Segeberg: Kinoöffentlichkeit (1895-1920). 13 Es handelt sich um das Projekt ‚Medialität und Modernität im NS-Kino. Am Beispiel der Metropol-Region Hamburg und anderer Regionen‘. Eine erste Veröffentlichung aus dem Projekt wird gegenwärtig für die Hamburger Hefte zur Medienkultur vorbereitet. An Studien zur Zeit zwischen 1920 und 1932 arbeitet Corinna Müller.

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In einer solchen Perspektive liegt – zweitens – die Bedeutung von Fotografie, Film, Hörfunk und Fernsehen nicht darin, dass mit ihnen Medien überhaupt in die Entstehung und Verdichtung von Öffentlichkeiten eingreifen, sondern darin, dass die damit markierten Prozesse nunmehr von Medien ausgehen, die nicht länger einer Handwerks-Technologie, sondern der MaschinenTechnologie einer mit ihrer Hilfe stetig beschleunigten technisch-industriellen Moderne angehören. Dieser Zusammenhang macht verständlich, dass die im frühen 20. Jahrhundert besonders expansiven ‚neuen‘ Medien Phonograph, Grammophon, Telefon oder (Stumm-)Film zusammen mit der illustrierten Tages- und Wochenpresse der Zeit den Umbau sozialer Hierarchien und Topographien keineswegs nur abbilden, sondern durch die Einbeziehung immer neuer Publikumsschichten aktiv mit vorantreiben. Es ist dieses Wechselverhältnis, in dem moderne Massenmedien das mit erzeugen, was den das 20. Jahrhundert prägenden Typus massenmedial verfasster Unterhaltungs-Öffentlichkeiten kennzeichnet. In einem solchen Kontext ist – drittens – nicht einfach vorauszusetzen, sondern kritisch zu überprüfen, ob in den nicht zu bestreitenden Asymmetrien einer technisch vermittelten Massen-Kommunikation die Rolle von Hörern und/oder Zuschauern irreversibel auf den passiven Konsum von apparativ vorgefertigten Medienprodukten festgelegt ist. Hier geben die Ergebnisse unserer Arbeiten durchaus Anlass anzunehmen, dass auch in einer Kommunikation, in der technische Vermittlungsapparaturen eine direkte face-to-face-Interaktion zwischen Sender und Empfänger ausschließen, kommunitäre bis partizipatorische Formen einer durchaus aktiven Medienaneignung ausgebildet werden können. Überspitzt gesagt hieße das, dass die sogar von Habermas angenommene Möglichkeit einer Rezipient und Produzent in ein direktes Austauschverhältnis setzenden Internet-Kommunikation14 an Medien-Modelle anschließen kann, in denen bereits in der aktiven Adaption autonom (re-)produziert wurde. Diese für die Ausgestaltung neuer Kommunikationsverhältnisse konstitutive Rolle technischer Massenmedien führt – viertens – dazu, dass die Gesamtheit einer bis um 1900 illustrativ angereicherten Schrift- und DruckÖffentlichkeit in die Pluralität jeweils unterschiedlicher kultureller Teilöffentlichkeiten aus Radio, Film, Massenpresse und Fernsehen zersplittert, und Kino repräsentiert in dieser Perspektive eine wichtige Teilöffentlichkeit in der Gesamtmenge dieser Medienöffentlichkeiten. In ihr kann die Vorstellung von Gesamtöffentlichkeit aus einem Zusammenwirken mehrerer Teilöffentlichkeiten entstehen, das markt-liberal eingespielt (Weimarer Republik) oder autoritär durchformt wird (Drittes Reich); der Integrationsanspruch einer alle anderen 14 Vgl. Habermas: „Zur Vernunft von Öffentlichkeit“, S. 161f.

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Medienöffentlichkeiten überformenden neuen Medienöffentlichkeit wäre davon abzugrenzen (Computer, ‚Neue Medien‘). Ohne dass wir die auch im letzten Fall keineswegs geradlinig verlaufenden Neu- und Umschichtungsprozesse hier genauer charakterisieren können, möchten wir für diese heute ‚Neuen Medien‘ vor diesem Hintergrund den Begriff Universalmedium vorschlagen. Für die Kinoöffentlichkeit des 20. Jahrhunderts möchten wir – fünftens – idealtypisch vereinfacht vier Phasen unterscheiden, wobei wir davon ausgehen, dass diese Phasen einander in chronologischer Hinsicht keineswegs linear aufund ablösen, sondern einander überlagern, ja sich ineinander verschieben können. Insofern meinen wir kein teleologisches Entfaltungsmodell, sondern denken eher an im Einzelfall genau auszumessende Gemengelagen aus einander überkreuzenden medialen Wandlungsprozessen. In diesem Sinne sprechen wir zuerst idealtypisch verkürzt und dann in Form einiger skizzenhaft dargestellter Verlaufsformen von -

einer Phase der Entstehung = Emergenz von Kinoöffentlichkeit im Rahmen bereits etablierter popular-kultureller Öffentlichkeiten um 1900 (z.B. Film als „lebende Photographien“ in Varieté, Projektions-Theater oder auf dem Jahrmarkt);

-

einer Phase der Etablierung autonomer Kino-Öffentlichkeiten (in und um mobile und/oder ortsfeste Kinos) seit etwa 1905/06;

-

einer Phase des Strebens nach kultureller Akzeptanz im Rahmen ausdifferenzierter eigener Kino-Öffentlichkeiten (mit Kinoreformbewegung, Kinderkino, ‚Autorenfilm‘ und Kinodebatte in den zehner Jahren);

-

und einer Phase der Neupositionierung von Kinoöffentlichkeit im Rahmen eines neu auszutarierenden Medienverbunds aus ‚neuen‘ und ‚alten‘ Öffentlichkeiten (marktwirtschaftlich-liberal in der Weimarer Republik und staatsdirigistisch durchformt in den Jahren nach 1933).

Im Rahmen eines solchen Phasenmodells lassen sich – sechstens – integrative von konfrontativen sowie forcierende von retardierenden Verlaufsmodellen unterscheiden. Hinzu kommen metropolitane und lokale Ausprägungen, wobei sich in beiden Bereichen neben kommerzialisierten Modellen auch kommunitäre und partizipative Modelle überraschend nachhaltig behaupten. In diesem Sinne sprechen unsere bisher ermittelten Ergebnisse dafür, dass sich unterschiedliche regionale und soziale Rahmenbedingungen derart nachdrücklich auf die Ausbildung unterschiedlicher Verlaufsmodelle auswirken, dass sich die Übertragung unseres Idealtyps in den vermeintlich realen Verlauf eines einzigen ‚Normal‘-Modells eigentlich verbietet. Unsere Ergebnisse legen eher den Gedanken an eine längst überfällige Pluralisierung von Kino und Kinogeschichte nahe, ja man

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könnte daraus folgern, dass die darin sichtbar werdende Geschmeidigkeit und Flexibilität geradezu eine Voraussetzung für den Aufstieg neuer Leitmedien bildet. Dazu abschließend einige knappe Hinweise auf eine Auswahl von Beiträgen zur Entstehung, Etablierung und Differenzierung von Kinoöffentlichkeit zwischen 1895 und 1920.15

2

Zur Pluralisierung von Kinoöffentlichkeit

2.1

Integrative vs. konfrontative Verlaufsmodelle

Vergleicht man das Hamburger Modell einer metropolitanen Region ohne Hauptstadtfunktion mit dem Berliner Metropolen-Modell mit Hauptstadtanspruch, so lässt sich zeigen, dass in einer sozial heterogen zusammengesetzten und kulturell hoch ambitionierten politischen Zentral-Metropole wie Berlin eher konfrontative Verlaufsmodelle entstehen, während in einer sozial weniger zerklüfteten und kulturell auf Ausgleich bedachten Regional-Metropole wie der weltoffenen Handelsstadt Hamburg eher integrative Lösungen naheliegen. Für diese Annahme spricht in den Arbeiten Corinna Müllers,16 dass die kulturell sehr viel weniger ehrgeizige Handels- und Wirtschaftsstadt Hamburg die Emergenz des Wander-Kinematographen in großen angesehenen Varietés, in etablierten Veranstaltungsgaststätten und auf dem Hamburger ‚Dom‘, dem alljährlich vor Weihnachten stattfindenden größten kulturellen und gesellschaftlichen Schausteller-Ereignis des Jahres, nicht als dubiose Schaustellung, sondern als eine moderne, ‚seriöse‘ Attraktion erlebte. Und diese entkrampfte bis lässige Haltung in der Aneignung neuer Unterhaltungskulturen setzte sich, so Müller, dort fort, wo um 1913, anders als in der Kultur-Hauptstadt Berlin,17 der Autorenfilm Der Andere nicht verrissen wurde, sondern als „eine Kulturtat ersten Ranges“ gelten sollte (Altonaer Nachrichten v. 22.01.1913). Während der Film in Berlin zeitweilig wegen Jugendgefährdung verboten wurde, empfahl man ihn in Hamburg für Kindervorstellungen, wo er dann auch gezeigt wurde. Insofern lässt sich für Hamburg von einer zwischen U- und E-Kultur vermittelnden Wechselwirkung alter und neuer Medien sprechen.

15 Sie stammen aus Müller/Segeberg: Kinoöffentlichkeit (1895-1920). 16 Vgl. Müller: „Kinoöffentlichkeit in Hamburg 1913“. 17 Vgl. Goergen: „Cinema in the Spotlight“.

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2.2

Zur internen Ausdifferenzierung von Kinoöffentlichkeit

Diese ebenso flexible wie geschmeidige Durchsetzungs- und Akzeptanzstrategie lässt sich in Hamburg weiter dort beobachten, wo sich seit etwa 1906/07 im Rahmen einer internen Ausdifferenzierung von Kinoöffentlichkeit die weitgehend einvernehmliche Einrichtung einer eigenen Veranstaltungsöffentlichkeit für Kinder und schulpflichtige Jugendliche durchsetzt. Auch wenn man die Liberalität einer solchen (schul-)behördlich reglementierten und (gewerbe-)polizeilich überwachten Kinokultur nicht überschätzen sollte, so zeigen die von Müller und Kaspar Maase ausgewerteten Quellen doch, wie kommunikativ und dynamisch der im Kinoraum gar nicht kontrollierbare Filmkonsum durch Kinder und Jugendliche ausfallen konnte. Dass die Kommunikation der Jugendlichen untereinander sich dort nicht auf die passive Rezeption von informierenden oder ästhetischen Wissensangeboten eingrenzen ließ, sondern die vielfältig kommentierte Aneignung von emotional aufregendem (so besorgte Pädagogen) Spielfilm-‚Schund‘ einschloss, verlangt nach der Weiterentwicklung eines Öffentlichkeitsbegriffs, der nicht länger (so Maase) von der Norm eines in erster Linie informierenden „verständigungsorientierten rationalen Diskurses“ ausgeht,18 sondern die Wünsche, Affekte und Handlungen derer berücksichtigt, die in Öffentlichkeiten kognitiv und emotional agieren.

2.3

Forcierende und retardierende Verlaufsmodelle

Welch große Rolle die Vorprägung durch soziokulturelle Lebenspraxen auch im Kino der Erwachsenen spielt, kann der von den belgischen und niederländischen Forschern Guido Convents und Karel Dibbets vorgelegte Vergleich zwischen den nationalen Metropolen Brüssel und Amsterdam zeigen.19 Denn nach den von ihnen ausgewerteten Quellen beginnt in beiden Städten die Etablierung einer autonomen Kinokultur um 1905 (Brüssel) und 1907 (Amsterdam) zwar mit dem, was auch in anderen Städten den Aufstieg ortsfester Kinos ausmacht; während aber in der belgischen Metropole Brüssel Königshaus, öffentliche Hand, städtische Wirtschaft und Kultur alles daran setzen, um für Touristen, Kaufleute, Industrielle und Investoren eine das Kino einschließende urbane Ausstellungs- und Vergnügungskultur bereitzustellen, und damit früher als in anderen Metropolen einen ersten Kino-Boom auslösen, reagieren städtische Behörden, Königshaus und Wirtschaft in Amsterdam eher verhalten bis misstrauisch. Hinzu kommt eine in Amsterdam rigorose Aufsplitterung des 18 Vgl. Maase: „Kinderkino“, S. 147. 19 Vgl. Convents/Dibbets: „Verschiedene Welten“.

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politischen, sozialen und kulturellen Lebens in getrennte religiöse und ideologische Milieus, wodurch die Integration des Kinos (anders als im religiös und politisch flexibler agierenden Brüssel) nicht gerade erleichtert wurde. Andere Perspektiven eröffnen sich hier erst mit der Ausbildung einer in Brüssel wie Amsterdam an einheitlichen internationalen Standards ausgerichteten funktionalistischen ,modernen‘ Kino-Architektur in den dreißiger Jahren.

2.4

Kommerzielle vs. kommunitäre Modelle

Dezidiert kommerzielle Modelle können sich demgegenüber besonders dort durchsetzen, wo (wie in Rotterdam geschehen) städtische Verwaltung und Unternehmer alles daran setzen, eine zu den Handels- und Hafenmetropolen Antwerpen oder Hamburg gleichwertige Unterhaltungskultur aus Boulevards, Börse und architektonisch aufwendig gestalteten Vergnügungspalästen aufzubauen. Hinzu kommt – so der niederländische Kollege André van der Velden – ein mit wechselnden bewegten Projektionsbildern ausgestatteter Tanzpalast, in dem vor Eiffelturm und Notre Dame, vor der Skyline von Manhattan oder vor bayrischen Fachwerkbauten französische, amerikanische und bajuwarische Festlichkeiten veranstaltet wurden (oder besser: das, was man dafür hielt, mehr oder weniger ‚echt‘ simuliert wurde). Oder ‚die‘ große Rotterdamer Tageszeitung inszenierte Sport-Events, Ausstellungen, Theater-Performances und Kino-Freiluft-Projektionen anlässlich von politischen oder sportlichen Großereignissen bis hin zum visuellen Echtzeit-Nachspiel eines Fußballspiels zwischen Belgien und Holland – eine Art von TV-Event avant la lettre.20 Ähnlich rasante Aufstiegsszenarien zeigten sich sonst nur noch in der von Brigitte Flickinger im Vergleich mit der russischen Hauptstadt St. Petersburg untersuchten Regierungs-, Handels- und Industriemetropole London.21 Demgegenüber zeigt die Emergenz des Kinos im jüdischen New York, wie wichtig es ist, in der Untersuchung von Kino und Kinoöffentlichkeit den kulturellen Kontext einer Stadt bis in den Bereich einer hier ethnisch geprägten Stadtteilkultur hinein zu verfolgen. Denn an der hier an den Bedürfnissen einer ethnischen Gemeinschaft orientierten ‚niedrigpreisigen‘ jiddischen Veranstaltungsöffentlichkeit ist – so die Kollegin Judith Thissen22 – auffällig, dass sie (wie die bürgerlichen Öffentlichkeiten des 18. Jahrhunderts) an einem für die Mitglieder der Community öffentlich zugänglichen Ort stattfindet, überwie20 Vgl. van der Velden: „Cinematic Amusements and Metropolitan Aspirations in Pre-War Rotterdam“, S. 166f. 21 Vgl. Flickinger: „Publikumsmagnet Kino vor 1918“. 22 Vgl. Thissen: „The Emergence of Cinema in Jewish New York“.

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gend männlich geprägt ist und (darin anders als die politische Öffentlichkeit des Aufklärungsbürgertums) dezidiert Religion, Politik und Unterhaltung einschließt. In ihr konnte auch der Film einen Platz zuerst in Varieté-Programmen und schließlich als Hauptattraktion im Rahmen eines eigenen Programmangebots erringen. Worin diese Form von Kinoöffentlichkeit ihre Besonderheit bewahrte, das ist der Umstand, dass sie bis in die zwanziger Jahre hinein im Kontext einer ethnischen Community mit den für diese charakteristischen gemeinschaftlichen Orientierungen stattfand.

2.5

Partizipatorische Modelle im lokalen Kino

Last but not least ist auf die Fortdauer damit gut vergleichbarer partizipatorischer Modelle im lokalen Kino hinzuweisen. Dazu präsentieren die Arbeiten Martin Loiperdingers am Beispiel der Mittelstadt Trier die Attraktivität eines lokalen Kinos, das gerade aufgrund seiner räumlichen Begrenztheit die Perspektive einer partizipatorischen Kinoöffentlichkeit eröffnet. Sie kommt, so Loiperdinger, überall dort zustande, wo die zügige Aufzeichnung und Aufbereitung lokaler Festivitäten und anderer Großereignisse dem im Kinoraum anwesenden Publikum die Möglichkeit bot, sich selbst und andere in der filmischen Reproduktion solcher Medien-Ereignisse wiederzuerkennen, wobei man (noch innerhalb des Kinos oder auch nach dem Kino) das eigene Verhalten wie das anderer in einer Art von kontrollierendem Lokal-‚Tratsch‘ kommentierend bewerten konnte.23 Hinzu kommt die akkulturierende Aneignung des Fremden dann, wenn Filmvorführer und/oder Kinoerklärer die zu dieser Zeit überaus beliebte ‚optische Berichterstattung‘ aus fernen Ländern im vertrauten einheimischen Dialekt darboten. Es ist die in den kleinstädtisch bis ländlich geprägten Regionen der Nordostschweiz weit über die Frühzeit des Kinos hinausreichende Fortdauer solcher partizipativen Kommunikationsprozesse, die die schweizer Regional- und Kinohistorikerin Mariann Lewinsky-Sträuli zu der Frage veranlasst, ob der in der Film- und Kinogeschichte häufig angenommene „Normalfall“ einer als Standard gesetzten großstädtischen Kinoentwicklung wirklich den „besten Fall“ darstellt.24 Auch zu solchen Fragen kann die am Leitfaden einer Kinoöffentlichkeit entfaltete Geschichte des Leitmediums Kino veranlassen.

23 Vgl. Loiperdinger: „Akzente des Lokalen im frühen Kino am Beispiel Trier“, S. 243. 24 Vgl. Lewinsky-Sträuli: „Der Jahrmarkts-Kinematograph als Erfolgsmodell“, S. 265.

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3

Fazit

Trotz aller gebotenen Kürze hoffen wir damit einen ersten Hinweis darauf gegeben zu haben, wie produktiv es sein kann, auf das Anregungspotential des Begriffs ,Öffentlichkeit‘ nicht zu verzichten. Dies setzt allerdings, wie gezeigt, entschieden voraus, dass Öffentlichkeit weder mit einer medial und sozial weitgehend homogenen Schrift-Öffentlichkeit gleichgesetzt wird noch auf die Vorstellung einer in erster Linie kritisch räsonierenden InformationsÖffentlichkeit eingeengt ist. Stattdessen plädieren wir mit Nachdruck für einen Begriff von Medienöffentlichkeit, der den Bereich einer kulturindustriell betriebenen Unterhaltung nicht mehr oder weniger nachhaltig perhorresziert, sondern in ihren Chancen und Risiken wahrnimmt. Ob das darauf aufbauende Konzept einer synchron operierenden Mediengeschichte zum Befund heillos zerstreuter Medienöffentlichkeiten führt, bleibt abzuwarten.

Literaturverzeichnis Convents, Guido/Dibbets, Karel: „Verschiedene Welten. Kinokultur in Brüssel und in Amsterdam 1905-1930“, in: Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920)/Cinema’s Public Sphere (18951920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung/Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008, S. 150-156. Flickinger, Brigitte: „Publikumsmagnet Kino vor 1918. Die Metropolen London und St. Petersburg im Vergleich“, in: Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920)/Cinema’s Public Sphere (18951920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung/Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008, S. 177-195. Führer, Karl-Christian u.a.: „Öffentlichkeit – Medien – Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung“, in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. 41, 2001, S. 2-32. Giesecke, Michael: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt a.M. 2002. Goergen, Jeanpaul: „Cinema in the Spotlight. The Lichtspiel-Theaters and the Newspapers in Berlin, September 1913. A Case Study“, in: Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920)/Cinema’s Public Sphere (1895-1920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung/ Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008, S. 66-86.

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Corinna Müller/Harro Segeberg | Kino-Öffentlichkeit

Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit [1962], Frankfurt a.M. 1990. Habermas, Jürgen: Ach, Europa, Kleine politische Schriften, Bd. 11, Frankfurt a.M. 2008. Lewinsky-Sträuli, Mariann: „Der Jahrmarkts-Kinematograph als Erfolgsmodell. Historiographische Beiträge aus der Nordostschweiz“, in: Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920)/Cinema’s Public Sphere (1895-1920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung/ Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008, S. 247-265. Loiperdinger, Martin: „Akzente des Lokalen im frühen Kino am Beispiel Trier“, in: Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920)/Cinema’s Public Sphere (1895-1920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung/Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008, S. 236-246. Maase, Kaspar: „Kinderkino: Halbwüchsige, Öffentlichkeiten und kommerzielle Populärkultur im deutschen Kaiserreich“, in: Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920)/Cinema’s Public Sphere (1895-1920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung/Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008, S. 126-148. Müller, Corinna: „Kinoöffentlichkeit in Hamburg 1913“, in: Müller, Corinna/ Segeberg, Harro (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920)/Cinema’s Public Sphere (1895-1920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung/Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008, S. 105-125. Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920)/Cinema’s Public Sphere (1895-1920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung/Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008. Peters, Bernhard: Der Sinn von Öffentlichkeit, hrsg. v. Hartmut Weßler, Frankfurt a.M. 2007. Requate, Jörg: „Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse“, in: Geschichte und Gesellschaft, 25, 1999, S. 5-32. Schildt, Axel: „Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit“, in: Geschichte und Gesellschaft, 27, 2002, S. 177-206. Thissen, Judith: „The Emergence of Cinema in Jewish New York: How the Movies Came to Rivington Street“, in: Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920)/Cinema’s Public Sphere (18951920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung/Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008, S. 196-209.

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Velden, André van der: „Cinematic Amusements and Metropolitan Aspirations in Pre-War Rotterdam“, in: Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920)/Cinema’s Public Sphere (1895-1920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung/Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008, S. 157-168. Weßler, Hartmut: Öffentlichkeit als Prozeß, Opladen 1999.

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Jeffrey Wimmer

Leitpotential kritischer Gegenöffentlichkeiten. Eine kritische Meta-Analyse bisheriger Forschung Die Schaffung von Gegenöffentlichkeit(en) ist schon früh beobachtbar. So kann man als Beispiele früherer korrespondierender Praxisformen von Gegenöffentlichkeit die Flugschriften der Reformatoren im 15. und 16. Jahrhundert oder die Kampfschriften der Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts nennen. Für Gegenöffentlichkeit in einem modernen Sinne ist allerdings ein spezifischer sozio-historischer Kontext identifizierbar, der sich auf die späten 1960er und frühen 1970er Jahre und die damit verbundenen Öffentlichkeiten der neuen sozialen Bewegungen (NSB) und alternativer Medien bezieht. Der Begriff der Gegenöffentlichkeit tritt in der Studentenbewegung seine mediale Karriere an und ist stark deren Sprachgebrauch entlehnt. Dieser Entstehungskontext erklärt die wichtige Rolle des Konstrukts ‚Gegenöffentlichkeit‘ im Kontext der aktuellen Diskussion um die Leitmedien der Mediengesellschaft. So stellen auch journalistische Leitmedien an sich eine Form kritischer Öffentlichkeit dar. Begründet werden kann dies mit den gesamtgesellschaftlich wichtigen Funktionen der Medien wie Kritik, Kontrolle und Aufklärung.1 Hier setzten die Medienkritik und das Selbstverständnis der NSB an. Als Hauptbeweggrund für die Schaffung alternativer Medien kann die gesellschaftskritische Reaktion auf einen (subjektiv) tief empfundenen demokratischen Funktionsverlust bürgerlicher Leitmedien gesehen werden. Aus analytischer Perspektive erscheint dieser emphatische Begriff von Gegenöffentlichkeit daher auf den ersten Blick als problematisch, da er sich wie der Öffentlichkeitsbegriff auf die gleiche gesellschaftliche Funktion bezieht, d.h. in diesem Zusammenhang von den NSB postulierte Partizipations- und Diskursivitätsansprüche sind streng genommen bereits im Öffentlichkeitsbegriff der Aufklärung enthalten. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass bestimmte Teilöffentlichkeiten der Gesellschaft aus dem gesellschaftlichen Diskurs subjektiv wie objektiv ausgeschlossen sind.2 Gegenöffentlichkeit soll gerade diesen Gruppen als Sprachrohr gesellschaftlicher Emanzipation dienen und durch ergänzende und korrigierende Berichterstattung die kritische Funktion von Öffentlichkeit revitalisieren.3 Die

1

Vgl. Langenbucher: „Einleitende Überlegungen“.

2

Vgl. ausführlich Wimmer: (Gegen-)Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft.

3

Zahlreiche Autoren setzen daher Gegenöffentlichkeit mit der Publizität alternativer Medien gleich, sei es deren Inhalte und/oder Herstellung. Sie vernachlässigen

127

Jeffrey Wimmer | Leitpotential kritischer Gegenöffentlichkeiten

Begrifflichkeit des ‚alternativen‘ Mediums verweist gerade darauf, dass es nur in Relation zum ‚etablierten‘ oder ‚vorherrschenden‘ Medium denkbar ist. Interessant erscheint nun nach vierzig Jahren die Beantwortung der Frage, inwieweit der postulierte Funktionsverlust der klassischen journalistischen Leitmedien denn wirklich ausgeglichen und eine kommerzialisierte (Medien-) Öffentlichkeit durch Formen von Gegenöffentlichkeit revitalisiert werden konnte. Basis ist eine Meta-Analyse von 74 kommunikations- und medienwissenschaftlichen Studien, die sich explizit sowohl theoretisch als auch empirisch mit dem Konstrukt „Gegenöffentlichkeit“ bzw. counter-public spheres beschäftigt haben (Teil 3). Da allerdings der Begriff und das Phänomen der Gegenöffentlichkeit aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive weder einheitlich noch hinreichend konzeptuell geklärt sind, erfolgt eine knappe theoretische wie empirische Differenzierung des komplexen Begriffsfeldes (Teil 1) sowie eine Zusammenstellung bisheriger Thesen über das Potential von Gegenöffentlichkeit (Teil 2), die das Fundament für die Interpretation der Befunde der Metaanalyse legen (Teil 4).

1

Theoretische und empirische Dimensionen von (Gegen-)Öffentlichkeiten

Ebenso wie das Konstrukt ‚Öffentlichkeit‘ besitzt der Begriff der Gegenöffentlichkeit eine stark normative Dimension. In diesem Zusammenhang können mehrere idealtypische Konzepte alternativer Kommunikation differenziert werden, die quasi als Leitbilder nachhaltig das Öffentlichkeitsverständnis der NSB und der MacherInnen alternativer Medien beeinflusst haben.4 -

Modell der gegenöffentlichen Kommunikation: Dieses Konzept von Gegenöffentlichkeit – quasi als „Sorge um die Demokratie“5 – stellt eine kritische Weiterentwicklung klassischer Demokratiekonzepte dar. Als korrespondierende Praxisformen können idealtypisch zwei Strategien von NSB festgestellt werden: Einerseits die versuchte Einflussnahme auf die vorherrschende bürgerliche Öffentlichkeit und damit verbunden die Instrumentalisierung massenmedialer Öffentlichkeit durch aufmerksamkeitserregende Aktionen und Inhalte sowie andererseits die Radikalisierung der Aktionen

dabei aber die anderen Komplexitätsebenen des Phänomens Gegenöffentlichkeit (vgl. Kapitel Teil 1). 4

Vgl. grundlegend Oy: Die Gemeinschaft der Lüge, S. 191ff. und Weichler: Die anderen Medien, S. 14ff.

5

Oy: Die Gemeinschaft der Lüge, S. 192.

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Jeffrey Wimmer | Leitpotential kritischer Gegenöffentlichkeiten

und publizierter Inhalte und eine damit einhergehende zunehmende Abschottung einzelner NSB gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit wie z.B. das Öffentlichkeitsverständnis der Autonomen. -

Modell der authentischen Kommunikation: Der Kern dieser Modellvorstellung geht auf die Annahmen der kritischen Theorie zurück. So existieren ‚wahre‘ bzw. ‚authentische‘ Bedürfnisse der Menschen. Diese werden nicht in der herkömmlichen Massenkommunikation befriedigt. Allein die ‚Betroffenen‘ sind in der Lage, ihre gesellschaftliche Situation authentisch öffentlich zu artikulieren.

-

Modell der emanzipativen Kommunikation: Diese Perspektive fokussiert die gesellschaftskritische Umgestaltung des klassischen Sender-EmpfängerSchemas der Massenkommunikation. Zwei Aspekte sind dabei besonders zu berücksichtigen: Einerseits erlauben dabei technischer und medienstruktureller Wandel stets neue Formen emanzipativer Kommunikation. Andererseits bleiben im Rahmen von Gegenöffentlichkeit initiierte Kommunikationsprozesse und deren Inhalte gesellschaftspolitisch folgenlos, wenn sie nicht im Alltag der Rezipienten verankert sind.

Das Konzept der Gegenöffentlichkeit ist allerdings nicht per se auf bestimmte Personen, Orte oder Themen reduzierbar und damit nicht als ein monolithischer, sondern vielmehr als ein multidimensionaler Begriff aufzufassen, der dabei einerseits auf die Mikro-, Meso- und Makroebenen öffentlicher Kommunikation6 und andererseits gleichermaßen auf funktionale wie subjektive Aspekte7 verweist. Grundsätzlich bezieht sich der Begriff Gegenöffentlichkeit somit vereinfacht auf drei mediale Praxisformen von Öffentlichkeiten: Erstens werden damit kritische Teilöffentlichkeiten definiert, die ihre als marginalisiert empfundenen Positionen, welche oft auch als Gegenöffentlichkeit bezeichnet werden, mit Hilfe von alternativen Medien und Aktionen innerhalb der massenmedialen Öffentlichkeit Gehör verschaffen möchten (= alternative Öffentlichkeit). Hier kann wiederum zwischen alternativen Medien mit größerer Thematisierungskraft wie z.B. der Berliner taz (= ‚alternative Leitmedien‘) oder geringerer öffentlicher Reichweite wie z.B. lokalen offenen Kanälen (= ‚alternative Folgemedien‘) differenziert werden Zweitens bezeichnet Gegenöffentlichkeit auf der (Meso-)Ebene organisationaler Öffentlichkeiten kollektive und dabei v.a. politische Lern- und Erfahrungsprozesse innerhalb alternativer Organisationszusammenhänge wie z.B. NSB oder nichtstaatliche Organisationen (= partizipatorische Öffentlichkeiten). Auf der (Mikro-)Ebene einfacher Interaktionssysteme 6

Gerhards/Neidhardt: „Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit“.

7

Vgl. ausführlich Wimmer: (Gegen-)Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft.

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Jeffrey Wimmer | Leitpotential kritischer Gegenöffentlichkeiten

verweist der Begriff drittens auf vielfältige Formen von (zum Großteil individuellem) Medienaktivismus gerade im Bereich der neuen Medien.8 Aus theoretisch-analytischer Perspektive beruht das Phänomen Öffentlichkeit (und damit auch die verschiedenen Formen von Gegenöffentlichkeit) auf komplexen Konstitutionsbedingungen, die wiederum auf verschiedene Öffentlichkeitsdimensionen, wie den Struktur- und Handlungsaspekt, den sozialen Kontext und Sinn von Öffentlichkeit, als auch auf Funktion und Dynamik öffentlicher Kommunikation verweisen.9 Diese Dimensionen können in folgende methodisch-operationale Indikatorenbündel überführt werden, die in der empirischen Analyse von Öffentlichkeit(en) wie Gegenöffentlichkeit(en) zu berücksichtigen sind:10 -

Systemindikatoren: Aus einer Makroperspektive besitzt Öffentlichkeit eine strukturelle Dimension, aus einer Mikroperspektive entfaltet sich Öffentlichkeit in konkret beobachtbaren Handlungen und Einstellungen (= Dimension Handlungsakteure). In der Literatur wurden beide Dimensionen lange Zeit als miteinander unvereinbare Antagonismen begriffen. Im Rahmen der Vorstellung von Öffentlichkeit als ein intermediäres Kommunikationssystem können beide Perspektiven zusammengeführt und operationalisiert werden. Konkret sind dabei folgende empirische Analysekriterien zu unterscheiden: -

Strukturindikatoren: Sprecher, Publikum, Programmstrukturen der Massenmedien, sowie weitere strukturelle Restriktionen (= constraints) im Rahmen öffentlicher Kommunikation.

-

Handlungsindikatoren: Kommunikationsstrategien, Selektionsstrukturen der Medien etc.

-

Inhaltsindikatoren: Mediale Positionen, Deutungsmuster, Themen, Diskurse etc. sowie die Resonanz der Massenmedien.

-

Funktionsindikatoren: Aus der Perspektive von Öffentlichkeit als intermediäres Kommunikationssystem differenziert sich die Erfüllung der norma-

8

Die Grenzen zwischen den einzelnen Dimensionen von Gegenöffentlichkeit sind stark fließend und kontingent. Dieses trifft gerade auf die Gegenöffentlichkeiten im Rahmen der NSB zu. So konstituieren hier etwa organisationale Kommunikationszusammenhänge erst die massenmediale Wahrnehmung und damit die Außenwirkung der NSB. Die Wahrnehmung und Resonanz alternativer Öffentlichkeit in der etablierten Öffentlichkeit wiederum sorgt für die interne Mobilisierung und Stabilisierung der NSB.

9

Vgl. Wimmer: (Gegen-)Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft, S. 60ff.

10 Vgl. ebd., S. 245ff.

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Jeffrey Wimmer | Leitpotential kritischer Gegenöffentlichkeiten

tiv-funktionalen Dimension von Öffentlichkeit – gerade auch unter Berücksichtung ihrer dynamischen Dimension – u.a. in folgende Indikatoren: Transparenz, Orientierungsleistung und Zugänglichkeit; ergänzend können aus politikwissenschaftlicher Perspektive die Indikatoren Diskursivität, Partizipation, Empowerment und Emanzipation im Rahmen öffentlicher Kommunikation genannt werden. -

Wirkungsindikatoren: Aus empirisch-operationaler Perspektive ist Wirkung als eine kausale Relation zwischen verschiedenen Teilöffentlichkeiten (und deren vielfältigen Manifestationen) zu verstehen.11 Hier kommen als Indikatoren v.a. der inhaltliche Einfluss im Rahmen von Thematisierungsprozessen (= inter media agenda setting) und Diskursverläufen in Frage.

-

Nutzungsindikatoren: Die Analyse von Öffentlichkeit ist allerdings nicht auf die bisher genannten, objektiv beschreibenden Indikatoren reduzierbar. So werden empirische Indikatoren wie Programmstrukturen oder Themenkarrieren der Bedeutung öffentlicher Prozesse und ihrer kulturellprozesshaften ‚Tiefe‘ nicht gerecht (= Öffentlichkeitsdimensionen Sinn und sozialer Kontext). Folgende Indikatoren beziehen sich auf die subjektivverstehende Dimension von Öffentlichkeit: Individuelle und kollektive (Medien-)Identitäten, Diskurskonstruktionen, symbolische Deutungsmuster bzw. die jeweils kontextspezifische Aneignung öffentlicher Diskurse.

-

Modusindikatoren: Öffentlichkeit ist fundamental mit technischen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen verbunden. Wie es die Kritik der einschlägigen Öffentlichkeitskonzepte gezeigt hat, kann daher empirische Öffentlichkeitsforschung nicht mehr unhinterfragt beispielsweise allein auf nationale Presseleitmedien fokussieren.12 Als Indikatoren sind vielmehr die Art und Weise der Öffentlichkeitskonstituierung zu berücksichtigen wie sie z.B. in deren räumlichen Ausdehnung, Konnektivität, Interaktivität zum Tragen kommt.

11 Die eigentlich untrennbar aufeinander bezogenen Indikatordimensionen ‚Wirkung‘ und ‚Nutzung‘ können forschungspragmatisch anhand des konkreten Erkenntnisinteresses unterschieden werden, so ist (sind) die abhängige Variable(n) im Rahmen des Studiendesigns auf einen Wirkungs- (z.B. Einstellungsänderung) oder Nutzungsaspekt (z.B. Hörerquoten) zu beziehen. 12 Vgl. ausführlich Wimmer: (Gegen-)Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft.

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Jeffrey Wimmer | Leitpotential kritischer Gegenöffentlichkeiten

2

Hypothesen zum Potential von Gegenöffentlichkeiten

Folgende zentrale Kausalannahmen bzw. Relationen13 sind in der bisherigen Öffentlichkeitsforschung schon thematisiert worden, zumindest als Vermutungen über mögliche Ursachen oder Bedingungen sowie anhand einiger weniger Studien, die einzelne Erklärungsfaktoren empirisch betrachtet haben.14 -

Relation 1: Einfluss von Gegenöffentlichkeiten auf die System- und Funktionsdimensionen von Öffentlichkeit – Oft wird vermutet, dass Gegenöffentlichkeit in Form der Gegenthematisierung durch nicht-etablierte politische Akteure sowie durch alternative Medien (= partizipatorische und alternative Öffentlichkeit) einen positiven Einfluss sowohl auf die Strukturen, Handlungen und Inhalte (u.a. Komplettierung des Sprecherensembles) als auch auf bestimmte Funktionen (v.a. Erhöhung der Transparenzleistung) von Öffentlichkeit besitzt.

-

Relation 2: Einfluss von Gegenöffentlichkeiten auf die subjektive Dimension von Öffentlichkeit – Mehrere Autoren postulieren, dass Gegenöffentlichkeiten neben einer selbstbestimmten diskursiven Meinungsbildung die Konstitution und Inszenierung sowohl verschiedener kultureller als auch personaler und kollektiver Identitäten ermöglichen (= Nutzungsindikatoren).

-

Relation 3: Die Konstituierung von Gegenöffentlichkeiten ist an bestimmte Strukturbedingungen geknüpft – Die abstrakte (normative) Forderung nach einer Gegenöffentlichkeit lässt sich in konkrete (deskriptive) Indikatoren überführen, die das Vorhandensein alternativer Öffentlichkeiten anzeigen können. Diese liegen auf der Systemdimension (z.B. Gegenthematisierung, nicht-hierarchische Organisationsstrukturen), auf der Nutzungsdimension (z.B. Partizipation und Zugänglichkeit) und auf der Modusdimension (z.B. Einbezug der Möglichkeiten neuer Medien, transnationale Netzwerkbildung).

-

Relation 4: (De-)Konstruktion massenmedialer Öffentlichkeit im Rahmen von Gegenöffentlichkeiten – Durch kreative, alltagskulturelle Rezeptionsprozesse (= subjektive Dimension von Gegenöffentlichkeit) können die Medienangebote der als hegemonial verstandenen massenmedialen Öffentlichkeit kritisch angeeignet werden (Nutzungsindikatoren wie oppositionelle Codes, kollektive Kommunikationskulturen etc.).

13 Ich wähle den offenen Begriff der Relation, da er sowohl positive, negative, strukturbildende als auch intervenierende Kommunikationszusammenhänge in den Blick nimmt. 14 Vgl. ausführlich Wimmer: (Gegen-)Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft.

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-

Relation 5: Einfluss neuer Medien auf Gegenöffentlichkeiten und deren Verhältnis zur Öffentlichkeit – In der theoretischen Diskussion werden zahlreiche (positive) Effekte der neuen Medien sowohl auf die Konstituierung von Gegenöffentlichkeiten als auch auf deren Kommunikationsverhältnis zur etablierten Öffentlichkeit vermutet (Indikatoren wie z.B. Mobilisierungs-, Artikulations- oder Organisationsfunktion).

-

Relation 6: Konstituierung autonomer Gegenöffentlichkeiten – Es wird in der Literatur wiederholt deutlich, dass die Konstituierung autonomer Gegenöffentlichkeiten jenseits massenmedialer Öffentlichkeit mehr einem normativen Wunschdenken als empirischer Realität entspricht. Bei der Diskussion von Gegenöffentlichkeiten müssen die signifikanten Grenzen und Einschränkungen – auf individueller, organisationaler, regionaler, nationaler wie transnationaler Ebene – berücksichtigt werden.

3

Metaanalyse der bisherigen Forschung zu Gegenöffentlichkeit(en)

3.1

Eckdaten der Synopse

Mein Erkenntnisinteresse bezieht sich auf die kritische Evaluation des Konzepts Gegenöffentlichkeit anhand der bisherigen Forschung – eine modellorientierte Klassifikation erscheint dafür sinnvoll. Die Studien werden anhand der jeweils berücksichtigten Komplexitätsebenen und Dimensionen von Öffentlichkeit gruppiert. Diese Logik bietet sich v.a. deswegen an, da sich die bisherigen Forschungsprojekte in diesem Bereich der Kommunikations- und Medienwissenschaft – wie oben mehrfach angedeutet – zu ungleichartig für eine studienorientierte Klassifikation gestalten. Zur Ermittlung der relevanten Studien, die potentiell einen Beitrag zum Komplex Gegenöffentlichkeit leisten können, wurden die wichtigsten deutschund englischsprachigen Datenbanken15, die Jahresregister zentraler nationaler und internationaler Fachzeitschriften16 sowie ausgehend von zentralen Hand15 Datenbanken: Communication and Mass Media Complete, CSA Illumina, Datenbank Publizistik und Massenkommunikation, Ingenta, PsycINFO und WISO-Net. 16 Fachzeitschriften: Berliner Journal für Soziologie, Communicatio Socialis, Communication Research, Communication Theory, Communications, European Journal of Communication Research, European Journal of Communication, Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Gazette: The International Journal for Communication Studies, Human Communication Research, Javnost – The Public, Journal of Communication, Journalism and Mass Communication Quarterly, Journalism Quarterly, Journalist, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,

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büchern das sog. ‚Schneeball-System‘ benutzt. Neben Fachzeitschriften sind daher auch umfassend Monographien, Sammelbände oder Forschungsberichte einbezogen. Studien zu Gegenöffentlichkeit im Kontext totalitärer Politiksysteme oder zu Formen rechtsradikaler Gegenöffentlichkeit bleiben unberücksichtigt, da diese Formen von Öffentlichkeit demokratietheoretisch anders zu bewerten sind. Aus forschungspragmatischen Gründen fehlen zahlreiche Analysen kritischer Rezeptions- und Aneignungsprozesse im Sinne der cultural studies sowie deskriptive Studien zu alternativen Medien oder NSB.17 Auswahlkriterium war hier – wie bei allen Studien – eine explizite theoretische wie auch empirische Beschäftigung mit dem Konstrukt der Gegenöffentlichkeit im Sinne der eingangs skizzierten Arbeitsdefinition (vgl. Teil 1), so z.B. mit dem Konzept der Gegenthematisierung oder dem der demokratietheoretischen Partizipation. Das Sample kann nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben, allerdings erscheint die Aussagekraft für den zugrunde liegenden Forschungsbereich aufgrund der verwendeten Quellen und des langen Untersuchungszeitraums als gesichert.

3.2

Studienüberblick

Zuerst erfolgt ein knapper Überblick über die 74 berücksichtigten Studien, beginnend mit einer Skizze der theoretischen Grundlagen.18 Lediglich vier Studien betrachten in ihrer Analyse gegenöffentliche Prozesse auf mehr als einer Komplexitätsebene.19 Die restlichen Untersuchungen definieren Gegenöffentlichkeit allein entweder in ihrem Makro-, Meso- oder Mikroaspekt, wobei Studien zur alternativen Öffentlichkeit und partizipatorischen Öffentlichkeiten klar dominieren. Dieser Befund setzt sich auch verstärkt im Öffentlichkeitsverständnis der Studien fort. In keiner Studie wird Öffentlichkeit auf der Mikroebene z.B. in der Form von Encounter-Öffentlichkeiten theoretisch und empirisch beMedia, Culture and Society, Media Perspektiven, Medien-Journal, Medien & Kommunikationswissenschaft (ehemals Rundfunk und Fernsehen), Medien & Zeit, Message, Medium, New Media & Society, Public Opinion Quarterly und Publizistik. 17 Das Erkenntnisinteresse meiner Metaanalyse ist ja das umfassendere Konstrukt der Gegenöffentlichkeit und eben nicht allein die Analyse von NSB oder alternativen Medien, die allesamt allein Träger von Gegenöffentlichkeit darstellen. 18 Eine ausführlichere Beschreibung der Studien ist auf der Homepage des Autors (www.tu-ilmenau.de/fakmn/Dr-Jeffrey-Wimmer.9199.0.html) verfügbar. 19 Caldwell: „Alternative Media in Suburban Plantation Culture“; Ferree u.a.: Shaping Abortion Discourse; Gerhards: Neue Konfliktlinien in der Mobilisierung öffentlicher Meinung; Wagner: Community Networks in den USA.

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trachtet. In fünf Studien wird Öffentlichkeit als intermediäre Kommunikationsstruktur modelliert, gar in 28 als (normativ aufgeladene) Diskursöffentlichkeit und in 19 als Öffentlichkeit der Massenmedien. 22 Studien verzichten allerdings auf eine Beschreibung von Öffentlichkeit und widmen sich ausschließlich ihrem Gegenstück. Es zeigt sich damit auch in der Empirie, dass weder ein theoretischer Konsens in der Erforschung von Gegenöffentlichkeiten existiert20 noch überhaupt der Stellenwert dieses Konstrukts innerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaft geklärt ist. Die Studien konzentrieren sich – wie die traditionelle empirische Kommunikationsforschung auch – mit wenigen Ausnahmen auf einzelne Länder und deren Nationalöffentlichkeiten. Trotz der aus theoretischer Perspektive zahlreich konstatierten zunehmenden Transnationalität von Öffentlichkeit und ihren Trägern werden insgesamt nur in acht Fällen ländervergleichende Untersuchungen angestrebt. Die Zunahme an Forschungsarbeiten und die Wahl des Untersuchungszeitraumes sind zunächst ein Zeugnis für die Relevanz und Aktualität des Erkenntnisinteresses. So analysierten seit der Jahrtausendwende allein 26 empirische Studien das Konstrukt Gegenöffentlichkeit, fast so viele wie in den gesamten Neunzigerjahren. Neben der skizzierten theoretischen Vielfalt erweist sich v.a. auch die methodische Umsetzung von Öffentlichkeits- und Gegenöffentlichkeitsanalysen als schwierig. Daher überrascht positiv sowohl aus theoretischanalytischer als auch methodisch-operationaler Perspektive, dass sich 46 Studien auf einen mehrjährigen Zeitraum beziehen (diachrone Studien), 22 vollziehen eine Messung zu einem Stichpunkt (synchrone Studien). Die verwendeten Methoden spiegeln die Vielfalt der theoretischen Ansätze wider. Erwartbar häufig werden Inhaltsanalysen zur Untersuchung manifester Medienaussagen (29 Studien) und Befragungen zur Erhebung von Meinungen und Erfahrungen (14 Studien) eingesetzt. Ein Großteil der Studien (23 Untersuchungen) nutzt die Deskription, um qualitative oder quantitative Befunde zu systematisieren. Allerdings variiert diese Art der empirischen Untersuchung sowohl in ihrem Umfang als auch Gütegrad gewaltig. So wird selten explizite Methodenkritik geäußert noch auf die Stichprobenbildung und Auswertungslogik gesondert eingegangen. Wie bei der theoretischen Grundlegung der Studien zeigt sich auch in der Methodenwahl kein einheitliches Vorgehen. Positiv überrascht, dass von der Mehrzahl der Studien Mehrmethodendesigns eingesetzt

20 Atton definiert beispielsweise in seiner Studie „News Cultures and New Social Movements“ sein Untersuchungsobjekt als „radical media“, das aber aufgrund seiner Organisationsstruktur und seinen Inhalten eher als ein ‚alternatives‘ Medium zu bezeichnen ist. Ein Extrembeispiel sind die Studien von Gillett, in denen sowohl Öffentlichkeit als auch Gegenöffentlichkeit auf jeweils unterschiedliche Weise definiert.

135

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werden, um die jeweiligen Forschungsfragen beantworten zu können (42 zu 32 Studien).

3.3

Modelltypen von Gegenöffentlichkeit

Es können sechs Studientypen identifiziert werden, die jeweils ein bestimmtes Modell von Gegenöffentlichkeit repräsentieren (= Modelltypen). Meine Analysekriterien sind dabei an die Bildung von Idealtypen durch Max Weber angelehnt.21 Die Gruppen stellen daher keine Durchschnittstypen dar, sondern repräsentieren bestimmte idealtypische Merkmale und sind daher im Gruppenvergleich sehr heterogen, aber innerhalb der Gruppen relativ homogen angelegt. Im Gegensatz zu Webers Taxonomie von Handlungstypen entsprechen die identifizierten Modellvorstellungen nicht eins zu eins der sozialen Realität, sondern beziehen sich allein auf die empirisch beschriebene Realität der Forschung. Ausgangspunkt der Typenbildung ist also das Studien-Sample. Die Modelltypen werden durch ein qualitatives Verfahren ermittelt. Zuerst wird die von der jeweiligen Studie fokussierte Komplexitätsebene von (Gegen-) Öffentlichkeit ermittelt (Mikro-, Meso- und/oder Makroebene); im zweiten Schritt die jeweils in der Studie berücksichtigen Öffentlichkeitsdimensionen bzw. deren Indikatoren herausgearbeitet (System-, Wirkungs-, Funktions-, Nutzungsund/oder Modusaspekte). Dieser Logik folgend werden beispielsweise alle Studien sowohl zu alternativer Öffentlichkeit (= Makroebene) als auch zu deren Strukturen, Inhalten oder Handlungen (= Systemdimension) zu einem Modelltyp („Alternative Öffentlichkeit als Systemzusammenhang“) zusammengefasst.

3.3.1 Alternative Öffentlichkeit als Systemzusammenhang Ein Großteil der Studien betrachtet die Strukturen, Inhalte und Handlungen alternativer Öffentlichkeit (= Systemindikatoren). Die Wirkungsdimension spielt dabei durchgängig keine Rolle, die Funktions-, Nutzungs- und Modusaspekte alternativer Öffentlichkeit werden nicht immer und wenn, dann oft nur am Rande berücksichtigt. Das ist als problematisch zu bewerten, wenn die Studien beanspruchen, die funktionalen oder lebensweltlichen Aspekte zu beschreiben, ohne diese in ihrem Studiendesign zu operationalisieren.

21 Vgl. Weber: „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“.

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Modelltyp Alternative Öffentlichkeit Atton (2002), Atton & Wickenden (2005), Benson (2003), Beywl (1982), Blöbaum (2004), Breunig (1998), Brosius & Weiler (2000), Buchholz (2001), Büteführ (1995), Dorer (1995), Eilders & Lüter (2002), Gibbs (2003), Haas & Steiner (2001), Harcup (2003), Käsmayr (1974), Ke (2000), Lewes (2000), Menayang u.a. (2002), Merz (1998), Pinseler (2001) Blöbaum & Werner (1996), Blöbaum (2002), Flemming u.a. (2000), Jaenicke & Fingerling (1999), Lenk (2001), Volpers u.a. (2000), Weichler (1987) Curran (2003), Dillon (2005), Platon & Deuze (2003), Urla (2001), Wagner (2003) Winterhoff-Spurk u.a. (1992) Reisbeck (1983), Rutigliano (2004)

System x

Wirkung –

Indikatoren Funktion Nutzung – –

Modus –

x





x



x







x

x



x

x



x



x



x

Tabelle 1: Modelltyp 1 – Alternative Öffentlichkeit als Systemzusammenhang

3.3.2 Wirkung von Gegenöffentlichkeiten Einige Studien können unter dem Aspekt der Wirkung alternativer Medien und partizipatorischer Öffentlichkeiten subsumiert werden. Wirkung wird unterschiedlich verstanden: (1) Wirkung in der Form von inter media agenda setting zwischen alternativen und etablierten Medien, (2) als massenmediale Resonanz der Gegenthematisierung, (3) in der journalistischen Kommunikationspraxis und (4) in der Mobilisierung von alternativen Medienmachern, Bewegungsakteuren und Publikum.

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Modelltyp Wirkung von Gegenöffentlichkeiten Bulck & Bedoyan (2004), Demirovic (1994), Mathes & Pfetsch (1991), Song (2004) Harcup (2005), Kliment (1994) Gillett (2003b) Almeida & Lichbach (2003), Hocke (2002), Owens & Palmer (2003), Scharlowski (1999) Gerhards (1993) Gilcher-Holtey (2000) Ferree u.a. (2002)

Indikatoren Funktion Nutzung

System

Wirkung

Modus



x







x

x







– –

x x

– –

x –

– x

x x x

x x x

x – x

– – –

– x x

Tabelle 2: Modelltyp 2 – Wirkung von Gegenöffentlichkeiten

3.3.3 Bewegungsöffentlichkeiten als Systemzusammenhang Ein dritter Typ von Studien beschäftigt sich mit den Strukturen, Handlungen und Inhalten von Bewegungsöffentlichkeiten der NSB (= Systemindikatoren), die eine wichtige Basis für die öffentliche Gegenthematisierung (= Modelltyp 1) und deren massenmedialer Resonanz (= Modelltyp 2) sind. Bewegungsöffentlichkeiten konstituieren sich direkt über Bewegungsmedien, indirekt durch die massenmediale Berichterstattung über NSB. Modelltyp Bewegungeöffentlichkeiten Downing (1988), Gillett (2003a), Wall (2003), Weber (2001) Schikora (2001), Stephenson (2000) Andretta u.a. (2003), Haunss (2004) Siapera (2004) Wischermann (2003) O’Donnell (2001), Schewe (2001), Fahlenbrach (2002)

Indikatoren Funktion Nutzung – –

System x

Wirkung –

x



x





x





x



x x x

– x –

– – –

– x x

x – x

Tabelle 3: Modelltyp 3 – Bewegungsöffentlichkeiten als Systemzusammenhang

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Modus –

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3.3.4 Partizipatorische Öffentlichkeiten als Systemzusammenhang Einige Studien widmen sich den partizipatorischen Gegenöffentlichkeiten jenseits der NSB, die z.T. sehr lose Kommunikationszusammenhänge bilden. Die Studien fokussieren v.a. deren Strukturen, Inhalte, Diskurse und Selbstverständnisse (= Systemindikatoren), z.T. auch die funktionalen und subjektiven Aspekte. Bei diesem Modelltyp können drei Formen partizipatorischer Öffentlichkeiten unterschieden werden – Themen- oder Versammlungsöffentlichkeiten bzw. eine Mischform von beiden. Modelltyp Partizipatorische Öffentlichkeiten Atton (2003), Wagner (1998), Zhang (2004) Pezzullo (2003) Kelly (2003), Maguire & Mohtar (1994)

Indikatoren Funktion Nutzung

System

Wirkung

Modus

x









x x

– –

x –

– x

– –

Tabelle 4: Modelltyp 4 – Partizipatorische Öffentlichkeiten als Systemzusammenhang

3.3.5 Video- und Filmaktivismus Als fünfter Modelltyp der empirischen Forschung erweist sich der sog. Medienaktivismus, insbesondere im Bereich Video und Film. Die stark explorativen Studien verdeutlichen, dass Video- und Filmprojekte subjektiven Sinn (= Nutzungsindikatoren) v.a. in Form von Gemeinschafts- und Identitätsbildung entfalten können. Modelltyp Video- und Filmaktivismus Berry (2003), Caldwell (2003), Cartwright (1998)

System x

Wirkung –

Indikatoren Funktion Nutzung – x

Modus –

Tabelle 5: Modelltyp 5 – Videoaktivismus

3.3.6 Grenzgänger Unter dem letzten Modelltyp sind Studien subsumiert, die inhaltlich in keine der vorhergehenden Modelltypen passen. Diese Studien verorten Gegenöffentlichkeit nicht nur auf mehreren Komplexitätsebenen, sondern setzen sie dabei

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auch stets mit etablierter Öffentlichkeit in Zusammenhang.22 Im Vordergrund steht neben der Konstituierung der untersuchten Gegenöffentlichkeiten (= Systemindikatoren) deren gesellschaftliche Funktion: Nancy Fraser verdeutlicht z.B. anhand ihrer Deskription eines politischen Skandals zwar den harten ‚Wettbewerb‘ verschiedener, miteinander konkurrierender Medienöffentlichkeiten, etablierter Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten, aber auch das darin innewohnende demokratische Potential.23 Modelltyp Grenzgänger Fraser (1994) Cho (2005), Prott (2003)

System x x

Wirkung – –

Indikatoren Funktion Nutzung x – x x

Modus – –

Tabelle 6: Modelltyp 6 – Grenzgänger

4

Fazit

Die konkreten inhaltlichen Befunde der Meta-Analyse werden abschließend anhand der in Teil 2 skizzierten Hypothesen zum Potential von Gegenöffentlichkeiten eingeordnet und diskutiert. Der Einfluss von Gegenöffentlichkeiten auf die System- und Funktionsdimensionen von Öffentlichkeit ist nur z.T. gegeben (= Relation 1).24 Analysen der Berichterstattung alternativer Medien offenbaren zwar, dass eine alternative Öffentlichkeit mittlerweile einen festen Platz als publizistische Ergänzung massenmedialer Öffentlichkeit einnimmt. Dies gilt v.a. für den Radiobereich.25 Dieser Befund gilt für die Onlinemedien allerdings nur eingeschränkt, da hier oftmals allein Kritik ohne inhaltliche Alternativen artikuliert wird.26 Der direkte publizistische Einfluss z.B. im Rahmen von inter media agenda setting oder massenmedialer Resonanz ist an zahlreiche Voraussetzungen geknüpft wie z.B. Nachrichtenfaktoren oder die Blattlinie der etablierten Medien (vgl. Modelltyp 2).

22 Daher auch die auf den ersten Blick eigentümlich anmutende Bezeichnung des Modelltyps („Grenzgänger“). 23 Vgl. Fraser: „Sex. Lügen und die Öffentlichkeit“. 24 Interessanterweise ist empirisch ein dysfunktionaler Einfluss von Gegenöffentlichkeiten empirisch nicht beobachtbar. 25 Z.B. Brosius/Weiler: Programmanalyse nichtkommerzieller Lokalradios in Hessen, vgl. zu Printmedien die Fallstudie von Eilders/Lüter:„Gab es eine Gegenöffentlichkeit während des Kosovo-Krieges?“ 26 Z.B. Curran: „Global Journalism“ und Dillon: „Political Nihilism, Alternative Media and the 2004 Presidential Election”.

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Resonanzanalysen zeigen, dass die massenmediale Berichterstattung zeitlich nur partiell, inhaltlich nur in bestimmten Positionen und räumlich nur eingeschränkt instrumentalisiert werden kann, wobei der quantitative Einfluss noch größer ist als der qualitative. Diachrone Analysen machen deutlich, dass seit den 1980er Jahren die Abgeklärtheit und Professionalisierung der Medienarbeit gegenöffentlicher Akteure zugenommen hat. Der in den 1970er Jahren noch so aggressive Versuch von Gegenöffentlichkeiten, der medialen Inszenierung von öffentlicher Meinung nicht nur emotional, sondern auch materiell eine alternative Beobachtung entgegenzusetzen, ist moderater geworden. Dies kann u.U. sowohl mit einer gering werdenden Authentizität und auch mit abnehmender politischer Ausrichtung der Gegenthematisierung korrespondieren (vgl. Modelltyp 3). Gesamtgesellschaftlich gesehen stellen Gegenöffentlichkeiten nur marginale Kommunikationsprozesse dar, die im real-öffentlichen wie virtuellen Raum gleichzeitig zu öffentlichen Prozessen ablaufen.27 Auch die neuen Medien scheinen das Konzept von Kritik und öffentlicher Gegenthematisierung auf breiter Front (noch) nicht wiederbeleben zu können – wenngleich Fallstudien einige Freiräume wie z.B. themenspezifische Mailinglisten aufzeigen (vgl. Modelltyp 3, 4, 5). Neben den direkten Beeinflussungsversuchen sind auch indirekte Struktureinflüsse im Sinne der Übernahme alternativer Kommunikationspraxis durch den etablierten Journalismus beobachtbar.28 Eine weitere Wirkungsdimension ist die Mobilisierung von alternativen Medienmachern, Bewegungsakteuren und des jeweiligen Publikums. Neben der analytischen Beschreibungsmöglichkeit des Einflusses von Gegenöffentlichkeiten in Form von Wirkung können aber auch normative Funktionen beurteilt werden. In Anlehnung an Jürgen Habermas ist aus demokratietheoretischer Perspektive die zunehmende Vermachtung des Systems Öffentlichkeit problematisch. Das Publikum erscheint dabei weitestgehend als eine passive Größe, politische Kommunikation und Meinungsbildung als ein im Wesentlichen elitegesteuerter Prozess. Gegenöffentlichkeiten können ein Korrektiv und Innovationspotential für die etablierte Politik darstellen. Vielfach zeigt sich das Demokratiepotential auch in den untersuchten Fallstudien – z.B. in durch Gegenöffentlichkeiten initiierter gesellschaftlicher Solidarisierung, in den Partizipationsmöglichkeiten am eigentlich exklusiven massenmedialen System

27 Es existieren zwar zahlreiche kritische Teilöffentlichkeiten wie NGOs, Protestparteien etc., allerdings sind diese nicht per se Gegenöffentlichkeiten im Sinne der eingangs skizzierten normativen Leitideen. 28 Auf diese Prozesse weist Weichler in seiner Studie „Die anderen Medien“ als erster aus empirischer Perspektive hin und subsumiert sie unter dem Schlagwort ‚Lernfähigkeit bürgerlicher Massenmedien‘.

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und in alternativer Kommunikationspraxis gerade auf lokaler Ebene (vgl. Modelltyp 1, 3, 4). Damit verbunden ist ein emanzipatorischer Freiraum, den Gegenöffentlichkeiten aus inhaltlicher Perspektive sowohl zur individuellen und kollektiven Identitätsfindung als auch zur Dekonstruktion gesellschaftlich dominanter Diskurse bieten können (= Relation 2, 4). Diese Bereiche konstituieren sich z.T. von massenmedialer Öffentlichkeit unbeeinflusst im Rahmen von Bewegungsöffentlichkeiten der NSB (vgl. Modelltyp 3) und im Rahmen von partizipatorischen Versammlungs- und Themenöffentlichkeiten (vgl. Modelltyp 4). Es liegen hierzu jedoch nur wenige Einzelbefunde vor. Allerdings erscheinen Zugangsfreiheit und Partizipationsmöglichkeiten an alternativer Öffentlichkeit oftmals stark eingeschränkt. Gerade im Radiobereich gilt, dass hier die Ideale der Gegenöffentlichkeit bzw. gesamtgesellschaftliche Repräsentativität noch nicht erreicht sind.29 Trotz potentiell größerer Zugangsfreiheiten und Partizipationsmöglichkeiten durch die technischen Möglichkeiten von Onlinemedien zeigen sich auch im digitalen Medienbereich auf unterschiedliche Weise Einschränkungen der Zugangsfreiheit und Partizipationsmöglichkeiten (z.B. durch editorial teams oder Mitgliedermodelle), die zunehmend Einfluss auf die Nachrichtenselektion und -produktion nehmen.30 Die Befunde verdeutlichen damit insgesamt gesehen die sozial wie medial sehr voraussetzungsreichen Entstehungs- und Mobilisierungsprozesse im Rahmen von Gegenöffentlichkeiten (= Relation 4). Wie bei den etablierten Medien ist dabei auch ein Strukturwandel alternativer und bewegungseigener Öffentlichkeiten beobachtbar, der ebenfalls mit Prozessen der Professionalisierung, Kommerzialisierung und Institutionalisierung beschrieben werden kann (vgl. Modelltypen 1, 3), wie z.B. die Anpassung von Bewegungsmedien an etablierte Presseerzeugnisse. Dieser Wandel von Bewegungsöffentlichkeiten ist aus inhaltlicher Perspektive als ambivalent zu bewerten. So kann er zwar mit größerer massenmedialer Öffentlichkeit einhergehen, aber auch mit geringerer Authentizität und politischer Ausrichtung und damit verbunden mit einer geringeren Wirksamkeit bei den Bewegungsakteuren, was wiederum das Selbstverständnis als Medium von Gegenöffentlichkeit gefährden kann.31 Durch den zunehmend rasanteren strukturellen und technischen Wandel konstituieren sich gerade im Bereich der neuen Medien laufend eine Fülle situativ-kontextueller Gegenöffentlichkeiten, die allerdings empirisch in ihrer Breite 29 So besteht hier die Hauptnutzergruppe aus jungen Männern von 20 bis 30 Jahren mit überdurchschnittlicher formaler Bildung. Des Weiteren ist das Interesse des Publikums, die Akzeptanz des Programms und die Bekanntheit der Radios gesamtgesellschaftlich als gering einzuschätzen. 30 Vgl. z.B. Platon/Deuze: „Indymedia Journalism“. 31 Z.B. Gillett: „The Challenges of Institutionalization for AIDS Media Activism“.

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bisher kaum beschrieben sind (= Relation 5). Die bisherigen Analysen kommen allerdings zu dem – aus inhaltlicher Perspektive eher ambivalenten – Ergebnis, dass auch hier gleichermaßen Ausgrenzungs- wie Integrationsprozesse zu beobachten sind. So zeigen sich empirisch die Vernetzung der Bewegungsteilnehmer und die Formierung einer gemeinsamen, kollektiven Identität als zentrale Zielsetzungen einzelner Online-Gegenöffentlichkeiten.32 Diese stark zunehmende Vernetzung ist allerdings nicht automatisch mit einer größeren Partizipation einzelner Aktivisten an kollektiven Handlungen verbunden. Insgesamt gesehen kann keine der in der Metaanalyse untersuchten Gegenöffentlichkeiten als autonome Öffentlichkeit angesehen werden (= Relation 6), da sie in irgendeiner Form immer mit der etablierten Öffentlichkeit in Verbindung stehen – z.B. in der Form massenmedialer Publizität (= Modelltyp 2, 3), (notwendiger) Finanzierung mit öffentlichen Geldern (= Modelltyp 1, 4) oder im Rahmen politischer Kontroversen (= Modelltyp 1, 3, 6). Chris Atton verdeutlicht anhand seiner Analyse eines alternativen Informationszentrums exemplarisch die vielfältigen rechtlichen, ökonomischen und organisatorischen Einschränkungen, denen partizipatorische Öffentlichkeiten unterliegen (Modelltyp 4);33 autonome Kommunikationsräume sind so scheinbar nicht zu etablieren. Die Möglichkeiten neuer Medien können diese Grenzen z.T. auflösen, da z.B. Online-Kommunikationsnetzwerke themenzentrierte Gegenöffentlichkeiten und eigenständige Diskurse entfalten können. Allerdings werden diese kritischen Öffentlichkeiten stets im Zeitverlauf z.B. durch den Konkurrenzdruck kommerzieller Organisationen34 oder durch rigide rechtliche Vorgaben in ihrer Autonomie bedroht.35 Aus methodischer Perspektive ist vielfach die Qualität des jeweiligen methodischen Vorgehens der Studien zu kritisieren.36 Die analytische Trennung zwischen normativen und analytischen Kriterien wird nicht immer vollzogen, die verschiedenen Öffentlichkeitsdimensionen nicht entsprechend gewürdigt. So untersuchen einige Autoren Aspekte der Strukturen, Inhalte oder Handlungen von Gegenöffentlichkeiten (= Systemindikatoren) und schließen davon ausgehend auf deren Wirkung oder Funktionserfüllung, ohne diese Aussagen aller32 Vgl. z.B. Andretta u.a.: No global – new global; Siapera: „Asylum Politics, the Internet and the Public Sphere“. 33 Atton: „Infoshops in Shadow of the State“. 34 Wagner: Community Networks in den USA. 35 Zhang: Promoting Subaltern Public Discourses. 36 Auch beanspruchen zahlreiche – in dieser Analyse nicht berücksichtigte – Studien zwar beweisende Relevanz, verzichten aber entweder auf die Darlegung ihrer Datenerhebung oder gar auf die empirische Fundierung ihrer Aussagen zu Gegenöffentlichkeit.

