Politisches Denken. Jahrbuch 2014 [1 ed.] 9783428545421, 9783428145423

Das Jahrbuch würdigt das 25-jährige Bestehen der »Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens« (DGEPD

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German Pages 284 Year 2014

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Politisches Denken. Jahrbuch 2014 [1 ed.]
 9783428545421, 9783428145423

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POLITISCHES DENKEN JAHRBUCH 2014 Herausgegeben von

V. Gerhardt, C. Kauffmann, H.-C. Kraus, R. Mehring, P. Nitschke, H. Ottmann, M. P. Thompson, B. Zehnpfennig u Norbert Herold: Zur Gründungsgeschichte der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ u Julian Nida-Rümelin: Volker Gerhardt zum 70. Geburtstag u Volker Gerhardt: Die Menschheit in der Person eines jeden Menschen u Herfried Münkler: Nachruf auf Iring Fetscher u Peter Nitschke: Über das „Verstehen“ in der Geschichte politischer Ideen u Werner Plumpe: Ökonomie – Geschichte – Wirtschaftsgeschichte u Joachim Rückert: Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft, Rechtspolitik – ein Essay u Andreas Urs Sommer: Fiktion und politisches Denken u Manuel Becker: Immanuel Kants Traktat „Zum Ewigen Frieden“ u Alexander Demandt: Die Erfindung der Freiheit u Harald Kleinschmidt: Wie neu sind die „Neuen Kriege“? u Hans-Christof Kraus: Kontinuität und Reform u Tom van Malssen: Of Beasts and Men: Jonathan Swift’s Quarrel with the Ancients and the Moderns u Klaus Weber: Europa in der Sackgasse

Duncker & Humblot

Politisches Denken · Jahrbuch 2014

In Verbindung mit dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens als Geschäftsführenden Herausgebern: Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig, Prof. Dr. Clemens Kauffmann, Prof. Dr. Peter Nitschke

Redaktion: Prof. Dr. Clemens Kauffmann Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Politische Wissenschaft Kochstraße 4/7, D-91054 Erlangen E-Mail: Clemens.Kauff[email protected]

Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher † (Frankfurt), Wilhelm Hennis † (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard (Gießen), Kenneth Minogue (London), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)

Das Jahrbuch „Politisches Denken“ erscheint seit 1991 in Zusammenarbeit mit der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ (DGEPD). Den Zielen der Gesellschaft entsprechend fördert das Jahrbuch die fächerübergreifende, wissenschaftliche Forschung, die das politische Denken international und in seiner ganzen Breite zum Gegenstand hat, sowie den Austausch zwischen politischem Denken und praktischer Politik. Zur Publikation eingereichte Texte durchlaufen ein Begutachtungsverfahren. Typoskripte sind anonymisiert und in zweifacher Ausfertigung als Ausdruck sowie in elektronischer Form (in einem üblichen Datei-Format) bei der Redaktion einzureichen. Hinweise zur Formatierung sind zugänglich unter www.dgepd.de. Verlage senden Rezensionsexemplare ihrer Publikationen bitte an die Redaktion. Für unverlangt bei der Redaktion eingereichte Exemplare bestehen keine Besprechungszusage und kein Anspruch auf Rücksendung.

Politisches Denken Jahrbuch 2014 Herausgegeben von Volker Gerhardt, Clemens Kauffmann, Hans-Christof Kraus, Reinhard Mehring, Peter Nitschke, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson und Barbara Zehnpfennig

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0942-2307 ISBN 978-3-428-14542-3 (Print) ISBN 978-3-428-54542-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84542-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. 25 Jahre „Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ Zur Gründungsgeschichte der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ Von Norbert Herold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Volker Gerhardt zum 70. Geburtstag Von Julian Nida-Rümelin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Die Menschheit in der Person eines jeden Menschen. Zur Theorie der Humanität Von Volker Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachruf auf Iring Fetscher Von Herfried Münkler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

II. Schwerpunktthema „Methodenfragen“ Über das „Verstehen“ in der Geschichte politischer Ideen Von Peter Nitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Ökonomie – Geschichte – Wirtschaftsgeschichte Von Werner Plumpe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft, Rechtspolitik – ein Essay Von Joachim Rückert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Fiktion und politisches Denken Von Andreas Urs Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

III. Aufsätze Immanuel Kants Traktat „Zum Ewigen Frieden“. Eine Bilanz zur Anschlussfähigkeit der Friedensschrift an die aktuelle Forschung Von Manuel Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

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Inhaltsverzeichnis

Die Erfindung der Freiheit. Ein Blick auf Athen und Rom Von Alexander Demandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Wie neu sind die „Neuen Kriege“? Kriegsdenken im langen 20. Jahrhundert Von Harald Kleinschmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Kontinuität und Reform. Zur Geschichte des politischen Denkens in Deutschland zwischen Spätaufklärung und Romantik Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Of Beasts and Men: Jonathan Swift’s Quarrel with the Ancients and the Moderns By Tom van Malssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Europa in der Sackgasse. Überlegungen zur Verfasstheit der Europäischen Union Von Klaus Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 IV. Rezensionen Andreas Hess: The Political Theory of Judith N. Shklar: Exile from Exile. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2014, 256 S. Von Hannes Bajohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Norbert Kersken/Grischa Vercamer (Hrsg.): Macht und Spiegel der Macht: Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik (Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien; Bd. 27), Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2013, 491 S. Von Franz-Reiner Erkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Heinrich de Wall (Hrsg.): Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit, Duncker & Humblot (Historische Forschungen; 102), Berlin 2014, 276 S. Von Martin Hille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Carl Hanser Verlag, München 2013, 315 S. Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Klaus-Michael Kodalle: Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse. Fink Verlag, München 2013, 487 S. Von Barbara Zehnpfennig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Editorial 1989 war eines der wegweisenden Jahre in der deutschen Geschichte. Neben den „schicksalhaften“ Großereignissen entgeht manches andere der breiteren Aufmerksamkeit. Aus diesem Grund erinnert das Jahrbuch „Politisches Denken“ im Jahr 2014 an die Gründung der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ (DGEPD) vor 25 Jahren. Am Rande einer Tagung in Tübingen fand im Oktober 1989 die Gründungsversammlung statt. Henning Ottmann, Volker Gerhardt und Martyn P. Thompson bildeten den ersten Vorstand. Welche Themen und Anliegen die Gründergeneration umtrieben, kann man in dem Bericht nachlesen, den Norbert Herold über die Anfangsgeschichte verfaßt hat. Henning Ottmann konnte vor kurzem seine „Geschichte des politischen Denkens“ abschließen, die in einem geradezu programmatischen Zusammenhang mit der Arbeit der DGEPD steht. Volker Gerhardt hat im Jubiläumsjahr seine Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten. Ergänzt um eine Gratulation von Julian Nida-Rümelin veröffentlicht das Jahrbuch den Text in dem Abschnitt, der an die Gründung der DGEPD erinnert. Die Redaktion dankt mit Volker Gerhardt allen Gründervätern und -müttern der DGEPD für ihre damalige Initiative, der zwei Jahre später die „Geburt“ des Jahrbuchs „Politisches Denken“ zu verdanken ist. 25 Jahre Kontinuität in der Erforschung des politischen Denkens geben den Gründer_innen Recht in dem, was sie damals beabsichtigt und seither beharrlich verfolgt haben. Die Erforschung des politischen Denkens in interdisziplinärer Breite, internationaler Kooperation und in Kontakt mit der handelnden Politik sind aktuelle Herausforderungen und Anliegen der DGEPD geblieben. Die Geschichte der Gesellschaft und ihres Jahrbuchs wurde wiederholt durch Abschiede „unterbrochen“. Das Jahrbuch gedenkt der verstorbenen Mitglieder und Beiräte und trauert im Jahr 2014 um Iring Fetscher. Herfried Münkler würdigt dessen Wirken in einem Nachruf. Die interdisziplinäre Erforschung des politischen Denkens bleibt unter anderem in methodologischer Hinsicht eine fortbestehende Aufgabe. Davon zeugt der zweite Schwerpunkt, in dem das Jahrbuch den Blick auf Methodenfragen lenkt. Aus den vier Beiträgen wird deutlich, daß die hermeneutische und historische sowie die philosophische Methodenwelt für die Erforschung des politischen Denkens und seiner Funktion für die Gegenwartsgesellschaft nach wie vor unverzichtbar bleibt und gepflegt werden muß. Dabei zeigt sich, wie wünschenswert es wäre, wenn die methodologische Auseinandersetzung über Fach- und Schulgrenzen hinweg wieder aktiver und kontroverser geführt werden könnte. Das Jahrbuch versteht sich auch in Zukunft als Forum für methodologische Kontroversen.

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Editorial

Die dritte Abteilung versammelt verschiedene Aufsätze, die sich mit einem breiten historischen und disziplinären Spektrum des politischen Denkens beschäftigen. Von der griechischen und römischen Antike reicht die Bandbreite über Aufklärung und Romantik bis hin zu aktuellsten Fragen des Kriegsdenkens und der Europäischen Union. Ein Rezensionsteil schließt die inhaltlichen Dinge ab. Schließlich bleibt noch auf eine interne Veränderung hinzuweisen. Auf der Herausgeberversammlung, die am Rande der Jahrestagung der DGEPD im Oktober 2014 in Passau stattgefunden hat, wurde Peter Nitschke in den Kreis der Herausgeber gewählt. Peter Nitschke gehört dem Vorstand der DGEPD an und seine Wahl trägt der engen Verbindung zwischen der Gesellschaft und dem Jahrbuch Rechnung. Wir freuen uns auf seine Impulse, wie er sie schon in diesem Band gibt, und auf die Zusammenarbeit mit ihm. Erlangen, im Dezember 2014

Clemens Kauffmann

I. 25 Jahre „Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“

Zur Gründungsgeschichte der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ Von Norbert Herold Die Anfänge der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ (kurz: DGEPD) liegen keineswegs im Dunklen, und trotzdem ist es nicht ganz einfach, im Nachhinein die Linien der Gründungsgeschichte richtig zu ziehen, geschweige denn, den Einsatz und die Leistung der damals Beteiligten angemessen zu würdigen. Halten wir also zunächst das fest, was feststeht, und hoffen wir darauf, dass die Skizze durch künftige Ergänzungen, vielleicht auch Korrekturen, zu einem verlässlichen Bild vervollständigt werden kann. Ich selbst bin erst 1991 Mitglied geworden, nach einer Tagung zum Thema „Naturrecht und Politik“, die Karl Graf Ballestrem in Eichstätt organisiert hatte. Damals bestand die Gesellschaft bereits seit zwei Jahren. Die Gründungsphase fällt in das deutsche Schicksalsjahr 1989. Im März 1989 hatte Volker Gerhardt zu einem Kolloquium nach Münster eingeladen, um mit führenden Philosophen und Politologen über den „Begriff der Politik“ zu debattieren. Die 15 Beiträge des 1990 bei Metzler erschienenen Tagungsbandes1 dokumentieren durchgehend die Sorge, dass es um die politische Philosophie in Deutschland nicht zum Besten bestellt sei und es dringend geboten sei, sich über die Bedingungen und Gründe politischen Handelns Rechenschaft zu geben. Der Titel „Metaphysik und Politik“ sollte – so Volker Gerhardt in seinem programmatischen Beitrag – „die Notwendigkeit einer philosophischen Grundlagenreflexion der politischen Theorie auf eine kurze Formel bringen.“ Weder der Pragmatismus der Ära Schmidt und Kohl noch die empiristisch-positivistischen Tendenzen im Wissenschaftsbetrieb sahen darin eine dringende Aufgabe, wohl aber die Teilnehmer des Kolloquiums, unter denen sich Reinhard Brandt, Otfried Höffe, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson, Ernst Vollrath sowie eine Reihe weiterer Gründungsmitglieder der entstehenden Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens befanden. Der Münsteraner Tagung vorausgegangen waren die insbesondere von Ernst Vollrath betriebenen Bemühungen um einen Politisch-Philosophischen Arbeitskreis im Rahmen der damals noch so genannten „Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie“ in Deutschland. Am Rande des Hamburger Philosophie-Kongresses war es 1987 zu einer von Vollrath initiierten Diskussion im kleinen Kreis gekommen, die zwar zu 1

Gerhardt, 1990.

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Norbert Herold

einer lebhaften Debatte, aber zu keiner Gründungsinitiative führte. Die formelle Gründungsversammlung der Gesellschaft fand dann im Oktober 1989 in Tübingen am Rande einer Tagung statt, die der damals noch in Tübingen lehrende Martyn P. Thompson organisiert hatte. Sie war dem Thema „Locke und Kant“ gewidmet.2 Auch hier wurde heftig gestritten. Aber es ging nicht primär, wie noch in Hamburg, um den Vorrang örtlich firmierender Schulen, sondern um die politische Tragfähigkeit der Urteilskraft sowie um die Einschätzung des Liberalismus im Licht der Traditionen von Locke und Kant. Erster Vorsitzender wurde Henning Ottmann, der damals in Basel lehrte; als sein Stellvertreter wurde Volker Gerhardt, der im Jahr zuvor von Münster nach Köln berufen worden war, gewählt; Martyn P. Thompson übernahm die Geschäftsführung. Ottman hatte das Amt bis 1994 inne, Gerhardt blieb auf eigenen Wunsch bis 2004 in der Position des Vertreters, auch nachdem Karl Graf Ballestrem zum Nachfolger Ottmanns gewählt worden war. Tübingen wurde der Amtssitz der Gesellschaft, weil Thompson von hier aus die organisatorischen Vorbereitungen im Vorfeld und nach der Gründung der Gesellschaft die Geschäftsführung betrieb. Man war sich einig, dass nach dem Vorbild der amerikanischen „Conference for the Study of Political Thought“ (CSPT) die neue Gesellschaft alle die zusammenbringen sollte, die das politische Denken in seiner ganzen Breite zum Gegenstand ihres wissenschaftlichen Interesses und ihrer eigenen Forschungen machen wollten. Deshalb sollte die neue Gesellschaft über die zunehmend enger werdenden Fachgrenzen hinweg interfakultativ arbeiten und auch in der Lage sein, den Graben zwischen dem Bereich der Theorie und der praktischen Politik zu überbrücken. Ein dritter Punkt kam hinzu, nämlich die Hoffnung, diese Ziele auf der Basis internationaler Kooperation zu erreichen. Hier stand die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen in England und in den USA im Vordergrund. Diese Ziele, die durch regelmäßige Tagungen und durch die Gründung einer Zeitschrift realisiert werden sollten, wurden ausführlich diskutiert, und dann wurde eine entsprechende Vereinssatzung erarbeitet. Sie wurde dem Amtsgericht Tübingen vorgelegt, das den neuen Verein vorläufig als gemeinnützig anerkannte und am 9. März 1990 ins Vereinsregister eintrug. Die Vereinsführung bestand und besteht bis heute satzungsgemäß aus einem Vorsitzenden, dessen Stellvertreter sowie einem Sekretär, der die Geschäfte führen sollte. Der umständlich erscheinende Name war Programm: Er sollte so weit gefasst und einladend sein, wie es sich bei der „Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts“ bewährt hatte; er sollte nicht auf eine wissenschaftliche Disziplin fixiert sein und die Breite der Beschäftigung mit der Politik zum Ausdruck bringen; zugleich sollte er mit der Betonung der „Erforschung“ und des „Denkens“ deutlich machen, dass es um eine nachdenkliche und nachprüfende Beschäftigung mit dem politischen Leben gehen sollte, die Sache eines jeden an seinem Gemeinwesen interessierten Bürger sei.

2

Thompson, 1991.

Zur Gründungsgeschichte der „DGEPD“

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Ein gewählter Beirat – die Mitglieder des Beirates übernahmen es zunächst, Tagungen auszurichten – beriet den Vorstand. Martyn P. Thompson übernahm die Organisation und hatte wesentlichen Anteil an der Gründung der Gesellschaft; er führte die Geschäfte bis zu seiner Übersiedlung in die USA im Jahr 1991. Nur wer die zahlreichen Aktenordner gesehen hat, die damals mit Korrespondenz gefüllt wurden, in Vorbereitung der Gründung, aber auch bei der Organisation der neu entstandenen Gesellschaft, kann ermessen, wieviel Kraft und Energie die Beteiligten in die Gründung und Etablierung der neuen Gesellschaft investiert haben. Alle, die im Bereich der deutschen und angelsächsischen politischen Philosophie Rang und Namen hatten, wurden angeschrieben und kontaktiert. Was heute auf einer CD leicht Platz hat, füllte damals die Aktenschränke und Karteikästen und musste vor allem erst einmal diktiert und geschrieben, per Post verschickt und von Mitarbeitern, die jeweils die Institute zur Verfügung stellten, bearbeitet werden. In der Anschub- und Anfangsphase lag der Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit der neuen Gesellschaft in Tübingen. Entsprechend war damals das örtliche Finanzamt für die Anerkennung der Gemeinnützigkeit zuständig und ist bis heute das Amtsgericht Tübingen über Veränderungen im Vorstand oder bei der Satzung zu informieren. Mit dem Weggang von Martyn P. Thompson ging die Geschäftstätigkeit nach Münster (bis 2007) über, autorisiert zunächst durch einen Beschluss des Beirates, der sich im Frühjahr 1992 zu einer Dringlichkeitssitzung in Frankfurt getroffen hatte, satzungsgemäß legalisiert aber erst durch die ordnungsgemäße Wahl von Norbert Herold zum Sekretär auf der nächsten Mitgliederversammlung 1994 in Berlin. Warum diese Details? Sie werfen ein bezeichnendes Licht auf die Schwierigkeiten der noch jungen Gesellschaft, lassen aber dafür auch die Leistungen und den Einsatz der Vorsitzenden in umso hellerem Licht erscheinen. Ihre Aufgabe bestand nicht nur darin, die ambitiösen Ziele der Gesellschaft zu verbreiten und mit Leben zu erfüllen, sondern die materiellen und institutionellen Grundlagen dafür zu schaffen, dass Tagungen stattfinden konnten, dass ein Verlag (von 1991 – 2003 der Verlag Metzler in Stuttgart, ab 2004 Duncker & Humblot in Berlin) das neugegründete „Jahrbuch Politisches Denken“ drucken und an die Mitglieder, Bibliotheken und Buchhandlungen ausliefern würde sowie die Mitgliederbetreuung durch die Geschäftsführung stattfinden konnte. Hier nur einige Spotlights zur Illustration. 1990 organisierte Volker Gerhardt die zweite Tagung der Gesellschaft als Deutsch-Deutschen Erfahrungsaustausch in Bielefeld. Die Tagung wurde ein Erfolg, auch wenn der dort mit Mehrheit angenommene Plan, die wissenschaftliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten wesentlich über einen in beide Richtungen erfolgenden Dozentenaustausch zu befördern, sich alsbald als illusorisch erwies. Ein Bericht in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ dokumentiert, dass sie auch öffentlich wahrgenommen wurde. Aber abgesehen davon, dass der Organisator bis kurz vorher nicht wusste, ob die Teilnehmer aus der DDR die Tagungsunterlagen überhaupt erhalten hatten, erfuhr er eine Woche vor Beginn, dass der Deutsche Akademische Austauschdienst statt der zugesagten 10.000 DM nur die Hälfte zahlen könne und dass das Land Nordrhein-Westfalen, das ebenfalls 10.000 DM zugesagt

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Norbert Herold

hatte, gar nichts zahlen würde, da der Nachtragshaushalt für DDR-Aktivitäten erschöpft sei. Vor dem finanziellen Ruin rettete ihn nur eine schließlich doch noch erreichte Ausfallbürgschaft der Thyssen-Stiftung. Das erste Jahrbuch erschien Ende 1991 im Verlag Metzler, ermöglicht durch eine Spende der Bosch GmbH, von deren 12.000 DM die Gesellschaft sich in den ersten Jahren über Wasser halten konnte. Bezeichnend für die Mentalität in der jungen Gesellschaft war aber, dass auf der Mitgliederversammlung in Eichstätt im selben Jahr der Antrag des Vorsitzenden, den engagierten und politisch aufgeschlossenen Sponsor zum Ehrenmitglied der Gesellschaft zu ernennen, abgelehnt wurde. Zwei Tendenzen beherrschten diese Versammlung: Einmal die Sorge einiger Mitglieder, man könne von einer politischen Partei oder von der Industrie vereinnahmt werden, zum anderen die Befürchtung, die auf theoretische Beschäftigung mit der Politik konzentrierte Gelehrtengesellschaft könne durch ungesteuerten Mitgliederzuwachs verwässert werden. Man setzte stattdessen auf das Institut des „fördernden Mitgliedes“, von denen es aber nur ganz im Anfang eine verschwindend kleine Anzahl gab. Die Hoffnung auf eine „Intensivierung des Gesprächs zwischen Wissenschaftlern, Politikern und Publizisten“, der neben den Tagungen auch das neue Jahrbuch dienen sollte, drohte immer wieder an Finanzierungsfragen zu scheitern. Von den bewusst niedrig gehaltenen Beiträgen der zahlenden Mitglieder – damals etwa 100 – konnten jedenfalls kaum die laufenden Geschäftskosten sowie die an die Mitglieder kostenlos weitergegebenen Exemplare des Jahrbuches, geschweige denn die vom Verlag geforderten Druckkostenzuschüsse bezahlt werden. Es blieb der Weisheit der Vorsitzenden überlassen, diese Unvereinbarkeiten auf einen Nenner zu bringen, und man kann es nicht hoch genug veranschlagen, dass es ihnen mit hohem Einsatz, viel Verhandlungsgeschick, Überzeugungskraft und Optimismus gelang, über die Anfangsjahre hinweg mit diesen strukturellen Widrigkeiten zurecht zu kommen und die Ziele der Gesellschaft mit Leben zu erfüllen. Für eine insgesamt überaus erfolgreiche Arbeit sprechen jedenfalls die lange, heute auf der Website der DGEPD verfügbare Liste der Tagungen und kleineren Kolloquien sowie die regelmäßige Abfolge der seit 1991 erscheinenden Jahrbücher. Beides belegt, dass die kollegiale Zusammenarbeit der Herausgeber des Jahrbuches, die sich in der Redaktionsarbeit abwechselten, wie auch der Beiratsmitglieder, die ebenfalls für die Gesellschaft Tagungen ausrichteten, zum Wohle der Gesellschaft funktionierten. Auch die finanziellen Klippen wurden am Ende erfolgreich umschifft, dank der Tatsache, dass es oft im letzten Moment noch gelang, Sponsoren zu gewinnen, dass es mehrfach gelang, mit der Tagungsfinanzierung auch die Publikation der Tagungsbeiträge im Jahrbuch zu verbinden, dank der Großzügigkeit des Metzler-Verlages, der bei der Einstellung seiner Jahrbücher (2003) noch ausstehende Schulden erließ, sowie nicht zuletzt auch durch die Spendenbereitschaft in den Reihen der Mitglieder. Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit die ursprünglichen Ziele der Gesellschaft von der Gründergeneration erreicht werden konnten. Dazu einige Impressionen aus der frühen Geschichte der Gesellschaft. Nachdem alle Versuche gescheitert waren, die ursprünglich ja jährlich konzipierten Tagungen 1992 mit einer Tagung