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dings empirisch überprüfen zu können. So wird beispielsweise von einer zunehmenden Einflusskraft autonomer Webseiten auf die massenmediale Berichterstattung ausgegangen, aber es werden allein die autonomen Onlineangebote untersucht.37 Mehrmethodendesigns und Input-Output-Analysen, die aus methodisch-operationaler Perspektive mehrere Dimensionen von Öffentlichkeit einbeziehen, würden hier eine Möglichkeit bieten, Kausalprozessen auf die Spur zu kommen. Als Fazit lässt sich ziehen, dass die Studien gezeigt haben, dass der komplexe Zusammenhang zwischen den verschiedenen Ebenen von Öffentlichkeit wie Gegenöffentlichkeit und ihren jeweiligen Leitmedien bisher wenig berücksichtigt wurde. Die Analysen fokussieren zumeist – möglicherweise aus forschungspragmatischen Gründen – entweder die Mikro-, Meso- oder Makroebene öffentlicher Kommunikation. Vergleichende und umfassende Studien – gerade unter kritischer Prüfung des demokratiefördernden Anspruchs bzw. des demokratischen Leitpotentials von Gegenöffentlichkeit – stehen zu allen Modelltypen größtenteils noch aus.38

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Leitmedien als Indikatoren politischer Krisen und Umbrüche. Das Beispiel der Weimarer Republik In den Demokratisierungsprozessen des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts waren es vor allem „die aktuellen Massenmedien, und das hieß zunächst Tageszeitungen und andere Printmedien“, die die Bürger „in das Wechselspiel politischer Willensbildung und deren Legitimierung“ systematisch integrierten. Gegenüber politischen Parteien und vorpolitischen, aber politisch vernetzten kollektiven Akteuren wie Kirchen und Gewerkschaften, die „nur selektiv über Mitgliedschaften“1 wirkten, war es die Zeitung, über die sich bis weit in die Weimarer Republik hinein eine allgemeine politische Öffentlichkeit konstituiert hat.2 Insofern kann sie als politisch-kulturelles Leitmedium jener Zeit gelten. Voraussetzung dafür war die massenhafte Verbreitung, für die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die technischen, pressepolitischen und ökonomischen Voraussetzungen gegeben waren, denn zweifellos war erst über eine breite „Leserakzeptanz tatsächlich öffentliche Meinung auch als politische Größe realisierbar“.3 Gleichzeitig mit der Entwicklung der Massenpresse kam es jedoch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts infolge der gleichzeitigen Ausbildung des modernen Parteiensystems und der funktionalen Nähe von Medien und Parteien als Akteure des intermediären Systems zu einer institutionellen Kopplung, die sowohl für das journalistische Selbstverständnis als auch den hohen Stellenwert der Zeitung in der politischen Kommunikation folgenreich werden sollte.4

Zur Fragestellung der Untersuchung Die aus dem Spannungsfeld zwischen (partei-)politischer Funktion und wirtschaftlichem Profit resultierenden Strukturbedingungen und ihre Auswirkungen auf die Kommunikationsleistung der Presse standen im Zentrum einer 1

Kaase: „Politische Kommunikation – Politikwissenschaftliche Perspektiven“, S. 100.

2

Schirmer: Mythos – Heilshoffnung – Modernität, S. 115.

3

Bohrmann: „Massenpresse“, S. 156.

4

Vgl. Melischek/Seethaler: „Von der Lokalzeitung zur Massenpresse“; Seethaler/ Melischek: „International vergleichende Mediengeschichte“, S. 56-67.

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vergleichenden Untersuchung der politischen Berichterstattung in Deutschland und Österreich in den späten Jahren der Weimarer bzw. Ersten Republik, als ein im Umbruch befindliches Mediensystem5 auf eine Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze traf. Ausgangspunkt war die These Richard F. Hamiltons, wonach ein „rechtes“ Presseklima den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigt habe.6 Für das Vergleichsland Österreich ist diese Frage dahingehend zu modifizieren, inwieweit in der Presse schon frühzeitig der zunehmenden Verlagerung der „faschistischen Dynamik auf den Nationalsozialismus“7 der Boden bereitet worden war.8 Inhaltlich konzentrierte sich die Analyse auf die Berichterstattung über Wahlen, da Wahlen unter den regelhaft auftretenden politischen Abläufen, über die Medien berichten, die folgenreichsten darstellen, und daher als Kulminationspunkte politischer Kommunikation gelten können.9 So kann davon ausgegangen werden, dass Medien eine zentrale Rolle sowohl in der Willensbildung vor der Wahl als auch im gesellschaftlichen Interpretationsprozess des Wahlergebnisses, also bei der Neudefinition des politischen Kräfteverhältnisses und der Erklärung ihres Zustandekommens, einnehmen.10 Das breite Zeitungsangebot in den späten 1920er und beginnenden 1930er Jahren – in Berlin erschienen zu dieser Zeit über 30, in Wien über 20 Tageszeitungen11 mit einer Gesamtauflage von durchschnittlich 2,6 bzw. 1,3 Millionen Exemplaren – spricht für eine hoch fragmentierte Struktur der (Medien-)Öffentlichkeit, die der heute gegebenen „Öffentlichkeit unter Viel-Kanal-Bedingungen“ nicht unähnlich ist.12 Während sich zwei der drei zur Überprüfung der Behauptung Hamiltons formulierten Hypothesen auf die Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses innerhalb des Zeitungsangebots, gemessen am Verhältnis der Markanteile der Zeitungen zu den von ihnen gegebenen Wahlempfehlun-

5

Vgl. Eksteins: The Limits of Reason; Fulda: „Die Politik des ‚Unpolitischen‘“.

6

Hamilton: Who Voted for Hitler?

7

Botz: Krisenzonen einer Demokratie, S. 187.

8

Die Autoren danken der Österreichischen Nationalbank für die Förderung der Forschungsarbeiten (Jubiläumsfondsprojekt 9725).

9

Vgl. Schönbach: „Politische Kommunikation – Publizistik- und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven“.

10 Vgl. Bohrmann u.a.: Wahlen und Politikvermittlung durch Massenmedien. 11 Als ‚Zeitungen‘ werden hier Zeitungen mit Vollredaktionen gezählt, unabhängig davon, wie viele Ausgaben mit dem gleichen politischen ‚Mantel‘ sie herausgebracht haben. In der Pressestatistik wird dafür der Begriff der ‚publizistischen Einheit‘ verwendet. Vgl. Schneider/Schütz: Europäische Pressemärkte, S. 58. 12 Vgl. Jarren/Krotz: Öffentlichkeit unter Viel-Kanal-Bedingungen.

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gen,13 und auf die Art der Wahrnehmung der NSDAP nach den Wahlen bezieht,14 geht die dritte Hypothese davon aus, dass die Berichterstattung der die NSDAP unterstützenden Zeitungen in zunehmendem Maß von den anderen Zeitungen wahrgenommen, ihnen also verstärkt eine Leitfunktion innerhalb des Mediensystems zugeschrieben wird, während die demokratiefreundlich eingestellten Zeitungen parallel dazu an Bedeutung verlieren. Damit verlieren die nationalsozialistischen Blätter ihre ursprüngliche Außenseiterrolle und werden zu einem bestimmenden Bestandteil der öffentlichen politischen Kommunikation. Die Hypothese lautet also: Das politische Spektrum der ‚Leitmedien‘ verschiebt sich nach rechts.

Begriff und Funktion des ‚Leitmediums‘ Die Massenmedien sind an den im öffentlichen Raum stattfindenden und Öffentlichkeit konstituierenden Diskursen neben Parteien, Verbänden, Kirchen und sozialen Bewegungen insofern als zentrale Akteure beteiligt, als sie einerseits das Forum schaffen, in dem die Repräsentanten der anderen intermediären Akteure Stellung beziehen, andererseits aber auch durch Auswahl von Experten und durch eigene Kommentare in hohem Maße selbst in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse eingreifen.15 Allerdings spielen die einzelnen Medienvertreter in diesen Prozessen durchaus unterschiedliche Rollen. So weisen Winfried Schulz und Klaus Kindelmann darauf hin, dass das Mediensystem einerseits hierarchisch strukturiert ist, einigen Medienvertretern also die Rolle von Meinungsführern zukommt, deren Deutung der politischen Situation von anderen Medien übernommen wird.16 Andererseits sehen sie „neben der hierarchischen Struktur, die durch Leitmedien mit einem hohen Rang und Folgemedien mit einem niedrigen Rang […] gekennzeichnet ist“, ein zweites Ordnungsmuster gegeben, das in der Orientierung der Medien an den 13 Vgl. Melischek/Seethaler: „Die Berliner und Wiener Tagespresse von der Jahrhundertwende bis 1933“; Melischek/Seethaler: „Zwischen Gesinnung und Markterfolg“. 14 Vgl. Melischek/Seethaler: „Sieger und Verlierer in der Nachwahlberichterstattung der Berliner Tagespresse 1928-1932“; Melischek/Seethaler: „Erfolg und Misserfolg als Dimension der Politikvermittlung“; Melischek/Seethaler: „The Winner Takes It All“; Matis u.a.: „Versäumte Konsolidierung“. 15 Vgl. Jarren/Donges: Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. 16 Ähnlich sieht Hans Mathias Kepplinger das System der Massenkommunikation durch zwei Kategorien, nämlich „Prestige-Medien“ und „populäre Medien“ konstituiert; vgl. Kepplinger: „Systemtheoretische Aspekte politischer Kommunikation“, S. 248.

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ideologischen Grundmustern des politischen Systems besteht.17 Aus dem Zusammenwirken dieser beiden Ordnungen ergibt sich, dass den einzelnen Leitmedien nicht nur innerhalb des Mediensystems Leitfunktion zukommt, sondern dass sie zugleich als „jeweils ‚passende[r]‘ Resonanzboden für die Akteure der verschiedenen politischen Lager“18 fungieren, in der Gesamtheit ihrer politischen Orientierungen folglich für das jeweils herrschende politische Kräfteverhältnis als repräsentativ erachtet werden können. Diese – für die oben genannte These konstitutive – Annahme liegt auch gegenwärtig der in zahlreichen deutschen Studien vorgenommenen Auswahl der Frankfurter Allgemeinen, der Frankfurter Rundschau, der Süddeutschen Zeitung, der Welt und – in jüngster Zeit – auch der alternativen Berliner tageszeitung (taz) als Leitmedien zugrunde. Im Unterschied zur eingangs verwendeten Bedeutung des Begriffs ‚Leitmedium‘ im Sinne der Leitfunktion eines Mediums für die Gesellschaft als Ganzes oder für gesellschaftliche Teilsysteme (wie beispielsweise der Politik) wird hier einzelnen Medienvertretern eine Leitfunktion in bestimmten Themenfeldern und in Bezug auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen zugesprochen, die in der Regel mit einem Multiplikatoreffekt hinsichtlich der von ihnen verbreiteten Botschaften verbunden ist.19 Die unterschiedlichen Bezugsgruppen sollen im Folgenden als Kriterium verwendet werden, um der definitorischen Unklarheit durch den in der Literatur immer wieder anzutreffenden synonymen Gebrauch unterschiedlicher Termini wie „Elite-“, „Prestige-“ und „Meinungsführermedium“ zu begegnen. Dabei wird grundsätzlich zwischen (medien-)systeminternen und -externen Leitfunktionen unterschieden. Medienvertreter, die von Journalisten als wichtig für ihre Arbeit erachtet werden, sollen – in Übereinstimmung mit Rainer Mathes und Barbara Pfetsch20 – als „Prestigemedien“ bezeichnet werden,21 während nur jene Prestigemedien, die in einer konkreten Situation innerhalb des Mediensystems tatsächlich die 17 Schulz/Kindelmann: „Die Entwicklung der Images von Kohl und Lafontaine im Wahljahr 1990“, S. 13. 18 Schulz/Kindelmann: „Die Entwicklung des Images von Kohl und Lafontaine im Wahljahr 1990“, S. 14. 19 Vgl. Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, S. 303. 20 Mathes/Pfetsch: „The Role of the Alternative Press in the Agenda-Building Process“, S. 35 21 Demgegenüber legt Kepplinger (1985, 248; 1998, 364) dem Begriff des „Prestigemediums“ durch die Bestimmung dreier Adressatenkreise (politische Eliten; Journalisten bei anderen Medien; Masse ihres Publikums, das keiner der beiden erstgenannten Kategorien angehört) jene weite Definition zugrunde, die hier für den Überbegriff des Leitmediums verwendet wird; vgl. Kepplinger: „Systemtheoretische Aspekte politischer Kommunikation“, S. 248; Kepplinger: „Politische Kommunikation als Persuasion“, S. 364.

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Funktion von Trendsettern ausüben, indem es ihnen gelingt, neue Themen und Interpretationen auf die öffentliche Agenda zu setzen, als „Meinungsführermedien“ gelten können.22 Dagegen wird vorgeschlagen, den Begriff des „Elitemediums“ – in Anlehnung an Peter Hunziker23 – zur Kennzeichnung von darüber hinaus gehenden, (medien-)systemübergreifenden Funktionen zu verwenden, wenn also Leitmedien bevorzugt „von der gesellschaftlichen Führungsschicht, von Entscheidungsträgern und Angehörigen der Elite genutzt“ werden24 bzw. als Sprecher jener Organisationen fungieren, die für die „grundlegenden Entscheidungen in Politik und Gesellschaft verantwortlich“ gesehen werden.25 Jede Form der Leitfunktion ist jedoch unter den Bedingungen eines funktionierenden demokratischen (Medien-)Systems in einer „reciprocal co-orientation“26 der Medien untereinander begründet: Anders, so Frank Bösch, käme es zu einer „Abschottung der Milieus“, die einem demokratischen Diskurs entgegenstehen würde.27 Eine Abnahme der Reziprozität der Beobachtung kann daher als Verschärfung von gesellschaftlichen Cleavages und damit als Krisensignal verstanden werden, während Verschiebungen in der Zusammensetzung der Leitmedien Rückschlüsse auf jene Akteure zulassen, denen in der Krisensituation Autorität zuerkannt wird.

22 Vgl. Breed: „Newspaper ‚Opinion Leaders‘ and Processes of Standardization“; Halloran u.a.: Demonstrations and Communication; Kepplinger u.a.: „Medientenor und Bevölkerungsmeinung“; Noelle-Neumann/Mathes: „The ‚Event as Event‘ and the ‚Event as News‘“. 23 Hunziker unterscheidet unter Bezugnahme auf die Entstehung der Massenpresse zwischen „Elitepresse“ und „populärer Unterhaltungspresse“, wobei erstere einerseits in der Lage ist, durch Thematisierung relevanter Probleme auf die Meinungsbildung der Entscheidungsträger einzuwirken, und andererseits diesen politischen Eliten als Sprachrohr zur Verbreitung und öffentlichen Begründung getroffener Entscheidungen und geplanter Maßnahmen dient. Vgl. Hunziker: Medien, Kommunikation und Gesellschaft, S. 115. 24 Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, S. 302. 25 Ebd., S. 303. 26 Mathes/Pfetsch: „The Role of the Alternative Press in the Agenda-Building Process“, S. 35 27 Bösch: „Katalysator der Demokratisierung?“, S. 31.

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Methodisches Verfahren: der soziometrische Ansatz von Jakob Levy Moreno Während in der Gegenwart Leitmedien meist durch Journalistenbefragungen ermittelt werden, wird hier vorgeschlagen, die Leitfunktion von Medien soziometrisch zu untersuchen.28 Die Operationalisierung baut auf der Anregung Jürgen Wilkes auf, der Ermittlung von Leitmedien die „Zitierungshäufigkeit in anderen Medien“ zugrunde zu legen.29 Das Zitieren einzelner Zeitungen aus einer definierbaren Grundgesamtheit kommt den für die Analyse von Gruppenbeziehungen gewählten Interaktionen nahe, die den Ausgangspunkt für soziometrische Analysen bieten. Es entspricht als Wahlverfahren der klassischen Erhebungstechnik der von Jakob Levy Moreno 1934 begründeten soziometrischen Methode zur Analyse sozialer Netzwerke.30 Dabei wird vorausgesetzt, dass sich die Gruppenmitglieder gegenseitig kennen, sodass die Soziometrie vorrangig zur Erforschung sozialer Beziehungen in überschaubaren Gruppen angewandt wird (was auf den Medienbereich durchaus zutrifft). Die ermittelten Beziehungen lassen sich grundsätzlich nach subjektiven Interaktionspräferenzen und faktischen Interaktionsbeziehungen klassifizieren.31 In diesem Sinn kann die Frage nach den für die journalistische Arbeit als wichtig erachteten Medienvertretern als subjektive Interaktionspräferenz, die zitierte Stellungnahme einer Zeitung hingegen als faktische Interaktionsbeziehung interpretiert werden. Mit Hilfe des soziometrischen Instrumentariums ist es somit möglich, den zur Ermittlung von Leitmedien erfragten Interaktionspräferenzen der Journalisten die empirische Beobachtung gegenüberzustellen, an welchen Medienvertretern sie sich in konkreten Situationen tatsächlich orientieren. Auch wenn im historischen Kontext diese Vergleichsmöglichkeit von Befragung und Beobachtung nicht realisierbar ist, bietet doch die Analyse der Medienzitate eine Annäherung an die Frage der Beziehungen zwischen den Medien. Als Leitmedien – d.h. im Sinne der oben vorgenommenen Differenzierung: als Prestigemedien – können Zeitungen mit signifikant hohem „soziometrischen Status“ angesehen werden, da er ausdrückt, „wie stark Akteure […] Wertschätzung, Autorität und Achtung im Netzwerk genießen“, und somit als

28 Vgl. Melischek/Seethaler: „Zur soziometrischen Bestimmung von Leitmedien am Beispiel der Berliner Tageszeitungen 1928-1932“. 29 Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, S. 303. 30 Vgl. Moreno: Who Shall Survive?; vgl. dazu auch Scott: Social Network Analysis. 31 Vgl. Mayntz u.a.: Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie, S. 122.

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Maß für das „Prestige“ eines Akteurs im Netzwerk gilt.32 Diese Kennzahl bezieht sich auf die Zahl der Zeitungen, die eine bestimmte Zeitung zitieren (d.h. als Bezugspunkt wählen = ‚Wahlen‘ im soziometrischen Sinn), zur prinzipiell möglichen Zahl von ‚Wahlen‘ (also der Gesamtzahl der Zeitungen minus 1) und kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen.33 Für die Bestimmung des Ausmaßes der reziproken Koorientierung kann der Index der ‚Gruppenkohäsion‘ herangezogen werden, der als einer der sog. Gruppenindices zur Charakterisierung einer Gruppe als Ganzes dient. Er errechnet sich aus dem Verhältnis der Zahl aller gegenseitigen Wahlen zur Zahl der prinzipiell möglichen gegenseitigen Wahlen.34 In der hier berichteten Untersuchung erfolgte die Ermittlung der Leitmedien durch eine Analyse der Berichterstattung nach der Wahl, die einerseits als Teil des öffentlichen Interpretationsprozesses des (stets interpretationsbedürftigen) Wahlergebnisses einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert35 und daher eine hohe Aufmerksamkeit genießt36 und in der andererseits die Bedeutung der Neuverteilung des politischen Kräfteverhältnisses in weitgehend ritualisierten Formen verhandelt wird, zu denen auch die Zitierung von „Pressestimmen“, oft sogar in Form eines eigenen „Pressespiegels“ gehört. Basierend auf den skizzierten Überlegungen zur Rolle der Leitmedien und ihrer methodischen Operationalisierung ist die oben genannte Hypothese dahingehend zu konkretisieren, als die darin behauptete Verschiebung des politischen Spektrums der Leitmedien nach rechts einem Anstieg der die NSDAP unterstützenden Zeitungen an der Gruppe jener Titel entspricht, die einen signifikant höheren soziometrischen Status aufweisen, und sich diese Verschiebung vor dem Hintergrund eines Rückgangs der wechselseitigen Beobachtung als Indikator für eine Krise des demokratischen Diskurses vollzieht. In der vorliegenden Untersuchung diente die Wahlberichterstattung sämtlicher Berliner bzw. Wiener Tageszeitungen innerhalb einer Woche nach dem Wahlentscheid als Basis für die Ermittlung der Prestigemedien sowie der wechselseitigen Orientierung. Kodiert wurden alle Urheber von zitierten Aus-

32 Jansen: Einführung in die Netzwerkanalyse, S. 136. Die Ermittlung der statistisch signifikanten Grenzwerte erfolgt mit Hilfe eines von Georges Bastin im Anschluss an Urie Bronfenbrenner dargestellten Verfahrens; vgl. Bastin: Die soziometrischen Methoden, S. 42-49. Es wird das in der Statistik übliche 5-prozentige Signifikanzniveau verwendet. 33 Der so gemessene ‚soziometrische Status‘ beruht also ausschließlich auf dem Faktum der (passiven) Wahl ohne weitere Gewichtung durch Anzahl oder Qualität der zitierten Aussagen. 34 Zu den Indices vgl. Dollase: „Soziometrische Verfahren“, S. 152ff. 35 Vgl. Missika/Bregman: „On Framing the Campaign“. 36 Vgl. Stiehler: „Nach der Wahl ist vor der Wahl“.

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sagen, die auf das Wahlergebnis von politischen Akteuren bezogen waren. Die Untersuchung erstreckte sich für Deutschland auf alle Wahlen auf Bundes-, Regional- und Kommunalebene vom ersten Antreten der Nationalsozialisten zur Reichstagswahl im Mai 1928 bis zu ihren (in absoluten Zahlen) höchsten Stimmenanteil in Berlin bei der preußischen Landtagswahl im April 1932. Mit eingeschlossen sind somit die Berliner Stadtverordnetenwahl im November 1929, bei der die NSDAP knapp die 5%-Marke überspringen konnte, und die Reichstagswahl vom 14. September 1930 mit ihrem landesweiten Durchbruch. Für Österreich umfasste der Untersuchungszeitraum die Nationalratswahl am 24. April 1927 (die noch vor den bürgerkriegsähnlichen Unruhen im Juli desselben Jahres, aber schon im Zeichen einer sich verstärkenden Polarisierung stattfand), die nur wenige Wochen nach dem bundesweiten Wahlerfolg der NSDAP in Deutschland angesetzte Nationalratswahl am 9. November 1930 und die am 24. April 1932 in zahlreichen Bundesländern abgehaltenen Landtags- und Gemeinderatswahlen als letzte freie Wahlen der Ersten Republik.

Ergebnisse und Diskussion: Leitmedien als Krisenindikatoren Als erstes allgemeines Ergebnis der Zitatenanalyse kann von einem anfänglichen Primat zitierter Medienaussagen gesprochen werden, der im Laufe des Untersuchungszeitraums kontinuierlich schwindet. Während der Anteil der in der Nachwahlberichterstattung zitierten Aussagen politischer Akteure 1928 in Berlin nur rund ein Viertel, 1927 in Wien gar nur ein Fünftel der zitierten Medienaussagen betragen hat, liegt er vier bzw. fünf Jahre später nach einem kontinuierlichen Anstieg bereits einige Prozentpunkte über dem Anteil der Medienzitate.37 Dies kann als Indiz für einen Wandel im Funktionsverständnis der Medien gewertet werden, das sie im zunehmenden Maß entkoppelt von politischen Trägerorganisationen sieht. Die aus dieser Kopplung resultierende Rolle der Medien als ‚Sprecher‘ politischer Parteien38 (sowie, wenn auch von geringerem Stellenwert, von Verbänden und Kirchen), schlägt sich in der Nachwahlberichterstattung beispielsweise darin nieder, dass Pressestimmen als Stellungnahmen der Parteien zitiert sind (z.B. in Rubriken mit dem Titel „Was die Parteien sagen“). Der in der Weimarer Republik zu beobachtende Ausdif-

37 Dieser Trend setzt sich bis heute fort: So zeigt beispielsweise eine Langzeitanalyse (1970-1994) der Berichterstattung der FAZ und der Süddeutschen Zeitung zum Thema Abtreibung knapp über 20% zitierte Akteure der Medien (gegenüber fast 80% zitierten Akteuren des politischen Systems). Vgl. Gerhards u.a.: Zwischen Palaver und Diskurs, S. 103. 38 Vgl. Neidhardt: „Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen“.

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ferenzierungsprozess der Funktionen ließ solche Phänomene aber in den Hintergrund treten und führte sowohl zu einem Autonomiegewinn der Medien als auch zu einer Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit der Parteien, deren Presseaussendungen in zunehmendem Maße von den Medien wahrgenommen wurden. Trotz des mit diesem Entkoppelungsprozess verbundenen Rückgangs des Anteils der zitierten Medienaussagen drückt sich die den Stellungnahmen anderer Medienvertreter beigemessene Bedeutung allein darin aus, dass sie als Bestandteile der erwähnten ‚Pressespiegel‘ oder (zu rund einem Drittel) als Zitate in Leitartikeln des Chefredakteurs bzw. des Leiters des politischen Ressorts häufig auf der ersten Seite oder an prominenter Stelle im Blattinneren platziert sind. Die überwiegende Mehrzahl dieser Referenzen bezieht sich auf Zeitungen der jeweiligen Metropole. In den Berliner Blättern stammt nur jede fünfte der zitierten Zeitungen aus dem deutschen Reichsgebiet außerhalb Berlins; die Wiener Tageszeitungen nehmen von der Presse der österreichischen Bundesländer überhaupt kaum Notiz. Mit einiger Berechtigung konzentriert sich daher die soziometrische Analyse auf den Anteil zitierter Berliner bzw. Wiener Zeitungen, um so auch das Ausmaß der gegenseitigen Beobachtung ermitteln zu können. Zur Illustration des Ergebnisses sind die Statuswerte in das von Mary Northway entwickelte Zielscheibensoziogramm39 eingetragen, dessen Funktion es ist, den soziometrischen Rang grafisch hervorzuheben. Im Ganzen würden in einem Zielscheibensoziogramm vier konzentrische Kreise die jeweiligen Grenzen zwischen den Quartilen des Status anzeigen. Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit sind jedoch in den Abbildungen 1 und 2 nur jene Zeitungen dargestellt, die zumindest zu einer Wahl einen signifikant hohen soziometrischen Status und damit Leitfunktion innehatten, wobei der innere Kreis die Grenze des 5-prozentigen Signifikanzniveaus markiert. Um die im Zeitverlauf erfolgten Veränderungen verfolgen zu können, sind für diese Zeitungen die zu allen drei Untersuchungsterminen ermittelten Statuswerte eingetragen, auch wenn sie zu einzelnen Wahlen statistisch nicht signifikant sind und deshalb außerhalb des inneren Kreises zu liegen kommen.

39 Northway: A Primer of Sociometry.

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Vorwärts Völkischer Beobachter / Der Angriff

1928 Deutsche Tageszeitung

1930 1932

Die Rote Fahne

Germania

Vossische Zeitung

Neue Preußische Zeitung

Deutsche Allgemeine Zeitung

Berliner Tageblatt Tägliche Rundschau

Abbildung 1: Soziogramm der Berliner Leitmedien. Abgebildet sind alle Tageszeitungen, die zumindest zu einem Untersuchungszeitpunkt signifikant hohen soziometrischen Status aufweisen. Der Mittelpunkt entspricht dem höchsten Wert; der innere Kreis markiert die Grenze des 5-prozentigen Signifikanzniveaus.

In Berlin sind 1928 neben der Deutschen Allgemeinen Zeitung als Blatt der Großindustrie ausschließlich Partei- bzw. parteinahe Zeitungen durch hohen soziometrischen Status gekennzeichnet (vgl. Tabelle 1). Dabei handelt es sich einerseits um Vertreter der ‚Weimarer Koalition‘, zu denen der die Rangliste anführende sozialistische Vorwärts, die katholische Germania und die beiden mit der Position der Deutschen Demokratischen Partei assoziierten ‚Flagschiffe‘ der liberalen Zeitungsverlage Mosse (Berliner Tageblatt) und Ullstein (Vossische Zeitung) gehören. Ihnen gegenüber stehen sowohl zwei deutschnationale Zeitungen, die – gleich hoch wie der Vorwärts beachtete – Deutsche Tageszeitung und die Neue Preußische Kreuz-Zeitung, als auch die der rechtsbürgerlichen Deutschen Volkspartei nahe stehende Tägliche Rundschau. Die Zusammensetzung dieser Gruppe bestätigt die – noch gegebene – enge Bindung der als Leitmedien wahrgenommenen Zeitungen an die politischen Parteien. Es ist daher anzunehmen, dass die Grenze zwischen mediensysteminternen ‚Prestigemedien‘ und mediensystemexternen ‚Elitemedien‘ fließend war: Jene Medienvertreter, die von anderen Journalisten als zitierwürdig erachtet und dadurch mit einer besonderen Bedeutung versehen wurden, waren wohl auch für die politischen Eliten maßgeblich, ja wurden – wie oben erwähnt – häufig mit diesen identifiziert. Nach der Reichstagswahl 1930 mit dem landesweiten Durchbruch der NSDAP kommt es vor allem im Bereich der nationalen bzw. rechtsbürgerli-

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chen Leitmedien zu deutlichen Positionsverlusten. Davon betroffen sind sowohl die beiden oben genannten deutschnationalen Zeitungen, die nunmehr – nach Parteiabspaltungen – für das Landvolk bzw. die Volkskonservativen stehen und dadurch nur noch geringeres Prestige haben (Deutsche Volkszeitung) oder ihre Leitfunktion ganz einbüßen (Neue Preußische Kreuz-Zeitung), als auch die Tägliche Rundschau, die das Schicksal der Kreuz-Zeitung teilt. Zweifellos können diese Positionsverluste als Indiz für die sinkende Bedeutung der alten nationalen Eliten interpretiert werden, während der Berliner Lokal-Anzeiger über alle drei Wahltermine hinweg seine Position knapp unter der Signifikanzgrenze stabil halten kann und damit immer mehr in die Rolle eines deutschnationalen Sprachrohrs rückt. Als Vertreter der um die Jahrhundertwende entstandenen lokalen Massenpresse überlagern sich freilich in seiner Berichterstattung parteiund marktpolitische Kriterien; neben die Elitenorientierung bisheriger Leitmedien treten hier erste Anzeichen für eine Orientierung am Medienpublikum. Im übrigen, in der Zusammensetzung unveränderten Spektrum der Leitmedien kommt es 1930, von einer (für die weitere Entwicklung bedeutsamen) Stärkung der Stellung der Deutschen Allgemeinen Zeitung abgesehen, zu kaum nennenswerten Veränderungen; die Vertreter der ‚Weimarer Koalition‘ bleiben – wie auch in der preußischen Politik – trotz des nationalsozialistischen Wahlerfolgs in leitender Funktion. Auch die reziproke Koorientierung der Leitmedien untereinander, ablesbar am Wert der Gruppenkohäsion, geht nur geringfügig zurück (1928: 0,57; 1930: 0,53). Allerdings sinkt der entsprechende, auf die Grundgesamtheit aller Zeitungen bezogene Gruppenkohäsionswert um mehr als ein Viertel und signalisiert damit einen deutlichen Rückgang der gegenseitigen Beobachtung in der Presse generell (1928: 0,11; 1930: 0,08). Dieser Befund verschärft sich 1932 massiv – der Gruppenkohäsionswert für die gesamte Berliner Tagespresse wird halbiert (0,04) – und greift in nahezu dramatischer Weise auf die Gruppe der Leitmedien über, deren langjährige Tradition einer intensiven gegenseitigen Wahrnehmung schlagartig zerfällt (1930: 0,53; 1932: 0,10). Diese Beobachtung stimmt mit politikwissenschaftlichen Darstellungen überein, die von einer Fragmentierung der politischen Kultur in den Krisenjahren der Weimarer Republik sprechen.40 Mit diesen deutlichen Zerfallserscheinungen des Mediendiskurses sind – nach der vorliegenden Analyse – drastische Veränderungen in der Zusammensetzung der Leitmedien verbunden, die sich in einer Verstärkung der rechtsextremen Position parallel zu einer zunehmenden Polarisierung und einer zahlenmäßigen Reduktion niederschlagen.

40 Vgl. Lehnert/Megerle: „Identitäts- und Konsensprobleme einer fragmentierten Gesellschaft“.

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Einerseits werden durch den Einbruch des nationalsozialistischen Angriff und der kommunistischen Roten Fahne in das Spitzenfeld sämtliche liberalen und nationalen Blätter aus ihrer Leitfunktion verdrängt, andererseits weisen nur noch fünf Zeitungen einen signifikant hohen soziometrischen Status auf. Dazu gehören neben den beiden genannten Vertretern ideologischer Extrempositionen nur noch der Vorwärts, die Germania und die längst zu den Nationalsozialisten umgeschwenkte Deutsche Allgemeine Zeitung (wie es sich an ihrer Wahlempfehlung ablesen lässt). Dieses Ergebnis spricht für eine deutliche Verstärkung der rechtsextremen Position – immerhin beträgt 1932 der Anteil der die NSDAP unterstützenden Zeitungen an der Gruppe der Leitmedien 40 Prozent – und bestätigt somit die der Untersuchung zugrundegelegte These. Diese Verschiebung des politischen Spektrums der Leitmedien nach rechts wird noch dadurch gestützt, dass zum ersten Mal auch eine außerhalb Berlins erscheinende Zeitung von so vielen Berliner Tageszeitungen zitiert wird, dass sie zu dieser Gruppe gerechnet werden müsste: Es handelt sich dabei um den Völkischen Beobachter, dessen nur wenige Monate erschienene Berliner Ausgabe 1930 noch knapp unter dem Signifikanzniveau lag, der aber 1932 – noch vor dem Angriff – den vierten Rang einnehmen würde.41

Berliner Tageblatt Deutsche Allgemeine Zeitung Deutsche Tageszeitung Germania Neue Preußische Zeitung Die Rote Fahne Tägliche Rundschau [Völkischer Beobachter]/Der Angriff Vorwärts Vossische Zeitung

1927 0,34 0,31 0,41 0,38 0,38 [0,00] 0,34 î 0,41 0,31

1930 0,40 0,37 0,31 0,63 [0,23] [0,13] [0,00] [0,20] 0,70 0,33

1932 [0,19] 0,35 [0,1] 0,52 [0,1] 0,29 [0,16] 0,26 0,61 [0,16]

Tabelle 1: Soziometrischer Status der Berliner Leitmedien. Aufgelistet sind alle Tageszeitungen, die zumindest zu einem Untersuchungszeitpunkt signifikant hohen soziometrischen Status aufweisen (p = 0,05). Eckige Klammern bedeuten, dass die betreffende Zeitung zu diesem Zeitpunkt keine Leitfunktion innehatte (1928: N=108; 1930: N=145; 1932: N=115).

41 Ein vergleichbarer Wert wird von keiner anderen außerhalb Berlins erscheinenden Zeitung erreicht; 1930 erzielen die liberale Frankfurter Zeitung und das Zentrumsblatt Kölnische Volkszeitung mittlere Werte.

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Der Vergleich mit Österreich bestätigt einerseits die in der eingangs formulierten Hypothese behauptete Parallele in der Stärkung der Position nationalsozialistischer Zeitungen innerhalb der beiden Mediensysteme, lässt aber andererseits auch nationale Unterschiede deutlich werden. Arbeiter-Zeitung

1927 1930 1932

Neues Wiener Extrablatt

Reichspost

Der Abend Wiener Neueste Nachrichten

Neuigkeits-Welt-Blatt

Abbildung 2: Soziogramm der Wiener Leitmedien. Abgebildet sind alle Tageszeitungen, die zumindest zu einem Untersuchungszeitpunkt signifikant hohen soziometrischen Status aufweisen. Der Mittelpunkt entspricht dem höchsten Wert; der innere Kreis markiert die Grenze des 5-prozentigen Signifikanzniveaus.

Anders als in Deutschland, wo mit der „Weimarer Koalition“ zumindest ein Teil der politischen Akteure als auch der Medien in einen – wenn auch an Bedeutung verlierenden – parteiübergreifenden demokratisch-republikanischen Konsens eingebunden waren, verweisen die Ergebnisse der Leitmedienanalyse auf einen hohen gesellschaftlichen Polarisierungsgrad,42 der bereits wenige Monate nach der Nationalratswahl im April 1927 zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte. So ist einerseits sowohl die gegenseitige Beobachtung der Leitmedien untereinander als auch in der Wiener Tagespresse generell – und damit über die ideologischen Grenzen hinweg – sehr gering ausgeprägt (die Kohäsionswerte schwanken lediglich zwischen 0,1 und 0,3); andererseits fehlen im Spektrum der Leitmedien gemäßigte, vermittelnde Positionen wie jene der zur Zeit der Habsburgermonarchie führenden liberalen Neuen Freien Presse oder der republikanisch gesinnten Zeitungen Die Stunde und Der Tag. Zudem zeigen 42 Im Unterschied zu Berlin liegen für Wien die Ergebnisse der soziometrischen Analyse für den Zeitraum von 1907 bis 1932 vor. Die hier gegebene Darstellung beschränkt sich aus Vergleichsgründen auf die Wahlen von 1927 bis 1932.

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sich die politischen ‚Lager‘ auch intern fragmentiert, wenn auch mit unterschiedlichen Ausprägungsverläufen. So hat das sozialdemokratische Zentralorgan, die Arbeiter-Zeitung, zunächst erwartungsgemäß im ‚roten‘ Wien einen signifikant hohen soziometrischen Status inne (vgl. Tabelle 2). Zu Beginn der 1930er Jahre geht jedoch das Ausmaß seiner Relevanz deutlich zurück, offenbar mit verursacht durch eine innerparteiliche Polarisierung, die sich 1930 darin bekundet, dass der linksradikale Abend an die Spitze der Leitmedien aufgestiegen ist. Zwei Jahre später korrespondiert schließlich mit der Schwächung der Parteiorganisation der Verlust der Leitfunktion der sozialistischen Zeitungen (wenn auch die Arbeiter-Zeitung einen relativ hohen Status behalten kann). Konträr dazu gelingt es hingegen den beiden christlichsozialen Zeitungen Neuigkeits-Welt-Blatt und Reichspost, zur Wahl 1930 höhere Beachtung zu erlangen. Sie wurden offenbar erst spät und erst angesichts einer deutlichen Radikalisierung – die der Christlichsozialen Partei nahe stehende (und zum Teil auch mit ihr gemeinsam kandidierende) faschistische Heimwehr erzielte 1930 ihren größten Wahlerfolg – von den lange Zeit völlig zersplitterten und daher über kein wirklich prononciertes Leitmedium verfügenden ‚bürgerlich-antimarxistischen‘ Kräften43 in ihrer Führungsrolle anerkannt, die sie 1932 – gegenüber dem Bedeutungsverlust der sozialdemokratischen Blätter – sogar noch etwas ausbauen können. Parallel dazu erreichen 1930 das Neue Wiener Extrablatt des ständestaatlich orientierten Landbundes und 1932 schließlich die Wiener Neuesten Nachrichten, die zu diesem Zeitpunkt in einem – auch finanziellen – Naheverhältnis zur NSDAP standen,44 zunehmende Aufmerksamkeit und verstärken damit den schon durch die Gewichtsverschiebung zwischen den publizistischen Sprachrohren der beiden großen politischen ‚Lagern‘ beobachtbaren Rechtsruck in den letzten Jahren der Ersten Republik. Dieser stellt sich insofern noch ausgeprägter dar, als die nationalsozialistische Deutschösterreichische Tageszeitung in beiden Stichjahren die Signifikanzgrenze nur knapp verfehlt.

43 Lediglich zur Nationalratswahl 1920 erlangte die Reichspost vorübergehend höhere Beachtung, was wohl dadurch zu erklären ist, dass die Christlichsozialen die Sozialdemokraten überraschend hoch schlagen konnten. 44 Tavernaro: „Die Wiener Zweigniederlassung des Eher-Verlags“, S. 126.

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Der Abend Arbeiter-Zeitung Neues Wiener Extrablatt Neuigkeits-Welt-Blatt Reichspost Wiener Neueste Nachrichten

1927 [0,15] 0,55 î [0,10] [0,15] [0,00]

1930 0,38 0,33 0,29 0,33 0,29 [0,00]

1932 [0,23] [0,23] [0,19] 0,29 0,48 0,29

Tabelle 2: Soziometrischer Status der Wiener Leitmedien. Aufgelistet sind alle Tageszeitungen, die zumindest zu einem Untersuchungszeitpunkt signifikant hohen soziometrischen Status aufweisen (p = 0,05). Eckige Klammern bedeuten, dass die betreffende Zeitung zu diesem Zeitpunkt keine Leitfunktion innehatte (1927: N=40; 1930: N=56; 1932: N=54).

Beide Analysen zeigen die Leitmedien der öffentlichen politischen Kommunikation als sensiblen Indikator für die gesellschaftliche Entwicklung. Im Wandel der Zusammensetzung der Gruppe der mit Leitfunktion ausgestatteten Zeitungen wie im Grad der gegenseitigen Beobachtung lassen sich Symptome für politische Krisensituationen erkennen. Beide Analysen zeigen aber auch, dass sich am unteren Ende der soziometrischen Skala eine relativ stabil zusammengesetzte Gruppe von Zeitungen befindet, die selten zitiert werden und die auch selbst die in ihrer Medienumwelt vorhandenen Positionen kaum an ihr Publikum vermitteln. Zu diesen vom Mediendiskurs weitgehend ‚isolierten‘ Zeitungen, die konstant zu allen Untersuchungsterminen einen signifikant niedrigen soziometrischen Status aufweisen, gehören in beiden Metropolen vor allem auflagenstarke Massenblätter wie in Wien die Illustrierte Kronen-Zeitung und in Berlin die Illustrierte Nachtausgabe, die Berliner Morgenpost, die B.Z. am Mittag, die Neue Berliner Zeitung (12 Uhr-Blatt) sowie das 1929 gegründete Tempo. Nur wenigen Massenblättern wie dem Berliner Lokal-Anzeiger aus dem deutschnationalen Hugenberg-Konzern oder dem Wiener Kleinen Volksblatt aus dem christlichsozialen Herold-Verlag gelang es, nahe an die Gruppe der Leitmedien heranzukommen. Beiden Zeitungen gemeinsam ist, dass sie die Orientierung an den ideologischen Grundmustern des politischen Systems mit einer an breiteren, weniger parteigebundenen Publikumsschichten orientierten Berichterstattung zu verbinden suchten. Bei den zuvor genannten Massenblättern war hingegen der Entkopplungsprozess von politischen Trägerorganisationen so weit fortgeschritten, dass sie vom elitenorientierten Diskurs der Leitmedien ausgeschlossen blieben. In diesem Umbruchprozess des Mediensystems traf also ein journalistisches Berufsbild, das jenem von „employees of commercial enterprises“ entsprach, „whose raison d’être was to produce marketable newspapers“,45 45 Eksteins: The Limits of Reason, S. 103.

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auf eine im politischen Kontext andauernde „dominance of residual paternalistic attitudes about the role of the press in the society“.46 Die aus diesen unterschiedlichen journalistischen Handlungsorientierungen resultierenden Folgen sind jedoch ein weiterführendes Thema, über das an anderer Stelle berichtet worden ist.47

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Josef Seethaler/Gabriele Melischek | Leitmedien als Indikatoren politischer Krisen

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Lars Rinsdorf

Alte und neue Leitmedien aus Publikumssicht 1

Einleitung

In der wissenschaftlichen oder politischen Debatte wird der Begriff der Leitmedien unterschiedlich akzentuiert: Aus der Perspektive des Inter-MediaAgenda-Settings wird erörtert, welche Medien besonders gut in der Lage sind, Themenkarrieren anzustoßen oder zu befördern.1 Im Qualitätsdiskurs sind Leitmedien Produkte, die im Sinne eines best pratice professionellen Standards in besonderer Weise genügen und als Messlatte zur Bewertung anderer Titel herangezogen werden können.2 Werbeforschung und Politikberater wiederum fokussieren bei Leitmedien auf Wirkungspotenziale, die sich aus der Reichweite ergeben. In der Publikumsforschung schließlich wird der Leitmedienstatus aus Zuwendungszeiten, exklusiver Nutzung und Glaubwürdigkeit abgeleitet.3 Die vierte Perspektive wird in diesem Beitrag vertieft und differenziert dargestellt. Dazu wird zunächst der Begriff des Leitmediums aus der Publikumssicht entwickelt. Dabei wird davon ausgegangen, dass Mediengattungen ebenso Leitmedien seien können wie einzelne Kanäle, Genres, Titel oder Medienmarken. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann zeigen, ob sich neue Leitmedien herausbilden und in welchem Ausmaß sie alte Leitmedien verdrängen. Basis dafür sind aktuelle Befunde der Mediennutzungsforschung. Abschließend wird diskutiert, wie ein publikumsorientierter Leitmedienbegriff empirisch weiter unterfüttert werden könnte.

2

Leitmedien – eine theoretische Annäherung an den Begriff aus Publikumssicht

Um sich dem Begriff des Leitmediums aus Sicht des Publikums anzunähern, setzt sich der folgende Abschnitt mit drei Fragen auseinander: Welches Publikumsverständnis ist angemessen? Wie weit sollte der Medienbegriff gefasst werden? Und anhand welcher Kriterien lässt sich ein Leitmedium eindeutig von anderen Medien abgrenzen? Das theoretische Werkzeug dazu ist bewährt 1

Vgl. Imhof: „Medien und Öffentlichkeit“, S. 288.

2

Vgl. etwa Haller: „Prüfstand“.

3

Vgl. statt vieler Fritz/Klingler: „Medienzeitbudget und Tagesablaufverhalten“.

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Lars Rinsdorf | Alte und neue Leitmedien aus Publikumssicht

und in den letzten Jahren stetig verfeinert worden: Mit ihrem dynamisch-transaktionalen Ansatz haben Früh und Schönbach ein Modell entwickelt, das sich wegen seiner integrativen Sicht auf Publikum und Medien besonders gut als Analyserahmen eignet.4

2.1

Welches Publikumsverständnis ist angemessen?

So stark sich aktuelle Ansätze zur Rezeptionsforschung im Detail auch unterscheiden mögen, an einer Stelle herrscht weitgehend Einigkeit: Medienpublika bestehen aus Rezipienten, die sich Medien aktiv vor dem Hintergrund ihres Vorwissens und ihrer sozialen Situation aneignen. Dies gilt für Inhalte, also einzelne Sendungen oder Texte, genauso wie für die Integration (neuer) Medien in den Alltag. Dabei agieren sie keineswegs so rational, wie es dem Idealtyp des homo oeconomicus entspräche. Vielmehr verarbeiten sie unterbewusst Informationen, verlassen sich auf Heuristiken und entwickeln Nutzungsgewohnheiten, die sie kognitiv entlasten. Dennoch verfügen sie über ein breites Spektrum von Rezeptionsstrategien, mit deren Hilfe sie Medieninhalte verarbeiten. Schon aus diesen knappen Überlegungen ergeben sich wesentliche Konsequenzen für den Leitmedienbegriff. Erstens erscheint es inadäquat, von dem Publikum zu sprechen. Vielmehr ist der Begriff vor dem Hintergrund einer stark ausdifferenzierten Gesellschaft zu definieren, in der Rezipienten gleichzeitig in mehrere Subsegmente eingebunden sind. Gerade dadurch steigt aber auch der Bedarf an gesellschaftlicher Orientierung, den Medien potenziell leisten können5; Leitmedien, so ließe sich vorläufig festhalten, wären demnach wichtiger als je zuvor. Zweitens wäre es unangemessen, aus den Eigenschaften des Mediums selbst seinen Leitmediencharakter abzuleiten. Entscheidend ist vielmehr, welche Bedeutung zunächst ein Nutzer aus individueller Perspektive einem Medium beimisst bzw. unter welchen Umständen ein Medium in einer sozialen Gruppe Leitmedienstatus erhält. Drittens ist es wenig zielführend, die Herausbildung individueller Leitbilder als Ergebnis eines Prozesses zu definieren, in dem sich das Angebot durchsetzt, das rationale Nutzenerwartungen am besten erfüllt. Weiter tragen Ansätze, in dem sich ein Leitmedium erst durch die nachträgliche ‚Rationalisierung‘ vieler mehr oder weniger reflektiert getroffener Nutzungsentscheidungen

4

Vgl. zum aktuellen Stand Früh: „Der dynamisch-transaktionale Ansatz“.

5

Vgl. Jäckel: „Individualisierung und Integration“.

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herausbildet und Nutzungsgewohnheiten in diesem Prozess als retardierendes Moment wirken.

2.2

Wie weit sollte der Medienbegriff gefasst werden?

So selbstverständlich im Alltag von ‚den Medien‘ die Rede ist, so breit ist das Spektrum der wissenschaftlichen Definitionen dieses Begriffs. Hier ist nicht der Platz, diese Bandbreite ausführlich darzustellen. Vielmehr wird im Folgenden kurz dargelegt, warum ein eng gefasster Medienbegriff dem Verständnis von Leitmedien aus Publikumssicht zuträglich ist. Zunächst erscheint es sinnvoll, sich auf Massenmedien zu beschränken. Diese Einschränkung erhöht die Trennschärfe des Begriffs in Abgrenzung zu anderen sinnstiftenden Institutionen wie etwa Kunst, Mode oder Architektur und betont den originären Beitrag der Massenmedien zur Prägung des Selbstbilds und sozialen Orientierung, den sie zusätzlich zur individuellen Kommunikation in sozialen Netzwerken leisten. Jedoch darf man dabei zwei Aspekte nicht aus dem Blick verlieren, die sich aus dem hybriden Charakter neuer Medien wie Web oder Mobiltelefon als Interaktaktions- und Massenmedien ergeben. Anders als bei Zeitung, Radio oder Fernsehen ergibt sich deren Bedeutung auch aus dem Stellenwert, den diese als Medien der individuellen Kommunikation erlangen. Das kann ein ‚Pro‘ sein, um sich zum Leitmedium zu entwickeln. Allerdings erwächst daraus nicht zwangsläufig ein Vorteil. Dies illustrieren etwa die gescheiterten Versuche der Industrie, dem Handy-TV im Kontext der Fußball-WM 2006 und der EM 2008 zum Durchbruch zu verhelfen.6 Hier zeigt sich deutlich, dass es wesentlich darauf ankommt, wie Nutzer Medien domestizieren7; die technologischen Potenziale eines Mediums sind dafür nur eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung. Darüber hinaus ist angesichts der Entwicklung von Web-Angeboten diskussionswürdig, inwieweit das klassische Verständnis von Massenkommunikation als einseitige, öffentliche Vermittlung von Aussagen durch technische Verbreitungsmittel an ein disperses Publikum aufrecht erhalten werden kann.8 Dies bedeutet keineswegs, dass dieses Verständnis obsolet geworden ist, denn es ermöglicht nach wie vor, aus der Vielfalt des Webs diejenigen Angebote herauszufiltern, die als Leitmedien im hier vertretenen Sinne in Frage kommen. So 6

Vgl. dazu ARD-ZDF-Projektgruppe Mobiles Fernsehen: „Mobiles Fernsehen“

7

Zum Begriff vgl. Röser: „MedienAlltag“.

8

Vgl. dazu Maletzke: „Psychologie der Massenkommunikation“ und jüngst Krotz: „Mediatisierung“.

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finden sich im Web zahlreiche journalistische Angebote, die alle Kriterien von Maletzkes Massenkommunikationsbegriff erfüllen, selbst wenn dort die Interaktionsmöglichkeiten für den Nutzer um einiges größer sind als etwa bei der gedruckten Tageszeitung. Ebenso klar abgrenzen lassen sich one to one- und few to few-Angebote, die das technologische Potenzial des Web nutzen, um soziale Netzwerke aufzubauen oder zu stärken, und damit als Leitmedien nach der hier vertretenen Auffassung nicht in Frage kommen. Weniger eindeutig ist die Einordnung von Suchmaschinen und den unterschiedlichen Ausprägungen kollektiver Informationsproduktion wie Communities, Videoplattformen, Wikis oder Linksammlungen wie etwa del.icio.us. Am wenigsten Probleme machen hier Communities wie XING oder facebook, deren primärer Nutzen sich aus dem Knüpfen, Stabilisieren und Erweitern sozialer Netzwerke ergibt. Sie fallen trotz ihrer Größe nach wie vor in die Sphäre der individuellen Interaktion. Auf Suchmaschinen wie Google passen dagegen alle Kriterien der Massenkommunikation, allerdings mit einer grundlegenden Umkehrung der in dem Modell implizit enthaltenen Transportlogik vom push- zum pull-Prinzip. Denn es fließen nicht mehr Informationen zum Publikum, sondern Rezipienten nutzen die Suchmaschinen aktiv, um Informationen zu erlangen. Dabei vertrauen sie in die Effizienz der jeweiligen Such-Algorithmen und verzichten damit auf Autonomie. Das verhilft den Suchmaschinen zwar nicht zum Status eines Leitmediums, reicht aber gleichwohl für eine Position als Königsmacher. Bei Web-Angeboten, die wesentlich von ihren Nutzern gestaltet werden, muss man zunächst vom Kriterium der Einseitigkeit Abschied nehmen, denn Nutzer sind hier gleichzeitig Kommunikatoren. Gleichwohl ist es angebracht, weiter von massenmedialen Angeboten zu sprechen. Denn sie richten sich nach wie vor an ein disperses Publikum: Auch der ‚Prosumer‘ produziert auf diesen Sites in der Regel nicht für ein klar bestimmbares soziales Netzwerk, in das er eingebunden ist. Auch die Einseitigkeit der Kommunikation stellt sich aus Sicht der Nutzer in vielen Fällen de facto wieder ein, denn bei Angeboten wie YouTube etc. übersteigt die Zahl der passiven Rezipienten die Zahl der aktiv gestaltenden Nutzer bei weitem. Auch aus der Perspektive der Glaubwürdigkeit und Orientierung tritt bei primär informationsorientiert genutzten Communities die Medienorganisation und ihre Marke in den Vordergrund und relativiert die Bedeutung des einzelnen, aktiv gestaltenden Nutzer. Denn aus Sicht der passiven Nutzer ist vor allem die Dienstleistung des Portals interessant, das die vielfältigen Einzelurteile verdichtet. Auch die Glaubwürdigkeit der nutzer-generierten Inhalte ergibt sich weniger aus dem Vertrauen in den einzelnen Autor, sondern vor allem aus dem Zutrauen in die vom Portal definierten und überwachten Selbstregulierungsmechanismen der jeweiligen Communities, in der individuel-

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le Fehleinschätzungen von anderen Nutzern revidiert werden. Daraus erwächst diesen Portalen ein Orientierungspotenzial für den einzelnen Rezipienten. Damit ist implizit auch schon eine weitere Verengung des Medienbegriffs angesprochen, die für ein klareres Verständnis von Leitmedien aus Publikumssicht sorgt. Grundsätzlich lassen sich Medien nach Klaus Beck auf drei Ebenen beschreiben9: -

als Organisationen, die arbeitsteilig danach trachten, intern oder extern definierte spezifische Organisationsziele zu erreichen – etwa im Hinblick auf Normen oder ökonomische Anforderungen,

-

als technisch basierte Zeichensysteme, deren Bedeutung sich aus medienästhetischen Normen und technischen Standards ergibt, die wiederum Ergebnisse sozialer Aushandlungsprozesse sind,

-

sowie als Institutionen, also „soziale Regelwerke für Problemlösungen im alltäglichen Handeln“, die „Orientierungs- und Sinnstiftungsfunktionen [erbringen], indem sie übermäßige Komplexität und Kontingenz reduzieren“.

Die organisationale Ebene ist aus Publikumssicht nahezu irrelevant. Entscheidend für die Definition eines Leitmediums ist nicht die Art und Weise, in der Medienprodukte entstehen, sondern wie sich die Rezipienten diese Inhalte aneignen. Die zweite Ebene ist insofern relevant für die Fragestellung dieses Beitrags, als dass sie auf den sozialen, vorläufigen und veränderbaren Charakter von Medien abstellt, auf den in den vorangegangenen Absätzen bereits eingegangen wurde. Zentral für die folgenden Überlegungen ist dagegen die institutionelle Ebene. Denn mit der Orientierung ist eine für das Verständnis von Leitmedien wesentliche Funktion angesprochen, auf die im folgenden Abschnitt näher eingegangen werden soll.

2.3

Anhand welcher Kriterien lässt sich ein Leitmedium abgrenzen?

Unter der Voraussetzung, dass Medien nicht lediglich Transportmittel von Informationen sind, sondern ein wesentliches Moment gesellschaftlichen Wandels, ist Orientierung zunächst eine Querschnitts-Eigenschaft, die grundsätzlich jedem Medium zukommt. Als solche ist sie auch kein Distinktionsmerkmal von Leitmedien. Entscheidend ist vielmehr, welche Medien für welche Rezipienten unter welchen Bedingungen tatsächlich diese Funktionen erfüllen.

9

Vgl. Beck: „Neue Medien – neue Theorien“, S. 75.

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Bei der Analyse dieser Zusammenhänge wird der Begriff der Orientierung im Folgenden in die Dimensionen der individuellen und sozialen Orientierung aufgespalten: Individuelle Orientierung stellt ab auf die Entwicklung des Selbstbildes als Mitglied bestimmter sozialer Gruppen, die über das eigene Netzwerk hinausreichen. Im Vordergrund steht hier die Identifikation mit bestimmten Werten und kulturellen Praxen in Abgrenzung zu anderen Teilen der Gesellschaft, wobei gleichzeitige Mitgliedschaften in unterschiedlichen Subgruppen möglich und die Regel sind. Soziale Orientierung bezieht sich auf die Notwendigkeit, etwas über gesellschaftliche Formationen zu erfahren, denen man nicht angehört. Denn zum einen können sich dort Dinge entwickeln, die für die eigene Lebensgestaltung relevant sind oder werden. Zum anderen kann gruppenübergreifende Kommunikation notwendig sein, wenn gesamtgesellschaftliche Probleme gelöst werden müssen. Daraus ergeben sich denn auch zwei unterschiedliche Typen von Leitmedien: Nämlich solche, die primär der individuellen Orientierung in bestimmten sozialen Gruppen dienen (plastische Beispiele dafür wären Special-InterestTitel oder Fan-Websites), und solche, die für die jeweiligen Nutzer gesamtgesellschaftliche Orientierung bieten (etwa eine lokale Tageszeitung oder ein Fernseh-Nachrichtenmagazin). Die Betonung des subjektiven Elements ist hier wichtig, um Leitmedien begrifflich klar von Integrationsmedien abzugrenzen. Hinter letzterem steckt letztlich die normative Anforderung an Massenmedien, ein umfassendes Forum für Meinungsbildungsprozesse und Anschlusskommunikationen zu bieten.10 Darauf kommt es aus Rezipientensicht aber gar nicht an. Hier zählt die subjektiv empfundene Orientierungsleistung, die zur Ausprägung bestimmter Nutzungsmuster führt, die in Summe nicht integrierend wirken müssen, aber durchaus integrierend wirken können. Dabei ist die Trennung in individuelle und soziale Orientierung bietende Medien eine analytische. Tatsächlich können beide Dimensionen in einem Medium ausgeprägt sein. So finden sich in Special-Interest-Titeln Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz (etwa die CO2-Problematik in einem Sportwagen-Magazin) und auch primär soziale Orientierung bietende Medien können distinguierend genutzt werden, etwa überregionale Tageszeitungen. Gesamtgesellschaftlich ist freilich die soziale Orientierung die relevantere Dimension, weshalb sie auch im Vordergrund der weiteren Überlegungen stehen soll. Damit einher geht jedoch keinesfalls die Beschränkung auf Nachrichten oder non-fiktionale Inhalte. Aus diesen Stoffen ergibt sich zweifellos ein erhebliches Orientierungspotenzial, aber eben nicht das einzige. Vielmehr ist

10 Vgl. dazu Vowe: „Ordnung durch Medienpolitik“, S. 77.

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vielfach nachgewiesen, dass auch fiktionale Stoffe durchaus orientierungssuchend rezipiert werden (können).11 Damit kehren wir zurück zu den Kriterien, entlang derer sich Leitmedien aus Publikumssicht bestimmen lassen. Notwendig, wenn auch nicht hinreichend, ist zunächst die tatsächliche regelmäßige Nutzung eines Mediums. Dabei wird unterstellt, dass letztlich nur die Medien tatsächlich für Orientierung sorgen, die sich im Prozess ihrer Aneignung durch die Nutzer bewährt haben. Das aktuelle Medienmenü ist dann das vorläufige Ergebnis aus dem vielfachen, mehr oder weniger rational verlaufenden Abgleich von Nutzenerwartungen und tatsächlich erhaltenen Gratifikationen. Dies ist die dynamische Komponente bei der Herausbildung von Leitmedien, die bei einem Großteil des Publikums sehr effizient funktioniert. Denn aus dem kaum überschaubaren Angebot an Titeln, Websites und Kanälen nutzen die meisten Rezipienten regelmäßig lediglich ein überschaubares relevant set von Angeboten, auf die ein Großteil ihres Zeitbudgets für Medien entfällt. Mit der regelmäßigen Nutzung allein ist es aber noch nicht getan. Entscheidend ist vielmehr, mit welchen Erwartungen sich ein Rezipient einem Medium zuwendet bzw. welche Gratifikationen er tatsächlich erfährt. Hier ist Orientierung ein mögliches, aber nicht das einzige Nutzungsmotiv. In welchem Ausmaß es die Auswahl und Rezeption von Medienangeboten dominiert, hängt ganz wesentlich vom Image des Mediums ab. Vertrauen und Glaubwürdigkeit dürften dabei mit Blick auf die Orientierung die wichtigsten Komponenten sein.12 Insbesondere bezogen auf journalistische Angebote speist sich beides nicht allein aus der Rezeptionserfahrungen. Denn wie bei vielen anderen hochwertigen Dienstleistungen ist auch hier von einer gewissen Qualitätsintransparenz auszugehen.13 Heinrich und Lobigs weisen daher zu Recht auf die Bedeutung von Medienmarken hin, die zumindest teilweise in der Lage sind, einem aus der Qualitätsintransparenz resultierenden Marktversagen entgegenzuwirken.14 Medienmarken bieten, wie andere Marken auch, Orientierung bei der Auswahl zwischen unterschiedlichen Produkten. Als eine Form der symbolischen Kommunikation reichern sie den Grundnutzen eines Produktes um zusätzliche Bedeutungen (etwa das Gefühl von Sicherheit) an, und wirken unter Umständen sogar als Identifikationsstifter, „wenn ihre Persönlichkeit den inne-

11 Vgl. dazu etwa Suckfüll: Rezeptionsmodalitäten. 12 Vgl. Matthes/Kohring: „Seeing is believing?“ 13 Vgl. Heinrich: „Qualitätswettbewerb“. 14 Vgl. Heinrich/Lobigs: „Wirtschaftswissenschaftliche Perspektiven“.

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ren Überzeugungen, dem eigenen Wertesystem und dem Selbstkonzept des Konsumenten entspricht“.15 Spätestens an dieser Stelle tritt die transaktionale Komponente bei der Entwicklung von Leitmedien zu Tage. Denn genauso wie sich die Rezipienten ein Bild von Medienmarken machen, beobachten Medienorganisationen diese Markenbilder und versuchen, sie kommunikativ in ihrem Sinne zu gestalten. Für die Rezipienten spielen zusätzlich subjektive Theorien über ihr Mitpublikum eine Rolle.16 Ebenso, wie die Rezeption einzelner Texte von diesen Annahmen geprägt werden kann, dürfte auch die Wahrnehmung eines Mediums als Leitmedium von den Vorstellungen darüber abhängen, wie viele und welche Menschen das Medium ebenfalls nutzen. Angesichts der Orientierungsleistung von Medienmarken wird zudem deutlich, dass bei der Beschreibung von Leitmedien aus Publikumssicht die Mediengattung wie Fernsehen, Radio oder Web nicht die einzige – und häufig auch nicht die angemessene – Analyseebene darstellt. Vielmehr können einzelne Titel, Kanäle oder Sendungen als Leitmedien in den Medienmenüs verankert sein, oder Medienmarken Orientierungsfunktion in mehreren Gattungen übernehmen. Erfolgreiche Markentransfers von Print oder Fernsehen ins Internet (etwa spiegel.de oder pro7.de) weisen in diese Richtung. Und angesichts der zunehmenden Konvergenz der Übertragungskanäle ist eher davon auszugehen, dass sich die Bedeutung von Marken künftig weiter verstärkt. Nutzungsintensität, -motive und -gratifikationen können schließlich nicht losgelöst von der jeweiligen Nutzungssituation betrachtet werden. Dies ist die molare Perspektive des dynamisch-transaktionalen Ansatzes. Bezogen auf Leitmedien ist hier allerdings weniger die konkrete Nutzungssituation von Bedeutung, sondern vielmehr der soziale bzw. kulturelle Kontext, in dem individuelle Medienmenüs entstehen und sich verändern. Hier spielen Alltagsmuster und soziale Netzwerke ebenso eine Rolle wie Wissensbestände und Wertvorstellungen. Hier ergeben sich in stark ausdifferenzierten Gesellschaften theoretisch zahlreiche Ansatzpunkte, gerade mit Blick auf Leitmedien mit individueller Orientierungsfunktion in der oben skizzierten Verwendung des Begriffs. In dieser Breite kann das Forschungsfeld kaum dargestellt werden. Dies muss auch gar nicht sein, wenn man zu einem Leitmedienbegriff von angemessener gesellschaftlicher Relevanz finden will. Denn gerade dann kommt es auf die Herausbildung von Leitmedien in möglichst großen Gesellschaftssegmenten an.

15 Föll: Consumer Insight, S. 21. 16 Vgl. Hartmann/Dohle: „Publikumsvorstellungen im Rezeptionsprozess“.

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Besonders bedeutsam scheinen hier drei Dimensionen, nämlich Rolle, Lebensstil und Biographie der Rezipienten. Die Rollendimension verweist darauf, dass Menschen Medien in unterschiedlichen sozialen Kontexten nutzen – etwa als Verbraucher, als Wähler oder als Einwohner einer bestimmten Stadt bzw. Region. Die Dimension Lebensstil trägt der Tatsache Rechnung, dass klassische soziodemographische Merkmale allein immer weniger dazu geeignet sind, die Unterschiede zwischen Gesellschaftssegmenten adäquat abzubilden, die sich verstärkt auch entlang der spezifischen Verwendung materieller und immaterieller Güter und geteilter Werte ausdifferenzieren. Die biographische Dimension schließlich fokussiert zwei Merkmale, die die Mediennutzung beeinflussen. Einerseits ergeben sich aus spezifischen Lebensphasen unterschiedliche Anforderungen an und Nutzungsbedingungen von Medien (etwa beim Übergang von der Erwerbstätigkeit in den Ruhestand). Andererseits eignen sich unterschiedliche Alterskohorten neue Medien anders an. Mit Blick auf diese drei Dimensionen lässt sich kaum mehr vom dem Leitmedium sprechen. Vielmehr ist danach zu differenzieren, mit welchen Motiven in welchen Dimensionen Medien als Leitmedien genutzt werden, wobei Mediengattungen diesen Charakter ebenso erhalten können wie einzelne Kanäle, Genres, Titel oder Medienmarken. Vor diesem Hintergrund werden im nächsten Abschnitt ausgewählte empirische Befunde zur Mediennutzung beleuchtet.

3

Empirische Hinweise auf Leitmedien

An empirischen Daten zur Mediennutzung herrscht kein Mangel. Neben Markt-Media-Studien wie der MA oder Langzeituntersuchungen wie der Massenkommunikation gibt es eine Fülle von Einzelstudien zu speziellen Nutzungssituationen. An dieser Stelle wird versucht, aus dieser Datenfülle die Ergebnisse herauszufiltern, die Hinweise auf Leitmedien aus Publikumssicht geben, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Dabei liegt der Fokus auf tagesaktuellen Massenmedien wie Zeitung, Radio, Fernsehen und Web in Deutschland, da es vor allem diese Medien sind, die soziale Orientierung bieten.

3.1

Zuwendung zu Mediengattungen

Betrachtet man allein die Zuwendung zu einer Mediengattung als eine notwendige Bedingung dafür, sich zum Leitmedium zu entwickeln, hat das Fernsehen

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sehr gute Karten im Vergleich zum Radio, zur Tageszeitung oder zum Web. Nicht nur bei den Tagesreichweiten liegt es deutlich vor den Wettbewerbern, auch bei der täglichen Nutzungsdauer führt es das Ranking klar an, wie sich aus den Daten der Langzeitstudie Massenkommunikation eindeutig ergibt. Tageszeitung und Internet liefern sich dahinter einen harten Positionskampf: Einerseits erzielt die Zeitung immer noch größere Tagesreichweiten als das Internet, andererseits nimmt das Internet dort, wo es genutzt wird, bereits deutlich breiteren Raum im Medienalltag ein (siehe Tabelle 1). Gattung Fernsehen Hörfunk Tageszeitung Internet

Tagesreichweite in % 89 84 51 28

Tägl. Nutzungszeit (Mo-So) in Minuten 220 221 28 44

Anteil an Zeitbudget in % 37 37 5 7

Tabelle 1: Tagesreichweiten und Anteil am täglichen Zeitbudget für Medien 2005.17

Ein anderes Bild ergibt sich schon auf der quantitativen Ebene, wenn man statt eines Zeitpunkts die Dynamik der Entwicklung in den vergangenen Jahren betrachtet. Hier steht die Zeitung sowohl hinsichtlich der Reichweite als auch bezogen auf die Nutzungszeit unter Druck. Radio und Fernsehen haben zwar ihre Reichweiten stabilisieren oder sogar im Falle des Fernsehens leicht ausbauen können.18 Zudem haben beide Medien davon profitiert, dass sich die Rezipienten in den vergangenen Jahren insgesamt immer länger Medien zuwenden.19 Gleichwohl scheinen die Grenzen des Wachstums bezogen auf beide Medien erreicht zu sein: Beim Radio sind Reichweite und Nutzungszeit seit 2005 eher rückläufig.20 Und auch die Gewinne des Fernsehens bei der Nutzungszeit hat das Medium bei den 30- bis 59-Jährigen und bei den über 60Jährigen eingefahren, während die unter 29-Jährigen nicht länger als früher Fernsehen schauen.21 Ganz anders die Web-Angebote: Sie haben sich binnen kurzer Zeit im Medienalltag weiter Bevölkerungskreise etabliert, wie zum Beispiel die ARD/ZDF-Online-Studie belegt. Seit 1997 ist die Tagesreichweite des Internets auf 66 Prozent gestiegen (und liegt damit inzwischen weit über den in der 17 Quelle: Fritz/Klingler: „Medienzeitbudget und Tagesablaufverhalten“, S. 226. 18 Vgl. ebd., S. 216. 19 Vgl. Best/Engel: „Qualitäten der Mediennutzung“, S. 21. 20 Vgl. Müller: „Radio“, S. 4. 21 Vgl. Gerhards/Klingler: „Mediennutzung in der Zukunft“, S. 81.

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Massenkommunikation genannten Zahlen), die tägliche Verweildauer ist deutlich gestiegen von 76 auf 118 Minuten.22 Längst hat das Internet dabei die breite Masse der Bevölkerung erreicht. So gibt es 2007 erstmals mehr Onliner, die älter als 60 Jahre sind, als Onliner, die jünger als 19 Jahre sind.23 Quantitativ betrachtet sind Web-Angebote also die eindeutigen Gewinner im Wettbewerb um mehr Aufmerksamkeit der Rezipienten, auch wenn diese wegen des Internets nicht zwangsläufig andere Medien seltener nutzen. Aus ihrer subjektiven Wahrnehmung heraus sagen z.B. nur ein Drittel der Onliner, sie würden weniger fernsehen, und je rund ein Fünftel der Onliner, sie würden weniger Zeitung lesen oder Radio hören, seit sie das Internet nutzen. Allerdings ist auch hier die zeitliche Dynamik zu beachten. Während der Anteil der Onliner, die weniger fernsehen, in den vergangenen Jahren eher gesunken ist, ist der Anteil von ihnen, die weniger Radio hören oder Tageszeitung lesen, deutlich gestiegen.24 Dies macht sich besonders bemerkbar bei den jungen Zielgruppen. So gehen die Reichweitenverluste des Radios vor allem auf die 14- bis 29-Jährigen zurück, die stattdessen verstärkt das Internet nutzen.25 Auch den Zeitungen fällt es zunehmend schwer, in diesem Alterssegment Fuß zu fassen, während das Internet hier nahezu selbstverständlich und flächendeckend in den Alltag eingebunden ist. Insbesondere bei Jugendlichen hat das Internet im Jahr 2007 auch mit Blick auf die tägliche Nutzungszeit (102 Minuten) mit dem Fernsehen (105 Minuten) nahezu gleichgezogen und das Radio (95 Minuten) abgehängt.26 Anders als die älteren Onliner nutzen die Jugendlichen das Internet auch verstärkt aus Unterhaltungsmotiven. Van Eimeren und Frees identifizieren in ihrer Typologie der Online-Nutzer ein Segment der jungen Hyperaktiven, die alle Möglichkeiten des Netzes nutzen und eine entsprechend hohe Distanz zu klassischen Medien aufgebaut haben. Zu diesem Typ gehören 13 Prozent aller Onliner in Deutschland. Die Mehrheit der Onliner lässt sich aber derselben Untersuchung zu Folge immer noch einem Nutzungstyp zuordnen, der das Internet eher selektiv-zurückhaltend nutzt und bei dem sich durch die Nutzung des Internets das sonstige Medienverhalten noch nicht grundsätzlich verändert hat.27 22 Vgl. Eimeren/Frees: „Internetnutzung zwischen Pragmatismus und YouTubeEuphorie“, S. 375. 23 Vgl. ebd., S. 373. 24 Vgl. ebd., S. 375. 25 Vgl. Müller: „Radio “, S. 3. 26 Vgl. Eimeren/Frees: „Internetnutzung zwischen Pragmatismus und YouTubeEuphorie“, S. 375. 27 Vgl. ebd., S. 368.

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Wenn man also aktuell überhaupt noch von digital divide sprechen kann, dann weniger entlang der ursprünglich vermuteten Friktionslinie des sozialen Status, sondern eher entlang von Alterskohorten, die sich das Medium Internet in unterschiedlichen biographischen Phasen aneignen. Während in den älteren Kohorten – und hier insbesondere bei älteren Frauen28 – Internetangebote oft noch nicht das Nutzungspotenzial haben, um sich zum Leitmedium zu entwickeln, sieht das in jüngeren Kohorten anders aus. Indizien für diese Verwerfungen finden sich auch in einer Untersuchung, die der Spiegel-Verlag und Gruner & Jahr jüngst beim Institut für Demoskopie in Auftrag gegeben haben. Die Allensbacher identifizierten sieben verschiedene Mediennutzungstypen. In zweien davon spielen Web-Angebote eine tragende Rolle: Auch hier finden sich hedonistische Spaßnutzer, d.h. Jugendliche, die vor allem das Internet zu Unterhaltung und Kommunikation nutzen. Zu ihnen gehört ein Achtel der Bevölkerung. Ein weiteres Sechstel gehört zu den Informations-Scannern, meist Männer, die sich in Medien allgemein einen schnellen Überblick über Neuigkeiten verschaffen, und das vor allem im Netz. PrintSchwerpunkte finden sich dagegen bei den anspruchsvollen Informationssuchern (16%), die alle Medien informationsorientiert nutzen, und erst recht bei den Genusslesern (11%). Hier haben Zeitungen deutlich bessere Chancen, sich als Leitmedien zu etablieren, während bei den Passivnutzern (28%) und den traditionellen Unterhaltungsnutzern (12%) das Fernsehen die Mediennutzung prägt.29 Zusammenfassend ließe sich demnach grob von einer Drittelung des Publikums sprechen, in denen jeweils – wesentlich moderiert von Alter, Geschlecht und Bildung – das Web, die Zeitung oder das Fernsehen das größte Leitmedienpotenzial hat. Die Nutzung elektronischer Massenmedien über das Mobiltelefon spielt dagegen zurzeit noch keine wesentliche Rolle. Selbst Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren, die wie keine andere Generation das Mobiltelefon in ihren Alltag einbinden, nutzen es primär zur Kommunikation. Lediglich Radio wird in nennenswertem Umfang über das Handy gehört – rund jeder zwölfte Jugendliche tut dies, TV und Internet über Handy bewegen sich dagegen noch nahe der Nachweisgrenze – wobei hier sicherlich auch die Preisgestaltung und die Verfügbarkeit geeigneter Endgeräte eine Rolle spielen.30

28 Vgl. ebd., S. 363 29 Vgl. Pimpl: „Medienfunktionen – Medienbegabungen“. 30 Vgl. MPFS: Jugend, Information, (Multi-)Media, S. 58.

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3.2

Zuwendung zu Medienmarken

In den theoretischen Überlegungen wurde aber bereits dargelegt, dass es nicht ausreichend ist, auf der Suche nach Leitmedien lediglich auf die Mediengattungen zu achten. Denn der Medienalltag der Rezipienten wird i.d.R. nur von einer kleinen Auswahl aus dem Angebot geprägt, das den Nutzern theoretisch offen steht. Anders formuliert: Das relevant set an Medienmarken eines Großteils der Mediennutzer ist gattungsübergreifend sehr schmal. Aus der Vielzahl der Zeitungen etwa kristallisieren sich die Regionalzeitungen als die Marken heraus, die bezogen auf das jeweilige Berichterstattungsgebiet breite Teile der Bevölkerung erreicht, bundesweit betrachtet allerdings keine Rolle spielen. Bild wiederum erreicht absolut gesehen viele Menschen, ist aber relativ betrachtet gleichwohl nur in einem kleinen Segment präsent, ganz zu schweigen von überregionalen Titeln wie der Süddeutschen, der FAZ, der FR oder gar der taz.31 Auch die Radionutzung konzentriert sich auf wenige Sender: Obwohl sich zwischen 1980 und 2005 in Folge der Einführung des Privatfunks die Sendervielfalt deutlich erhöhte, schalten die Radio-Hörer dennoch im Schnitt am Tag lediglich 1,6 statt früher 1,3 Sender ein.32 Nicht wesentlich anders sieht es beim Fernsehen aus: Über alle Nutzer hinweg betrachtet, decken drei Sender 63 Prozent der täglichen Fernsehzeit ab, sechs Sender sogar 82 Prozent; an einem einzelnen Tag verbringen die Zuschauer sogar in der Regel die Hälfte der TV-Nutzungszeit bei einem Sender.33 Dabei schaffen es meist die großen Sender wie ARD, ZDF, RTL, Pro7 und Sat1 auf die ersten Plätze, aber es gibt auch Nutzungstypen, in denen ausländische Programme, Sportsender oder Kulturkanäle dominant sind, was die These der Vielfalt der Leitmedien zusätzlich stützt.34 Selbst im Internet reduziert sich die Weite der virtuellen Welt de facto sehr bald auf ein überschaubares Portfolio von Websites. Wer privat im Web unterwegs ist, konzentriert sich dabei im Durchschnitt auf acht Angebote, die er regelmäßig ansteuert, zeigt eine Studie des forsa-Instituts im Auftrag des Internet-Vermarkters SevenOne Interactive. Neue Angebote werden in der Regel nicht durch Surfen aufgestöbert, der Großteil der Onliner – in der Studie 64 Prozent der 14- bis 49-Jährigen – geht Empfehlungen von Freunden oder aus anderen Medien nach.35 31 Vgl. BDZV: Schaubilder 2007. 32 Vgl. Müller: „Radio“, S. 2. 33 Vgl. Beisch/Engel: „Wie viele Programme nutzen die Fernsehzuschauer“, S. 375. 34 Vgl. ebd., S. 376. 35 Vgl. „Seven-One Interactive“.

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Auch im Langzeitvergleich von Daten der ARD/ZDF-Onlinestudie zeigt sich, dass die Jäger und Sammler im Internet um so mehr an Bedeutung verlieren, je mehr das Web in der Mitte der Gesellschaft ankommt und nicht mehr nur von einer überschaubaren Anzahl von Innovatoren und early adopters genutzt wird. In der 2007er-Ausgabe der Studie sagten 71 Prozent der Befragten, dass ihnen das Angebot ihres Providers ausreiche; fünf Jahre vorher waren erst 59 Prozent der Befragten dieser Ansicht. 55 Prozent der Onliner sind inzwischen der Meinung, sie hätten alle Seiten gefunden, die sie brauchten. Dieser Aussage stimmten 2002 nur 41 Prozent der Befragten zu. Anders herum sank im gleichen Zeitraum der Anteil der Onliner, die sich nach eigenem Dafürhalten immer wieder gern von neuen Seiten anregen lassen, von 50 Prozent auf 34 Prozent.36 Dabei zeigt sich im Internet, dass es gerade bei klassischen Massenmedienfunktionen wie Information und Unterhaltung keinesfalls die Newcomer aus dem Netz sind, die sich im Wettbewerb durchsetzen, sondern dass erfolgreich Markentransfers etablierter Medienmarken ins Internet gelingen. So sind finden sich auf den Spitzenplätzen der meistgenutzten Online-Angebote neben den Startseiten von Mail-Providern und Online-Communities in großem Umfang die Web-Dependancen etablierter TV-Sender und Medienhäuser wie Spiegel Online, bild.de, rtl.de oder pro7.de.37 Und bei den regionalen InternetAngeboten sind es die Ableger der Zeitungen und – schon deutlich dahinter – die Websites der jeweiligen ARD-Anstalt, denen die Nutzer sich zuwenden und besonders viel Vertrauen schenken.38 Je stärker die technischen Distributionskanäle von Inhalten konvergieren und sich aus Nutzerperspektive vermischen, umso bedeutsamer dürften Marken als potenzielle Leitmedien werden. In diesem Zusammenhang sind allerdings Ergebnisse von Meyen zu erwähnen, die nahelegen, dass Medienmarken als gesellschaftliches Distinktionsbzw. Zugehörigkeitsmerkmal je nach Wertorientierung und biographischer Situation eine unterschiedlich große Rolle spielen: Meyen entwickelt auf dem theoretischen Fundament der Kapital-Theorie Bordieus aus dem Material zahlreicher qualitativer Interviews eine Typologie der Mediennutzer, deren Typen sich danach unterscheiden, wie stark sie Medien arbeitsorientiert nutzen – also um kulturelles Kapital zu erwerben – , und welchen Stellenwert Medien für die

36 Vgl. Eimeren/Frees: „Internetnutzung zwischen Pragmatismus und YouTubeEuphorie“, S. 375. 37 Vgl AGOF: Internet Facts 2008 I. 38 Vgl. Eimeren/Frees: „Internetnutzung zwischen Pragmatismus und YouTubeEuphorie“, S. 369.

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Befragten überhaupt haben.39 Deutlich werden die Unterschiede im distinguierenden Mediengebrauch am Vergleich zweier Typen, die sich in ihrer formalen Bildung kaum voneinander unterscheiden, in Hinsicht auf ihre berufsbiographische Position aber sehr wohl. Die sogenannten Unabhängigen verfügen bereits über viel ökonomisches und oder kulturelles Kapital, haben einen Beruf, der sie ausfüllt und ihren „Platz in diesem Leben gefunden“.40 Medien treten daher in den Hintergrund und werden häufig eher nur noch sporadisch oder habituell genutzt, um auf dem Laufenden zu sein. Die Elitären – und hier ist die Typbezeichnung irreführend – streben dagegen die Positionen erst an, die die Unabhängigen bereits besetzen, ihnen sind Medien „als Distinktionsmerkmal wichtig – vor allem als Abgrenzung nach unten.“41

3.3

Zuwendungsmotive

Gleichwohl bewegen sich alle bisher referierten Befunde zu relevant sets immer noch auf der quantitativen Ebene. Tiefer zum Stellenwert von Angeboten als Leitmedien dringt man vor, wenn man die Nutzungsmotive in den Blick nimmt. Auch diese werden in der Studie Massenkommunikation regelmäßig erhoben, sodass auch Entwicklungsprozesse beobachtbar sind. Abgefragt werden auch Items, die sich als Indikatoren für die Orientierungsleistung von Medien begreifen lassen: -

„damit ich mitreden kann“

-

„weil ich Denkanstöße bekomme“

-

„weil es mir hilft, mich im Alltag zurechtzufinden“

Der Vergleich der jüngsten beiden Befragungswellen ist dabei aus drei Gründen sehr aufschlussreich (siehe Tabelle 2). Erstens zeigt er, dass auf den ersten Blick das Fernsehen vor der Tageszeitung, dem Radio und dem Internet die größte Orientierungsleistung erbringt und damit auch am ehesten nach wie vor als Leitmedium bezeichnet werden könnte. Zweitens wird deutlich, dass bei der Zeitung der Nutzungsfokus viel stärker auf der Orientierung liegt, während das Motivspektrum zur Nutzung des Fernsehens viel breiter ist. Hier ist Orientierung nur eins unter vielen Zuwen-

39 Vgl. Meyen: „Medienwissen und Medienmenüs als kulturelles Kapital und als Distinktionsmerkmale“, S. 344. 40 Ebd., S. 349. 41 Ebd., S. 350.

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dungsmotiven, was die Bedeutung des Orientierungsmotives durchaus relativiert. Drittens sieht man, dass das Internet innerhalb von fünf Jahren in Sachen Orientierung erheblich an Bedeutung gewonnen hat, während die anderen Medien hier verlieren oder nur mühsam ihren status quo halten. Anteil Zustimmung in % damit ich mitreden kann weil ich Denkanstöße bekomme weil ich mich informieren möchte weil ich dabei entspannen kann weil es mir Spaß macht weil ich mich dann nicht allein fühle weil ich damit den Alltag vergessen möchte weil es aus Gewohnheit dazugehört weil es mir hilft, mich im Alltag zurechtzufinden

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Tabelle 2: Zuwendungsmotive zu Medien42

Je nach Lebenswelt sind Web-Angebote als Orientierungshilfe sogar noch viel bedeutender, als dies die Werte für die gesamte Stichprobe nahelegen. Dies zeigt eine Sonderauswertung der Zuwendungsmotive zu Medien getrennt nach Sinus-Milieus. In den am weitesten modernisierten Milieus der Modernen Performer, Experimentalisten und Hedonisten wird das Internet deutlich überdurch42 Quelle: Gerhard/Klingler: „Mediennutzung in der Zukunft“, S. 82.

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schnittlich zur Orientierung genutzt, während dieses Nutzungsmotiv bei ‚älteren‘ Milieus wie den Konservativen, den Traditionalisten oder den DDR-Nostalgikern keine nennenswerte Rolle spielt. Interessant ist auch, welche Medien unter dem Blickwinkel der Orientierung an Bedeutung verlieren: Bei den Modernen Performern ist dies vor allem die Zeitung, bei den Experimentalisten muss dagegen das Fernsehen Federn lassen. Eine Untersuchung von Scherer und Schütz aus dem Jahre 2004 legt zudem nahe, dass die tatsächliche Verschiebung in der Orientierungsleistung weg vom Fernsehen hin zum Internet schon weiter fortgeschritten ist. Denn das Forscherduo konnte in einer getrennten Abfrage von allgemein erwarteten, situativ gesuchten und tatsächlich erhaltenen Gratifikationen zeigen, dass das Fernsehen dem Web in Sachen Orientierung bei den allgemein erwarteten Gratifikationen, wie sie auch in der Studie Massenkommunikation abgefragt werden, noch knapp überlegen ist, aber bei den situativ gesuchten und tatsächlich erhaltenen Gratifikationen hinter das Internet zurückfällt. Von einer „Entwarnung für das Fernsehen“, urteilten die Autoren schon vor fünf Jahren, könne angesichts der Ergebnisse nicht die Rede sein.43 Dies unterstreichen auch Befunde aus der 2007er-Welle der ARD/ZDFOnlinestudie. Außer bei den Jugendlichen, die das Internet breit in all seinen Facetten nutzen, gehört bei allen anderen Altersgruppen die Orientierung zu den wichtigsten Nutzungsmotiven: 49 Prozent der Online nutzen nach eigenen Angaben Websites, um Denkanstöße zu bekommen, dagegen nur 24 Prozent, um sich zu entspannen und 9 Prozent, um sich abzulenken. Zudem ist in den vergangenen fünf Jahren der Anteil der Befragten von 57 auf 64 Prozent gestiegen, die das Internet als wichtigen Begleiter für alle möglichen Fragen und Themen ansehen. Die 20- bis 29-Jährigen sind dabei die Avantgarde, bei denen das Internet den höchsten Stellenwert hat.44 Gerade die unter 30-Jährigen sind es auch, die deutlich überproportional in der Gruppe vertreten sind, die die Angebote des so genannten Web 2.0 halbwegs regelmäßig nutzt. Dazu gehörte 2006 insgesamt gut jeder zehnte Onliner – eine Zahl, die inzwischen vermutlich leicht gestiegen ist.45 Haas u.a. untersuchten in einer qualitativen und quantitativen Studie Web 2.0-Nutzer im Detail und arbeiteten dabei wiederum Nutzungsmuster heraus, deren Charakteristik durchaus etwas über die Orientierungsleistung dieser Angebote aussagt. So sind Wikipedia mit 80 Prozent und Blogs mit 54 Prozent der Web 2.0Nutzer, die das Angebot mehrmals wöchentlich nutzen, die wichtigsten Nut43 Scherer/Schütz: „Das neue Medienmenü“, S. 17f. 44 Vgl. Eimeren/Frees: „Internetnutzung zwischen Pragmatismus und YouTubeEuphorie“, S. 367. 45 Vgl. Haas u.a.: „Web 2.0“, S. 216.

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zungsformen, bei denen es primär um Orientierung im hier verstandenen Sinne geht. In den Gruppendiskussionen mit Web-2.0-Nutzern, die die Umfrage begleiteten, zeigten sich aber auch erhebliche Vorbehalte zur Qualität von Wiki-Beiträgen, derentwegen viele die Online-Enzyklopädie nur als Einstieg in Recherchen nutzten, die dann in klassischen Medien vertieft wurden. Bei Blogs stieß das Forscherteam auf ähnliche Vorbehalte: Weil Weblogs einerseits überwiegend informativ genutzt, andererseits aber meistens von Privatleuten betrieben werden, wurde auch hier in den Diskussionsrunden mit Web-2.0-Usern das Thema Qualität der Informationen sehr intensiv und kontrovers diskutiert.46 Haas u.a. verdichteten ihre Befunde zur Nutzung von Web-2.0-Angeboten zu verschiedenen Nutzertypen, wobei sich ein Nutzungsmuster herauskristallisierte, in dem die Orientierung im Vordergrund steht. Diese so genannten Infosucher werden von den Autoren wie folgt charakterisiert: Infosucher nutzen die Web-2.0-Möglichkeiten kaum kommunikativ oder selbst gestaltend, sondern rein betrachtend. Die einzigen Mitgestaltungen sind bei diesen Nutzern in der Regel Orientierungsfragen (z. B. Nachfragen zu bestimmten Produkten). Öffentliche Kommunikation beschränkt sich auf sporadische Kommentare. Aber: Kommentare und Produkte anderer können für sie ein entscheidendes Nutzungsmotiv sein, beispielsweise wegen ‚authentischer‘ und vielfältiger Beiträge mitgestaltender Nutzer.47 Daneben isolierten sie mit den Spezifisch Interessierten ein Muster, in dem Web2.0-Angebote im Kontext eines speziellen Hobbys genutzt werden. Es geht hier darum, Kontakte zu Gleichgesinnten zu knüpfen und sich über weite Distanzen zu vernetzen, so die Studie: „Da solche Netzwerke nicht geografisch begrenzt sind, besteht auch eine realistische Chance, Mitstreiter zu Randthemen zu finden.“48 Hier findet sich eher der Charakter des Leitmediums im Sinne der individuellen Orientierung wieder. Die Infosucher machten 31 Prozent der Stichprobe von Haas u.a. aus, die Spezifisch Interessierten 16 Prozent. Dies zeigt, dass die soziale Orientierungsfunktion bei Web 2.0-Angeboten bei weiten nicht dominant ist, aber unter deren Nutzern gleichwohl ein gewisses Leitmedienpotenzial bietet, was den Stellenwert des Webs insgesamt eher stärkt. 46 Ebd., S. 217f. 47 Ebd., S. 220. 48 Ebd., S. 221.

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Aber auch in den Begründungen, aus denen ältere Menschen sich dem Internet zuwenden, kann man den gestiegenen Status des Webs als potenzielles Leitmedium erkennen. Einerseits ist die Angst, nicht mehr genügend mitzubekommen, ein wesentlicher Treiber, um online zu gehen, andererseits erkennen und entdecken sie aber auch aktiv die Chancen und Vorteile, die ihnen die Internetnutzung bietet.49 Zieht man zudem in Betracht, dass sich seit 2005 das Internet noch deutlich weiter verbreitet hat und gerade in jungen Zielgruppen einen hohen Stellenwert im Medienmenü einnimmt, kann man darin schon den Beginn einer Verschiebung der Leitmedienfunktion erkennen. Auch unabhängig vom Internet überschätzt man das Potenzial des Fernsehens als Leitmedium, wenn man allein die Zustimmung von Rezipienten zu möglichen Nutzungsmotivationen mit der durchschnittlichen Nutzungszeit kombiniert. Denn Orientierung ist längst nicht in allen Nutzungszeiten und bei allen Zuschauern das dominierende Nutzungsmotiv. Dies zeigt sich zum Beispiel in einer von Dehm u.a. 2004 veröffentlichten Untersuchung von TV-Erlebnisfaktoren.50 In dieser Studie wurden basierend auf einer repräsentativen Befragung zur TV-Nutzung fünf Erlebnisdimensionen herausgearbeitet: Emotionalität, Ausgleich, Zeitvertreib, soziales Erleben und Orientierung. Die letzte Dimension ist relevant für die Charakterisierung als Leitmedium und wird erhoben über Items wie z.B. „Ich bekomme neue Informationen“, „Gibt mir Anregungen und Stoff zum Nachdenken“ oder „Ich verstehe die Sorgen und Probleme anderer Menschen besser“.51 Entlang der Erlebnisfaktoren wurden in einem zweiten Schritt in einer Clusteranalyse sieben Erlebnistypen gebildet, die sich in ihrem Fernseh-Erleben voneinander unterscheiden. Orientierung prägt die Fernsehrezeption wiederum nur bei drei dieser Typen, zu denen 39 Prozent der Befragten in der Studie gehören. Am stärksten ist die Orientierung als Nutzungsmotiv ausgeprägt bei den Involviert Begeisterten. Diese Gruppe umfasst 11 Prozent von Dehms Stichprobe und rekrutiert sich verstärkt aus Rentnern, formal niedriger Gebildeten, Ostdeutschen und Lesern von Boulevardtiteln. Für sie ist Fernsehen fester Bestandteil des Alltagsgeschehens und damit auch wesentliche Quelle für soziale Orientierung.52 Als eines von vielen Medien nutzen dagegen die 16 Prozent der Befragten das Fernsehen zur Orientierung, die Dehm als die Genießend-Wissensdurstigen bezeichnet. Hier finden sich vermehrt ältere, finanziell besser gestellte, hoch ge49 Vgl. Eimeren/Frees: „Internetnutzung zwischen Pragmatismus und YouTubeEuphorie“, S. 364 50 Vgl. Dehm u.a: „TV-Erlebnistypen und ihre Charakteristika“. 51 Vgl. Dehm u.a.: „Die Erlebnisqualität von Fernsehsendungen“, S. 54. 52 Vgl. Dehm u.a.: „TV-Erlebnistypen und ihre Charakteristika“, S. 223.

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bildete Zuschauer mit einer klaren Präferenz für öffentlich-rechtlich Sender, die oft gezielt nach informierenden Angeboten suchen.53 Stark ausgeprägt ist das Orientierungsmotiv bei den Habituell Orientierungssuchenden. Dieser Typ macht 12 Prozent der Befragten aus und nutzt das Fernsehen primär zum Zeitvertreib und zur Orientierung. Männer sind hier quer durch alle Altersgruppen stärker vertreten. Mitglieder dieses Typs präferieren Nachrichten, „lehnen klassische Unterhaltungsformate eher ab“ und sind „weniger involviert in das Fernsehgeschehen“. Als Leitmedium tritt das Fernsehen hier also teilweise in den Hintergrund, und bereits jetzt nutzt dieser Typ WebAngebote bereits intensiver als andere Fernsehzuschauer.54 Von Orientierung als einem dominanten Zuwendungsmotiv kann also nicht die Rede sein, auch wenn man darauf hinweisen muss, dass auch nicht primär informierende Genres wie Quizsendungen oder Coaching-Formate durchaus zur Orientierung genutzt werden.55 Der Stellenwert des Fernsehens als Leitmedium relativiert sich zusätzlich, wenn man die Mediennutzung im Tagesverlauf analysiert und dabei auch die Verfassungen (so bezeichnet das rheingold Institut das Bündel an Stimmungen, Zielen und Motiven, die eine Alltagssituation prägen) betrachtet, in denen sich die Rezipienten jeweils befinden. Das rheingold Institut hat auf Basis psychologischer Tiefeninterviews vier Verfassungen herausgearbeitet, die im Tagesverlauf eine unterschiedliche Bedeutung haben: Aktion am morgen, Stabilisierung am Nachmittag, Passion am Abend und Regeneration in der Nacht. Für die Leitmediendiskussion ist die Verfassung Aktion von besonderer Bedeutung, denn hier wird der Tag geplant und werden wesentliche Entscheidungen vorbereitet. Menschen suchen hier nach „Informationen und Emotionen, die bei der Bewältigung des Alltags weiterhelfen“.56 In diese Situation, zeigt wiederum eine Studie von rheingold und der Zeitungsmarketinggesellschaft ZMG, fällt der Schwerpunkt der Tageszeitungsnutzung, während das Fernsehen vor allem in der Passions-Verfassung genutzt wird, in der es nicht mehr primär darum geht, selbst zu agieren, sondern sich animieren zu lassen. Auch wenn das Verfassungskonzept teilweise holzschnittartig und verallgemeinernd erscheint, betont es doch den Stellenwert, der der Tageszeitung als Leitmedium (noch) zukommt. Dies gilt erst recht im lokalen und regionalen Bereich, in dem der Tageszeitung nach wie vor besonders hohe Kompetenz

53 Ebd., S. 220. 54 Ebd., S. 221. 55 Vgl. Dehm u.a.: „Die Erlebnisqualität von Fernsehsendungen“, S. 54. 56 ZMG: Zeitungsqualitäten 2007/08, S. 14.

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zugesprochen wird. Fragt man etwa danach, welche Medien unverzichtbar seien, um im eigenen Wohnort auf dem Laufenden zu sein, landet die Tageszeitung mit 65 Prozent Zustimmung weit vor Anzeigenblättern (27%), Internet (21%), lokalem Hörfunk (20%), Amtsblättern (20%) und Stadtmagazinen (15%).57 Zudem sind es, wie bereits diskutiert, häufig die Online-Ableger der Verlage, die sich als Anbieter regionaler Information etablieren. Selbst bei den Jugendlichen, die der Tageszeitung mit wachsender Distanz gegenüberstehen, wird sie nach wie vor noch mehrheitlich (54%) als das regionale Medium bezeichnet, auf das man am wenigstens verzichten kann, auch wenn das Internet (34%) hier schon erheblich Boden gut gemacht hat.58 Dennoch gründet die gute Position der (regionalen) Tageszeitung primär auf ihrer extrem starken Verankerung im Alltag der mittleren und älteren Kohorten, die auch auf ihr Image bei jüngeren Menschen ausstrahlt, die deshalb aber keinesfalls in ähnlichem Umfang die Zeitung als Leitmedium nutzen müssen. Hinweise darauf liefert unter anderem eine Untersuchung von Kolo und Meyer-Lucht, die Daten der beiden Allensbacher Media-Studien ACTA und AWA daraufhin untersuchten, in welchem Umfang Nachrichten-Sites im Internet Tageszeitungen substituieren.59 Die Ergebnisse dieser Studie deuten auf eine Dynamik zugunsten des Internets hin. Während die Zahl der Intensivnutzer von Nachrichten-Websites quer durch alle Altersgruppen wächst, nimmt die Zahl der Intensivnutzer von Tageszeitungen eher ab, vor allem bei den überregionalen Titeln, abgeschwächt aber auch bei den Regionalzeitungen. Besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung bei den 25- bis 44-Jährigen. Intensivnutzer der Websites sind im Schwerpunkt 35 bis 44 Jahre alt, Intensivnutzer der Tageszeitung 55 bis 64 Jahre. Gleichzeitig gilt: Je größer die Online-Erfahrung, desto mehr SiteIntensivnutzer gibt es. Besonders fällt dies bei den 24- bis 35-Jährigen ins Auge: Von allen Befragten, die länger als fünf Jahre im Netz unterwegs sind, gehören gut 22 Prozent zu den Intensivnutzern von Nachrichtensites. Bei Onlinern mit weniger als fünf Jahren Netzerfahrung sind es nur gut sechs Prozent.60 Überträgt man diese Entwicklung auf die Kohorte der über 50-Jährigen, die aktuell das Internet für sich erschließen, so lässt sich vermuten, dass auch in diesen Altersgruppen die Tageszeitung als Leitmedium in Relation zum Internet an Bedeutung verliert, auch wenn qualitative Studien zur Domestizie-

57 Ebd., S. 23f. 58 Ebd., S. 25. 59 Vgl. Kolo/Meyer-Lucht: „Erosion der Intensivleserschaft“. 60 Ebd., S. 524f.

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rung des Internets zur Zeit noch darauf hindeuten, dass ältere Paare das Netz partiell in ihren häuslichen Alltag integrieren, ohne dass sonstige Alltags- und Medienroutinen tangiert werden, während PC und Internet etwa bei jungen Paaren schon eng mit dem sonstigen Alltag verwoben sind.61 Risse in den tradierten Zeitungsnutzungsmustern zeichnen sich also bereits ab, und offen scheint derzeit eher zu sein, in welchem Tempo sie sich zu Brüchen entwickeln. Das Radio hat sich in den vergangenen Jahren ohnehin zum Tagesbegleitmedium entwickelt, bei dem Musikauswahl und Moderationsstil, Comedy und aktuelle Servicebeiträge wesentlich über die Zuwendung entscheiden. Gerade für junge Hörer ist Unterhaltung das zentrale Nutzungsmotiv62, in den tatsächlichen Senderpräferenzen der Deutschen schlägt sich dies auch eindeutig nieder. Fragt man nach den zwei Lieblingssendern, dominieren musikorientierte Formate, die den Typus des Tagesbegleiters verkörpern: private ACProgramme (43%), die öffentlich-rechtlichen Pop-Wellen (29%) und die öffentlich-rechtlichen Melodiewellen (20%). Dies relativiert die Orientierungsfunktion und damit das Leitmediumspotenzial des Radios, auch wenn man einschränkend darauf hinweisen sollte, dass z.B. bei Jugendlichen Musik für die Selbstbildentwicklung und die Definition von Gruppenzugehörigkeiten erhebliche Bedeutung zukommt und in dieser Hinsicht durchaus von einem Leitmedium gesprochen werden kann. Auch im Kontext bestimmter Lebensstile kann das Radio durchaus an Bedeutung gewinnen: So arbeitet Egger in seiner Analyse der von ARDMedienforschern entwickelten MedienNutzerTypologie einen je nach Typ deutlich unterschiedlichen Stellenwert der öffentlich-rechtlichen Kulturwellen und Informationsprogramme heraus. Während diese in weiten Teilen der Bevölkerung bestenfalls knapp oberhalb der Nachweisgrenze senden, können sie sich in bestimmten Gesellschaftsgruppen durchaus zu Leitmedien entwickeln. So werden Informationswellen wie das Deutschlandradio von den modernen Kulturorientierten und den Kulturorientiert Traditionellen zu 19 bzw. 23 Prozent als präferierte Sender genannt; Kulturwellen wie SWR 2 oder WDR 3 bringen es bei der selben Abfrage auf 23 bzw. 19 Prozent.63 Hier könnte durchaus gelten, was Best und Engel für das Radio insgesamt postulieren:

61 Vgl. Röser: „Wenn das Internet das Zuhause erobert“, S. 165. 62 Vgl. Müller: „Radio“, S. 6. 63 Vgl. Eggert: „Radionutzung und MNT 2.0“, S. 262.

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Das Radio ist also nicht nur der Tagesbegleiter, sondern ganz deutlich der ‚Tagesstarter‘ und hat damit auch die besten Chancen, das mediale Agenda-Setting zu bestimmen.64

3.4

Glaubwürdigkeit als Charakteristikum von Leitmedien

Neben dem Nutzungsmotiv Orientierung spielt auch die Glaubwürdigkeit eine entscheidende Rolle bei der Charakterisierung als Leitmedium. Matthes und Kohring weisen hier auf einen inkonsistenten Forschungsstand hin, bei dem je nach Studie mal das Fernsehen, mal Websites und mal die Tageszeitung die Nase vorn haben.65 Zu Recht kritisieren sie an dieser Stelle auch, dass bei der pauschalen Frage nach dem glaubwürdigsten Medium die Differenzierung zwischen Medienmarken nicht berücksichtigt sei, obwohl es mehr als naheliegend ist, dass innerhalb einer Gattung unterschiedliche Marken unterschiedlich glaubwürdig erscheinen, etwa die Frankfurter Allgemeine oder die Bild-Zeitung. Zwei empirische Befunde neueren Datums veranschaulichen diesen Zusammenhang: Während in Studien der ZMG die Tageszeitung für glaubwürdiger gehalten wird als das Radio, das Fernsehen oder das Internet, sichert sich in der von der ARD finanzierten Studie Massenkommunikation das Fernsehen regelmäßig die Führungsposition.66 Noch deutlicher erscheint der Vorsprung des Fernsehens, wenn nicht nach der absoluten, sondern nach der relativen Glaubwürdigkeit gefragt wird. Dieser scheinbare Vorsprung entpuppt sich allerdings, wie Matthes und Kohring ebenfalls plausibel darlegen, als Folge einer methodisch problematischen Frageformulierung.67 Vergleicht man dennoch zunächst auf Basis der Massenkommunikation die absolute Glaubwürdigkeit der Medien, so zeigen sich auch hier wieder deutliche Verschiebungen in Abhängigkeit von Lebensstil und Werten. So gilt vor allem im Sinus-Milieu der Postmateriellen die Zeitung als besonders glaubwürdig, bei unverkennbar größeren Vorbehalten gegenüber dem Fernsehen und einer größeren Aufgeschlossenheit gegenüber dem Internet. In den besonders fortschrittlichen Milieus der Modernen Performer und der Experimentalisten wird WebAngeboten – trotz nach wie vor erkennbarer Vorbehalte – bereits deutlich mehr Vertrauen entgegengebracht als in den an tradierten Werten orientierten Milieus der Traditionalisten und Konservativen, in denen das Internet auch in Sa64 Best/Engel: „Qualitäten der Mediennutzung“, S. 32. 65 Vgl. Matthes/Kohring: „Seeing is believing?“, S. 377f. 66 Vgl.: ZMG: Zeitungsqualitäten 2007/08; Engel/Windgasse: „Mediennutzung und Lebenswelten 2005“. 67 Vgl. Matthes/Kohring: „Seeing is believing?“, S. 375.

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chen Glaubwürdigkeit ein Randmedium ist. Besonders hoch ist die Glaubwürdigkeit des Fernsehens wiederum bei den DDR-Nostalgikern, die in dieser Hinsicht der Zeitung reservierter gegenüberstehen.68 Schon aus der Massenkommunikation ergeben sich aber eindeutige Hinweise darauf, welch differenziertes Bild sich ergibt, wenn man von der Mediengattung auf die Markenebene wechselt. Denn dort wird die Glaubwürdigkeit zwar nicht nach Sendern oder Sendungen abgefragt, aber immerhin nach öffentlichrechtlichen und privaten Sendern unterschieden. Hier ist die Glaubwürdigkeitsdifferenz aber bereits sehr beachtlich: Während drei Viertel der Befragten die Programme von ARD und ZDF für glaubwürdig halten, sprechen diese Eigenschaft nur ein Achtel der Rezipienten den privaten Sendern zu. Damit korrespondieren deutliche Unterschiede in der Bedeutung der Orientierung als Zuwendungsmotiv.69 Aufschlussreiche Erkenntnisse zur Glaubwürdigkeit von Medien lassen sich zudem gewinnen, wenn man die Rezeptionssituation empirisch genauer spezifiziert. Und dabei stellt sich zum Beispiel heraus, dass Onliner in Kaufentscheidungen den Meinungen und Empfehlungen anderer Nutzer zwar keineswegs blind vertrauen, aber der Vertrauensvorsprung journalistischer Medien gar nicht mehr so hoch ist, wie man sich das vielleicht erhoffen würde: So bezeichnen laut einer Studie der Marketing-Agentur hotwire bereits jetzt 23 Prozent der dort befragten Onliner Blogs als vertrauenswürdige Informationsquelle bei Kaufentscheidungen. Noch mehr Vertrauen genießen private Kommentare auf Verbraucherportalen (28%), die nur knapp hinter Zeitungsartikeln (34%) landen.70 Allgemein deuten Befunde von Haas u.a. zu Nutzern von Web-2.0-Angeboten darauf hin, dass sie die klassischen Medien zwar nicht grundsätzlich anders nutzen, aber besondere Ansprüche an ihre Glaubwürdigkeit stellen.71 In ihrer Rolle als Konsumenten haben für viele Onliner aber bereits heute Websites im Allgemeinen und Nutzerempfehlungen im Besonderen einen höheren Stellenwert, als dies das teilweise geringe Vertrauen in andere Nutzer vermuten lässt. In einer europäischen Vergleichsstudie der britischen Agentur Harris Interactive deutet sich an, wie die Onliner den Stellenwert von Websites einschätzen: 40 Prozent der deutschen Internet-Nutzer messen WebAngeboten großen Einfluss auf Kaufentscheidungen zu, 23 Prozent dem Fernsehen, 23 Prozent dem Radio, 14 Prozent Zeitungen und 11 Prozent den

68 Vgl. Engel/Windgasse: „Mediennutzung und Lebenswelten 2005“, S. 459. 69 Vgl. ebd., S. 463f. 70 Vgl. „Blogs“. 71 Vgl. Haas u.a.: „Web 2.0“, S. 222.

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Zeitschriften.72 Vier von fünf Onlinern in Deutschland nutzen das Netz für Produkt- und Preisvergleiche bei größeren Anschaffungen.73 Fast der Hälfte der Befragten sind beim Kauf eines höherwertigen Konsumguts wie einem Fernseher Konsumentenkommentare wichtig.74 In diesen alltagspraktischen Zusammenhängen scheinen Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften bereits zum Teil ihren Status als Leitmedien an Web-Angebote verloren zu haben.

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Ausblick

Schon an diesem kurzen Überblick dürfte deutlich geworden sein, dass man von dem Leitmedium nicht mehr sprechen kann. Ebenso klar ist, dass ein Zugang zur Bestimmung von Leitmedien aus Publikumssicht über quantitative Nutzungsdaten allein nur eingeschränkt möglich ist. Deutlich zu Tage tritt zudem, dass die die Mediengattung in einer konvergierenden Medienumgebung nicht mehr (lange) die adäquate Analyseebene ist. Vielmehr dürften zusätzliche empirische Erkenntnisse zu den Charakteristika von Leitmedien vor allem von Studien zu erwarten sein, die die Wahrnehmung von Medienmarken und deren Integration in den Alltag aus einer Quelle und hinreichend differenziert nach biographischem Status, Werten und Lebensstilen erheben. Ein Mix qualitativer und quantitativer Forschungsansätze dürfte dabei – wie so oft – ein vielversprechender Weg sein. Von besonderer gesellschaftlicher Relevanz dürfte dabei die Frage sein, wie sich journalistische Angebote im Wettbewerb mit nutzergenerierten Inhalten und Kommunikationsangeboten von Unternehmen, Verbänden und Parteien durchsetzen.

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72 Vgl. Harris Interactive: Digital Influence Index, S. 2. 73 Vgl. ebd., S. 11. 74 Vgl. ebd., S. 14.

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198

Dominik Becker

Dahinter steckt meistens ein kluger Kopf. Mehr und dissonantere Leitmedienlektüre infolge der Bildungsexpansion? Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Bildungsexpansion und der Lektüre von Qualitätszeitungen – die hier als Leitmedien betrachtet werden – lässt sich in zwei Fragenkomplexe differenzieren: 1) Nutzen jene Kohorten, die von der Bildungsexpansion profitiert haben, aufgrund ihrer zu vermutenden höheren kognitiven Kompetenz auch häufiger Leitmedien? 2) Sind sie, aus dem gleichen Grund, auch eher bereit, ein ihrer Parteipräferenz zuwider laufendes Leitmedium zu lesen – oder nehmen im Gegenteil bei steigender kognitiver Kompetenz derartige Wertbindungen zu? Mit den Media-Analyse-Daten von 1985 und 2005 kann der erste Fragenkomplex positiv beantwortet werden: Neben einem generellen Zusammenhang zwischen Bildungsexpansion und Leitmedienlektüre lässt sich ein deutlicher Anstieg des Anteils an Leitmediennutzern in den von der Akademikerexpansion begünstigten Kohorten nachweisen. Hinsichtlich des zweiten Fragenkomplexes kann zwar bei höherem Bildungsniveau eine zunehmende Wertbindung zwischen Parteipräferenz und Leitmedienlektüre bestätigt werden, die aber eher das Muster eines Altersdenn eines Kohorteneffektes aufweist.

1

Theorien und Hypothesen

1.1

Bildung und Bildungsexpansion

Der Einfluss des Bildungsniveaus auf die Lektüre von Tageszeitungen wurde auf Querschnittsebene wiederholt nachgewiesen.1 Hier soll zunächst davon ausgegangen werden, dass sich dieser Einfluss – speziell für Qualitätszeitungen – mit dem Instrumentarium von Luhmanns Systemtheorie rekonstruieren lässt. Es wird angenommen, dass vor jeglicher Strukturbildung durch Sinn das sog. Komplexitätsproblem besteht, welches die „Welt als Problem“ betrachtet.2 Bei diesem Problem handelt es sich um die Komplexität in der Welt: „die Gesamt-

1

Vgl. etwa Meulemann: Werte und Wertewandel, S. 161.

2

Vgl. Luhmann: „Soziologie als Theorie sozialer Systeme“, S. 115.

199

Dominik Becker | Dahinter steckt meistens ein kluger Kopf

heit aller möglichen Ereignisse“3. Solange alles möglich ist, besteht ein Orientierungsproblem, welches erst durch Systembildung gelöst wird. Ein soziales System ist ein „Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen“4. Da nach Luhmann nicht nur Kollektive wie etwa das Mediensystem5, sondern auch Individuen systemhaft strukturiert sind6, kommt es sowohl auf Makro- bzw. Systemebene als auch auf Mikro- bzw. Individualebene zu Komplexitätsreduktionen in Form von Sinnbildungen, welche die strukturelle Kopplung zwischen sozialen und psychischen Systemen erst ermöglichen. Eine strukturelle Kopplung zwischen dem Sozialsystem der Medien und konkreten Individuen als dessen Umwelt erfolgt beispielsweise durch die Ausrichtung des Mediensystems an der Leitdifferenz informativ/nicht informativ auf der einen und ein Informationsbedürfnis bzw. -interesse von Individuen auf der anderen Seite. Auf Individualebene tritt zu diesem allgemeinen Komplexitätsproblem ein relativ konkretes Verarbeitungsproblem hinzu, das zudem in Abhängigkeit der jeweiligen kognitiven Kompetenzen interindividuell variiert.7 Gemäß dem Konzept der integrativen Komplexität von Suedfeld und Vernon, welches Individuen mit hohem Informationsbedarf sowie komplexer und abstrakter Denkart beschreibt8, lässt sich der nicht zuletzt über das politische Interesse9 vermittelte Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und der Lektüre von in hohem Maße auf politische, wirtschaftliche und kulturelle Informationen ausgerichteten Qualitätszeitungen über den höheren Informationsbedarf und das höhere Komplexitätsbewältigungspotential von höher Gebildeten rekonstruieren. Somit gelte H1: H1: Personen mit höherem Bildungsniveau lesen eher Qualitätszeitungen als Personen mit niedrigerem Bildungsniveau. Trotz des vergleichsweise gut belegten Zusammenhangs zwischen Bildungsniveau und der Lektüre von Tageszeitungen allgemein konnte keine Studie er-

3

Vgl. ebd.

4

Vgl. ebd.

5

Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien.

6

Vgl. Luhmann: Theorie sozialer Systeme, 346ff.

7

Vgl. Miller: „The Magical Number Seven“ sowie Tajfel u.a.: „Social Categorization and Intergroup Behavior“.

8

Vgl. Suedfeld/Vernon: „Stress and Verbal Originality in Sensory Deprivation“.

9

Vgl. Meulemann: Werte und Wertewandel, S. 160.

200

Dominik Becker | Dahinter steckt meistens ein kluger Kopf

mittelt werden, die jenes Phänomen in den Kontext des sozialen Wandels im Sinne der sog. Bildungsexpansion stellt. Diese lässt sich nach Becker et al. in drei nachweisbare Merkmale fassen10: Zum einen kommt es zu einer Veränderung der quantitativen Bedeutung unterschiedlicher Schulformen in der Sekundarstufe. Während der Hauptschulanteil zwischen 1952 und 1999 auf fast ein Viertel seines ursprüngliches Anteilswertes sinkt, erfahren hingegen Realschule und Gymnasium eine Verdopplung bzw. Verdreifachung ihres Ausgangswertes. Weiterhin ist eine vertikale Öffnung von Schulkarrieren zu konstatieren, indem die Fortsetzung des Bildungsweges „nach oben“ (etwa der Wechsel von der Realschule auf ein Gymnasium mit anschließendem Abitur oder Fachabitur) erleichtert wurde. Und schließlich brachte bzw. beinhaltete die Bildungsexpansion auch einen Anstieg der schulischen und beruflichen Bildungsdauer insgesamt. Diese drei Faktoren veranlassten Inglehart zum Postulat einer mit der Bildungsexpansion verbundenen „kognitiven Mobilisierung“: Breitere Bevölkerungsteile nähern sich einer vormals exklusiven kulturellen und politischen Elite an und übernehmen deren kulturelle Praktiken wie politische bzw. öffentliche Partizipation, Lesegewohnheiten etc.11 Diese Effekte weist eine Studie von Baumert u.a. auch für Deutschland nach.12 Weiterhin belegt der nach seinem Entdecker benannte Flynn-Effekt einen Trend zur Verbesserung der Leistungen in Intelligenztests über die letzten Jahrzehnte.13 Dass es einen theoretisch begründeten Zusammenhang von Bildung und Intelligenzperformance gibt, belegt beispielsweise Ceci.14 Baumert u.a. weisen einen deutlichen Anstieg der Intelligenzperformance auch für Deutschland nach.15 Es kann also tatsächlich eine kollektive kognitive Mobilisierung infolge der Bildungsexpansion festgehalten werden. Da wir davon ausgegangen sind, dass es einen über das politische Interesse vermittelten Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und der Lektüre von Qualitätszeitungen gibt, sollte sich ein shift bei den unabhängigen Variablen auch bei der Lesepräferenz bemerkbar machen. An H1 anknüpfend kann folglich vermutet werden:

10 Vgl. Becker u.a.: „Bildungsexpansion und kognitive Mobilisierung“, S. 64. 11 Vgl. Inglehart: Kultureller Umbruch. 12 Vgl. Baumert: „Langfristige Auswirkungen der Bildungsexpansion“. 13 Vgl. etwa Flynn: „IQ Gains and Fluid G“. 14 Vgl. Ceci: „How Much Does School Influence General Intelligence and Its Cognitive Components?“. 15 Vgl. Baumert: „Langfristige Auswirkungen der Bildungsexpansion“.

201

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H2: Personen aus Kohorten, die von der Bildungsexpansion profitiert haben, werden häufiger Qualitätszeitungen lesen als Personen aus den übrigen Kohorten. Abzuwarten bleibt, ob sich der nachgewiesene Alterseffekt einer selteneren Zeitungslektüre von jüngeren Personen16 nicht ebenfalls als Kohorteneffekt entpuppen wird. In diesem Fall wäre von einem kurvilinearen Kohorteneffekt auszugehen.

1.2

Konsonanz und Bildungsexpansion

Innerhalb der Leserschaft von Qualitätszeitungen ist ferner eine Homogenisierung des Leseverhaltens in Abhängigkeit der individuellen Parteipräferenz zu erwarten, was sich wie folgt begründen lässt: Das im Anschluss an das Komplexitätsproblem existente Verarbeitungsproblem auf Individualebene führt dazu, dass Individuen zur Erzielung einer weiteren Komplexitätsreduktion die auf sie einströmenden Informationen in Kategoriensysteme einteilen.17 Die Studien von Tajfel weisen nach, dass solche Kategoriensysteme selbst in vergleichsweise wenig komplexen Situationen herangezogen werden.18 Verschiedene Konsistenztheorien gehen ferner davon aus, dass zur Vermeidung erneuter Überkomplexität Individuen das Verhältnis zwischen den auf sie einströmenden Inputs und ihren eigenen Einstellungen möglichst widerspruchsfrei halten werden.19 Bezogen auf die strukturelle Kopplung zwischen Mediensystem und -nutzern ist daher davon auszugehen, dass Personen mit einer eher linken Parteipräferenz auch eine eher linke Tageszeitung lesen werden bzw. umgekehrt – ein Effekt, der bereits durch McLeod et al. für die USA, Butler und Stokes für Großbritannien sowie Donsbach und zuletzt Becker für Deutschland nachgewiesen wurde.20 Allgemein gelte somit auch hier:

16 Vgl. Noelle-Neumann/Schulz: Junge Leser für die Zeitung. 17 Vgl. Miller: „The Magical Number Seven“, S. 83f. 18 Vgl. Tajfel u.a.: „Social Categorization and Intergroup Behavior“. 19 Vgl. Heider: „Attitudes and Cognitive Organisation“; Festinger: A Theory of Cognitive Dissonance. Eine Übersicht über den vor allem in den 1960er Jahren prominenten und dementsprechend häufig empirisch untersuchten Konsonanzeffekt findet sich bei Freedman/Sears: „Selective Exposure“, S. 68. 20 Vgl. McLeod u.a.: Political Conflict and Communication Behavior; Butler/Stokes: Political Change in Britain; Donsbach: Medienwirkung trotz Selektion; Becker: Politische Homogenität oder Heterogenität der Leserschaft von Qualitätszeitungen?

202

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H3: Personen, die eine eher rechts (bzw. eher links) gerichtete Partei präferieren, werden auch häufiger eine eher rechts (bzw. eher links) ausgerichtete Qualitätszeitungen lesen. Genau wie hinsichtlich des Bildungsniveaus wurden auch für den Zusammenhang zwischen Parteipräferenz und der Lektüre von Qualitätszeitungen bislang keine Längsschnittanalysen unternommen. Soll auch hier ein Kohorteneffekt angenommen werden, so können zwei konkurrierende Hypothesen formuliert werden: a)

Während und nach der Bildungsexpansion beschulte Personen sollten nach den Ergebnissen insbesondere von Inglehart und Baumert auch über höhere kognitive Kompetenzen verfügen. Mit Taylor kann davon ausgegangen werden, dass Individuen mit höheren kognitive Kompetenzen besser im Umgang mit komplexen Situationen sind und ihre Umwelt seltener als problematisch wahrnehmen.21 Wenn nun angenommen werden kann, dass der Konsonanzeffekt in erster Linie Ausdruck der Vermeidung kognitiver Bedrohung ist, so sollten während und nach der Bildungsexpansion beschulte und nach H1 höher gebildete Personen in stärkerem Maße zur Tolerierung dissonanter kognitiver Strukturen befähigt sein. Es gelte daher:

H4a: Personen aus Kohorten, die von der Bildungsexpansion profitiert haben, weisen ein dissonanteres Nutzungsverhalten von Qualitätszeitungen auf als Personen aus den übrigen Kohorten. b)

Nichtsdestoweniger wäre unter Rekurs auf die hinter der Parteipräferenz stehenden Werthaltungen auch die entgegengesetzte Annahme denkbar: Wenn bei höher Gebildeten wegen ihrem zu vermutenden Bestand an politischen Informationen entweder die Bindungen an jene Werte stärker sind als bei niedriger Gebildeten oder aber aufgrund dessen Wertunterschiede, etwa in der Argumentation von Tageszeitungen, in stärkerem Maße wahrgenommen werden, dann sollten sie weniger zu dissonanter Mediennutzung neigen.

H4b: Personen, aus Kohorten, die von der Bildungsexpansion profitiert haben, weisen ein konsonanteres Nutzungsverhalten von Qualitätszeitungen auf als Personen aus den übrigen Kohorten.

21 Vgl. Taylor: „Psychological Determinants of Bounded Rationality“.

203

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2

Methode

2.1

Daten

Grundlage der empirischen Untersuchung bilden die Daten der Media Analyse (MA) aus dem Jahr 1985 sowie deren erste Printmedien-Tranche (PM I) aus dem Jahr 2005. MA-Daten gibt es ab dem Jahr 1972, als neben den schon seit 1954 im Vorgängermodell Leser-Analyse (LA) erhobenen Zeitungen und Zeitschriften auch die Nutzung elektronischer Medien in die Untersuchung mit aufgenommen wurde. Bis einschließlich 1986 war die MA eine sog. SingleSource-Erhebung, d.h. alle erhobenen Informationen konnten einer einzigen Datenquelle entnommen werden. Ab der MA 1987 werden die Daten für Print- und elektronische Medien getrennt erhoben, was die Entstehung einer Printmedien- und einer Radiotranche zur Folge hatte. Ab 1996 hat sich zudem die Erhebungsfrequenz von einer Erhebung pro Kalenderjahr auf zwei Erhebungen erhöht. Die MA gilt allgemein als „wichtigste Quelle für kontinuierliche, intermedial vergleichbare Daten“22 und enthält neben den oben beschriebenen Daten zur Mediennutzung auch Abfragen von Konsum- oder Freizeitpräferenzen sowie soziodemographischer Variablen. Auftraggeber ist die Arbeitsgemeinschaft Media Analyse (ag.ma), die ein Zusammenschluss von Rundfunksendern, Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen sowie Werbeagenturen und sonstigen Werbetreibenden ist. Grundgesamtheit der Stichprobe sind alle in einem dreistufigen Stichprobenverfahren23 gezogenen Personen, die älter als 14 Jahre sind und sich am Ort der Hauptwohnung befinden. Dies sind bei der MA 1985 n = 18.354 Befragte, bei der MA 2005 PM I n = 38.904 Befragte. Um die Längsschnittvergleichbarkeit der Daten zu ermöglichen, wird der Datensatz von 2005 auf Personen beschränkt, deren Wohnort sich in Westdeutschland befindet (alte Bundesländer einschließlich Westberlin). Dadurch reduziert sich die Stichprobe der MA 2005 PM I auf 31.003 Befragte.

22 Vgl. Akinci/Hagenah: Zwischenbericht, S. 4. 23 Vgl. ebd.

204

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2.2

Untersuchungsgegenstand und Operationalisierung der Zielvariablen

2.2.1 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Der Untersuchungsgegenstand wurde bereits von Tageszeitungen auf die sog. Qualitätszeitungen eingegrenzt. Da der letztgenannte Begriff jedoch zumeist ohne Angabe klarer Kriterien verwandt wird, empfiehlt sich der Rekurs auf den Leitmedienbegriff von Wilke, nach welchem sich die gesellschaftliche Leitfunktion von Leitmedien an sieben Kriterien binden lässt.24 1.

Starke Verbreitung bzw. Reichweite, d.h. hohe Auflagenzahl oder Einschaltquote

2.

Struktur des Publikums: Nutzung durch gesellschaftliche Führungsschicht, Entscheidungsträger und Angehörigen der Elite

3.

Nutzung durch Journalisten

4.

Zitierungshäufigkeit in anderen Medien

5.

Publizistische Intention, d.h. normatives journalistisches Selbstverständnis

6.

Agenda-Setting (frühzeitiges Aufgreifen von Themen) und Framing (Schaffung von Bezugsrahmen, die andere Medien später aufgreifen)

7.

Qualitätsbegriff: Exklusivität, journalistische Leistungen, namhafte Mitarbeiter

Unter den Tageszeitungen erfüllen nach Wilke die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die Süddeutsche Zeitung (SZ), die Frankfurter Rundschau (FR) die tageszeitung (taz), sowie die Welt am ehesten die oben genannten Kriterien. Da in den MADaten von 1985 die taz noch nicht erhoben wurde, ist ein Längsschnittvergleich nur für die übrigen vier Zeitungen möglich.

2.2.2 Operationalisierung der Zielvariablen Die Lesehäufigkeit von Tageszeitungen wird in der MA wie folgt erfragt: Der befragten Person werden von einem Interviewer Karten vorgelegt, auf denen die Titel von Tageszeitungen abgebildet sind. Nach den Angaben der befragten Person werden die Tageszeitungskarten in die Kategorien „kenne ich über24 Vgl. Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, S. 302f.

205

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haupt nicht“; „nur dem Namen nach bekannt“ sowie „schon mal drin geblättert/gelesen“ eingeteilt. Für Tageszeitungen, in denen die befragte Person „schon mal geblättert/gelesen“ hat, wird weiterhin gefragt, wann das zuletzt geschah: „in den letzten 14 Tagen“; „in den letzten 2-4 Wochen“ oder „länger her“. Und schließlich wird die befragte Person für Tageszeitungen, in denen sie „in den letzten 14 Tagen geblättert/gelesen“ hat, noch gefragt, wie viele sie von den in den letzten 14 Tagen erscheinenden 12 Ausgaben dieser Tageszeitungen gelesen hat (offene Frage) und wann sie zuletzt darin geblättert/gelesen hat: „gestern“; „vorgestern“; „vor 3 Tagen“; „länger her“. Leider sind die ursprünglichen Angaben zur Lesehäufigkeit von Tageszeitungen, d.h. die Anzahl der in den letzten 14 Tagen gelesenen bzw. durchblätterten Ausgaben, nicht in den MA-Daten enthalten, sondern nur die auf deren Basis durch ein spezielles Segmentationsverfahren25 gebildete Nutzungswahrscheinlichkeit. Diese wiederum entspricht zwar nicht exakt der Lesehäufigkeit, ein Gütetest mit den politischen Zeitschriften Focus, Spiegel und Stern sowie der ebenfalls unter den wöchentlich erscheinenden Zeitschriften gelisteten Zeit (nicht dargestellt) erbrachte allerdings Korrelationen (Pearsons r) von 0,95, sodass von einem nahezu deckungsgleichen Abbild der Lesehäufigkeit durch die Nutzungswahrscheinlichkeit ausgegangen werden kann. Dies ist wichtig, weil aufgrund des relativ laxen Abfragemodells, das auch (eher flüchtiges) Durchblättern zulässt, die Leitmedienleserschaft im oben genannten Sinne weiter eingegrenzt werden soll. Da, bezogen auf die Lesehäufigkeit, nur Personen in die Untersuchung Eingang finden sollen, die mehr als 6 von 12 Ausgaben innerhalb der letzten 14 Tage gelesen bzw. durchblättert haben, scheint es angemessen, bezogen auf die Nutzungswahrscheinlichkeit die Einschlussgrenze bei einem Wert von p = 0,5 zu ziehen. Entsprechend der MA-Terminologie eines Weitesten Leserkreises (WLK), der Personen bezeichnet, die mindestens eine von 12 Ausgaben einer Tageszeitung gelesen/durchblättert haben, soll hier im Folgenden bei Personen, die bei mindestens einem der vier Leitmedien eine Nutzungswahrscheinlichkeit von p • 0,5 besitzen, von einem Engeren Leserkreis (ELK) gesprochen werden. Entsprechend der historisch abgeleiteten politischen Einordnung von Wilke sollen Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung als links, Frankfurter Allgemeine und Welt hingegen als rechts bestimmt werden. Aufgrund der Datenlage ist es ferner erforderlich, innerhalb des gesamten, d.h. alle Leitmedien betreffenden ELKs (im Folgenden auch Gesamt-ELK) zwischen Linkslesern, Rechtslesern und Querlesern zu unterscheiden. Linksleser sind Personen, die sich bei mindestens einem linken Leitmedium im ELK befinden – und bei kei25 Vgl. Arbeitsgemeinschaft Media Analyse: Methodenbeschreibung zur Media Analyse 1976.

206

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nem rechten; Rechtsleser sind Personen, die sich bei mindestens einem rechten Leitmedium im ELK befinden – und bei keinem linken; und Querleser sind Personen, die sich bei mindestens einem linken und mindestens einem rechten Leitmedium im ELK befinden.