Zur Gründungsgeschichte der „DGEPD“

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zum Ende des Sozialismus fortzusetzen, gelang es, 1994 wieder zu einer Tagung über die „Zukunft der Politik“ nach Berlin einzuladen. Es war die Zeit, in der nicht nur Francis Fukuyama und die ihm folgende deutsche Publizistik ein „Ende der Politik“ prognostizierten. Man glaubte, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft sei der Politik der sie tragende Interessengegensatz verloren gegangen und die Politik der Zukunft werde über kurz oder lang in bloße Verwaltung münden. Dem wurde von Volker Gerhardt in seinem Eröffnungsbeitrag entschieden widersprochen, während in der ersten Reihe seiner Zuhörer das Kopfschütteln überwog. Die Tagung an der Humboldt-Universität war nicht nur der Beginn einer Reihe wieder im Jahresabstand stattfindender Tagungen, sondern auch der Anstoß zu fruchtbaren Debatten über das Selbstverständnis des politischen Denkens und Tuns. Ergebnisse haben ihren Niederschlag an vielen Stellen gefunden. An dieser Stelle verweise ich nur auf einige wenige Punkte wie Henning Ottmanns Überlegungen zum Begriff und Anspruch „Politisches Denken“3 und seine „Geschichte des politischen Denkens“, die schon im vorhergehenden Jahrbuch gewürdigt wurde.4 Volker Gerhardt hat seine systematischen Überlegungen zur Partizipation als dem Prinzip der Politik und zur Öffentlichkeit als der politischen Form des Bewusstseins in zwei historisch-systematischen Studien vorgelegt.5 Die Gründer haben den Impuls der Gesellschaft in ihr eigenes Werk aufgenommen. Zu erinnern ist auch an den Einfluss von Ernst Vollrath, der im Anschluss an Hannah Arendt schon in den siebziger Jahren an einer philosophischen Theorie des Politischen gearbeitet und damit Anlass zu anregenden und weiterführenden Debatten gegeben hatte.6 Er hat auch den Beitrag über Hannah Arendt in dem repräsentativen Band „Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts“7 geschrieben, den Henning Ottmann zusammen mit Karl Graf Ballestrem herausgegeben hat, der nach ihm, wie bereits gesagt, für zehn Jahre (1994 – 2004) den ersten Vorsitz der DGEPD übernahm. Das Thema „Politik und Urteilskraft“ stand auch im Mittelpunkt der Hannah-ArendtTagung, die der Historiker Otto Dann († 2014) als Beiratsmitglied 1999 für die Gesellschaft in Bensberg bei Köln ausgerichtet hatte, in Anwesenheit von Ernst Vollrath, der ein letztes Mal anwesend war und für seine Verdienste um die Gesellschaft geehrt werden konnte. Der Genius Loci des Tagungsortes Berlin bot nicht nur mehrmals die Möglichkeit, über politisches Tun nachzudenken, sondern auch die Gelegenheit, dies mit leibhaftig anwesenden Politikern zu tun, so auch auf den weiteren Berliner Tagungen von 2004 und 2009. Allerdings waren nüchtern betrachtet dem ursprünglichen optimistischen Vorhaben, den Graben zwischen den Vertretern der Theorie und den Praktikern überbrücken zu können, doch enge Grenzen gesetzt. Der Austausch blieb stets 3

Ottmann, 1996. Kauffmann, 2013. 5 Gerhardt, 2007; Gerhardt, 2012. 6 Vollrath, 1987; Vollrath, 2003. 7 Ballestrem/Ottmann, 1990. 4

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Norbert Herold

auf wenige Personen beschränkt und sehr situationsabhängig. Als zum Beispiel eine vorgezogene Bundestagswahl mit einer schon länger geplanten Tagung in Berlin kollidierte, scheiterte diese an der Unmöglichkeit, Politiker als Referenten oder Teilnehmer zu gewinnen. Außerordentlich erfolgreich war dagegen der Versuch, den Volker Gerhardt einige Jahre vorher, 1998 in Münster, unternommen hatte, um eine breitere Öffentlichkeit in die politische Reflexion einzubeziehen. Münster feierte damals den 350 Jahre zurückliegenden Westfälischen Frieden mit einer großen Kunstausstellung, mit dem Besuch zahlreicher europäischer Monarchen und eben mit einer stark beachteten Tagung „Die Politik und der Frieden“. Gerhardt hatte die Verantwortlichen davon überzeugt, dass die historische Blickrichtung durch politisch-philosophische Überlegungen über die Chancen und Risiken heutiger Friedenspolitik zu ergänzen seien, und die Kulturstiftung der Deutschen Bank als großzügigen Sponsor für die von ihm konzipierte Tagung gewonnen. Es war nicht nur gelungen, kurz vor dem Ausbruch der Kosovo-Krise den damaligen Generalsekretär der NATO, Xavier Solana, und den Vorsitzenden der CDU, Wolfgang Schäuble, als Redner für öffentliche Vorträge zu gewinnen. Auch die wissenschaftlichen Vorträge im Rahmen der DGEPD-Tagung gewannen dadurch zusätzliche Aufmerksamkeit, dass sie von Spitzenjournalisten führender deutscher Zeitungen in Korreferaten kommentiert wurden. Das führte nicht nur zu größerer Klarheit in der Argumentation, sondern auch zu umfangreicherer Berichterstattung in der überregionalen Presse. Beim dritten Ziel, der Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, ist die Bilanz gemischt. Bestand im Anfang – vor allem auch durch die guten Kontakte von Martyn P. Thompson – noch eine intensive Zusammenarbeit mit der amerikanischen CSPT, so ließ diese doch im Laufe der Jahre stark nach. Eine zunächst sehr erfolgreiche Mitgliederwerbung bei italienischen und französischen Kollegen, für die sich der damalige Vorsitzende Karl Graf Ballestrem stark gemacht hatte, stieß an ihre Grenzen, als die Gesellschaft nicht mehr in der Lage war, die hohen Kosten für die Überlassung der Jahrbücher zu tragen. In diesem Punkt hatte also die Gesellschaft noch Hausaufgaben zu machen bzw. wird sie sich gezwungen sehen, Ziele und Wege neu zu überdenken und gegebenenfalls nach weiteren Formen der Kooperation zu suchen. Es bleibt zu berücksichtigen, dass gerade die internationale Zusammenarbeit sehr stark von Personen und persönlichen Kontakten bestimmt ist und dass eine institutionelle Förderung der internationalen Zusammenarbeit umfangreicher finanzieller Mittel bedarf, über die eine „kleine“ Gesellschaft wie die DGEPD nicht aus eigener Kraft verfügt. Dieser kurze Rückblick auf die Gründungsgeschichte der DGEPD kann nach einem Vierteljahrhundert ihres Bestehens an die ursprünglichen Intentionen erinnern. Er soll die Anerkennung für die Leistungen der „Gründerväter“ – die nun die 70 erreicht haben – zum Ausdruck bringen. Sie haben sich durch keine Widrigkeiten davon abbringen lassen, für das Projekt „Politisches Denken“ einen institutionellen Rahmen zu schaffen und mit Leben zu erfüllen. Für ihre wissenschaftlichen und politischen Ideen setzt sich die „Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ nach wie vor tatkräftig ein: La Lotta continua.

Zur Gründungsgeschichte der „DGEPD“

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Literatur Ballestrem, Karl Graf/Ottmann, Henning (Hrsg.) (1990): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag. Gerhardt, Volker (Hrsg.) (1990): Der Begriff der Politik: Bedingungen und Gründe politischen Handelns. Stuttgart: Metzler. – (2007): Partizipation: Das Prinzip der Politik. München: C.H. Beck. – (2012): Öffentlichkeit: Die politische Form des Bewusstseins. München: C.H. Beck. Kauffmann, Clemens (2013): Demokratisches Denken gegen eine „halbierte Moderne“: Beobachtungen zu Henning Ottmanns „Geschichte des politischen Denkens“. In: Jahrbuch Politisches Denken 2013, S. 107 – 128. Ottmann, Henning (1996): In eigener Sache: Politisches Denken. In: Jahrbuch Politisches Denken 1995/96, S. 1 – 7. Thompson, Martyn P. (Hrsg.) (1991): John Locke und/and Immanuel Kant: Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz (Sonderdruck aus „Philosophische Schriften“; Band 3). Berlin: Duncker & Humblot. Vollrath, Ernst (1987): Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen. Würzburg: Königshausen & Neumann. – (2003): Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Volker Gerhardt zum 70. Geburtstag Von Julian Nida-Rümelin Volker Gerhardt ist ein Solitär. Seine Beiträge zur politischen Philosophie, aber auch seine Stellungnahmen als „Public Intellectual“ fügen sich nicht geschmeidig ein – weder in das philosophische noch in das politische Strömungsbild. Wenn ich es recht sehe, sind es vier große Denker, die seine politische Philosophie in besonderer Weise geprägt haben: Platon, Kant, Marx und Nietzsche. Gerhardt teilt mit Platon eine tiefe Skepsis gegenüber den „doxai“, den verbreiteten Meinungen und Vorurteilen. Er will den Dingen auf den Grund gehen, auch wenn ihn dies zu Positionen führt, die auf starken Widerstand stoßen. Auch seine öffentlichen Stellungnahmen sind von dieser Art der philosophisch begründeten Radikalität geprägt. Mit dieser philosophischen Vorgehensweise korrespondiert die Hochschätzung individueller Selbstbestimmung als Grundprinzip menschlicher Existenz und kollektiver Selbstbestimmung als Grundprinzip der Politik.1 Diese Betonung autonomer Praxis hat bei Gerhardt durchaus existentialistische Züge und geht insofern über Kant und den zeitgenössischen Kantianismus weit hinaus. Volker Gerhardt versteht sich als Humanist, er vertraut dem menschlichen Vernunftgebrauch und misstraut der paternalistischen Attitüde staatlicher und kirchlicher Autoritäten. Volker Gerhardt ist im doppelten Sinne ein politischer Kopf: Er interessiert sich für die Grundfragen der politischen Philosophie: Legitimation, Partizipation, Demokratie, kollektive Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, das normative Element politischer Praxis generell. Zugleich ist er ein Philosoph, der sich einmischt, und zwar nicht in Form einer Persönlichkeitsspaltung (hier der Philosoph, dort der engagierte Bürger), sondern in beiden Fällen Bürger und Philosoph zugleich. Die öffentlichen Stellungnahmen beruhen jeweils auf einer gründlichen theoretischen Befassung mit der Fragestellung, sie sind nicht Reflex politischer Auseinandersetzungen. Volker Gerhardt steht dem Pragmatismus näher, als ihm wohl selbst bewusst ist: Jedes seiner Bücher ist so geschrieben, dass es auch jenseits der akademischen Innenwelt von Bedeutung ist. Jede seiner öffentlichen politischen Stellungnahmen bettet sich ein in eine umfassendere empirische und normative philosophische Analyse. Theorie und Praxis, philosophisches Denken und Lebensvollzug bilden bei Gerhardt, wie nur bei wenigen zeitgenössischen Philosophen, eine Einheit. Man kann sich für ihn, vor allem aber für uns – innerhalb und außerhalb der Akademia, zumal für 1 Vgl. dazu Volker Gerhardt (1999): Selbstbestimmung: Das Prinzip der Individualität. Stuttgart: Reclam, und ders. (2007): Partizipation: Das Prinzip der Politik. München: C.H. Beck.

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die Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens – nur wünschen, dass dieser beeindruckende Elan, auch in Gestalt einer stupenden literarischen Produktivität, über die Vollendung des 70. Lebensjahres hinaus erhalten bleibt. Nichts deutet darauf hin, dass es anders kommen könnte.

Die Menschheit in der Person eines jeden Menschen Zur Theorie der Humanität Abschiedsvorlesung in der Humboldt-Universität zu Berlin Senatssaal am 10. Juli 2014 Von Volker Gerhardt 1. „Hier lebt die Wissenschaft“. Gesetzt, meine finanzielle Lage wäre jemals derart gewesen, dass ich gar keiner Berufsarbeit hätte nachgehen müssen: Ich hätte trotzdem nichts lieber getan, als in meinem Fach zu lehren und zu forschen. Mag sein, dass diese Koinzidenz von Pflicht und Neigung auch mit mir zu tun hat. Sie hat ihren Grund aber in der Philosophie, die zwar als wissenschaftliche Disziplin betrieben werden muss und dabei in die üblichen institutionellen Verbindlichkeiten eingebunden ist; aber gelingen kann sie nur, wenn sie gerade dort, wo es am schwersten wird, Freiheit, Lust und Leidenschaft freisetzt und gleichwohl als eine Aufgabe begriffen werden kann, die einen nicht nur selbst betrifft. Es ist dieser gleichermaßen individuelle wie universelle Umstand, der mir den Abschied von der Universität etwas leichter macht; denn ich weiß, es kann gar nicht anders sein, als dass ich ihr im Geist verbunden bleibe: Ich brauche nur zu hoffen, dass ich auch nach dem formellen Abschied physisch in der Lage bin, weiterhin das zu tun, was ich vorher getan habe – und mir seit meinem fünfzehnten Lebensjahr immer zu tun wünschte. Deshalb fände ich es kleinlich, ausgerechnet in diesem Augenblick an die zahlreichen Probleme unseres Bildungs- und Wissenschaftssystems zu denken, an denen ich mich schon in meinem Studium verhoben habe. Sie haben mir als Assistent und als Hochschullehrer viel Zeit zum Philosophieren genommen. Doch wenn ich an die Gründung der Fernuniversität oder an die mit knapper Not geretteten Akademievorhaben denke, kann ich auch mit Blick auf die verlorene Zeit eine gewisse Befriedigung nicht in Abrede stellen. Gleichwohl ist es in meiner persönlichen Lebensbilanz das größte Glück, (mit einer an der Wählergunst nicht weniger glücklich gescheiterten Hamburger Ausnahme) allen durch die Vordringlichkeit der politischen Aufgaben bestens begründeten Verführungen widerstanden zu haben, eine jene herausgehobenen Leitungspositionen zu übernehmen, die es in der Regel unmöglich machen, weiterhin in der eigenen Wissenschaft tätig zu sein. Hieran hat nicht nur die Philosophie, sondern meine geliebte Frau einen nicht zu unterschätzenden Anteil.

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Wenn ich an dieser Stelle immerhin die Politik erwähne, kann sie heute auch deshalb einmal auf sich beruhen, weil wir in diesem Senatssaal mehrfach Auswege aus der Krise aufgezeigt haben, über die aus gegebenem Anlass schon lange genug gesprochen worden ist. In einem Fall, in dem von mir eingebrachten Antrag zur Reform der Bologna-Reform, sind mir Senat und Konzil sogar mit großer Mehrheit gefolgt,1 ohne daran zu denken, dass sie damit in der Sache ebendas unter Beweis stellen, was sie mir acht Jahre zuvor als normative Tatsachenbeschreibung nicht hatten durchgehen lassen: 2002 haben sie jenes „Hier lebt die Wissenschaft“, das als Kurzfassung unserem Leitbild vorangestellt werden sollte, wieder gestrichen.2 Ich aber bin nach wie vor der Ansicht, dass dieser Satz: „Hier lebt die Wissenschaft“, gerade auch im Geiste Humboldts, Fichtes und Schleiermachers, das Richtige trifft. Als gleichermaßen beschreibende und fordernde Aussage ist sie exemplarisch für das Ineinander von Faktum und Norm, das eine Universität auszeichnet – egal, ob das nun in ihrem „Leitbild“ steht oder nicht. 2. Dank und Verpflichtung. Was aber Reformen und Leitbildern nicht gelingt, muss wenigstens durch Emeritierung möglich sein. Sie ist bekanntlich der durch die Natur mehr oder weniger erzwungene und von der Kultur mehr oder weniger feierlich wahrgenommene Garant für die Erneuerung der Universität. Auch hier spielen, wie beim Begriff der Universität und (wie wir noch sehen werden) beim Begriff der Menschheit, Faktizität und Normativität ineinander: Um deutlich zu machen, • dass Leben nicht nur das ist, was das einzelne Individuum an sich selbst erfährt, • um zugleich den Rahmen zu benennen, in dem jeder Einzelne dieses Leben an sich selbst als verbindlich zu begreifen hat • und um ihm schließlich einen Begriff davon geben, warum es inmitten von Zufall und blinder Notwendigkeit, von Krieg und Terror, Chaos und Versagen, Not und Leid, plötzlicher Krankheit und jähem Tod sinnvoll ist, von einer Lebensaufgabe zu sprechen, möchte ich den Begriff der Menschheit in Vorschlag bringen. Das geschieht mit einem tief empfundenen Dank an die Personen und Institutionen, die mir meine Arbeit möglich gemacht haben. Um das aber nicht mit dem Gestus der Abdankung, sondern in der Erwartung auszudrücken, die lang gehegten systematischen Überlegungen zur selbstbestimmten Individualität, zur epistemischen und politischen Partizipation, zur mentalen, sozialen und politischen Publizität sowie 1

Beschluss des Senats der Humboldt-Universität vom 27. April 2010: Konsequenzen aus der Kritik. Die Humboldt-Universität fordert eine Revision der Bologna-Reform. 2 Leitbild der Humboldt-Universität, beschlossen durch das Konzil der Humboldt-Universität zu Berlin am 13. Februar 2002. – Im Hintergrund der Kurzfassung „Hier lebt die Wissenschaft“ stand die Erinnerung daran, dass zwischen 1933 und 1989 die Wissenschaft an dieser Universität nur geringe Chancen hatte, sich frei und lebendig zu entfalten.

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zum göttlichen Ganzen der Welt (ohne das wir keinen Begriff vom menschlichen Dasein gewinnen könnten), füge ich dem im Titel paraphrasierten Kant-Zitat von der Menschheit in der Person eines jeden Menschen das Epitheton „Zur Theorie der Humanität“ hinzu. Damit werbe ich für eine philosophische Aufgabe, die tatsächlich noch offen ist, so erfolgreich das Humanprojekt mit der angeschlossenen Nachwuchsforschergruppe über die Funktionen des Bewusstseins auch gewesen ist. Mir liegt es jedoch fern, ein neues „Projekt“ zu empfehlen. Es reicht mir, wenn durch eine Gedankenskizze • der zum Greifen naheliegende Ansatz, • der unüberbietbar globale Zuschnitt, • der evolutionstheoretische Anspruch, • die metaphysische Reichweite • und die ethische Bedeutung einer Theorie der Humanität wenigstens im Umriss sichtbar werden. Unbeachtet bleibt hingegen die für Berlin nicht unerhebliche Tatsache, dass eine Theorie der Humanität mit dem intellektuellen Nachlass zweier Großtheorien umzugehen hat, von denen die eine in dieser Stadt über vierzig Jahre lang versucht hat, unter Berufung auf die Menschheit ebendiese Menschheit in zwei Teile zu zerreißen, während die andere ebendieser Zumutung unter Verwendung des gleichen Zentralbegriffs (der ohne Menschheit nicht zu denkenden Menschenrechte) widerstanden hat, ohne sich freilich selbst hinreichend Rechenschaft darüber zu geben, wie weit sie sich damit Prinzipien verpflichtet, die ihr Verbindlichkeiten auferlegen und Grenzen setzen. Der Kommunismus ist daran gescheitert, dass er sich der Logik des Menschenrechts nicht entziehen konnte. Aber das wird politisch nur so lange wirksam bleiben, wie der ihm entgegenstehende – ich sage nicht: „Kapitalismus“, das wäre ein Kategorienfehler, sondern – der demokratische Republikanismus seine eigenen Prämissen nicht verrät. Auf keiner der beiden Seiten kommt man ohne den Begriff der Menschheit aus, aber man wird ihm nur gerecht, wenn man beachtet, dass er gleichermaßen deskriptiv und normativ verfasst ist. Sich hier an einer Klärung zu versuchen, ist eine Aufgabe, die der Philosophie von keiner ihrer hochgeschätzten Nachbardisziplinen abgenommen werden kann. 3. Vom nahen Ende der Menschheit. Es gibt einen theoriegeschichtlichen Vorgang, der anschaulich macht, in welcher paradoxen Lage sich die Theorie des Menschen derzeit befindet: Nicht nur in den Geistes- und Kultur-, sondern sogar in den Lebenswissenschaften sind zahllose Autoren darum bemüht, die Antiquiertheit des Menschen anschaulich zu machen. Sie versuchen zu zeigen, dass der Mensch sich über Jahrtausende hinweg eine Sonderrolle zugesprochen hat, die ihm weder aufgrund seiner natürlichen Ausstattung noch mit Blick auf seine historische Leistung zukommt. Es gebe somit auch keinen Grund, ihm eine intellektuelle, moralische oder

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gar metaphysische Überlegenheit zuzugestehen. Deshalb sei jede Auszeichnung seiner Gattung durch den Anspruch auf Humanität eine Anmaßung, die kaum mehr zum Ausdruck bringe als den Egoismus der biologischen Spezies, dem die Menschen, wie alle Lebewesen, auf jeweils ihre Weise unterworfen sind. In dieser Ausgangslage, so das Argument, könne auch das sich selbst „Mensch“ nennende Säugetier nicht mehr als seinen Gattungsegoismus vertreten.3 Die selbst verliehenen Titel der „Humanität“ und des „Humanismus“ täuschen nur über den Kolonialismus einer massenhaft verbreiteten Tierart, deren effektiver Lebenstechnik zunächst die Artenvielfalt und dann aber auch die Bewohnbarkeit der Erde zum Opfer fallen. Da muss man es am Ende als ein Glück ansehen, dass diese alles gefährdende Spezies sich alsbald selbst ausrotten und damit die Erde von sich selbst befreien kann. Der junge Nietzsche hat diesem Schicksal des Menschen die Form eines Märchens gegeben, das auch den Grund für den unvermeidlichen Niedergang beim Namen nennt: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ,Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben.“4

Bekanntlich lässt der späte Nietzsche mit dem prognostizierten Tod des Menschen nicht alles enden. Er bietet seinen Zarathustra als den Propheten eines „Übermenschen“ auf, in welchem sich der Mensch, in einem Akt exponierter Lebendigkeit, selbst überwindet. Damit ist ein weiteres Stichwort für den gegenwärtig so vielstimmig vorgetragenen Abgesang auf den Menschen gegeben: Der „Transhumanismus“ setzt auf das „enhancement“ durch die sich exponentiell entwickelnden Anthropotechniken, um sich mit seinem geschichtsphilosophischen Futurismus vom Menschen zu verabschieden.5 Zur Paradoxie der gegenwärtigen Lage gehört, dass Naturwissenschaftler mit durchaus verwandten Einsichten in die Selbstüberschätzung des Menschen zu einer gegensätzlichen Prognose für die Zukunft des Menschen gelangen: 2002 hat der Nobelpreisträger für Chemie, Paul Crutzen, den umfassend begründeten Vor3