2.3

Operationalisierung der unabhängigen Variablen

Sowohl das Bildungsniveau als auch die Parteipräferenz betreffend wurden im Theorieteil Hypothesen abgeleitet. Beide Variablen wurden 1985 und 2005 getrennt erhoben und mussten zunächst in eine längsschnitttaugliche, d.h. vergleichbare Form gebracht werden. Das Bildungsniveau geht in Form des höchsten Bildungsabschlusses in die Analyse ein.26 Die Parteipräferenz musste ebenfalls zunächst harmonisiert werden, da die Abfrage der Flügelparteien am linken bzw. rechten Rand des politischen Spektrums in den Erhebungsjahren 1985 und 2005 nicht konstant ist. 1985 wurde die Sympathie für die Parteien DKP und NPD abgefragt, 2005 hingegen für die Parteien PDS und Republikaner. Infolgedessen wurden die Nennungen von DKP und PDS sowie die von NPD und Republikanern zu jeweils einer Ausprägung zusammengefasst.27 Ferner wurde durch Subtraktion der individuellen Altersangaben vom Jahr der Erhebung (1985 oder 2005) eine Kohortenvariable mit fünf Geburtsjahrgängen pro Ausprägung gebildet. Diese reichen von K3 (1901-1905) im Jahr 1985 bis K21 (1991-1995) im Jahr 2005.

3

Analyse

Zunächst soll die univariate Verteilung der Zielvariable Leitmediennutzung zu beiden Erhebungszeitpunkten beschrieben werden. Anschließend wird auf bivariater Ebene untersucht, inwieweit sich mit den MA-Daten eine kohortenbedingte Bildungsexpansion nachzeichnen lässt. Danach soll überprüft werden, ob sich daraus ebenfalls kohortenbedingte Unterschiede in der Leitmediennutzung generell bzw. in Abhängigkeit der Parteipräferenz ergeben. 26 Die Ausprägungen lauten 1 ‚höchstens Hauptschulabschluss‘; 2 ‚Realschulabschluss/mittlere Reife‘; 3 ‚Abitur‘; 4 ‚Studium‘; 99 ‚keine Angabe‘. Personen, die keine Angabe machten, wurden aus der Analyse ausgeschlossen. 27 Für die Parteipräferenz stehen somit folgende Ausprägungen zur Verfügung: 1 ‚DKP/PDS‘; 2 ‚Grüne‘; 3 ‚SPD‘; 4 ‚CDU‘; 5 ‚FDP‘; 6 ‚CSU‘; 7 ‚NPD/REP‘; 8 ‚andere‘; 99 ‚keine Angabe‘. Personen, die keine Angabe machten, wurden aus der Analyse ausgeschlossen.

207

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3.1

Univariate Verteilung

Tabelle 1 weist in der untersten Zeile den Anteil an Leitmediennutzern in den Jahren 1985 und 2005 aus. Danach befanden sich 1985 4,6 Prozent und 2005 4,4 Prozent der Befragten im Gesamt-ELK. Der Anteil der Leitmediennutzer verringert sich zwischen 1985 und 2005 somit um 0,2 Prozentpunkte. Dies ist gemessen an den geläufigen Kennwerten ein überraschend geringer Rückgang: Während etwa Kolo und Meyer-Lucht allein zwischen 2001 und 2006 einen Rückgang der Intensivleserschaft überregionaler Tageszeitungen von etwa 20 Prozent ausmachen können28, beträgt der hier über einen erheblich längeren Zeitraum dokumentierte Rückgang nur etwa 4,5 Prozent. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass in die hier gebotene Analyse nur westdeutsche Befragte mit einbezogen wurden. Möglicherweise betreffen die gewöhnlicherweise zur Erklärung des Rückgangs an Tageszeitungsnutzern herangezogenen Substitutionseffekte durch die sog. Neuen Medien29 Ost- und Westdeutsche in unterschiedlichem Ausmaß.

Linksleser Rechtsleser Querleser Gesamt-ELK Gesamt

Anzahl % Partei Anzahl % Partei Anzahl % Partei Anzahl % Partei Anzahl % Gesamt

Erhebungsjahr 1985 438 52,0 361 42,8 44 5,2 843 4,6 18.354 100,0

Erhebungsjahr 2005 678 50,0 621 45,8 58 4,3 1.357 4,4 31.003 100,0

Gesamt 1.116 50,7 982 44,6 102 4,6 2.200 4,5 49.357 100,0

Tabelle 1: Leitmediennutzung 1985 und 2005. 1985: n = 18.354 (0 fehlend); 2005: n = 31.003 (0 fehlend).

Innerhalb des Gesamt-ELKs kann nun weiter nach Links-, Rechts- und Querlesern differenziert werden: Zu beiden Erhebungszeitpunkten gibt es mehr Linksleser als Rechtsleser sowie einen relativ geringen Anteil an Querlesern. Allerdings bleiben die relativen Häufigkeiten in der Längsschnittbetrachtung nicht konstant, sondern es kann einerseits eine leichte Linksverschiebung des Leseverhaltens und andererseits ein sichtbarer Rückgang an Querlesern ausgemacht werden (minus 0,9 Prozentpunkte).

28 Vgl. Kolo/Meyer-Lucht: „Erosion der Intensivleserschaft, S. 518. 29 Vgl. ebd.

208

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3.2

Bivariate Analysen

3.2.1 Bildungseffekte Zur Überprüfung von H1 soll zunächst die Verteilung der Bildungsabschlüsse nach Kohortenzugehörigkeit für beide Erhebungsjahre getrennt überprüft werden (vgl. Tabelle 2).

K3, 1901-1905 K4, 1906-1910 K5, 1911-1915 K6, 1916-1920 K7, 1921-1925 K8, 1926-1930 K9, 1931-1935 K10, 1936-1940 K11, 1941-1945 K12, 1946-1950 K13, 1951-1955 K14, 1956-1960 K15, 1961-1965 K16, 1966-1970 K17, 1971-1975 Gesamt

Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten

höchstens Hauptschulabschluss 405 79,9 607 78,9 917 79,2 682 78,4 960 75,2 962 75,0 1.123 76,6 1.160 69,5 985 62,6 818 61,0 673 54,6 708 48,8 604 39,6 701 35,1 111 50,2 11.416 62,2

Realschulabschluss/ mittlere Reife 70 13,8 111 14,4 158 13,6 134 15,4 230 18,0 211 16,5 238 16,2 329 19,7 386 24,5 347 25,9 332 26,9 383 26,4 475 31,1 1.154 57,8 110 49,8 4.668 25,5

Abitur 17 3,4 26 3,4 46 4,0 29 3,3 40 3,1 51 4,0 46 3,1 80 4,8 82 5,2 68 5,1 77 6,2 140 9,7 274 18,0 139 7,0 0 0,0 1.115 6,1

Studium 15 3,0 25 3,3 37 3,2 25 2,9 47 3,7 58 4,5 60 4,1 100 6,0 120 7,6 108 8,1 151 12,2 219 15,1 172 11,3 4 0,2 0 0,0 1.141 6,2

Gesamt 507 100,0 769 100,0 1.158 100,0 870 100,0 1.277 100,0 1.282 100,0 1.467 100,0 1.669 100,0 1.573 100,0 1.341 100,0 1.233 100,0 1.450 100,0 1.525 100,0 1.998 100,0 221 100,0 18.340 100,0

Tabelle 2: Verteilung der Bildungsabschlüsse nach Kohorten (Erhebungsjahr 1985). n = 18.340 (14 fehlend).

Für das Jahr 1985 wird deutlich, dass ab Kohorte K10 (1936-1940) bis zu Kohorte K14 (1956-1960) der Abiturienten- und Akademikeranteil kontinuierlich zunimmt. In K14 wird zugleich der höchste Anteil von Personen mit Studium erreicht. Deren Anteil nimmt zwar ab Kohorte K15 (1961-1965) altersbedingt wieder ab, allerdings scheint der ausgesprochen hohe Abiturientenanteil dieser vergleichsweise jungen Kohorte auf den Umstand zu verweisen, dass die Bildungsexpansion mit K14 ihren Zenit noch nicht erreicht hat.

209

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Diese Vermutung wird durch einen Blick auf die kohortenbedingte Verteilung der Bildungsabschlüsse im Jahr 2005 allerdings nur zum Teil bestätigt (vgl. Tabelle 3).

K7, 1921-1925 K8, 1926-1930 K9, 1931-1935 K10, 1936-1940 K11, 1941-1945 K12, 1946-1950 K13, 1951-1955 K14, 1956-1960 K15, 1961-1965 K16, 1966-1970 K17, 1971-1975 K18, 1976-1980 K19, 1981-1985 K20, 1986-1990 K21, 1991-1995 Gesamt

Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten

höchstens Hauptschulabschluss 802 75,1 1.098 74,6 1.586 76,0 1.580 72,4 1.842 67,0 1.228 58,9 1.342 55,5 1.236 48,4 1.227 42,7 1.170 38,1 934 36,4 585 33,3 585 31,5 921 48,4 368 100,0 16.504 53,2

Realschulabschluss/ mittlere Reife 143 13,4 191 13,0 282 13,5 357 16,4 507 18,4 519 24,9 608 25,2 758 29,7 986 34,3 1.114 36,3 1.028 40,1 617 35,1 608 32,7 895 47,0 0 0,0 8.613 27,8

Abitur 41 3,8 79 5,4 82 3,9 85 3,9 143 5,2 113 5,4 169 7,0 221 8,7 314 10,9 371 12,1 287 11,2 408 23,2 631 33,9 86 4,5 0 0,0 3.030 9,8

Studium 82 7,7 104 7,1 136 6,5 159 7,3 257 9,3 225 10,8 298 12,3 337 13,2 346 12,0 412 13,4 315 12,3 147 8,4 36 1,9 1 0,1 0 0,0 2.855 9,2

Gesamt 1.068 100,0 1.472 100,0 2.086 100,0 2.181 100,0 2.749 100,0 2.085 100,0 2.417 100,0 2.552 100,0 2.873 100,0 3.067 100,0 2.564 100,0 1.757 100,0 1.860 100,0 1.903 100,0 368 100,0 31.002 100,0

Tabelle 3: Verteilung der Bildungsabschlüsse nach Kohorten (Erhebungsjahr 2005). n = 31.002 (1 fehlend).

Während der jeweilige Abiturientenanteil auch nach K14 weiter ansteigt – und zwar bis zu der zeitlogisch letztmöglichen Kohorte K19 –, so verharrt der Akademikeranteil in den Folgekohorten K15 bis K17 leicht hinter dem Niveau von K14. Der im Vergleich zum Jahr 1985 um fast die Hälfte verringerte Akademikeranteil in der Kohorte der jeweils 25-29-Jährigen (1985: K14, 15,1%; 2005: K18, 8,4%) verweist entweder auf eine Verlängerung der Studiendauer oder auf einen realen Akademikerrückgang (der seinerseits entweder durch einen geringeren Anteil an Studienanfängern und/oder einen höheren Anteil an Studienabbrechern bedingt sein kann).30 Das Ergebnis deutet jedoch eher da30 Die Studien des Hochschulinformationssystems (HIS) weisen im betreffenden Zeitraum sowohl einen Rückgang an Studienanfängern als auch eine Zunahme der Studienabbruchquote aus; vgl. Lewin u.a.: Studienanfänger 1999, S. 3; Griesbach

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rauf hin, dass sich die Bildungsexpansion nach der Kohorte der zwischen 1956 und 1960 Geborenen auf die rein schulische Komponente reduziert. Welche Auswirkungen haben nun die sich zwischen K10 und K14 abspielende Akademiker- und die ab K10 kontinuierlich verlaufende Abiturientenexpansion auf die Nutzung von Leitmedien? In der Tat lassen sich kohortenbedingte Differenzen in der Leitmediennutzung nachweisen, deren Muster recht passgenau der in Tabelle 3 dargestellten Akademikerexpansion folgt (vgl. Tabelle 4).

K3, 1901-1905 K4, 1906-1910 K5, 1911-1915 K6, 1916-1920 K7, 1921-1925 K8, 1926-1930 K9, 1931-1935 K10, 1936-1940 K11, 1941-1945 K12, 1946-1950 K13, 1951-1955 K14, 1956-1960 K15, 1961-1965 K16, 1966-1970 K17, 1971-1975 K18, 1976-1980 K19, 1981-1985 K20, 1986-1990 K21, 1991-1995 Gesamt

Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten

Erhebungsjahr 1985 kein ELK Gesamt-ELK 498 8 98,4 1,6 741 27 96,5 3,5 1.116 43 96,3 3,7 850 20 97,7 2,3 1.223 56 95,6 4,4 1.219 63 95,1 4,9 1.414 54 96,3 3,7 1.570 99 94,1 5,9 1.475 101 93,6 6,4 1.252 89 93,4 6,6 1.158 77 93,8 6,2 1.356 96 93,4 6,6 1.466 63 95,9 4,1 1.957 43 97,9 2,2 217 4 98,2 1,8

Gesamt 506 100,0 768 100,0 1.159 100,0 870 100,0 1.279 100,0 1.282 100,0 1.468 100,0 1.669 100,0 1.576 100,0 1.341 100,0 1.235 100,0 1.452 100,0 1.529 100,0 2.000 100,0 221 100,0

17.512 95,4

18.355 100,0

843 4,6

Erhebungsjahr 2005 kein ELK Gesamt-ELK

Gesamt

1.027 96,2 1.428 97,1 2.021 96,9 2.091 95,9 2.613 95,1 1.985 95,2 2.269 93,9 2.415 94,6 2.728 95,0 2.934 95,7 2.439 95,1 1.681 95,7 1.787 95,9 1.864 97,9 364 98,9 29.646 95,6

1.068 100,0 1.471 100,0 2.085 100,0 2.180 100,0 2.749 100,0 2.084 100,0 2.417 100,0 2.553 100,0 2.873 100,0 3.067 100,0 2.564 100,0 1.757 100,0 1.864 100,0 1.904 100,0 368 100,0 31.004 100,0

41 3,8 43 2,9 64 3,1 89 4,1 136 4,9 99 4,8 148 6,1 138 5,4 145 5,0 133 4,3 125 4,9 76 4,3 77 4,1 40 2,1 4 1,1 1.358 4,4

Tabelle 4: Leitmediennutzung nach Kohorten (1985, 2005). 1985: n = 18.354 (0 fehlend); 2005: n = 31.004 (0 fehlend).

u.a.: Studienabbruch – Werkstattbericht 1992, S. 7; Heublein u.a.: Studienabbruchuntersuchung 2002, S. 23; Heublein u.a.: Studienabbruchuntersuchung 2005, S. 16.

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Zum Erhebungszeitpunkt 1985 kann von Kohorte K9 zu K10 ein sprunghafter Anstieg des Anteils an Leitmediennutzern von 2,2 Prozentpunkten ausgemacht werden. Während zwar für die älteren Kohorten ebenfalls ein tendenzieller Anstieg zu verzeichnen ist, der jedoch von verhältnismäßig deutlichen Einbrüchen unterbrochen wird (K6: minus 1,4 Prozentpunkte; K9: minus 1,2 Prozentpunkte), so ist der die Kohorten K10 bis einschließlich K14 betreffende Anstieg sowohl stärker als auch kontinuierlicher. Die höchsten Anteile an Leitmediennutzern stellen die Kohorten der zum Erhebungszeitpunkt 30-34Jährigen (K12) bzw. 20-24-Jährigen (K14). Der erneute Rückgang der Anteile an Leitmediennutzern in den sehr jungen Kohorten ab K15 dürfte auf dem bekannten Alterseffekt beruhen.31 Der Vergleich mit der Verteilung zum Erhebungszeitpunkt 2005 zeigt zum einen, dass auch hier ab Kohorte K10 an deutlicher Anstieg des Anteils an Leitmediennutzern zu verzeichnen ist, der seinen Höhepunkt in der Kohorte der zum Zeitpunkt der Erhebung 50-54-Jährigen annimmt (K13: 6,1%). Die im Jahr 1985 noch mit am lesefreudigste Kohorte K12 vermag im Jahr 2005 nur noch einen um 1,3 Prozentpunkte unter dem Wert von K13 liegenden Anteil an Leitmediennutzern zu erzielen. Ob bei den zu diesem Zeitpunkt 55-59Jährigen wiederum ein Alterseffekt zum Tragen kommt, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Zum anderen zeigt die Verteilung im Jahr 2005 aber auch, dass der für 1985 ermittelte Rückgang der Leitmediennutzeranteile ab Kohorte K15 nicht nur altersbedingt ist, sondern sich zu einem bedeutenden Kohorteneffekt entwickelt: Bereits ab K14 gehen die Anteile an Personen, die sich im Engeren Leserkreis mindestens eines Leitmediums befinden, von einer Ausnahme (K17) abgesehen kontinuierlich zurück. Während 1985 die Kohorte der zum damaligen Zeitpunkt 20-24-Jährigen (K14) mit den höchsten Anteil an Leitmediennutzern aufweisen konnte (6,6 Prozent), beträgt der entsprechende Wert der im Jahr 2005 20-24-Jährigen nur 4,1 Prozent und liegt damit 2 Prozentpunkte unter dem Nutzeranteil der lesefreudigsten Kohorte desselben Jahres (K13). Die kohortenspezifische Leitmediennutzung scheint somit wie vermutet einen kurvilinearen Verlauf anzunehmen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Personen aus den Kohorten K10 bis K14, somit die zwischen den Jahren 1936-1960 Geborenen, tendenziell die höchsten Leitmediennutzeranteile aufweisen. Da dies zu beiden Erhebungszeitpunkten gilt, handelt es sich eher um Kohorten- als etwa um Alterseffekte. Da in diesen Kohorten außerdem die stärkste Akademikerexpan-

31 Vgl. Noelle-Neumann: Wegweiser; Schulz: „Nutzung von Zeitungen und Zeitschriften“.

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sion nachgewiesen werden konnte, muss nun geprüft werden, ob zwischen den beiden Variablen tatsächlich ein kausaler Zusammenhang besteht. Hierzu wurden sowohl nach Erhebungszeitpunkt als auch nach Kohorte getrennte kategoriale logistische Regressionen auf bivariater Ebene gerechnet. Aus dem Bildungsniveau der Befragten wurde eine Dummy-Variable gebildet, die für Akademiker den Wert 1 und für Nicht-Akademiker (d.h. alle Übrigen) den Wert 0 annimmt. Tabelle 5 weist die exponierten ß-Koeffizienten dieser Gegenüberstellung aus. Die Koeffizienten sind als Chancenverhältnisse interpretierbar, d.h. ein Wert von 7,73 für Kohorte K3 im Jahr 1985 besagt, dass in dieser Kohorte in diesem Jahr Akademiker gegenüber Nicht-Akademikern eine rund 7,7fach höhere Chance haben, dem Engeren Leserkreis von Leitmedien anzugehören.32

K3,1901-1905 K4,1906-1910 K5,1911-1915 K6,1916-1920 K7,1921-1925 K8,1926-1930 K9,1931-1935 K10,1936-1940

Erhebungsjahr 1985 exp (ß) 7,73** 19,16*** 12,68*** 5,8** 7,1*** 10,68*** 8,03*** 6,17***

Nagelkerke’s R² 0,04 0,13 0,09 0,03 0,05 0,10 0,06 0,06

Erhebungsjahr 2005 exp (ß) Nagelkerke’s R²

16,75*** 15,17*** 10,77*** 11,56***

0,19 0,17 0,12 0,14

Tabelle 5: Bildungsniveau und Leitmediennutzung (exponierte ß-Koeffizienten). 1985: n = 18.340 (14 fehlend); 2005: n = 31.002 (1 fehlend). Signifikanzniveau der Konfidenzntervalle (zweiseitig): p < 0,05*; p < 0,01**; p < 0,001***.

Es wird deutlich, dass in allen Kohorten außer K19 im Jahr 2005 ein auf dem Niveau von p < 0.05 signifikantes Ergebnis vorliegt. Anders ausgedrückt kann mit mehr als 95prozentiger Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Zusammenhang in der vorliegenden Dichotomisierung kausaler Art ist, Akademiker somit tatsächlich häufiger Leitmedien nutzen als Nicht-Akademiker. Mit Ausnahme von K3, K6 und K16 im Jahr 1985 sowie K19 und K20 im Jahr 2005 liegt diesem Schluss sogar eine Sicherheitswahrscheinlichkeit von mehr als 99,9 Prozent zugrunde. Weiterhin ist ebenfalls ablesbar, dass der Chancenvorteil von Akademikern sowohl einem Inter- als auch einem Intrakohortenwandel unterliegt: Zu beiden Erhebungszeitpunkten ist der Chancenvorteil von Akademikern gegenüber Nicht-Akademikern in jüngeren Kohorten tendenziell kleiner als in älteren (Interkohortenwandel). Zugleich aber nimmt jener mit Ausnahme von K16 innerhalb derselben Kohorte im Zeitverlauf von 1985 zu 2005 zu (Intra-

32 Als Einführung in die logistische Regressionsanalyse siehe Backhaus u.a.: Multivariate Analysemethoden, S. 418ff.

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kohortenwandel). Während in jüngeren Kohorten die Leitmediennutzerschaft also weniger akademikerlastig ist als in älteren, so scheint dennoch jede Kohorte für sich im Zeitverlauf einer Homogenisierung hinsichtlich des Bildungsniveaus zu unterliegen.

3.2.2 Konsonanzeffekte Nun soll überprüft werden, welche Auswirkungen dieser Umstand auf den Zusammenhang zwischen der Parteipräferenz und der Selektion einer linken bzw. rechten Zeitung besitzt. Hierzu soll die Parteipräferenz entsprechend in eine linke und eine rechte Präferenz dichotomisiert werden. Da im Jahr 1985 unter den Sympathisanten sowohl von DKP als auch NPD kein Leitmediennutzer zu finden ist (nicht dargestellt), bleiben diese Parteien im Folgenden unberücksichtigt. Ebenfalls ausgeschlossen werden soll die politisch zu diffuse Kategorie der „Anderen“ sowie die Präferenz für die CSU: Eine eigene Voruntersuchung ergab, dass die Leitmediennutzer unter den Sympathisanten dieser Partei der Konsonanzhypothese bereits zuwider laufen, da sie zu über 85 Prozent die Süddeutschen Zeitung lesen.33 Somit werden die Präferenz von SPD und Grünen im Folgenden zu einer linken, die von CDU und FDP hingegen zu einer rechten Parteipräferenz zusammengefasst. Tabelle 6 liefert einen ersten Beleg dafür, dass die Konsonanzhypothese nicht nur im Querschnitt gilt, sondern auch im Zeitverlauf betrachtet erklärungskräftig ist: Entsprechend der in Tabelle 1 festgehaltenen Rechtsverschiebung des Leseverhaltens kann eine – diese möglicherweise bedingende – Rechtsverschiebung der dichotomisierten Parteipräferenz ausgemacht werden.

links (PDS/Grüne/SPD) Parteipräferenz rechts (CDU/FDP) Gesamt

Anzahl % Erhebungsjahr Anzahl % Erhebungsjahr Anzahl % Erhebungsjahr

Erhebungsjahr 1985 2005 7.918 11.062 57,9% 50,8% 5.759 10.721 42,1% 49,2% 13.677 21.783 100,0% 100,0%

Gesamt 18.980 53,5% 16.480 46,5% 35.460 100,0%

Tabelle 6: Dichotomisierte Parteipräferenz nach Erhebungsjahr. 1985: n = 13.677 (4.677 fehlend); 2005: n = 21.783 (9.220 fehlend).

Zur genaueren Überprüfung der Konsonanzhypothese H1 wurde eine 0-1codierte Dissonanzvariable berechnet, die für alle Nutzer linker Leitmedien mit linker Parteipräferenz sowie für Nutzer rechter Leitmedien mit rechter 33 Vgl. Becker: Politische Homogenität oder Heterogenität der Leserschaft von Qualitätszeitungen? S. 32, 76.

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Parteipräferenz den Wert 0 und umgekehrt für alle Nutzer linker Leitmedien mit rechter Parteipräferenz sowie für Nutzer rechter Leitmedien mit linker Parteipräferenz den Wert 1 annimmt. Tabelle 7 weist die kohortenspezifische Verteilung dieser Variable nach getrennten Erhebungszeitpunkten aus. Kohorten K3, 1901-1905 K4, 1906-1910 K5, 1911-1915 K6, 1916-1920 K7, 1921-1925 K8, 1926-1930 K9, 1931-1935 K10, 1936-1940 K11, 1941-1945 K12, 1946-1950 K13, 1951-1955 K14, 1956-1960 K15, 1961-1965 K16, 1966-1970 K17, 1971-1975 K18, 1976-1980 K19, 1981-1985 K20, 1986-1990 K21, 1991-1995 Gesamt

Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten Anzahl % Kohorten

1985 Leitmedienlektüre konsonant dissonant 1 1 50,0 50,0 15 4 78,9 21,1 25 4 86,2 13,8 7 4 63,6 36,4 30 11 73,2 26,8 36 10 78,3 21,7 23 6 79,3 20,7 50 19 72,5 27,5 55 22 71,4 28,6 41 17 70,7 29,3 34 17 66,7 33,3 45 20 69,2 30,8 31 7 81,6 18,4 22 2 91,7 8,3 2 0 100,0 0,0

Gesamt 2 100,0 19 100,0 29 100,0 11 100,0 41 100,0 46 100,0 29 100,0 69 100,0 77 100,0 58 100,0 51 100,0 65 100,0 38 100,0 24 100,0 2 100,0

417 74,3

561 100,0

144 25,7

2005 Leitmedienlektüre konsonant dissonant

Gesamt

25 78,1 22 75,9 42 80,8 54 76,1 47 63,5 53 73,6 75 74,3 53 61,6 60 59,4 64 71,1 54 68,4 42 70,0 25 49,0 14 51,9 0 0,0 630 68,0

32 100,0 29 100,0 52 100,0 71 100,0 74 100,0 72 100,0 101 100,0 86 100,0 101 100,0 90 100,0 79 100,0 60 100,0 51 100,0 27 100,0 1 100,0 926 100,0

7 21,9 7 24,1 10 19,2 17 23,9 27 36,5 19 26,4 26 25,7 33 38,4 41 40,6 26 28,9 25 31,6 18 30,0 26 51,0 13 48,1 1 100,0 296 32,0

Tabelle 7: Dissonante Leitmediennutzung nach Kohorten und Erhebungsjahr. 1985: n = 561 (17.793 fehlend); 2005: n = 926 (30.077 fehlend).

Zunächst ist ersichtlich, dass H3 zu beiden Erhebungszeitpunkten und in allen Kohorten zutreffend ist: Der Anteil der Personen, die ein ihrer Parteipräferenz entsprechendes Leitmedium lesen, ist stets höher als der Anteil derer, die ein ihrer Parteipräferenz gegenläufiges Leitmedium nutzen. Zugleich wird deutlich, dass die Parteipräferenz bei der Leitmedienlektüre eine immer geringere Rolle spielt: Zum einen steigt – über alle Kohorten hinweg betrachtet, der Anteil der Personen, die dissonant lesen, von 1985 bis 2005 um 6,3 Prozentpunkte an.

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Zum anderen ist im Jahr 2005 der Konsonanzeffekt bei den vergleichsweise jungen Kohorten K19-K21 schwächer ausgeprägt als bei den zum Erhebungszeitpunkt 1985 gleichaltrigen Kohorten K15 bis K17, bei welchen wiederum zum Jahr 2005 die größten intrakohortenspezifischen Zuwächse hinsichtlich des Anteils dissonanter Leitmediennutzung zu verzeichnen sind. Während der Trend im Jahr 2005 – kleinere Schwankungen inbegriffen – eher in Richtung stärkerer Dissonanzbereitschaft jüngerer Kohorten geht, kann für das Jahr 1985 keine pauschale Entwicklungsrichtung angegeben werden. Zwar steigt der Dissonanzanteil in den der Akademikerexpansion zugeordneten Kohorten K10 bis K13 tatsächlich leicht an, allerdings weisen die erheblich älteren Kohorten K6 und K7 ebenfalls vergleichsweise hohe Dissonanzwerte auf. Bis hierhin lässt sich somit nicht stichhaltig belegen, dass die der Akademikerexpansion zugeordneten Kohorten über eine höhere Dissonanzbereitschaft verfügen. Da eine logistische Regression auf das Bildungsniveau als unabhängige und Dissonanz als abhängige Variable nur marginale Erklärungskraft besaß,34 wurden verschiedene alternative Modellierungen mit Interaktionseffekten gerechnet. Das Modell mit dem besten „Fit“ enthält eine dummy-codierte Bildungsvariable, die zwischen Personen mit höchstens Realschulabschluss auf der einen Seite und Personen mit mindestens Abitur auf der anderen Seite unterscheidet.35 Zur Bildung des Interaktionseffektes wurde dieser Dummy mit der dichotomisierten Parteipräferenz multipliziert. Da zur Überprüfung potentieller Interaktionseffekte vor dem eigentlichen Interaktionsterm auch die miteinander interagierenden Variablen einzeln in die Analyse eingehen sollen, wurden pro Erhebung drei Partialmodelle gerechnet. Modell 1 enthält nur die dichotomisierte Parteipräferenz, Modell 2 zusätzlich die dummy-codierte Bildungsvariable und Modell 3 zudem deren Produkt. Tabelle 8 weist die exponierten ß-Koeffizienten sowie die erklärte Varianz aller drei Modelle nach getrennten Erhebungszeitpunkten aus.

34 Die erklärte Varianz (Nagelkerke’s R2) lag zu beiden Erhebungszeitpunkten nur bei etwa 3 Prozent (nicht dargestellt). 35 Neben diesem Modell wurden drei weitere Varianten der Bildungsvariable getestet, die aber allesamt geringere Erklärungskraft besaßen: 1) die aus Tabelle 5 bekannte Differenzierung zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern; 2) eine Dichotomisierung in Gymnasiasten und Nicht-Gymnasiasten unter Ausschluss der Akademiker; 3) eine Dichotomisierung in Personen, die höchstens einen Hauptschulabschluss besitzen und Akademiker unter Ausschluss der Personen mit Realschulabschluss und Abitur.

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Dominik Becker | Dahinter steckt meistens ein kluger Kopf

Konstante Parteipräferenz Bildung Interaktion Partei*Bildung Nagelkerke’s R²

Erhebungszeitpunkt 1985 Modell 1 Modell 2 0,39*** 0,31*** 8,24*** 8,09*** 1,70**

Modell 3 0,40*** 4,75*** 0,95

Erhebungszeitpunkt 2005 Modell 1 Modell 2 0,54*** 0,53*** 4,42*** 4,42*** 1,06

Modell 3 0,67*** 2,83*** 0,68

0,29

3,55*** 0,32

0,16

2,26*** 0,17

0,30

0,16

Tabelle 8: Dissonante Leitmediennutzung als Interaktionseffekt. 1985: n = 601 (17.753 fehlend); 2005: n = 1033 (29.970 fehlend). Signifikanzniveau der Konfidenzintervalle (zweiseitig): p < 0,05*; p < 0,01**; p < 0,001***.

Es wird deutlich, dass die dichotomisierte Parteipräferenz auch im Endmodell einen signifikanten Effekt auf die Auswahl eines linken bzw. rechten Leitmediums besitzt. Leitmediennutzer greifen 1985 4,8mal und 2005 2,8mal häufiger zu einem Leitmedium, das ihrer Parteipräferenz entspricht, als zu einem, das ihr nicht entspricht. Sowohl an den 2005 im Vergleich zu 1985 sinkenden Koeffizienten als auch an der geringeren Erklärungskraft (gemessen an Nagelkerke’s R2)36 bestätigt sich der schon in Tabelle 7 gewonnene Eindruck, dass der Konsonanzeffekt insgesamt an Bedeutung verliert. Während die dummy-codierte Bildungsvariable zu keinem der beiden Erhebungszeitpunkte einen signifikanten Effekt besitzt, lässt sich hingegen beide Male ein signifikanter Interaktionseffekt aus dichotomisierter Parteipräferenz und Bildungsdummy nachweisen. Dessen positiver Wert besagt, dass bei Leitmediennutzern mit Abitur oder Hochschulabschluss der Konsonanzeffekt stärker ist als bei Leitmediennutzern mit höchstens Realschulabschluss. Die kohortenspezifische Untersuchung dieses Phänomens, das zunächst eher für H4b und gegen H4a spricht, gestaltet sich als ausgesprochen schwierig, da die bisherige Einteilung der betreffenden Variable in Fünf-JahresKohorten für die Untersuchung des Interaktionseffektes zu geringe Zellhäufigkeiten aufweist. Daher wurden stets vier der ursprünglichen Fünf-Jahres-Kohorten zu einer jeweils zwanzig Jahrgänge umfassenden Kohortengruppe zusammengefasst. Tabelle 9 weist die exponierten ß-Koeffizienten der nach Kohortengruppen und Erhebungszeitpunkten getrennt berechneten logistischen Regressionen aus.

36 Nagelkerke’s R2 kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen und gibt an, wie gut eine oder mehrere unabhängige Variablen die Varianz der abhängigen Variablen erklären. Ein R-Quadrat von 0,29 entspricht in Modell 1 des Jahres 1985 besagt, dass allein die dichotomisierte Parteipräferenz 29 Prozent der Varianz der Tatsache erklären kann, zu den Linkslesern oder zu den Rechtslesern zu zählen.

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Dominik Becker | Dahinter steckt meistens ein kluger Kopf Erhebungszeitpunkt 1985 Partei

Bildung

Interaktion Partei*Bildung G1 2,47E+009 2,61E+18 0,00 G2 4,63*** 1,12 6,08 G3 5,05*** 1,25 1,95 G4 3,91** 0,60 5,50* G5

Erhebungszeitpunkt 2005 Nagelkerke’s R² 0,54 0,36 0,27 0,30

Partei

Bildung

Interaktion Partei*Bildung

Nagel-kerke’s R²

0,00 5,42*** 3,98*** 0,87

0,00 1,13 1,00 0,34

1,74E+009 1,73 1,04 9,29***

0,18 0,26 0,14 0,17

Tabelle 9: Dissonante Leitmediennutzung als kohortenbedingter Interaktionseffekt. 1985: n = 601 (17.753 fehlend); 2005: n = 1033 (29.970 fehlend). Signifikanzniveau der Konfidenzintervalle (zweiseitig): p < 0,05*; p < 0,01**; p < 0,001***. G1: Kohortengruppe K1-K4 (Geburtsjahr 1891-1910); G2: Kohortengruppe K5-K8 (Geburtsjahr 1911-1930); G3: Kohortengruppe K9-K12 (Geburtsjahr 1931-1950); G4: Kohortengruppe K13-K16 (Geburtsjahr 1951-1970); G5: Kohortengruppe K17-K20 (Geburtsjahr 1971-1990).

Bezüglich der generellen Konsonanzneigung kann mit großer Vorsicht ausgesagt werden, dass die Konsonanzneigung im Lebensverlauf leicht zuzunehmen scheint: Innerhalb derselben Kohortengruppen besitzt die Parteipräferenz im Jahr 2005 einen größeren Effekt als im Jahr 1985. Entsprechend ist die Erklärungskraft, wieder gemessen an Nagelkerkes R-Quadrat, 1985 durchweg besser als als 2005. Weiterhin ist zu beiden Erhebungszeitpunkten der Effekt der Parteipräferenz in den vergleichsweise älteren Kohortengruppen stärker als in vergleichsweise jüngeren Kohortengruppen. Demgegenüber kommt der Interaktionseffekt nur in der jeweils jüngsten Kohortengruppe zum Tragen, was bedeutet, dass dort ein hoher Bildungsgrad der allgemein rückläufigen Entwicklung hinsichtlich konsonanter Bindungserscheinungen verstärkt entgegenwirkt. Da der Interaktionseffekt zu beiden Erhebungszeitpunkten die jeweils jüngste Kohortengruppe betrifft, scheint es sich hierbei eher um ein alters- denn ein kohortenspezifisches Phänomen zu handeln.

4

Zusammenfassung und Interpretation

Der vorliegende Beitrag widmete sich zwei übergeordneten Fragenkomplexen: Im ersten Fragenkomplex wurde zur Erörterung gestellt, inwieweit die Auswirkungen der Bildungsexpansion im Zusammenhang mit der Nutzung von Qualitätszeitungen stehen (wobei der diffuse Begriff der Qualitätszeitung nachfolgend durch den an den Kriterien von Wilke orientierten Begriff des Leitmediums substituiert wurde). Für den generell als bestätigt geltenden Zusammenhang zwischen dem individuellen Bildungsniveau und der Nutzung von Leitmedien wurde dem Komplexitätsproblem der Systemtheorie Luhmanns das Konzept der integrativen Komplexität von Suedfeld und Vernon gegenüber gestellt, daraus die geläufige Hypothese eines positiven Bildungseffekts abgeleitet (H1) und diese mit den Media-Analyse-Daten erstmalig auch

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im Längsschnitt getestet. Außerdem wurde im Anschluss an die These der ‚kognitiven Mobilisierung‘ von Inglehart postuliert, dass jene Kohorten, die von der Bildungsexpansion besonders profitiert haben, eine verstärkte Nutzung von Leitmedien erkennen lassen werden (H2). Der zweite Fragenkomplex widmete sich der aus Heiders Balance-Theorie abgeleiteten Konsonanzthese. Im Anschluss an existierende Studien und unter erneutem Rückgriff auf das Komplexitätsproblem wurde auch hier vermutet, dass Personen eher ein ihrer Parteipräferenz entsprechendes Leitmedium nutzen (H3). Bezogen auf die Bildungsexpansion wurden zwei konkurrierende Hypothesen formuliert: Entweder nimmt bei Personen aus Kohorten, die von der Bildungsexpansion profitiert haben, der Konsonanzeffekt eher ab, weil sie aufgrund ihrer höheren kognitiven Kompetenz eher zur Toleranz bestandsbedrohender kognitiv unbalancierter Zustände befähigt sind, wie sie die Lektüre von der eigenen Parteipräferenz zuwiderlaufenden Leitmedien hervorrufen sollten (H4a). Oder aber der Konsonanzeffekt nimmt bei ihnen weiter zu, weil ihre höhere kognitive Kompetenz sie in höherem Maße zur Wahrnehmung von Wertunterschieden zwischen ihrer eigenen Position und der des betreffenden Leitmediums befähigt. Mit den zu Analysezwecken auf westdeutsche Befragte beschränkten Daten der Media Analyse 1985 bzw. 2005 wurde zunächst eine Gabelung der Bildungsexpansion in eine sich auf die zwischen den Jahren 1936 und 1960 Geborenen beschränkende Akademikerexpansion und eine für alle nach 1936 Geborenen kontinuierlich verlaufende Abiturientenexpansion ermittelt. Zugleich konnte ein sich mit der Akadamikerexpansion weitestgehend deckender kohortenbedingter Anstieg der Leitmediennutzung ausgemacht werden. Eine bivariate logistische Regression ergab, dass nicht nur ein zu beiden Erhebungszeitpunkten geltender kohortenunabhängiger Chancenvorteil von Akademikern gegenüber Nicht-Akademikern hinsichtlich der Nutzung von Leitmedien besteht (H1 sich somit bestätigt), sondern dass jener Chancenvorteil zusätzlich sowohl einem Inter- als einem Intrakohortenwandel unterliegt: Der Chancenvorteil von Akademikern aus jüngeren Kohorten ist zu beiden Erhebungszeitpunkten kleiner als der von Akademikern aus älteren Kohorten (Interkohortenwandel). Weiterhin nimmt innerhalb nahezu jeder Kohorte jener Chancenvorteil im Zeitverlauf zu (Intrakohortenwandel). Die Kongruenz der Verläufe des Anteils an Leitmediennutzer auf der einen und der Akademikerexpansion auf der anderen Seite spricht zusammen mit der Signifikanz der entsprechenden Regressionskoeffizienten sowie dem ermittelten Interkohortenwandel eher für als gegen Hypothese H2. Dennoch besteht gerade bei einer Untersuchung von nur zwei Erhebungszeitpunkten stets das Problem der perfekten Kollinea-

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rität zwischen Alter, Periode und Kohorte.37 Anders ausgedrückt, könnte der mutmaßliche Kohorteneffekt in Wahrheit auf einer Kombination aus Altersund Periodeneffekten beruhen. Solange diese methodischen Einwände nicht ausgeräumt werden können38, kann das Ergebnis nicht abschließend als Kohorteneffekt gewertet werden. Nach der Dichotomisierung der Parteipräferenz in eine linke (SPD/Grüne) und eine rechte (CDU/FDP) Präferenz konnte die Konsonanzhypothese (H3) zwar für beide Erhebungszeitpunkte bestätigt werden, zugleich aber wurde ermittelt, dass der Konsonanzeffekt im Zeitverlauf immer schwächer wird: Der Anteil dissonanter Leser steigt nicht nur von 1985 bis 2005 insgesamt an, sondern ist auch bei den jüngeren Kohorten des Jahres 2005 stärker ausgeprägt als bei den zum Erhebungszeitpunkt 1985 Gleichaltrigen. Eine nach Erhebungszeitpunkten getrennt durchgeführte logistische Regression konnte nachweisen, dass der Effekt der dichotomisierten Parteipräferenz auf die Lektüre linker bzw. rechter Leitmedien zu beiden Erhebungszeitpunkten signifikant ist. Ferner besteht ein positiver Interaktionseffekt zwischen der dichotomisierten Parteipräferenz und einer in die Kategorien „mindestens Abitur“ vs. „höchstens Realschulabschluss“ unterteilten Bildungsvariable. Mit dem Bildungsgrad steigt folglich nicht, wie in H4a implizit enthalten, die Tendenz zu dissonanter Leitmedienlektüre, sondern, wie in H4b implizit enthalten, die Tendenz zu konsonanter Leitmedienlektüre. Aufgrund der zu vermeidenden Modelldegeneration konnten die zur Prüfung des Interaktionseffekts geschätzten logistischen Regressionen nur für größere Kohortengruppen berechnet werden. Da zu beiden Erhebungszeitpunkten nur bei der jeweils jüngsten Kohortengruppe ein hoher Bildungsabschluss die Konsonanzneigung signifikant verstärkt, scheint es sich eher um einen Alterseffekt als um einen Kohorteneffekt zu handeln – was eher gegen als für Hypothese H4b spricht. Auch dies kann jedoch erst nach der Beseitigung des AKP-Identifikationsproblems – etwa durch Berücksichtigung sozialer Gegebenheiten als Makroeffekte39 – abschließend geklärt werden.

37 Vgl. Andreß u.a.: Analyse von Tabellen und kategorialen Daten, S. 358. 38 Als die überzeugendste Lösung des sog. APK-Identifikationsproblems (vgl. Glenn: Cohort Analysis) gilt die Ersetzung der Determinanten „Periode“ und „Kohorte“ durch zum betreffenden Zeitpunkt vorherrschende soziale Gegebenheiten (vgl. Coenders/Scheepers: Ablehnung der sozialen Integration von Ausländern, S. 205f.). Dies mag mit der Arbeitslosenquote in den prägenden Jahren als Operationalisierung eines Kohorteneffekts für das Ausmaß an Fremdenfeindlichkeit funktionieren (vgl. ebd.), eine ähnliche Modellierung für die Bildungsvariable scheint indes problematisch. 39 Vgl. Anm. 38.

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Thomas Ernst/Dirk von Gehlen

Vom universellen zum vernetzten Intellektuellen. Die Transformation einer politischen Figur im Medienwandel von der Buchkultur zum Internet Im Februar 2000 erschien im Satiremagazin Titanic unter dem Titel Deutschland, Deine Dichter! eine Bild-Text-Collage, auf der Schwedens König Carl Gustav und Günter Grass, beide im Frack, bei der Überreichung des Literatur-Nobelpreises im Jahre 1999 an Grass abgebildet sind. Sie reichen sich die Hand und verbeugen sich leicht voreinander. Doch während Grass euphorisch „Vielen, vielen Dank!“ sagt, grummelt der schwedische König: „Laß endlich los, is’ schon Februar.“1 Diese Collage spielt mit der allgemeinen Annahme, dass literarische Intellektuelle noch immer eine öffentliche Bedeutung beanspruchen, deren Zeit schon längst abgelaufen ist. Grass gilt als einer derjenigen Vertreter der Gruppe 47, die – neben anderen Autoren wie Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Peter Handke, Martin Walser oder Peter Weiss – durch ihre literarische Tätigkeit in den 1960er Jahren auch in der medialen Öffentlichkeit als Intellektuelle politische Debatten beeinflusst haben. Während Bachmann, Böll und Weiss schon in den 1970er und 1980er Jahren starben, beklagen sich Handke (Gerechtigkeit für Serbien, 1996) und Walser (Paulskirchenrede, 1998) inzwischen darüber, dass ihr öffentliches und auf literarischen Textsorten fußendes Engagement von den Medien missverstanden werde. Günter Grass’ Versuch, zur Unterstützung der rot-grünen Koalition vor der letzten Bundestagswahl eine Gruppe ’05 mit jüngeren Autoren wie Benjamin Lebert (*1982) oder Eva Menasse (*1970) zu gründen, wurde medial kaum mehr wahrgenommen. Alle Intellektuellen sind zur Legitimation ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen Position auf Voraussetzungen wie die Existenz einer demokratischen Öffentlichkeit, das Funktionieren des medialen Systems oder ihre Selbstinszenierung als ‚authentisch‘ angewiesen – wobei diese Kategorien einem starken gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind. Im Folgenden möchten wir uns auf die medialen Voraussetzungen des Intellektuellen-Diskurses konzentrieren und darstellen, inwiefern sich die politische Figur des Intellektuellen im Wandel vom einstmals gesellschaftlich zentralen Leitmedium Buch zum heute populären Universalmedium Internet verändert hat, wobei wir im Kontext des

1

Becker: „Deutschland, Deine Dichter“.

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Thomas Ernst/Dirk von Gehlen | Vom universellen zum vernetzten Intellektuellen

vorliegenden Aufsatzes unter dem Medium Buch vor allem die distribuierte Form ästhetisch-literarischer Schriften verstehen. Dabei gehen wir davon aus, dass die Etablierung des universellen Intellektuellen im Verlauf des 20. Jahrhunderts an das bildungsbürgerliche Schrift- und Leitmedium Literatur gebunden war. Der Typus des universellen Intellektuellen, der im Namen der Menschenrechte für die gesamte Gesellschaft spricht, erlebte seine letzte Hochphase in den 1960er Jahren. Seit den 1970er Jahren hat die Buchkultur ihre – insbesondere durch das Bildungsbürgertum gestützte – kulturelle Leitfunktion verloren und somit auch die germanistische Literaturwissenschaft in eine Legitimationskrise gestürzt. Parallel zu diesem Bedeutungsverlust der Buchkultur hat sich die Medienwissenschaft etabliert und bevorzugt Massenmedien wie Radio und Fernsehen zugewandt, in denen die öffentliche Selbstinszenierung intellektueller Figuren anderen Regelsystemen unterworfen wurde. Zudem ist seit den 1970er Jahren unter Bezugnahme auf die postmoderne Zersplitterung der Gesellschaft, den Verlust eines kollektiven Wertekanons oder das Ende der politischen Utopien vielfach das Verschwinden der Intellektuellen proklamiert worden. Die intellektuelle Rede, so fasst Georg Jäger im Jahre 2000 pessimistisch zusammen, drohe „im Zeitalter des Wertepluralismus und Kulturrelativismus der Beliebigkeit anheimzufallen.“2 Wir werden jedoch zu zeigen versuchen, dass das Konzept des universellen Intellektuellen durch die gesellschaftlichen und medialen Veränderungen zwar obsolet geworden ist, dass sich jedoch mit dem vernetzten Intellektuellen im Universalmedium Internet (das verschiedene Medien wie Audio, Video und das für den Intellektuellen-Diskurs zentrale Medium Schrift in sich vereint) eine neue Figur etabliert hat, die den politischen Diskurs über ihre mediale Selbstinszenierung zu beeinflussen versucht. Dabei spricht der vernetzte Intellektuelle allerdings nicht mehr für die gesamte Gesellschaft, sondern für einzelne Milieus oder Szenen, und er inszeniert sich nicht mehr als genialischer Autor, sondern als gleichberechtigter Teil einer in intensivem kommunikativem Austausch stehenden Community. Letztlich möchten wir somit zeigen, dass und wie der Medienwandel auch die Konzepte politischer Einflussnahme in demokratischen Gesellschaften modifiziert. Zunächst werden wir uns grundsätzlich zur Transformation der Gutenberg-Galaxis und der Ausbreitung des Internets positionieren. Dabei werden wir kontrastiv den literaturwissenschaftlichen und den medienwissenschaftlichen Diskurs über Leitmedien und Medienwandel diskutieren, denn im Kontext dieses medienwissenschaftlichen Sammelbandes schreiben wir aus der Perspektive der journalistischen Praxis und der Literaturwissenschaft (1). Anschließend werden wir die Literatur als bildungsbürgerliches Leitmedium und 2

Jäger: „Der Schriftsteller als Intellektueller“, S. 24.

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die von ihr legitimierte Figur des universellen Intellektuellen am Beispiel von Émile Zola, Jean-Paul Sartre und der Gruppe 47 beschreiben (2). Im dritten Schritt wird das Internet als populäres Universalmedium und die neue Figur des vernetzten Intellektuellen am Beispiel von Cory Doctorow dargestellt (3). Schließlich werden wir die Ergebnisse unserer Untersuchung als eine Entwicklung vom universellen zum vernetzten Intellektuellen zusammenfassen (4).

1

Die Transformation der Gutenberg-Galaxis und die Ausbreitung des Internets. Leitmedien und Medienwandel

Seit den 1960er Jahren befindet sich die germanistische Literaturwissenschaft in einer anhaltenden Legitimationskrise: Nicht nur ihre Selbstbestimmung als Nationalphilologie steht angesichts der kulturellen, ökonomischen und medialen Globalisierung in Frage, sondern auch ihr Gegenstand und dessen gesellschaftliche Relevanz. Historisch sah dies anders aus, formierte sie sich doch im 18. Jahrhundert als akademische Legitimationsinstanz der nationalstaatlichen Konstruktion Deutschlands, die damals vom Bürgertum getragen und im entstehenden Erziehungsapparat umgesetzt wurde: „Allgemeine Schulpflicht“, so Friedrich Kittler, „überzog die Leute mit Papier.“3 Bis heute besitzt die bildungsbürgerlich-humanistische Überzeugung, dass eine Gesellschaft ihre gemeinsamen Werte nicht bewahren könne, wenn sie sich nicht an einem Kanon literarischer Klassiker orientiert, in Teilen der Germanistik einen hohen Stellenwert. Die Geltungsmacht des literarischen Bildungskanons wird in anderen Bereichen zwar zunehmend problematisiert, jedoch nicht aufgegeben;4 die medienwissenschaftlichen Methoden werden zur Kenntnis, jedoch nicht wirklich ernst genommen. Der Literaturwissenschaftler Achim Geisenhanslüke versieht beispielsweise 2003 seine höchst erfolgreiche Einführung in die Literaturtheorie mit dem Untertitel Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft, in seinem Fazit bezeichnet er diese Entwicklung jedoch als „problematisch“ und zitiert mit Hartmut Böhme den „‚allseitigen Dilettantismus‘“, den eine solche „Auflösung der Literaturwissenschaft“5 mit sich brächte. Im Gegensatz dazu übergeht die deutlich jüngere und erst im Verlaufe des 20. Jahrhunderts etablierte Medienwissenschaft die Buchkultur weitestgehend und wendet sich primär den Massenmedien wie Radio, Zeitungen, Fernsehen und Computern zu. Dabei entwickelt sie allerdings mitunter paradoxe Bestim3

Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 17.

4

Vgl. Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur; Bogdal/Kammler: (K)ein Kanon.

5

Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie, S. 144.

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mungen von Leitmedien wie beispielsweise jene von Jürgen Wilke, der einerseits verschwörungstheoretisch darauf verweist, dass die meisten politischen Entscheidungen in Deutschland von einem kleinen Elitezirkel von „559 Personen“ getroffen würden, und dass deshalb jedes Medium – in diesem Fall auch das Medium Buch – zum Leitmedium werden könne, wenn es „solche Kreise und Personen bevorzugt erreicht“ und einen „herausragenden Ruf“ als Prestigemedium genieße.6 Andererseits weisen jedoch seine anderen Kategorien zur Bestimmung eines Leitmediums eindeutig vom Buch weg und in Richtung tagesaktueller Massenmedien wie Radio, Zeitungen und Fernsehen: Wilke nennt die starke Verbreitung und hohe Auflagenzahlen, die Nutzung des Mediums durch Journalisten, seine Zitierhäufigkeit und seine publizistische Intention als weitere Kategorien. Unserer Auffassung nach kann jedoch die literarische Buchkultur – aufgrund ihrer zentralen Rolle im (insbesondere gymnasialen) Bildungssystem – für die Zeit vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hinein als ein Leitmedium beschrieben werden, dessen Wirkung jedoch vor allem im Bildungsbürgertum groß war und von diesem als zentrales Distinktionsmerkmal genutzt wurde. Die Entstehung und Festigung des deutschen Nationalstaats und seines normativen bildungsbürgerlichen Zentrums lässt sich ohne die Funktion der klassischen Literatur nur bedingt beschreiben. Im Schul- und Universitätssystem hat sich seit den 1960er Jahren, im Medienbetrieb jedoch bereits deutlich früher, die einst zentrale Bedeutung des Mediums Buch relativiert. Marshall McLuhan setzt 1962 den Übergang von der Gutenberg-Galaxis der reproduzierten Schrift – als Voraussetzung für die Verbreitung und Durchsetzung von Aufklärung, Öffentlichkeit und dem Konzept des Nationalstaats seit dem 15. Jahrhundert – zum elektronischen Zeitalter im Verlauf des 20. Jahrhunderts an. Friedrich Kittler stellt in Grammophon, Film, Typewriter fest, dass die Monopolstellung des Mediums Schrift bereits um 1880 durch die Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift verloren gegangen und inzwischen zu einem Ende gekommen sei, denn „ein Jahrhundert hat genügt, um das uralte Speichermonopol von Schrift in eine Allmacht von Schaltkreisen zu überführen.“7 Norbert Bolz hat sich in den 1990er Jahren McLuhans altbekannte These vom Ende der Gutenberg-Galaxis angeeignet und noch einmal den Übergang vom Leitmedium Buch zum Leitmedium Computer proklamiert: Die Bildungsstrategien der Gutenberg-Galaxis haben ausgespielt. Die Kinder der neuen Medienwelt beugen sich nicht mehr über Bücher, 6

Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, S. 302f.

7

Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 33.

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sondern sitzen vor Bildschirmen. […] Auch wer noch traditionell schreibt, schreibt doch im Grunde keine Bücher mehr, sondern Mosaike aus Zitaten und Gedankensplittern.8 Bolz und Kittler erklären nicht nur den Geltungsanspruch des statischen Schriftspeichermediums Literatur für verloren, sie widersprechen zudem den traditionellen hermeneutischen Vorstellungen von der Autonomie des literarischen Kunstwerks und der genialischen Schöpfungskraft des Urhebers, wie sie in der Literaturwissenschaft lange Zeit zentral standen. Nicht der Autor produziert mit Hilfe eines Mediums ‚seinen‘ Text, vielmehr bestimmt das Medium die Erscheinungsform von Text und Autor: „Unser Schreibzeug arbeitet nicht nur an unseren Gedanken mit, es ist ein Ding gleich mir.“9 Während die Literaturwissenschaft zunehmend danach fragt, inwiefern die neueren Medien literarische Schreibweisen beeinflussen – insbesondere der Bereich der häufig intermedial arbeitenden Popliteratur wird vor diesem Hintergrund betrachtet –, können umgekehrt auch neuere Medien wie das Internet befragt werden, inwiefern sie literarische Konzepte archivieren, modifizieren oder transformieren. Die Durchsetzung neuer Medien führt nicht zu einem Verschwinden der alten, sondern vielmehr zu einer gegenseitigen Modifikation: Der Film hat nicht die Fotografie zum Verschwinden gebracht, der Computer nicht das Buch und das Internet nicht die Tageszeitung. Die Erscheinungsformen und die gesellschaftliche Relevanz der alten Medien haben sich jedoch geändert. Dass sich ein Wandel vom bildungsbürgerlichen Leitmedium Literatur hin zur Vorherrschaft des digitalen Universalmediums Internet vollzogen hat, steht außer Frage. Doch schon für die Zeit vor der Durchsetzung des Mediums Internet konstatiert Klaus-Michael Bogdal – ausgehend von literatursoziologischen Untersuchungen – einen Verlust der bildungsbürgerlichen Mitte. In der Bundesrepublik Deutschland sei von der Nachkriegszeit bis in die frühen 1970er Jahre hinein „ein relativ homogenes soziales Feld auszumachen“ gewesen, „in dessen Grenzen Literatur geschrieben, distribuiert und rezipiert wurde“ und das als Dreieck zwischen FAZ, Zeit und Frankfurter Rundschau zu beschreiben gewesen sei. Ein „vergleichbares hegemoniales Zentrum“ lasse sich „in der gegenwärtigen Sozialstruktur nicht mehr finden“,10 weshalb die Wirkung literarischer Texte „zunehmend durch den Lebensstil eines Milieus begrenzt wird“,11 und sich Bogdal zufolge das Feld der Gegenwartsliteratur als

8

Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis, S. 200f.

9

Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 299.

10 Bogdal: „Klimawechsel“, S. 11. 11 Ebd., S. 19.

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eine Klimaanlage mit verschiedenen Gänge, d.h. eigentlich Szenen, beschreiben lässt. In einer dieser neuen Szenen wird in Büchern wie Print is Dead von Jeff Gomez geblättert und gelesen, dass das Buch als gedrucktes Medium in Fragen der Umsätze bereits vor Jahren von den neuen Medien überholt wurde. Gomez zitiert Georg P. Landows Aussage: Die Verkaufszahlen von Büchern und anderen gedruckten Medien, die Jahrhunderte lang die zentrale Technologie des kulturellen Gedächtnis waren, sind auf die vierte Position zurückgefallen – hinter den Verkaufszahlen von Fernsehen, Kino und Video Games.12 Diese Einschätzung bezieht sich auf das Jahr 1996. Ein Jahr später begann die ARD-ZDF-Onlinestudie, die positiv feststellt: „Kein Medium hat sich schneller verbreitet als das Internet“,13 und dann aufzeigt, wie rasant der Anteil von Internet-Nutzern in Deutschland von 6,5 Prozent im Jahre 1997 auf knapp 63 Prozent im Jahr 2007 gestiegen ist. Zwar überschreiten die Wachstums- und Investitionsraten des Mediums Internet jene des Buches bei weitem, doch es kann nicht von einem abrupten Ende der Gutenberg-Galaxis und dem Beginn von etwas völlig Neuem im digitalen Medium Internet gesprochen werden. Jeff Gomez verweist darauf, dass die Durchsetzung des Internets die medialen Interessen der jüngeren Generationen und ihre Selbstbilder verschieben wird: For most writers today over the age of thirty, it was the discovery of books – and their own hunt for interesting-looking volumes in bookstores – that made them want to be writers in the first place. Yet for the new generation who gets all of its information over the internet, inspiration is coming from elsewhere.14 Die meisten literarischen Schriftformen im Internet stellen zudem keine neuen, sondern lediglich modifizierte Schreibweisen dar, die sich direkt auf aus der Literaturwelt bekannte Verfahren beziehen, wie Literaturarchive, Hyperlink-Texte, interaktive Mitschreibprojekte, Autorennetzwerke oder Weblogs. Peter Gendolla und Jörgen Schäfer stellen entsprechend fest, dass (fast) alle Varianten der Netzliteratur für „Transformationen des Literatursystems stehen“ und

12 Gomez: Print is Dead, S. 13. 13 Vgl. Gerhards/Mende: „ARD-ZDF-Onlinestudie 2007“, S. 379. 14 Gomez: Print is Dead, S. 14.

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als „technisch fortgeschrittenste Medienmaschine“ die mechanischen Verfahren der literarischen Prozesse fortsetzen.15 Vor diesen Hintergründen gehen wir von der These aus, dass die Figur des Intellektuellen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in der deutschen Medienöffentlichkeit zentral war und deren Legitimation an das Medium Literatur geknüpft wurde, nicht völlig verschwunden ist, sondern auch im Medium Internet existiert, allerdings in modifizierter Form. Hierzu werden wir zunächst die Konstruktion und Legitimation des universellen Intellektuellen innerhalb der literarischen Buchkultur des Bildungsbürgertums darstellen (2), anschließend seine Modifikation zum vernetzten Intellektuellen im Universalmedium Internet (3).

2

Der universelle Intellektuelle. Die literarische Buchkultur als bildungsbürgerliches Leitmedium

Erst im 18. Jahrhundert bildet sich der Typus des freien Schriftstellers heraus, der Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige gesellschaftliche Rolle zugewiesen bekommt. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich zunehmend dadurch aus, dass sie in verschiedene Wertsphären – Religion, Politik, Recht, Wissenschaft und Kunst – differenziert ist, deren Regelsysteme nur noch in ihren jeweiligen Sphären Geltung erlangen. Das entstehende Vakuum wird von den Schriftstellern besetzt, die sich – allerdings primär innerhalb des Bildungsbürgertums, das sich pars pro toto für die Gesellschaft stellt – als Vertreter universeller und verbindlicher Werte inszenieren, die über den autonomen Gesellschaftsfeldern stehen. Im Diskurs über den Intellektuellen (von lat. intellectus: Innewerden, Wahrnehmung, Erkenntnis)16 steht das Jahr 1898 und das Engagement des französischen Schriftstellers Émile Zola in der Dreyfus-Affäre zentral: Zolas offener Brief J’accuse, der sich an den Staatspräsidenten wendet und die antisemitischen und reaktionären Hintergründe des Prozesses anklagt, ist der Gründungsakt der Intellektuellen-Figur.17 Für Georg Jäger zeigen sich in Zolas Handeln pro15 Gendolla/Schäfer: „Auf Spurensuche“, S. 81. Als einziges qualitativ fundamental neues literarisches Verfahren beschreiben sie die automatische Generierung literarischer Texte mit Hilfe von Software, die den Menschen als Schöpfer neuer Texte fast völlig aus dem Produktionsprozess verschwinden lässt. 16 Vgl. zum Diskurs über den Intellektuellen im 20. Jahrhundert auch: GilcherHoltey: Zwischen den Fronten; Schlich: „Geschichte(n) des Begriffs ‚Intellektuelle‘“. 17 In der Geschichtswissenschaft werden häufig auch frühere Autoren wie Voltaire oder Heinrich Heine als Intellektuelle bezeichnet; die Entstehung des Begriffs ist

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totypisch die Merkmale, die in der Zukunft den Begriff des schriftstellerischen Intellektuellen bestimmen sollten: -

Ein Schriftsteller setzt sein Ansehen ein, um sich in einem konkreten Fall politisch zu engagieren.

-

Er tut dies im Namen allgemeiner aufklärerischer Werte wie der Wahrheit […] und der republikanischen Grundwerte […].

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Der Schriftsteller bedient sich der Medien, um Öffentlichkeit herzustellen, und setzt dabei spezifische publizistische und rhetorische Mittel ein (Offener Brief, Appell, Erklärung, Resolution, Gruppenmanifest).

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Der Schriftsteller bewährt sein Engagement, indem er persönlich die Konsequenzen trägt (Verurteilung, Exil).18

Auch in Deutschland schalten sich freie Schriftsteller (und zunehmend auch Wissenschaftler und andere hochgebildete Berufsgruppen, die in der folgenden Argumentation jedoch ausgeblendet werden) als Intellektuelle in öffentliche Debatten ein, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg und in der von radikalen politischen Kämpfen zerrissenen Weimarer Republik. Zahlreiche deutsche Intellektuelle wie u.a. Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Erika, Heinrich, Klaus und Thomas Mann, Nelly Sachs, Anna Seghers, Ernst Toller und Stefan Zweig müssen während des Nationalsozialismus emigrieren und nehmen ihre Funktion als Intellektuelle durch die Produktion literarischer und politischer Texte oder öffentliche Stellungnahmen aus dem Exil wahr. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus wird Jean-Paul Sartres Entwurf einer Littérature engagée von 1947 in Deutschland positiv aufgenommen. Sartre stellt fest, dass es eine unpolitische Literatur gar nicht geben könne, und weist dem Schriftsteller die moralische Verpflichtung zur Wahrnehmung seiner Intellektuellenrolle zu, denn der „engagierte Schriftsteller […] darf sich niemals sagen: ‚Ach was, allenfalls werde ich dreitausend Leser haben‘; sondern: ‚Was würde geschehen, wenn alle Welt läse, was ich schreibe?‘“19 Insbesondere die Gruppe 47 mit repräsentativen Autoren wie Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll und Günter Grass etabliert in den 1950er und 1960er Jahren den Typus des politisch und literarisch engagierten Intellektueljedoch an Émile Zolas Engagement gebunden, vgl. Schlich: „Geschichte(n) des Begriffs ‚Intellektuelle‘“, S. 6. 18 Jäger: „Der Schriftsteller als Intellektueller“, S. 15. 19 Sartre: Was ist Literatur?, S. 27.

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len in Westdeutschland, der sich in zahlreiche politische Debatten, z.B. gegen die Aufrüstung oder für die Pressefreiheit, einschaltet. Die Figur des Intellektuellen, der sich als Vertreter einer spezifischen gesellschaftlichen Gruppe, des Bildungsbürgertums, inszeniert, jedoch im Namen Aller zu sprechen vorgibt, wird während der anti-autoritären Studentenproteste radikal in Frage gestellt; ein Treffen der Gruppe 47 muss wegen der Tumulte sogar abgebrochen werden. Mit Jean-François Lyotard und Michel Foucault problematisieren zwei zentrale Denker der folgenden Dekaden die Figur des Intellektuellen und ihren Geltungsanspruch radikal. Foucault unterscheidet 1972 den klassischen Typus des universellen Intellektuellen vom Typus des spezifischen Intellektuellen. Die verschiedenen (wissenschaftlichen, juridischen, ökonomischen, politischen, künstlerischen etc.) Diskurse seien in einer Weise voneinander differenziert, dass es nicht mehr möglich sei, übergreifende Formen des Wissens und der Moral zu repräsentieren und daraus die Wahrheit der eigenen Rede abzuleiten. Es komme, so Foucault, den Intellektuellen nicht mehr zu, „sich an die Spitze oder an die Seite aller zu stellen, um deren stumme Wahrheit auszusprechen.“20 Vielmehr müssten die spezifischen Intellektuellen sich innerhalb ihrer Spezialdiskurse mikropolitisch engagieren und somit nicht durch den medialen Appell an universelle Moralvorstellungen, sondern durch die strategische Verschiebung der Machtverhältnisse in abgrenzbaren Arbeitsbereichen zur politischen Veränderung beitragen. Jean-François Lyotard wird eine Dekade später noch radikaler, indem er auch die Alternative des spezifischen Intellektuellen ablehnt. Unter dem Titel Grabmal des Intellektuellen stellt er 1983 fest, dass sich in der von ihm proklamierten Postmoderne und nach dem Ende der großen Erzählungen das Subjekt nur noch relational bestimmen lasse, es wird kursiv gesetzt – und steht also gleichsam auf schwankenden Beinen. Dem Intellektuellen wird es daher unmöglich, seine Rede als eine universell gültige zu legitimieren: Es dürfte also keine ‚Intellektuellen‘ mehr geben, und wenn es trotzdem noch welche gibt, so darum, weil sie blind sind gegenüber einem im Vergleich zum 18. Jahrhundert neuen Tatbestand in der Geschichte des Abendlandes: daß es kein universelles Subjekt oder Opfer gibt, das in der Wirklichkeit ein Zeichen gäbe, in dessen Namen das Denken Anklage geben könnte.21

20 Foucault in: Foucault/Deleuze: „Die Intellektuellen und die Macht“, S. 108. 21 Lyotard: Grabmal des Intellektuellen, S. 17.