Ein Beispiel unter vielen: Gray, 2012. Nietzsche, 1999c: 875. Es ist Nietzsche wichtig, dass hier eine „Fabel“ erzählt wird. Wenige Monate zuvor hatte er die Parabel schon einmal verwendet und sie einem „gefühllosen Dämon“ in den Mund gelegt (Nietzsche, 1999b: 759 f.). Die Anlage der Fabel erinnert an die von Jean Paul wiederholt gegebene (und besonders eindrucksvoll im „Siebenkäs“ vorgetragene) nihilistische Beschreibungen des kosmischen Geschehens. Bemerkenswert ist, dass Nietzsche seine Diagnose nur auf die Selbsttäuschung des Menschen bezieht, nicht aber auf ein mögliches Versäumnis im Umgang mit der Natur. Das erklärt sich gewiss auch daraus, dass er dazu wiederum selbst mehr Wahrheit hätte in Anspruch nehmen müssen, als es der Logik seiner „Fabel“ zuträglich ist. 5 Sorgner, 2009; Kurzweil, 2013. 4

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schlag gemacht, die Erdepoche des „Holozän“ mit dem Eintritt in die kulturhistorisch definierte „Neuzeit“ für beendet zu erklären und damit ein neues erdgeschichtliches Zeitalter, das „Anthropozän“, beginnen zu lassen. Mit ihm wäre die jüngste Erdgeschichte im „Quartär“ mit „Pleistozän“ und „Holozän“ im „Anthropozän“, dem „Zeitalter der Menschheit“, angekommen.6 Es ist die Epoche, in der die geophysische Gestalt der Erde, ihr Klima, ihre Bodenbeschaffenheit, der Zustand ihrer Luft und ihrer vielfältigen Formen des Wassers, folglich die Gesamtverfassung des auf ihr möglichen Lebens, wesentlich vom Verhalten des Menschen abhängig ist. Und diese Aussicht räumen die Naturwissenschaften der Menschheit ein, so kritisch ihre Bewertung ihrer Chancen auch ausfällt. Crutzens Vorschlag fand weltweit Resonanz und wurde fächerübergreifend diskutiert. 2008 beriet die in London ansässige „Internationale Stratigraphische Kommission“, die für die Einteilung der Abfolge von Äonen, Perioden und Epochen zuständig ist, über die Frage „Leben wir im Anthropozän?“ und gab eine positive Antwort. Über sie wird seitdem in den Einzelwissenschaften beraten. 2015 sollen die Ergebnisse zusammengetragen werden, um eine für alle Wissenschaften verbindliche, auch Politik und Alltag bestimmende Sprachregelung zu empfehlen.7 Es wäre spitzfindig, darauf zu insistieren, dass es „Zeitalter der Menschheit“ und nicht „Zeitalter des Menschen“ heißen sollte. Rein begrifflich gesehen gibt es die Menschheit so lange, wie es den Menschen gibt; und solange es Sinn hat, von der Menschheit zu sprechen, muss es auch die Menschen geben, aus denen sie sich zusammensetzt. Aber die historische Schwelle, um deren Bestimmung die Geophysiker sich bemühen, wenn sie vom „Anthropozän“ sprechen, ist nicht auf den biologischen Auftritt des Menschen vor zwei Millionen, sechshundert- oder achtzigtausend Jahren bezogen, sie geht auch über den menschheitsgeschichtlich entscheidenden, der europäischen Antike vorgelagerten Prozess der politischen Zivilisierung in den großen Kulturen des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens hinweg. Sie konzentriert sich vielmehr ganz auf die von großen Kollektiven getragene und im Bewusstsein ihrer globalen Verbindung erfolgende, erdgeschichtliche Wirksamkeit des neuzeitlichen Menschen. Ausgangspunkt der geophysikalischen Überlegungen ist die Epoche, in der die Wissenschaft industriell genutzt und der Mensch weltweit politisch, ökonomisch, technisch und militärisch tätig wird. Die Folgen dieser Tätigkeit finden seit wenig mehr als 200 Jahren einen erdgeschichtlichen Niederschlag. Dessen Analyse gibt den Geophysikern Aufschluss über gravierende Veränderungen in den Parametern der weltweit gemessenen Bestandteile von Boden, Luft und Wasser. Darüber hinaus 6 Nach den altgriechischen Komponenten bedeutet Anthropozän: „Das menschlich [gemachte] Neue“ (%mhqypor, ánthropos, „Mensch“ und jaim|r, kainós, „neu“). 7 Zuständig ist die 1807 gegründete „Geological Society of London“, deren „Kardinalsgremium“, die mit 21 Mitgliedern besetzte „Internationale Stratigraphische Kommission“, die maßgeblichen Entscheidung über Kriterien und terminologische Konventionen trifft. Für 2015 stehen, so die Ansicht von Michael Müller, auf dessen persönliche Auskünfte ich mich hier stützen kann, „die Ampeln auf grün.“ Näheres dazu: Müller, 2013.

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erfassen sie den Rückgang der Artenvielfalt, warnen vor der Entfischung der Meere sowie vor der Abholzung der Regenwälder und halten den globalen Klimawandel für erwiesen.8 4. Von der gestiegenen Verantwortung der Menschheit. Das Geschehen einer umfassenden Vernutzung der Erde rechtfertigt es, den Begriff der Menschheit nicht länger bloß als Gattungsnamen für die Gesamtheit aller Menschen zu verwenden, sondern ihn als Bezeichnung für den weltweit tätigen Gesamtakteur anzusehen, der sich mit seinen zahllosen, sich vielfältig überlagernden institutionellen Verstrebungen und nicht zuletzt durch das sich immer mehr verdichtende Netz der Kommunikation ein Bewusstsein seiner eigenen Gegenwart verschafft. So kann von der Menschheit gesprochen werden, wie man früher von den Bürgern einer Stadt, von den Anhängern einer Religion oder von Völkern und Nationen sprach, nämlich wie von einer korporativen Einheit, in diesem Fall von einem einzigen erdumspannenden Subjekt. Und tatsächlich geht es um dieses globalisierte Subjekt, wenn die Epoche des „Anthropozän“ nicht zuletzt auch deshalb ausgerufen wird, um der Menschheit als ganzer ins Gewissen reden zu können. Denn wenn man davon überzeugt ist, dass spätestens mit dem Einsatz der Dampfmaschine und mit dem Bau von Eisenbahnen die Menschheit nach Art eines zurechenbaren Subjekts in Erscheinung tritt, dann kann, ja dann muss man sie auch auffordern können, endlich Maßnahmen zur Verhinderung ihres eigenen Untergangs zu ergreifen. „Zerstören oder gestalten?“ lautet die Alternative, vor die uns die beredten publizistischen Anwälte der Neubenennung der Gegenwart stellen.9 Hört man den Begriff des Anthropozäns zum ersten Mal, kann man sich methodologischer Bedenken gar nicht erwehren. Denn die Geologen haben ihre geohistorischen Kategorien fast ausnahmslos im Nachhinein vergeben. Der neue Titel aber wird mitten in einem Zeitalter verliehen, das nicht nur noch nicht zu Ende ist, sondern gerade erst angefangen hat. Dabei geht Paul Crutzen davon aus, dass die Menschheit (2002 spricht er noch von „mankind“) eine Zukunft von vielen tausend Jahren haben kann,10 während man bei anderen den Eindruck hat, dass sie das Ende für ausgemacht halten und vorsorglich schon einmal den „Transhumanismus“ ausrufen. Bei dieser technisierten Variante des „Übermenschen“ ist freilich noch nicht erkennbar, ob der alte Mensch ganz verschwindet oder weiterhin als Erfüllungsgehilfe des neuen „superman“ gebraucht wird. 8

Crutzen, 2002: 23. Schwägerl, 2012. Eine entschieden kritische Einschätzung der Neubenennung des derzeitigen Erdzeitaltes trägt Jürgen Manemann vor. Seine Einwände sind überzeugend, nimmt man die von Schwägerl implementierten Erwartungen auf völlig neue Planungshorizonte hinzu und sieht man den „Transhumanismus“ als Bestandteil des Projekts des Anthropozäns. Soweit würde ich Paul Crutzen nicht interpretieren. Wo immer aber das Anthropozän mit dem Transhumanismus verknüpft wird, ist Manemanns Einwänden (Manemann, 2014) recht zu geben. 10 Crutzen, 2002: 23. 9

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Doch wie dem auch sei: Es muss verwundern, den über alle empirische Grenzen hinausreichenden Begriff des Anthropozäns aus dem Mund von Naturwissenschaftlern zu hören. Zwar können wir tagtäglich Meteorologen zusehen, die sich trauen, mit einer Wetterprognose vor die Kamera zu treten. Aber wenn Physiker, Chemiker und Geologen mit kategorialer Verbindlichkeit über Tausende von Jahren verfügen, die es noch gar nicht gibt, hat das eine andere Qualität. Verstehen aber kann man die neue methodologische Großzügigkeit der Naturwissenschaftler trotzdem. Bei näherer Betrachtung schulden wir ihnen Dank für die selbstlose Entlastung, die sie den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften durch die Ausweitung ihres Urteilsrahmens verschaffen, obgleich sie zunächst nur Schlüsse aus ihren empirischen Daten ziehen und ihre Aussagen als bloße Extrapolationen über eine längere Zeitachse hinweg erklären: Mit dem Menschen als Verursacher, den man mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchungen erreichen muss, damit er sein Verhalten ändert (um die nach den Daten immer wahrscheinlicher werdende Katastrophe abzuwenden), verändert sich auch das methodische Paradigma. Und alle, die so sprechen, müssen den Verdacht ertragen, den kategorialen Unterschied zwischen Tatsache und Vorschrift, zwischen Faktum und Norm zu verschleifen. Ihm hat man durch vermehrte – auch selbstkritische – Aufmerksamkeit zu begegnen. Mit Sicherheit kann ihm nicht durch einen mechanischen Methodenschnitt entkommen, der schon den Rückschluss von der Analyse der naturwissenschaftlichen Daten auf die daraus gezogenen politischen und moralischen Konsequenzen erschweren würde. So wie der einzelne Mensch nicht nur deskriptiv über sich sprechen kann, sondern stets auch seine Erwartungen, Vorsätze und Aufgaben einbezieht, so ergeht es selbst dem trockensten Empiriker, wenn er Probleme der Menschheit behandelt, bei der er nicht davon absehen kann, dass er selbst zu ihr gehört. Dann lässt sich nicht säuberlich zwischen Faktum und Norm unterscheiden. Und im Überschreiten der einst von David Hume gezogenen roten Linie zwischen Sein und Sollen rücken die Naturwissenschaftler näher an ihre vermeintlich weniger exakten Partner in den hermeneutischen Wissenschaften heran, womit sie bestätigen, was man dort schon seit längerem weiß: Wer den Menschen zum Thema hat, hat auch methodologisch mit größerer Behutsamkeit vorzugehen. 5. Trotz allem immer noch: „animal rationale“. Es ist nicht allein die prognostische Dimension der Fragestellung, die zu der disziplinären Annäherung führt. Auch in der von verschiedenen Fächern betriebenen wissenschaftsgeschichtlichen Forschung kommt es zu einer wechselseitigen Angleichung der Disziplinen. Seinen Grund hat der von Exzellenzinitiativen unabhängige Grenzverkehr in der Schwerkraft des Problems der Menschheit, dem wir nicht nur unser Interesse an der Zukunft, sondern eben auch: an unserer Herkunft verdanken. Das aber ist selbst wieder nur ein Indiz dafür, dass der Begriff der Menschheit in einer tieferen, wahrhaft elementaren Weise mit dem des Wissens verbunden ist. Sein volles Gewicht tritt darin zutage, dass er nicht nur die Bewertung von Vergangenheit

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und Zukunft, sondern bereits das Urteil über unsere Gegenwart bestimmt. Spätestens hier kann sich die Philosophie der Debatte nicht mehr entziehen. Die philosophische Beschäftigung mit dem Menschen gibt uns seit Jahrtausenden die Auskunft, in ihm ein mit Vernunft ausgestattetes Wesen zu sehen. Er wird als „animal rationale“ und somit als Tier begriffen, das vernünftig und verständig, berechnend und nachdenklich sein kann. Er soll ein durch und durch zur Natur gehörendes Lebewesen sein, das über Wissen verfügen, Einsichten haben, Schlüsse ziehen, „ja“ und „nein“ nicht nur sagen, sondern auch Meinungen und Überzeugungen haben und sie in seinem Tun umsetzen kann. Transponieren wir „animal rationale“ in die Theoriesprache der heutigen Philosophie, ist der Mensch ein Wesen, das in allem, was ihm wichtig ist, „seine eigenen Gründe“ haben kann.11 Je älter philosophische Einsichten sind, umso mehr Zweifel haben sie auf sich gezogen. Wenn sie wirklich grundlegend sind, können sie dadurch nur gewinnen. Und so ist es beim „animal rationale“: Nach einer mehr als zweitausendjährigen Zeit der Prüfung, wobei sich die letzten beiden Jahrhunderte mit ihrer auf Destruktion angelegten Polemik mächtig ins Zeug gelegt haben, können wir mit größerer Sicherheit sagen, dass die Rede vom „animal rationale“ weder leib- noch technikfeindlich, weder gefühlsabstinent noch symbolabweisend, weder asozial noch unhistorisch ist. Sie stellt gewiss auch keine Gotteslästerung dar. Die Fähigkeit, seine eigenen Gründe haben und ihnen folgen zu können, verleugnet keine der anderen Anlagen des Menschen. Im Gegenteil: Sie setzt die Vielfalt der Kompetenzen voraus und geht unablässig mit ihnen um. Auf der Grundlage von Erinnerung und Voraussicht, von abwägendem Vergleich und Entscheidung disponiert die Rationalität über den Einsatz gerade auch der sich widersprechenden menschlichen Kräfte. Gäbe es eine prästabilierte Harmonie in der Ausstattung des Menschen oder auch nur den Vorrang einer einzigen natürlichen Strebung, stünde die Vernunft auf verlorenem Posten. Sie schwebt freilich auch nicht in kategorialer Transzendenz über den körperlichen und gesellschaftlichen Relationen, sondern sie ist das Medium, in dem der Mensch seine sich ihm unter den Konditionen seiner Bedürfnisse stellenden sozialen Anforderungen so organisiert, dass er darin auch seinesgleichen verständlich sein kann. Und in dieser Form der Verständigung liegt die ganze Eigentümlichkeit des Menschen, die ihn a priori auf die Menschheit verpflichtet. 6. Die öffentliche Bindung des Menschen an die Welt. Die Verständigung geschieht in einer Weise, von der wir gerade auch nach den jüngsten Einsichten der Sozialanthropologie12 mit einiger Bestimmtheit sagen können, dass sie singulär für den Menschen ist. Selbst unter den uns am nächsten stehenden Primaten ist uns kein anderes Lebewesen bekannt, das es dem Menschen darin gleichtut. Zwar sind ihm viele

11 12

Gerhardt, 1999: 323 ff. Tomasello, 2009; ders., 2010.

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Lebewesen in vielem überlegen; und viele Kriterien, die man noch bis vor kurzem als stichhaltig ansehen konnte, haben sich als unhaltbar erwiesen.13 Doch der Mensch ist in mindestens einem Punkt aus seiner achtbaren tierischen Verwandtschaft herausgehoben. Dieser Punkt lässt sich so benennen, dass niemand auf die Idee zu kommen braucht, hier den Grund für eine abnorme metaphysische Auszeichnung zu vermuten; wohl aber kann von einer Disposition zur unbeschränkten Vernutzung der Welt gesprochen werden: Der Mensch kommuniziert mit seinesgleichen nicht einfach nur in der Welt, sondern er tut dies, indem er die Welt selbst wie ein Mittel zu seiner Kommunikation verwendet. Das kann man in aller Kürze wie folgt anschaulich machen:14 Nach langen Zeiten der Übung (seinen dabei gestiegenen Bedürfnissen entsprechend) greift der Mensch Momente seiner natürlichen Umwelt derart heraus, dass er sich mit ihrer Hilfe so zu verständigen vermag, dass er zu einer einzigartigen Eindeutigkeit, Genauigkeit und Überprüfbarkeit seiner Aussagen gelangt. In den von ihm hergestellten Werkzeugen hat er schon früh Belegstücke dieser phantastischen Fähigkeit hinterlassen. Es steht aber zu vermuten, dass er wohl erst im Gebrauch verselbstständigter Zeichen (seien es Markierungen, Symbolisierungen oder artikulierte Laute) etwas schafft, das ihm in der bloßen Natur schlechterdings nicht begegnet. Nennen wir es zum Ausdruck gebrachtes Wissen, das in der Bedeutung, in der es geäußert wird, auch von anderen aufgenommen, erinnert, weitergegeben und in Verhalten umgesetzt werden kann. Das gelingt nur in einem instrumentellen Weltbezug, in der jedem Adressaten eine ihm eigene Stellung unterstellt wird, obgleich er sich in der nur von ihm eingenommen singulären Position auf denselben Sachverhalt beziehen kann wie jeder andere, der über das gleiche Wissen verfügt. Im Wissen erlangt die Welt die Funktion eines gemeinsamen Horizonts, der es erlaubt, unter Bedingungen wahrgenommener Unterschiede etwas für alle Gleiches zu benennen und zu tun. Im Wissen, so können wir auch sagen, weitet sich die Welt zu einem vom Menschen genutzten öffentlichen Raum, so dass wir das ihn durch kulturelle Eigenleistung aus der umgebenden Natur heraus hebende kulturelle Spezifikum des Menschen darin sehen können, dass er seine Eigenschaft als „animal rationale“ nur als „homo publicus“ unter Beweis stellen kann. Damit geht das Wissen über alles hinaus, was dem Menschen von Natur aus begegnen kann. Es gibt kein Wissen – außer in ihm selbst! Gleichwohl reguliert der in Gemeinschaften lebende Mensch seine Beziehung zu seiner Umwelt zunehmend über das Wissen, zu dem die funktionale Kontrolle unter dem Anspruch auf Wahrheit gehört.

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Das gilt z. B. für die Sprache, die Intelligenz, das Bewusstsein, das Mitgefühl, die Kooperation, den Werkzeuggebrauch, die kategoriale Abstraktion und die Selbstbezüglichkeit im Spiegeltest. Alle diese Leistungen lassen sich bereits bei Tieren nachweisen – und dies keineswegs nur bei Primaten, sondern in Teilen auch bei Insekten, Fischen oder Vögeln und bei zahlreichen Säugern. 14 Ausführlich dazu vom Verfasser: 2012, 369 ff.; ders., 2014b.

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Die von ihren Anwälten wie von ihren Kritikern nicht selten maßlos überzeichnete Stellung von Wissen und Wahrheit hat den Eindruck entstehen lassen, mit ihnen suche sich der Mensch der Natur zu entziehen, um in die Sphäre des reinen Geistes zu entweichen und damit seine Leiblichkeit zu verraten. Tatsächlich ist er im Bewusstsein der Verständigung derart auf die sich ihm im Modus der Mitteilung darbietenden Sachverhalte bezogen, dass die Illusion begünstigt wird, das ihm Wesentliche sei reiner Geist. Doch darin wäre vergessen, dass der in der Tat einzigartige begriffliche Bezug auf die Welt materialen Zwängen unterworfen ist, ohne die es nicht zu dem käme, was wir Bedeutung, Logik, Geist oder Bewusstsein nennen. Dieser materiale Anlass ist in der Funktion der Mitteilung theoretisch zureichend kenntlich gemacht. Und die singuläre Zuschreibung des Geistes zum menschlichen Dasein bleibt so lange gültig, als niemand – er selber ausgenommen – mit dem Menschen spricht. Das lässt uns augenblicklich verstehen, warum der Mensch wenigstens eine göttliche Stimme im Ganzen sucht. Solange er aber nur glauben kann, sie zu vernehmen, bleibt er wissentlich mit sich und seiner, vermutlich nur von ihm begriffenen, Welt allein. Das lässt sich freilich nur dann so sagen, wenn man dem Menschen zugesteht, dass seine eigentliche Heimat in der Welt in seinem Bewusstsein liegt, in dem er sich und alles andere versteht. In diesem Verständnis ist er auf das Innigste mit dem verbunden, was er versteht – vorrangig, wie es scheint, mit den Sachverhalten, die ihm überhaupt erst ermöglichen, wissentlich Bewusstsein zu haben. Und wenn er darauf reflektiert, in welcher Form er dieses Bewusstsein von etwas hat, wird ihm klar, dass er es stets nur im Modus der Mitteilung hat. Auch wenn er das Wissen für sich behält, „hat“ er es nur, sofern er es sich, im Wechsel von ich und mich, mit-teilen lässt.15 Folglich stehen ihm, auch wenn es nur zu oft den gegenteiligen Anschein hat, die Menschen näher als die Dinge. Und obgleich es uns nahegehende Erfahrungen mit den besser berechenbaren und arglosen Tieren gibt: Seinen Nächsten findet der Mensch nur unter den Exemplaren der Menschheit an. Sie ist der äußerste Rahmen und zugleich der innerste Bezirk, in dem er sich und seine Welt versteht. Daran bleibt auch der Geist gebunden: Er ist die nach dem Vorbild einer Institution gedachte Sphäre der Verständigung des Menschen über das, was er als Welt begreift. Als Geist wirkt er zugleich wie ein Garant der Offenheit für alles, was sich überhaupt verstehen lässt. Insofern öffnet er die Menschheit für eine womöglich über sie hinausgehende Vernunft. Gleichwohl gelangt er auch in der von der Vernunft erschlossenen Unendlichkeit nicht wirklich über Natur und Welt hinaus. 15 An dieser Stelle wird vielleicht besonders deutlich, dass die Partizipation als politisches Prinzip nur tragfähig ist, wenn es auch soziale und mentale Prozesse erfasst. Dazu vom Verf., 2007. In der Selbstbestimmung (Gerhardt, 1999) wird die selbstbewusste Person als „Repräsentant“ ihrer leib-seelischen Einheit vorgestellt und als „Partizipant“ der Gemeinschaft, zu der sie gehört (207). In beiden Funktionen ist sie an die Menschheit gebunden, die sie in ihren kommunikativen und praktischen Leistungen individualisiert.