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Gegen die „Obsession der Totalität“ plädiert Lyotard für die „Vielheit der Verantwortlichkeiten“ und für „Geschmeidigkeit, Toleranz und ‚Wendigkeit‘“.22 Steht der universelle Geltungsanspruch des Intellektuellen somit bereits seit den 1970er Jahren aufgrund seiner politischen, sozialen und theoretischen Problematisierung fundamental in Frage, so hat sich die mediale und historische Delegitimation des Intellektuellen seit der historischen Wende von 1989/ 90 noch verstärkt. Dass die Bedeutung der Massenmedien gegenüber der literarischen Buchkultur um ein Vielfaches zugenommen hat, hat konkrete Effekte für die Form des schriftstellerischen Engagements, wie Lothar Bluhm beschreibt: Selbst dort, wo der Ausgangspunkt [für intellektuelle Debatten] ein literarischer Text im engeren Sinne ist […], verschiebt sich die öffentliche Rede sehr schnell vom literarischen auf das gesellschaftlich-politische Feld.23 Die Autonomie der literarischen Sphäre ist verloren gegangen, das Spezifische der literarischen Sprache wurde bereits in den medialen Auseinandersetzungen um Elfriede Jelineks Text Lust (1989) oder Peter Handkes Essay Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996) kaum thematisiert.24 Der literarische Intellektuelle als Figur der Massenmedien könne nur noch als „Entertainer des Publikums“25 fungieren, so Georg Jäger. Tatsächlich verlässt die Literatur zunehmend ihre autonome Sphäre und gewinnt neue Märkte als auditive Literatur (Hörbuch), orale Literatur (Slam Poetry), visuelle Literatur (Poetry-Clips) oder als interaktive Literatur im Internet (Weblogs, Autorennetzwerke, Kollaborationen). Welche Effekte haben

22 Lyotard: Grabmal des Intellektuellen, S. 18. 23 Bluhm: „Standortbestimmungen“, S. 66. 24 Bluhm („Standortbestimmungen“, S. 70) erkennt in den feuilletonistischen ‚Literaturstreits’ um die intellektuellen Beiträge von Christa Wolf, Botho Strauß, Martin Walser und Peter Handke in den 1990er Jahren bereits die erodierte gesellschaftliche Position der Literatur: „Skeptisch stimmt, dass in allen Literaturstreits bei der Bewertung der Initialtexte die Fremdheit der poetischen Sprache gar nicht mehr angemessen Berücksichtigung fand […], da die Spezifik der literarischen Sprache im Streit kaum je wahrgenommen wurde; und sie hat schon gar keine Orientierungsfunktion gewinnen können. […] Wirklichkeit ist nur noch das, was plan, eindeutig und leicht rezipierbar ist.“ Vgl. exemplarisch zur Absorption der Jelinekschen Autorinszenierung durch den medialen Diskurs auch: Ernst: „Ein Nobelpreis für die Subversion?“, S. 200-202. 25 Jäger: „Der Schriftsteller als Intellektueller“, S. 24.

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diese Modifikationen der Literatur im Internet jedoch für die Figur des Intellektuellen? Gibt es einen solchen im Internet überhaupt? Und, wenn ja, worin besteht seine Differenz zum universellen Intellektuellen der Gutenberg-Galaxis?

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Der vernetzte Intellektuelle. Das Internet als populäres Universalmedium

Neuen Medien wird mit übertriebenen Heilserwartungen einerseits sowie mit einer abwehrenden Haltung andererseits begegnet. Otfried Jarren und Patrick Donges beschreiben auch für das Internet eine „enthusiastische Position“, die – ausgehend von Habermas’ Diskurstheorie der Öffentlichkeit – im Internet einen direkteren Draht zwischen Bevölkerung und Politik sowie mehr Partizipationsmöglichkeiten sieht, sowie eine „skeptische Position“26, die – orientiert an systemtheoretischen Modellen – davon ausgeht, dass die bestehenden Barrieren zwischen den Bürgern und der politischen Öffentlichkeit nicht technischer, sondern sozialer Natur sind, und zudem behauptet, dass das Internet ohne einen direkten Anschluss an die traditionellen Massenmedien keinen gesellschaftlichen Einfluss entwickeln werde. Jarren und Donges stützen die letztgenannte Position und beklagen sogar, dass „die Thematisierungsfunktion von Massenmedien […] im Internet durch die (scheinbare) Gleichrangigkeit und Gleichberechtigung aller Informationen verloren“27 geht. Im Gegensatz dazu verweist Raymund Werle gerade auf das „historisch gewachsene Modell des mündigen, verantwortungsbewussten Internetbürgers, der keine zentrale Organisation der Steuerung und Regulierung braucht.“28 Natürlich wäre es unterkomplex, wenn man dem Medium Internet mit komplettem Enthusiasmus oder aber reiner Skepsis begegnen würde. Notwendig ist es, seine Effekte auf den verschiedenen Feldern, in unterschiedlichen Kulturen und zu spezifischen Phasen seiner Entwicklung zu differenzieren. In diesem komplexen und widersprüchlichen Zusammenhang geht es uns um die Frage, inwiefern das populäre Universalmedium Internet, das die wichtigsten Medienentwicklungen der letzten Jahrhunderte (Schrift, Fotografie, Film, Radio) inkorporiert, in den westlichen Industrienationen der letzten fünf Jahre die Figur des literarischen Intellektuellen transformiert hat.

26 Jarren/Donges: Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft, S. 112f. 27 Ebd., S. 115. 28 Werle: „Zwischen Selbstorganisation und Steuerung“, S. 513 [Kursivsetzung beseitigt, T.E.].

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Will man über die Rolle des Intellektuellen im Internet sprechen, muss man zunächst einige technische Implikationen voran stellen, auf denen die Netzkultur und die Aufmerksamkeits-Ökonomie des Internet basieren und die damit Grundlage für jede Form von publizistischem Gewicht oder gar Autorität im Netz sind. Im Gegensatz zum Buch ist das World Wide Web ein vernetztes System, das durch Verweisstrukturen entsteht und auf hierarchische Einstiege oder Zugänge, die aus den klassischen Medien bekannt sind, verzichtet. Das Internet wird somit zum zentralen Medium der Informationsgesellschaft, die Manuel Castells auch als eine ,Netzwerkgesellschaft‘ beschreibt. Wenn heute, so Castells, Netzwerke die soziale Morphologie der Gesellschaft bilden, dann wird es gleichzeitig notwendig, „die Muster sozialer Interaktion mit Hilfe neuer technologischer Möglichkeiten und Mittel zu rekonstruieren“.29 Von seinen technischen Voraussetzungen her ist das Netz zunächst eine Verbindung von gleichwertigen Teilnehmern. Die Erhöhung durch ein Podium oder ein Katheder, die außerhalb des Netzes das Publikum vom Vortragenden trennt, muss im Internet nicht zwangsläufig vorhanden sein (wobei Systemadministratoren allerdings die Zugänge beschränken könnten und die Aufmerksamkeitsökonomien des World Wide Web indirekt für eine hierarchische Kommunikationsweise sorgen). Die Bestimmung dessen, was als intellektuell angesehen wird, folgt außerhalb des Netzes Regeln, die sich auf den intellektuellen Feldern der Buch- und Fernsehkultur etabliert haben. Pierre Bourdieu beschreibt Das intellektuelle Feld als den Ort, an dem symbolische Ausschlusshandlungen als Kehrseite jener Kämpfe vollzogen werden, die „eine bestimmte Definition der legitimen Praktik“ durchsetzen wollen und diese „als ewige und universelle Essenz […] postulieren“.30 Der Intellektuelle hat nicht nur Mechanismen einzuhalten, die von den Akteuren des Medien- oder Literaturbetriebs gefordert werden, er muss sich eine Autorität erarbeiten, die es ihm erlaubt, überhaupt gehört zu werden. Das Internet ordnet sein intellektuelles Feld nach anderen Mustern und ist in viel mehr Teilöffentlichkeiten zersplittert. Werle stellt fest, dass „in diesem großen dezentralisierten System keine autoritativen Instanzen“31 bestehen; um mit Bourdieu zu sprechen: Der Nomos des Feldes ist dissoziiert. Beat Suter beschreibt am Beispiel des Cyber-Punk, der Slam Poetry und der Netzliteratur diese „Tendenz zur Segmentierung“: eine neue Kunst- oder Literaturpraxis wird nicht mehr notwendig in ein bestehendes Kulturmilieu integriert als deren ‚Neues‘ […], son29 Castells: Das Informationszeitalter, S. 146. 30 Bourdieu: „Das intellektuelle Feld“, S. 159. 31 Werle: „Zwischen Selbstorganisation und Steuerung“, S. 515.

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dern sie bildet ein neues Kulturmilieu bzw. ein neues kulturelles Segment.32 Die selektierende Zustimmung eines Verlegers, Lektors oder Redakteurs, die in den hierarchischen Mechanismen des Medien- oder Literaturbetriebs vor allen Veröffentlichungen steht und deren Vielfalt zwangsläufig überschaubarer macht, wird im Internet in viel geringerer Weise wirksam. Wer sich öffentlich äußern möchte, kann dies beispielsweise auf einer eigenen Homepage oder durch eigene Kommentare in Weblogs oder Foren direkt machen. Das Internet stößt somit einen Demokratisierungsprozess an, der es – ab einem bestimmten Bildungs- und Sozialniveau, das allerdings niedriger liegt als beim Medium Buch – wesentlich einfacher macht, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen.33 Dieser Gewinn an Demokratie und Partizipation hat jedoch schnell auch Abgrenzungsbewegungen bei jenen ausgelöst, die bislang die Diskurshoheit auf dem intellektuellen Feld innehatten und nun eine Klage über die Qualität der Internet-Diskussionsbeiträge und die Gefährlichkeit der globalisierten Kommunikationsnetze für das demokratische Gemeinwesen anstimmen. Schon 1995 befürchtete in diesem Sinne Jürgen Habermas, dass die Computernetze verschiedene „territorial entwurzelte und voneinander segmentierte Öffentlichkeiten“ produzieren würden, die das öffentliche Bewusstsein „keineswegs kosmopolitisch erweiter[n], sondern hoffnungslos zersplitter[n]“34. Wie eine ‚self-fulfilling prophecy‘ klingt es nun, wenn sich 2009 – nach der weitgehenden Etablierung des Mediums Internet – der Zeit-Redakteur Adam Soboczynski auf Intellektuelle der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wie Ortega y Gasset oder Adorno bezieht und postuliert, dass die ‚wahren Intellektuellen‘ keinesfalls „in den Lobgesang einer bunten Welt von Teilöffentlichkeiten“ einstimmen dürften. Die universellen Intellektuellen der Gutenberg-Galaxis seien noch immer entscheidende Stabilisatoren der Demokratie und die einzigen, die „die Bedingungen der Staatsform […] zu reflektieren“ vermögen, sie ragten deshalb „aus der Mehrheitsdemokratie geistesaristokratisch heraus“35 und würden nun durch die Vorherrschaft des Internets bedroht.

32 Suter: „Literatur@Internet“, S. 201. 33 Diese Perspektive bezieht sich auf eine rein westliche Sicht des Netzes und trifft nur für jene sozialen Milieus zu, die sich einen Zugang zum Internet leisten können. Das Internet reproduziert sogar bestehende soziale Ungleichheiten, vgl. Zillien: Digitale Ungleichheit. 34 Habermas: „Aufgeklärte Ratlosigkeit“. 35 Soboczynski: „Das Netz als Feind“.

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Im Gegensatz zu diesen anachronistischen Verteidigungsreden für den universellen Intellektuellen konstatiert der linksengagierte Philosophieprofessor Wolfgang Fritz Haug ebenfalls 2009, dass „die hochtechnologischen Medien […] einen tiefen kulturgeschichtlichen Einschnitt“ bedeuten, mit dem jedoch nicht kulturpessimistisch umgegangen werden dürfe. Der 73-jährige Haug entdeckt im Internet vielmehr „autonome kommunikative Inseln, wo sich Unerschrockenheit und Witz mit naturwüchsiger Dialektik paaren“ – und kommt zu dem Fazit: „statt dem vermeintlichen Untergang der Intellektuellen bringen sie neue Verkörperungen derselben hervor.“36 Diese Veränderungen zeigen sich konkret in zahllosen Beispielen, wie jenem des Publizisten Jens Jessen. Das Internet sei, so Jessen, ein Raum, der zwar öffentlich ist, aber anders strukturiert als die öffentlichen Räume, in denen sich zum Beispiel der Hörfunk oder eine gedruckte Zeitung bewegen. Wo es eine Vorauswahl des Publikums gibt und wo man ungefähr den Horizont kennt der Leute, zu denen man spricht.37 Jessen kam zu dieser Einschätzung, als seine per Videoblog verbreitete Meinungsäußerung zur Debatte über Jugendkriminalität zu Beginn des Jahres 2008 für Diskussionen im Netz gesorgt hatte, bei denen zahlreiche Nutzer die Möglichkeit zur Kommentierung seiner Thesen genutzt hatten, der sich jeder sich digital inszenierende Intellektuelle stellen muss. Während intellektuelle Debatten in den so genannten alten Medien von einer begrenzten Anzahl von Akteuren im Feuilleton geführt wurden, bietet das Netz jedem die Möglichkeit, sich an den Debatten zu beteiligen – was für Intellektuelle wie Jessen ungewohnt ist und zugleich ihre nur scheinbar herausgehobene ‚geistesaristokratische Position‘ relativiert. In diesem Zusammenhang spielt die in den vergangenen Jahren angestoßene und unter dem Marketing-Schlagwort Web 2.038 zusammengefasste neue Entwicklungsstufe des Netzes eine besondere Rolle. In den westlichen Industrienationen der letzten fünf Jahre – und nur über diesen räumlichen und zeitlichen Bereich schreiben wir hier – haben der Verbreitungsgrad des Netzes und 36 Haug: „Gestalt des engagierten Intellektuellen“, S. 6. 37 Redaktion Der Tag: „‚Man muss es doch sagen dürfen‘ – Die Rhetorik des rechten Salons“. 38 Mit diesem unpräzisen Schlagwort hat der US-Verleger Tim O’Reilly im Jahr 2005 eine neue technische Entwicklungsstufe des Netzes beschrieben. Aufgrund der hohen Verbreitung von Breitband-Zugängen sowie einer veränderten Programmierung von Web-Angeboten wird der bis dahin passive Nutzer zunehmend zu einem aktiven Teilnehmer an der Netz-Kommunikation.

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die Vereinfachungen des Online-Publizierens neben der oben beschriebenen technischen auch zu einer inhaltlichen Demokratisierung geführt, das heißt: Es kann sich nicht nur jeder äußern, es äußert sich auch nahezu jeder. Dabei wäre es falsch zu glauben, die zur Unübersichtlichkeit neigende digitale Welt könne auf die Figur einer intellektuellen Autorität gänzlich verzichten. Gerade in einem ständig wachsenden Angebot an Meinungen und Nachrichten bedarf es einer Sortierung bzw. Einordnung durch glaubwürdige Figuren. Anders als in gelernten Offline-Zusammenhängen entstehen solche Figuren online aber vor allem durch eine sehr enge Vernetzung zwischen Intellektuellem und Publikum, ohne Umwege über institutionalisierte Selektionsmechanismen. Am Beispiel des kanadischen Autors und Netz-Vordenkers Cory Doctorow kann man ablesen, wie sich die Bedeutungsraster und Bezugssysteme für die Inszenierung eines Intellektuellen im Netz verschoben haben: Doctorow, der sich als Autor zahlreicher Science-Fiction-Romane (und somit jenseits des bildungsbürgerlichen Lesepublikums) ebenso einen Namen gemacht hat wie als Blogger,39 gewinnt seine Autorität aus der engen Bindung zu den zersplitterten Netzgemeinden, die seine Posts kommentieren können. In seinem Blog BoingBoing, das er gemeinsam mit anderen Netzaktivisten im Sinne einer kollektiven Autorschaft betreibt, kommuniziert er aus einer Perspektive des Gleichen mit seinen Lesern. Während sich der universelle Intellektuelle mit bildungsbürgerlichem Selbstbewusstsein über die verschiedenen gesellschaftlichen Wertsphären und Milieus erhob, legitimiert Doctorow seine Position als Intellektueller gerade durch seine Vernetzung mit der jeweiligen Szene bzw. Community, als deren öffentlicher Vertreter er auftritt, ohne seine Positionen zu universellen zu erklären. Der Autor wird nicht mehr als Originalgenie oder autonomes Subjekt gedacht, sondern vielmehr als Markenname, der bestimmte Inhalte authentifiziert, die größtenteils interaktiv oder kollaborativ entwickelt worden sind. Peter Gendolla und Jörgen Schäfer denken diese Entwicklung radikal weiter: Der Autor wird damit auf ein Problem des Copyrights reduziert, das heißt, er wird ein ökonomisches Problem der Verteilung von Honoraren, mit denen kein Genius mehr geehrt, sondern ein einfallsreiches, schnelles und effizientes Programm bezahlt wird.40

39 Vgl. Doctorow u.a.: http://www.boingboing.net. 40 Gendolla/Schäfer: „Auf Spurensuche“, S. 84. Zur umstrittenen Form der Autorschaft in digitalen Medien vgl. Simanowski: „Autorschaften in digitalen Medien“; Wirth: „Der Tod des Autors als Geburt des Editors“.

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Tatsächlich konterkariert Doctorow explizit das tradierte Copyright und verbreitet seine Bücher unter der Creative Commons Lizenz, so dass die Leser sie sich kostenlos herunter laden können – wenn sie diese Verbreitungsform dem klassischen Weg in den Buchladen vorziehen. Auch in diesen inhaltlichen Implikationen dient das Beispiel Doctorow somit als Wegweiser, denn anders als bei den alten Medien sind die juristischen Diskurse und Kommunikationsregeln des Internets bislang noch umstritten und einem schnellen Wandel unterworfen. Im klassischen Habermasschen Sinne kann man in vielen Gemeinschaften im Netz den ständigen Diskurs über die Kommunikationsbedingungen verfolgen. In einem solchen Umfeld muss eine intellektuelle Figur auch immer den Verbreitungskanal, in dem sie sich äußert, mitdenken und in das eigene Schaffen einbeziehen. Doctorow ist gerade deshalb zu einer angesehenen Persönlichkeit im Netz geworden, weil er sich stets zu Fragen der Netzkultur geäußert hat – ein für die Etablierung von Medien wichtiger Akt, wie sich auch in den Anfängen der Gutenberg-Galaxis gezeigt hat. Dort konnten um 1800 Denker wie Fichte, Hegel oder Kant – etwa 350 Jahre nach der Entwicklung des Buchdrucks – den Gedanken des ‚geistigen Eigentums‘ begründen und durchsetzen helfen, auf dessen Basis sich überhaupt erst die Machtverhältnisse auf dem Buchmarkt bis ins 20. Jahrhundert stabilisieren konnten. Dies ermöglichte dem universellen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, sich auf Fragen der Menschenrechte zu konzentrieren. Wenn sich heute jedoch ein „Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft“ vollzieht und in Zukunft „nicht mehr Rohstoffe oder Energie die treibenden Kräfte“ der Ökonomie sind, sondern Informationen „zum entscheidenden Produktionsfaktor“41 werden, rückt das Universalmedium Internet und die individuelle Kompetenz im Umgang mit dem Medium selbst ins Zentrum der politischen Debatten. In seinen Ausführungen über Literarische oder mediale Intellektualität erklärt Hartmut Eggert heute zum zentralen Merkmal von Intellektualität, Medienwelten zu distanzieren und reflexiv zugänglich zu machen; möglicherweise ist diese Art und Weise intellektueller Aktivität schon selbst eine Schlüsselkompetenz.42 Neben der Demokratisierung der Meinungsäußerung, der Frage der Vernetzung von Sendern und Empfängern sowie der inhaltlichen Relevanz des sich wandelnden Mediums Internet spielt, wie bereits angedeutet, die Transparenz eine große Rolle: Da sich im Netz jeder äußern kann, sieht sich der vernetzte 41 Wilke: „Zukunft Multimedia“, S. 770. 42 Eggert: „Literarische oder mediale Intellektualität?“, S. 16.

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Intellektuelle in dieser diskursiven Atmosphäre einem sehr viel höheren Rechtfertigungsdruck ausgesetzt als im Rahmen anderer Medien, seine Glaubwürdigkeit wird dauerhaft hinterfragt. Doctorow muss daher mit den Beiträgen in seinem Blog seine Position als vernetzter Intellektueller innerhalb seiner Community immer wieder legitimieren und die Aufmerksamkeitsökonomie des World Wide Web durch eine mitunter hohe private Offenheit bedienen. Auch in so genannten Microblog-Formaten wie Twitter oder Tumblr werden von den Internetnutzern früher für privat erachtete Informationen verbreitet und öffentlich gemacht – was natürlich auch kritisch gesehen werden kann, denn nicht nur bleiben die meisten Informationen für Privatpersonen im Netzgedächtnis gelagert, auch kommerzielle und staatliche Institutionen wie Google oder das Bundeskriminalamt können somit einfacher auf private Daten zugreifen. Die problematische Kategorie der Transparenz, die – je nach Zielgruppe – in sehr unterschiedlicher Weise inszeniert werden kann, ist vor allem im Hinblick auf die genutzten Quellen und Verweise notwendig. Da das Netz auf einer offenen Verweisstruktur basiert, muss der Intellektuelle seine Quellen offen legen. Gegen jede Form des Herrschaftswissens verbünden sich die Netzintellektuellen mit der so genannten Open-Source-Bewegung, die sich zur Aufgabe gemacht hat, Wissen allgemein zugänglich zu machen. Im Bereich der Software – die bekanntesten Beispiele sind hier das Betriebssystem Linux und der Browser Firefox – bezieht sich dies auf die Veröffentlichung des so genannten Quellcodes, den man kennen muss, um Veränderungen an dem Programm vornehmen zu können. Er liegt bei Open-Source-Anwendungen jedem offen, der sich verpflichtet, seine Veränderungen ebenfalls wieder allen offen zu legen. Die Open-Source-Bewegung hat sich im Netz zu einer wichtigen Kultur entwickelt, deren bekanntestes Beispiel die Wissensplattform Wikipedia ist. Das Lizensierungssystem der Creative Commons überträgt die offene Idee des Open Source auf intellektuelle Inhalte, die im Sinne des Open Access konsumiert werden können. Wenn Doctorow seine Bücher also unter dieser vergleichsweise neuen Lizenz veröffentlicht, kommt er damit dem Gedanken der Transparenz nach.

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Vom universellen zum vernetzten Intellektuellen. Ein Fazit

Wir konnten zeigen, dass der universelle Intellektuelle der Gutenberg-Galaxis seine öffentliche Position als herausragender Vertreter des literarischen Diskurses legitimiert hat, der wiederum hauptsächlich vom Bildungsbürgertum des 20. Jahrhunderts getragen wurde. In Abgrenzung von der gesellschaftlichen Masse, legitimiert durch eine sich zentral setzende Gesellschaftsschicht und den Ver-

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weis auf universelle menschliche Werte, konnte sich der literarische Intellektuelle in politische Debatten publizistisch einschalten und als autonomes Subjekt die Öffentlichkeit zu beeinflussen versuchen. Die gesellschaftliche Position der literarischen Buchkultur ist seit Ende des 19. Jahrhunderts jedoch zunehmend erodiert und angesichts der neueren Massenmedien wie Fernsehen, Computer und Internet sowie der postmodernen Relativierung bildungsbürgerlicher Werte verloren gegangen. Vor diesem Hintergrund werden die literarischen Äußerungen von Autoren wie Peter Handke, Elfriede Jelinek oder Martin Walser zu politischen Fragen – so unterschiedlich sie inhaltlich sein mögen –, von der medialen Öffentlichkeit nicht mehr als solche wahrgenommen oder aber in rein politische bzw. mediale Äußerungen übersetzt, unter Subtraktion ihres ästhetischen Anspruchs. Zudem werden die Selbstinszenierungen von Autoren als Intellektuelle spätestens seit der politisch-historischen Wende von 1989/90 von der medialen Öffentlichkeit für obsolet erklärt (wenngleich die Massenmedien in ihrer Auseinandersetzung mit dem literarischen Diskurs noch immer traditionelle Stereotype des genialen, autonomen oder intellektuellen Schriftstellers aufrufen). Das Universal- und neue Leitmedium Internet verabschiedet die Figur des Intellektuellen nicht komplett, sondern modifiziert sie. Der vernetzte Intellektuelle zeichnet sich durch andere Merkmale aus, die in einem direkten Zusammenhang mit dem Medium Internet stehen: Im Internet sind die Nutzer miteinander vernetzt, die Hierarchie zwischen ihnen wird tendenziell aufgehoben – während der universelle Intellektuelle sich noch über allen gesellschaftlichen Wertsphären inszenierte, legitimiert sich der vernetzte Intellektuelle als ein Mitglied einer spezifischen Netzwerk-Community. Die Netz-Intellektuellen kämpfen somit nicht um ein Feld, vielmehr wird das World Wide Web immer weiter segmentiert, so dass die jeweiligen Communities noch mehr zersplittern. Im Gegensatz zum autonomen und genialischen Intellektuellen der Gutenberg-Galaxis (der sich – wie in der eingangs zitierten Titanic-Collage – gerne von einem König mit einer Nobelpreis-Plakette adeln lässt) hat sich im Netz die Arbeitsweise etabliert, Texte kollektiv und interaktiv zu produzieren – die individualistisch-moralische Begründung des Engagements wird ersetzt durch kollektivistische Diskursstrategien von Netzwerkern. In der Informationsgesellschaft wird das Medium Internet selbst zu einem zentralen politischen Gegenstand – Foucaults Postulat des spezifischen Intellektuellen gewinnt auf diese Weise eine neue, globale Bedeutung. Insofern ist es nur konsequent, wenn digitale Kollektivintellektuelle wie Indymedia, die Piratenpartei oder das Critical Art Ensemble auf dem medialen, dem politischen und dem künstlerischen Feld

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kenntlich machen,43 dass die selbstreferentiell scheinende und spezifische Auseinandersetzung mit dem Medium Internet heute eine in hohem Maße politische Angelegenheit ist. Solche Modifikationen des Intellektuellen-Modells ließen sich mit dem Begriff des Rhizoms oder der Gegenöffentlichkeit angemessen beschreiben. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben sich bereits in den 1970er Jahren gegen das aufklärerische Modell des autonomen Subjekts, das ihrer Auffassung nach immer nur als Teil hierarchischer Gesellschaftsmodelle zu konstruieren ist, gewandt, und anstelle dessen die nicht-hierarchischen Vielheiten des Rhizoms eingefordert: „[I]m Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln“, so Deleuze und Guattari, „verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel.“44 Jeffrey Wimmer stärkt den Begriff der Gegenöffentlichkeit, allerdings nicht als eine öffentliche Gegen-Thematisierung durch alternative Medien, sondern differenziert in „alternative, partizipative und medienaktivistische (Gegen-)Öffentlichkeit(en)“,45 in die die – Wimmers Auffassung nach schon immer pluralen – Gegenöffentlichkeiten durch die neuen Medien und die transnationalen Kommunikationsprozesse noch weiter zersplittert sind. Privilegierte die mediale Legitimation des universellen Intellektuellen einen spezifisch literarischen Bildungstypus, der vor allem von gebildeten Gesellschaftsschichten in den westlichen Nationalstaaten geteilt wurde, so ist auch das Internet als Medium – global gesehen – vorrangig eine Angelegenheit der reicheren Länder. In den kommenden Dekaden wird sich zeigen, inwiefern das World Wide Web weniger den Clash der Zivilisationen als vielmehr ein Patchwork der Kulturen produzieren hilft. Eines hat sich jedoch schon heute gezeigt: Die aufklärerische Idee des mündigen Subjekts und die moderne Inszenierung des universellen Intellektuellen werden in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Leitmedien modifiziert. Wir stimmen Roger Behrens’ Beschreibung zu, dass die Medien den Menschen immer wieder neu erfinden, und

43 Bei Indymedia handelt es sich um die Kommunikationsplattform eines seit 2001 global operierenden Netzwerks unabhängiger Medienaktivisten; die Piratenpartei setzt sich auf dem politischen Feld für eine Reformierung des Urheberrechts und die Wahrung der informationellen Bürgerrechte ein; das Critical Art Ensemble ist ein seit 1987 operierendes medienkritisches Künstlerkollektiv, das künstlerisch und theoretisch über den zivilen elektronischen Ungehorsam reflektiert. 44 Deleuze/Guattari: Rhizom, S. 34. 45 Wimmer: (Gegen-)Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft, S. 243.

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dass der bisherige Mensch, der Gutenberg-Mensch mit seinen Schriftstücken, die ihn als Person identifizierbar machen (Personalausweis, Reisepass, Geburtsurkunde etc.), das autonome Individuum, der Autor, das Selbst, lediglich eine Erfindung war.46

Literaturverzeichnis Becker, Uwe: „Deutschland, Deine Dichter“, in: Titanic. Das endgültige Satiremagazin, H. 2, 2000, S. 3. Behrens, Roger: „Galaxy Quest. Ein Versuch zur kritischen Theorie der Netzwelt“, in: Testcard. Beiträge zur Popgeschichte, H. 15, 2006, S. 6-13. Bluhm, Lothar: „Standortbestimmungen. Anmerkungen zu den Literaturstreits der 1990er Jahre in Deutschland. Eine kulturwissenschaftliche Skizze“, in: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, hrsg. von Clemens Kammler und Torsten Pflugmacher, Heidelberg 2004, S. 61-73. Bogdal, Klaus-Michael/Kammler, Clemens (Hrsg.): (K)ein Kanon. 30 Schulklassiker neu gelesen, München 2000. Bogdal, Klaus-Michael: „Klimawechsel. Eine kleine Metereologie der Gegenwartsliteratur“, in: Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre, hrsg. von Andreas Erb, Opladen 1998, S. 9-31. Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993. Bourdieu, Pierre: „Das intellektuelle Feld: Eine Welt für sich“, in: ders: Rede und Antwort, Frankfurt a.M. 1992, S. 155-166. Castells, Manuel: Das Informationszeitalter. Band 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom, Berlin 1977. Doctorow, Cory u.a.: http://www.boingboing.net, 24.02.2008. Eggert, Hartmut: „Literarische oder mediale Intellektualität? Überlegungen aus einer Fallstudie zur intellektuellen Praxis junger Erwachsener“, in: Medienumbrüche. Wie Kinder und Jugendliche mit alten und neuen Medien kommunizieren, hrsg. von Jörg Steitz-Kallenbach/Jens Thiele, Bremen/ Oldenburg 2002, S. 11-30.

46 Behrens: „Galaxy Quest“, S. 8.

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Daniela Pscheida

Das Internet als Leitmedium der Wissensgesellschaft und dessen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wissenskultur Im folgenden Beitrag soll gezeigt werden, warum das Internet das Leitmedium der Wissensgesellschaft ist und inwiefern, wenn man eben davon ausgeht, dieses Medium Internet aufgrund seiner medialen Dispositionen im Allgemeinen sowie den Möglichkeiten des Web 2.0 im Speziellen weit reichende Auswirkungen auf die Wissenskultur unserer westlichen Gesellschaften hat. Dabei steht zunächst die Frage nach dem Begriff des Leitmediums selbst im Mittelpunkt. Es ist zu klären, was dieser konkret bezeichnet, was also überhaupt unter einem Leitmedium zu verstehen ist und auf welche Weise ein Medium innerhalb einer Gesellschaft zu einem solchen Leitmedium werden kann. Folgt man hier einer medienkulturwissenschaftlich basierten, zeitgeschichtlich veränderbare Bedürfnislagen berücksichtigenden sowie grundlegend koevolutionär orientierten Perspektive, bekommt man rasch zu verstehen, warum gerade ein begrifflich so gefasstes Leitmedium notwendig in der Lage ist, das gesellschaftliche Verständnis von und den Umgang mit Wissen nachhaltig zu verändern.

1

Die Frage nach der Bezeichnung: der Begriff des Leitmediums

Der Begriff des Leitmediums erscheint auf den ersten Blick überaus reizvoll und analytisch ergiebig. Das liegt vermutlich vor allem daran, dass bis dato keine konsensuell feststehende Definition dahingehend existiert, was sich hinter dieser Bezeichnung letztendlich konkret verbirgt. Insofern handelt es sich hier genau genommen also erst einmal um nichts anderes als ein schillerndes Kunstwort, welches dank seiner Unspezifik verschiedensten Deutungen offen steht und daher je nach Anliegen oder fachwissenschaftlicher Ausrichtung durchaus unterschiedlich gefüllt werden kann.1 Widmet man sich dennoch eindringlicher der Frage nach den Implikationen einer derartigen Bezeichnung, stößt man zur Hälfte auf einen bereits weithin vertrauten Begriff – den des Mediums. Auch wenn dieser, was dessen defi1

Diese Definitionsoffenheit des Leitmedienbegriffs stellten nicht zuletzt auch die TeilnehmerInnen der Jahrestagung des SFB/FK615 „Medienumbrüche“ vom 15.16.11.2007 in Siegen in ihren Beiträgen unter Beweis.

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nitorisches Verständnis betrifft, zeitweilig ebenso große Spielräume eröffnet, wie der des Leitmediums selbst, geht man im Umfeld der Medien- und Kulturwissenschaften doch meist klassisch von der Annahme aus, dass Medien Mittel bzw. Technologien zur Präsentation, Speicherung und Weitergabe kultureller Wissensbestände darstellen, mit deren Hilfe die Mitglieder einer Gesellschaft miteinander sowie mit ihrer jeweiligen Vor- bzw. Nachwelt in Kontakt treten und sich auf diese Weise ihrer selbst vergewissern. Dies zumindest entspricht den Thesen der Vertreter der so genannten ‚Kanadischen Schule‘ (Eric A. Havelock, Harold A. Innis, Marshall McLuhan), die in ihren seit den 1950er Jahren erscheinenden Schriften damit das Diktum der Medienabhängigkeit des Wahrnehmens und Denkens von Gesellschaften proklamierten. Den Medien kommt in diesem Sinne ein nicht zu unterschätzendes, wissenskulturelles Strukturierungspotential zu.2 So verfügt jedes Medium über spezifische, nur ihm eigene Dispositionen im Hinblick auf die Bereitstellung kommunikativer Funktionen. Diese entscheiden makroskopisch betrachtet sowohl über das Spektrum der zeitlichen Stabilität, als auch den Radius der räumlichen Ausdehnung von Gesellschaften, legen darüber hinaus aber auch den Grundstein für etwaige Tendenzen der Inklusion und Exklusion einzelner Kommunikationsteilnehmer. Auf der mikroskopischen Ebene bestimmen Medien aufgrund ihrer materialen und technischen Beschaffenheit die Möglichkeiten und Grenzen ihres Gebrauchs zudem immer schon selbst mit. Somit erfahren die Sinneskanäle durch das jeweilige mediale Dispositiv3 also eine ganz bestimmte Fokussierung, was – wenn man so will – einer medienbasierten „Disziplinierung der Wahrnehmung“4 gleichkommt. Als einer der ersten hat sich der kanadische Wirtschaftshistoriker und Medientheoretiker Harold A. Innis systematisch mit den Einflüssen von Medien auf die Bedingungen und Möglichkeiten innergesellschaftlicher Kommunikation und deren Folgen für die Formen der staatlichen Organisation und Machtausübung auseinandergesetzt.5 In seinen historischen Analysen6 entwarf er die Menschheitsgeschichte als Abfolge kultureller Epochen, denen er jeweils ein zentrales Kommunikationsmedium zuordnete. Insbesondere aber war es wenig später sein Nachfolger Marshall 2

Vgl. Elsner u.a.: „Zur Kulturgeschichte der Medien“, S. 164.

3

Ich orientiere mich hier am Begriff des Dispositivs, wie ihn ursprünglich Michel Foucault entwickelte (vgl. Foucault: Dispositive der Macht, S. 119f.), und wie er daraufhin Eingang in die poststrukturalistische Debatte und die Apparatustheorien der französischen Kinotheorie (Jean-Louis Baudry, Jean-Louis Comolli) fand. Vgl. Paech: „Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topic.“

4

Viehoff: „Disziplinierung der Wahrnehmung?“

5

Vgl. Innis: „Die Eule der Minerva“.

6

Vgl. Innis: Empire and Communications.

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McLuhan, der inspiriert von Innis’ Arbeiten eine umfassende Theorie der Medien im Hinblick auf die kulturelle Verfasstheit von Gesellschaften vorlegte. In The Gutenberg-Galaxy aus dem Jahre 1962 dokumentierte er detailliert die Bedeutung der Druckschriftlichkeit für die Entstehung eines neuen Wissenstypus in den abendländischen Gesellschaften. Seine Überlegungen bilden damit die Basis für einen Medienbegriff, der aufs engste mit der Wissenskultur einer Gesellschaft verwoben ist. Wird dieser hier nun also wissenskulturbezogen interpretierte Medienbegriff in der Bezeichnung Leitmedium zudem um den Zusatz Leit- erweitert, fühlt man sich freilich zunächst unmittelbar an die epochemachende Wirkung einzelner Medientechnologien erinnert, wie sie besonders prominent gerade McLuhan beschrieben hat. Doch soll hier keiner vorschnellen theoretischen Subsumtion des Leitmedienbegriffs unter einen hinreichend bekannten Ansatz das Wort geredet werden. Dieses Vorgehen würde sich zweifellos die Chance einer erhellenden begrifflichen Weiterentwicklung vergeben. Verstanden als Ableitung des Verbs leiten, was zum einen so viel heißen kann wie lenken, steuern, dirigieren oder die (richtige) Richtung weisen, an anderer Stelle aber auch auf Prozesse des Führens oder Anführens hindeutet, ist mit dem Zu- bzw. Vorsatz Leit- in jedem Fall eine Art Besonderung markiert: Hier geht es um etwas Wichtiges, Herausgehobenes, sich in irgendeiner Weise von anderem Absetzendes; um etwas im Zentrum oder (je nach Blickwinkel) in vorderster Front Stehendes. Man könnte folglich also von einem Medium ausgehen, das Orientierung und Vorbild für andere Medien ist – ein Medium mit Vorreiterfunktion, an dem sich andere Medien ausrichten. Aus der Perspektive eines wissenskulturbezogenen Medienbegriffs wäre damit allerdings zugleich auch ein Medium mit einer potentiell Kultur prägenden bzw. Kultur verändernden Wirkung gemeint, da dessen mediale Dispositionen zur zentralen und alles bestimmenden Größe im gesellschaftlichen Selbstvergewisserungsprozess avancieren (erstes Medium am Platze). Laut etymologischem Wörterbuch7 ist im Verb leiten ursprünglich jedoch noch ein weiterer Aspekt angelegt: Einst besagte leiten demnach auch so viel wie gehen oder fahren machen. Es geht entsprechend dieser heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Wortbedeutung also nicht allein darum, eine Richtung weisend vorzugeben oder gar selbst führend vorauszugehen, sondern etwas bereits Vorhandenes überhaupt erst einmal anzuschieben bzw. in Gang zu setzen. Koppelt man dies mit dem zuvor erläuterten, kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medienbegriff, dann erscheint das Leitmedium hier vor allem auch als ein Medium, dem eine ganz konkrete kulturelle Ermöglichungsfunktion in der

7

Vgl. Dudenredaktion: Das Herkunftswörterbuch.

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Gesellschaft zukommt und dessen herausragende, Kultur prägende respektive Kultur verändernde Wirkung letztendlich eben genau darin wurzelt. So gesehen müsste die Frage nach der Bezeichnung eigentlich eher die nach den gesellschaftlichen Umständen der Etablierung eines Mediums als Leitmedium sein. Zu fragen wäre demnach, auf welche Weise es einem bestimmten Medium gelingt, eine derartige kulturelle Ermöglichungsfunktion einzunehmen und zum Leitmedium einer Gesellschaft aufzusteigen, während zahlreichen anderen Medien dieser Schritt offensichtlich verwehrt bleibt. Ein Blick in die turbulente Mediengeschichte speziell der letzten 200 Jahre zeigt doch ziemlich eindrucksvoll, dass dabei keinesfalls allein von den jeweiligen Dispositionen eines Mediums ausgegangen werden kann. Vielmehr ist die hier vertretene These jene, dass nicht das Medium an sich darüber bestimmt, ob es zum Leitmedium wird, sondern dieses Medium dazu erst auf eine spezifische, den medialen Dispositionen dieses Mediums angepasste, gesamtgesellschaftlich relevante sozio-kulturelle Bedürfnislage stoßen muss, auf welche dieses Medium in einzigartiger Weise antwortet – und zwar so antwortet, wie dies kein anderes Medium vermag und welches aufgrund dessen eben jener Gesellschaft Entwicklungen ermöglicht, die ohne dieses Medium nicht zustande gekommen wären, die dieses Medium also befördert und dabei zugleich selbst noch einmal weiter anregt. Erst wenn also diese Konstellation eines fertilen Konglomerats aus sozio-kulturellen Bedürfnislagen und passgenau darauf bezogenen medialen Dispositionen vorliegt, sind die Voraussetzungen eines sich gegenseitig verstärkenden, koevolutionären8 Entwicklungsprozesses geschaffen. Insofern es sich dabei um Entwicklungen handelt, welche die Darstellung, Speicherung und Weitergabe kultureller Informationen und damit das Verhältnis einer Gesellschaft zu sich selbst und der sie umgebenden Welt betreffen, ist hier unweigerlich auch ein Wandel in der gesellschaftlichen Wissenskultur angelegt. Im historischen Rückblick erscheint folglich der Buchdruck noch einmal neu als das große Leitmedium der westlichen Gesellschaften. Nicht zufällig fallen die geistigen Aufbrüche der frühen Neuzeit (Renaissance, Humanismus, Reformation) und die Verbreitung des typographischen Mediums zeitgeschichtlich zusammen. Die einzelnen Entwicklungen griffen dabei so treffsicher ineinander, dass diese sich gegenseitig stützten und verstärkten und schließlich eine Wissenskultur hervorbrachten, die in ihrer grundlegenden Ausrichtung auf die Kategorien objektiver Wahrheit, intersubjektiver Rationalität und professionellen Expertentums bis heute unseren Umgang mit Wissen prägt.

8

Der Gedanke der Koevolution findet sich implizit u.a. auch in den Arbeiten Michael Gieseckes (vgl. z.B. Der Buchdruck in der frühen Neuzeit).

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2

Die Frage nach dem Bezeichneten: das Internet als Leitmedium der Wissensgesellschaft

Nachdem jetzt also verdeutlicht wurde, was ein Leitmedium bezeichnet und vor allem auch, wodurch ein Medium zum Leitmedium einer Gesellschaft werden kann, soll im nächsten Schritt geklärt werden, warum unter dieser speziellen Prämisse gerade das Internet als das neue Leitmedium der westlichen Gesellschaften zu betrachten ist, die sich zunehmend als Wissensgesellschaften präsentieren. Nimmt man also an, dass ein Leitmedium notwendig ein Medium darstellt, welches eine besondere Funktion für die Gesellschaft erfüllt, indem es ganz spezifische, zeitgeschichtlich bedingte, sozio-kulturelle Bedürfnislagen dieser Gesellschaft wie kein anderes Medium aufgreift, zu deren Bearbeitung aber auch Intensivierung beiträgt und damit Wandlungsprozesse in Gang setzt, die vor allem etwas damit zu tun haben, wie diese Gesellschaft sich ihrer selbst und ihres Wissens über sich selbst vergewissert, muss die Analyse des damit Bezeichneten mit einer dezidierten diagnostischen Beschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft samt ihrer zentralen Herausforderungen beginnen. Erst in Relation zu diesen kann das eventuell vorhandene revolutionäre Potential einer spezifischen Medientechnik in Erscheinung treten und lässt sich bemessen.

2.1

Zum Zustand unserer gegenwärtigen Gesellschaften: Wissensgesellschaft als zeitgeschichtliches Phänomen und gesellschaftsanalytische Diagnose

Spätestens seit der Entstehung und Verbreitung der modernen Wissenschaften im 17. Jahrhundert ist eine zunehmende Wissensorientierung der westlichen Gesellschaften zu beobachten. Diese resultiert aus einer insbesondere von Max Weber eindringlich beschriebenen Fortschrittsgläubigkeit gerade der abendländischen Kulturen. Schon in der jüdischen und christlichen Religion und Tradition sei die Sehnsucht nach einer besseren Welt tief verwurzelt. Die Aufklärung setzte dieser Grundtendenz darüber hinaus die feste Überzeugung hinzu, dass durch forschend erworbene Welterkenntnis und die Verbreitung dieser Erkenntnis die Lebensbedingungen des Einzelnen und damit die Welt selbst sukzessive verbessert werden können. Laut Weber unterliegt die okzidentale Welt also einem bereits Jahrhunderte währenden Rationalisierungsprozess. Insofern ist sie zwar eine grundlegend entzauberte, da alles Mystische und Geheimnisvolle in der intellektuellen Durchdringung der prinzipiell beherrschba-

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ren Wahrheit aufgeht, doch liegt gerade darin letztlich die Basis eines beständigen wissenschaftlichen Vorwärtsstrebens.9 Ganz besonders stark rücken Wissen und wissensbezogene Handlungen nun allerdings seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Zentrum der Gesellschaften. Freilich ließe sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Überlegungen Max Webers argumentieren, dass – gerade im Hinblick auf die westlichen Kulturen – rational begründetes Wissen spätestens seit der europäischen Aufklärung gesellschaftlich von höchster Bedeutung gewesen ist, doch hat diese Wissenszentrierung gerade in den letzten Jahrzehnten zweifellos eine vollkommen neue Qualität erreicht. Neu ist vor allem das Ausmaß, in dem Wissensprodukte und die dazugehörigen Wissensprozesse jetzt auch in die alltägliche Lebensrealität vordringen und dort bisher nicht dagewesene reflexive Tendenzen auslösen. Die ersten Zeugen eines derartigen Bewusstseinsprozesses waren die seit den 1960er Jahren entstandenen theoretischen Ansätze10, welche von einem fundamentalen Strukturwandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft11 ausgingen. Betont wurde in diesen zunächst die zentrale ökonomische Bedeutung des Wissens in den postindustriellen Gesellschaften. Wissen wird neben Arbeit, Boden und Kapital zum vierten entscheidenden Produktionsfaktor und zu einem wichtigen, wenn nicht dem wichtigsten Bestandteil der wirtschaftlichen Wertschöpfung. Der monetäre Wert eines Produkts bemisst sich heute längst nicht mehr hauptsächlich an der zur Herstellung notwendigen Arbeit, noch an dem dazu verwendeten Material; er liegt vielmehr in der eingeschlossenen Expertise, d.h. dem exklusiv dafür entwickelten und im Produktionsprozess eingesetzten Wissen.12 Entsprechend ist auch eine immer stärkere Bedeutungszunahme der Wissens- und Kopfarbeit13 zur verzeichnen. So sind immer mehr Menschen mit der Herstellung und Verarbeitung von Wissen beschäftigt, während andererseits der Anteil der Industriearbeiterschaft deutlich zurückgeht.14 Die Produktivität der Wissens- und Kopfarbeit wird zudem zusehends durch die fortschreitende Digitalisierung der Arbeitsabläufe intensiviert.

9

Vgl. Weber: Wissenschaft als Beruf, insbesondere S. 15-18.

10 Eine Übersicht hierzu bietet die Arbeit von Jochen Steinbicker. Vgl. Steinbicker: Zur Theorie der Informationsgesellschaft. 11 Der Terminus der Wissensgesellschaft oder knowledge society selbst geht auf den amerikanischen Soziologen R. E. Lane (1966) zurück. Vgl. Stehr: Arbeit, Eigentum und Wissen: zur Theorie von Wissensgesellschaften, S. 26. 12 Vgl. hierzu Willke: Supervision des Staates, S. 13f. sowie 36f. 13 Vgl. u.a. Drucker: Die Zukunft bewältigen. 14 Vgl. The Coming of Post-Industrial Society.

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Anders als häufig angenommen, ist die Entstehung der wissensgesellschaftlichen Strukturen dennoch nicht ursächlich mit dem Aufkommen und der Verbreitung der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien (etwa dem Siegeszug des PC) verknüpft. Zwar reichen die Wurzeln der Entwicklung dieser Technologien schon bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück, ihr populärer Durchbruch vollzog sich allerdings erst ab Mitte der 1970er Jahre15 und damit zu einer Zeit, in der bereits deutliche Anzeichen einer postindustriellen Gesellschaft auszumachen waren. Gleichwohl ist eine gewisse Unterstützung und Beschleunigung der wissensgesellschaftlichen Veränderungstendenzen durch Digitalisierung und Computerisierung wiederum nicht von der Hand zu weisen. So erklärt sich wohl auch der seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu registrierende, verstärkte Rückgriff auf das Konzept der Wissensgesellschaft,16 dass sich erst jetzt als „zeitdiagnostischer Hintergrundkonsens“17 zu etablieren scheint.18 Diese neueren theoretischen Auseinandersetzungen widmen sich nun maßgeblich den vielfältigen sozialen Auswirkungen, die mit der Wissensgesellschaft als zeitgeschichtlicher Diagnose verbunden sind. Diese Diagnose einer mehr und mehr von Wissen durchwirkten Gesellschaft basiert dabei auf der Beobachtung, dass theoretisches Wissen immer stärker zur Grundlage und Richtschnur des alltäglichen sozialen Handelns wird.19 Das bedeutet im Gegenzug freilich auch, dass es sich hier um Gesellschaften handelt, die auf die permanente Schöpfung und Bereitstellung neuen, respektive aktuellen Wissens in allen Lebensbereichen unmittelbar angewiesen sind. Fragen und Probleme im Zusammenhang mit den Prozessen der Wissensgenese und -kommunikation rücken damit ins Zentrum heutiger Wissensgesellschaften. Folglich lassen sich drei grundlegende Phänomene der Wissensgesellschaft identifizieren: (1) Ökonomisierung des Wissens: Wie vor allem die frühen Theorien der 1960er und 1970er Jahre bemerkten,20 kommt dem Wissen in der Wissensgesellschaft in erster Linie im ökonomischen Sinne (und damit nicht zuletzt auch 15 Vgl. Steinbicker: Zur Theorie der Informationsgesellschaft, S. 13ff. 16 Vgl. Heidenreich: „Die Debatte um die Wissensgesellschaft“, S. 25. 17 Bittlingmayer/Bauer: „Strukturierende Vorüberlegungen zu einer kritischen Theorie der Wissensgesellschaft“, S. 11. 18 Vgl. hierzu u.a. Bittlingmayer: ‚Wissensgesellschaft‘ als Wille und Vorstellung; Bittlingmayer/Bauer: Die ‚Wissensgesellschaft‘; Böschen/Schulz-Schaeffer: Wissenschaft in der Wissensgesellschaft; Höhne: Pädagogik der Wissensgesellschaft; Hubig: Unterwegs zur Wissensgesellschaft; Kübler: Mythos Wissensgesellschaft. 19 So beschrieben u.a. in Stehr: „Moderne Wissensgesellschaften“, S. 10. 20 Vgl. Bell: The Coming of Post-Industrial Society; Drucker: Die Zukunft bewältigen; Touraine: Die postindustrielle Gesellschaft.

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politisch) eine immense Bedeutung zu. Wissen ist ein zentrales Element der wirtschaftlichen Wertschöpfung und ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Das gilt für kollektive Akteure wie Wirtschaftsunternehmen oder Parteien ebenso wie für einzelne Individuen.21 (2) Kontextualisierung des Wissens: Der damit verbundene, gestiegene Bedarf an immer neuem, aktuellem Wissen hat wiederum zur Folge, dass die etablierten Strukturen der Herstellung von Wissen nicht mehr in der bekannten Weise aufrechterhalten werden können. Seit der Herausbildung der modernen akademischen Wissenschaft im 17. Jahrhundert war der Prozess der Schaffung neuen Wissens genuin an diese gebunden. Im Kontext des Subsystems Wissenschaft prägten sich dazu mit der Zeit normierte Verhaltensweisen, Maßstäbe, Prinzipien und Konventionen heraus, welche die gleich bleibende Qualität des hergestellten Wissens gewährleisteten. Die Wissensproduktion geschah dabei stets allein um der Erkenntnis willen. Der amerikanische Wissenschaftssoziologe Robert K. Merton benennt hier vier institutionelle Imperative eines wissenschaftlichen Ethos: Universalismus (Unabhängigkeit und Objektivität des Vorgehens), Uneigennützigkeit (Integrität der Wissenschaftler), organisierter Skeptizismus (kritische Verifizierung der Ergebnisse) sowie Kommunismus (Ergebnisse der Wissenschaft sind Produkt und Eigentum der Gemeinschaft).22 Ökonomisierung und Politisierung bringen nun jedoch vollkommen neue Aspekte ins Spiel. So reicht das Funktionssystem Wissenschaft zur Produktion des benötigten gesellschaftlichen Wissens allein nicht mehr aus. Die Wissensproduktion diffundiert daher zunehmend in andere Funktionsbereiche der Gesellschaft;23 wird beispielsweise immer häufiger von den Unternehmen selbst getragen. Dieser Prozess wirkt auf die klassische akademische Wissenschaft zurück. Sie kann unter diesen Bedingungen nicht mehr allein aus sich heraus agieren, sondern muss sich nun auch an externen Ansprüchen messen lassen. Die Wissenschaft gerät damit mehr denn je unter „Lieferdruck“.24 Der bis dato einseitig-hierarchisch strukturierte Wissenstransfer25 wird kontextabhängig und in komplexe Rückkopplungs- und Rechtfertigungsprozesse eingebunden. In der wissenssoziologischen Debatte wird dieses Phänomen einer kontextualisierten bzw. kontextsensitiven Wissenschaft seit einiger Zeit auch unter dem

21 Vgl. Clar u.a.: Humankapital und Wissen; Reinmann-Rothmeier/Mandl: Individuelles Wissensmanagement. 22 Vgl. Weingart: Wissenschaftssoziologie, S. 15ff. 23 Vgl. Staudt: „Strategien auf dem Weg in die Wissensgesellschaft“, S. 117. 24 Buss/Wittke: „Wissen als Ware“, S. 123. 25 Zum Begriff des Wissenstransfers siehe u.a. Antos: „Transferwissenschaft“, S. 5.

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Stichwort Modus 2 diskutiert.26 Die Gesamtentwicklung kommt damit sogar einem doppelten Autonomieverlust der Wissenschaft gleich. Sie büßt ihren Status als alleinige Instanz der Verkündigung gesellschaftlich relevanten Wissens ein, indem sie nicht nur Konkurrenz durch andere, oftmals kontextnähere Wissensproduzenten bekommt, sondern sich in ihrem eigenen Vorgehen erstmals auch selbst an außerwissenschaftlichen Maßstäben ausrichten muss.27 (3) Pluralisierung und Dynamisierung der gesellschaftlichen Wissensbestände: Die Dezentralisierung der Wissensproduktion und die damit verbundene Zunahme an Wissensproduzenten schlechthin führt weiterhin unweigerlich zu einer Pluralisierung der gesellschaftlichen Wissensbestände im Sinne einer faktischen Vervielfachung des vorhandenen Wissens. Die Kehrseite dieses permanenten Wissenszuwachses ist ein gleichzeitig ebenso permanent stattfindender Wissensverfall. Mit anderen Worten: Die Erzeugung neuen Wissens ist stets auch an die Revision bestehenden Wissens geknüpft. Je rapider sich demnach die Vermehrung der Wissensbestände vollzieht, desto rascher veralten sie auch wieder. Die gesellschaftlichen Wissensbestände geraten also in Bewegung und erfahren eine nie dagewesene Dynamisierung. Darüber hinaus sorgt die Differenzierung der Wissensproduzenten aber auch für eine Pluralisierung der gesellschaftlichen Wissensbestände im Sinne einer Vervielfältigung. Ausgehend vom jeweiligen Kontext kann es so im Bereich ein und derselben Thematik zur Herstellung durchaus unterschiedlicher und bisweilen sogar divergenter Wissensangebote kommen.28

2.2

Herausforderungen der Wissensgesellschaft

Mit Blick auf die soeben beschriebenen Phänomene, welche die gesellschaftsanalytische Diagnose der Wissensgesellschaft zeitgeschichtlich stützen und inhaltlich füllen, scheinen nun zwei zentrale Paradoxa auf: Die Dezentralisierung und Kontextabhängigkeit der gesellschaftlichen Wissensproduktion und der daraus resultierende Autoritäts- und Statusverlust der Wissenschaft sind bei genauerem Hinsehen im Kern weniger als eine Krise der institutionalisierten Wissenschaft zu werten, sie verkörpern vielmehr eine Krise des wissenschaftlich begründeten bzw. nach traditionell wissenschaftlichen Maßstäben erzeugten Wissens. Denn obgleich die gesellschaftliche Durchdringung mit theoretischem Wissen und dessen ökonomische wie politi26 Vgl. Bender: Neue Formen der Wissenserzeugung; Gibbons u.a.: The New Production of Knowledge; Nowotny u.a.: Wissenschaft neu denken. 27 Vgl. Weingart: Die Stunde der Wahrheit?, S. 336f. 28 Vgl. u.a. Böhle: „Wissenschaft und Erfahrungswissen“.

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sche Bedeutung und Nachfrage in der Wissensgesellschaft zweifellos zunehmen, verlieren die dazugehörigen, wissenschaftlich-rationalen Prinzipien und Konventionen der Herstellung und Legitimation dieses Wissens zugleich massiv an Durchschlagkraft. Das, was heute als gesellschaftlich relevantes Wissen Anerkennung findet, erscheint also zwar einerseits wichtiger denn je, folgt von seiner Beschaffenheit her jedoch deutlich anderen und zudem situativ veränderlichen Prämissen. Diese Offenheit im Bereich der Legitimations- und Geltungskriterien des Wissens führt weiterhin zu einem dynamischen Kreislauf bestehend aus Wissenswachstum, Wissensdifferenzierung und Wissensdynamisierung. Im Zusammenspiel jener Trias wird schließlich ein zweites Paradox der Wissensgesellschaft sichtbar: Während die Menge des potentiell verfügbaren, gesellschaftlichen Wissensangebots exorbitant steigt, ist die Möglichkeit einer tatsächlichen Verfügung über dieses hingegen – relational betrachtet – zunehmend stärker begrenzt. Weder lässt sich angesichts der wissensgesellschaftlichen Wissensflut überhaupt alles vorhandene Wissen aneignen, noch erlauben die Vielfältigkeit und Vielgestaltigkeit sowie die permanente Veränderbarkeit des Wissens den systematischen Aufbau eines stabilen persönlichen Wissensvorrats. Einmal angeeignet, kann Wissen schon bald wieder seine Gültigkeit verlieren und muss kognitiv neu angepasst werden, wobei eine Vielzahl subjektiver Deutungsmuster offen steht. Diese Opazität des Wissens29 hinterlässt ein permanentes Gefühl des Nicht-Bescheid-Wissens.30 Für den Einzelnen ergeben sich daraus schließlich klare Herausforderungen: Wissen gewinnt in der Wissensgesellschaft eine zunehmend größere wirtschaftliche, wie auch gesellschaftskonstitutionelle Bedeutung. Die Schaffung und Breitstellung immer neuen und aktuellen Wissens stellt einen entscheidenden Wettbewerbsfaktor für Unternehmen wie auch Einzelpersonen dar. Folglich wächst auch die Notwendigkeit eines kompetenten sowie erfolgreichen persönlichen Umgangs mit Wissen, will man an einer Gesellschaft, deren zentrales Prinzip nun einmal das Wissen ist, angemessen partizipieren können. Gleichwohl haben wir es mit immer umfangreicheren und vielfältiger werdenden, ebenso aber auch schneller verfallenden, pluralen und dynamischen gesellschaftlichen Wissensbeständen zu tun. Diese Komplexität reduziert die Existenz verlässlicher, gemeinsamer Orientierungen in Bezug auf das Wissen und schafft Unsicherheiten. So wird die individuelle Auseinandersetzung mit den sich stetig verändernden gesellschaftlichen Wissensbeständen in der Wissens-

29 Vgl. Antos: „Transferwissenschaft“, S. 4. 30 Vgl. Eid: „Alle wissen alles, aber keiner weiß Bescheid“, S 129.

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gesellschaft für den Einzelnen einerseits also immer wichtiger, sie wird andererseits aber auch deutlich voraussetzungsreicher.31 Der Einzelne befindet sich gegenüber den Wissensmengen der Wissensgesellschaft demnach in einer „schroffen Endlichkeitssituation“.32 Die fortschreitende Entgrenzung des faktisch vorhandenen Wissensangebots und die natürliche Begrenztheit der Aufnahmefähigkeit seines kognitiven Systems zwingen ihn immer wieder, eine Auswahl zu treffen. Dabei kann er sich allerdings nicht länger auf allgemeinverbindliche Standards verlassen, sondern muss eine individuelle Wichtung vornehmen. Es gilt also stets zu prüfen, inwiefern das vorhandene Wissensangebot den jeweiligen subjektiven sowie situativen Ansprüchen und Erwartungen genügt. Aufgrund der Dynamik einer permanent möglichen Revision und situativen Veränderbarkeit des jeweils für gültig erachteten gesellschaftlichen Wissens, muss der Prozess der individuellsubjektiven Wissensaneignung zudem immer wieder aufs Neue und parallel zum normalen Alltags- und Arbeitsleben erfolgen. Das Konzept einer einmal erworbenen Allgemein- bzw. Berufsbildung trägt in der Wissensgesellschaft nicht mehr, sondern muss beständig ausgebaut, ergänzt und modifiziert werden. Dies entspricht der Idee eines lebenslangen, selbstgesteuerten Lernens, welches angesichts der soeben beschriebenen Phänomene und Paradoxa der Wissensgesellschaft zu deren wohl größten Herausforderungen zählt. Der Ansatz des selbstgesteuerten Lernens rückt den Menschen als Initiator, Organisator und Regulator seines eigenen Lernprozesses in den Mittelpunkt.33 Ihm obliegt damit nicht nur die Verantwortung für Zeiten und Methoden sowie die Kontrolle über Lernmotivation und Lernerfolg, er muss vor allem auch die jeweiligen Inhalte auswählen. Diese, für die plurale und dynamische Wissensrealität der Wissensgesellschaft – wenn man so will – zunehmend typische, weil notwendige Form der Wissensaneignung setzt folglich einen permanent freien und flexiblen Zugang zu den gesellschaftlichen Wissensbeständen grundlegend voraus.

31 Die für den Einzelnen in der Wissensgesellschaft notwendigen Kompetenzen finden sich ausführlicher in: Pscheida: Internetkompetenz von Erwachsenen, S. 30ff. 32 Schmidtchen: Die Dummheit der Informationsgesellschaft, S. 242. 33 Vgl. Deitering: Selbstgesteuertes Lernen, S. 11.

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2.3

Internet und Web 2.0

Das Internet, genauer das World Wide Web34, samt seiner medialen Möglichkeiten und strukturellen Besonderheiten, antwortet nun in diesem Sinne geradezu passgenau auf die soeben beschriebenen spezifischen Herausforderungen bzw. Bedürfnislagen der Wissensgesellschaft. In seiner Eigenschaft als stets verfügbares, zeitlich und räumlich flexibel zugängliches, unentwegt ergänztes und aktualisiertes Informationsmedium35 von schier unerschöpflicher Fülle fungiert es fast schon als kulturelles Gedächtnis der westlichen Gesellschaften. Sein Ruf eines scheinbar nicht veraltenden Wissensspeichers ist freilich nicht selten ein trügerischer – doch das ist Teil einer anderweitig zu führenden Diskussion. Unter der Annahme eines hinreichend medienkompetenten Umgangs mit den abrufbaren Inhalten, wird das Internet zum idealen Medium der Informationsbeschaffung und Wissensaneignung und damit eines lebenslangen und selbstgesteuerten Lernens. Gern wird das Internet daher auch mit einer Enzyklopädie bisher ungeahnten Ausmaßes, einer riesigen Sammlung des gegenwärtigen Weltwissens, verglichen,36 deren man sich nur entsprechend der persönlichen und aktuellen Wissensbedürfnisse bedienen muss. Das Problem der Auswahl und kritischen Wichtung der Inhalte ist damit gleichwohl nicht vom Tisch. Seit einiger Zeit präsentiert sich das Internet neben seiner Eigenschaft als Informations- und Wissensspeichermedium zudem aber auch als Beteiligungsmedium. Unter dem plakativen Label Web 2.037 zusammengefasst, verkörpern Blogs, Podcasts, Wikis und Soziale Netzwerke eine neue Generation der interaktiven und partizipativen Internetnutzung. Dieser Beteiligungscharakter war theoretisch schon zu Beginn in der Idee und Technologie des Internets angelegt, jedoch verhinderten lange Übertragungszeiten, hohe Verbindungskosten und die Notwendigkeit umfangreicher programmiertechnischer Vorkenntnisse lange Zeit dessen praktische Umsetzung. Dank der Entwicklung einfach zu 34 Der alltagssprachliche Begriff des Internet zielt genau genommen häufig nur auf eine Teilanwendung – die des World Wide Web. Neben dieser existieren noch weitere Dienste des Internet wie E-Mail, Gopher oder Chat. Der Einfachheit halber sollen die Begriffe World Wide Web (WWW, Web, Netz) und Internet hier jedoch synonym verwendet werden. 35 Längst hat das Internet neben Fernsehen, Zeitung und Radio seinen Platz als viertes tagesaktuelles Informationsmedium gefunden. Vgl. hierzu Köcher/Schneller: „Qualitative Veränderungen der Internetnutzung“. 36 Vgl. u.a. Stickfort: „Das Internet als enzyklopädische Utopie“; Haber: „Der wiedererwachte Traum von der ‚Bibliotheca Universalis‘“. 37 Der Begriff Web 2.0 wurde 2004 vom amerikanischen Verlagshaus O’Reilly geprägt. Vgl. O’Reilly: „What Is Web 2.0?“.