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Dem einzelnen Menschen, dem die Welt und die Natur nur in der Form begriffener Sachverhalte zur Verfügung stehen – und diese ihm auch noch als Mittel zum rationalen Umgang mit sich und seinen Gegensätzen zu dienen haben –, kann dies wie eine intellektuelle Isolation in einer künstlichen Begrifflichkeit erscheinen. Und wem das so erscheint, für den ist es nur zu verständlich, dass er in eine direktere Verbindung zu seinem Leben kommen möchte. Und für den, der diese Hoffnung ernsthaft hegt, erscheint es gar nicht so falsch, anzunehmen, dass dies nur unter Verzicht auf das an Wissen und Wahrheit gebundene Bewusstsein möglich ist. Das hat nur den Nachteil des gleichzeitigen Verzichts auf die rationale Bindung an die Menschheit. In diesem Punkt ist Nietzsche ein Vorbild an Konsequenz. 7. Wissen als „Sündenfall“ der Selbstbefreiung in und mit der erkannten Welt. Indem der Mensch sein Leben unter die Anleitung des Wissens und unter die Kontrolle der Wahrheit zu stellen vermag, unterscheidet er sich radikal von der wunderbaren Vielfalt des ihn tragenden, begleitenden, fördernden und herausfordernden Lebens, dem er, wohlgemerkt, auch mit der größten Intellektualität und Subtilität nie entkommt. Doch im Wissen überantwortet er sich einer objektiven, weltbezogenen und letztlich öffentlichen Verbindlichkeit, die ihn vornehmlich selbst verpflichtet. In ihr überschreitet er die Beschränkungen des Augenblicks und tritt kraft seiner Vorstellung aus dem Bann bloßer Erinnerung heraus, um den für alle offenen Raum eigenen Handelns durch eigene Leistungen zu sichern. Dass dabei die Phantasie eine große Rolle spielt, ist offenkundig. Weniger deutlich scheint den Zeitgenossen zu sein, dass der Mensch durch die ihn selbst verpflichtende epistemische Objektivität seines Wissens längst die biologischen Schranken des sogenannten „Speziesismus“ durchbrochen hat.16 Denn das Wissen ist der „Sündenfall“. Er ist das Paradigma ursprünglicher Entfremdung, der wir – seit Adam und Eva – unsere Eigenart verdanken. Und zu ihr gehört, dass der Mensch sich selbst nach Art eines Objekts zu denken hat, welches nur in der schlüssigen Verbindung mit anderen Objekten Bestand haben kann. Folglich kann er sich in seiner Umwelt nur erhalten, solange er seine Existenz nach bestem Wissen und Gewissen an den Fortbestand seiner Umwelt knüpft. Und dass dies nicht egomanisch im Interesse nur eines Menschen oder bloß einer Interessenkonstellation erfolgen kann, wird bereits in den rationalen Leistungen des an Mitteilung gebundenen und nach Öffentlichkeit verlangenden menschlichen Bewusstseins deutlich: Es ist zwar individuell verfasst, braucht aber den ursprünglichen Bezug auf seinesgleichen. Und ein letzter Punkt bedarf der Erwähnung: Das individuell verfasste, gleichsam aus Mitteilung bestehende Bewusstsein erkennt allein darin Unterschiede zu seinesgleichen an. Und die damit gegebene Pluralität findet ihre Einheit nur im Bezug auf die Menschheit, der jedes menschliche Individuum, sofern es überhaupt etwas weiß, bereits selbsttätig zugehört. Das über das Wissen vermittelte exzeptionelle Weltver16

Dazu: Singer, 1994.

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hältnis des Menschen besteht also darin, im Bewusstsein seiner eigenen Individualität (und der darin stets mitbewussten Unzulänglichkeit und Irrtumsanfälligkeit) ursprünglich auf seinesgleichen ausgerichtet zu sein und die darin teils behobene, teils vertiefte plurale Differenz in der Gewissheit des notwendig begrifflichen Anspruchs seines Wissens auf eine Einheit zu setzen, in der alles zu verstehen ist. So befindet sich der Mensch zwischen Individualität, Pluralität und Universalität in einer Bewegung, die es ihm erlaubt, exemplarischer Teil der Menschheit zu sein. 8. Die Utilisierung der Welt. Nimmt man das Wissen in seinem jedem offenkundigen Ertrag, erscheint es so, als versachliche der Mensch in ihm seine Beziehung zur Welt, indem er sie in Dinge und Ereignisse einteilt, die er sich einzeln vornehmen und somit genauer betrachten und bearbeiten kann. Dann scheint es so, als lebten die anderen Lebewesen nur aus ihrem Affekt, während der Mensch es lernt, zu den Dingen auf operative Distanz zu gehen und sie damit intellektuell derart verfügbar zu machen, dass er sich schließlich selbst abwartend – teils berechnend, teils genießend – zurückhalten kann. Doch damit sind die Tiere unterschätzt, und der Mensch denkt, schon was seine Anfänge angeht, zu gut von sich. Der Springpunkt der spezifischen Intelligenz des Menschen liegt hingegen dort, wo er beginnt, das Feuer für seine Zwecke zu nutzen, Werkzeuge herzustellen, die er über Generationen hinweg einsetzen kann, und Zeichen zu verwenden, die zwar immer anders aussehen (je nachdem, ob sie auf einer Felswand, einem Baumstamm, einem Stück Leder oder auf einer Tonscherbe stehen), aber dennoch (das heißt: in der wahrgenommenen Differenz der Personen sowie der Dinge und Ereignisse) immer dasselbe bedeuten sollen. Schon das Verständnis eines Zeichens, das für ein Wild oder einen Speer steht oder vielleicht „Jagd“, „Beute“ oder „Kampf“ bedeutet, setzt eine beachtliche Beweglichkeit in der Anwendung des Mittels sowohl auf das Erkennen der Zeichen wie auch auf deren Anwendung voraus.17 Wir brauchen uns nur klar zu machen, dass jedes Tier, selbst in großen Herden, anders aussieht und dass Gefahren mal diese und mal jene Gestalt annehmen können (auch wenn sie uns gleichermaßen mit dem Tod bedrohen), um die Abstraktionsleistung bereits darin zu erkennen, dass wir etwas als etwas erkennen, so dass wir damit in der Lage sind, in immer wieder anderen Situationen den Eindruck zu haben, nun müsse etwas in aller Eindeutigkeit gesagt oder getan werden, das allgemein verständlich ist. Das aber ist der leichtere Teil der abstraktiven Übung, die sich der Mensch in der Verständigung mit seinesgleichen abverlangt. Größeres Gewicht hat die Tatsache, dass er die Dinge und Vorgänge, über die er spricht, selbst als Mittel seiner Kommunikation einsetzt. Die Absicht des Sprechers ist auf Verständigung gerichtet. Er will aufmerksam machen, er muss Bedrohliches beschwören oder er hat anzuzeigen, über 17 An diesen Beispielen wird deutlich, dass wir erst denken können müssen, ehe wir zu sprechen in der Lage sind. Das wird inzwischen durch zahlreiche Tierversuche bestätigt, in denen die (begriffsförmige) „Kategorisierung“ im Verhalten nachweisbar ist, ohne dass es bereits eine darauf gegründete (sprachförmige) Mitteilungsfähigkeit gibt.

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welche Fähigkeiten er verfügt oder was unter bestimmten Bedingungen von ihm und von anderen zu erwarten ist. Um aber dies mit der Präzision und in der Differenzierung zu tun, die der Entwicklungsstand seines schon von Natur aus arbeitsteilig organisierten Lebens erfordert, nutzt er die Welt selbst nach Art eines Mittels, mit dessen Hilfe er sich ins rechte Licht zu setzen und nach Möglichkeit auch seiner Gruppe nützlich zu sein vermag. Das gelingt nur unter der Voraussetzung der zum Wissen selbst gehörenden Öffentlichkeit. Damit aber ist es ein instrumentelles Weltverhältnis, das dem Menschen erlaubt, seine Fähigkeiten zu steigern. Und je mehr sich dem die Welt durch die Erfolge sowohl der organischen wie auch der mechanischen Techniken fügt, umso größer ist der Ertrag im immer weiter ausgreifenden Einsatz der Techniken. Nachdem das Feuer weitgehend beherrscht, die Gräser zu Getreide gezüchtet, die Hunde domestiziert, die Schweine depraviert, die Rinder sediert und die Pferde diensttauglich geworden sind, nachdem der Bergbau Materialen zutage fördert, die nicht nur die Waffen- und die Geräteproduktion revolutionieren, sondern auch dem Reichtum unerahnte Dimensionen eröffnen, der nur in größeren Kulturen vermehrt, genossen und gesichert werden kann, nimmt die Natur des Menschen neue Formen an, die sich zu Kulturen ausprägen, die, wie wir heute wissen, selbst die Evolution zu neuen Kunstgriffen nötigt. In den Anfängen ist noch offenkundig, wie sehr die Natur selbst das Mittel zu ihrer Überformung durch Kultur ist. Aber sehen wir die damit verbundenen technischen und politischen Innovationen: den Bau von Bewässerungskanälen, die Festlegung von Eigentumsverhältnissen, die Formalisierung der Heirats-, Scheidungs- und Erbschaftsregeln, die Besteuerung der Marktplätze und des immer dichter werdenden Warenverkehrs sowie die mit alledem eng verbundene Entstehung des Rechts und die erst mit ihm ihre Form gewinnende politische Herrschaft, dazu der Bau der Befestigungs- oder Bestattungsanlagen bis hin zu den ersten Institutionen der Ausbildung zum Schreiber, Maler, Bildhauer und Architekten für Land- und Schiffsbauten aller Art, schließlich die zunehmend auch institutionell betriebene Pflege der mathematischen und astronomischen, der medizinischen und theologischen Kenntnisse sowie am Ende die vom zunehmenden Wissen selbst evozierte kompensatorische Förderung der Lehr- und Verhaltenssysteme des religiösen Glaubens …, dann führt uns alles dies vor Augen, dass es dem Menschen gelingt, durch Funktionalisierung partieller Naturprozesse aller von seinem Handeln betroffenen Natur (wozu auch er selber gehört!) neue Formen abzugewinnen, die wir als Kultur bezeichnen, obgleich sie doch nur durch die Natur des Menschen verwandelte Naturverhältnisse sind. Auch die Kultur ist eine durch Instrumentalisierung der Natur auf dem Weg der Selbstinstrumentalisierung des Menschen gewonnene Form der Natur. Ihre wesentliche Differenz gegenüber der Natur gewinnt die Kultur dadurch, dass sie eine öffentliche Sphäre ausbildet, in der eine auf Wissen gegründete Verständigung möglich ist.

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Träger dieser Öffentlichkeit sind alle, die am gemeinsamen Wissen partizipieren, und das sind die Menschen, die in ihrer Gesamtheit die Menschheit bilden. 9. Verstehen heißt: Begreifen im menschlichen Zusammenhang. Das mag neu oder befremdlich klingen, ist aber durch die von Kant in Anspruch genommene kopernikanische Wende in der Metaphysik längst zum selbstverständlichen Topos geworden. Jeder Studierende der Philosophie, gesetzt er macht sich mit der Geschichte seines Fachs wenigstens oberflächlich vertraut, kennt die berühmten Sätze aus der zweiten Vorrede zur „Critic der reinen Vernunft“,18 in denen Kant erklärt, was er aus dem Perspektivenwechsel der Astronomen lernt: „Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a priori etwas von ihr wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.“ (CV, B XVII)19

Warum aber sollten, so frage ich in einer gänzlich unkantianisch erscheinenden Art, die Gegenstände sich nach uns (und unserem Anschauungsvermögen) richten, wenn es uns im Wissen anscheinend um nichts anderes geht als um die korrekte Erfassung der Gegenstände durch unser Wissen? Weil, so antworte ich nur scheinbar abweichend von Kant, es im Wissen gar nicht primär um die exakte Wiedergabe der (an sich selbst betrachtet gar nicht zugänglichen) Gegenstände gehen kann. Es geht vielmehr um die mithilfe des Wissens bewältigte Verständigung der Menschen untereinander. Der angeblich so „monologisch“ verfahrende Kant hat dafür selbst die Formel geliefert, als er am 1. Juli 1794 seinem Schüler Jacob Sigismund Beck die in der Tat nicht auf Anhieb verständliche transzendentale Leistung des alles Wissen allererst produzierenden, alles selbst „machenden“ Verstandes mit einem Wort erläutert, das mich auch mit meiner scheinbar so kantfernen Deutung Kantinaner bleiben lässt: Die transzendentale Leistung des Verstandes liegt dann (wohlgemerkt nach Kants eigener Aussage!) darin, die Dinge „communicabel zu machen“.20 Das heißt: Wir wissen nicht um des Wissens willen, sondern weil wir mit dem Wissen etwas erreichen, das anders nicht zu haben ist: Das Wissen dient der Verständigung. Dem Denkenden und Sprechenden kommt es darauf an, sich mitzuteilen, und die Gegenstände seines Wissens, auf die sich seine Mitteilung bezieht, sind für den Verstand lediglich das Vehikel, das die Mitteilung sachhaltig und gehaltvoll werden lässt. Das „Ich denke“, das dem Akt der Vorstellung und des Wissens seinen Stellen18 Das ist die neue Schreibweise, die mit der alsbald erscheinenden Neuausgabe der drei Kritiken Immanuel Kants üblich werden wird. Abkürzung: CV. 19 Im Satz zuvor hatte er gesagt: Die Astronomen kamen endlich voran, als sie nicht länger annahmen, „das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer“; sie gingen vielmehr von der entgegengesetzten Prämisse aus, dass „der Zuschauer sich drehen, und dagegen der Sterne in Ruhe“ gelassen werden. 20 Kant, 1900: 515 (Brief an Beck vom 1. 7. 1791).

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wert gibt, „erfindet“ den Sachgehalt der Mitteilung nicht, sondern verbürgt ihn gegenüber jedem, der ebenfalls „ich denke“ sagen (und denken!) kann. Diese Kommunikationsgemeinschaft der „ich“ denkenden und „ich“ sagenden Individuen wird von Kant unablässig durch das Personalpronomen „wir“ kenntlich gemacht. Und dieses „Wir“ ist nur ein unscheinbarer Ausdruck für das, was auch höchst anspruchsvoll als das „Reich vernünftiger Wesen“ oder – in der Beschränkung auf leibhaftige Vernunftwesen – durchaus bescheidener als „Menschheit“ bezeichnet werden kann. Es ist also der nicht einfach unterstellte, sondern kulturell durchaus gegenwärtige Kontext der Menschheit, um die es im Wissen geht. Sie ist der Zusammenhang, der das Wissen verbindlich macht. Und das ist ihr nur möglich, wenn sie in jedem Ich, das sich notwendig als exemplarisches Moment eines Wir begreift, immer schon wirksam ist. Die Menschheit muss somit bereits in der Person eines sich mithilfe des Wissens verständigenden Menschen präsent sein, wenn er auf Verständnis hoffen können soll. Es ist hier nicht der Ort, um zu zeigen, dass diese Deutung vorzüglich zu Kants kohärentistischer, ganz auf die innere Stimmigkeit von Urteilen bezogener Wahrheitsauffassung passt; es braucht auch nicht vorgeführt zu werden, wie gut sich diese Auffassung in die motivationale Dynamik der Vernunftkritik fügt, die schließlich auch die dialogische Konzeption der Dialektik der reinen Vernunft zu tragen in der Lage ist.21 Es genügt vollkommen, auf den Umstand aufmerksam zu machen, dass mit der ursprünglich kommunikativen Anlage des Verstandes dem menschheitlichen Rahmen, in dem sich die sachhaltige Vernunftkonzeption entfaltet, eine eminente epistemische Funktion zukommt. So liegen die Kriterien für die Bedeutsamkeit einer sachhaltigen Mitteilung im Selbstverständnis der Menschen, die sich als Teile der Menschheit verstehen müssen, um überhaupt etwas zu verstehen. Man wird also eine Theorie des Erkennens und des Wissens niemals vollständig nennen können, wenn sie nicht durch eine Darstellung der vorgängigen humanen Struktur, in der die theoretischen Leistungen des Menschen allererst Bedeutung und Gewicht erlangen, abgeschlossen ist. Das ist mein erstes Argument für eine philosophisch grundlegende Theorie der Menschheit. 21

Und von denen, die im 20. Jahrhundert gegen Kant auftreten und ihn mit einer Theorie des kommunikativen Handelns zu überbieten suchen, muss hier erst recht keine Rede sein. Im größeren Rückblick ist Hegel der einzige, der Kant in dem hier skizzierten Verständnis nahe bleibt. Nietzsche sucht sich selbst zu einer solchen Einsicht durchzuschlagen, ohne die geringste Ahnung zu haben, wieviel weiter Kant vor ihm schon war. Erst Ernst Cassirer und John Dewey (und der fast vergessene Paul Alsberg) haben in diese Richtung weitergedacht, während sich Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns den Rückgriff auf Kant verstellt, weil er ihn für „monologisch“ hält und die funktionale Leistung des Transzendentalen verkennt – vermutlich weil er die für sie grundlegende Instrumentalisierung der menschlichen Weltbeziehung abwehren möchte.

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10. Das geschichtliche Verhängnis unter dem Anspruch der Humanität. Gute Argumente macht man nicht besser, indem man weitere hinzufügt. Aber es gibt den Gesichtspunkt der Vollständigkeit, der mich veranlasst, in aller Kürze einen zweiten Grund zu nennen, der eine Komplettierung klassischer Theorieansätze durch eine Theorie der Humanität verlangt. Dass ich darüber hinaus noch weitere Argumente aus dem Kontext der Anthropologie, der Kultur- und der Geschichtstheorie, der Philosophie der Technik, des Rechts und der Kunst anführen könnte, bitte ich, mir einfach zu glauben. Vollständigkeit ist auf so knappem Raum ohnehin nicht zu erzielen, und so beschränke ich mich auf einen weiteren Grund, der dann auch zu erkennen gibt, welchen ethischen Ertrag ich mir von einer Theorie der Humanität erhoffe. Das zweite Argument für die Unverzichtbarkeit dieser Theorie ist bereits im Titel auf eine Formel gebracht: Sie besteht aus einem leicht abgewandelten Zitat aus der, nach meinem Urteil, treffendsten Formulierung des Kategorischen Imperativs Kants. Die vollständige Fassung lautet: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“22

Angesichts des systematischen Gewichts dieser Formel braucht nicht eigens gesagt zu werden, dass eine kritische Ethik unvollständig bleibt, solange sie nicht erläutern kann, was Menschheit heißt, wie sie mit dem Begriff der Person zusammenhängt und wie es zu denken ist, dass die Menschheit überhaupt in der Person eines einzelnen Menschen gewahrt werden kann. Allein so zu fragen, macht bewusst, dass die zentrale Bestimmung des Begriffs der Menschheit schwerlich in den Durchschnittseigenschaften der Gesamtheit aller Menschen gefunden werden kann. Denn weiter als bis zur Maßgabe der Fähigkeit, eigene Gründe zu haben, wird man hier nicht kommen. Man kann zwar nach dem Vorbild der bis auf Cicero zurückgehenden Kriterienkataloge der Humanität alle Anlagen zur Mitmenschlichkeit, zum Mitgefühl, zum Staunen, zur Liebe, zur Begeisterung für und durch die Kunst, zur Hingabe an das Spiel und die Kraft der Phantasie zur Aufzählung bringen,23 und man darf überzeugt sein, dass alles dies in einer Theorie der Humanität seinen systematischen Platz finden muss. Man darf andererseits aber nicht übersehen, dass diese Fähigkeiten von niemand anderem als dem Menschen mit all dem Wissen, dem Können, mit der ihm eigenen abgründigen Phantasie, ja nicht selten sogar mit einer diabolisch verkehrten Form von Liebe ins Gegenteil umschlagen und die schrecklichsten Verwüstungen bereits in den Gemütern der Menschen anrichten können – von dem real existierenden Unglück, das sie unablässig über die Menschheit bringen, ganz zu schweigen. Das Grauen, das im Namen der Menschheit ohne Unterbrechung tagtäglich angerichtet wird, ist ungeheuerlich und macht es den Autoren in der Nachfolge Nietzsches 22 23

Kant, 1978: 429. Dazu knapp und treffend: Schulze-Berndt, 2014.

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leicht, vor dem Humanismus zu warnen und ihre entmutigende Aufzählung der menschlichen Schwächen und Bosheiten ins Unabsehbare zu verlängern. Dass der Mensch das schrecklichste aller Ungeheuer ist, haben schon die antiken Tragiker ihrem Publikum vor Augen zu führen gewusst. Die etwa gleichzeitig in Schriftform gebrachten biblischen Geschichten vom Sündenfall und Brudermord, von der Sintflut, von Sodom und Gomorrha bis hin zum späteren Geschehen der Kreuzigung lassen ebenfalls das Schlimmste vom Menschen befürchten. Und niemand wird behaupten wollen, die Geschichte der Menschheit habe ihre Anfänge widerlegt. Richtig ist vielmehr, dass es dem 20. Jahrhundert gelungen ist, alle vor ihm verübten Schreckenstaten in den Schatten zu stellen. Und die Kriege, mit denen das angebrochene 21. Jahrhundert bereits in seinen ersten Jahren begonnen hat, verheißen wenig Gutes. Das Menschenrecht, auf das wir im Namen der Menschheit setzen, reicht für sich noch nicht einmal aus, wenigstens Frieden zu sichern. Wie bedrohlich das ist, muss jedem klar sein, der weiß, dass die den inneren wie den äußeren Frieden bedrohenden Konflikte tagtäglich zunehmen: die sich ausbreitende Armut, die andrängende Ressourcenknappheit, die Verseuchung von Boden, Luft und Meer und die jeder Vernunft widersprechende Tatsache, dass sich Menschen nicht nur aus Berechnung, sondern auch im guten Glauben an soziale oder religiöse Ziele fanatisieren lassen. Damit bleibt oft nur die gestammelte Alternative zwischen dem „Nie wieder“ und der immer neuen Anlass findenden Verzweiflung an uns selbst. Ein Bericht aus einem der zahllosen Vernichtungslager des 20. und des 21. Jahrhunderts genügt, um uns zur unbedingten Parteilichkeit für den Humanismus entschlossen zu machen; er kann aber auch jede Berufung auf die Humanität verstummen lassen.24 Damit ist angedeutet, dass der Mensch, der, sofern er etwas von sich weiß, immer auch auf den Selbstbegriff der Menschheit angewiesen bleibt, sich mit diesem Selbstbegriff von Anfang selbst ein Problem gewesen sein muss. Ein Mensch zu sein, stellte in jedem Fall eine besondere Gefährdung für den Menschen selber dar, weil sich die Macht, die er im Wissen über seine Welt gewinnt, immer auch gegen ihn selbst zum Einsatz bringen lässt. Dafür geben die Waffen und die Kriege Beispiele genug. Aber auch die ungeahnten Lebensmöglichkeiten, die sich dem Menschen mit seiner Zivilisierung eröffnen, potenzieren die Gefahren, unter denen er lebt. Nehmen wir die personale Labilität der Individuen und die kollektiven Hysterien ihrer Kollektive hinzu, gibt es Anlass genug, das Bewusstsein, ein Mensch zu sein, nach Art einer Erbschuld zu erfahren. Unter dem Selbstanspruch der Humanität lässt sich leben wie unter einem Fluch: Genügt man dem Anspruch nicht, ist man gescheitert; kommt man ihm nahe, befördert man das Verhängnis, dem der Mensch umso weniger entgeht, je mehr ihm im Zeichen seiner großen Ziele gelingt. Am Ende der geschicht24 Der vor achtzig Jahren, am 19. Juli 1934, im KZ Ravensbrück befohlene, aber nicht zu erzwingende Selbstmord Erich Mühsams ist ein solches Beispiel: Die Bewacher haben den Mord verübt und dann versucht, einen Selbstmord vorzutäuschen.