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bedienender Benutzeroberflächen (so genannte Rich User Interfaces) und aufgrund der zunehmenden Verbreitung von DSL-Breitbandanschlüssen38 sowie kostengünstiger Flatrates konnten derlei Hindernisse in den vergangenen Jahren weitgehend überwunden werden.39 Zahlreiche Webseiten sind inzwischen ohne Kenntnis von Programmiersprachen direkt im Browser zu bearbeiten; Radio- und Fernsehbeiträge lassen sich jederzeit unkompliziert und schnell vom heimischen PC aus herunterladen. Die Nutzer der Internets werden so potentiell von passiven Rezipienten zu aktiven Produzenten ihrer ganz eigenen Medienangebote, deren Inhalte sie selbst bestimmen bzw. erzeugen. Auch wenn diese zweite Dimension der partizipativen Internetnutzung und der Herstellung individuell zugeschnittener Medienangebote gegenüber jener des Informations- und Wissensspeichermediums bei den Nutzern eine bislang noch eher verhaltene Annahme findet,40 liegt hierin doch die Tendenz zur weiteren Steigerung der wissensgesellschaftlichen Komplexität. So führt die unbegrenzte Möglichkeit zur Inhaltsgenerierung durch Jedermann unweigerlich zu einem Anwachsen von Pluralität und Heterogenität bis hin zur Beliebigkeit. So gesehen steht der Charakter des Beteiligungsmediums Internet auf den ersten Blick in einem gewissen Widerspruch zur Funktion des Informations- und Wissensspeichermediums – verstärkt es doch selbst eben jene wissensgesellschaftlichen Bedürfnislagen, die es an anderer Stelle aufgreift und zu deren Bearbeitung und erfolgreichen Bewältigung es beiträgt. Aus einem nicht-normativen Blickwinkel erscheint gerade diese funktionale Besonderheit des Internets jedoch weniger als Widerspruch, sondern kann als ein Hinweis auf dessen mediales Potential betrachtet werden, im Kontext der Wissensgesellschaft Kultur prägende bzw. Kultur verändernde Prozesse in Gang zu setzen. Mit anderen Worten: Das doppelte und scheinbar gegenläufige Verhältnis des Internets zu den Herausforderungen der Wissensgesellschaft weist dieses erst vollends als deren Leitmedium aus. Das Internet reagiert auf die spezifischen Bedürfnislagen der Wissensgesellschaft, eröffnet in Wechselwirkung mit diesen aber auch Entwicklungsmöglichkeiten, die langfristig zu Wandlungen der wissenskulturellen Verfasstheit führen können.

38 Gerade hinsichtlich der flächendeckenden Verbreitung von DSL-Breitbandanschlüssen existieren auch weiterhin deutliche regionale Differenzen. Vor allem viele ländliche Regionen sind hier benachteiligt. Vgl. TNS Infratest: (N)Onliner Atlas 2007, S. 57ff. 39 Vgl. Alby: Web 2.0, S. 1ff. 40 Laut ARD/ZDF-Online-Studie 2007 ist der Anteil der wirklich aktiven Beiträger im Verhältnis zur Gesamtheit der Web 2.0-Nutzer bisher noch sehr gering. Beim so genannten Mitmach-Netz steht das Mitmachen bisher also noch nicht im Vordergrund. Vgl. Gscheidle/Fischer: „Onliner 2007“, S. 401.

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3

Die Frage nach den Konsequenzen: Die Auswirkungen des Internets auf die gesellschaftliche Wissenskultur

Wie soeben argumentiert wurde, erscheint das Informations- und Beteiligungsmedium Internet gemessen an den eingangs skizzierten Kriterien also tatsächlich als das (neue) Leitmedium der Wissensgesellschaft. In dieser Funktion reagiert es einerseits auf deren immenses Bedürfnis nach immer neuem und aktuellem Wissen, andererseits gibt es dem Umgang mit Wissen aber auch eine neuartige Prägung. Die darin enthaltene Tendenz zur Umgestaltung der gesellschaftlichen Wissenskultur ist der sichtbarste Ausdruck der Einflusskraft des wissensgesellschaftlichen Leitmediums Internet. Sie soll abschließend kurz umrissen werden. Die Realität der Wissensgesellschaft ist maßgeblich von Differenzierung und Individualisierung bestimmt. Gleichzeitig werden alle Lebensbereiche immer stärker von Wissensprozessen durchzogen. Die ökonomische, politische und soziale Bedeutung des Wissens ist gegenwärtig höher denn je. In dieser Konstellation rücken Fragen der Herstellung und Verbreitung gesellschaftlich relevanten Wissens mehr und mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der gesteigerte Bedarf an aktuellem und zugleich individuell zugeschnittenem Wissen ruft eine Vielzahl neuer Wissensproduzenten auf den Plan, die in Konkurrenz zum klassischen System der Wissenschaften treten und sich mehrheitlich an eigenen Maßstäben orientieren. Dies führt zu einer zunehmenden Pluralisierung und Dynamisierung der gesellschaftlichen Wissensbestände. Die Sicherung einer Teilhabe daran macht für den Einzelnen die lebenslange Anpassung des individuellen Wissens durch selbstgesteuerte Lernprozesse notwendig und setzt daher einen freien, flexiblen und stets aktuellen Zugang zum jeweiligen Wissensvorrat voraus. Das Internet in seiner Funktion als jederzeit verfügbares, flexibel nutzbares Informationsmedium greift dieses Bedürfnis einer stetigen und umfassenden Zugänglichkeit zum gesellschaftlich vorhandenen Weltwissen auf. Auf diese Weise stützt und verfestigt es jedoch zugleich auch einen individuell geprägten, situativ-kontextabhängigen und anwendungsbezogenen Umgang mit Wissen. Dieser zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sich der Wert des Wissens nun in erster Linie an dessen Funktionalität bemisst. Wissen muss heute vor allem praktisch anwendbar sein und in diesem Sinne wechselnden situativen und jeweils subjektiv-individuellen Ansprüchen genügen. Der Weg der Wissensproduktion wird unter dem Eindruck der wissensgesellschaftlichen Herausforderungen heute also grundsätzlich von seinem Ende her gedacht. Folglich muss Wissen auch nicht mehr – wie bisher üblich – notwendig im Modus objektiver Wahrheit verkündet werden, sondern wird stattdessen im Modus

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des Konsenses41 gehandhabt, welcher jeweils neu auszuhandeln bzw. herzustellen ist. Hinzu kommt, dass sich mit Hilfe des Internets in seiner neuen Gestalt des Web 2.0 zugleich immer mehr Menschen an der Produktion von Wissensangeboten beteiligen und zu Lieferanten ihrer persönlichen Inhalte und zugehörigen Deutungsmuster werden können. Dies steigert nicht nur die Komplexität der gesellschaftlichen Wissensbestände an sich, es trägt darüber hinaus auch dazu bei, die in der Wissenskultur der westlichen Gesellschaften genuin verankerte Dichotomie von Experten und Laien42 nachhaltig aufzubrechen. Diese basiert gemeinhin auf dem Prinzip eines wissensbezogenen, institutionell abgesicherten Kompetenzgefälles, welches die hierarchisch angelegten Rollenmuster letztlich legitimiert. Gerade wissenschaftliche Experten zeichnen sich durch eine besondere wissensbezogene Professionalität43 aus, die auf der Einhaltung der strengen Konventionen und ideellen Imperative des wissenschaftlichen Systems im Rahmen der Erzeugung und Kommunikation wahren Wissens basiert. Mit dem Wegfall des Wahrheitsanspruchs lässt sich die Anerkennung von Wissen als gesellschaftlich relevant nun allerdings nicht mehr ausschließlich über derartig normativ systematisierte und institutionalisierte Verfahren regeln, sondern muss fortwährend interaktiv ausgehandelt werden. Wenn dabei nun aber jeder erst einmal potentiell zum Kommunikator seines persönlichen Wissensangebots werden kann und dieses sich nicht länger an den normativen Standards der akademischen Wissenschaften, sondern allein an den neuen Kriterien von Aktualität und situativer Brauchbarkeit messen lassen muss, wird die Deutungsautorität der professionellen (wissenschaftlichen) Experten weithin obsolet. Unter den Bedingungen einer hochspezialisierten sowie differenzierten, individualistischen, pluralistischen und dynamischen Wissensgesellschaft und angesichts der Implikationen des Mediums Internet erscheinen plötzlich gewissermaßen alle Menschen als potentielle Experten. Will sagen: Im wechselseitigen Ermöglichungszusammenhang44 aus wissensge41 Die beiden Wissensmodi repräsentieren zwei idealtypisch entworfene, kontrastiv gelagerte Modelle des Wissens, die hier vorerst nicht weiter ausgeführt werden sollen. 42 Zu den Begriffen Experte und Laien sowie zu deren Verhältnis vgl. u.a. Hesse: Experte, Laie, Dilettant. 43 Die Professionalität des Experten definiert sich allgemein über eine spezielle Form der Anwendung einer Expertise in der beruflichen Praxis und einer institutionalisierten Selbstkontrolle bei der Fortschreibung und Erweiterung des jeweiligen Sonderwissensbestandes, woraus wiederum bestimmte Legitimations- und Autoritätsansprüche resultieren. Vgl. Hitzler: „Wissen und Wesen der Experten.“, S. 14ff. 44 Der Begriff des wechselseitigen Ermöglichungszusammenhangs ist einer Arbeit Siegfried J. Schmidts entlehnt, in der es um die interdisziplinäre Beschreibung des

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sellschaftlichen Bedürfnislagen und medialen Dispositionen des Web 2.0 realisiert und etabliert sich das Phänomen einer gesellschaftlich geteilten Expertise45, die mehr ist als die bloße Berücksichtigung adressatenseitiger Anforderungen und Ansprüche. Das neue Laien-Expertentum im Internet ist dabei weder institutionell noch professionell begründet, sondern basiert auf struktureller Demokratie und partizipativer Aktivität. Insofern kann und will die dort verkündete Expertise freilich immer nur auf Zeit und für einen sehr eng bemessenen, hochspezialisierten Bereich Gültigkeit beanspruchen. Damit sind nun also einige deutliche Tendenzen eines gegenwärtig sich abzeichnenden Wandels der Wissenskultur in der Wissensgesellschaft benannt, der durch das Medium Internet als deren Leitmedium angeregt und befördert wird. In der Wechselwirkung der medialen Dispositionen mit den spezifischen sozio-kulturellen Herausforderungen und Bedürfnislagen erhält situativ brauchbares Wissen systematisch Vorrang vor gesichertem, universal gültigem Wissen. An die Stelle des Anspruchs objektiver Erkenntnis universaler Wahrheit rückt die Einsicht in die Kontextabhängigkeit des Wissens und die Notwendigkeit zu subjektiv motivierter, partizipativ-interaktiver Aushandlung. In diesem Sinne wandelt sich die passive Teilhabe am gesellschaftlichen Wissen in eine aktive Teilnahme am Prozess der Wissensgenese- und Kommunikation. Die traditionelle Rollendifferenz zwischen Experten und Laien wird dabei zusehends nivelliert. Die wissenschaftliche Expertise verliert ihre strukturelle Autorität; die asymmetrische Einseitigkeit des Transfers wird zur symmetrischen Gegenseitigkeit des Dialogs.

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aktuellen Lern- und Kompetenzdiskurses in globalisierten Gesellschaften geht. Vgl. Schmidt: Lernen, Wissen, Kompetenz, Kultur, S. 10. 45 Vgl. Nowotny u.a.: Wissenschaft neu denken, S. 321.

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Social media und fotografische Praktiken. Eine Analyse der Auswirkung neuer Kommunikationstechnologien auf Schnappschussgewohnheiten Mit Hilfe von Schlagwörtern wie social media und Web 2.0 wird u.a. auf die sich beschleunigende Vermischung zwischen vormals Privaten in die Öffentlichkeit sowie zunehmend Öffentlichen als integralen Bestandteil des Privaten verwiesen. Zugleich, so die gängige These, muss eine relativ kleine Gruppe von ÖffentlichkeitsproduzentInnen eine Flut von einzelnen Privatpersonen ernst nehmen, die selbst zu MedienproduzentInnen avancieren und mit Hilfe von digitalen Medientechnologien das Konzept Öffentlichkeit transformieren. Es handele sich in diesem Zusammenhang um einen Medienumbruch, in dem vor Allem das durch social media und Web 2.0 markierte „neue“ Internet die Rolle eines Leitmediums annimmt. Bei einer näheren Untersuchung fotografischer Praktiken, deren technisch-apparative Dispositive sich explizit durch die Einführung digitaler Technologien verändert haben, lässt sich beobachten dass neben neuen Bildpraktiken tradierte Bildpraktiken einen bedeutenden Anteil beibehalten. Obwohl durch die Veränderungen der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) eine Reihe neuer fotografischer Praktiken entstanden sind, wie happy slapping und citizen reporting1, um nur zwei der vielen Varianten zu nennen, und sie somit zu einer Entstehung unterschiedlicher Öffentlichkeiten beitragen, so lässt sich aufzeigen, dass die Anwendung neuer Medientechnologien für eine tradierte kulturelle Praxis, in diesem Fall die Schnappschussfotografie, nicht automatisch vollkommen neue Umgangsformen mit sich bringt. Hiermit möchte ich auf die Kontinuitäten bei der Betrachtung von Medienumbrüchen hinweisen, die nicht in jedem Fall zu neuen Leitmedien, d.h. spezifischen Orientierungsmustern einzelner Bezugsgruppen, führen. Mit Hilfe von qualitati1

Happy slapping ist eine in den Massenmedien oft besprochene Form eines gewalttätigen Aktes, in dem unbeteiligte Dritte geschlagen werden und dieser Akt gefilmt wird. Sie ist eine von Jugendlichen angeeignete Version von Fernsehsketchen, wie z.B. auf MTV bei Dirty Sanchez oder Jackass zu sehen. Der 16-jährige Armand Jenkins kommentiert in einer BBC-Nachricht happy slapping: „Even though it might be quite painful for them and you obviously feel quite sorry for them because they’re injured […] it’s still funny because it’s like seeing the sketch on TV.“ Vgl. Akwagyiram: „Does ‚Happy Slapping‘ Exist?“. Citizen reporting bezeichnet die Einbeziehung von LaienreporterInnen als Zulieferer von Nachrichtenmaterial, besonders von Fotografien. Vgl. Twist: „The year of the digital citizen“.

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ven Interviews und Bildanalysen mit neue IKT anwendenden Schnappschussfotografen und Menschen aus ihren sozialen Netzwerken lässt sich aufzeigen, dass die in die Schnappschussfotografie sozialisierten die neuen IKT noch eher traditionell anzuwenden scheinen, während Menschen, die nicht vorher aktive MedienproduzentInnen waren, mit diesen neuen Geräten neuartige Umgangsformen entwickeln. Hiermit fügt sich diese Beobachtung einer medienhistorischen Erkenntnis, die davon ausgeht, dass oft neue Medien versucht werden mit altbekannten Anwendungsmustern zusammenzubringen, so dass die in den Medien selbst steckenden Möglichkeiten nicht ausgereizt werden.2 Hiermit möchte ich den Einfluss tradierter kultureller Praktiken auf Medienanwendung hervorheben, obwohl Medien sich ihrerseits in unsere Körper einschreiben und unsere Wahrnehmung verändern.3 Um diese Sicht auf die teilweise rasanten Veränderungen in den Möglichkeiten der bildgebenden Verfahren hervorzuheben, wird zuerst die filmbasierte Schnappschussfotografie als eine frühe Form des benutzererstellten Inhaltes vorgestellt, um zweitens auf die Digitalisierung der technischen Infrastruktur aufmerksam zu machen. Vor dem Hintergrund weiterer Studien zur Schnappschussfotografie wird drittens auf Ergebnisse einer empirischen Studie zur gegenwärtigen Schnappschussfotografie eingegangen, um vor Allem die Auswirkung neuer IKT auf die Schnappschussgewohnheiten der Untersuchten zu besprechen. Da beachtliche Ähnlichkeiten in den Schnappschussgewohnheiten der Untersuchten, sowie in der Forschungsliteratur zu finden sind, wird zuletzt die Herstellung und Aufrechterhaltung des Faktes Schnappschussfotografie reflektiert.

Die filmbasierte Schnappschussfotografie Mit der Einführung der ersten Amateurkameras Ende des 19. Jahrhunderts, deren Anwendung nicht an eine langwierige Auseinandersetzung mit der verwendeten Technologie gebunden war, entstand die Schnappschussfotografie. Sie beschreibt eine fotografische Tätigkeit, die sich weniger an technischen Details und einer spezifischen Ästhetik orientiert, sondern eher an anderen Menschen und mit ihnen geteilten Erlebnissen. Durch Schnappschussfotografien werden bedeutsame Momente aufgezeichnet, eine spezifische individuelle und kollektive Erinnerungskultur erzeugt, die individuelle wie kollektive Identität geformt und der soziale Austausch mit nahestehenden Personen intensiviert. Hierdurch unterscheidet sie sich von der Amateur- und der professionellen 2

Z.B. Briggs/Burke: A Social History of the Media.

3

Vgl. z.B. Belting: Bild-Anthropologie; Debray: Einführung in die Mediologie.

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Fotografie, die ein Interesse an technischen Details sowie einer bestimmten Ästhetik hat. Die 1900 eingeführte Kodak Brownie, von der im ersten Jahr 100.000 Stück à 1 Dollar verkauft wurden, kann als Anfangsdatum der Demokratisierung des technischen Bildes und der Verbreitung der Schnappschussfotografie verstanden werden. Vorgänger finden sich vor allem in den Detektivkameras wie der Concealed Vest Camera (1886) von C.P. Stirn sowie der ersten Kodak-Kamera, der Kodak Nr. 1 (1888).4 Der Begriff snapshot, Schnappschuss, wurde schon 1860 von Sir John Herschel im Zusammenhang mit Fotografien verwendet.5 Herschel bezog sich mit diesem Begriff auf das schnelle Zielen mit der Kamera und das Aufnehmen einer Fotografie, als ob es sich um eine Jagdtätigkeit mit dem Gewehr handelte. Eine Weiterentwicklung des Konzeptes fand mit George Eastman statt, der sich mit seiner Firma Kodak auf die Einfachheit des gesamten fotografischen Prozesses konzentrierte, das sich in dem legendär gewordenen Werbespruch „You press the button, we do the rest“ manifestiert. Nachdem mit der Kamera die fotografischen Aufnahmen gemacht waren, schickte der Fotograf die Kamera zu Kodak nach Rochester, wo der Film entwickelt wurde, Papierabzüge hergestellt wurden und die Kamera mit einem neuen Film wieder aufgeladen wurde. Während der Werbespruch mit der Einführung der Kodak Nr. 1 erfunden wurde, verhalf erst der relativ niedrige Preis der Kodak Brownie der Fotografie zu einem Massenphänomen. 1905 besaßen laut Nancy West etwa ein Drittel der US-Bevölkerung eine Brownie. Die Schnappschussfotografie wurde somit ein Massenphänomen des benutzererstellten Inhaltes (user-generated content) im 20. Jahrhundert. Somit ist sie ein wichtiger Vorläufer der gegenwärtigen Social-Network-Seiten, einer Sonderform des unglücklichen Begriffes social media6.7 Das Aufkommen der Schnappschussfotografie ermöglichte eine bildliche Repräsentationsvielfalt, die nicht an mühsam zu erlernende Kulturtechniken gebunden war, wie z.B. an die Handhabung des Nassdruckverfahrens. Die Kamera konnte mitgetragen werden, ohne Blitz betätigt werden und die Bilder konnten in Schuhkartons, Fotoalben und gerahmt im Haus aufbewahrt wer4

Toedtemeier: „Photography’s Love Child“.

5

Die Erfindung des Begriffes Fotografie wird auf Hercules Florence in Brasilien 1834 zurückgeführt. Sir John Herschel verhalf ihm zu weiterer Verbreitung. Vgl. Romer: „Introduction to the Biographies of Selected Innovators of Photographic Technology“, S. 128.

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Unglücklich, da social media impliziert, dass andere Medien nicht sozial wären, was augenscheinlich nicht stimmt.

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Vgl. West: Kodak and the Lens of Nostalgia.

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den. Polaroid-Kameras und Kompaktkameras wurden entwickelt, so dass Richard Chalfen 1987 von einer Kodak Culture sprechen konnte, die sich um die Verwendung der Schnappschusstechnologien ausgebildet hatte. Mit Kodak Culture beschreibt er „whatever it is that one has to learn, know, or do in order to participate appropriately in … the home mode of pictorial communication“8. Vor allem der 35-mm-Silberhalogenidfilm wurde zu einer bestimmenden Formgebung, der jahrzehntelang die Grundlage für eine weite Reihe von Produkten in der Fotoindustrie bildete und die wiederum die technische Basis der Schnappschussfotografie bildete.9 Chalfen stellte in seinen Untersuchungen zur Schnappschussfotografie in den USA eine auffällige Ähnlichkeit der privaten fotografischen Praktiken bei unterschiedlichen Familien fest.

Die Digitalisierung der technischen Infrastruktur Während Chalfen sich auf die filmbasierte Fotografie konzentrierte, ist gegenwärtig die Schnappschusskultur zunehmend digitalisiert und vernetzt. Um 2000 begann die digitale Fotografie in einem breiten Maßstab die filmbasierte Fotografie abzulösen.10 Im gleichen Jahr wurde von Samsung die erste Digitalkamera in ein Mobiltelefon integriert, mit der bis zu 20 Bilder à 640 x 480 Pixel aufgenommen werden konnten.11 Anu Mäkelä u.a. publizierten im gleichen Jahr ihre Maypole-Studie zu mobiler Schnappschussfotografie, die noch mit Hilfe von Prototypen durchgeführt wurde. Die Untersuchungssubjekte trugen während der Studie z.B. ein Laptop im Rucksack, um das Funktionieren der technischen Infrastruktur zu gewährleisten.12 In nur wenigen Jahren danach sind die technischen Möglichkeiten der alltäglichen Bildgebung und -verbreitung immens gestiegen. Mit digitaler Technologie ist es möglich geworden, stille und bewegte Bilder mit einem Gerät aufzunehmen, wie z.B. einer Digitalkamera, einem Mobiltelefon oder einem Laptop-Computer. Automatisierte Metadaten werden mit Hilfe von digitalen Aufnahmegeräten in die Bildinformation integriert, so dass eine Reihe von In-

8

Chalfen: Snapshot Versions of Life, S. 10.

9

Munir und Jones sprechen hier von dominant designs und in Anlehnung an Bruno Latour von obligatory points of passage. Munir/Jones: „Discontinuity and After“. Siehe auch Munir/Phillips: „The Concept of Industry and the Case of Radical Technological Change“.

10 Peres: „Profiles of Selected Photographic Film and Digital Companies“, S. 301. 11 Carter: „Advancement of Digital Photography and Related Technologies Timetable“, S. 21. 12 Mäkelä u.a.: „Joking, Storytelling, Artsharing, Expressing Affection“.

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formationen, wie Datum und Uhrzeit oder Blende und Verschlusszeiten, automatisch registriert werden können. Mit Hilfe von neueren in Kameras integrierten IKT, wie GPS, kann zudem die örtliche Lage des Fotografen festgestellt werden. Mit Hilfe einer Bluetooth-Verbindung im Mobiltelefon können mit der passenden Software alle im näheren Umfeld befindlichen offenen Bluetooth-Geräte beim Fotografieren abgetastet werden, so dass nicht im Bild selbst erscheinende Geräte als Teil der Bildinformation aufgerufen werden können.13 Vor Allem in Aufnahmen mit Mobiltelefonen kann eine Fülle kontextueller Informationen in das Bild integriert werden.14 Die aufgenommenen Bilder können auf einen Display betrachtet werden und direkt gelöscht werden, oder durch selbst gewählte Tags individuellen Bedürfnissen angepasst werden und weiterverschickt werden. E-Mails, ftp-Server, Bildarchivierungs-, -verbreitungs- und -veröffentlichungswebseiten wie Flickr oder Kuvaboxi und Social-Network-Seiten wie MySpace oder Facebook werden zur Bildarchivierung, -verbreitung und -veröffentlichung angewandt und verändern somit die vorher filmbasierte Schnappschussfotografie.

Studien zur Schnappschussfotografie Die Schnappschussfotografie ist vergleichsweise wenig erforscht worden. Pierre Bourdieu u.a. studierten die filmbasierten Schnappschussgewohnheiten in den 1960er Jahren in Frankreich, Roland Barthes beschäftigte sich u.a. mit Schnappschüssen, Richard Chalfen publizierte seine Studien der USamerikanischen Schnappschussgewohnheiten Ende der 1980er Jahre, Marianne Hirsch konzentrierte sich in den 1990er Jahren auf Familienfotografien, wie auch Ulkuniemi später in Finnland 2005.15 Studien zur Fotografie mit Mobiltelefonen sind seit 1999 publiziert worden, wobei alle Studien sich fast ausschließlich auf das eine Medium konzentrieren und die Mobiltelefonfotografien selten in Beziehung zu weiteren Schnappschusspraktiken gesetzt werden.16

13 So z.B. mit der Software Meaning. 14 Neben den bereits genannten auch Kalenderinformationen, Einträge im Adressbuch und weiteres mehr. 15 Barthes: Die helle Kammer; Bourdieu u.a.: Eine illegitime Kunst; Chalfen: Snapshot Versions of Life; Hirsch: Family Frames; Ulkuniemi: Valotetut elämät. Für deutschsprachige Studien siehe z.B. Starl: „Die Bildwelt der Knipser“. 16 Siehe z.B. Koskinen u.a.: Mobile Image; Koskinen/Kurvinen: „Mobile Multimedia and Users“; Sarvas: Designing User-Centric Metadata For Digital Snapshot Photography; Gye: „Picture This“; Van House: „Distant Closeness“; Scifo: „The Do-

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Da Social-Network-Seiten, die den Bildgebrauch fördern, erst seit wenigen Jahren bestehen, gibt es hierzu erst die ersten Publikationen.17 Obwohl das mediale Interesse sich besonders hier auf neuartige Formen des Bildgebrauchs konzentriert, und die vermeintlich verheerenden Auswirkungen von spezifischen Bildern auf das soziale Zusammenleben, so zeigt sich bei der Betrachtung des Gebrauchs dieser Webseiten ein vielschichtigeres Bild. Andrew Miller und Keith Edwards sind bei ihrer Erforschung von Flickr-Anwendern zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wie die hier kurz vorzustellende Studie. Ihre Anwender konnten in zwei Kategorien eingeteilt werden, von denen die einen Flickr- und ähnliche Social-Network-Seiten zur nicht-öffentlichen Aufbewahrung und Verbreitung von Bildern anwendeten. Die zweite Gruppe nennen sie in Anlehnung an Flickr Snaprs, deren Bildmaterial öffentlich zugänglich war. Anhand der Ausführungen von Miller und Edwards scheinen die öffentlich Bildmaterial verbreitenden Fotografen eher Fotoamateure zu sein, die mit Hilfe der öffentlich zugänglichen Bilder einen Austausch mit bislang unbekannten Gleichgesinnten suchen, und dadurch ähnlich wie Hobbygruppen eine Interessensgemeinschaft bilden. Die Aufrechterhaltung der sog. weak links im sozialen Netzwerk wird hierdurch gefördert; dies ist eine der Stärken die Social-NetworkSeiten so populär gemacht hat.

Eine empirische Untersuchung der gegenwärtigen Schnappschussgewohnheiten Um den Veränderungen in der Schnappschusspraxis näher zu kommen, sind am Helsinki Institute for Information Technology in den letzten drei Jahren mehrere Studien zur Schnappschussfotografie durchgeführt worden.18 Die Studien befassen sich alle mit der Auswirkung neuer IKT auf die gegenwärtige Schnappschusspraxis. Im Folgenden konzentriere ich mich im Besonderen auf eine von mir im letzten Jahr durchgeführte Studie, die sich mit der Bildpraxis junger Mütter und ihren sozialen Netzwerken auseinandersetzt. Dies deshalb, da die Ergebnisse dieser Studie ein interessantes Licht auf die Frage werfen, mestication of Camera-Phone and MMS Communication“; Kindberg u.a.: „The Ubiquitous Camera“; Kirk u.a.: „Understanding Photowork“. 17 Laukkanen: „Nähdä ja näkyä netissä“; Van House: „Flickr and Public Image-sharing“; Miller/Edwards: „Give and Take“. 18 Unter den Projektnamen Immortalidad und Pamphlet sind breiter angelegte Studien unternommen worden, in denen die Schnappschuss-Infrastruktur eine besondere Rolle gespielt hat. Mobiltelefonfotografie ist u.a. von Risto Sarvas, Esko Kurvinen, Antti Oulasvirta, Antti Salovaara, Jaana Näsänen und Sami Vihavainen erforscht worden.

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inwiefern die neuen IKT die Praxis der Schnappschussfotografie verändert haben – oder wie sich Medienumbrüche auf kulturelle Praktiken auswirken.19 Die TeilnehmerInnen der zu besprechenden Studie wurden mit Hilfe einer Anzeige auf der Titelseite von Kuvaboxi gefunden, einem von dem Unternehmen Futurice und dem privaten Fernsehkanal MTV3 bereitgestellten Fotodepot und -distributionsservice.20 Dieser Service ermöglicht den Anwendern ihre digitalen Fotografien und Videos gebündelt zur Schau zu stellen und je nach eigenem Abwägen die einzelnen Adressaten auszuwählen, die jeweils eine Einladung erhalten, um sich einen Bildordner anzusehen. So können einzelne Nutzer relativ genau die jeweiligen Adressaten auswählen und somit flexibel in ihrem digitalen Kommunikationsmilieu agieren. Um die Kommunikation um und durch Bilder zu fördern, gibt es die Möglichkeit einzelne Fotografien und Videos zu kommentieren, wobei die jeweiligen Kommentare wiederum weiterhin kommentiert werden können. Somit ist Kuvaboxi ein Beispiel für eine sog. Web-2.0-Anwendung, die es Anwendern ermöglicht, von ihnen selbst geschaffenen Inhalt auf einer gemeinsamen Plattform zur Schau zu stellen und diesen Inhalt mit weiterem Inhalt zu kommentieren. Die Möglichkeit, die eigene Privatsphäre relativ flexibel zu regeln, bei Interesse jedoch auch die jeweils hochgeladenen Bilder allen zugänglich zu machen, hat diesen Service in Finnland relativ bekannt gemacht.21 In den zwei Wochen, in denen die Anzeige zu sehen war, meldeten sich 42 Interessierte, von denen letztendlich fünf ausgewählt wurden, die wiederum um Hilfe für die Rekrutierung von Interviewpartnern aus ihren sozialen Netzwerken gebeten wurden. Die Hauptkriterien waren, dass die zu Untersuchenden viel fotografieren, sog. SchnappschussfotografInnen sind und dass sie sich mit der neueren IKT auskennen – d.h. selbst Erfahrung mit Social-NetworkSeiten haben wie auch mit Digitalkameras und eventuell mit Fotohandys. Den Müttern wurde der Testgebrauch eines damals neuen, mit Kamera ausgestatteten Mobiltelefones versprochen, um sicherzustellen, dass sie sich für neue IKT interessieren.22 Alle Mütter wurden qualitativ mit semistrukturierten Fragebögen interviewt, vor dem Testgebrauch sowie danach. Alle Fotografien und Videos, die mit den ausgeliehenen Mobiltelefonen aufgenommen wurden, wurden separat analysiert und in Beziehung zu den Bildpraktiken mit weiteren Aufnahmegeräten gesetzt.

19 Diese Studie wurde im Rahmen des Projektes 1175 Pamphlet durchgeführt. Für eine weitere Besprechung siehe Lehmuskallio/Sarvas: „Snapshot Video“. 20 Zu Kuvaboxi siehe www.kuvaboxi.fi. 21 Etwa 2,7 % der Bevölkerung verwenden Kuvaboxi, Stand 07.11.2007. 22 Nokia N70 oder N90.

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Die Interviewfragen kreisten in Anlehnung an Chalfens Sociovidistic Framework am Schnappschusszyklus, der verwendeten technischen Infrastruktur und der Art und Weise, wie die Sozialisation in die Schnappschussfotografie stattfand.23 Ein besonderer Fokus wurde auf die sozialen und bildbezogenen Netzwerke gelegt, sowie auf den Einfluss bildlicher Kommunikation auf diese.24 Dies ermöglichte es, einen Blick auf Medienzirkulationen zu werfen – z.B. wie sich die Bildkommunikation in einen breiteren Kommunikationskreislauf fügt – sowie die Bedeutung sozialer Rollen zu untersuchen. So hoben mehrere Interviewte hervor, dass sie z.B. nicht unbedingt selbst auf Familienfesten fotografieren, wenn auch die Person der Familie anwesend ist, die diese Rolle üblicherweise übernommen hat. Insgesamt wurden 13 Menschen interviewt, von denen die fünf Mütter jeweils vor und nach der Interventionsstudie interviewt wurden.

Die Auswirkung neuer IKT auf die Schnappschussgewohnheiten der Interviewten Im Hinblick auf die veränderte technologische Infrastruktur der Schnappschussfotografie, sowie den oft eher spektakulären Anmerkungen zur Mobiltelefonfotografie und den Auswirkungen von Social-Networking-Seiten, hätte erwartet werden können, dass die 13 Interviewten sich nach neuen fotografischen Praktiken richten würden, wie z.B. dem citizen reporting oder der Veröffentlichung vom privaten Material. Die Ergebnisse der Studie zeigen auf, dass wann fotografiert wird, was fotografiert wird und an wen die jeweiligen Bilder weiterverschickt werden sich nach der Einführung von Chalfens Begriff Kodak Culture wenig verändert hat, obwohl sich die Anzahl der aufgenommenen Bilder, ihre visuelle Darstellung sowie die technische Infrastruktur verändert haben. Die bislang durchgeführten akademischen Studien zeigen nur Tendenzen auf, da Schnappschusspraktiken nach meinem Wissen nicht breit angelegt erforscht worden sind. Mit Hilfe von Marktstudien kann errechnet werden, dass die Anzahl von Fotohandys sowie Digitalkameras kontinuierlich steigt, wie auch die Anzahl der Bilder die mit Hilfe von Flickr, Facebook und weiteren Anwendungen verschickt werden. Es kann jedoch angenommen werden, dass

23 Vgl. Chalfen: Snapshot Versions of Life. 24 Bourdieu sprach noch von Fotoalben als Soziogramme einzelner Individuen, doch in diesen Interviews stellte sich heraus, dass die Untersuchten meist immer bedeutende Personen in ihrem sozialen Netzwerk hatten, die nicht Teil der Schnappschussfotografie waren.

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weiterhin nur ein geringer Teil des benutzererstellten Inhaltes überhaupt öffentlich verteilt wird.25 Die Geburt des eigenen Kindes sowie die Vorbereitung auf eine längere Reise waren die zwei wichtigsten Gründe, sich eine (neue) Kamera anzuschaffen; eine Einsicht, die auch in weiteren Studien erhalten worden ist. Fotografiert wurden vor allem die eigenen Kinder, mögliche Haustiere, der/die LebenspartnerIn, Freunde, Verwandte, KollegInnen, Bekannte aus gemeinsamen Hobbys und dem Kindergarten der Kinder. Die aufgenommenen Bilder werden laut den Interviewten zumeist auch den Menschen gezeigt und teilweise gegeben, die in den Aufnahmen auftauchen. Das Zeigen ist nur bedingt von Angesicht zu Angesicht möglich, weswegen oft E-Mail und SocialNetworking-Seiten hierfür angewandt werden. Diese Bilder haben die Interviewten, außer einem, nicht öffentlich verteilt, obwohl die verwendeten Anwendungen dies ermöglicht hätten. Somit haben die Interviewten nicht durch die Einführung neuer IKT ihr Verständnis zwischen dem verloren, was privat und was öffentlich ist. Auch ein Interviewter, dessen Bilder seiner Kinder auf einer weiteren Social-Networking-Seite öffentlich zugänglich sind,26 hat eine strikte Grenzziehung zwischen öffentlich und privat zeigbarem Bildmaterial gezogen. So betonte er, dass er bestimmte Fotografien, die er auf Partys mit Freunden machte, nicht öffentlich zugänglich halten kann, da z.B. sein Arbeitgeber diese nicht sehen sollte. Sein Verständnis dessen, was als privat und was als öffentlich gilt, ist dennoch anders als das der weiteren Interviewpartner, da sie aus Angst vor unlauterem Gebrauch vor allem die Bilder der eigenen Kinder nicht öffentlich machen wollten. Neben einem „Kern“ der Schnappschussfotografie, der schon in frühen Studien aufgezeigt worden ist, gibt es jedoch einige Bildtypen, die durchaus neu sind. Die jeweils aufgenommenen Bilder können in drei Gruppen kategorisiert werden und mit vorigen Studien verglichen werden: 1) in die traditionelle von Chalfen beschriebene Schnappschussfotografie, die aus Aufnahmen besteht, die alle außer eine Interviewte machten, 2) in Aufnahmen, die spezifisches Interesse verlangen, und 3) in Aufnahmen, die durch die Einführung von Mobiltelefonen intensiviert worden und/oder erst zustande gekommen sind. Von den 13 Interviewten haben zwölf sich in ihrem Aufnahmeverhalten

25 Risto Sarvas geht z.B. davon aus, dass die etwa 800 Millionen Menschen in den EU und USA mit ihren etwa 650 Millionen digitalen Aufnahmegeräten (Digitalkameras sowie Fotohandys) im Schnitt ca. 100 Fotografien pro Gerät im Jahr aufnehmen, so dass die Anzahl von aufgenommenen Bildern kontinuierlich steigt, während nur ein kleiner Prozentsatz der Bilder überhaupt auf Social-Network-Seiten vertrieben wird (persönliche Mitteilung). 26 irc-galleria.net.

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hauptsächlich auf die ersten zwei Kategorien konzentriert. Hierdurch unterscheiden sie sich in den Grundzügen ihrer fotografischen Praxis wenig von früheren SchnappschussfotografInnen. Die ersten zwei Bildkategorien beinhalten Bildtypen, die traditionellerweise in der Schnappschusskommunikation existiert haben, und deswegen als Teil einer soziotechnischen Praxis gesehen werden können, die sich schon um eine filmbasierte fotografische Infrastruktur gebildet hat. Diese drei Kategorien werden im Folgenden näher erläutert: 1)

Die „traditionelle“ Kodak Culture besteht aus Fotografien, die meist zu außerordentlichen Zeiten aufgenommen werden und bedeutsame Menschen für den Fotografen beinhalten. Fotografien werden zu Übergangsriten aufgenommen (Konfirmation, Abitur, Hochzeit, Begräbnis), zu regelmäßigen Ritualen (Weihnachten, Mittsommer, Geburtstag), auf Reisen in der „Fremde“, zum Festhalten persönlicher Entwicklung (die ersten Zähne des eigenen Kindes, oder auch der erste eigene Bungee-Sprung) und bei besonderen Ereignissen (Konzerten, Sportereignissen). Die Motive, die hier fotografiert werden, sind hauptsächlich bedeutsame Menschen im Alltag der Interviewten. Außerdem gibt es durch spezifische Medien gerahmte Personen, Gebäude und Ansichten, sog. photo-opportunities.27

2)

Zu den Fotografien, die spezifisches Interesse verlangen, gehören Fotografien von Haustieren, spezifischen Hobbys, der Imitation von öffentlichen Medieninhalten, Natur- und Landschaftsfotografien, Alltags- und Dokumentarfotografien sowie Schnappschussfotografien, die von den Interviewten mit dem Begriff „Kunst“ in Verbindung gebracht werden. Es sind vor allem Bilder dieser Kategorie, die z.B. durch Flickr in eine öffentliche Kommunikationsstruktur eingeschleust werden können, um Interessensgemeinschaften bilden zu können. Diese Kommunikation nutzt die weak links zwischen KommunikationspartnerInnen, um mit vorher unbekannten Menschen gemeinsame Interessen verfolgen zu können.

Eine der interviewten Personen, eine etwa 50-jährige Frau, unterschied sich in ihren Bildpraktiken von den bislang genannten. Sie war nie als Medienproduzentin in die Schnappschussfotografie sozialisiert worden und fotografierte erst seit einigen Monaten, nach dem sie ein Mobiltelefon mit integrierter Kamera zu Weihnachten erhalten hatte. Obwohl die zwölf weiteren Interviewten sich hauptsächlich auf die traditionelle Schnappschussfotografie konzentrierten,

27 Vgl. zu photo-opportunities Holert: „Bildfähigkeiten“.

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konnte sie sich von diesen Zwängen befreien und fotografierte ähnlich, wie in Studien zur Mobiltelefonfotografie zu lesen ist. 3) Sie konzentrierte sich vor allem auf die dritte Kategorie, d.h. auf funktionale Bilder, z.B. das Fotografieren von Einkaufslisten, oder das Fotografieren von sich selbst bei Tanzbewegungen, um mit Hilfe der aufgenommenen Bilder die eigene Körpertechnik beim Tanzen zu verbessern, auf die realzeitliche Kommunikation einer entfernten Nähe, indem sie ihre Tochter ermunterte Bilder des Enkelkinds per MMS zu schicken, so dass sie an den fotografierten Momenten aus der Entfernung teilhaben konnte und selbst wiederum ein Bild zurückschicken oder direkt anrufen konnte, sowie auf Bilder der Langeweile, z.B. das Fotografieren beim Warten auf den Bus. Die Gründe für den neuartigen Einfluss der Mobiltelefone lassen sich auf vier Aspekte zurückführen. 1) Durch das konstante Mittragen von Mobiltelefonen lassen sich neuartige Bilder aufnehmen, deretwegen früher eine Kamera nicht oder nur äußerst selten mitgenommen wurde. Vor allem Bilder der Langeweile, funktionale Bilder, unbemerkt aufgenommene Bilder und das Fotografieren von Bildern, die als Scherze weiterverschickt werden, wurden von den Interviewten mit Mobiltelefonen in Verbindung gebracht. 2) Durch die am Mobiltelefon befindlichen Kommunikationskanäle, die einen Bildtransfer erlauben (MMS, WAP- und/oder http-Anbindung durch z.B. 3G-Netzwerke oder WLAN, sowie Bluetooth und Infrarot), können neuartige informationelle Parallelrealitäten oder auch Augmented Realities erschaffen werden. 3) Durch die Möglichkeit, die aufgenommenen Bilder gleich wieder zu löschen und 4) durch die geringfügigen Erwartungen, die an die Qualität der mit Mobiltelefonen aufgenommenen Fotografien gestellt werden, sinkt die Hemmschwelle Schnappschüsse zu machen.

Die Schnappschussgewohnheiten als Fakt Die Gemeinsamkeiten der Bildpraktiken der zwölf Interviewten Schnappschussfotografen in Finnland untereinander sind beachtlich28 und weisen mit den von Richard Chalfen zwanzig Jahre früher in den USA untersuchten Bildpraktiken bedeutsame Überschneidungen auf. Diese Ähnlichkeiten hatte auch Chalfen in seinen Studien bzgl. der Anwendung von Filmkameras in der Schnappschussfotografie festgestellt und muss die Frage stellen:

28 Vgl. auch Sarvas: Designing User-Centric Metadata For Digital Snapshot Photography; Ulkuniemi: Valotetut elämät.

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If we find that similarities outnumber trivial differences for all groups studied, we should be prepared to take the construct of Kodak culture even further. Speculation and consideration must be given to the fact that inexpensive camera equipment, produced for non-professional use in contexts of home-mode communication, carries with it some form of ‘operating instructions’ – instructions that somehow provide a model for appropriate behavior on a cross-cultural basis.29 Dies ist eine medientheoretisch interessante Frage, da sie die rahmenden Auswirkungen von Medientechnologien auf Menschen unterstreicht. Wie verändern sich durch die Einführung neuer Medien die Orientierungsmuster für spezifische kulturelle Praktiken? Kamal Munir und Matthew Jones zeigen mit einem Hinweis auf Bruno Latour, wie Schnappschussfotografie zu einem Fakt werden konnte, so dass Chalfen von einer „some form of ‚operating instructions‘“ sprechen kann, die dennoch nicht an einem neuen Medium per se kleben. Mit dem Begriff des Enrolment weisen sie auf einen Prozess hin, durch den erst die notwendige technische Infrastruktur entstehen kann und aufrechterhalten wird, so dass der anfangs zitierte Satz „You press the button, we do the rest“ Gültigkeit besitzt. Die filmbasierte Schnappschussfotografie muss kontinuierlich zu einem Fakt erarbeitet werden. Thus, the 35 mm roll-film camera is a dominant design because of a chain of associations in which it is embedded and which constitutes the context in which it can remain dominant. In this context, film is cheap and widely available, cameras are simple to use and do not break down frequently, quick photofinishing services are widely available and affordable, and lastly, preserving memories as pictures and displaying them is a valued activity. It is important to note that the agents providing these services, or enabling this chain of consumption, as well as the consumers sustaining popular photography had to be persuaded in a process of enrolment, and that their participation was essential to the success and sustainability of the new concept.30 Demnach wird Schnappschussfotografie nur zu einem Fakt, wenn Menschen sich danach richten und es als Fakt anerkennen. Die Gebrauchsanweisungen heften nach Munir und Jones nicht am angewandten Medium selbst, sondern werden kontinuierlich von einer Reihe unterschiedlicher Akteure diskursiv hergestellt. Und je mehr Menschen sich der Schnappschussfotografie fügen, desto 29 Chalfen: Snapshot Versions of Life, S. 163f. 30 Munir/Jones: „Discontinuity and After“, S. 573 (Hervorhebung im Original).

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höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch weiterhin als kulturelle Praxis bestehen bleibt.

Schlussfolgerungen Wegen der Digitalisierungsschübe befindet sich die Schnappschussfotografie in einem technologischen Wandel. Die neuen Technologien beherbergen neuartige Möglichkeiten, die durch die spezifische Rahmung der Anbieter – mit Hilfe von Begriffen, Bildbeispielen, der Benutzeroberfläche und damit dem Angebotscharakter der jeweiligen Artefakte – die zukünftigen Erwartungen der Nutzer mitbestimmen. Dieser Wandlungsprozess hat sich noch nicht derart verfestigt, dass sich eine vollkommen neuartige Schnappschusskultur etabliert hätte. Mobiltelefonhersteller und Betreiber von Social-Network-Seiten schlagen neuartige Anwendungsmöglichkeiten vor, die jedoch oft in den Fakt Schnappschussfotografie eingebettet werden. Wie zwölf der 13 in der vorgestellten Studie Untersuchten aufzeigen, überblendet die Sozialisation in den Fakt Schnappschussfotografie die technischen Möglichkeiten, die mit neuen IKT entstehen. Ihr Gebrauch folgt demnach bekannten Mustern und wird nicht, oder nur wenig, von den neuartigen Möglichkeiten beeinflusst. Dies erklärt auch, wieso die Untersuchten großen Wert auf die Bewahrung der Privatheit ihrer Schnappschussaufnahmen legten. Schnappschussfotografie als Fakt ist eine Tätigkeit, die eine für die Öffentlichkeit unsichtbare visuelle Kultur darstellt, weswegen oft in diesem Zusammenhang von privater Fotografie die Rede ist.31 Interessant ist in diesem Zusammenhang das Ausnahmeverhalten der Frau, die vorher nie Schnappschussaufnahmen gemacht hatte, sondern diese Rolle immer einer weiteren Person in ihrem sozialen Netzwerk überlassen hatte. Die neuen IKT schrieben sich ihrer körperlichen Wahrnehmung ein und veränderten diese.32 Auf einmal lernte sie, wie sie erzählte, die Welt neu wahrzunehmen und die fotografische Praxis als einen integralen Bestandteil ihrer Lebenswelt zu sehen. Sie beteiligte sich jedoch nicht an der Reproduktion der klassischen Bildtypen der Schnappschussfotografie, sondern ging mit ihren Aufnahmegeräten neuartig um. Neue Bildpraktiken, die mit Hilfe neuer technischer Geräte einfgeführt werden, stoßen an Grenzen einer sich erst entwickelnden digitalen Infrastruktur: Die etwa ein Jahrhundert lang bewährte Devise „You press the button, we do the rest“ hält der alltäglichen Bildpraxis nicht mehr stand. Inkompatibilitä31 Vgl. z.B. Starl: „Die Bildwelt der Knipser“. 32 Vgl. Belting: Bild-Anthropologie, S. 13f.

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ten einzelner Geräte untereinander, notwendige Aktualisierungen von Gerätesoftware wie neue Software-versionen, die Bedeutung von Metadata und die Schwierigkeit, die Übersicht über die Auswirkungen digital kodierter Information auf die Privatsphäre zu behalten, erschweren die Anwendung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, so dass die an der neuen technologischen Infrastruktur Interessierten eine lange Lernkurve einplanen müssen, um ihre Bildpragmatik reibungslos zu beherrschen. Dies bedeutet, dass bei der Analyse der Auswirkungen neuer IKT auf Schnappschussgewohnheiten, oder genereller bei der Analyse von kulturellen Praktiken in Zeiten von Medienumbrüchen, neben der 1) veränderten Infrastruktur (neuen Geräten, Rechnungs- und Geschäftsmodellen, Gerätekompatibilitäten) auch darauf geachtet werden sollte, 2) wie Menschen überhaupt lernen mit bestimmten Medien und ihren Nachfolgemodellen umzugehen, 3) die Arten und Weisen wie bestimmte Artefakte durch Werbung, journalistische Praxis und wissenschaftliche Analysen diskursiviert werden und 4) wie geteilte Konventionen den Gebrauch spezifischer Medien v.A. legal und normativ regulieren.33 Interessanterweise waren alle Interviewten der Meinung, dass ihre persönliche Bildproduktion in nächster Zeit zunehmen wird. Da ihre Schnappschussfotografie gegenwärtig noch von den Traditionen der filmbasierten Fotografie geprägt ist, lässt sich erst in einiger Zeit zeigen, ob sich die Rahmungen dieser Praktiken grundlegender verändern, wie einige Stimmen zu erkennen glauben, die sich auf ungewohnte Anwendungsarten der neuen Technologien konzentrieren. Dies bedarf weiterer empirischer Forschung. Es ist jedoch anzunehmen, dass auch in Zukunft die Zeiten, wann fotografiert wird, die Motive, die fotografiert werden und die Adressaten, an die die jeweiligen Bilder weiterverschickt werden, zumindest im Kern ähnlich bleiben werden – auch wenn sich die Anzahl der Bilder, ihre Form sowie die jeweiligen Aufnahmegeräte verändern. Die neuartigen Möglichkeiten, die die Digitalisierung der technischen Infrastruktur mit sich bringt, werden dennoch Fragen aufwerfen, die sich mit den gegenwärtigen Grenzziehungen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen reiben. Die unspektakulären Alltagsfotografen zeigen durch die Beibehaltung ihrer Schnappschusspraxis, dass diese Grenzverschiebungen nicht unbedingt

33 Susan Leigh Star und Karen Ruhleder haben neun Eigenschaften identifiziert, die den Gebrauch von neuen Technologien rahmen. Sie sprechen von embeddedness, transparence, reach or scope, learned as a part of membership, links with conventions of practice, embodiment of standards, built on an installed base, becomes visible upon breakdown, is fixed in modular increments. Star/Ruhleder: „Steps Toward an Ecology of Infrastructure“; siehe auch Star: „The Ethnography of Infrastructure“.

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abrupt verlaufen, obwohl in der öffentlichen Berichterstattung hervorgehobene Einzelfälle Anlass zu anderweitigen Vermutungen zu geben scheinen.

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Johanna Roering/Anne Ulrich

„And Now Here Is What Really Happened.“ CNN und Warblogs als konkurrierende Deutungsinstanzen im Irakkrieg 2003 Der Irakkrieg 2003 gilt als „der wirklich erste Echtzeit-Krieg der Geschichte, der von Anbeginn an auf seine televisuelle Darstellung hin inszeniert wurde“.1 Die kriegführenden Staaten passten ihre ‚sicherheitspolitische‘ Kommunikation geschickt an die Logiken des Fernsehjournalismus an und waren damit recht erfolgreich. Zu diesen Anpassungen zählten die Inszenierung und die Frequenz von Pressekonferenzen, die Ankündigung und das zuweilen gar fernsehgerechte Timing von militärischen Handlungen und nicht zuletzt das embedding von Journalisten bei den alliierten Truppen. Insbesondere in den USA führte dies dazu, dass die etablierten Medien die patriotische und kriegsbefürwortende Haltung der Regierung stärker widerspiegelten, als es ihrem journalistischen Ethos geziemte. Diese Überschneidung von regierungsgeleiteter ‚Propaganda‘ und der Berichterstattung in den so genannten ‚MainstreamMedien‘2, denen vermehrt eine Unterlassung ihrer demokratischen Pflicht vorgehalten wurde,3 öffnete den Raum für neue Informationsquellen, zu denen während des Irakkriegs vor allem nicht-amerikanische Medien und InternetRessourcen zählten.4 „TV still rules the news world, but the online news audience jumps to record levels“, stellte das PEW Research Centre for American Life and the Internet im April 2003 fest.5 Die bisher unangetastete Dominanz des Fernsehens wurde nicht grundlegend in Frage gestellt, doch rückte der Online-Jour-

1

Paul: Der Bilderkrieg, S. 8. Der Dritte Golfkrieg, hier ‚Irakkrieg‘ genannt, begann als ,Operation Iraqi Freedom‘ am 20. März 2003 und wurde von George W. Bush offiziell am 1. Mai 2003 für beendet erklärt. Der Beginn dieser Hauptkampfphase ist Grundlage der Untersuchung, weil in ihr die Medialisierung des Krieges am deutlichsten abzulesen ist.

2

Im blog-internen Diskurs werden unter ‚Mainstream-Medien‘ große Medienanbieter mit einer starken Präsenz in der Öffentlichkeit verstanden, zum Beispiel die New York Times, FOX News oder CNN. Der Begriff ist häufig negativ belegt und wird in Abgrenzung zum eigenen – als alternativ und unabhängig präsentierten – Medienformat verwendet.

3

Vgl. Kellner: „Kriegskorrespondenten, das Militär und Propaganda“, S. 27-30.

4

Vgl. Wall: „,Blogs of War‘: Weblogs as News“, S. 153.

5

Rainie u.a.: „The Internet and the Iraq War“, S. 2.

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Johanna Roering/Anne Ulrich | „And Now Here Is What Really Happened.“

nalismus besonders für kritische Konsumenten verstärkt in die Aufmerksamkeit: Insbesondere Newsblogs, also Blogs6, die sich mit politischem Tagesgeschehen beschäftigen, traten bereits während der Vorbereitung auf die Invasion als Alternative auf. Das verstärkte Bedürfnis nach Informationen zu Kriegszeiten und das Misstrauen gegenüber den schon im Zweiten Golfkrieg (1991) allzu abstrakten Bildern des Fernsehens machten die Blogs zu einem Angebot jenseits der kommerzialisierten Strukturen der Mainstream-Medien. Dieses wurde im Irakkrieg verstärkt wahrgenommen. Die Journalistin Christine Boese schrieb: „blogs really came into their own with the Warblogs of the Iraq war in 2003. […] 2003 was […] a seminal year for blogging and bloggers.“7 Wie Paul Virilio gezeigt hat, ist Krieg ein entscheidender Motor für Veränderungen innerhalb der Medienlandschaft.8 Diese Veränderungen sind jedoch nicht als simpler Umbruch vom ‚alten‘ zum ‚neuen‘ Medium zu verstehen, so Régis Debray: So wie ein neuer Träger den vorhergehenden nicht zum Verschwinden bringt (ihm aber zu neuen Möglichkeiten verhelfen kann), verdrängt eine neue Mediensphäre nicht die vorhergehende. Sie restrukturiert sie nach ihren eigenen Bedingungen, nach langen Verhandlungen über Position und Funktion, so dass zum Schluss alle ineinander greifen, aber nicht beliebig.9 Daran schließt sich die Vermutung an, dass der Irakkrieg als Medienereignis die Potentiale des ‚alten‘ Leitmediums Fernsehen intensivierte, jedoch gleichzeitig diejenigen der ‚neuen‘ Medien zum Vorschein brachte und damit die Veränderungen in der Medienlandschaft sogar deutlicher machte als den Krieg an sich. Denn Modi und Sujets der Kriegsberichterstattung veränderten sich kaum. Auch die Unfassbarkeit, das Diffuse, das die Berichterstattung einzufangen versucht, werden in neuen oder anderen Medialisierungen nicht weniger. Was sich ändert, sind journalistische Erzählhaltungen, politische und finanzielle Rahmenbedingungen, die Geschwindigkeit der Berichterstattung und der ,Appeal‘, mit dem ein Medium ausgestattet ist und werben kann. Diese Veränderungen sollen hier anhand zweier medialer Subsysteme im Bereich ‚Information‘ beleuchtet werden: dem Nachrichtenfernsehen und der 6

Ein Blog ist ein Medienformat, das aus chronologisch rückwärts datierten Einträgen eines oder mehrerer Autoren besteht.

7

Boese: „The Spirit of Paulo Freire in Blogland“.

8

Vgl. Virilio: Krieg und Kino sowie Krieg und Fernsehen, dort bes. S. 113-144.

9

Debray: Einführung in die Mediologie, S. 60.

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War- bzw. Milblogosphäre zu Beginn des Irakkriegs 2003.10 Anhand dieses Ausschnitts lässt sich das Bemühen um Geltungs- und Deutungshoheit innerhalb einer von starker Konkurrenz geprägten Medienlandschaft nachvollziehen, das die unterschiedlichen medialen Potentiale zum Vorschein bringt. Als exemplarischer Vertreter des Nachrichtenfernsehens im Irakkrieg wird der USamerikanische Nachrichtenkanal CNN herangezogen. Der 1980 gegründete Fernsehsender beansprucht eine globale Leitposition, die sich im Rahmen der Kriegsberichterstattung im Zweiten Golfkrieg 1991 etablierte: CNN „achieved total air superiority over the networks“, schreibt Major General Perry Smith.11 Das Ziel des Senders sei gewesen, „not just to beat the competition but to blow it away“.12 Unter anderem aus diesem Grunde gilt CNN als prototypisches Mainstream-Medium und ist daher häufig Gegenstand der Kritik in der Blogosphäre13. Als Repräsentanten einer CNN-kritischen, häufig selbsternannten Gegenöffentlichkeit werden Blogs herangezogen. Im Fall des Irakkriegs kam zwei Arten von Blogs besondere Aufmerksamkeit zu: Einerseits den auf das politische und militärische Tagesgeschehen um den Krieg konzentrierten Newsblogs, die in der Vorbereitung auf den Krieg und in dessen Anfangsphase als ‚Warblogs‘ bezeichnet wurden und sich deutlich an einem professionellen journalistischen Vorbild orientierten. Andererseits den Blogs von im Irak stationierten Soldaten, die vorwiegend den sogenannten Personal Blogs zuzuordnen sind und einem autobiographischen Modell folgend den Alltag und die Erlebnisse des Bloggers thematisierten. Diese Untergruppen von Blogs wurden wiederholt als innovative Formen des Journalismus und als besonders prägnante Formen des Online-Journalismus beschrieben und bieten sich daher als Vergleich zum etablierten Fernsehsender CNN an.14 Die konkurrierenden Deu-

10 Die zugehörigen Medienformate Fernsehnachrichten und War- bzw. Milblogs verfügen über unterschiedliche Standards der Medialisierung von Kriegserfahrung: Während der Fernsehjournalismus sich trotz aller Anpassung an den Wettbewerb und die Bedürfnisse der Zuschauer auf professionelle journalistische Qualitätsstandards beziehen muss, folgt das Bloggen den weniger standardisiert erscheinenden, weil bisher noch nicht kategorisierten Strukturen der computervermittelten Kommunikation. Der Vergleich macht jedoch sichtbar, dass im Bezug auf den Irakkrieg durchaus auch ähnliche Verarbeitungsmodi vorliegen. 11 So die Zeitschrift Entertainment Weekly in ihrer Februarausgabe 1991, zit. nach Smith: How CNN Fought the War, S. 6. 12 Ebd., S. 7. 13 Der Begriff Blogosphäre bezeichnet alle Blogs und ihre Vernetzung untereinander. Er kann aber auch Untergruppen von über die Blogroll und gemeinsame Projekte besonders eng vernetzten Blogs kennzeichnen, also zum Beispiel die Warblogosphäre (vgl. „Blogosphere“). 14 Vgl. Wall: „,Blogs of War‘“; Jordan: „Disciplining the Virtual Home Front“.

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tungsansprüche von Nachrichtenfernsehen und Milblogosphäre werden im Folgenden auf zwei Feldern verglichen: Zum einen werden die spezifisch medialen Potentiale der jeweiligen Subsysteme analysiert. Zum anderen wird das Auftreten ihrer ‚Erzähler‘ und damit die Selbstdarstellung der medialen Instanzen in dem von Konkurrenz und Deutungsansprüchen geprägten Feld dargelegt.

1

Medienspezifische Potentiale des Nachrichtenfernsehens und der Milblogosphäre

Zunächst werden die medienspezifischen Potentiale des Fernsehens beleuchtet, um sie anschließend mit denjenigen der Blogosphäre zu vergleichen. Ein besonders auffälliger Unterschied: Während die Blogs ‚multiple Stimmen‘ zulassen und über dialogische Elemente verfügen,15 stellt sich das Fernsehen dagegen selbstbezüglich dar, indem es nicht auf andere Informationsquellen verweist und somit einen Anspruch auf Ausschließlichkeit zu etablieren versucht.

1.1

Liveness als Verheißung – der Irakkrieg im Nachrichtenfernsehen

Als audiovisuelles Medium bedient das Fernsehen zwei Kanäle und kann semiotisch unterschiedlich codierte Texte übertragen (z.B. Bilder, Filme, Grafiken, Schriften, Geräusche, Musik, Verbalsprache).16 Daraus ergibt sich eine höchst komplexe Fernsehtextur, die die ‚Realität‘ im Rahmen der code-bedingten Grenzen genauso gut zu simulieren wie zu verfremden vermag.17 Außerdem ist das Fernsehen als Rundfunkmedium einerseits ein Programmmedium und andererseits ein Livemedium. Besonders relevant für eine Betrachtung von CNN sind also zwei Phänomene, die außerdem stark ineinander greifen: der nicht enden wollende flow of broadcasting und die Liveness, insbesondere das audiovisuelle live monitoring.

15 Vor allem in Newsblogs sprechen häufig nicht nur ein Blogger, sondern mehrere Autoren, die wiederum häufig andere Quellen und Referenzen in ihre Texte inkorporieren. Dazu kommt die Kommentarfunktion, die es dem Leser ermöglicht, selbst zum Ko-Autor zu werden. 16 Im Sinne eines semiotischen Textbegriffs werden hier unter ‚Text‘ bzw. ‚Textur‘ nicht nur schriftlich codierte Zeichenkomplexe verstanden, sondern auch ‚audiovisuelle‘ Zeichenkomplexe. 17 Im Journalismus geht es allerdings mehr um die authentisierenden als die verfremdenden Effekte.

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Auf CNN18 gab es in den ersten Kriegstagen ein ungeschriebenes Gesetz zum Irakkrieg, das sich so umschreiben ließe: ‚Du sollst keine anderen Nachrichten neben mir haben.‘ Die militärischen Ereignisse im Irak, die Pressetermine in Washington, Doha und Bagdad, die Reaktionen der Bevölkerungen und Staatsoberhäupter der Welt bestimmten monothematisch die Berichterstattung. Dafür wurde als Berichterstattungsmodus das continuing broadcasting gewählt, das sich über das übliche Programmschema hinwegsetzte und einfach ‚durchinformierte‘. Ganz im Sinne des von Umberto Eco sowie Francesco Casetti und Roger Odin beschriebenen Neo-Fernsehens lösten die unterschiedlichen Elemente dieser Dauerberichterstattung einander fast übergangslos ab und präsentierten sich dem passiven Zuschauer wie ein endloser Reigen: Korrespondenten-Schalten, militärische Analysen, Filmberichte, Computeranimationen, Politiker-Statements, Pressekonferenzen und Moderationen der News Anchor.19 Dieser Reigen wurde in scheinbar beliebigen Abständen von Eigenwerbung und Wettervorhersagen unterbrochen. Dadurch entstanden ‚Benachrichtigungseinheiten‘, die jedoch nicht den Charakter von abgeschlossenen Sendungen hatten. Das kommunikative Ziel bestand zum einen darin, „den Zuschauer dazu zu bringen, vor dem Fernseher sitzen zu bleiben. Das Neo-Fernsehen ist dem time budget verschrieben: Das Einzige, was zählt, ist die Zeit, die der Fernsehzuschauer vor seinem Fernsehgerät verbracht hat“.20 Zum anderen bot das continuing broadcasting dem Zuschauer jederzeit neue Einstiegsmöglichkeiten, um ihm das Gefühl zu vermitteln, nichts Relevantes zu verpassen. 24 Stunden pro Tag sind eine lange Zeit, die das Fernsehen oft genug mit Bildschleifen, langen Expertengesprächen und regelmäßigen Wiederholungen füllt. Mit dem continuing broadcasting ist daher zwangsläufig eine Ereignisnivellierung verbunden, die das Fernsehen immer wieder durch die Konstruktion von Ereignissen zu durchbrechen sucht. Ereignisnivellierung und Ereignishaftigkeit sind dabei dialektisch miteinander verknüpft. Um das Programm am Laufen zu 18 Analysiert wurde die Fernsehberichterstattung des in Europa zugänglichen CNN International, die sich in den ersten Kriegstagen jedoch stark mit derjenigen von CNN überschnitt. 19 Ein wichtiges Element des ‚Neo-Fernsehens‘ ist das Ausfransen der Programmstruktur, der Eindruck der Kontinuität durch die Verwobenheit der Elemente, die Betonung des visuellen Kanals sowie die Bevorzugung des Kommunikationskontakts anstatt eines -kontrakts, vgl. Casetti/Odin: „Vom Paläo- zum Neo-Fernsehen“, S. 320ff. Außerdem verlagert sich der Fokus von der externen Welt auf die Welt des Fernsehens (was sich gerade durch den Bezug auf Experten, auf Korrespondenten und auf Pressekonferenzen etc. bemerkbar macht), vgl. Eco: „TV“, S. 163f. 20 Casetti/Odin: „Vom Paläo- zum Neo-Fernsehen“, S. 330.