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lichen Zeit erweist sich auch das Größte als hoffnungslos. Denn mit was, das sich in geschichtlicher Zeit erreichen lässt, sollte der Mensch jemals zufrieden sein? Heute kommen die globalen Rückwirkungen der entfesselten Macht des Menschen hinzu. Etwas davon glauben wir mit wachsendem Schrecken vorher sehen zu können. Nehmen wir die Tatsache hinzu, dass wir den größeren Teil des von uns in Gang gesetzten Unheils noch nicht einmal ahnen können, müsste es uns schier unmöglich erscheinen, wissentlich weiter zu leben. Nietzsche nahm daher an, dass die einzige Folge des durch die Wissenschaft freigesetzten Wissens, der kollektive Selbstmord der Menschheit sein könne.25 11. Die ethische Unverzichtbarkeit der Humanität. Alles das, was dem Schrecken eine begriffliche Form und dem kommenden Unglück den Charakter einer Gewissheit gibt, hängt an unserer Fähigkeit zu wissen. Gesetzt, dieses Wissen ist die unumgängliche Art, in der wir uns mit uns und unseresgleichen über die von uns nicht nur vorgefundene, sondern im Handeln benötigte und in jedem Erfolg verfügbar gemachte Welt verständigen, kommen wir um den Bezug auf die Menschheit nicht umhin. Und nur sofern wir uns auf der Höhe dieses gleichermaßen individuellen wie universellen Selbstbezugs befinden, können wir überhaupt mit uns zufrieden sein. Und diese Chance wird uns in der Ethik selbst zur – humanitären – Pflicht gemacht. Wie das zu verstehen ist, wird in der zitierten Fassung des kategorischen Imperativs vor Augen geführt: Jeder hat die Menschheit, die bereits im Selbstverständnis seiner Person angelegt ist, in jedem anderen Menschen so zu achten, wie er es in sich selber tut, sobald er sich in seinem Handlungsanspruch ernstnimmt. Jeder hat jeden so zu achten wie sich selbst – und eben damit erfüllt jeder den Anspruch der Menschheit, die es allererst erlaubt, irgendetwas ernst zu nehmen – ganz gleich, ob es sich, um eine erkennbare Gefahr oder ein vermeidbares Verbrechen, um eine Herausforderung in der Erziehung oder nachbarschaftliche Hilfe, in Wissenschaft oder Kunst oder um die Erfüllung eines gegebenen Versprechens handelt. So nimmt die Ethik den epistemischen Selbstanspruch des Menschen auf, weitet ihn aus auf die ganze Person und gibt ihm einen existenziellen Charakter, der alle Kräfte des Menschen einbezieht, ohne auf ein Wissen von der Zukunft angewiesen zu sein. Es ist auch nicht nötig, alles über den Menschen zu wissen. Es genügt, wenn sich der Einzelne als exemplarisch für die Menschheit versteht, in deren Rahmen sich alles vollzieht, was für ihn von epistemischer und praktischer Bedeutung ist. Dazu gehören, bei aller Betonung des Wissens, auch die Empfindung und das Gefühl. Dass es mit Blick auf das politische und kulturelle Handeln auf den Bezug ankommt, der andere in ihren menschlichen Fähigkeiten einbindet, und sie in ihren humanen Erwartungen anspricht, bedarf keiner besonderen Betonung. Der Politiker und der Künstler können, wie der Erzieher und der Forscher, nur solange in ihren Leistungen auf Zustimmung und Anerkennung setzen, wenn sie sich der Gemeinschaft verpflichten, in deren Namen sie tätig sind. Sie erfüllen ihre Aufgaben nur 25

Nietzsche, 1999a: 100 (Aphorismus 15).

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dann, wenn sie sich als Partizipanten und Repräsentanten einer Gesellschaft verstehen, zu der sie als Menschen gehören. Dabei kann der jeweils gezogene Handlungsrahmen größer oder kleiner sein: Wenn die Zweifel an der Legitimation ihrer Tätigkeit durchdringend sind, kann die Rechtfertigung ihres Tuns nur in der Bemühung liegen, der Menschheit, der sich jeder in seiner Person verbunden fühlt, auch in der Wahrnehmung seiner Aufgabe gerecht zu werden. Verlangt aber der Mensch unter den durch seine Zeit, seine Person und durch sein Wissen stets eingeschränkten Bedingungen nach einer größeren Gewissheit im eigenen Selbst- und Weltverständnis, bleibt ihm der ohnehin in jeder Lebenslage unverzichtbare Begleiter des Wissens. Und das ist der Glauben, der uns auf das Wissen vertrauen lässt und der uns leitet, wo immer das Wissen an seine Grenzen stößt.26 Dieser Glauben erreicht seinen höchsten Ausdruck in seiner religiösen Form, wenn er von selbstbewussten Individuen auf das Ganze ihrer Welt bezogen ist, die ihnen mehr bedeutet als die Welt in ihren Teilen bieten kann. In dieser Form kann der Glauben, trotz des Missbrauchs, der mit der Religion fortwährend betrieben wird, auch philosophisch gerechtfertigt werden.27 Aber es wäre zu wenig, den Glauben nur auf das Göttliche des uns tragenden Ganzen zu beziehen. Wir brauchen den Glauben ebenso wie die mit ihm auf das Engste verbundene Hoffnung, um unter den allemal unzureichenden Bedingungen überhaupt zurechnungs- und handlungsfähig zu sein. Wie wollen wir hoffen können, dass es wenigstens für die aktuell andrängenden Probleme des Daseins eine Lösung geben kann? Wie wollen wir im Ernst annehmen, dass es in dieser oder jener Frage auf uns selbst ankommt, wenn nicht wenigstens ein Vertrauen in das Wissen gegeben ist, das uns Hindernisse und Hilfsmittel erkennen lässt? Dabei mag es existenzielle Lagen geben, in denen sich alles auf den eigenen Ausweg, auf das eigene „Heil“ konzentriert. Aber bereits die Mittel, auf die sich der Einzelne in einer solchen Lage stützt, teilt er mit seinesgleichen. Und das Ziel, das ihm dabei vorschwebt, mag sein, welches es wolle: Es kann für das Individuum nur Bedeutung haben, wenn er sich darin in seinen menschlichen Eigenschaften wahrgenommen und anerkannt fühlt. So bleibt der Mensch, selbst dann, wenn er nicht umhin können sollte, nur sein Glück einzufordern oder auf seine Erlösung zu hoffen, ein Repräsentant der Menschheit, für die er, ob er es will oder nicht, exemplarisch ist. 12. Ausblick aus geschichtlicher Perspektive. Es gibt ein Bild, das ein Fotograf ungefähr von der Stelle aus gemacht hat, an der ich jetzt stehe. Es zeigt den Saal, in dem wir uns befinden – nur völlig ausgebrannt. Die Wand zum Treppenhaus ist weggebrochen, die Fenster sind herausgesprengt, und darüber haben die Bomben die Sicht auf den Himmel freigelegt. Wir alle kennen die Ursachen der absurden Zerstörung und wissen von der Schuld, die uns als Deutsche bis heute in Mitleidenschaft

26 27

Siehe dazu: Gerhardt, 2014a. Dazu Gerhardt, 2014a.

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zieht. Also habe ich Grund, mich darüber zu wundern, dass ich es keine siebzig Jahre später an dieser Stelle wage, von Humanität zu sprechen. Doch im Frühjahr 1945, als alles noch so war, wie es das Foto zeigt, hatte der damals zuständige kommissarische Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin täglich zu Fuß von Zehlendorf durch die Trümmerlandschaft bis unter die am Stamm verbrannten Linden zu gehen, um seinen Dienst unter der Kommandantur der Roten Armee zu versehen. Es war ein Philosoph, der zu Beginn seiner Karriere als Begründer der Berliner Pädagogik ein hellsichtiges Buch über „Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee“ geschrieben hatte.28 Er nahm die weltgeschichtliche Theorie-Innovation Wilhelm von Humboldts auf, der die Vielfalt der Individuen als solche zu einer politischen und moralischen Forderung erhoben hatte. Und so vermochte der per Dekret zum Rektor ernannte Denker die einzelne Person als das Subjekt der Menschheit und als exemplarischen Träger der Menschlichkeit auszuweisen.29 Ich spreche von Eduard Spranger, der 1933 nicht zum Widerstandskämpfer geworden war, aber zusammen mit seinem berühmteren Kollegen Nicolai Hartmann (der es sich immerhin erlauben konnte, die Ideologie der Nationalsozialisten als philosophisch unerheblich zu bezeichnen) konnte er wenigstens dazu beitragen, dass am Philosophischen Seminar, neben den bis heute berüchtigten Ideologen der bis dahin noch einzigen Berliner Universität, weiterhin Philosophie betrieben werden konnte. Im Frühjahr 1945 hatte Spranger die Gelegenheit, durch eigenes Handeln auch politisch deutlich zu machen, dass die Menschheit trotz allem nicht verloren ist. Angesichts der Verwüstung dieser Universität, dieser Stadt und dieses Landes hat er den Anspruch auf wissenschaftliche Lehre und eben damit auch auf die Humanität nicht aufgegeben und mit größter Eindringlichkeit dafür geworben, dass es die Individuen sind, dass es jeder Einzelne ist, der ein Zeugnis für die Menschheit in seiner Person abzulegen hat. Als ihm die sowjetische Militärverwaltung die Bemühung um den Aufbau einer freien Wissenschaft jedoch zunehmend erschwerte, sah sich Spranger genötigt, einem Ruf nach Tübingen zu folgen, wirkte aber über seinen letzten Berliner Assistenten daran mit, die Freie Universität zu gründen. Dieser Assistent, Hans-Joachim Lieber, später, im Widerstand gegen die Studentenrebellion, ein legendärer Rektor der Freien Universität, war mein Kölner Vorgänger. Ihn konnte ich 1995 zum Goldenen Doktorjubiläum nach Berlin in das Gebäude einladen, das zum Zeitpunkt seines Rigorosums bereits so aussah, wie das Bild es zeigt. Dass zu diesem Jubiläum einige seiner schärfsten Kontrahenten von 1968 kamen, zeigt, wie auch der versöhnliche Umgang mit der Geschichte zu den Elementen eines humanen Selbstverständnisses gehören kann.

28 29

Spranger, 1909; ders., 1910. Dazu: Gerhardt/Mehring/Rindert, 1999: 229 ff. Siehe auch: Spranger, 1923.

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Der historische Rückblick von dieser Stelle aus erspart es meinen Hörern und mir, die Kantische Formel von der „Menschheit in der Person eines jeden Menschen“ des Näheren zu erläutern. Kant selbst hat wenig Interesse gezeigt, dieser Pointe des kategorischen Imperativs eine Legende beizugeben. Zwar finden wir in seinen geschichts-, kultur- und politiktheoretischen Schriften manchen Aufschluss über den Stellenwert der Menschheit in der kritischen Philosophie; doch die Erläuterung zum Verhältnis von Person und Menschheit trägt er erst sieben Jahre später in seiner Religionsphilosophie nach. Dort weist er dem Menschen drei Sphären seiner stets gegebenen Wirklichkeit, Wirksamkeit und Geltung zu. Und das sind die Tierheit, die Menschheit und die Persönlichkeit: Das animalische Moment der Tierheit gehört uns allen notwendig zu. Es lässt uns nicht vergessen, dass wir Naturwesen sind (und sorgt dafür, dass wir nach dem langen Sitzen gleich gern auch wieder stehen). Das menschheitliche Moment kommt auf der Ebene der Kultur zur Geltung. Hier kultiviert der Mensch durch eigene Leistung die unumschränkte instrumentelle Einbindung in den Lebenszusammenhang und bereichert ihn auf dem Weg der Arbeitsteilung und der Ausdifferenzierung eigener Interessen derart, dass es sogar Abschiedsvorlesungen mit einem sich anschließenden Umtrunk geben kann. In der bewusst gesuchten Erfüllung eigener Ansprüche entdeckt der Mensch, dass er bei aller Einbindung in den natürlichen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhang im eigenen Wollen einen Anfang setzt, der ihn der Unterwerfung unter die gegebenen und auch gewünschten Mittel-Zweck-Relationen allein dadurch entzieht, dass er von sich aus darüber nachdenken, entscheiden und mit seinem aus eigenen Gründen stammenden Impuls seinen eigenen Anfang mit seinen eigenen Zielen setzt. Das ist die praktizierte Autonomie, die schon im ersten „Nein“ eines jungen Menschen zum Durchbruch kommt. Sie macht für ihn wie auch für die Erzieher deutlich, dass er selbst niemals bloß Mittel für andere und anderes ist, sondern sich seine eigenen Zwecke setzt. Und nur in ihnen erfährt er sich als frei und selbstbestimmt und damit selbst als Zweck, in dem er seine Würde hat. Dieses Bewusstsein freier Selbstbestimmung zu eigenen Zwecken ist das Signum der Persönlichkeit, die sich, sosehr sie sich vom gesellschaftlichen Leben in Anspruch nehmen lässt und dabei in vielfältiger Hinsicht (und nicht selten mit größtem Vergnügen, etwa wenn man als Philosoph und Hochschullehrer, als Beamter und mündiger Bürger leben kann), aber stets aus eigener Einsicht und in freier Disposition der eigenen Kräfte das tut, was man für richtig hält, weil man notfalls seine eigenen Gründe dafür nennen kann. Für eine Theorie der Humanität lassen sich aus diesem Selbstverständnis drei Schlussfolgerungen ziehen, mit denen ich für heute definitiv am Ende bin: Erstens kann man der natur- und kulturgeschichtlichen Formation, die wir Menschheit nennen und der wir in unserer natürlichen, gesellschaftlichen und geis-

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tigen Konstitution nahezu alles verdanken, aus eigenem Entschluss dienstbar und verantwortlich sein. Zweitens sind wir als Person oder Persönlichkeit nicht davon abhängig, ob das, was aus unserem Lebensbeitrag im künftigen, von uns selbst individuell gar nicht mehr erlebten Gang der Menschheitsentwicklung eines Tages wird, auch wirklich so eintrifft oder nicht. Warum sollten wir der kommenden Entwicklung, die wir natürlich zu fördern wünschen, geschichtsphilosophisch vorgreifen wollen? Welche Anmaßung, ganz gleich ob wir Untergangsszenarien oder Utopien ausmalen, unseren Nachkommen nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre womöglich bessere Einsicht nehmen zu wollen! Als an der Zukunft konstitutiv interessierte Zeitgenossen haben wir uns als Personen auch gegenüber dem Kommenden als Zweck an uns selbst zu erweisen. Also haben wir die Zufriedenheit im eigenen Dasein zu den Zielen zu rechnen, die uns vornehmlich im Alter zieren. Drittens können wir in ethischer Perspektive kaum etwas Besseres erreichen, als unseresgleichen ein Beispiel zu geben! Wenn es so ist, dass nur der Einzelne (und niemand sonst) die Kriterien und Ziele der Menschheit vorgibt, dann hat er seine vornehmste Aufgabe darin, als selbstbestimmtes, aus eigener Einsicht handelndes Individuum – gerade auch in den nebensächlich erscheinenden Fragen des Lebens – seinesgleichen ein Beispiel zu geben. Mindestens wenn es darauf ankommt, hat er sich zu bemühen, exemplarisch zu sein und Individualität, Pluralität und Universalität im eigenen Dasein zu verbinden. Unter diesem Anspruch steht der Mensch, wie gesagt, auch im Alter – selbst nachdem er mit der Länge seiner Abschiedsvorlesung ein eher schlechtes Beispiel gegeben hat. Umso mehr danke ich allen für die liebenswürdige Aufmerksamkeit. Literatur Akademischer Senat der Humboldt-Universität zu Berlin (2010): Konsequenzen aus der Kritik: Die Humboldt-Universität fordert eine Revision der Bologna-Reform. Beschluss vom 27. April 2010. Crutzen, Paul J. (2002): Geology of Mankind: The Anthropocene. In: Nature, 415, 2002, S. 23. Gerhardt, Volker/Mehring, Reinhard/Rindert, Jana (1999): Berliner Geist: Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Berlin: Akademie Verlag. Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung: Das Prinzip der Individualität. Stuttgart: Reclam. – (2007): Partizipation: Das Prinzip der Politik. München: C.H. Beck. – (2012): Öffentlichkeit: Die politische Form des Bewusstseins. München: C.H. Beck. – (2014a): Der Sinn des Sinns: Versuch über das Göttliche. München: C.H. Beck. – (2014b): Die Öffentlichkeit des Bewusstseins. In: Kühnlein, Michael (Hrsg.): Das Politische und das Vorpolitische: Über die Wertgrundlagen der Demokratie. Baden-Baden: Nomos, S. 471 – 493.

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Nachruf auf Iring Fetscher Von Herfried Münkler Iring Fetscher, Jahrgang 1922, hat sich, wie viele seiner Generation, nach dem Abitur als Berufssoldat zur Wehrmacht gemeldet. Von der dort eingeübten „preußischen Selbstdisziplin“ ist ihm auch später einiges erhalten geblieben. Wiewohl ihm administrative Aufgaben nicht sonderlich lagen, hat er, wenn die akademische Selbstverwaltung „rief“, Aufgaben, wie die eines Dekanats, bereitwillig übernommen und dafür seine wissenschaftlichen und schriftstellerischen Interessen zurückgestellt. Von der Geburt in Marbach her Schwabe, aufgewachsen und zur Schule gegangen in Dresden, also sächsisch sozialisiert, in Potsdam stationiert, also borussisch „nachsozialisiert“, seit 1945 in Tübingen mit längeren Aufenthalten in Frankreich studierend, hat Fetscher recht unterschiedliche landsmannschaftliche Einflüsse in sich verbunden. 1963 auf eine Professur für Politische Wissenschaft an die Goethe-Universität Frankfurt am Main berufen, hat er das akademische Klima und die Umgangsformen dort bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1987 in hohem Maß mitgeprägt – in der Zeit der Studentenbewegung ebenso wie in der anschließenden Phase studentischer Aktivistengruppen, und dabei hat er sich darum bemüht, den akademischen Freiraum nach beiden Seiten offen zu halten: zur offenen und engagierten Auseinandersetzung über politische Fragen, ebenso aber auch zur Arbeit an Thema und Stoff, denen seine Lehrveranstaltungen gewidmet waren. Dabei hat er die politische Ideengeschichte, der er sich in besonderem Maße verbunden fühlte, immer wieder mit aktuellen politischen Fragen und Herausforderungen verbunden und dabei einen eigenen Stil der politischen Analyse entwickelt. Ihm ging es darum, politische Ideengeschichte nicht nur als Bildungsgut, sondern auch als Instrument der politischen Analyse zu begreifen – und zu nutzen. Fetschers Wirken beschränkte sich nicht auf die Tätigkeiten eines Hochschullehrers, sondern er war auch Autor politiktheoretischer Bücher und Aufsätze und ein öffentlicher Intellektueller, der sich in die politischen Kontroversen der Republik einmischte und Position bezog. Die für die politisch-intellektuelle Kultur der Bundesrepublik wichtigsten und für lange Zeit prägenden Spuren hat Fetscher in seiner Auseinandersetzung mit Marx und dem Marxismus hinterlassen. Es ging ihm darum, Marx aus den Fesseln des Marxismus zu befreien und ihn wieder als originellen, kritischen und vielfältig anschlussfähigen Denker sichtbar zu machen. Dabei hat er auf der einen Seite die Kontroverse mit der marxistischen Orthodoxie des Sowjetkommunismus geführt und auf der anderen Seite in Auseinandersetzung vor allem mit

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französischen Autoren der deutschen Marxforschung im internationalen Rahmen wieder einen anerkannten Platz verschafft. Iring Fetscher hatte ein feines Gespür für Autoren, die für eine bestimmte Deutungstradition gefangen genommen worden waren, gegen die er einen offeneren und weiteren Interpretationshorizont durchzusetzen versuchte. Das gilt nicht nur für Marx, sondern auch für Rousseau, den er als radikaldemokratischen Autor gelesen wissen wollte, anstatt ihn als Stichwortgeber für den Großen Terror in der Französischen Revolution oder Urvater des Totalitarismus zu rubrizieren. Auch Thomas Hobbes, der in Deutschland lange als geistiger Parteigänger des autoritären Staates galt, ist von Fetscher als ein im Kern liberaler Theoretiker begriffen worden, wobei Fetscher den Blick von den Befugnissen des Souveräns weg- und dem Vertrag freier Menschen als Gründungsakt des Staates zugewandt hat. Immer wieder hat dieser starke Rekurs auf die Geschichte der politischen Ideen auch den Stil seiner Interventionen als öffentlicher Intellektueller geprägt. Positionen, die man in öffentlichen Debatten bezieht, müssen argumentativ begründet werden, und der von Fetscher dabei beschrittene Weg war die kritische Auseinandersetzung mit den großen politischen Theoretikern: Eine Stellungnahme, die deren kritischem Einspruch standhielt, konnte sich auch öffentlich sehen lassen – das war Iring Fetschers Credo als „public intellectual“. Bei alldem hatte Iring Fetscher einen ausgeprägten Sinn für Ironie. Er schätzte nicht nur die Autoren in den Geschichte des politischen Denkens, die ihre Überlegungen mit gelegentlichen ironischen Distanzen vortrugen – Jonathan Swift oder auch Bernard Mandeville waren hier seine Lieblingsautoren –, sondern bediente sich auch selbst gern dieses Stilmittels, das für ihn zugleich ein Erkenntnisinstrument war: Am bekanntesten geworden ist sein kleines Buch „Wer hat Dornröschen wachgeküsst“, in dem er die Märchen der Brüder Grimm in einer munteren Mischung aus psychoanalytischen und marxistischen Deutungsansätzen, den vorherrschenden Ansätzen im Frankfurt der 1960er und 1970er Jahre, gleichermaßen verwirrte und neu ordnete und dabei nicht nur den Märchen eine neue Bedeutung hinzuerzählte, sondern auch den Gestus bittersten Ernstes, mit dem der Marxismus und die Psychoanalyse damals von ihren Anhängern zelebriert wurden, ins Spielerische der Deutungslust zurückholte. „Arbeit und Spiel“ hat Fetscher eine seiner Aufsatzsammlungen betitelt. Das war für ihn selbst programmatisch: In einer spielerisch gehandhabten Hermeneutik realisierte sich die Liberalität seines Denkens. Am 19. Juli 2014 ist Iring Fetscher, der dem Beirat der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens angehörte, im Alter von 92 Jahren in Frankfurt verstorben.