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halten und den Zuschauer am Weg- oder Abschalten zu hindern, muss das Nachrichtenfernsehen ständige Verheißungen bringen. Besonders verheißungsvoll waren in der Irakkriegsberichterstattung die Live-Sequenzen. Als ‚live‘ werden im Folgenden alle filmischen Sequenzen bezeichnet, die CNN in Echtzeit übertrug.21 Die Live-Übertragung stellt einen anderen Kommunikationsmodus dar als die Dauerberichterstattung, weil in ihr der Grad journalistischer Verarbeitung geringer ist. Während ansonsten mehrere Arbeitsschritte von der Aufnahme über den Schnitt bis zum Audio-Kommentar vonnöten sind, wird hier ein unmittelbarer Zusammenhang von Aufzeichnung und Übertragung suggeriert. CNN International setzte dies im Wesentlichen als webcam-ähnliches monitoring der irakischen Hauptstadt Bagdad um. Als monitoring wird im Sinne Stanley Cavells im Gegensatz zum viewing (Betrachten) ein televisueller Modus bezeichnet, der die Fernsehgeräte „nicht als Empfangsgeräte, sondern als (Kontroll-)Monitore“ versteht.22 Von verschiedenen festen Standorten, beispielsweise den Dächern des irakischen ‚Informationsministeriums‘ und der großen Hotels Rashid und Palestine, filmten Kameras fortlaufend die Stadtlandschaft Bagdads. Besonders in den Abendstunden griff CNN auf diese Quelle zu und speiste die Livebilder in seine Berichterstattung ein. Die unterschiedlichen Perspektiven auf Bagdad wurden nicht nach dramaturgischen oder kohärenzbedingten Kriterien zusammengeschnitten, sondern bildeten den „Wechsel der Aufmerksamkeit von einem Monitor zum anderen“ ab.23 Vor allem in den langen monitoring-Sequenzen vor den Luftangriffen war auf den nächtlichen Stadtansichten wenig zu erkennen, insbesondere wenn es sich um die Aufnahmen einer Infrarot-Kamera handelte, die alle Lichtquellen unnatürlich verstärkte, oder wenn das Bagdad-monitoring nur in einem kleinen Videofenster als abstrakter, additiv-illustrativer Fernsehtext gezeigt wurde. Im letzten Fall realisierte das Fernsehen sogar zwei Kommunikationsmodi gleichzeitig: Während die klassische Benachrichtigung lief, fand im Videofenster gleichzeitig die Live-Beobachtung und Verheißung statt – die keine Nachricht im klassischen Sinne darstellte, der jedoch in gleichem Maße Informationswert beigemessen wurde. Mit Beginn der Luftangriffe traten schließlich die verheißenen Ereignisse ein. In der Logik des Nachrichtenfernsehens stellte dies den ‚Höhepunkt‘ der Berichterstattung dar, weil das Fernsehen nun seine medienspezifischen Vor21 Dies ist in der Regel nur an der schriftlichen Einblendung „live“ zu erkennen. Liveness ist jedoch nicht immer eine tatsächliche Echtzeit-Übertragung, sondern vielmehr ein Effekt, der mit der Echtzeitkomponente spielt, vgl. auch Caldwell: „Live Slippages“, bes. S. 21-23. 22 Cavell: „Die Tatsache des Fernsehens“, S. 144. 23 Ebd., S. 151.

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teile voll ausspielen konnte. Als die Kameras hektisch den Lichtblitzen am Nachthimmel und den Explosionen am Boden ‚hinterherjagten‘ und brennende Regierungsgebäude fokussierten, war der Angriff nicht mehr Gegenstand von Berichterstattung, sondern ein Schauspiel, das im Fernsehen aufgeführt und dadurch zum Medienereignis oder gar Medienspektakel wurde.24 Durch die audiovisuelle Inszenierung der Unmittelbarkeit kam es den Zuschauern so vor, als erlebten sie die Luftangriffe mit eigenen Augen und Ohren. Die Liveness wurde somit zu einem eigenen Genre der Ereigniskonstitution. Dadurch, dass die Fernsehzuschauer in Echtzeit und gleichzeitig die von CNN aufgeführten Luftangriffe verfolgten, wurden sie zu einer Sehergemeinschaft, wodurch sich die Leitmedienfunktion des Fernsehens verstärkte.

1.2

Ein Gegenentwurf? Der Irakkrieg in der Blogosphäre

Die von Aktualitätszwang und Liveness geprägte televisuelle Kriegsberichterstattung strukturiert eine zeitgenössische Wahrnehmung von Krieg und gibt sowohl Deutungsangebote als auch Erzählmuster vor. Blogs als ‚Medien‘ der Kriegsberichterstattung sind dieser formalen und inhaltlichen Vorstrukturierung ausgesetzt und müssen ihr – ob nun über Abgrenzung oder Aneignung – begegnen.25 Die Vorstrukturierungen der TV-Berichterstattung finden in Warund Milblogs ihre blogspezifische Umsetzung. Zugleich werden die Medienspezifika des Fernsehens, aber auch die eigene Medialität thematisiert. CNN ist gleichzeitig Gussform, Instanz der Referenz und Distinktion. Um die Spezifik von Kriegsberichterstattung in Blogs im Vergleich zum Nachrichtenfernsehen zu verdeutlichen, wird im Folgenden die Medialität von Blogs dargelegt: Ein Blog ist ein Medienformat der computervermittelten Kommunikation, das unterschiedliche Zeichensysteme darstellen kann (zum Beispiel Bild und Film aber auch internetspezifische Codes wie Emoticons), jedoch hauptsächlich aus Schrifttext besteht. Damit unterliegen Blogs auch den kommunikativen Rahmenbedingungen der computervermittelten Kommuni-

24 Zur Performanz des Ereignisses durch das Fernsehen vgl. Dayan/Katz: „Performing Media Events“. Zum Medienspektakel wurde das Konzept weitergeführt durch Kellner: Media Spectacle. Zur realistischen Ereignisdarstellung vgl. auch Isekenmeier: ,The Medium is the Witness‘. 25 Unter Kriegsberichterstattung wird hier nicht nur journalistische Berichterstattung verstanden. Mil- und Warblogs, die häufig als Online-Nachrichten rezipiert werden (vgl. Choi: „Perceptions of News Credibility About the War in Iraq“) und einen journalistischen Gestus annehmen, können in ein inklusives Verständnis von Kriegsberichterstattung integriert werden.

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kation.26 Als Teil des dezentralen Netzwerks Internet, in dem sich die kommunikative Situation von dem ‚one-to-many‘ Modell zu einem ‚n-to-?‘ ändert, verschwimmen die Grenzen zwischen Produzent und Konsument.27 Es entsteht eine Zwischenform von interpersonaler und öffentlicher Kommunikation, die sowohl das Konzept der Urheber- und Autorschaft als auch den Prozess der Publikation stark verändert.28 Das so genannte push-button publishing der Blogs, bei dem der Veröffentlichungs-Prozess durch große Anbieter, die sowohl das Format als auch die technische Plattform vorgeben, sehr vereinfacht ist, ermöglicht die schnelle und finanziell wie technisch unaufwendige Veröffentlichung von Text, Bild und Video. So kann potentiell jeder einzelne ein Millionenpublikum erreichen.29 Aktualität und Reichweite sind in der Anfangsphase eines Kriegs, in der das Bedürfnis nach Informationen besonders hoch ist, ein blogspezifischer ‚Trumpf‘, der durch die Partizipation von Laien an der Berichterstattung noch verstärkt wird.30 Sowohl irakische Zivilisten als auch Soldaten der alliierten Truppen konnten mit vergleichsweise geringem finanziellem und technischem Aufwand und geringen institutionellen Hürden an einer medialen Öffentlichkeit teilnehmen und ihre Erfahrungen schnell und (zumindest anfänglich) unzensiert veröffentlichen.31 Dazu kamen die Warblogger in den USA selbst, die vor allem an der Umgehung der institutionellen Hürden des professionellen Journalismus interessiert waren und sich als Watchblogger gerierten, die als explizite Außenseiter die in Verdacht geratenen Kriegsberichterstattungs-Instanzen kritisch überwach-

26 Blogs bilden ein spezifisches Medienformat, mit visuellen und schriftlichen Zeichensystemen, des Trägers World Wide Web. Das World Wide Web ist das System, in dem die verschiedenen Medien und hypertextuellen Dokumente verkettet sind und das Internet das Computer-Netzwerk, das den Austausch möglich macht. 27 Lister: New Media: A Critical Introduction, S. 30. 28 Vgl. Schmidt: Weblogs: Eine kommunikationssoziologische Studie, S. 22-23. 29 Im Fall von Milblogs gibt es zwar keine institutionellen Hürden, doch greift hier die Zensur des Pentagon, das die Regeln zur Veröffentlichung von soldatischen Blogs seit Anfang des Irakkriegs stark ausgebaut hat, vgl. Weinberger: „No More YouTube, MySpace for US Troops“. 30 Dies ist auf die angegriffene Glaubwürdigkeit von Instanzen wie CNN zurückzuführen, aber auch auf die positive Konnotation von Außenseiter-Perspektiven, die in Bezug auf Krieg vor allem durch Filme wie Rambo (1982) begünstigt wurde. 31 Trotzdem kann nicht jeder an solch einer Öffentlichkeit teilnehmen. Vor allem technische und finanzielle Hürden schließen große Teile der Weltbevölkerung aus, vgl. Alden: „For Most Africans Internet is Little More than a Pipe Dream“. Dazu kamen während des Kriegsanfangs massive Stromnetzausfälle, die zum Beispiel Salam Pax daran hinderten, während der ersten Kriegswochen regelmäßig in sein Blog zu posten. Vgl. Pax: The Baghdad Blog, S. 130-135.

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ten. Die Blogger distanzierten sich von dem so genannten Mainstream, also zum Beispiel CNN. Gleichzeitig benötigten sie eben diesen, um sich distanzieren zu können. Die bislang fest verteilten Rollen von Produzent und Konsument werden nicht nur im Sinne einer Partizipation einzelner am Diskurs verändert, der Blog-Leser selbst hat im Gegensatz zum eher passiven Modell des Fernsehens verschiedene Einfluss- und Aktionsmöglichkeiten. Links und ein Archiv ermöglichen dem Nutzer eine selbst gesteuerte Navigation durch den Blog, der auch externe Quellen mit einschließen kann. Die Kommentarfunktion erlaubt es, direkt auf ein Posting zu antworten. Diese Hypertextualität und Interaktivität der Blogs fördert die Präsenz multipler Stimmen und Quellen und ermöglicht eine Eigenleistung der Nutzer. Milblogs können zu Orten der Aushandlung unterschiedlicher Perspektiven auf den Krieg werden: So schrieb eine Kommentatorin in dem Blog A Day in Iraq dem Erzähler Michael, der die Sinnhaftigkeit und Moralität seiner Stationierung im Irak anzweifelte: „We are proud of you for who you are and what you do. Never doubt that for a minute.“32 Gleichzeitig begünstigt Interaktion die Identifikation mit der Perspektive des Textes. Vor allem soldatische Blogs wurden zu einem Ort der Unterstützung und Bekräftigung der Soldaten und des Militärs, wie dieses Zitat aus dem Blog 365 and a Wake Up zeigt: „Thunder 6 … your heart, the inner man, is like gold. Don’t ever let your heart become tarnished. You are a great warrior!“33 Zwar waren die Blogs mit mehreren tausend Hits am Tag weit von den Reichweiten des Nachrichtenfernsehens entfernt, doch die Identifikation mit dem Erzähler und die interaktive Auseinandersetzung mit dem Medium intensivierten eventuell die vorhandenen Bindungen zwischen Blogger und Leser. Die Dialogizität der Postings und Kommentare trug zu der auch durch webspezifische Codes bedingten Informalität vieler Blogs bei.34 Der bekannte Blogger Smash schrieb am 20. März 2003: „Is That It? Saddam fired a couple of those Scuds that he doesn’t have at me this afternoon. He missed.“35 Korrekte Grammatik und elaborierter Stil wurden einer Ästhetik der Intimität untergeordnet. Der sprachlichen Flexibilität entsprechend waren auch Genreübergreifende Darstellungen erlaubt: Der strenge Verweisraum von Nachrichten wurde aufgebrochen und vor allem um popkulturelle und persönliche Referenzen erweitert. Es entstand eine Art über Krieg zu sprechen, die auf den ersten Blick weit entfernt war von den Bilderabläufen CNNs, in denen sich die

32 A Day in Iraq [Blog]. 33 365 and a Wake Up [Blog]. 34 Vgl. Döring: Sozialpsychologie des Internets, S. 184. 35 Mr. Smash Goes To Washington [Blog].

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beobachtende Instanz vor allem beim monitoring stark zurückzunehmen schien. Doch ging es auch hier darum, die Entfernung des Zuschauers zum Krieg zu überwinden. Bei CNN wurde dies über die liveness hergestellt, bei den Blogs über die sprachliche und narrative Erzeugung von intersubjektiver Nähe, also Identifikation mit dem Erzähler, der sich im Krieg befand. Diese wurde nicht durch das ‚Sehen‘ mit eigenen Augen garantiert, sondern dadurch, dass sich dem Leser eine Perspektive anbot, die im Fall der soldatischen Blogs deutlich näher am Ereignis ist.36 Es ist die angenommene Situation des Erzählers, die in diesem kommunikativen Kontext ausschlaggebend ist und die das Nachrichtenpotential der Blogs ausmacht, denn die Erzähler sind direkt am Krieg beteiligt, und zwar nicht nur als beobachtende Teilnehmer, sondern mit dem Einsatz des eigenen Lebens.37 In einer Autobiographie entsteht ein Pakt zwischen Autor und Leser durch die behauptete Identität von Erzähler, Protagonist und Autor, die der Leser als Wahrheitsgarant auffasst. Dies greift auch im Blog und führt dazu, dass die erzählten Ereignisse für wahr gehalten werden.38 Selbst die schwer verifizierbare Identität des Bloggers, die nicht durch eine Institution wie einen Verlag abgesichert ist, scheint die Autor-Instanz, die die Darstellungen des Kriegs verifiziert und autorisiert, nicht maßgeblich anzugreifen. Die starke Präsenz des Erzählers und die Tatsache, dass seine Situation entscheidend wird für die Autorität und Wertigkeit der Blogs, sind vor allem diesem autobiographischen Modell des Blogs zu verdanken: Der Leser sieht also durch die Augen eines Erzählers, der nicht nur sehr nah dran ist am Geschehen, sondern der auf das Extremste in dasselbe verwickelt werden kann. So kann der soldatische Blog, jenseits aller Standards und Kontrollinstanzen eine Perspektive bieten, die nicht Nachricht, sondern intensives und bedeutsames Erleben vermittelt.

36 Im Krieg geschriebene Blogs unterscheiden sich technisch und im Erscheinungsbild in vielen Fällen nicht von Blogs, deren Autoren weniger Aufsehen Erregendes erleben. Der Großteil wird von einem der großen Blog-Anbieter gehostet: Es gibt allerdings auch Fälle, in denen zum Beispiel der Titel und die Blogroll eine stark militärische Ikonographie haben, zum Beispiel The Mudville Gazette. 37 Auch wenn sich der Soldat in zum Beispiel der relativ sicheren Green Zone in Bagdad aufhält, befindet er sich in einer bedrohten Situation und kann das Enigma des Gefechts für sich in Anspruch nehmen. 38 Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt.

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2

Wettstreit der Selbstinszenierungen

Die Kriegsereignisse im Irak stellen einen wichtigen Gegenstand dar, mit dem sich Nachrichtenfernsehen und Blogs auseinandersetzen. Gleichzeitig wird die journalistische Erzählung jedoch auch zur Bühne für die Erzähler selbst, jedes Zu-Wort-Melden ist angesichts der erwähnten Deutungskonkurrenzen und knapper Aufmerksamkeitsressourcen auch als rhetorische Strategie der Werbung und Bindung von Lesern bzw. Zuschauern zu verstehen. Dabei fällt auf, dass CNN International die Konkurrenz durch das Internet in der korporativen Kommunikation nur am Rande erwähnt, wohingegen sich die Selbstdarstellung der Blogger oft erst aus der Abgrenzung zu den so genannten Mainstream-Medien ergibt. Dieser Wettstreit der Selbstinszenierungen39 lässt sich auf zwei Ebenen beobachten: einerseits auf Institutionen-Ebene (CNN als Teil des Nachrichtenfernsehens bzw. War- und Milblogs als Teil der ‚Blogosphäre‘) und andererseits auf der Ebene der Selbstdarstellung menschlicher Figuren.

2.1

„Fast, Balanced, Accurate“ – und ein Hauch von Heldentum bei CNN

CNN International setzte in der Irakkriegsberichterstattung insbesondere an den Übergängen von einer Nachrichtensequenz zur nächsten auf Eigenwerbung und Zuschauerbindung. Vor jeder Zäsur im flow of broadcasting wiederholte der jeweilige Anchor die Beschwörungsformeln „Stay with Us“, „Stay tuned“ oder „Stay with CNN“.40 Außerdem wurde in zahlreichen Programm- und Eigenwerbespots am eigenen Image gearbeitet. In diesen Paratexten zeigte die Benachrichtigungsinstanz CNN International, wie sie wahrgenommen werden wollte.41 In den Trailern stand etwa unter dem Slogan „Watch what happens

39 Im Sinne der aristotelischen Rhetorik kann hier auch von einem Wettstreit auf dem Gebiet des Ethos gesprochen werden, also dem Charakterbild oder Image, das ein Sprecher oder eine Institution von sich zeichnet und mit dem er bzw. sie glaubwürdig und somit überzeugend erscheinen will (vgl. Aristoteles: Rhetorik I.2, 1356a5). 40 Diese Sentenz ist so prägend, dass sie auch von Online-Journalisten aufgenommen wird: Josh Kucera etwa beendet seinen ersten Weblog-Eintrag aus dem Irak am 09.03.2003 ebenfalls mit den Worten „Stay tuned“, vgl. The Other Side. 41 Paratexte erfüllen nach Gérard Genette die wichtige kommunikative Funktion, die Rhetorizität des Haupttextes sichtbar und verständlich zu machen, vgl. Genette: Paratexte, S. 10. Zur Übertragung des Paratext-Konzepts auf andere Medien siehe auch Kreimeier/Stanitzek: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen und Hickethier/ Bleicher: Trailer, Teaser, Appetizer.

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next“42 zum einen die Aufrechterhaltung des flow und das Verheißen von breaking news im Vordergrund. Zum anderen wurde das Image des „world’s news leader“43 direkt auf die Kriegsberichterstattung zugeschnitten. In einem 30sekündigen Eigenwerbespot lautet das Voiceover: When you work in combat and report from front lines, it takes experience to get the story and to get it right. CNN has more journalists with more experience, bringing new, fast, balanced, and accurate information that’s important to you. Be the first to know. Stay with CNN. Dazu werden in rasantem Tempo elf kriegsspezifische Schlüsselbilder, vier Standardnachrichtenbilder, zwölf CNN-Nachrichtenmoderatoren, fünf CNNKriegskorrespondenten und zwei CNN-Signaturen44, dazu die Worte „Front Lines“ und „Experience“ sowie „fast“, „balanced“ und „accurate“ zu einer dichten Fernsehtextur verwoben. Vor dem Hintergrund gefährlicher Szenen und bekannter CNN-Gesichter artikuliert der Spot auf verbalsprachlichem Wege das journalistische Objektivitätsversprechen, welches sonst nur als Gattungswissen mitschwingt.45 CNN will in diesem Spot als Instanz wahrgenommen werden, die dieses Objektivitätsversprechen insbesondere angesichts von Krisen und Kriegen in außergewöhnlich professioneller Form einlöst.46 Durch die ständige Rotation der Clips wird jedoch indirekt deutlich, dass genau dieses Objektivitätsversprechen möglicherweise umstritten oder angreifbar sein könnte. Gleichzeitig verheißt die filmische Montage des Spots mehr als ‚nüchterne Objektivität‘: Rasanz, Spannung, Unvorhersehbarkeit. Die kritischen oder abweichenden Stimmen in den War- und Milblogs wurden von CNN International weitgehend ignoriert – nicht aber das Web als solches. Denn hier war die Benachrichtigungsinstanz CNN ebenso präsent und wollte den Zuschauern als Einstiegsportal dienen, wie das Voiceover eines anderen Werbespots verrät: „The average computer has one hundred and ten 42 Alle zitierten Eigenwerbespots wurden auf CNN International in den ersten Kriegstagen ab 20.03.2003 mehrmals am Tag gesendet. 43 Vgl. die Selbstdarstellung von CNN im Internet. 44 Als Signatur bezeichnen Adolph/Scherer „eine kurze Form des Kennspots, die etwa an Sendungen ‚angehängt‘ wird“, Adolph/Scherer: „Begriffe und Funktionen“, S. 62. 45 Mit ‚Objektivitätsversprechen‘ soll nicht impliziert werden, dass CNN tatsächlich Objektivität herstellen könnte, wohl aber, dass der Sender in einem stetig wiederholten strategischen Ritual Objektivität verheißt und seine Glaubwürdigkeit damit stützt, vgl. Tuchman: „Objectivity as Strategic Ritual“, bes. S. 661. 46 Vgl. auch Küng-Shankleman: Inside the BBC and CNN, S. 118f.

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keys. We say: You only need three.“ Es folgt im Spot ein Zoom auf eine Tastatur, die nebeneinander die Tasten C N N enthält. Tatsächlich zeigt eine PEWStudie zur Online-Nutzung im Irakkrieg, dass das Nachrichtenfernsehen seine Deutungshoheit trotz anderer Formate auch in der Sphäre des Internets behaupten konnte: Die meisten US-amerikanischen Internetuser (32%) informierten sich im Irakkrieg über die Internetseiten von Fernsehsendern.47 In der US-amerikanischen Ausgabe von CNN warb der crawler am unteren Bildschirmrand ebenfalls für die Internetpräsenz des Senders: „Go behind the scenes with CNN correspondents on the front lines at CNN.com.“48 Behind the Scenes ist noch heute eine Abteilung der CNN-Homepage, in der CNN-Korrespondenten über ihre Arbeit an den Einsatzgebieten berichten. Es ist eine blogähnliche Rubrik, die jedoch denselben journalistischen Standards unterliegt wie die Fernsehberichterstattung und somit kein wirklich neues Format darstellt. MSNBC und BBC ließen Blogs auf ihren Homepages zu, wohingegen CNN tat, „as if the warblog movement did not exist“, was den Sender zumindest in den Augen leidenschaftlicher Internetnutzer zu einem hoffnungslosen „old medium“ abqualifizierte.49 Die generelle Tendenz zur Mikroperspektive und zur Personalisierung, die am Beispiel der Blogs schon vorgestellt wurde, ist im Fernsehen daran zu beobachten, wie die Kriegskorrespondenten in der Golfregion, besonders die embedded correspondents, ihre ‚Persönlichkeit‘ inszenieren. Ihr Auftreten vor der Kamera unterschied sich deutlich von demjenigen der CNN-Standardjournalisten, deren Persönlichkeit fast gänzlich hinter der journalistischen Berufsrolle zu verschwinden schien. Während diese vom weltentrückten Newsroom aus schalteten und walteten, stürzten sich jene ‚an vorderster Front‘ ins Geschehen. Dass sie als Augenzeugen ihre journalistische Distanz zum Teil aufgaben, liegt in der Natur der Sache – ebenso wie es in der Geschichte des Kriegskorrespondententums liegt, dass sich die Reporter die mit dem Militärischen verbundene Heldenhaftigkeit und Robustheit zu eigen machen und mit diesem Bild zunehmend self-fashioning betreiben.50 Die Position und Involviertheit der Kriegskorrespondenten, insbesondere aber der den alliierten Truppen angeschlossenen embedded journalists, legt einen Vergleich mit den Milbloggern nahe. Der erfahrene CNN Senior Correspondent und embedded journalist Walter Rodgers beispielsweise legte in seiner Selbstinszenierung großen Wert darauf 47 Vgl. Rainie u.a.: The Internet and the Iraq War, S. 5. Allerdings nutzten 29% dieser Internetuser auch die Seiten von Zeitungen, die ja ebenfalls stark auf das journalistische Objektivitätsversprechen setzen. 48 Zit. nach Jaramillo: Ugly War, Pretty Package, S. 306. 49 Boese: „The Spirit of Paulo Freire in Blogland“. 50 Vgl. hierzu jüngst Korte/Tonn: „Einleitung“, S. 11.

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zu zeigen, dass er wie die Soldaten auch den Bedingungen des Krieges ausgesetzt war. Bei Nacht durfte kein Kamera-Scheinwerfer auf die Position der Truppe aufmerksam machen, also berichtete Rodgers trotz Infrarotkamera quasi im Dunkeln. Bei Tag präsentierte er sich wie die meisten seiner Kollegen im legeren Outdoor-Look. Die soldatische Helmpflicht löste offensichtlich die journalistische Anzugpflicht ab – auch in anderen Situationen, in denen es nicht unbedingt notwendig erschien. Während Rodgers meist noch durch die kugelsichere blaue Presse-Weste auf seinen Status als Journalisten hinwies, war sein Kollege Martin Savidge mit Helm und Schutzbrille optisch nicht mehr von den Soldaten, über die er berichtete, zu unterscheiden. „Der Reporter? Das ist der, der spricht. Aussehen tut er wie alle anderen“, schreibt Gerhard Kromschröder in seinem gedruckten Logbuch zum Irakkrieg 2003.51 In der Wüstenkrieg-Erlebniswelt, so die Bildbotschaft, lässt sich die distanzierte Studio-Haltung nicht aufrechterhalten, im Gegenteil: Der Korrespondent und sein Bericht wirken umso ‚echter‘, je staubiger, gröber und verwackelter sie erscheinen. Diese Ästhetik soll darüber hinwegtäuschen, dass die embedded journalists im Grunde nur ihre Erlebnisse, nicht aber in einem nachrichtenjournalistischen Sinne wertvolle Fakten weitergeben konnten. Doch darauf schien es den embeds gar nicht anzukommen. Ihre Video-Berichte und Aufsager waren wie die Liveness auch als Substitute für das Konstrukt der ‚Kriegserfahrung‘ und des ‚Kriegserlebens‘ zu deuten und erfüllten damit eine ganz ähnliche Funktion wie die War- und Milblogs.52 Dennoch besteht ein gravierender Unterschied zu den Bloggern: Das soldatische Kriegserlebnis blieb auch den embedded journalists letztlich verborgen. Auch wenn sie in Gefahr schwebten, ‚hospitierten‘ sie nur bei einer militärischen Einheit, und ihr Status war trotz aller angestrebten Ähnlichkeiten ein anderer, theoretisch unbeteiligter, von vertraglichen und gesetzlichen Vereinbarungen geschützter. Ihre Augenzeugenschaft stellt also a priori nur ein Derivat der ‚authentischen‘ soldatischen Kriegserfahrung dar. Was den Nachrichtensender allerdings kennzeichnet, ist die Tatsache, dass sowohl die embedded reports als auch die langen Live-Sequenzen in ein continuing broadcasting eingeflochten wurden, das sich immer noch größtenteils auf die journalistischen Objektivitätsstandards bezog. So ist es gerade die Dialektik von Nähe und Distanz, die das Image von CNN am besten charakterisiert. Der Nachrichtenkanal konnte beides bieten und teilweise sogar gleichzeitig realisieren: Fronterlebnis und Studioeinschätzung, Subjektivität und Überblick, Augenzeugenschaft und distanzierte Berichterstattung. 51 Kromschröder: Bilder aus Bagdad, S. 44. 52 Vgl. The Other Side: „I hope this blog can be a small substitute for that sort of experience“. Zum Begriff der ‚Kriegserfahrung‘ vgl. Buschmann/Carl: „Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges“, bes. 15-21.

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2.2

CNN als eigentlicher Feind – Selbstdarstellungen in War- und Milblogs

Die Suche nach ‚authentischer‘ Kriegsdarstellung richtete sich während des Irakkriegs zunehmend auf soldatische Blogs, die versprachen, die soldatische Kriegserfahrung aus erster Hand darzustellen. Die Sehnsucht nach ‚echten‘ Berichten gab Soldaten die Möglichkeit, sich als Lückenfüller in der Medienlandschaft zu positionieren und ihre Differenz gegenüber den Mainstream-Medien herauszustellen. Doch gerade diese Positionierung als stimmiges und authentisches Medium etablierte einen Geltungsanspruch, der dem von CNN ähnelte, und öffnet für die Analyse den Blick auf die Selbstinszenierung in Blogs. Mechanismen der Online-Selbstdarstellung gleichen denen in face-to-face Situationen: Trotz Kanalreduktion orientieren sich Leser an Hinweisen, die im Sinne eines ‚impression management‘ gestaltet werden, um sich ein Bild des Bloggers zu konstruieren.53 Wie oben angesprochen, fördern sowohl kommunikationsleitende Regeln und Erwartungen als auch die spezifische Kommunikationsarchitektur von Weblogs eine kontinuierliche Präsentation des eigenen Selbst.54 Im Fall von Warblogs ist dieses Selbst in hohem Maße von einer Abgrenzung zu den so genannten Mainstream-Medien abhängig: Newsblogs wurden neben dem Irakkrieg vor allem durch die Berichterstattung zu innenpolitischen Skandalen, die in den etablierten Medien wenig Aufmerksamkeit gefunden hatten, bekannt und konnten so eine journalistische Gegenöffentlichkeit begründen.55 53 Goffman zit. in Schmidt: Weblogs: Eine kommunikationssoziologische Analyse, S. 70. 54 Ebd., S. 75. 55 Newsblogger griffen etablierte Medien wiederholt in Bezug auf spezifische Fehlinformationen an und stilisierten sich so als ermittelnde Journalisten, die nicht nur Regierungen und Arbeitgebern auf der Spur waren, sondern auch den großen Medienanstalten. Eines der bekanntesten Beispiele ist der so genannte ‚RathergateSkandal‘: Kurz vor der Präsidentschaftswahl 2004 veröffentlichte CBS in der Sendung 60 Minutes, die von dem namhaften Journalisten und Nachrichtensprecher Dan Rather moderiert wurde, angeblich verifizierte Dokumente eines Vorgesetzten aus George W. Bushs Militärzeit, die dem damaligen Präsidentschaftskandidat mehrere Verstöße gegen Militärregeln und Erleichterungen aufgrund von Beziehungen unterstellten. Vor allem in der Newsblogosphäre kamen sofort Zweifel an der Authentizität der Dokumente auf (Free Republic, Little Green Footballs und Powerline). Die Zweifel der Blogs Little Green Footballs und Powerline wurden schnell in den Mainstream-Medien aufgegriffen, und sowohl CBS als auch Dan Rather mussten zugeben, dass die Dokumente nie verifiziert worden waren und möglicherweise Fälschungen darstellten. Die Newsblogger nahmen hier einen investigativen Ges-

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Obwohl CNN nicht in einen der größeren Blog-Skandale um das Versagen der ‚corporate media‘ involviert war, stand der TV-Sender zu Anfang des Irakkriegs vor allem in der politisch konservativen Blogosphäre sehr häufig in der Kritik und diente als Instanz der Abgrenzung: „So think about this: whereas the media […] in taking care of it’s [sic] own will not excoriate CNN to the degree they deserve, the blogosphere will.“56 Die stark vernetzte konservative Blogosphäre, die den Krieg häufig unterstützte und wenig Kritik an militärischem Vorgehen zuließ,57 warf CNN nicht nur schlecht recherchierte Berichterstattung vor, sondern eine unpatriotische und anti-amerikanische Haltung: CNN is practically throwing a virtual tickertape parade for Iraqi doctors for attending to POW/hostage Jessica Lynch’s injuries and keeping her fed, cared for, and informed. You know, like the Geneva Convention demands. Odd how CNN isn’t falling over itself to praise the Coalition for its beyond-the-call-of-duty treatment of Iraqi POWs.58 Im Gegensatz dazu geriet CNN in liberalen oder linken Blogs häufig in Verruf, einen US-amerikanischen Schwerpunkt zu setzen.59 CNN wird in beiden Blogosphären wiederholt einer politischen Orientierung bezichtigt, die im Gegensatz zu der eigenen steht. Das von CNN so stark propagierte Objektivitätsversprechen wird in dieser Wahrnehmung in Frage gestellt. Gleichzeitig wird die vermisste Objektivität in den meist stark politisierten Blogs nicht als vergleichbar wichtiger Maßstab gewertet. Die Kombination von Abqualifizierung der ‚objektiven‘ journalistischen Instanz und Verzicht auf politische Neutralität im eigenen Text verweist auf die Funktion der Mainstream-Medien als Instanz der Distinktion jenseits des Inhalts. Wichtiger noch, kann dieses Messen mit zweierlei Maß als ein Angriff auf die Grundfesten der Berichterstattung gesehen werden und eine Wendung hin zum postmodernen Journalismus, der von Aufsplitterung in parteiische Gruppen und der Auflösung der großen Metaerzähtus an und schrieben sich eine korrektive und aufklärerische Funktion zu. Im Gegensatz zu dem unparteiischen Anspruch der Fernsehsender (der zu Recht immer wieder in Frage gestellt wird) war in diesem Fall klar, dass die Blogger aus dem konservativen Lager kamen und annahmen, dass CBS als linkes Medium versuchte, Bush zu diskreditieren. 56 The Mudville Gazette [Blog]. 57 Vgl. Tremayne: „Issue Publics on the Web“. 58 The Command Post [Blog]. 59 Zum Beispiel die kritische Auseinandersetzung mit der Kriegsberichterstattung in dem linken Blog, Blog Left: „Here’s a good overview of some of the major propaganda campaigns and misreporting so far in the Iraq war; the article could add, however, that CNN, Fox and US cable channels provide 24/7 propaganda.“

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lungen geprägt ist, wie es Melissa Wall in ihrer Analyse von Warblogs vermutet.60 Die oben ausgeführte Medialität der Blogs, die Inklusion von Laien in einen medialen Diskurs und die geringen technischen und finanziellen Hürden zur Publikation durch das push-button publishing begünstigen diese Selbstdarstellung. Zusätzlich sind Blogs Teil einer Popularisierung verschiedener benutzergenerierter Inhalte, die gerne unter dem Modebegriff Web 2.0 zusammengefasst wird und ein Ablösen übermächtiger Medienanbieter zugunsten eines zugänglichen, benutzerdominierten und demokratisierten Web suggeriert. Die Abgrenzung von CNN, gepaart mit der ideologisierten Betrachtung der Medialität von Blogs und des Internets allgemein, stellt gerade die Distanz zu einem reglementierten Journalismus als Garant der Authentizität dar. Die Blog-Texte erscheinen durch den Eindruck der Uneditiertheit und Laienhaftigkeit unvermittelt und direkt am Geschehen und nicht unangemessen im Vergleich zu journalistischen Standards. Die so erzeugte Glaubwürdigkeit und der Nachrichtenwert des Krieges ermöglichen es dem Newsblogger, einen journalistischen Gestus anzunehmen, diesen aber blogspezifisch auszugestalten. Die eindeutig parteiischen Stellungnahmen sind nicht mehr Sonderformate wie Kommentare, sondern werden zur eigentlichen Nachricht. Es entsteht der paradoxe Zusammenschluss eines anscheinend gründlicheren investigativen Journalismus und einer expliziten politischen Orientierung. Die eindeutige politische Position der Blogs scheint jedoch dem Gültigkeitsanspruch keinen Abbruch zu tun:61 Die oft stark ideologisierte Haltung offenbart eine Subjektivität, die keinen Makel mehr bedeutet, sondern einen Bonus. Der Drang nach Parteilichkeit scheint das Bedürfnis nach ausgewogener und reflektierter Berichterstattung in den Hintergrund zu stellen und eine ‚ehrliche‘ Subjektivität zu bevorzugen – auch hier lässt sich also eine Restrukturierung etablierter journalistischen Standards beobachten. In den soldatischen Blogs wird dies noch verstärkt: Hier werden nicht nur Nachrichten verarbeitet, der Blogger berichtet auch aus seiner persönlichen Erlebniswelt. Die radikale Subjektivität der Selbstdarstellung einzelner Figuren wird herausgestellt und dient als Garant für die Nähe zum Ereignis Krieg. Ein in den Printmedien viel besprochenes Beispiel ist der Blog-Eintrag Men in Black von Colby Buzzell aus seinem mittlerweile als Buch veröffentlichten Blog My War. Hier wird detailliert ein Straßengefecht in Mosul zwischen USSoldaten und so genannten ‚anti-Iraqi forces‘ beschrieben, das laut Buzzell in 60 Vgl. Wall: „,Blogs of War‘“, S. 167f. 61 Damit sind Blogs nicht allein, auch etablierte TV-Sender wie FOX News können mit einer eindeutig parteiischen Haltung eine Position als Nachrichtensender beanspruchen.

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den etablierten Medien sehr wenig Aufmerksamkeit fand. Es beginnt mit einem Zitat von der CNN-Website, das in nur zwei Sätzen das Kampfgeschehen zusammenfasst, um dann den eigenen, sehr lebendig und zwanglos geschriebenen Bericht zum gleichen Vorfall mit: „And now here is what really happened“ einzuleiten.62 Aus einer sehr detaillierten Mikroperspektive heraus wird beschrieben, wie eine Gruppe von Marinesoldaten in einer Straßenschlucht in einen Hinterhalt gerät und sich ein langes und unentschiedenes Gefecht mit unidentifizierten Gegnern liefert. Thematisiert werden vor allem die Handlungen, Emotionen und Reaktionen des Erzählers: With my hands I did the sign of the cross on my chest, said a prayer (please God, I don’t want to fucking die), and as my platoon sergeant laid down some suppressive fire with his M4, I got up out of the hatch [.] I was shacking and scared out of my fuckin’ mind as I did this.63 Obwohl ein intensives und eindrucksvolles Bild des Kampfgeschehens entsteht, weiß der Leser am Ende nicht, wie das Gefecht ausgegangen ist oder wie viele Tote es gegeben hat. Die Nähe ist in diesem Fall so groß, dass sie außer den Gefechtshandlungen an sich und einer Innerlichkeit des Bloggers kaum etwas erkennen lässt. Die Tatsache, dass hier der ‚Kriegsberichterstatter‘ überhaupt eine ‚Innerlichkeit‘ besitzt, steht bereits in Opposition zu dem Bild eines neutralen Beobachters. Zudem nährt sich die Individualität der subjektiven Perspektive häufig aus popkulturellen Kontexten, was die Distanz zum Nachrichtenjournalismus noch deutlicher erscheinen lässt: Viele der soldatischen Blogs orientieren sich am Genre des Action-Films und dessen Helden, um die Kriegserlebnisse zu fassen. Dies geschieht über popkulturelle Referenzen,64 vor allem über die Adaption des trockenen, schicksalhaften Humors von Filmhelden wie John McLane aus der Stirb Langsam-Reihe: The way things look, I’ll be driving a vehicle in Iraq that any boy who ever watched GI Joe could only dream of. Yes, yes I know, I shouldn’t compare combat with cartoons, but seriously, just for one

62 Buzzell: My War, S. 248ff. 63 Ebd., S. 253. 64 Buzzell schreibt an anderer Stelle in dem „Men in Black“-Eintrag: „He looked like a boxer who had just got knocked the fuck out by Rocky or something.“ Buzzell: My War, S. 250.

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moment let’s look at this for what it is: I’ll be driving around in a car with a friggin’ machine gun mounted on top.65 Die popkulturellen Referenzen im Zusammenspiel mit der Integration unterschiedlicher Medialisierungen von Gewalt und Krieg, könnten jenseits aller Authentizitäts-Effekte das narrative Element sein, das Blogs als ‚nahe‘ erscheinen lässt. Doch handelt es sich hierbei nicht um eine Nähe zum Erleben im Krieg, sondern um eine Nähe zwischen Referenzrahmen des Textes und der medial vorstrukturierten Wahrnehmung des Lesers. Die Selbstinszenierung als unvermittelte Berichterstattungsinstanz des Ereignisses Krieg muss, wie bei CNN auch, immer auf eigene und fremde Medialitäten verweisen und entblößt so die ‚Unvermitteltheit‘ als Darstellung, die nicht so sehr auf den Krieg als auf das Medienereignis Irakkrieg verweist.66

3

Schluss

Die Konkurrenz von Nachrichtenfernsehen und Warblogs im Irakkrieg 2003 als einen „clash of cultures between old and new media“67 zu bezeichnen, wäre stark übertrieben. Dennoch kann man anhand von CNN International und der War- und Milblogosphäre davon sprechen, dass (scheinbar) bewährte journalistische Muster und (scheinbar) innovative Abweichungen auf unterschiedliche Weisen gegeneinander ausgespielt wurden. Zu einer etablierten journalistischen Instanz sind neue Stimmen hinzugetreten, die ein erhebliches Echo gefunden haben. Die wichtigsten Konkurrenzlinien: Im medialen Feld wurde der von Ereignisnivellierung und Live-Inszenierung bestimmte Programmcharakter des Fernsehens mit der Interaktivität und der Autorpräsenz der Blogs kontrastiert. Im journalistischen Feld maß sich der Objektivitätsanspruch CNNs mit der inszenierten Unmittelbarkeit und popkulturellen Zugänglichkeit der Blog-vermittelten Erfahrung. Das Fernsehen setzte auf eine ununterbrochene Bespielung der Bildschirmbühne und musste daher dem drohenden Problem der Belanglosigkeit mit der Performanz von Krieg als Medienspektakel begegnen. Im Gegensatz zum Internet der Blogs konnte das Nachrichtenfernsehen im Allgemeinen,

65 Hartley: Just Another Soldier, S. 20. 66 Zu den ästhetisch-literarischen Dimensionen der Kriegserfahrung bzw. „the curious literariness of real life“ vgl. Paul Fussell: The Great War and Modern Memory, S. ix. 67 Boese: „The Spirit of Paulo Freire in Blogland“.

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und CNN International im Besonderen im Irakkrieg noch eine Ahnung von ‚Öffentlichkeit‘ und Gemeinschaft herstellen und damit allein aufgrund der Reichweite und Aufmerksamkeit die Funktion eines ‚Leitmediums‘ einnehmen. Es war jedoch kein Forum, in dem mehr als die eigene Stimme zu Wort kommen konnte. Dagegen stellten das push-button publishing und der „real-time virtual feedback loop“ zentrale Potentiale der Blogs dar.68 Alles konnte ins Netz gestellt werden – alles, d.h. sowohl die Berichterstattung der MainstreamMedien als auch die Blog-Einträge selbst, kann postwendend kommentiert, ergänzt oder verlinkt werden. Dies lässt sich auch am Beispiel des unabhängigen Time-Journalisten Josh Kucera zeigen, der von den Reaktionen zu seinem Blog regelrecht überwältigt war: His writing was published by one of the largest circulation newsmagazines in the West, yet his blog audience cared about him, worried about him, gave his work constant dialogue and feedback. He was blown away by it.69 Die Ergänzung der Kommunikationsrichtung um eine interpersonale, dialogische Dimension wurde auch vom etablierten Nachrichtenjournalismus als wichtig erkannt. Viele Sender versuchten dies durch die Parallelführung von Fernsehsendung und Blog auf der Homepage zur Sendung umzusetzen. Die Netzwerke, die aus der dialogischen Kommunikation der Blogs entstanden, boten zwar keine umfassenden Gemeinschaften im Sinne einer ‚Öffentlichkeit‘, konnten dafür aber die dabei entstehenden Teilöffentlichkeiten umso stärker zusammen führen.70 Dies spricht für eine Partikularisierung des Nachrichtenjournalismus im Web, die momentan vor allem nach politischen Kriterien gegliedert ist. Was das journalistische Objektivitätsversprechen betrifft, so hielt CNN in weiten Teilen des Benachrichtigungsprogramms daran fest, um die Glaubwürdigkeit der Instanz immer wieder zu aktualisieren. Wie wichtig diese Institution war, lässt sich nochmals an einem bloggenden Journalisten verdeutlichen: Der CNN-Reporter Kevin Sites startete kurz vor der Hauptkampfphase ein Weblog, in dem er Notizen und Essays über seine Erfahrungen als Irak-Korrespondent veröffentlichte. Auch ihn reizte das innovative Medium:

68 Gallo: „Weblog Journalism“. 69 Boese: „The Spirit of Paulo Freire in Blogland”. 70 Das Project Valour IT der Milblogging-Szene, das in Kriegsgebieten stationierten US-Soldaten Notebooks zur Verfügung stellt, ist ein Beispiel für ein starkes Netzwerk und dessen Auswirkungen auf das Leben der Teilnehmer, vgl. Soldiers Angels [Blog].

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It’s good to be in the blogosphere. […] This experience has really made me rethink my rather orthodox views of reaching folks via mass media. Blogging is an incredible tool, with amazing potential. The feedback readers are posting motivates me to provide as much as I can for all of these folks hungry for first-hand info.71 Doch CNN stellte sich quer. Nachdem der Blog nach wenigen Tagen enorme mediale Aufmerksamkeit bekam, stellte Sites auf Druck seines Arbeitgebers das Bloggen ein. Ein Sprecher von CNN.com distanzierte sich mit folgenden Worten: „CNN.com prefers to take a more structured approach to presenting the news. We do not blog.“72 Diese Haltung schien im Irakkrieg noch notwendig, um das Objektivitätsversprechen glaubhaft aufrecht erhalten zu können – hatte doch die Konstruktion des embedded journalism die journalistischen Standards schon ungewöhnlich genug reformuliert. Denn (wie oben gezeigt wurde) war es bei CNN gerade die Dialektik von Distanz und Nähe, von inszenierter Objektivität und Subjektivität, die den Erfolg der Berichterstattung ausmachte und in einer fragilen Balance gehalten werden musste. Dagegen erhoben die soldatischen Blogger gerade die bei CNN als unangemessen empfundene Subjektivität zum Trumpf, in dem sie die Mikroperspektive auf das Gefecht, aber auch auf die Innerlichkeit der Autoren zum eigentlichen Thema machten und den Überblick als ‚vermittelt‘ und inszeniert ablehnten. „No one gets you closer than CNN“?73 Von wegen! Es zeigte sich, dass beide Instanzen im Ausspielen ihre Potentiale oder im Dissimulieren der möglichen Schwächen immer wieder auch mit den Zuschreibungen und an den Zuschreibungen arbeiteten, die ‚ihr‘ Medium betrafen. Damit sind all jene Vorannahmen über die Arbeitsweisen und Mechanismen und auch die von vornherein zugeschriebenen Werte und der Appeal der jeweiligen Medien und Medienformate gemeint. Neben den beschriebenen Verschiebungen und Verwerfungen könnte sich im Irakkrieg der Begriff des Leitmediums an sich verändert haben: Vieles, was die Blogger am Fernsehen als obsolet bezeichneten oder generell kritisierten, also zum Beispiel traditionelle Standards und die einseitige Kommunikationsrichtung, hat einst zu dessen Leitfunktion beigetragen.

71 So der viel zitierte Eintrag von Kevin Sites am 17. März 2003, vgl. Kevin Sites [Blog]. 72 Zit. nach Mernit: „Kevin Sites and the Blogging Controversy“. 73 Slogan zit. nach Jaramillo: Ugly War, Pretty Package, S. 302.

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Katrin Tobies

Das Mobiltelefon – Leitmedium moderner Arbeitsnomaden? Den Fortschritt verdanken die Menschen den Unzufriedenen. (Aldous Huxley, zit. nach Gerhard Hellwig, Das große Buch der Zitate)

Im Übergang zum 21. Jahrhundert zog die mobile Kommunikation im Eiltempo in alle Lebensbereiche ein – und revolutionierte private und berufliche Mediennutzungsgewohnheiten grundlegend. Avancierte das Mobiltelefon dabei zu einem Leitmedium? Der folgende Beitrag geht dieser Frage exemplarisch im Arbeitsalltag von Führungskräften nach. Anhand empirischer Daten wird die Rolle des Mobiltelefons im Unternehmenskontext, insbesondere seine Bedeutungen, Nutzungspraktiken und Konsequenzen, beleuchtet. Um dies genauer analysieren zu können, wird zunächst ein theoretisches Modell der mobiltelefonvermittelten Kommunikation entwickelt. Die abschließende Bewertung diskutiert das Mobiltelefon als Leitmedium. Der Begriff „Leitmedium“ wird seit einigen Jahren in der Kommunikations- und Medienwissenschaft verwendet, jedoch unterschiedlich definiert. Er bestimmt sich letztlich danach, was mit „Medium“ gemeint wird. Dem folgenden Beitrag liegt ein kommunikationswissenschaftliches Verständnis zugrunde, welches das Mobiltelefon als ein Mittel zur interpersonalen Kommunikation betrachtet. Es dient – im Gegensatz zu publizistischen Mitteln der öffentlichen und massenmedialen Kommunikation wie Presse (Zeitungen, Zeitschriften), Hörfunk, Fernsehen und Internet – zur direkten, gegenseitigen Verständigung zwischen individuellen Menschen. Als Leitmedium wird hier deshalb in Abgrenzung zu publizistik- und medienwissenschaftlichen Ansätzen jedes Einzelmedium verstanden, dem in einer bestimmten historischen Phase der Medienentwicklung eine dominierende Rolle in der interpersonalen Kommunikation zukommt. Ausschlaggebende Faktoren können dabei die Bedeutung des Mediums (Symbolik, Relevanz), seine Nutzung (wofür, wann, wie oft) und seine Effekte (worauf, wie stark) sein. Da sich die jeweilige Rolle eines einzelnen Mediums personen-, kontext- und systemabhängig konstituiert, unterliegen Leitmedien großen Veränderlichkeiten. Die vorliegenden Ergebnisse können deshalb nur für den gewählten Untersuchungsgegenstand und als Momentaufnahme Gültigkeit beanspruchen. Betrachtet wurde die zwischenmenschliche Individualkommunikation im Rahmen der internen Unternehmenskommunikation. Diese bezieht sich auf al-

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Katrin Tobies | Das Mobiltelefon – Leitmedium moderner Arbeitsnomaden?

le kommunikativen Handlungen zwischen Mitgliedern eines Unternehmens, die der Erfüllung ihrer alltäglichen Arbeits- und Kommunikationsaufgaben dienen. Hier stellt das Mobiltelefon neben E-Mail, Festnetztelefon, persönlichen Treffen und Instant Messaging eines der dominierenden Kommunikationsmittel dar.1

1

Manager als kommunikative Arbeitsnomaden

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts erleben nomadische Arbeitsweisen eine neue Renaissance. Durch Globalisierung und Digitalisierung der Geschäftswelt lösen sich Strukturen einer bürobezogenen Sesshaftigkeit zunehmend auf, modernes Nomadentum etabliert sich als weitverbreitete Arbeitsform. In westlichen Industrieländern wird besonders von Führungskräften ein immer höheres Maß an Flexibilität und Mobilität erwartet, denn immer mehr und immer öfter werden herkömmliche Aufgaben ihres Arbeitsalltags aus dem traditionellen, vertraulichen Dienstbüro herausgelöst und in den öffentlichen Raum verlegt. So jetten sie zwischen ihren Terminen, verbringen zahlreiche Nächte in Hotels und arbeiten mit dem Handy am Ohr und dem Laptop auf den Knien unterwegs in Bahnhöfen, Zügen, Flughäfen und Hotellobbys.2 Der Arbeitsalltag leitender Angestellter ist von räumlicher Mobilität geprägt. Diese neue Mobilitätskultur wird erst durch mobile Kommunikation gewährleistet, da sie den durchgängigen Kontakt zum heimatlichen Büro ermöglicht. Unter mobiler Kommunikation ist jede technisch vermittelte Kommunikation zu verstehen, die durch portable, drahtlos angebundene Endgeräte realisiert wird.3 Hierzu zählen Mobiltelefone (inkl. Smartphones, BlackBerrys), elektronische Notizbücher (Handhelds, PDAs: Personal Digital Assistent) und tragbare Computer (Notebooks). Die so ermöglichte stationäre Unabhängigkeit ist für Führungskräfte im mittleren Management, auf die sich die vorliegende Studie konzentriert, von besonderer Bedeutung. Denn mittlere Manager verbringen etwa 50% ihrer Arbeitszeit außerhalb des Büros.4 Zugleich nehmen Kommunikationsaufgaben einen Großteil ihrer täglichen Arbeit ein. Dies liegt auch daran, dass sie sich in einer zentralen, dualen Position im Unternehmen befinden: Als Bindeglied zwischen Top-Managern einerseits und an der Basis tätigen Mitarbeitern bzw. 1

Vgl. Tobies: Mobilkommunikation in Unternehmen.

2

Vgl. Englisch: Jobnomaden; Rucktäschel: Jobnomaden.

3

Vgl. Schiller: Mobilkommunikation.

4

Vgl. Meyer-Raven: Funktionswandel im mittleren Management; Tobies: Mobilkommunikation in Unternehmen.

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unteren Führungskräften andererseits sind mittlere Manager für das Funktionieren der internen, zwischenmenschlichen Kommunikation maßgebend verantwortlich. Sie müssen sich hierbei im Spannungsfeld zwischen Leiten und Geleitet werden behaupten und dabei informieren, vermitteln und kontrollieren, um die Aufgabenerfüllung und Unternehmensziele sicherzustellen.5

2

Das Mobiltelefon in der unternehmerischen Kommunikation

Kommunikation ist zu einem immer wichtigeren Bestandteil der alltäglichen Arbeit geworden. Die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt stellt in der heutigen Wissensgesellschaft einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil dar. Denn dynamische Märkte, zunehmender Wettbewerb und dezentrale Standorte verlangen effiziente Absprachen und schnelle Entscheidungen.6 Mobile IuK-Technologien sind für die unternehmerische Kommunikation daher von zentraler Bedeutung. Sie steigern die Geschwindigkeit, mit der Aufgaben erledigt werden können, sie verdichten Zeit. Sie helfen, raumzeitliche Grenzen der Kommunikation zu überwinden und können dadurch den organisationsweiten Informationsaustausch erleichtern, Wissen schneller zugänglich machen, Informationswege verkürzen und Partizipationsmöglichkeiten vergrößern.7 Mit Handy, Smartphone und BlackBerry sind uns Instrumente zugewachsen, die diese Prozesse spürbar beschleunigen. Schließlich ist der ideale Wissensarbeiter jederzeit erreichbar, aufnahmebereit und sofort in der Lage, neue Informationen aufzubereiten und weiterzugeben. Unter den mobilen Endgeräten stellt das Mobiltelefon das populärste, kleinste, leichteste und am weiten verbreitetste Medium dar. Und es wird im Arbeitsalltag künftig noch wichtiger werden. Zum einen weil Mobilität weiterhin weltweit zunimmt, zum anderen weil heute nahezu alle Unternehmensmitglieder mobil greifbar sind – wenn nicht über ein Diensthandy, dann über das

5

Insgesamt vgl. Bruhn: Kommunikationspolitik; Herbst: Interne Kommunikation; Meyer-Raven: Funktionswandel im mittleren Management; Porter: „A Study of Perceived Need Satisfaction in Bottom and Middle Managerial Jobs“; Stewart: „Middle Managers: Their Jobs and Behavior“.

6

Vgl. u.a. Gora/Röttger-Gerigk: Handbuch Mobile-Commerce; Mast: Durch bessere interne Kommunikation zu mehr Geschäftserfolg; Müller: Innovative Unternehmenskommunikation im Zeitalter von Internet und eBusiness; Schwaiger u.a.: Kommunikationsmanagement in großen und mittelständischen Unternehmen.

7

Vgl. Groll: „Die Organisation von Wissen in vernetzten Unternehmen“; Höflich/Gebhardt: Mobile Kommunikation.

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private Gerät. Mit einer Durchdringungsrate von fast 120% in Deutschland8 (siehe Abb. 1) und weiterhin steigenden Umsätzen für mobile Kommunikationsdienste stellt Handynutzung eine weitverbreitete Selbstverständlichkeit dar. Dies führte im vergangenen Jahrzehnt zu einem tiefgreifenden Medienumbruch und erwirkte erhebliche Verwerfungen in der Medienhierarchie – auch im Rahmen der interpersonalen Unternehmenskommunikation. Kommunikationsmedien prägen den Arbeitsalltag und beeinflussen dabei nicht nur Organisationsabläufe, Arbeitskulturen und Entscheidungsprozesse, sondern z.B. auch soziale Beziehungen, Führungsstile und die Konstitution firmeninterner Öffentlichkeiten.9

118,1 % 103,9 % 96,1 % 86,4 % 78,6 % 71,6 % 68,1 % 58,7 %

28,6 %

17,0 % 10,1 % 4,6 % 2,2 % 3,0 % 0,3 % 0,7 % 1,2 %

6,8 %

Abbildung 1: Teilnehmerentwicklung und Penetration in deutschen Mobilfunknetzen 1990 bis 4. Quartal 200710

3

Theorie der mobiltelefonvermittelten Kommunikation

Für die theoretische Betrachtung der mobiltelefonischen Kommunikation werden im Folgenden medientechnische Aspekte des Mobiltelefons und 8

Statistisch kommt somit mehr als ein Mobilfunkvertrag auf jeden Einwohner in Deutschland.

9

Vgl. Matuschek u.a.: Neue Medien im Arbeitsalltag.

10 Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen: „Teilnehmerentwicklung und Penetration in deutschen Mobilfunknetzen“.

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kommunikationswissenschaftliche Aspekte seiner Verwendung zusammengeführt. Im Sinne eines ganzheitlichen Nutzungsprozesses werden neben der Medientechnik die vier Komponenten Medienwahl, Mediennutzung, Nutzungssituation und Nutzungsfolgen betrachtet. Als eine Grundlage dient das „Medienökologische Rahmenmodell“11 der Computervermittelten Kommunikation von Nicola Döring, welches hier gezielt für die Besonderheiten der Mobilkommunikation weiterentwickelt und diskutiert wird (siehe Abb. 2).

Abbildung 2: Modell der mobiltelefonvermittelten Kommunikation12

3.1

Medientechnische Merkmale

Technische Merkmale eines Kommunikationsmediums bestimmen die Art seiner Verwendung. Welche technischen Eigenschaften und Merkmale zeichnet das Mobiltelefon aus? Das Mobiltelefon ist ein portables, drahtlos angebundenes, ein besonders kleines und leichtes Kommunikationsmedium. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es eine orts- und zeitunabhängige Nutzung ermöglicht: „anyone, anytime, anywhere“. Es befreit die synchrone Kommunikation von räumlichen und zeitlichen Grenzen und entkoppelt so unternehmerische Kommunikation von büroräumlichen Kontexten. Darüber hinaus werden Mobiltelefone personengebunden verwendet, sie stellen ein privates, persönliches Medium dar. Da-

11 Döring: Sozialpsychologie des Internet. 12 Tobies: Mobilkommunikation in Unternehmen.

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durch können Kommunikationspartner eindeutig adressiert werden und direkt zur Verfügung stehen, wodurch sich menschliche Gatekeeper, z.B. ein Sekretariat, problemlos umgehen lassen. Zudem lassen sich Mobiltelefone wie kein anderes Medium weitreichend personalisieren – durch unterschiedliche Modelle, auswechselbare Oberschalen, Logos, Farben, Formen, Funktionalitäten und Klingeltöne. Handys gleichen modischen Accessoires, Festnetztelefone hingegen pragmatischen Einrichtungsgegenständen.13

3.2

Medienwahl

Jedes Medium verfügt aufgrund seiner speziellen medientechnischen Besonderheiten über eine eigene und besonders geeignete Verwendungsnische. Wer sich wann für welches Medium entscheidet, hängt von personenbezogenen, interpersonalen und vor allem medienbezogenen Faktoren ab. Letztere umfassen Aspekte wie den Zeitaufwand, die Verfügbarkeit, Kosten, mediale Reichhaltigkeit und soziale Präsenz des Mediums. In welchen konkreten Situationen (wann, wofür) wird das Mobiltelefon ausgewählt? Mobiltelefone lassen sich aufgrund ihrer räumlichen und zeitlichen Unabhängigkeit in fast jeder Situation verwenden. Ihre Nutzungskosten sinken hierzulande jährlich. Telefongespräche werden besonders dann gewählt, wenn es gilt, Informationen schnell und bequem auszutauschen, Fakten nachzufragen, Meinungen einzuholen, zu beraten oder leichte Kontaktpflege zu betreiben. Zudem eignet sich Fernmündlichkeit für alle Kommunikationsaufgaben, die Echtzeitkoordination, emotionale Unterstützung durch Stimme und Tonfall, eine mittlere soziale Präsenz und einen mittleren Informationsgehalt erfordern.14 Gleiches lässt sich für die mobiltelefonische Fernmündlichkeit konstatieren, jedoch nur solange die Situationsgegebenheiten und die Aufgabenanforderungen adäquat berücksichtigt werden. Denn während Besprechungen oder zum Übertragen genauer Wortlaute stellt die schriftliche Kommunikation

13 Vgl. Döring: „Psychologische Aspekte der Mobilkommunikation“; Döring: „Wie verändern sich soziale Beziehungen durch Mobilkommunikation?“; Geser: „Soziologische Aspekte mobiler Kommunikation“; Fortunati: „Der menschliche Körper, Mode und Mobiltelefon“; Höflich: Technisch vermittelte interpersonale Kommunikation; Höflich/Gebhardt: Mobile Kommunikation. 14 Vgl. zur medialen Reichhaltigkeit und Telefonforschung u.a. Daft: Organizational Information Requirements; Döring: Sozialpsychologie des Internet; Freyermuth: Kommunikette 2.0; Trevino: „Understanding Managers’ Media Choices“; Müller: Innovative Unternehmenskommunikation im Zeitalter von Internet und eBusiness; Rice: „Media Appropriateness“.

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in Form von SMS (Short Message Service, Textnachrichten) die wesentlich dezentere und exaktere Alternative dar.

3.3

Kommunikationsrahmen

In Anlehnung an Erving Goffman findet jede Kommunikation in einem kontextuellen Rahmen statt. Dieser Rahmen bestimmt die Möglichkeiten und Grenzen der Mediennutzung.15 Welche Faktoren rahmen die mobiltelefonische Kommunikation, was kennzeichnet die gewählte mediale Umgebung? Relevante Faktoren der mobiltelefonischen Kommunikation im Kontext der unternehmensinternen Kommunikation bestimmen sich aus den Gegebenheiten der Nutzungssituation, der Beziehung zum Kommunikationspartner, der Struktur und Kultur des Unternehmens sowie den Regeln der Gesellschaft. Die entscheidende Rolle spielt jedoch der Situationsrahmen mit seinen räumlichen, zeitlichen und sozialen Bedingungen. Durch die Mobilität des Geräts wird Telefonieren erstmal in unterschiedlichen Situationen und Umgebungen möglich, die zugleich sehr veränderlich sind. Das Revolutionäre am Mobiltelefon ist also nicht das Medium selbst, sondern dass sich die Tätigkeit des Telefonierens von einem einst stationären Apparat nun zu (fast) jeder Zeit an (fast) jeden beliebigen Ort verlagert lässt. Relevant sind besonders die Einflüsse, die durch Umgebungsgeräusche, durch parallele Handlungen (z.B. Autofahren, Konferenzteilnahme) und durch anwesende Dritte entstehen. Mobiltelefonische Kommunikation erfordert deshalb neue Arrangements sowohl mit dem Kommunikationspartner als auch mit dem konkreten Situationsumfeld.16

3.4

Mediales Kommunikationsverhalten

Jedes Medium ermöglicht, dass es auf verschiedene Weisen genutzt werden kann. Wie gehen Personen mit den spezifischen Optionen und Restriktionen des Mobiltelefons um? Mediales Kommunikationsverhalten bezeichnet das situationsabhängige Auseinandersetzen und Arrangieren mit den Bedingungen der Medientechnik und des Kommunikationsrahmens bei sozialen Verständigungsprozessen. 15 Vgl. Goffman: Rahmen-Analyse; Höflich: Technisch vermittelte interpersonale Kommunikation; Höflich: „An mehreren Orten zugleich“. 16 Vgl. Burkart: „Mobile Kommunikation“; Döring: „Psychologische Aspekte der Mobilkommunikation“; Höflich: „Computerrahmen und die undifferenzierte Wirkungsfrage; Freyermuth: Kommunikette 2.0; Ling: „Das Mobiltelefon und die Störung des öffentlichen Raums“.

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Hierbei gilt es, sowohl mediale als auch soziale Arrangements herauszubilden. Während das Mobiltelefon eine permanente Erreichbarkeit ermöglicht, können Nutzer zugleich mithilfe medientechnischer Funktionen, wie Voice-Mailbox, SMS und Rufnummernanzeige, gezielt filtern, wann, wo, wobei, für wen und wofür sie erreichbar sind. So können Nutzer z.B. über ihre Handlungen, ihr Raumverhalten, ihre Gesprächsinhalte und ihre Ausdrucksweisen die jeweilige Nutzungssituation steuern. Bei der mobiltelefonischen Kommunikation erfolgen mediale Arrangements individuell, soziale Arrangements werden hingegen im Dreieck zwischen dem Anrufer, dem Angerufenem und dem anwesenden Dritten ausgehandelt.17 Mediales Kommunikationsverhalten basiert darüber hinaus auf individuellen und unternehmensspezifisch-institutionellen Regeln und Bedeutungen. Auch diese können die Effekte der mobiltetefonischen Kommunikation entscheidend beeinflussen.

3.5

Effekte des Mediums

Die Folgen, die die Nutzung eines Kommunikationsmediums bewirken kann, hängen von allen zuvor genannten Komponenten ab: von den technischen Möglichkeiten und Grenzen des Mediums, von der für das Medium gewählten Aufgabe, vom Umgang mit der Kommunikationssituation sowie von der Nutzung des Mediums. Welche Komponente beeinflusst die Effekte des Mobiltelefons besonders? Zwischen Medium, Mediennutzung und Medienfolgen bestehen komplexe Wirkungszusammenhänge. Einen herausragenden Einfluss bei der mobiltelefonischen Kommunikation übt jedoch die Nutzungspraktik des Medium unter den spezifischen Bedingungen des Kommunikationsrahmens aus, da dieser den Nutzer vor immer wieder neue Gegebenheiten und Anpassungsnotwendigkeiten stellt. Die Effekte, die hierbei für die unternehmensinterne Kommunikation entstehen, lassen sich über die alltäglichen, kontextspezifischen Nutzungsweisen interpretieren.18

17 Vgl. Döring: Sozialpsychologie des Internet; Höflich: „An mehreren Orten zugleich“; Höflich: Technisch vermittelte interpersonale Kommunikation; Höflich: „Kommunikation im Cyberspace und der Wandel von Vermittlungskulturen“; Höflich/Gebhardt: Mobile Kommunikation.; Ling: „Das Mobiltelefon und die Störung des öffentlichen Raums“. 18 Ebd. sowie vgl. Rössler: „Wirkungsmodelle“.

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4

Explorative Ergebnisse zur mobilen Kommunikation von Führungskräften

Das folgende Kapitel untersucht die Rolle des Mobiltelefons im Arbeitsalltag von mittleren Führungskräften im Rahmen der internen Kommunikation. Herausgearbeitet werden die Bedeutungen (Symbolik, persönliche Relevanz), Nutzungspraktiken (Medienwahl, Einzelanalyse des Mediums, Systemanalyse des Mediengefüges) und Effekte (Informationen, Informationsprozesse, Kommunikationsbeziehungen) ihrer mobiltelefonischen Kommunikation.