II. Schwerpunktthema „Methodenfragen“

Über das „Verstehen“ in der Geschichte politischer Ideen Von Peter Nitschke I. Jenseits von Gadamer Die Hermeneutik spielt bekanntlich für die Interpretationen in der Politischen Ideengeschichte eine zentrale Rolle. Ohne die Beachtung hermeneutischer Grundregeln kommen hier keine sinnvollen Aussagen zustande. Das gilt auch für die Politische Theorie bzw. die Philosophie, wenn diese sich spezifisch politisch äußert. Auffallend ist jedoch, zumindest wenn man den deutschsprachigen Wissenschaftsraum betrachtet, dass seit dem paradigmatischen Epochenwerk von Koselleck und Co. zu den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ keine nennenswerte Auseinandersetzung mit und über die Grundlagen der Hermeneutik zur Politischen Ideengeschichte mehr stattgefunden hat.1 Auch andere Ansätze, sei es die Diskurstheorie von Foucault oder die geschichtshistorischen Interpretamente der „Cambridge School“ haben in Deutschland entweder sehr verspätet eine (geringe) Resonanz oder aber eine weitest gehende Ignoranz erfahren.2 Das ist verwunderlich, denn stets wird in der Politischen Ideengeschichte auf die heuristisch bedeutsame Funktion des historischen „Denkund Erfahrungshorizont[es]“ verwiesen,3 der durch das Studium speziell der politischen Ideen in der Geschichte von Theorien und ihrer jeweiligen Auswirkung in der historischen Wirklichkeit zustande kommt. Hierbei wird unterstellt, dass damit (a) die Interpretation für die betreffenden Theorien und Theoreme eine Sinnerweiterung bekommen – und (b) dass solchermaßen auch die je aktuelle Wirklichkeit mit einer heuristisch erweiternden Option für die Analyse bestehender Probleme und Strukturen vermittelt wird. Allerdings wird hiervon systematisch wenig Gebrauch gemacht. Das gilt nicht nur für die Politische Theorie in Deutschland, sondern eben auch für die Politische Philosophie, obwohl doch gerade diese beiden Sparten in der Erörterung des Politischen bzw. des Denkens über Politik in der angelsächsischen Fachdiskussion (und damit weltweit) eine große Resonanz und Aktualität aufweisen. Das Problem der Rezeption und auch der Methodologie in der Politischen Ideengeschichte in Deutschland besteht grundsätzlich darin, dass es eher nur einzelne Wissenschaftler oder kleinere Gruppen sind, die sich an den Fragestellungen der Ideengeschichte orientieren, 1

Vgl. hier Brunner/Conze/Koselleck, 1972 – 92. Vgl. hier Nitschke, 2011. 3 Göhler/Iser/Kerner, 2009: 373.

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und meist über ihr spezifisches Netzwerk eher außerhalb der je eigenen Fachwissenschaft, also interdisziplinär verfügen.4 Insofern wirkt die Politische Ideengeschichte in Deutschland eigentlich eher fragmentarisch. Ihre Wirkung ist weder in der Politischen Philosophie der philosophischen Fachdisziplin, noch in der Politischen Theorie der deutschen Politikwissenschaft signifikant ablesbar. Im Vergleich mit der heuristischen Funktion der Politischen Ideengeschichte in der angelsächsischen Welt ist der Stand der Dinge in Deutschland weitestgehend homöopathisch dosiert. Hier gilt dann auch: „Overblown presumptions to explain everything, including God and the world, with one single method, and having a privileged access to truth, have become rare”.5 Schulen in dem klassischen Sinne existieren nicht mehr. Alle arbeiten mit irgendeinem Verschnitt differenter Zugangsweisen. An der Hermeneutik kommt jedoch niemand vorbei. Umso wichtiger ist es, dass man sich hierbei die Grundlagen des Verstehens immer wieder überprüfend klar macht. Das gilt erst recht für die kategorialen Großeinteilungen, wenn von Modernität, Nicht-Modernität, Früher Moderne, Vormoderne, Antike, Archaik etc. die Rede ist.6 Wenn sich neben der Begriffsgeschichte seit den 1980er Jahren z. T. auch eine Diskursanalyse im Umgang mit den politischen Ideen bemerkbar gemacht hat, bei der die Ideen als eher fließende Ströme im Sinne eines Denkens über Politik notiert und kommentiert werden, dann ist dies dennoch kein Gegensatz.7 Kein Diskurs kommt ohne zentrale Begriffe und Begriffe kommen nicht ohne das Verständnis bzw. die hermeneutische Zuordnung zu einer diskursiven Struktur aus. Man muss auch nicht die Begriffe historisch so begreifen, wie sie in der Konzeption der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ angelegt sind.8 Ohnehin ist dies dann doch über weite Strecken in der Argumentation wieder (Politische) Ideengeschichte gewesen oder nur eine Worterläuterungsgeschichte. Ideengeschichte ist eigentlich ohne historische Hermeneutik bzw. die Berücksichtigung einer solchen Semantik nicht machbar. Politische Sprachanalyse ist immer schon Teil der Politischen Ideengeschichte gewesen, von der Interpretation des Peloponnesischen Krieges bei Thukydides bis hin zur Theorie des Öffentlichen bei Jürgen Habermas. Das hermeneutische Problem bei der Textanalyse als reinem Sprachakt besteht allerdings darin, dass jede „semantische Analyse, die am Einzelzeichen oder am Wort ansetzt und eine isolierte Wortsemantik für möglich hält“, im Grunde nur eine „Art Eisbergspitzen-Semantik“ enthält, weil man hierbei „achtzig bis neunzig Prozent dessen, was als Wissen notwendig ist, um die Bedeutung eines Wortes im Kontext voll-

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Vgl. auch Schröder u. a., 2012: 78. Allein die Tatsache, dass diese Diskussionsrunde mit einigen renommierten Ideenhistorikern über die Bedeutung der „Begriffsgeschichte“ und der heuristischen Rolle Carl Schmitts hierzu in England stattfand, ist schon an sich bezeichnend. 5 Ebd.: 87. 6 Vgl. auch ebd.: 90 f. 7 Vgl. auch Busse, 2003: 17. 8 Vgl. auch ebd.: 20.

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ständig zu aktualisieren, unexpliziert lässt, ignoriert oder bestenfalls als selbstverständlich gegebenes Alltagswissen voraussetzt“.9 Egal also ob man die Geschichte politischer Ideen oder des Denkens hier als Analyse von kategorialen Begriffen, die heuristisch leitend sind, auffasst oder als Diskurs, welcher ein Netz von Sprachzuweisungen, Begrifflichkeiten im Sinne einer (oft auch nur unterstellten) identitären thematischen Einheit, beide Einteilungsverfahren beinhalten die methodologische Notwendigkeit einer jeweils pointiert und reflektiert vorgehenden Hermeneutik. Aber genau hierin liegt für die Konstellation der Politischen Ideengeschichte in Deutschland derzeit das Problem. Es wird zu wenig debattiert und diskutiert. Dass die methodologisch entscheidende Frage nach den hermeneutischen Standards bzw. den ihnen zugrunde liegenden heuristischen Prämissen in der politikwissenschaftlichen wie auch philosophischen Debatte zur Geschichte der Politischen Ideen nicht mehr zentral verhandelt wird, hat vielleicht auch etwas mit dem Fortwirken von Gadamers hermeneutischer Lehre zu tun. Denn zweifellos ist seine Beweisführung in „Wahrheit und Methode“ zu einem paradigmatischen Ansatz geworden,10 auf den sich seitdem alle Welt (in Deutschland) beruft. Dabei liefert die Schrift von 1960 eigentlich nichts Neues, sondern rekapituliert (und dies sicherlich sehr überzeugend und prononciert vorgetragen) die Wiederbelebung der klassischen Hermeneutik,11 die durch Heideggers Philosophie allzu sehr auf eine Ontologie des Existenzialismus reduziert worden war.12 Gadamers Grundfrage „Wie ist Verstehen möglich?“ führt hingegen direkt an die Ursprünge der Hermeneutik zurück: Was verstehen wir, wenn wir etwas verstehen – und warum eigentlich? Allerdings ist Gadamer bei aller grundsätzlichen Bedeutung, die seine Ausführungen haben, zu Recht eine „unspezifische Methodenfeindlichkeit“ vorgeworfen worden:13 Trotz lebhafter Diskussionen ist in der Sache selbst, der Frage des Verstehens, „wenig zur Klärung der Verhältnisse beigesteuert“ worden. Im Folgenden wird daher eine Beweisführung vorgetragen, die sich jenseits der Positionen Gadamers in erster Linie daran ausrichtet, wie man den konzeptionellen Ansatz von Koselleck und Co., aber auch den der Cambridge School, überwindet bzw. alternierend aussteuern kann. Dies geschieht mit logischem Rückbezug auf die Argumentation von Kant, besonders aber hier der von Quine, da beide Denker in dieser Perspektive für die Hermeneutik in der Politischen Ideengeschichte so noch nicht erkennbar zu Rate gezogen worden sind.

9 Ebd.: 21. Auf diese weggelassenen bzw. unhinterfragten Voraussetzungen wird im Folgenden noch genauer zurück zu kommen sein. 10 Vgl. Gadamer, 1975. 11 Vgl. auch Gadamer, 1986. Zur Einordnung von Gadamers Leistung vgl. u. a. auch Olay (2007) und Wischke (2009). 12 Heideggers Vorlesung im Sommersemester 1923 hieß bezeichnenderweise „Ontologie (Hermeneutik der Faktizität)“, siehe Scholz, 2001: 135. 13 Scholz, 2001: 138.

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II. Das Verstehen von Realität durch das Lesen von Texten Zunächst einmal muss an etwas Banales erinnert werden: unser Verständnis von Realität ergibt sich über das Lesen von Texten. Die Geschichte politischer Ideen kann nur erfahren werden, indem wir Texte zu eben dieser Geschichte lesen. Damit beginnt das hermeneutische Grundproblem schon als heuristisches Dilemma. Eine Erfahrbarkeit im Sinne eines empirischen Bezuges existiert hier weitgehend (oder meist) gar nicht, jedenfalls nicht unmittelbar. Keiner der Leser von Thukydides in den Jahrhunderten nach ihm ist selbst Zeitzeuge des Peloponnesischen Krieges gewesen, keiner der Millionen Leser von Caesar oder Cicero war an den „Iden“ des März 44 vor Christus beteiligt; kein Ideenhistoriker, Philosoph oder politischer Theoretiker, Staatsrechtslehrer etc. war dabei, als die Proklamation der Menschenrechte während der Französischen Revolution erfolgte. Was wir darüber wissen, verdanken wir der Lektüre von Texten. Nun soll dieser kognitive Hinweis nicht dazu führen, dass man einem simplen Textpositivismus huldigt, also nur den Text als Text (im Sinne eines Systems von Zeichen) bearbeitet. Obwohl das Dilemma einer subjektiven Erfahrbarkeit kognitiv durchaus (immer) relevant bleibt, weshalb Hobbes unter anderem zur nominalistischen Positionsbestimmung übergegangen ist,14 soll hier im Folgenden die Beweisführung nicht nominalistisch ausgerichtet werden. Denn die Geschichte der Begriffe ist nicht identisch mit den Begriffen der Geschichte, darauf hat Koselleck in einem seiner späteren Aufsätze noch einmal zu Recht hingewiesen.15 Ersteres ist ein hermeneutisches Unternehmen, Letzteres zwar auch, bezieht sich jedoch auf die Wirklichkeit der historischen Erscheinungsformen im strengeren Sinn, ist so gesehen die Wiedergabe der Realgeschichte. Oder (hermeneutisch betrachtet mit der skeptischen Einschränkung) dem Versuch einer Wiedergabe der Realgeschichte, also der so genannten Wirklichkeit. Dass diese Wirklichkeit und die Berichte, Zeichen, Ideen darüber nicht identisch sind, das ist philosophiehistorisch bis zur Aufklärung den meisten Interpreten von Daten der Vergangenheit konzeptionell bewusst. Die „res gestae“ und die Berichte bzw. Erzählungen hierzu sind bis ins 18. Jahrhundert hinein eben keine hermeneutische Einheit gewesen.16 Was etwas ist und wie darüber berichtet wird, das sind zwei verschiedene diagnostische Vorgänge. Allerdings berühren sie sich zumindest in einem Punkt (und dieser ist wiederum hermeneutisch, spezifisch sogar heuristisch entscheidend), nämlich bei der Auswahl dessen, was überhaupt für das wie als relevant erachtet wird. Denn schon dieses, die Auswahl der Ereignisse bzw. Ereignisformen aus einer ans Unendliche grenzenden Zahl von Möglichkeiten funktioniert nur deshalb, weil der Auswahl schon hermeneutisch etwas zugrunde gelegt wird – nämlich a priori ein Verständnis dessen, was man überhaupt verstehen will bzw. meint zu verstehen. Denn dass man Fakten als Fakten tatsächlich versteht, ist eine hermeneutische Hypothese. Sie muss nicht stimmen – 14

Vgl. hier Hobbes insbesondere in „De corpore“ (1997). Vgl. Koselleck, 2003: 3 ff. 16 Vgl. auch ebd.: 14. 15

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und sie stimmt auch nicht immer. Vieles, gar das Meiste, bleibt in der Geschichte liegen, wird nicht berücksichtigt, weil man die Fakten als solche gar nicht kennt bzw. ihre Werthaftigkeit nicht anerkennt oder übersieht. Woran liegt das? Die Werthaftigkeit von Fakten resultiert aus der Zuordnung von Begriffen. Begriffe machen die Dinge begreifbar. In diesem Fall ist die deutsche Sprache substantiell sehr anschaulich. Versagen die Begriffe in Bezug auf die Fakten oder hat man gar keinen Begriff von dem, was man da sieht in der empirischen Wahrnehmung, dann ist die Realitätszuordnung nicht wirklich im Sinne von „realistisch“. Wenn man die Realität nicht versteht, weil einem die Begriffe hierfür kein geeignetes Zuordnungsmuster an die Hand geben, dann ist der jeweilige Vorgang mit einem Fragezeichen behaftet. Das ist der positive Fall in der Hermeneutik: etwas zu verstehen, was man aufgrund der vorliegenden (traditionellen) Begriffe nicht verstehen kann – oder jedenfalls nicht adäquat verstehen kann. Der negative Fall ist die Zuordnung von Etwas zu einem Begriff, von dem man meint, dass er passend sei, tatsächlich aber (d. h. in Bezug auf die Realität) ist der Begriff genau das Gegenteil von dem, was man damit verbindet – also heuristisch völlig unpassend! So etwas kommt dauernd vor, besonders in der politischen Praxis. Sie ist geradezu das Experimentierfeld für Fälle einer negativen Hermeneutik. Damit sind nicht einfach diejenigen Fälle gemeint, in denen Politiker oder Analysten der Politik (wie etwa Politikwissenschaftler das meinen vorgeben zu können) Dinge und Vorgänge in der Wirklichkeitswahrnehmung reflektieren und dabei begriffliche Zuordnungen vornehmen, die die Wirklichkeit in Bezug auf die Begriffe verbiegen, damit die Begriffe als solche rein (im Sinne von richtig) bleiben. Krümmungen dieser Art finden sich permanent in der politischen Sprache. Diese ist (in Abgrenzung zur positiven Hermeneutik) dann bezeichnenderweise auch nicht wissenschaftlich ausgerichtet. Eigentlich, streng genommen, handelt es sich hierbei um ideologische Bestätigungen des Bestehenden. Wenn man z. B. 2011 in den westlichen Medien die Vorgänge in der arabischen Welt als „Arabischen Frühling“ bezeichnet hat, so, als wenn jeder Massenauflauf auf öffentlichen Plätzen gleich mit „Demokratie“ identifiziert werden kann und als wenn jede „Revolution“ stets den logischen Gang von „1789“ beinhalten würde!17 Die kulturell kodierte Selbstwahrnehmung von politischer Realität erlaubt nur, die Zeichen in der Datenreihe zu akzeptieren, die den eigenen Begriffen folgt bzw. zu folgen scheint. Konträre, konterkarierende Begriffe werden im Hinblick auf die Ereignisse nicht zugelassen oder schlichtweg ignoriert, gar nicht wahrgenommen. Grundsätzlich läuft ein solches hermeneutisches Vorgehen auf ein Missverstehen der Zeichen (in den Ereignissen) hinaus. Am Ende steht dann womöglich ein komplettes Missverständnis, weil man (nur) den eigenen Begriffen gefolgt ist, nicht aber den Zeichen für einen möglicherweise anderen Wirklichkeitsbezug. Wissenschaftlich betrachtet ist ein solches logisches Ende dann auch der Endpunkt für einen Begriff bzw. einer ganzen Theorie oder einer Idee, die dem Begriff zugeordnet 17

Vgl. dazu Nitschke, 2014: 24 ff. und 129 ff.

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wird. Physisch betrachtet kann dies dann aber in der Welt der Politik auch fatal sein und das kollektive Ende einer politischen Ordnungsform beinhalten. Berühmtes Beispiel ist hier die Einschätzung der Inkas, welche den spanischen Conquistadores um Pizarro herum eine ideale Zuordnung im Rahmen ihrer religiösen Begrifflichkeit gaben, die sich nicht nur als wirklichkeitsverzerrend, sondern als zutiefst gefährlich erweisen sollte. Die kulturelle Erfahrungswelt der Inkas kannte keine Rüstungen aus Eisen und keine Pferde. Für sie war es daher im Rahmen ihrer religiösen Mythen eine Gottheit, die da am pazifischen Strand landete. Einer Gottheit muss man huldigen und sie feierlich in aller Ehrerbietung aufnehmen. Das Ende dieser heuristischen Fehleinschätzung ist bekannt. Die Erfahrung leitet und konstruiert die Begriffe. Diese wiederum leiten die Wahrnehmung der jeweils aktuellen Daten an. Was aber bedeutet dies für das Verständnis des Lesenden in Bezug auf einen zu lesenden Text, der Dinge (im Sinne von Wahrheitsaussagen und -ansprüchen) über die Realität offeriert, die sich in ihrer Historizität eben für den aktuell Lesenden so auch nicht empirisch nachvollziehen lassen? Das ist die Grundsatzfrage nicht nur des Historikers, sondern eben auch die des Analysten in der Politischen Theorie, sofern er es mit Politischer Ideengeschichte zu tun hat. Gibt es etwas für den Lesenden, das er am und aus dem Text in dem Sinne entnehmen kann, was mit seiner eigenen Erfahrung konvergiert? Zweifellos existieren hier zwei Erkenntnisweisen der Erfahrung: (a) die Erfahrung am Text, basierend auf den Lese-Erfahrungen anderer Texte mit ähnlichen oder gleichen Denkinhalten, (b) die Erfahrung als Zeitgenosse in einer aktuellen (politischen) Dimension. Die Erfahrung (a) führt unmittelbar zur Politischen Ideengeschichte, dem Studium von Texten (meist der so genannten „Klassiker“), die für die jeweilige Fragestellung als relevant erachtet werden. Das ergibt dann die Kanonisierung (etwa von Platon zu Rawls usw.). Hier ist die jeweilige Auswahl das hermeneutische, eigentlich schon heuristische Problem: was sucht man bei welchem Autor zu welchem Zweck aus und interpretiert dies in Bezug auf die leitende Fragestellung? Dazu hat die Politische Ideengeschichte einige methodologische Varianten erarbeitet, die zwar untereinander in Konkurrenz auftreten, was ein Problem der theoretischen Lagerbildung mit durchaus ideologischem Unterbau ist, aber an dieser Stelle zunächst vernachlässigt werden kann. Das hermeneutische Grundproblem liegt noch stärker akzentuiert bei der Dimension (b), der mehr oder weniger deutlich formulierten Zuordnung von Fragestellungen, die einer empirisch aktuellen Zeitmanifestation folgen. Denn so wie sich die Geschichte und ihre Daten wandeln, so wandeln sich auch die Begriffe, d. h. sie bleiben nicht komplett für alle Ewigkeit in sich selbst bestehen. Warum sollte man sich überhaupt mit Fragen des Römischen Rechts aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. beschäftigen, wenn es nicht einer aktuellen Aufladung in einer konkreten ZeitRaumsituation hierzu bedarf bzw. diese den Anlass dafür gibt? Warum sollte der Begriff „auctoritas“ für uns heute (als demokratisch geschulte Menschen) überhaupt eine Relevanz haben – und vor allem: welche? Politische Ideengeschichte (und damit letztlich auch Politische Theorie bzw. Philosophie) macht nur dann Sinn,

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wenn nicht nur Veränderungen im Wandel begriffen werden, sondern auch Gleichbleibendes oder Ähnliches konstatiert werden kann. Insofern ist Kosellecks Verweis auf die französische Vorstellung einer „longue durée“, einer langen Dauer bzw. eines repetitiven Zuordnungsverfahrens bei den Daten der Geschichte heuristisch wichtig:18 „Ereignisse unterscheiden sich immer voneinander, aber ihre Bedingungen und Strukturen wiederholen sich mehr oder weniger kontinuierlich“. Deshalb ist die Analyse politischer Begriffe so zentral: was ist hier Wandel, was ist Konstanz? Vor allem, mit Bezug auf das heuristische Dilemma der Inkas, wann und woran merkt man den Wandel? Daten im Sinne von Ereignissen verweisen auf Strukturen, aber die Sinnhaftigkeit dieser Strukturen wird erst deutlich, wenn man sie auf einen Begriff bringen kann. Das Ancien Régime, der Feudalstaat, die Sklavenhaltergesellschaft, die Bourgeoisie, der Neoliberalismus, der Islamismus, das alles sind Begriffe, die Daten einer jeweils bestimmten Struktur zuordnen. Damit ist zunächst epistemologisch noch nichts über die Richtigkeit dieser Begriffe gesagt. Hier kann lediglich im Rahmen einer logischen Klassifikation von Kategorien unterstellt bzw. bescheinigt werden, dass ganz bestimmte Dinge (in der Welt der Erscheinungen) mit ganz bestimmten Begriffen verbunden werden, die wiederum dann nach einem logischen System von Aussageformen (im Idealfall der Theorie) zu in sich konsistenten Schlussfolgerungen führen (sollten). Die entscheidende Frage ist jedoch hierbei, ob der jeweils relevante Zentralbegriff tatsächlich die Struktur richtig (d. h. adäquat) anzeigt oder ob sich hier mit der Zeit Schwankungen bzw. gravierende Verschiebungen eingestellt haben, die von den Analysten nicht registriert werden. Meist werden solche Nicht-Registrierungen dann auftreten, wenn der Begriff eine ideologische (will heißen: idealistische) Zuordnung bekommt, die zwar zu einem bestimmten Zeitpunkt (X) in der Geschichte durchaus passend sein mag, aber grundsätzlich für alle Zeiten (bezogen auf die damit zu verhandelnden Strukturen) eher verzerrend als erkenntnisleitend wirkt.19 Ein heutzutage zentral leitender Begriff wie „Staat“ ist eigentlich bis in das 18. Jahrhundert hinein nur ein Statusbegriff für diverse Schichten und deren Klassifizierung gewesen. Erst seit der Aufklärung avanciert dieser Begriff zur zentralen Denkkategorie, zu einer Art „Kollektivsingular“,20 mit und in dem seither Ordnungsfragen gedacht werden. Alles ist dann (notwendigerweise) „Staat“: Damit man die einzelnen staatlichen Erscheinungsbilder untereinander vergleichen und auseinanderhalten kann, bedarf es hier einer jeweils substantiellen Beiordnung in der Nomination. Der Staat wird zum Suffix weiterer Substantivierungen: Polizeistaat, Volksstaat, Rassenstaat, Wohl18