4.1

Methodik und Einordnung

Die skizzierten Ergebnisse resultieren aus einer Forschungsstudie zur beruflichen Handynutzung, die die Autorin im Jahr 2005/06 am Institut für Theorie und Praxis der Kommunikation an der Universität der Künste Berlin in Zusammenarbeit mit dem Institut für Soziologie an der Technischen Universität Berlin durchführte. Die Ergebnisse beziehen sich explizit auf das gewöhnliche Mobiltelefon; die Nutzung des BlackBerrys konnte naturgemäß nicht ermittelt werden.19 Befragt wurden sechzehn Führungskräfte im mittleren bzw. gehobenen Management von Großunternehmen – darunter namhafte Weltkonzerne und DAX-Mitglieder – in Deutschland mithilfe persönlicher, problemzentrierter Leitfadeninterviews und eines begleitenden Fragebogens. Quantitativ erfasst wurden u.a. Daten zur beruflichen Bedeutung und Nutzung aller im Arbeitsalltag verwendeten Kommunikationsmedien sowie deren Bedeutungsund Nutzungsveränderungen. Die Befragten leiteten Bereiche oder Abteilungen mit durchschnittlich 70 Mitarbeitern. Ausgewählt nach dem Verfahren des theoretical sampling, gehörten sie jeweils unterschiedlichen Unternehmen und Tätigkeitsbereichen an, so dass eine größtmögliche Varianz hinsichtlich ihrer Arbeits- und Kommunikationsaufgaben gewährleistet werden konnte. Die Auswertung des erhobenen Materials orientierte sich an dem von Lamnek entwickelten Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse.20 Die Ergebnisse können als Trendaussagen für den deutschsprachigen Raum gewertet werden. Sie erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität. Zu Illustrationszwecken werden einzelne Zitate wiedergegeben, sie sollen zudem die Interpretation intersubjektiv nachvollziehbar machen.

19 Zum damaligen Zeitpunkt waren E-Mail-fähige Handhelds unter Führungskräften kaum verbreitet. Nur zwei der Befragten besaßen bereits ein solches Gerät, jedoch erst in der Testphase als ein zusätzliches Mobilmedium. 20 Lamnek: Qualitative Sozialforschung; Flick: Qualitative Sozialforschung.

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4.2

Symbolik des Mobiltelefons: Dringlichkeit plus Wichtigkeit

Was verbinden Führungskräfte mit dem Mobiltelefon und der damit einhergehenden Möglichkeit der permanenten Erreichbarkeit? Die Befragten nehmen das Mobiltelefon als ein alltägliches und selbstverständliches Kommunikationsmedium wahr, dessen Gebrauch standardisiert und symbolisch verankert ist. Sein Klingeln verbinden sie stets mit einem dringlichen, wichtigen Anruf von hoher Priorität. Das Mobiltelefon verkörpert für sie ein funktionales Handwerkszeug, während es den Reiz eines Prestigeobjektes v.a. in technischer und ästhetischer Hinsicht zunehmend verloren hat. „Man hat sich einfach daran gewöhnt, dass es Handys gibt. […] Ich denke, dass sich das Handy in den letzten 10 Jahren als Medium entwickelt hat, was man einfach so als Bestandteil seines eigenen Körpers betrachtet und man hat das integriert, ohne weiter darüber nachzudenken. Das ist ein Stück von einem selbst geworden“ (B1).21 Ein Mobiltelefon symbolisiert für die Befragten vorrangig, permanent erreichbar zu sein und jederzeit kommunizieren zu können. Diese Möglichkeit der Ubiquität versinnbildlicht für sie einerseits Freiheit, Flexibilität und Arbeitserleichterung, andererseits psychische Belastung, Stress und Freiheitsbeschränkung. Trotz des potentiellen Nachteils als Stressfaktor sind den Befragten das Mobiltelefon und ihre ständige Erreichbarkeit außerordentlich wichtig, mit steigender Tendenz. „Das Fantastische daran ist, man ist überall erreichbar. Das Negative ist, man ist überall erreichbar. […] Wenn ich was will, ist sie mir sehr wichtig. Und wenn ich nichts will, ist sie mir lästig“ (B6). Neben dem symbolischen Gehalt des Mobiltelefons als Medium, trägt auch sein Klingeln eine Botschaft. Klingelt das Diensthandy, dann ist das für alle Befragten ein Signal für Dringlichkeit, Relevanz und erhöhte Priorität. Diese Symbolik erschließt sich über den alltäglichen Handygebrauch bei der Arbeit. Die Führungskräfte verdeutlichen, dass sich in ihren Unternehmen weitestgehend durchsetzte, das Mobiltelefon nur gezielt anzuwählen, wenn dringender Bedarf für diese direkte Kontaktaufnahme besteht und die Zielperson nicht am Festnetztelefon erreicht werden konnte. Demzufolge vermuten sie hinter jedem Handyanruf eine besondere Wichtigkeit und schreiben den Themen, die

21 „B“ steht hier abgekürzt für „Befragter“. Die Zahl in Klammern gibt an, welchem der 15 ausgewerteten Interviews das Zitat entnommen ist.

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sie am Mobiltelefon besprechen, eine erhöhte Priorität zu. Sie nehmen einen Anruf als umso dringlicher wahr, wenn er von Handy zu Handy erfolgt: „Wenn er mich von seinem Handy aus auf dem Handy anruft, dann dachte ich so: ‚Da ist was passiert.‘ Ich habe gedacht, es ist eine Notsituation. Da habe ich mir irgendwie ein bisschen Sorgen gemacht. […] Da war wieder dieses ‚Handyanruf als dringlicher Anruf‘. Also quasi die unterbewusste Botschaft“ (B5).

4.3

Relevanz des Mobiltelefons: Unverzichtbarkeit

Welche persönliche Relevanz hat das Mobiltelefon im Arbeitsalltag von Führungskräften? Wie wichtig ist es ihnen? Das Mobiltelefon gehört heute zur Grundausstattung jeder Führungskraft. Ein Arbeitsalltag ohne ein Mobilgerät ist für die Befragten undenkbar geworden – vorstellen könnten sie es sich nur, wenn alle darauf verzichten würden, denn mobile Kommunikation ist ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor, den niemand freiwillig missen möchte. Fast allen Befragten ist permanente Erreichbarkeit außerordentlich wichtig und das Mobiltelefon für ihre Arbeit ein wichtiges bis sehr wichtiges Kommunikationsmedium. Als „Festnetztelefon im Rucksack“ (B1) gewinnt es vor allem außerhalb des Bürozimmers und auf Dienstreisen, wo alternative Kommunikationsmedien meist fehlen, an eklatanter Bedeutung. Ohne das Mobiltelefon würden sich die befragten Führungskräfte nackt, eingeschränkt und arbeitsunfähig fühlen, weil sie nicht mehr jederzeit erreichbar wären und ihre Arbeit dadurch ihrer Selbsteinschätzung nach an Effizienz, Schnelligkeit und Flexibilität verlieren würde. Sie möchten das Mobiltelefon nicht entbehren, da es ihnen helfen würde, ihren Job zu bewältigen, Zeit zu sparen, den Berufsalltag einfacher zu organisieren, Arbeitszeiten flexibler und unabhängiger zu gestalten. Nicht zuletzt fühlen sie sich aber auch dem sozialen Druck ausgesetzt, erreichbar sein zu müssen: „Als ich mein Handy vergessen hatte, das war als wenn ich den Schlips vergessen hätte und in die Firma gehe und alle gucken einen an und überhaupt das Thema: ‚Du bist ja nicht erreichbar!‘ Also da kamen Vorwürfe von außen. Und ich selber fühlte mich arbeitsunfähig“ (B2). „Ich werde wahnsinnig, wenn mein Akku leer ist. […] Sollte mein Akku mal leer sein, würde ich alles daran setzen, diesen Akku aufladen zu können“ (B15).

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„Es wäre ohne nicht mehr denkbar. Aufgrund der Geschwindigkeit, in der Informationen ausgetauscht und Entscheidungen getroffen werden müssen, ist diese ständige Erreichbarkeit […] ohne Handy heute überhaupt nicht mehr möglich“ (B1).

4.4

Position und Wahl des Mobiltelefons im Mediengefüge: unterwegs die Nr. 1

Welche Rolle spielt das Mobiltelefon im Mediengefüge von Führungskräften? Für welche Kommunikationsnische verwenden sie es? Inwiefern ergänzen oder ersetzen sie dabei andere Medien? Die befragten Führungskräfte sehen das Mobiltelefon als ihr Kommunikationsmedium Nr.1, solange sie unterwegs sind. Im Büroalltag hingegen räumen sie E-Mails, persönlichen Treffen und Festnetztelefonaten eine weitaus größere Bedeutung und auch Nutzung ein. Die Wahl des Mobiltelefons entscheidet sich also nach dem vorhandenen Medienangebot in der jeweiligen Kommunikationssituation. Im Zusammenwirken mit anderen Medien hat das Mobiltelefon deshalb seine eigene Nische gefunden: Für Situationen unterwegs mit dem Ziel der kurzen, zweckorientierten, direkten Kommunikation bei dringenden und wichtigen Angelegenheiten. „Ich nutze das Handy immer dann, wenn ich meinen Büroarbeitsplatz verlassen habe“ (B1). „Das Handy ist die schnellste Lösung, nicht die beste, aber es reicht in den meisten Fällen, um ein ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu kriegen“ (B13). Hierbei übernimmt es sowohl ergänzende als auch substituierende Aufgaben zu anderen Kommunikationsmedien. Im Mediengefüge nutzen Führungskräfte das Mobiltelefon dazu, Themen vorbereitend zu adressieren und zu gewichten, um diese anschließend bei einem persönlichen Treffen, am Festnetztelefon oder per E-Mail ausführlich zu besprechen – hierbei ergänzt und erweitert es also andere Medien. Eine solche Gesprächsverlagerung, so zeigen die Ergebnisse, findet jedoch immer seltener statt. Vielmehr versuchen die Befragten, so viel wie möglich gleich am Mobiltelefon zu klären. Die Notwendigkeit, sich später noch persönlich zu treffen, entfällt dadurch häufig – es besteht deutlich die Gefahr, dass Festnetztelefonate und der Face-to-Face- Kontakt zunehmend durch mobiltelefonische Gespräche ersetzt werden. Dass nicht alle Sachverhalte schnell, zwischendurch und unterwegs auf adäquate Weise zu lösen sind, scheint die Befragten wenig zu interessieren.

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„Das Handy ist eine Ergänzung […]. Es schafft mehr Kommunikation in der Menge, ersetzt aber gleichzeitig auch Teile schon bestehender anderer Kommunikationswege. Nicht ganz, aber doch im Prinzip, weil es doch vielfach flexibel ist.“ – Welche anderen Teile ersetzt es für Sie? – „Das Festnetztelefon im Wesentlichen, und es ersetzt teilweise auch persönliche Treffen, weil man Dinge schneller klären kann“ (B10).

4.5

Rivalität zwischen Mobil- und Festnetztelefon: Eskalationshierarchie

Unter welchen Umständen wird ein Gesprächspartner über das Mobil- oder Festnetztelefon kontaktiert? Beide Medien ähneln sich in ihren Eigenschaften so stark, dass die meisten Befragten kaum zwischen einem mobilen und stationären Telefongespräch unterscheiden. Beide Medien stehen dadurch in enger Konkurrenz. Im praktischen Umgang setzte sich jedoch eine Eskalations- und Nutzungshierarchie durch, nach der das Festnetztelefon im Regelfall vor dem Mobiltelefon angewählt wird. Das Festnetzgespräch wird prinzipiell bevorzugt, weil die Sprachqualität besser und die Kosten niedriger sind. Zudem ermöglicht der Weg über das Festnetz, vom Telefondienst bzw. Sekretariat zu erfahren, ob, wann und wie die Zielperson bestmöglich zu erreichen ist. Die Medienwahlhierarchie hängt allerdings vom wissentlichen Aufenthaltsort der Zielperson, von der Tageszeit und der Wichtigkeit des Gesprächsanlasses ab. Je wahrscheinlich der Gesprächspartner aufgrund von Urlaubstagen, Dienstreisen oder Randarbeitszeiten nicht im Büro ist und je dringender und wichtiger der Anlass des Anrufs sind, desto eher wählen die Befragten das Mobiltelefon direkt an. Für mittlere Manager sind dies keine seltenen Situationen: „Wir Bereichsleiter kommunizieren nur mit dem Handy untereinander. Wir nehmen da auch auf nichts Rücksicht, weil wir uns ja erreichen wollen. […] Seitdem jeder unserer Bereichsleiter ständig unterwegs ist, ist das Handy die einzige Chance“ (B1). „Ich glaub ich gehe ziemlich oft über Handy. […] Hängt vielleicht auch mit den Zeiten zusammen, wann man dann anruft. Wenn man weiß, die sitzen wahrscheinlich nicht mehr im Büro oder so“ (B9). „Ich habe eine gewisse Verantwortung und wenn ich Dinge haben will, die mir wichtig erscheinen oder wenn ich was Dringendes will, dann […] rufe ich auch die Handynummer direkt an“ (B2).

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4.6

Sechs Nutzungsfunktionen des Mobiltelefons

Welche Aufgaben erfüllt das Mobiltelefon im Arbeitalltag? Im Unternehmen hat es seinen festen Platz eingenommen und unterstützt Führungskräfte bei ihren wesentlichen Arbeits- und Kommunikationsaufgaben. Hier entwickelte sich das Mobiltelefon zu einer Art Standleitung mit der Funktion des schnellen Samariters und psychologischen Seelsorgers. Insgesamt konnten in der Studie sechs Hauptaufgaben herauskristallisiert werden: 1.

Sicherheitsfunktion: Stillt das Sicherheitsbedürfnis der Führungskräfte, zugleich auch ihrer Mitarbeiter, Kollegen und Vorgesetzen, weil sie bei unvorgesehenen Ausnahmesituationen und in Notfällen erreicht werden, andere kontaktieren und sofort reagieren können. Reduziert somit Angst und Unsicherheit, minimiert das Gefühl, etwas zu verpassen, übernimmt also v.a. psychologische Aufgaben. Dient auch zur Rückversicherung. Die Sicherheitsfunktion ist die wichtigste Funktion des Diensthandys.

2.

Informations- und Abstimmungsfunktion: Dient dazu, sich sachliche Informationen (Fakten, Daten, Zahlen) auszutauschen, sich inhaltlich abzustimmen und Entscheidungen zu besprechen. Wird vorrangig zwischen Kollegen und mit Mitarbeiten genutzt. Erfolgt insbesondere auch dazu, sich im Vorhinein zu informieren und abzustimmen, um sich frühzeitig auf Probleme vorbereiten und gegenüber Vorgesetzen weniger angreifbar machen zu können.

3.

Organisations- und Koordinationsfunktion: Zum Organisieren des Arbeitsalltages, zum Koordinieren von Terminen, Treffen und Telefongesprächen, vor allem in Absprache mit dem Sekretariat. Bei Verspätungen und zum Verlagern von Gesprächen auf andere Medien.

4.

Führungsfunktion: Erleichtert die Führungsaufgaben der Befragten. Das Mobiltelefon dient ihnen dazu, Mitarbeitern jederzeit als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen, ihnen Rückversicherung zu geben, sie zu motivieren, ihre Arbeit anzuleiten und zu überwachen. Die konkrete Nutzung des Mobiltelefons hängt vom jeweiligen Führungsstil ab.

5.

Beziehungsfunktion: Um den Kontakt zu Kollegen und Mitarbeitern aufrechtzuerhalten, vor allem während häufiger Abwesenheiten. Da eine Kontaktaufnahme selten ohne arbeitsbezogenen Anlass erfolgt, bleibt die Beziehungsfunktion des Handys jedoch stark ungenutzt.

6.

Zeitüberbrückungsfunktion: Hilft Führungskräften, ihre Warte- und Reisezeiten (Auto-/Zugfahren, im Flughafen) zielgerichtet auszunutzen, um selbst weiterzuarbeiten und um andere Unternehmensmitglieder weiter-

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arbeiten zu lassen, indem sie ihnen Informationen bereitstellen und deren Wartezeit auf Antworten verkürzen.

4.7

Effekte des Mobiltelefons

Welche Effekte bewirkt das Mobiltelefon bzw. seine Nutzung im Rahmen der unternehmensinternen Kommunikation? Wie relevant ist dieser Einfluss? Untersucht wurden die Konsequenzen für die Informationsprozesse und die sozialen Kommunikationsbeziehungen der Befragten. Identifiziert werden konnten unterschiedliche, oft konträre Ausprägungen: Mehrheitlich sind dienstliche Gespräche am Mobiltelefon davon gekennzeichnet, dass sie sehr sachbezogen, verkürzt und oberflächlich verlaufen, dafür häufiger und spontaner stattfinden. Das Mobiltelefon verstärkt das Bedürfnis nach mehr Kommunikation – und stillt es zugleich. Eine Informationsüberflutung (quantitativ) oder Informationsverschmutzung (qualitativ) meinen die befragten Führungskräfte jedoch selten zu verspüren, da sie diese über persönliche Erreichbarkeits- und Kontaktfilter abwenden. Ebenso sind sie mehrheitlich davon überzeugt, dass ihnen kaum inhaltliche Missverständnisse widerfahren, die auf einen ungünstigen Situationsrahmen zurückzuführen wären. Vielmehr würden sie möglichen negativen Effekten bewusst entgegenwirken, indem sie sich gezielt mit ihrem Situationsumfeld medial und sozial arrangieren. Nehmen die Befragten trotzdem einen Anruf in einer ungünstigen Situation an, so versuchen sie, ihre Handlungen, ihr Raumverhalten, ihre Gesprächsinhalte und Ausdrucksweisen der jeweiligen Situation anzupassen. Diese Selbsteinschätzung der Befragten muss jedoch kritisch hinterfragt werden. Denn teilnehmende Beobachtungen zeigen wiederholt, dass Mobilfunknutzer dennoch medieninadäquate Inhalte ausführlich besprechen und Firmeninterna leichtfertig ausplaudern, weil sie ihre eigene Lautstärke und die Anforderungen paralleler Handlungen (z.B. Autofahren) unterschätzen, ihre Umgebung vergessen oder diese sogar bewusst beeindrucken wollen. Für die Qualität der mobil vermittelten Informationen konnten Faktoren identifiziert werden, die diese sowohl verbessern als auch verschlechtern: Das Mobiltelefon ermöglicht einen schnelleren Zugriff auf Personen. Dadurch beschleunigen sich Informations- und Entscheidungsprozesse, führt aber auch zu spontanen, unüberlegten und weniger optimalen Handlungen. Andererseits verbessert sich die Qualität der Informationsbasis und von Entscheidungen, indem die Befragten mehr Personen einbinden, erhaltene Informationen umfassender absichern und sich auf Entscheidungen besser vorbereiten. Aufgrund der hohen Glaubwürdigkeit für die Dringlichkeit mobiltelefonvermittelter Anliegen entwickelte sich zugleich ein neues Problemverständnis. Während

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kritische Situationen nun frühzeitiger wahrgenommen und gelöst werden, werden auch zusätzliche Gegebenheiten unnötig problematisiert. Ebenso birgt die Verwendung des Mobiltelefons beziehungsfördernde und beziehungsstörende Faktoren: Solange die befragten Führungskräfte für ihre Bezugspersonen jederzeit erreichbar, stets virtuell präsent und kommunikativ nah sind und somit den Zusammenhalt und das gegenseitige Vertrauen stärken, solange hilft ihnen das Mobiltelefon auch, die bestehende Qualität ihrer Kommunikationsbeziehungen aufrechtzuerhalten. Wird diese Möglichkeit hingegen nicht genutzt, führt seltener Kontakt, v.a. aufgrund einer höheren Hemmschwelle gegenüber dem mobiltelefonischen Kontakt, zu distanzierteren und anonymeren Beziehungen. Die befragten Führungskräfte steuern ihre Erreichbarkeit mithilfe ausgeprägter medialer und sozialer Filter: Sie setzen zwar kaum zeitliche und nur wenige situative und räumliche Grenzen, regulieren aber gezielt, wer, wann, weshalb anrufen darf. Sie verwenden dabei technische Funktionen, wie Rufnummeranzeige, Voice-Mailbox und SMS, und beschränken ggf. die Notwendigkeit eines Anrufs im Vorfeld, indem sie ihren Mitarbeitern mehr Entscheidungsbefugnisse übertragen, regelmäßige Treffen und Telefonkonferenzen durchführen und Eskalationsstufen für die Kontaktaufnahme vorgeben. Diese Kontaktfilter geben den Befragten das (scheinbare) Machtgefühl, über ihre Verfügbarkeit selbst entscheiden zu können – dies muss aber auch als ein psychisches Mittel interpretiert werden, mit dem sie sozialen Druck und fehlende soziale Distanz ausgleichen. Denn heute ist es beruflich immer weniger akzeptiert, nicht erreichbar zu sein; die Toleranz gegenüber der Reaktionsgeschwindigkeit ist erheblich gesunken. Insofern veränderte das Mobiltelefon die sozialen Beziehungen der Befragten tiefgreifend dahingehend, dass Erreichbarkeit als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Darüber hinaus festigt das Mobiltelefon durch seine förmliche Verwendung im Arbeitsalltag den Status quo bereits bestehender Kommunikationsstrukturen, Formalitätsgrade und Beziehungsarten.

5

Fazit: Mobiltelefon als Leitmedium im nomadischen Arbeitsalltag

Die Forschungsergebnisse verdeutlichen, dass das Mobiltelefon im Übergang zum 21. Jahrhundert zum wichtigsten und meistgenutzten Medium im mobilen Arbeitsalltag geworden ist und dabei erhebliche Verwerfungen in der Medienhierarchie bewirkt hat. Für den untersuchten Zeitraum 2005/06 muss das Mobiltelefon daher zwingend als ein Leitmedium moderner Büronomaden, wie es Führungskräfte sind, bezeichnet werden.

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Katrin Tobies | Das Mobiltelefon – Leitmedium moderner Arbeitsnomaden?

Die dominierende Rolle des Mobiltelefons in der unternehmensinternen, interpersonalen Kommunikation offenbart sich darin, dass es das Medium ist, welches für Priorität, Dringlichkeit und Wichtigkeit steht. Zudem gewährleistet es wie kein anderes Medium fast ubiquitäre Erreichbarkeit, diese empfinden Führungskräfte als unverzichtbar. Außerhalb des Dienstbüros, d.h. zu 50% ihrer Arbeitszeit, ist das Mobiltelefon deshalb Kommunikationsmedium ihrer 1.Wahl. Es ist das Medium, welches Führungskräfte durchgängig bei ihren wesentlichen Arbeits- und Kommunikationsaufgaben unterstützt. Auch wenn es gilt, Arbeitszeiten zu verlängern und Flexibilität zu erhöhen, nimmt das Handy eine leitende Funktion ein. Nicht zuletzt wirkt sich die berufliche Verwendung des Mobiltelefons entscheidend auf Informationsprozesse und Kommunikationsbeziehungen im Arbeitsalltag aus. Es zeigt sich jedoch auch, dass das eine alleinige Leitmedium im Arbeitsalltag nicht per se existiert. Medienhierarchien konstituieren sich vielmehr in Abhängigkeit vom jeweiligen Kommunikationsrahmen und dem darin verfügbaren Medienangebot. So schreiben Führungskräfte dem Mobiltelefon eine Hauptfunktion nur zu, wenn sie (oder ihr Gesprächspartner) unterwegs sind. Im stationären Büro hingegen sind ihnen E-Mails, persönliche Treffen und das Festnetztelefon weitaus wichtiger. Es ist zu vermuten, dass mit Ausweitung kostenloser WLAN-Netze und der wachsenden Bedeutung von Web 2.0-Anwendungen internetfähige Medien wie Laptops, Smartphones und Handhelds eine dominierendere Rolle im mobilen Leben einnehmen werden. Ebenso zeigt sich, dass im Arbeitsalltag mehrere Medien um die gleiche leitende Position konkurrieren. Denn trotzdem das Mobiltelefon seine eigene Verwendungsnische einnimmt, ersetzt und ergänzt es zugleich Funktionen anderer Medien – und wird in Teilen von anderen Medien künftig stärker selbst ersetzt. Letztlich scheint es die mobile Kommunikation zu sein, die den Arbeitsalltag leitet, weniger das Mobiltelefon als spezifisches mobiles Endgerät. Da sich das Medienangebot zunehmend ausweitet und differenziert, können immer mehr Medien gleiche/ähnliche Funktionen übernehmen. Mobiltelefone, Handhelds und Notebooks verschwimmen zu Multifunktionsgeräten. Mit PDA oder Notebook lässt sich telefonieren, mit dem Mobiltelefon e-mailen und im Web 2.0 surfen. Deshalb gilt zu prüfen, ob und inwiefern das herkömmliche Mobiltelefon seine Position als Leitmedium v.a. im Zusammenspiel mit anderen mobilen Endgeräten heute verändert hat.

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Holger Gamper

„Das Volk folgt. Das sagt ja schon der Name.“ Paradoxe Diskurse um die Werbung als Leitmedium im Liberalismus Die Entwicklung jener Phänomene, die wir heute (zumeist verächtlich) als die Werbung bezeichnen, ist notwendigerweise mit der Entstehung des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus verknüpft – so sehr, dass nach Ansicht des Historikers Dirk Reinhardt die Werbung „in ökonomischer, kultureller und sozialer Hinsicht nahezu eine Verkörperung der Moderne zu sein scheint“.1 Gerade deshalb manifestieren Diskurse über die Werbung in Alltag, Politik, Kunst und Wissenschaft, wie die jeweiligen Diskursteilnehmer sich das mediale Leiten von Mensch und Gesellschaft im Liberalismus vorstellen; und nicht selten sind mit der Werbung die wildesten Annahmen über ihre Lenkungs- und Allmacht verknüpft. Dabei erweisen sich alle Vorstellungen von Lenkung durch Werbung durchwegs als paradox: Ist eine politisch und wirtschaftlich liberale Gesellschaft, ist Wahlfreiheit ohne Werbung denkbar? Eine Bemerkung am Rande. Roman Herzog, Alt-Bundespräsident und Vorsitzender des Vereins Konvent für Deutschland (SZ: „Deutschlands selbsternannte Reformer-Elite“2), offenbarte im April 2008 anlässlich der Vorstellung der Vereinsschrift Mut zum Handeln3 ungeschönt sein Verständnis von politischer Werbung im Liberalismus. Auf die Frage, wie sich „das Volk“ für die im Buch vorgestellten Ideen der Reformer-Elite begeistern ließe, antwortete er: „Das Volk folgt. Das sagt ja schon der Name“.4 Solch „einfaches Denken“5 in schlichten Kausalitäten ist nicht ungewöhn6 lich, aber unbefriedigend, konnte doch Lenkung durch Medien und Werbung empirisch bislang kaum nachgewiesen werden – die zahlreichen Misserfolge der Medien- und Werbewirkungsforschung, nachzulesen in jedem kommuni1

Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing, S. 1.

2

„Ein Weckruf für Deutschland“.

3

Herzog: Mut zum Handeln.

4

„Ein Weckruf für Deutschland“.

5

Vgl. Maletzke: Kulturverfall durch Fernsehen?, S. 92ff.

6

Den weit verbreiteten Glauben an „einfache“, kausale Medien- und Werbewirkungen weisen Studien zur sog. third-person effect hypothesis regelmäßig nach. Sie wurde 1983 von W. Phillips Davison formuliert (vgl. Davison: „The Third-Person Effect in Communication“).

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kationswissenschaftlichen Lehrbuch, belegen es. Wo keine kausale Wirkung, da kein Leitmedium.7 Es liegt dem Verfasser dieser Zeilen also die Vorstellung fern, ein Medium ließe sich quasi-ontologisch zum epochemachenden Leitmedium erheben. Jedoch erlaubt das Konstrukt Leitmedium komplexere Fragestellungen als jene nach einfachen Kausalitäten; etwa jene nach den Intentionen und sozialen Projektionen, die hinter der Identifizierung, Legitimierung und Delegitimierung von Medien als Leitmedien stecken. Und angesichts dieser Intentionen wird der Verfasser im Fazit – ebenso wie lenkungswillige Kommunikatoren und wirkungssuchende Wissenschaftler angesichts der erwähnten empirischen Befunde – vor dem Problem stehen: Rien ne va plus?

1

Leitmedium Werbung – ein Heurismus

Die Tagung Leitmedien verhalf einmal mehr zu der wenig überraschenden Erkenntnis, dass Wissenschaftler nicht immer über dasselbe reden, wenn sie dieselben Begriffe benutzen. Besonders die Unschärfe des forschungsleitenden Begriffs wurde in den Vorträgen vielfach hervorgehoben. In diesem Beitrag soll der Versuch unternommen werden, die von den Veranstaltern vorgeschlagene Definition von Leitmedium, eine Abwandlung der Lasswell-Formel, heuristisch zu nutzen: „Wer/was leitet wen, womit, wie und wohin?“8 Etwas überspitzt ausgedrückt, wurde mit dieser medienzentrierten Definition die klassische Forschungsfrage nach starken Medienwirkungen neu gestellt – gerade nach Wirkungen fragte ja die Lasswell-Formel im Original. Verschoben hat sich bei der Siegener Reformulierung der Fokus von der individual- und sozialpsychologischen hin zur kulturellen Analyseebene: Im CfP zur Tagung werden die durch das „Dominantwerden eines neuen Mediums“ auftretenden „Medienumbrüche“ für „tiefgreifende kulturelle Konsequenzen“ verantwortlich gemacht.9 Gerade weil die Entwicklung jener Phänomene, die wir heute gemeinhin als die Werbung bezeichnen, historisch notwendigerweise mit der Entstehung des wirtschaftlichen und politischen Libera-

7

Die Ergebnisse eines Standardwerks der kommunikationswissenschaftlichen Medienwirkungsforschung (Schenk: Medienwirkungsforschung) lassen sich weitgehend als „limited effects“-Perspektive zusammenfassen: Medien verstärken bestehende Meinungen, Werte etc. bestenfalls, anstatt sie zu ändern oder gar zu erzeugen, weil eine grundsätzliche Affinität zwischen Medium und Nutzer Voraussetzung für Selektion, Aufmerksamkeit, Verstehen etc. ist („selective exposure“).

8

Vgl. Ligensa: „CfP Leitmedien“.

9

Vgl. Ligensa: „CfP Leitmedien“.

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lismus zusammenfiel und gleichzeitig eine conditio sine qua non desselben darstellt, lässt sich die postulierte Kausalität kulturellen Wandels durch das „Dominantwerden eines neuen Mediums“ exemplarisch besprechen. Die Definition Leitmedium Werbung als Heurismus kann dabei der Analyse sowohl der beobachtbaren kulturellen Wirkungen als auch der sozialen Projektionen, der Diskurse über vermutete Wirkungen, dienen.10

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Werbung – Leitmedium eines Medienumbruchs?

Die Entstehung der Reklame11 (der Begriff war seinerzeit keineswegs pejorativ) im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fiel in eine Zeit vielfältiger struktureller Umbrüche in Wirtschaft, Politik, Medienlandschaft und Gesellschaftsordnung, die wir als Folge der Durchsetzung des Liberalismus insbesondere nach der Reichsgründung 1871 begreifen können. Dabei verliefen verschiedenste Entwicklungen im Übergang von der ständischen zur liberalen Gesellschaftsordnung parallel und interdependent. Als Kennzeichen dieses Wandels gilt im wirtschaftlichen Bereich der Übergang von handwerklicher Produktion zu großindustrieller Massenproduktion; in der Mediengeschichte entspricht ihm der Umbruch von den früheren Intelligenz- und Meinungsblättern mit geringer Auflage zur Geschäftspresse, zur werbefinanzierten Massenpresse der Moderne.12 Im Verlauf dieser Umbrüche bildete sich jene Struktur des Wirtschaftens und Kommunizierens heraus, die der Kommunikationswissenschaftler und -historiker Bodo Rollka als Säkulare Trinität bezeichnet: Die Struktur aus Kaufhaus, Markenartikel und anzeigenfinanzierter Generalanzeigerpresse, die im Vergleich zur früheren, vom Einzelhandel geprägten Wirtschaftsordnung auf umwälzende Veränderungen in den Bereichen der Warenherstellung, der Warendistribution und der Warenankündigung schließen lässt. Die auf liberaler Gesetzge-

10 Dabei ist die Frage unerheblich, ob die institutionalisierte Werbung ein eigenständiges Medium (oder je nach Diskurs eine Mediengattung, ein Kommunikationssystem, einen Kommunikationstyp etc.) darstellt. Institutionalisierte Werbung (Anzeigen, TV-Spots, Pop-Up-Fenster u.ä.) würde ich als „medial vermittelte werbende kommunikative Angebote“ definieren; mit meiner Arbeitsdefinition Leitmedium Werbung als Heurismus wird gerade nicht gesagt, dass es sich dabei tatsächlich um ein wirkmächtiges Leitmedium in einem ontologischen Sinne handelt. Vgl. hierzu das Fazit (Punkt 7). 11 Zur Geschichte der Anzeigenwerbung vgl. ausführlich Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing, S. 169ff. 12 Vgl. Rollka: Fallstudie I: Industrialisierung (vom Generalanzeiger bis zur Sozialisierungsdebatte).

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bung und technischen Innovationen beruhende Massenproduktion erlaubte erstmals die flächendeckende Distribution standardisierter Waren – der damals neuen Markenartikel – in den neu entstehenden Warenhäusern; diese neue Form der Distribution forderte die Entstehung einer ebenso flächendeckenden Ankündigung der Waren geradezu heraus.13 Das rasch wachsende Ankündigungswesen veränderte nicht nur das Erscheinungsbild der Städte, sondern bescherte den Zeitungen ein Anzeigenaufkommen, das die Senkung der Bezugspreise und die Erschließung neuer (ärmerer) Käuferschichten erlaubte. Die steigenden Auflagen wiederum machten die Presseerzeugnisse für die Werbewirtschaft noch attraktiver. Es entstand ein neuer Zeitungstypus, der anzeigenfinanzierte Generalanzeiger, auf dessen Bedeutung im Prozess der Entstehung der Massenpresse Zeitungskundler verschiedentlich hingewiesen haben.14 Die Generalanzeiger, so der Historiker Dirk Reinhardt, […] waren der erste Zeitungstyp, der nicht mehr mit einer Bezugspreissenkung auf vermehrte Anzeigeneinnahmen reagierte, sondern eine solche agierend vornahm, um aus eigener Initiative Inserenten anzulocken.15 Mit ihrer Preis- und Auflagengestaltung befeuerten die Generalanzeiger also ein steigendes Anzeigenaufkommen, anstatt nur passiv auf ein expandierendes Werbevolumen zu warten. Ergänzend muss hinzugefügt werden, dass die Entstehung der für jedermann erschwinglichen Massenpresse auch medientechnischen Innovationen (etwa der Erfindung der Rotationspresse) und der liberalen Gesetzgebung, vor allem dem Reichspressegesetz von 1874, geschuldet ist. Der Druck auf den Gesetzgeber, die Entstehung einer durch Werbung und billigen Bezugspreis mischfinanzierten Massenpresse nicht weiterhin zu behindern, wurde dabei von wirtschaftlicher und politischer Seite gleichermaßen ausgeübt. Denn der Entstehung einer anzeigenfinanzierten Massenpresse stand zunächst noch, etwa in Preußen bis 1850, eine merkantilistisch geprägte Kommunikationsordnung entgegen: Nach Einführung des sog. Intelligenzwesens zu Beginn des 18. Jahrhunderts standen Anzeigen (es handelte sich dabei 13 Vgl. Rollka: Fallstudie I: Industrialisierung (vom Generalanzeiger bis zur Sozialisierungsdebatte), S. 1f. 14 Vgl. Groth: Die Zeitung, S. 220ff.; Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, S. 267ff.; Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing, S. 180f. 15 Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing, S. 180f. – Weitere Geschäftsmethoden der Generalanzeigerpresse, die wir heute als verkaufsfördernde Maßnahmen bezeichnen würden, beschreibt Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, S. 267ff.

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noch nicht um Werbung für Markenprodukte, sondern um „Kleinanzeigen“, amtliche Bekanntmachungen, Stellengesuche etc.) unter dem Monopol des Staates und durften nur in Intelligenzblättern erscheinen. Allen anderen Zeitungen, insbesondere der politischen Presse, die sich durch Bezugsabonnements finanzieren musste, war der Abdruck von Anzeigen weitgehend verboten. Letztlich wirkte sich dieses Verbot in Verbindung mit verschiedenen Zeitungssteuern als ordnungspolitische Form von Zensur durch künstliche Verteuerung der politischen Presse aus.16 Widerstand formierte sich; nicht nur die politische Presse kämpfte gegen diese Kommunikationsordnung, sondern auch die frühen liberalen Wirtschaftszweige. Für letztere stellten die Intelligenzblätter ungeeignete Anzeigenorgane dar, da sie „aufgrund ihres reizlosen Inhaltes kaum gelesen wurden.“17 Dirk Reinhardt: So muß der Kampf der Zeitungen und der frühen Werbetreibenden gegen das Intelligenzwesen als kommunikationsbezogenes Element der Durchsetzung des Liberalismus gegenüber der alten Wirtschaftsordnung gesehen werden.18 Die Forderungen der politischen Presse nach einer Liberalisierung des Anzeigenwesens und der Bedarf der Wirtschaftstreibenden an Anzeigenraum in attraktivem redaktionellem Umfeld gingen somit der Institutionalisierung der Reklame und des Ankündigungswesens voraus – das Bedürfnis für neue Handlungsmöglichkeiten formte sich vor ihrer später heftig kritisierten Verkörperung.

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Medien und Kultur – Kausalität versus Interdependenz

Die Frage nach der kulturellen Dominanz eines Leitmediums ist letztlich die Frage nach der Ursache einer spezifischen Ausprägung von menschlicher Kultur und Medienkultur. Auf den Liberalismus bezogen, lautet sie: Sind der Mensch, seine Bedürfnisse, seine Kultur und sein Handeln ein Produkt der Werbung – erinnert sei hier an das kulturkritische Schlagwort Kulturindus16 Zur Geschichte des Intelligenzwesens vgl. Groth: Die Zeitung, S. 169ff. und Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing, S. 171ff. Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass später die Nationalsozialisten oppositionelle Zeitungen nicht nur durch Verbot, sondern auch durch Inserentenboykott zum Einstellen ihres Erscheinens zwangen und somit eine vergleichbare ordnungspolitische Zensur durchsetzten (vgl. Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing, S. 188). 17 Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing, S. 176. 18 Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing, S. 176, Hervorhebung HG.

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trie19 –, oder sind Werbung und Werbekultur ein Produkt menschlichen Handelns? Wenn auch die Werbung die Verkörperung der wirtschaftlichen und politischen Handlungsmöglichkeiten im Liberalismus und mithin der Epoche selbst darzustellen scheint, so fiele es angesichts des beschriebenen Geflechts aus sich gegenseitig verstärkenden Faktoren schwer, monokausal die Werbung als kulturell dominierendes Leitmedium zu benennen und ihr allein die Durchsetzung liberaler Entwicklungen zuzuschreiben. Letztlich erweisen sich alle Elemente der Säkularen Trinität, aber auch die liberale Gesetzgebung, die technischen Innovationen und vor allem der gesellschaftliche Druck auf die überkommene merkantilistische Kommunikationsordnung als conditio sine qua non für die Entstehung der liberalen Werbekultur. Interdependenzen aber werden, so der Kommunikationshistoriker Rollka, generell zugunsten kausaler Erklärungsmodelle zu wenig beachtet, weshalb er für die Schreibung einer „integrierten Kommunikationsgeschichte“ plädiert.20 Bereits 1991 gelangte Michael Giesecke in seiner historischen Fallstudie über eine Medienrevolution – jene des Buchdrucks – zu dem Schluss, man könne nicht über die typographische Revolution in Europa sprechen, ohne gleichzeitig auf die wirtschaftlichen Produktions- und Distributionsbedingungen der Druckerzeugnisse – „die Marktmechanismen der Neuzeit“ – einzugehen,21 und des weiteren schrieb er den Erfolg der typographischen Revolution den sozialpolitischen Utopien und Hoffnungen zu, die seinerzeit in Europa an diese Technologie geknüpft wurden:22 Je mehr Fähigkeiten der Maschine zugeschrieben werden, umso mehr rückt sie in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. In Vergessenheit gerät über ihre Leistungen, daß es die Menschen sind, die die alten Bücher hervorkramen oder neue schreiben, sie setzen, vervielfältigen, vertreiben und nicht zuletzt auch lesen müssen. […] Aber die Menschen hatten spätestens seit den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts die ‚Truckerei‘ zu ihrem Totem erkoren – wie in unseren Tagen die elektronische Datenverarbeitung zum Merkmal einer Zeitenwende gemacht werden soll.23

19 Horkheimer/Adorno: „Kulturindustrie“. 20 Vgl. Rollka: Fallstudie I: Industrialisierung (vom Generalanzeiger bis zur Sozialisierungsdebatte), S. 1f. 21 Vgl. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 332; vgl. auch S. 362ff. 22 Vgl. ebd., S. 130, 156. 23 Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 155f.

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Analog hierzu kann festgehalten werden: Die Entstehung und Institutionalisierung, aber auch die Behinderung und Kritik der politischen und wirtschaftlichen Werbekommunikation ist eng mit den liberalen Marktmechanismen und den sozialen Utopien, Hoffnungen und Projektionen ihrer Befürworter und Gegner verbunden. Ein weiterführender Blick auf Befürworter und Kritiker und ihre Diskurse erscheint daher lohnenswert.

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Was ist Werbung?

Den Medienumbruch von den einstigen Intelligenz- und Meinungsblättern mit geringer Auflage hin zur anzeigenfinanzierten und überparteilichen Massenpresse beschrieb der Nationalökonom und Zeitungskundler Karl Bücher 1915 mit den Worten: Die Redaktion ist für die ,kapitalistische Erwerbsunternehmung‘ nichts weiter als ein lästiger Kostenbestandteil, der gebraucht wird, um die Annoncen vor die Augen von Menschen zu bringen, auf die sie wirken können. […] Also ist die Zeitung ein Erwerbsunternehmen, das Annoncenraum als Ware erzeugt, die nur durch einen redaktionellen Teil verkäuflich wird. […] Es gab eine Zeit, in der die Zeitung nur neue Nachrichten und Artikel zur Belehrung und Beeinflussung der öffentlichen Meinung enthielt. Aber sie liegt lange hinter uns […].24 Mit seiner Definition des „Annoncenraums als Ware“ lieferte Bücher 1915 jene Definition von Werbung, die in den Kommunikations- und Medienwissenschaften bis heute mehrheitlich angewandt wird: In der übergroßen Zahl der wissenschaftlichen Publikationen dient der Begriff Werbung implizit oder explizit der Unterscheidung einer medialen Gattung im Medienangebot.25 Bei näherer Betrachtung handelt es sich dabei um eine normative Definition, die die Werbung mit ihrer institutionalisierten Ausprägung gleichsetzt und eben auf die Entwicklung der anzeigenfinanzierten Massenpresse zurückgeführt werden kann. Selbst in der Gesetzgebung fand sie ihren Niederschlag, käuflicher Raum muss in den Massenmedien als solcher gekennzeichnet und

24 Bücher: „Die deutsche Tagespresse und die Kritik“, S. 377, Hervorhebung im Original durch Sperrdruck. 25 Seltener dient der Begriff auch der Unterscheidung des Subsystems Werbung im Mediensystem; Mediengattung und Subsystem werden in diesem Text fallweise unter den Begriffen die Werbung, die Reklame, institutionalisierte Werbung, das Ankündigungswesen etc. subsumiert, da eine fallweise Differenzierung für die Zwecke dieses Textes nicht notwendig erscheint.

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strikt von redaktionellen Angeboten getrennt werden. Nichts jedoch sagt diese Definition über die kommunikative und kulturelle Funktion von Werbung aus; nichts über die Intentionen und Projektionen der Werbetreibenden und ihrer Kritiker. So müssen auch neuere Publikationen zu dem Ergebnis kommen, dass die kommunikationswissenschaftliche Forschung hinsichtlich Werbung noch in den Kinderschuhen steckt.26 Die meines Wissens erste Definition von werbendem Handeln als kommunikativer Grundfunktion in kulturellen Prozessen lieferte der Historiker Hanns Buchli, der 1962 seine Geschichte der Wirtschaftswerbung und der Propaganda unter dem Titel 6.000 Jahre Werbung (und nicht etwa: 90 Jahre Werbung) veröffentlichte. Darin setzte Buchli das Unterfangen einer „Geschichte der Werbung“ mit dem einer „Geschichte der menschlichen Kultur“ gleich: Denn seit des Menschen Geist schafft, seit Gut und Böse miteinander im Streite liegen, gibt es Werbung […,] gibt es verschiedene Meinungen, Überzeugungen und Ansichten. […] Wir kennen als Gegensatz dazu nur den Zwang.27 Buchlis Definition ist äußerst bemerkenswert, setzt sie doch werbendes kommunikatives Handeln mit jenen kommunikativen Handlungen gleich, die wir schlicht als freie Meinungsäußerungen bezeichnen würden; und bei näherer Betrachtung handelt es sich auch bei der Werbelyrik professioneller Kommunikatoren um nichts anderes als um freie Meinungsäußerungen. Professionalisieren und Institutionalisieren konnte sich werbendes kommunikatives Handeln allerdings erst im Zuge der Durchsetzung des Liberalismus (oder vielmehr: im Zuge der Durchsetzung der Meinungs- und Pressefreiheit), unterlag doch wirtschaftliches Werben zuvor noch dem Intelligenzzwang der merkantilistischen Kommunikationsordnung und vielfach Beschränkungen der ständischen Zunftwirtschaft28 sowie politisches Werben den Zwängen der Zensur. Auf den Gegensatz von freiem, werbendem Handeln und Zwang hat ja Buchli hingewiesen. Es handelt sich hier um einen spannungsgeladenen Gegensatz: Sollen Wirtschaftswerbung und politische Werbung dem Menschen als Konsumenten 26 Vgl. Zurstiege: Zwischen Kritik und Faszination, S. 9f., sowie Beck: Kommunikationswissenschaft, S. 145. 27 Vgl. Buchli: 6.000 Jahre Werbung, S. 48f. Mit größerem zeitlichen Abstand folgen 1991 Wernick: Promotional Culture, und 2002 Willems: „Vom Handlungstyp zur Weltkultur: Ein Blick auf Formen und Entwicklungen der Werbung“; beide stellen ebenso fest, menschlicher Kultur sei ihr werbender Charakter inhärent. 28 So ist das werbende kommunikative Handeln in manchen sog. Standesberufen (Ärzte, Apotheker, Anwälte) bis heute rechtlich stark eingeschränkt.

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und Wähler einerseits Wahlfreiheit bieten – hierin liegt ihre Legitimität im Liberalismus –, so sollen sie ihn andererseits zu erwünschten Entscheidungshandlungen im Sinne der werbenden Kommunikatoren verleiten. Wie schon eingangs erwähnt, hat gerade die institutionalisierte Werbung immer wieder zu den wildesten Annahmen über ihre Lenkungs- und Allmacht geführt; spätestens wenn angenommen wird, dass das diskursiv konstruierte Leitmedium Werbung Zwänge ausübt, werden Diskurse über die Werbung paradox.

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Lenkung durch Werbung – ein Paradox

Folgen wir (radikal-)konstruktivistischen und systemtheoretischen Thesen, so lebt der Mensch nicht in einer ontologisch bestimmbaren Umwelt, sondern in einer kulturspezifischen und interaktiv ausgehandelten Wirklichkeit; moderne Gesellschaften sind dabei auf Massenmedien angewiesen, um ihre soziale und kulturelle Wirklichkeit auszuhandeln und um Kommunikation zwischen gesellschaftlichen Akteuren, zwischen Kommunikatoren und einem dispersen Publikum räumlich Abwesender zu ermöglichen. Gehen wir des weiteren davon aus, dass das interaktive Aushandeln der kulturspezifischen Wirklichkeit auf der Grundlage divergierender Meinungen geschieht, so ist – angesichts der erfolgten Gleichsetzung von Meinungen mit Werbung – das interaktive Aushandeln der kulturellen Wirklichkeit nur auf der Grundlage werbender kommunikativer Handlungen denkbar: Werbung dient dem Aushandeln von kultureller Wirklichkeit, nicht ihrer normativen Festsetzung. Wurde noch vor wenigen Jahrzehnten den Massenmedien insgesamt (bestehend aus den Teilsystemen Journalismus, PR und Werbung) unter dem Sammelbegriff Kulturindustrie29 die Manipulation der gesellschaftlichen Wirklichkeit zugeschrieben, so hat die Kommunikationswissenschaft – bewegt von der Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis und der daraus folgenden Pluralität kontingenter Erkenntnisse – mittlerweile ihren Frieden mit den Teilsystemen Journalismus und PR gemacht. Lediglich der Begriff Werbung und seine in der politischen Kommunikation gebräuchlichen Pendants Propaganda und Populismus sind bis heute in Alltag und Wissenschaft negativ konnotiert: Werbung wird zumeist als Sonderfall von Kommunikation betrachtet, als eine mediale Gattung, die mit spezifischen Wirkmechanismen ausgestattet ist. In dieser Tradition stehen beispielsweise Hans Domizlaff, Vance Packard und Werner Kroeber-Riel, die postulierten, Werbung könne „unbewusst“, „subliminal“ oder „peripher“ wirken, „geheim“

29 Horkheimer/Adorno: „Kulturindustrie“.

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und unmerklich verführen;30 Werbung wurde in diesen Werbewirkungsmodellen gar nicht erst als kommunikative Funktion konzipiert, denn kommunikative Antworthandlungen der Rezipienten sind darin nicht vorgesehen. Lediglich unbewusst getroffene Entscheidungshandlungen der Werberezipienten werden postuliert. Selbst Luhmann, der dem Menschen ein Leben in einer massenmedial erzeugten „transzendentalen Illusion“31 bescheinigt, hält ihn nicht gänzlich für den Herrn seiner Sinne und sieht ihn den Gefahren manipulierender Werbung ausgesetzt: Man wirbt mit psychologisch komplexer eingreifenden Mitteln, die die zur Kritik neigende kognitive Sphäre umgehen. […] Ihm [dem Adressaten, Anm. d. Verf.] wird Entscheidungsfreiheit suggeriert, und das schließt ein, dass er von sich aus will, was er eigentlich gar nicht wollte.32 Gegen die vorherrschende Meinung, dass werbende Kommunikation ihren Rezipienten paradoxerweise keine Wahl lässt und sie zu unbewussten Entscheidungshandlungen zwingt, sollen im folgenden Kapitel kommunikative Antworthandlungen der Werberezipienten ins Feld geführt werden. Denn es sind die von den Manipulationstheoretikern gänzlich unerwarteten kommunikativen Antworten der Rezipienten, die das diskursiv geprägte Konstrukt vom manipulativ (und nicht kommunikativ) wirkenden Leitmedium Werbung ad absurdum führen. Anders ausgedrückt: Solange wir über die Werbung kommunizieren können, verfügen wir auch über einen kommunikativen Zugang zu ihr. Was hingegen das Unbewusste betrifft, halte ich es mit Robert Walser: „Etwas Ungewisses vermag man nicht zu wissen.“33

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Werbende Selbstdarstellung durch Werbekritik

Wie sehr werbende Kommunikation unvorhersehbare kommunikative Antworthandlungen (statt unbewusster Entscheidungshandlungen) der Rezipienten provozieren kann, zeigt sich am deutlichsten an der allgegenwärtigen Werbe- und Konsumkritik, die je nach sozialer Herkunft und Ausdrucksform der

30 Vgl. Domizlaff: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens; Packard: Die geheimen Verführer; Kroeber-Riel: Strategie und Technik der Werbung. 31 Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 14. 32 Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 85ff. 33 Walser: „Der fremde Geselle“, S. 144.

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Akteure so unterschiedliche Bezeichnungen wie Kulturkritik, Adbusting oder Subvertising trägt und maßgeblich zur diskursiven Konstruktion des Leitmediums Werbung beiträgt. In dem Maße, in dem sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der wirtschaftliche und politische Liberalismus zunehmend durchsetzen konnte, wurde Werbung zu einem omnipräsenten und unübersehbaren Bestandteil des modernen Alltags. Ausgesprochen erfolgreich hat die Werbung dabei schon bald nach ihren Anfängen jene Omnipräsenz erreicht, die sie zur reizvollen Angriffsfläche für Werbekritik werden ließ. Diesen Angriffen wandten Historiker verschiedentlich ihre Aufmerksamkeit zu. So bezeichnet Dirk Reinhardt die vehemente Kritik am Phänomen Werbung als Diskussion um die „Moderne in ihrer Gesamtheit“, und er erachtet als das Kritik provozierende Kennzeichen der liberalen Moderne die „enorme Buntheit des Lebens“,34 die Ausdifferenzierung von Lebensstilen in einer ehemals ständisch gegliederten Gesellschaft. Das Leitbild für die Ästhetik von Werbung und Warenkultur musste dabei die „populäre Kultur“ unterer Schichten darstellen, deren im Entstehen begriffene Kaufkraft es zu gewinnen galt. Clemens Wischermann hält es deshalb für einen geläufigen Fehlschluss, „daß Werbung als ureigenster Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft (meist im Sinne von Bourgeoisie gemeint)“ verstanden wird, denn Wirtschaftswerbung sei von Anfang an „gerade kein Ausdruck des (Bildungs-)Bürgertums, wohl aber aufs engste verknüpft mit dem Aufstieg der neuen Mittelschichten“ gewesen.35 In der Ablehnung dieser Populärkultur, der „Buntheit des Lebens“, treffen sich – mit unterschiedlichen Implikationen und Forderungen – übereinstimmend linke system- und kulturkritische sowie rechte und wertkonservative Kritiker. Sie bedienen sich zumeist des Fundus der Manipulationstheorien, um ihre „Kritik an der Werbung zum unmittelbaren Ausgangspunkt einer Kritik am Zustand der Gesellschaft“ zu machen und dabei aus einer elitären MakroPerspektive zu argumentieren, die „der einzelnen Botschaft kaum noch Aufmerksamkeit schenkt“.36 Auch der Historiker Detlef Briesen verortet kulturpessimistische und kulturkritische Diskussionen zwischen zwei Bezugspunkten, der „individuellen Verfasstheit der Menschen“ zum einen und der „gesellschaftlichen Ordnung“ zum anderen, und er bezeichnet eine Beantwortung der Frage, „welche Funk34 Vgl. Reinhardt: „Vom Intelligenzblatt zum Satellitenfernsehen: Stufen der Werbung als Stufen der Gesellschaft“, S. 44 und S. 62. 35 Vgl. Wischermann: „Einleitung: Der kulturgeschichtliche Ort der Werbung“, S. 18. 36 Vgl. Gries u.a.: „Einleitung. Kursorische Überlegungen zu einer Werbegeschichte als Mentalitätsgeschichte“, S. 10f.

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tionen die Kulturkritik als rituelle Distanzierung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit für ihre Apologeten selbst gehabt hat“, als Forschungsdesiderat.37 Aufschlussreich erscheint in diesem Zusammenhang eine kurze Szene aus einem zeitgenössischen Befindlichkeitsroman. Im Roman bemerkt der Filmemacher und Intellektuelle Arthur Daane, fiktionales Alter Ego des Schriftstellers Cees Nooteboom, im winterlichen Berlin, wie sich Schneeflocken „an seinem Mantel festsetzten. Gut, dachte er, dann sehe ich weniger wie aus der Werbung aus.“38 Bescheidet man sich in der Interpretation hier nicht mit l’art pour l’art, so hatte und hat diese rituelle Distanzierung von der liberalen Werbekultur eine werbende bzw. selbstdarstellerische Funktion – vor allem für jene selbsternannten Intellektuellen und Eliten, die damit einen Anspruch auf gesellschaftliche Gestaltungsmacht verbinden.39

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Lenken und lenken lassen. Ein Fazit

Die These, dass sich bei historischer Betrachtung Leitmedien identifizieren lassen, die ontologisch oder quasi-ontologisch für kulturelle Entwicklungen verantwortlich gemacht werden können, scheint ein unzureichendes (da monokausales) Erklärungsmuster zu sein; dies zumindest sollte in der ersten Hälfte des Textes plausibel gemacht werden. Nicht nur die Fallstudie über die Werbung, sondern auch die zitierten Ausführungen zur typographischen Revolution der frühen Neuzeit sollten als Belege dafür dienen, dass es nicht die Veränderungen der Medienwelt selbst, sondern die Hoffnungen und sozialen Projektionen der Menschen sind, die ein Medium erst zum Leitmedium mit vermuteten und diskursiv zugeschriebenen Wirkungen erheben. Dabei ist es unerheblich, ob neue Medientechnologien (wie typographische Maschinen und elektronische Apparate) oder Medienangebote (wie werbende kommunikative Angebote) als Leitmedien identifiziert werden – entscheidend ist, dass die diskursive Konstruktion von Leitmedien auf vielfältigen Vorstellungen von ihren Wirkungen basiert.

37 Vgl. Briesen: Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral, S. 23 und 251. 38 Nooteboom: Allerseelen, S. 12. 39 Vgl. Carey: Haß auf die Massen. John Carey weist sowohl die Selbststilisierung als auch den Gestaltungsanspruch Intellektueller durch bewusste Abgrenzung von der verpönten Massenkultur anhand einer Vielzahl von Belegen aus literarischen Werken nach; Bezüge zu Werbekritik liefert er u.a. auf den S. 18, 60, 260. Den Anspruch auf „Gestaltungsmacht“ der „Juristen, Volkswirte, Mediziner, Psychiater und Politiker, die über das Warenhaus diskutierten“, betont auch Briesen: Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral, S. 28.

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Medien allerdings transportieren Zeichen (nicht Inhalte und Bedeutungen) durch Zeit und Raum, und an dieser Aufgabe und Funktion ändern alle Neuerungen nichts. Es sind letztlich die Menschen, die diesen Zeichen und ihren sich ändernden Produktions- und Distributionsbedingungen vielfältige Bedeutungen zuweisen, Hoffnungen und Befürchtungen mit ihnen verknüpfen. Wären es tatsächlich Leitmedien, denen „das Volk folgt“, so dürften wir Phänomenen wie Medien- und Werbekritik erst gar nicht begegnen: Wie viel Werbung haben wir schon konsumiert, und wie wenig haben wir ihr abgekauft. Vielmehr zeigt sich, dass werbende Kommunikation – und auch freie Meinungsäußerungen sind ja nichts anderes als werbende Kommunikation – selten zu beabsichtigten Wirkungen im Sinne ihrer Urheber führt; statt dessen provoziert sie regelmäßig unbeabsichtigte Wirkungen in Form von Medienund Werbekritik. Da es gerade die Werbung ist, die den Menschen im Liberalismus an gewünschte Orte führen soll, werden Vorstellungen von der Lenkbarkeit des Menschen meines Erachtens obsolet. Es sind die Unlenkbarkeit des Menschen, die Anarchie der werbenden Botschaften und die „Buntheit des Lebens“, die die elitären Werbe- und Gesellschaftskritiker im Liberalismus so verstören. Die diskursive Konstruktion des Leitmediums Werbung anhand von Werbekritik kann intentional durchaus auf eine Beseitigung der kritisierten liberalen Ordnung abzielen. Enden möchte ich daher mit dem Schlusssatz des Kommunikationshistorikers Bodo Rollka aus einem Aufsatz von 1999: „Sekt oder Selters. Flo oder Euromarché. Treffen Sie Ihre Wahl, bevor es heißt: ‚Rien ne va plus.‘“40

Literaturverzeichnis Beck, Klaus: Kommunikationswissenschaft, (UTB basics), Konstanz 2007. Briesen, Detlef: Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York, NY 2001. Bücher, Karl: „Die deutsche Tagespresse und die Kritik“, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Zeitungskunde, Tübingen 1926, S. 307-390. Buchli, Hanns: 6.000 Jahre Werbung. Geschichte der Wirtschaftswerbung und der Propaganda, Bd. 1, Altertum und Mittelalter, Berlin 1962. Carey, John: Haß auf die Massen. Intellektuelle 1880-1939, Göttingen 1996.

40 Rollka: „Menschenbilder als Grundlage werblicher Kommunikation“, S. 402.

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Davison, W. Phillips: „The Third-Person Effect in Communication“, in: The Public Opinion Quarterly, Bd. 47, H. 1, 1983, S. 1-15. Domizlaff, Hans: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik, Hamburg 1982. „Ein Weckruf für Deutschland“, http://www.sueddeutsche.de/deutschland/ artikel/713/172205/, 08.06.2008. Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1357), Frankfurt a.M. 1998. Gries, Rainer u.a.: „Einleitung. Kursorische Überlegungen zu einer Werbegeschichte als Mentalitätsgeschichte“, in: dies.: „Ins Gehirn der Masse kriechen!“ Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995, S. 1-28. Groth, Otto: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik), Bd. 3, Mannheim u.a. 1930. Herzog, Roman u.a. (Hrsg.): Mut zum Handeln. Wie Deutschland wieder reformfähig wird, Frankfurt a.M./New York, NY 2008. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“, in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, (Fischer Wissenschaft), Frankfurt a.M., 14.-18. Tsd. 1990, S. 128176. Koszyk, Kurt: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, (Geschichte der deutschen Presse 2), (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik 6), Berlin 1966. Kroeber-Riel, Werner: Strategie und Technik der Werbung. Verhaltenswissenschaftliche Ansätze, Stuttgart u.a. 1988. Ligensa, Annemone: „CfP Leitmedien“, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/termine/id=6785, 08.06.2008. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien [2. Fassung], Wiesbaden, 3. Aufl. 2004. Maletzke, Gerhard: Kulturverfall durch Fernsehen?, Berlin 1988. Nooteboom, Cees: Allerseelen. Roman, (Süddeutsche Zeitung Bibliothek 33), München 2004. Packard, Vance: Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewußten in jedermann, Frankfurt a.M. u.a. 1964. Reinhardt, Dirk: „Vom Intelligenzblatt zum Satellitenfernsehen: Stufen der Werbung als Stufen der Gesellschaft“, in: Borscheid, Peter/Wischermann,

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Autorinnen und Autoren Dominik Becker, M.A., ist Doktorand an der Cologne Graduate School of Management, Economics and Social Sciences (CGS), Universität zu Köln. Gregor Daschmann, Prof. Dr., ist Professor am Institut für Publizistik, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Thomas Ernst, Dr., ist Postdoktorand am Institut für deutsche Sprache, Literatur und Interkulturalität, Universität Luxemburg. Holger Gamper, Diplom-Kommunikationswirt, ist Doktorand in Kommunikationswissenschaft, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Dirk von Gehlen, Dipl.-Journ., ist Redaktionsleiter bei jetzt.de, Süddeutscher Verlag München. Peter Gendolla, Prof. Dr., ist Sprecher des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen, und Leiter des Teilprojekts B6 „Literatur in Netzen/Netzliteratur“. Henning Groscurth, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt A4 „Mediendynamik“ des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Otfried Jarren, Prof. Dr., ist Professor am IPMZ – Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung, Universität Zürich. Benjamin Krämer, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Ludwig-MaximiliansUniversität München. Asko Lehmuskallio, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Self-Made Media am Helsinki Institute for Information Technology HIIT, Helsinki University of Technology. Annemone Ligensa, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt A5 „Industrialisierung der Wahrnehmung“ des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen.

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Autorinnen und Autoren

Gabriele Melischek, Dr. Dr., M.A., ist Senior Scientist an der Kommission für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien. Corinna Müller, PD Dr., ist Privatdozentin am Institut für Medien und Kommunikation, Universität Hamburg. Daniel Müller, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Journalistik, TU Dortmund, für das Teilprojekt A2 „Mediale Integration von ethnischen Minderheiten“ des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Daniela Pscheida, M.A., ist Doktorandin am Department für Medien- und Kommunikationswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Lars Rinsdorf, Prof. Dr., ist Professor für Medienmanagement, Studiengang Medienwirtschaft, Hochschule der Medien, Stuttgart. Johanna Roering, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Amerikanistik, Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Gebhard Rusch, Prof. Dr., ist Co-Leiter des Teilprojekts A4 „Mediendynamik“ des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Thorsten Schroll, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Gregor Schwering, Dr. habil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt A4 „Mediendynamik“ des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Josef Seethaler, Dr., ist Senior Scientist an der Kommission für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, und Lehrbeauftragter am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien. Harro Segeberg, Prof. Dr., ist Professor am Institut für Medien und Kommunikation, Universität Hamburg. Katrin Tobies, Dipl.-Komm.wirtin, ist Doktorandin am Kompetenzzentrum Innovations- und Technologiekommunikation, Institut für Kommunikationsund Medienwissenschaft, Universität Leipzig.

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Autorinnen und Autoren

Anne Ulrich, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Allgemeine Rhetorik, Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Martina Vogel, Dr. des., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IPMZ – Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung, Universität Zürich. Jürgen Wilke, Prof. Dr., ist Professor am Institut für Publizistik, JohannesGutenberg-Universität Mainz. Jeffrey Wimmer, Prof. Dr., ist Juniorprofessor, FG Virtuelle Welten/Computerspiele, Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, TU Ilmenau.

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Medienumbrüche Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip, Annegret März, Johanna Niesyto (Hg.) Politik mit dem Einkaufswagen Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft 2007, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-648-9

Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hg.) Äther Ein Medium der Moderne 2008, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-610-6

Rainer Leschke, Jochen Venus (Hg.) Spielformen im Spielfilm Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne 2007, 422 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-667-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Medienumbrüche Annemone Ligensa, Daniel Müller (Hg.) Rezeption Die andere Seite der Medienumbrüche November 2009, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1026-0

Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hg.) Leitmedien Konzepte – Relevanz – Geschichte, Band 2 November 2009, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1029-1

Nanette Rissler-Pipka, Michael Lommel, Justyna Cempel (Hg.) Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – zwischen Kunst und Kommerz November 2009, 278 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1238-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Medienumbrüche

Manfred Bogen, Roland Kuck, Jens Schröter (Hg.) Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur? Eine Bestandsaufnahme

Februar 2009, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1061-1

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Mediengeographie Theorie – Analyse – Diskussion

Februar 2009, 654 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1022-2

Rainer Geissler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Band 2: Forschungsbefunde

Februar 2009, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1027-7

Rainer Geissler, Horst Pöttker (Hg.) Medien und Integration in Nordamerika Erfahrungen aus den Einwanderungsländern Kanada und USA

Februar 2010, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1034-5

Marcus Hahn, Erhard Schüttpelz (Hg.) Trancemedien und Neue Medien um 1900 Ein anderer Blick auf die Moderne

Februar 2009, 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1098-7

Ingo Köster, Kai Schubert (Hg.) Medien in Raum und Zeit Maßverhältnisse des Medialen Februar 2009, 320 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1033-8

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Volker Roloff (Hg.) Surrealismus und Film Von Fellini bis Lynch 2008, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-863-6

Michael Lommel, Volker Roloff (Hg.) Sartre und die Medien 2008, 228 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-816-2

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rissler-Pipka (Hg.) Dalís Medienspiele Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten 2007, 416 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-629-8

K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hg.) Schwellen der Medialisierung Medienanthropologische Perspektiven – Deutschland und Japan 2008, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1024-6

Jürgen Sorg, Jochen Venus (Hg.) Erzählformen im Computerspiel Zur Medienmorphologie digitaler Spiele November 2009, ca. 500 Seiten, kart., ca. 39,90 €, ISBN 978-3-8376-1035-2

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