Koselleck, 2003: 4. Koselleck (2003: 7) weist zu Recht auf den Revolutionsbegriff hin, der mit der Amerikanischen und vor allem mit der Französischen Revolution eine geradezu emphatische Freiheitstypologisierung bekommt, obwohl es doch (aus dem Kontext einer antiken oder mittelalterlichen Perspektive heraus) hier immer zunächst um Bürgerkriegsszenarien geht. 20 Koselleck, 2003: 8. Zur hermeneutischen Problematik dieses modernen Leitbegriffs in der Verwendung für unterschiedliche historische Erscheinungsformen in den Epochen vgl. u. a. Eich/Schmidt-Hofner/Wieland, 2011. 19

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fahrtsstaat, Klassenstaat, Rechtsstaat, Verfassungsstaat, Atomstaat, Kulturstaat, Sozialstaat, Weltstaat etc., die Liste wird fast beliebig lang. Derartige Zuordnungen verweisen auf ein hermeneutisches Grundproblem beim Thema „Politik“: was ist das eigentlich, was man unter dieser Bezeichnung verstehen soll? So, wie Staat nicht gleich „Staat“ ist, so ist auch Politik nicht gleich „Politik“. Zweifellos besteht das hermeneutische Dilemma darin, dass man ein Verstehen von Politik in ihren Inhalten nicht trennen kann vom Verständnis dessen, was überhaupt eine Logik von „Politik“ sein kann oder sein soll. Diese Einsicht ist keineswegs neu, oder nur bei Charles Taylor zu verorten.21 Die Anzeige dieses Dilemmas gilt schon für Platon als Grundproblem in seinen Spätdialogen, die nicht zufällig (etwa im „Sophistes“) sich den hermeneutischen wie heuristischen Schwierigkeiten der eigenen Ideenlehre widmen.22 Deshalb reicht es auch nicht, sich die hermeneutische Zirkelstruktur zwischen dem Eigenen (als dem Subjektiven) und dem Ganzen (als dem unterstellten Objektiven) klar zu machen.23 Für die Politische Ideengeschichte ist vielmehr hier noch eine Durchbrechung dieser dialektischen Dichotomie notwendig, denn die Ideen liegen zunächst immer nur in den Texten und führen bei der Lektüre zu Sinndeutungen, bei denen die jeweils eigene Epoche, Lebenswelt, Systemzeit etc. transzendierend verlassen werden muss zugunsten der zu reflektierenden Anzeigen anderer Welten, die in historischer Hinsicht stets verschieden sind. Hierbei ist die Normativität von der Analyse fast gar nicht zu trennen. Anders als vielfach in der aktuellen Theorieperspektive geäußert,24 bedingt sich allein schon die Fragestellung auf die Lesart der Sätze im Text durch normative Dispositionen der eigenen Lebenswelt, so gesehen heuristische Zumutungen im Sinne von Vorurteilen, welche die Analyse prägend leiten. Man liest nur das, was einen interessiert und gefällt. Aber warum gefällt es mir? Was ist der Bezugsgrund, weshalb ich mich auf die quälend langweilige Lektüre von Jürgen Habermas einlassen soll, wo doch ein jeder PlatonText weitaus gewinnbringender ist, und das nicht nur wegen der Sprache und dem geistigen Bewegungsspiel in den Diskursen?

III. (Dialektische) Zuordnung Was man wie zuordnet, ist eine Frage des Geistes bzw. der logischen Urteilskraft. Letztlich sind Begriffe in ihrer Rückkoppelung auf empirische Erscheinungen nicht nur eine Frage der Wahrnehmung, sondern eben (auch schon) des Denkens selbst, d. h. der Art und Weise, wie wir begrifflich überhaupt operieren. Die Zuordnung der empirischen Erscheinungen, das Wahrnehmen selbst, die Erzeugung idealer Grundsätze, all das passiert in unserem Kopf. Deshalb stellt Kant zu Recht fest, dass all diese Fragen einen Gegenstand betreffen, „der nirgend anders als in unseren 21

Vgl. Sigwart, 2013: 165. Vgl. Platon, 1985. 23 So Sigwart, 2013: 166. 24 Vgl. ebd.: 178. 22

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Gedanken gegeben werden kann, nämlich die schlechthin unbedingte Totalität der Synthesis der Erscheinungen“.25 Die Gedanken zwischen der reinen Idealität und der Zuordnung an empirischen Gegebenheiten in der Wahrnehmung aufzutrennen und exakt wieder zuzuordnen, hält er bezeichnenderweise für eine Frage der Dialektik.26 Der „transzendentale Idealismus“ Kants ist so gesehen folgerichtig (oder besser: in seinem logischen Kern) ein dialektisches Unternehmen. An diesen Sachverhalt in der Diagnose Kants zu erinnern, ist zentral für unsere Ausdeutung der Hermeneutik. Das dialektische Vorgehen ist für die Hermeneutik deshalb wichtig, weil geboten, da Synthesis und Analytik nicht identisch sind. Denn die Erscheinung ist stets ungleich der Erfahrung – und die Erfahrung ist nicht (total) identisch mit der Idee. Wir haben es hier analytisch wie synthetisch mit einer Ungleichheitskette zu tun.27 Zwar zeigt (oder besser: soll) die Idee die Erscheinungen (an-zeigen), aber die Erfahrung(en) davon sind immer unvollkommen, nicht wirklich rein, i.S. von absolut zufriedenstellend hinsichtlich der identitären Aussageform. Man bleibt, so Kant, „mit allen möglichen Wahrnehmungen immer unter Bedingungen, es sei im Raume, oder in der Zeit, befangen, und kommt an nichts Unbedingtes, um auszumachen, ob dieses Unbedingte in einem absoluten Anfange der Synthesis, oder einer absoluten Totalität der Reihe, ohne allen Anfang, zu setzen sei“.28 Da für alle Erscheinungen, und seien sie noch so simpel, im Grunde „eine unendliche Zusammensetzung“ konstatiert werden kann,29 bleibt eine jede Interpretation von Aussageformen über die Erscheinungen kognitiv unter ihren Möglichkeiten. Es droht stets ein „regressus“ oder „progressus ad infinitum“, was wiederum bedeutet, dass alle Begriffe eine interne antinomische Struktur aufweisen, d. h. sie beinhalten ein Gegenteil von Aussageformen dessen, was sie jeweils anzeigen. Selbst wenn man diese Opposition von Aussagemöglichkeiten nicht als harten Gegensatz im Rahmen der Logik versteht, so bleibt es doch bei Varianten hinsichtlich einer differenten Bestimmung der jeweiligen Aussage. Das Möglichkeitsdenken wird damit zum entscheidenden Faktor, eigentlich Antrieb für das Erklären und Interpretieren. Sofern man der Möglichkeit nach auf eine Erfahrung in einem beliebigen Satz rekurriert, die bisher in der allgemein üblichen Aussageform nicht angezeigt oder so verstanden worden ist, ist das Möglichkeitsdenken wirklichkeitserweiternd. Zu Recht stellt Kant fest:30 „Mögliche Erfahrung ist das, was unseren Begriffen allein Realität geben kann; ohne das ist aller Begriff nur Idee, ohne Wahrheit und Beziehung auf einen Gegenstand.“ Die Frage ist nicht, ob das Loch zu klein ist, wenn die Kugel nicht hin-

25

Kant, 1974: 454. Vgl. ebd. 27 Vgl. auch ebd.: 455. 28 Ebd. Hervorhebung von Kant. 29 Ebd. 30 Ebd.: 459. 26

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durch passt – oder die Kugel zu groß,31 die Frage ist, welche Perspektive, d. h. welche Erkenntnisposition man hierbei einnimmt (und warum gerade diese und nicht jene)? Im Grunde formuliert Kant mit dem Hinweis auf die Relationen des Erkenntnisaktes aber nicht nur eine Neuauflage der dialektischen Position. Seinen so genannten transzendentalen Idealismus müsste man eigentlich der Denkrichtung nach als einen „formalen Idealismus“ bezeichnen.32 Idealität und Wirklichkeit werden hier wechselseitig aufeinander bezogen, d. h. die Gleichung (Idee = Realität) wird angestrebt bzw. logischerweise vorausgesetzt.33 Das hermeneutische Problem bleibt aber insofern bestehen, weil Raum und Zeit als ontische Faktoren zwar eine „empirische Wahrheit der Erscheinungen“ liefern,34 aber eben zu unterschiedlichen Zeiten durchaus differente – und oft auch noch im gleichen Raum! Ohne Raum-Zeit-Relation sind die Erscheinungen nichts, sie werden erst hierdurch substantiell, in der Sprache des Konstruktivismus könnte man sagen „konfiguriert“, d. h. „passend“ für die Erfahrung gemacht. „Denn die Erscheinungen sind, in der Apprehension, selber nichts anders, als eine empirische Synthesis (im Raume und der Zeit) und sind also nur in dieser gegeben“.35 Wenn Raum und Zeit im Rahmen unserer analytischen wie synthetischen Möglichkeiten unsere Vorstellungen dermaßen einbinden und anleiten, dann sind die Erscheinungen als Erscheinungen „überhaupt außer unseren Vorstellungen nichts“!36 Damit kann Kant als Ahnherr des modernen Konstruktivismus gelten.37 Die Möglichkeiten des Denkens präfigurieren unsere Wahrnehmungsmuster bezüglich der Erscheinungen der Dinge. Die Dinge an sich bleiben letztlich nicht verstehbar, sind in ihrer Totalität wegen der regressiven bzw. progressiven analytischen Schritte unendlich bestimmbar. Das bedeutet dann auch, dass ein Konzept wie Max Webers Idealtypenbildung nur immer eine Annäherung an die Dinge an sich beinhaltet.38 Begriffe im Sinne einer idealen Formel, gar als Grundbegriffe, sind nur formal-idealistische Modellierungen von Erscheinungsformen. Deren analytische Ausdifferenzierung in unendlich variante Subbegriffe (will heißen „Erscheinungen“) ist dann ebenso empirisch wie logisch evident. Aber nicht nur in der Variantenvielfalt der Auslegungsmöglichkeiten der „Erscheinungen“ besteht das hermeneutische Problem, wenn wir Texte lesen. Die Zuordnung dessen, was ist, bezieht sich auch auf die Erscheinung der Bilder bzw. das, was in Bildern erscheint. Denn die Ideengeschichte ist immer auch eine Geschichte der Bilder. Bild und Begriff sind im Rahmen einer Politischen Ideenge31

Vgl. auch ebd. Was Kant auch selbst in einer Anmerkung einräumt (vgl. ebd.: 460, Anm.). 33 Vgl. auch ebd.: 461. 34 Ebd. 35 Ebd.: 466. Hervorhebung von Kant. 36 Ebd.: 471. 37 Zum Konstruktivismus vgl. grundsätzlich Watzlawick, 2010. 38 Vgl. hier Weber, 1988. Dazu mit berechtigten kritischen Hinweisen vgl. auch Schmid (2004) und Lichtblau (2006). 32

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schichte wechselseitig aufeinander angelegt.39 Thomas Hobbes berühmtes Titelbild ist nicht nur ein Paradebeispiel für eine bildliche Umsetzung von politischer Theorie, hier wird eine lange Tradition der Darstellung des Seeungeheuers in eine neue Form der politischen Ikonografie verwandelt.40 Der Begriff („Leviathan“) selbst ist dann die Metapher für unser (modernes) Denken über den Staat. Wie sollte man sich ansonsten auch den Staat vorstellen? Etwa als Sitzreihe von leeren Bänken im Parlament?41 Insofern ist die Bildgeschichte zur Begriffsgeschichte eine Frage der Verwendung von Metaphern. Die Metapher sagt noch mehr als tausend Worte der Interpretation etwas über das zu Interpretierende aus. Aber die Metapher hat in ihrer heuristischen Funktion doch einen elementaren hermeneutischen Nachteil: man muss sie auch verstehen können. Jede politische Karikatur in einem Schulbuch über Politik zeugt von dieser Problematik. Was verstehen Zeitgenossen im heranwachsenden Alter, die nach 2000 geboren wurden, noch von den Zeitumständen, auf die sich eine Karikatur zu Konrad Adenauer bezieht? Eigentlich gar nichts mehr. Die Metapher in der Karikatur erzielt hier keine Wirkung, es sei denn, man erzählt den Kontext der Geschichte, fängt also (wieder) an, historische Relationen zu rekonstruieren. IV. Aussageformen Das ständige Rekonstruieren und Kontextualisieren in der Geschichte politischer Ideen macht aber nur dann Sinn, wenn die Aussageformen in ihrer internen logischen Funktion, bezogen auf ihre wechselseitige Bedeutung zwischen empirischer Erscheinung und idealer Entsprechung in der Welt der Begriffe, angemessen operationalisiert werden. Insofern Texte über Texte in der Interpretation gelegt werden, vollzieht sich hier zunächst ein begriffliches Verstehen, das man in gewisser Hinsicht mit Max Weber als idealtypisch bezeichnen kann. Allerdings bedarf es weiterhin der Anbindung an die Realität, was immer diese in Zeit und Raum und in der Geschichte sein mag. D.h. die empirischen Erscheinungen zwingen zu einer hermeneutischen Korrelation zwischen dem, was ist, und den sprachlichen Zeichen, die wir dazu einsetzen. Das soll, so die Unterstellung, nach den Regeln der Logik geordnet sein. Rationale Rekonstruktionen sind demnach logische Versuche, mit deren Hilfe in der Interpretation von Texten rationale Aussageebenen erreicht werden, die über das von dem jeweiligen Autor Gemeinte hinausgehen oder es in Bezug auf eine andere Perspektive hin modifizieren. Zentral geht es hierbei um die „interpretatorische Billigkeit“.42 Natürlich muss eine jeweilige Theorie insgesamt mit den leitenden Ideen des Autors, der da interpretiert und analysiert wird, noch in Übereinstimmung sein. Also aus Marx etwa einen großen „Liberalen“ zu machen, wäre schon sehr gewagt, immer vor39

Vgl. Stollberg-Rilinger, 2013: 228. Vgl. grundsätzlich hierzu Bredekamp, 2003. 41 Vgl. auch Stollberg-Rilinger, 2013: 236. 42 Vgl. Bühler, 2002: 117. 40

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aus gesetzt, dass es klar ist, was unter Liberalität oder den Ideen des Karl Marx zu verstehen ist. Gleiches gilt auch für die verwendeten Begriffe.43 Allerdings sind Modifikationen sinnvoll und notwendig, nicht in dem Sinne, dass man einen Autor besser versteht als dieser sich selbst, sondern ihn und seine Aussagen vor dem Hintergrund anderer Informationen anders (d. h. sinnvoller) einordnen kann. Hierbei ist die Struktur der Zweck-Mittel-Rationalität entscheidend:44 also – welche Aussagen werden für welchen Zweck mit welcher Form von logischer Notwendigkeit begründet. Der Begriff der „Notwendigkeit“ ist in diesem Zusammenhang relevant für die hypothetisch avisierte Unterstellung einer „rationalen“ Rekonstruktion. Die Betonung liegt hier auf dem durchaus hypothetischen Charakter des Rationalen. Denn die Aussageformen bleiben eigentlich grundsätzlich kontingent, vor allem auch in der professionellen Handhabung der Sprache in den Texten selbst. Kein Autor schreibt vollkommen logisch und kein Interpret versteht alles logischerweise. Die Möglichkeiten der Bedingungen des angemessenen Verstehens sind insofern die heuristischen Elemente, über die man sich bei der Diskussion über Sinn und Unsinn einer Politischen Ideengeschichte unterhalten muss (wie im Übrigen auch jeder Theorie). Hier ist, wie bereits oben angekündigt, ein Verweis auf Willard van Orman Quine angebracht, zumal, was bezeichnend ist, dessen Überlegungen für die Arbeiten zur Politischen Ideengeschichte weitgehend nicht genutzt worden sind. In seinem mittlerweile für die Logik zum Klassiker avancierten Werk „Word and Object“ konstatiert Quine:45 „Die Kunstfertigkeit der Sprache ist etwas Gesellschaftliches. Bei ihrem Erwerb müssen wir uns ganz und gar auf Anhaltspunkte verlassen, die intersubjektiv zugänglich sind und uns jeweils erkennen lassen, was wir wann sagen müssen.“ Damit ist das hermeneutische Grundproblem für die Politische Ideengeschichte umrissen. Jede Interpretation ist immer zugleich eine Interpretation nicht nur über den jeweiligen Autor (Klassiker wie Platon, Aristoteles, Machiavelli etc.), eventuell ihre Zeit, sondern vor allem eine Interpretation bzw. Statusanzeige über die Lebenswelt, die Echtzeit des Interpreten selbst. Vieles bleibt hier (bezogen auf den hermeneutischen Standpunkt des Interpreten selbst, der da einen Text liest) analytisch unbestimmt, wird nur vage reflektiert oder aber in einer ausgesprochen dogmatischen Fixierung auf die je eigene Lebenswelt vorgetragen. Auch wenn, wie im historischen Materialismus, die Methodologie scheinbar zum objektiven Bestimmungsgrund aller Texte wird, bleibt hier erst recht Vieles (eben das Andere an Möglichkeiten) unbestimmt. Allein schon die dogmatische Negation von Varianzen oder konträren Methodologien und Interpretamenten führt zur Unbestimmtheit. Das hermeneutische Problem liegt jedoch zu allererst in der Verwaltung der Sätze als Aussageformen von Etwas begründet. Alles, was wir an Wahrnehmungen aufnehmen, dazu gehört auch die Lektüre von Texten, führt zur Verknüpfung mit anderen (bereits bestehenden) Aussageformen, „früheren Verknüp43

Vgl. ebd.: 120. Vgl. auch ebd.: 125. 45 Quine, 2007: 13. 44

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fungen von Sätzen mit Sätzen“.46 Diese werden aber nicht immer bewusst angezeigt oder gar reflektiert im analytischen, d. h. logischen Sinne. Meist werden sie in einem bestehenden Diskurs vorausgesetzt oder es wird unterstellt, dass die Zuhörer bzw. Betrachter und Leser es schon verstehen, d. h. richtig zuordnen werden können. Das Problem der „Enthymeme“, auf das schon Aristoteles in seiner „Rhetorik“ zentral hingewiesen hat:47 die Aneinanderreihung und Verknüpfung von Sätzen, bei deren Gebrauch man davon ausgeht oder so tut, als würden alle Teilnehmer (hier: die Teilnehmer an der Lektüre) schon wissen und nachvollziehen können, was man meint,48 wenn man vom „Staat“ spricht – oder gar einen „Machtstaat“ oder „Verwaltungsstaat“ terminiert. Offenkundig liegt solchen Sätzen (und Begriffen) eine Reihe von vorgeschalteten Bedingungssätzen zugrunde, die zwar in ellenlangen Monografien stets von neuem aufgelistet werden, meist aber (gerade im Fachdiskurs) einfach als selbstverständliche Aussageform unterstellt werden. Kein Satz funktioniert ohne andere Sätze!49 Die Enthymeme sind so gesehen Operatoren von dogmatischen Diskursen, in denen bestimmte Eigenschaften in Form von Aussagesätzen festgelegt scheinen bzw. strikt befolgt werden, weil ansonsten eine kognitive Durchbrechung, eine analytische Fehlfunktion in der Theorie stattfinden würde. Gerade politische Theorien neigen dazu, solch enthymemische Eigenschaften als Basis ihrer Wertüberlegungen zu implementieren. Eine anthropologische Grundierung vom Menschen als schlecht oder gut setzt eine ganze Reihe von empirischen, behavioristischen Reihenaussagen voraus, die meist eben gar nicht in der jeweiligen politischen Theorie selbst ausdifferenziert wurden, sondern bereits als allgemeine anerkannte Verständnismuster über soziale Realität unterstellt bzw. behauptet wurden. Die enthymemische Substruktur von Sätzen führt auch dazu, dass ein Leser als Anhänger einer bestimmten politischen Theorie (A) bei der Lektüre einer konträren Theorie (Z) nicht unbedingt den Impetus aller Sätze dieser Theorie begreift. Das ist zunächst nicht weiter von Nachteil, weil auch dann, wenn ich Sätze nicht verstehe, ich zugleich Funktionen meiner Wahrnehmung verstehen kann (bzw. erörtern muss), warum bestimmte Sätze hier nicht verständlich sind. Das bedeutet, die Unterstellung einer 46

Ebd.: 33. Vgl. Aristoteles, 2007: besonders 128 ff. (1395b – 1403b). 48 „Enthymeisthai“ = sich ausdenken, ersinnen. Enthymeme beinhalten Sätze, die ähnlich funktionieren wie die Sätze im Syllogismus, nur mit dem Unterschied, dass sie keinen reinen Syllogismus produzieren. Es geht hierbei um Sätze zur Beweisführung der Argumente im öffentlichen Raum (spezifisch in der politischen Sphäre). Bestimmte Urteilsschlüsse, etwa als Basissätze oder als Allgemeinsätze, können hierbei weggelassen werden, damit der Zuhörer sich diese selbst denkt. Insofern haben Enthymeme den Charakter von Indiziensätzen. – Vgl. auch Rapp, 2005: 194. Beispiel: (1.) Menschen können in ihrem Verhalten politisch sein (wird als Voraussetzung unterstellt). (2.) Cicero ist politisch in seinen Reden (wird ausgesprochen). (3.) Ist Cicero immer politisch in seinem Verhalten? Die Enthymeme zeigen solchermaßen die Kunst der Verdichtung und Auslassung von Argumenten an. Sie appellieren an den Zuhörer bzw. Leser, sich etwas hinzu zu denken und führen ihn damit psychologisch auf eine Bahn, der er bereitwillig Folge leisten kann. Voraussetzung ist jedoch, der Zuhörer/Leser versteht die unterschlagenen Apelle! 49 Vgl. auch Quine, 2007: 46. 47

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Logik (wie die der Hermeneutik) führt den Leser zumindest dem Anspruch nach zu einer Selbstbefragung, warum bestimmte Partien einer Aussageform über Politik nicht verstanden werden. Allerdings auch nur dann, wenn die Selbstreflexion hierzu kritisch ausgerichtet bleibt. Aber woran erkennt man, dass man selbstkritisch reflektiert? Gerade im Rahmen eines Kritischen Rationalismus erscheinen hermeneutische Maßstäbe entweder (a) ohnehin per se kritisch (auch wenn sie das eben nicht sind) oder (b) einigermaßen naiv (wie etwa bei der so genannten „historischen“ Hermeneutik, mit der man meint, Dinge verstehen zu können, die man selbst nicht miterlebt hat). „Kritisch“ kann eigentlich nur die Ebene der Erfahrungsreflexion sein (und bleiben), alles andere ist entweder ausgesprochen hypothetisch oder dogmatisch. Also lautet die elementare Frage für die Hermeneutik: welche Erfahrungen werden auf welche Weise in Bezug auf die Aussageformen in Texten vom Leser identifiziert – und vor allem: warum? Das hermeneutische Dilemma beim Lesen der Texte zur Politischen Theorie im Rahmen einer ideenhistorischen Verortung resultiert nicht einfach allein aus dem Verstehen oder Nichtverstehen von zentralen Begriffen oder Denkkategorien. Wenn dies allein das Problem wäre, dann könnte man es einigermaßen zufriedenstellend formallogisch angehen. Die formale Logik scheitert hier jedoch gerade deswegen, weil alle Aussageformen in der Ideengeschichte ihren kontextuellen Erfahrungswert (oft sogar einen spezifischen Erfahrungsraum) mit einer meist limitierten Zeitanzeige verbinden. Selbst wenn der Zeithorizont sehr ausgedehnt wird, können wir doch nicht für alle Ewigkeit vom „Staat“ reden. Das bedeutet in Bezug auf die je aktuelle Zeitdimension des Lesers und Interpreten von politischen Ideen in Texten zur Politik, dass die eigenen Erfahrungsbezüge, selbst wenn man sie systemtheoretisch betrachtet, immer nur Teilbezüge an Wirklichkeitserkenntnis beinhalten können, weil sich vieles an Erfahrungssätzen nur „auf indirekte Weise“ erschließt, wie Quine richtig bemerkt, eben „durch die Vermittlung assoziierter Sätze“.50 Das Problem der Enthymeme: die assoziativen Gedankenketten und Gedankensprünge führen zu im Prinzip unendlichen Varianten von Erfahrung (selbst im gleichen Raum zur gleichen Zeit). Die Zuordnung von Erfahrungsmustern zu Satzaussagen setzt also voraus, dass der Rezipient eines Textes die Annahmen und Erfahrungswerte des Autors in seiner eigenen Erfahrungswelt (also der des Rezipienten) nachvollziehen kann. Das wiederum beinhaltet eine Reihe epistemologischer Faktoren, die hier szientistisch beherrscht werden müssen: a) Die Zuordnung des jeweiligen Satzes vor dem theoretischen Hintergrund, also der Aussageformen des Autors im Ganzen. b) Die Einordnung des Autors in seinen historischen Kontext, die Reflexion über die Gründe, warum überhaupt der Text geschrieben wurde. c) Den Umgang des Autors mit Aussageformen anderer Autoren (hier meist der jeweils zeitlich vorliegenden Klassiker) sowie deren Nichtbeachtung.

50

Ebd.: 122.

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Alle drei angezeigten Zuordnungsebenen beziehen sich in ihrer wechselseitigen Relation auf die heuristischen Voraussetzungen, die zu irgendeinem Zeitpunkt der Reflexion, notwendigerweise gar nicht einmal am Anfang der Untersuchung, gemacht worden sind. Also der Frage: welche Voraussetzung legt man bei der Lektüre zugrunde bzw. ist imstande diese zu leisten? Wenn man z. B. das „Gavagai-Problem“ betrachtet, setzt die Aussage „Alle Kaninchen sind reinkarnierte Menschen“ (oder in Bezug auf unsere Thematik: „alle Menschen sind reinkarnierte Gottheiten“) ein Bild vom Menschen in einer ganz bestimmten Weise voraus,51 dem sogar noch ein ganz bestimmtes Bild der Natur (bzw. Gottes) vorgelagert ist. „Verstehen“ heißt demnach in erster Linie „übersetzen“ können: einen beliebigen Satz in seiner Aussageform hinsichtlich seiner Bedeutung(en) erschließen können.52 Wenn man z. B. einen scheinbar lapidaren Satz aus der Vertragstheorie des Thomas Hobbes nimmt, nämlich seine Aussage, „daß Jesus der Christus, das heißt König“ ist,53 dann erschließt sich diese nominale Statusanzeige in ihrer grundlegend heuristischen Funktion nur demjenigen, der einen theologischen Erkenntnishintergrund bei der Lektüre des Textes einbringen kann. Selbst Carl Schmitt, der als einer der ersten auf die Bedeutung dieses Satzes hingewiesen hat,54 kann nicht für sich in Anspruch nehmen, die Tiefe und Tragweite dieser Aussage bedacht zu haben. Schließlich ist es kein Zufall, dass Hobbes keinen anderen Personennamen derart oft anzeigt wie den von Jesus Christus. Implizit hat der Hobbessche Text damit eine christologische Beweisführung, die sich aber erst dann erschließt, wenn man das dritte und vierte Buch im „Leviathan“ in der Lektüre ernst nimmt, was auch Schmitt nicht gemacht hat, von allen rein säkularistischen, funktionalistischen und vor allem wirtschaftsliberalen Interpreten des Thomas Hobbes ganz zu schweigen. Um Hobbes angemessen zu verstehen, müsste man eigentlich theologische Interpretamente nachvollziehen, die Lektüre des Alten wie des Neuen Testaments vorausgesetzt. Da Hobbes in der Titelfindung seines Buches sich als Experte auch kryptischer, eschatologischer Bezüge ausgewiesen hat, er zudem glänzend Latein wie auch Griechisch konnte, lässt sich der Sinnbezug etwa in den differenten Textfassungen zwischen der englischsprachigen und der lateinischen Ausgabe vom „Leviathan“ nur dann wirklich kompetent erschließen, wenn der Leser und Interpret da auch analytisch mitgehen kann. Sonst bleibt man an der Oberfläche von Aussageformen im Text, wie Vieles in der Politischen Ideengeschichte so firmiert, gerade wenn ideenhistorische Bezüge im Kurzformat einer sich modernistisch verstehenden Politischen Theorie formuliert werden. Aber selbst wenn diese hermeneutischen Voraussetzungen etwa bei der HobbesLektüre beherrscht werden, bedeutet dies keineswegs, dass man Hobbes unmittelbar (also 1:1) übersetzen (d. h. interpretieren) kann. Eigentlich ist dies nur dem Autor 51

Ebd.: 130. Vgl. auch ebd. 53 Hobbes, 1984: 384. 54 Vgl. Schmitt, 1982: 162 – 163. 52

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selbst (also in diesem Falle Hobbes) möglich. „Unmittelbar übersetzbare Sätze – übersetzbar aufgrund unabhängiger Belege von Reizgelegenheiten – sind spärlich“, stellt Quine fest.55 Daher schlägt er das Prinzip „analytischer Hypothesen“ vor, mit denen die Sachverhalte (im Sinne von Aussageformen) auf ihre Korrelation zu den Reizen geklärt werden können.56 Reize bestehen nun nicht nur in Bezug auf die empirische Wahrnehmung (wie etwa beim „Gavagai-Problem“), sondern auch bei der Lektüre eines Textes. Was passiert hermeneutisch, wenn man das Wort „Staat“ liest in einem Text (beispielsweise) von Thomas von Aquin? Kann die Übersetzung wirklich „Staat“ lauten, wenn im Lateinischen von „status“, „ordo“, „regimen“ etc. die Rede ist? Die Assoziationen des Übersetzers, der natürlich auch nie neutral ist beim Gebrauch der Sprache, führen zu Assoziationsvorgaben beim Leser, der daraufhin wieder interpretiert. Im Prinzip ein hermeneutischer progressus ad infinitum. V. Der epistemologische Anspruch Um an den Anfangspunkt der Überlegungen zurückzukehren, kann nunmehr festgestellt werden, dass alle Begriffe in der Geschichte oder die so apostrophierten „Grundbegriffe“ eigentlich Aussageformen beinhalten, die in ihrer strukturellen Dimension, nämlich als Antworten auf Fragen und Fragen auf Antworten eigentlich versteckte Diskursanalysen (über den Staat, die Gesellschaft, die Utopie, die Freiheit etc.) beinhalten. Sie fungieren hierbei hermeneutisch (wie auch heuristisch) als „epistemische Größen“, mit denen sich Wirkungszusammenhänge andeuten, erschließen und nachvollziehen lassen.57 Damit werden Wörter begrifflich auf einen ihnen in Zeit und Raum immanenten Zusammenhang gebracht. Das führt in die gleiche Richtung wie die Vorstellung von Diskursanalyse bei Foucault, nämlich eine Menge von Aussagen auf ein ihnen identitäres „Funktionssystem“ hin festzulegen und dechiffrieren zu können.58 Die leitenden Kategorien für die Diskursanalyse sind hierbei:59 a) Das Ereignis (eigentlich die Daten). b) Die Serie (von Daten gleichen Charakters). c) Ihre Regelhaftigkeit (im Sinne einer Permanenz in Zeit und Raum). d) Die Möglichkeitsbedingung (d. h., dass sie ihrer Natur nach theoretisch zeitlos auftreten können, sofern sich die Bedingungen in den temporären Umständen hierzu einstellen).

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Quine, 2007: 136. Vgl. ebd.: 132 ff. 57 Busse, 2003: 22. 58 Vgl. ebd.: 23. 59 Vgl. auch ebd.: 24. 56

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Wichtig ist dabei, dass der Diskurs analytisch offen bleibt. Das bedeutet, die hermeneutische Herangehensweise wird zwar kategorial und begrifflich geleitet, aber (um hier mit Kant zu sprechen) nicht nur im Sinne eines synthetisierenden Verfahrens, sondern auch eines analytisch-trennenden Verstehens. Das führt zur Wertschätzung und Beachtung von Aussageformen, die eben nicht der Annahme im Sinne eines Stereotyps bzw. des Grundbegriffs entsprechen, sondern deren Variation darstellt bzw. diese als eventuell ebenbürtige Form der Logik anzeigt. Warum Aussage A, wenn B auch möglich ist? Und vielleicht, das müsste sich im Diskurs erschließen lassen, wäre B sogar die bessere Aussageform als A – oder vielleicht sogar C? Diese Logik (oder Unlogik bei dem, was nicht passt) lässt sich nur über die Kontextualisierung der Aussageformen erschließen. Die Auswertung im Sinne einer reinen Satz- oder Textsemantik reicht hier nicht aus.60 Aber gerade Kontextualisierungen sind schwierig, weil sie das hermeneutische Problem der Durchdringung der Voraussetzungen für die Aussageformen (unendlich) perpetuieren.61 Dennoch kommt man nicht daran vorbei, wenn man einen Begriff in seiner jeweiligen Funktion in verschiedenen Zeitaltern verstehen will. Man sollte jedoch nicht meinen, dass allein durch den (historischen) Vergleich von Etwas die Interpretation in irgendeiner Weise objektiver wird. Denn die Auffassung, „Nur wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ermöglicht […] Verstehen“,62 ist problematisch. Denn was ist genau bei der Interpretation einer Quelle, eines Textes, die Wirkung von was? Es bleibt bei allen historischen Vergleichen hinsichtlich der Relationen der Aussageformen (etwa zu einem Begriff wie „Staat“) das hermeneutische Dilemma bestehen, welches aus der heuristischen Frage resultiert: Was will ich wissen? Aber nicht nur der epistemische Grund für das Wissen ist zielleitend, mindestens ebenso wichtig bleibt der Anspruch auf die Wahrheit der Dinge. Nur Aussagen treffen zu wollen (oder zu können), die halbwegs richtig sind, wäre zu wenig. Das Bewusstsein für analytische Hypothesen, wie sie Quine vorschlägt, bedeutet schließlich gerade nicht, dass man keine wahren Sätze bilden kann.63 Hiermit wird allerdings ein systematischeres Bewusstsein dafür geschaffen, was jeweils konkret „Gelegenheitssätze“ sind und „ewige“ Sätze.64

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Vgl. auch ebd.: 30. Das gilt z. B. schon für die Autorenauswahl. Wenn Ottmann in dem Zusammenhang den Kontextualismus der Cambridge School kritisiert, weil dieser die „Rangordnung der Autoren“ (als Klassiker) zerstöre (2010: 71), dann ist dies zwar ein berechtigter Hinweis, ändert aber nichts an dem Klassiker-Problem selbst. Wer entscheidet eigentlich über welchen Rang eines Denkers in der Politischen Ideengeschichte? Und welcher Klassiker ist hier wichtiger als ein anderer? 62 Eich/Schmidt-Hofner/Wieland, 2011: 25. 63 Systematisch unterstreicht Quine dies auch in seinen „Immanuel Kant Lectures“ von 1980, vgl. Quine, 2003. 64 Vgl. ebd.: besonders 61 ff. 61

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Insbesondere auf ewige (d. h. formallogische) Sätze wird man nicht verzichten können. Auch wenn der Historismus im 20. Jahrhundert durch das postmoderne, relationale Denken zerschreddert worden ist, was zu einer massiven Aufweichung des Wahrheitsanspruches geführt hat, muss die Einforderung von wahrhaften Aussagen umso dringlicher sein. Wie Volker Gerhardt unlängst noch einmal zu Recht hervorgehoben hat, beansprucht schließlich jede Aussage einen „Status der Verbindlichkeit“,65 kommt also ohne Wahrheitsansprüche nicht aus. Und nur mit Verbindlichkeiten werden überhaupt erst gemeinsame Wahrnehmungsmöglichkeiten erschlossen bzw. umsetzbar. „Realität“ bleibt damit zu allererst eine Frage der gemeinsamen Wahrnehmung – und darüber hinaus. Insofern sind a) Korrespondenz, b) Konsens, c) Kohärenz entscheidend für Wahrheitswahrnehmung.66 Das Problem liegt hermeneutisch jedoch in der Ebene des Konsenses begründet: Auf welchen Konsens soll sich der Wissenschaftler hier einlassen? Dem des Mainstreams, der ideologisch vorherrschenden Meinung, der Macht der Apparate? Wohl kaum. Wie das „Höhlengleichnis“ zeigt, gibt es hier ein enormes Dilemma für denjenigen, der eine neue Zugangsweise zur „Realität“ vorstellt. Am Ende kommt es allemal auf den Beweis an. Wie Bertrand Russell lapidar feststellte: „Erkenntnis ist ein durch Beweis gestütztes wahres Urteil. Fehlt der Beweis, so gibt es keine Erkenntnis.“67 Literatur Aristoteles (2007): Rhetorik. Übersetzt und hrsg. von G. Krapinger. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart. Bredekamp, Horst (2003): Thomas Hobbes: Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651 – 2001. 2. Auflage. Berlin. Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.) (1972 – 92): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bde. Stuttgart. Bühler, Ralf (2002): Nutzen und methodische Eigenheiten rationaler Rekonstruktionen im Rahmen ideengeschichtlicher Untersuchungen. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1, 2002, S. 117 – 126. Busse, Dietrich (2003): Begriffsgeschichte oder Diskursgeschichte? Zu theoretischen Grundlagen und Methodenfragen einer historisch-semantischen Epistemologie. In: Dutt, C. (Hrsg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Heidelberg, S. 3 – 16. 65 So im Festvortrag anlässlich der Eröffnung des 62. Verbandstages des deutschen Hochschulverbands: Gerhardt, 2012: 361, Hervorhebung von Gerhardt. 66 Vgl. auch ebd.: 366. 67 Russell, 1997: 103.

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Ökonomie – Geschichte – Wirtschaftsgeschichte1 Von Werner Plumpe Abstract Die Wirtschaftsgeschichte war ein akademisches Boomfach der 1960er und 1970er Jahre, geriet in dieser Zeit jedoch immer stärker unter die Dominanz einer historischen Sozialwissenschaft, deren Erkenntnisziel weniger in der Plausibilisierung des ökonomischen Strukturwandels als in der Aufdeckung vermeintlicher Herrschaftsverhältnisse und sozialer Ungleichheit lag. Mit dem Niedergang der historischen Sozialwissenschaft und dem Ende des Hochschulausbaus seit Beginn der 1980er Jahre geriet die Wirtschaftsgeschichte daher in das doppelte Dilemma kapazitärer Kürzungen und konzeptioneller Unsicherheiten. Trotz einer weiterhin durchaus funktionsfähigen Forschungspragmatik wird das Fach spätestens seit dieser Zeit von Selbstzweifeln gekennzeichnet, die nicht leicht auszuräumen sind, schon gar nicht durch eine Flucht in die Arme einer wenig komplexen Institutionenökonomik. Im vorliegenden Beitrag wird dafür plädiert, die Lage zwischen den Fächern Geschichte und Ökonomie als produktive Chance zu begreifen, ökonomische Fragen historisch zu beantworten. Dazu ist ein komplexes Herangehen an wirtschaftlichen Strukturwandel nötig, die ihn in seiner eigentümlichen Verbindung von semantischen Variationen, institutionellen Änderungen und praktischen Verhaltensweisen ernst nimmt.

I. Die Bedeutung der Wirtschaftsgeschichte sowohl im Rahmen der Wirtschaftswie der Geschichtswissenschaft als auch in der öffentlichen Diskussion war in den vergangenen Jahrzehnten heftigen Schwankungen unterworfen. Entstanden im Zuge des Niedergangs der Historischen Schule der Nationalökonomie nach der Wende zum 20. Jahrhundert,2 hatte die Wirtschaftsgeschichte (zumeist recht diffus verkoppelt mit der Sozialgeschichte) lange Zeit ein Nischendasein mit nur wenigen regulären Stellen. Ihre prominentesten Vertreter, etwa Max Weber und Werner Sombart, hatten jedenfalls keine wirtschaftshistorischen Lehrstühle und begriffen sich auch eher nebenher als Wirtschaftshistoriker. In der Geschichtswissenschaft selbst war die Wirtschaftsgeschichte ebenfalls zumindest nicht über eigenständige Stellen ausgewiesen, sondern kam dort vor, wo der jeweilige Historiker sich einschlägigen

1 Der Aufsatz geht auf einen Kurzvortrag zurück, den der Verfasser im Rahmen der diesjährigen Sitzung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am 4. März 2014 in München hielt. Der Vortragsstil ist nur teilweise korrigiert und der Text mit einigen Verweisen versehen worden. 2 Plumpe, 2008: 11.

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Themen zuwandte.3 Das war nicht gar so selten, und immerhin konnte kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert die erste einschlägige Zeitschrift, die heute noch existierende „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ gegründet werden. Aber das Schicksal der Arbeiten Karl Lamprechts zeigt recht deutlich, dass die Öffnung der Geschichtswissenschaft hin zu gesellschaftsgeschichtlichen Themen noch nicht erfolgt war, wobei Lamprecht aufgrund seiner zahlreichen Fehler seinen Gegnern das Argumentieren freilich auch nicht sonderlich schwer machte. Nein, bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein war und blieb die Wirtschaftsgeschichte ein Randfach, mit Forschungsschwerpunkten zumal in der älteren Wirtschaftsgeschichte und deren editorischer Erschließung.4 Die nationalsozialistischen Jahre und der Wiederaufbau nach dem Krieg kannten ebenfalls keine blühende Wirtschaftsgeschichtsschreibung, obgleich oder vielleicht gerade weil in dieser Zeit die Wirtschaft eine immer dominantere Rolle spielte. Erst seit dem Beginn der 1960er Jahre, im Zuge der sich von den USA her ausbreitenden Modernisierungstheorie einerseits, der beginnenden Renaissance des Marxismus in Europa andererseits wurde die Wirtschaftsgeschichte in Forschung und Lehre deutlich aufgewertet, zumal der Ausbau der westdeutschen Universitäten auch die Zahl der Stellen in den Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften stark ansteigen ließ. Wenn auch nicht proportional, so profitierte doch auch die Wirtschaftsgeschichte von diesem Expansionsprozess.5 In den Geschichtswissenschaften wurde sie seit den 1960er Jahren im Kontext der seinerzeit vielbeschworenen Krise des Historismus geradezu zu einer Art Modedisziplin, die versprach, die konzeptionellen und programmatischen Kurzschlüsse der vorherrschenden Geschichtswissenschaft, die die gesellschaftliche Realität zu verleugnen schien, grundsätzlich zu vermeiden. Die Bedeutung des Ökonomischen zur Erklärung historischen Wandels gewann in diesen Jahren geradezu eine Art Schlüsselqualität.6 Gleichzeitig gewann im Rahmen modernisierungstheoretischer Entwicklungskonzepte die europäische, namentlich die britische Industrialisierung Vorbildcharakter. Durch ihr Studium sollten Voraussetzungen, Bedingungen und Phänomene wirtschaftlicher Modernisierung allgemein bestimmt werden.7 Das löste eine ganze Welle von Studien aus, die zeitweilig nicht nur die Themensetzung der Wirtschaftsgeschichtsschreibung bestimmten, sondern gerade wegen der mit ihr verbundenen Auseinandersetzungen etwa um die sozialen Folgen der Industrialisierung auch die methodische Ausdifferenzierung des Faches förderten.8 In Folge dieser Veränderungen entstand eine Art wirtschafts- und sozialhistorische Welle, deren Scheitelpunkt aber bereits zum Ende der 1970er Jahre erreicht war. Nimmt man die Zahl der Stellen (BRD und DDR zusammen), so hatte sie um 1980 mit etwa 3

Als Indiz hierzu vgl. Plumpe, 2009. Wiltsche, 2005. 5 Zum Ausbau der Wirtschaftswissenschaften vgl. Hesse, 2010: insbes. Kap. 2. 6 Allgemein hierzu Plumpe, 2006. 7 Der Klassiker in dieser Hinsicht stammt von Rostow, 1960. 8 Fischer u. a., 1972; Braun/Fischer, 1973. 4

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50 Professuren ihren Zenit erreicht.9 Danach setzte zunächst ein Schrumpfungsprozess der Zahl der Professuren ein, der bis in die Gegenwart anhält. Es kam nicht unbedingt zu einem Kahlschlag, aber doch zu einer drastischen Reduzierung der Lehrstühle.10 Heute, nachdem zumal auch die Verbindung zwischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte sich aufgrund der starken Ausdehnung der Sozialgeschichte sehr gelockert hat, ist die Wirtschaftsgeschichte zumindest etatmäßig wieder ein kleines Nischenfach, das zumindest im Rahmen der Wirtschaftswissenschaft auf der Liste der bedrohten Teildisziplinen steht. In der Geschichtswissenschaft ist die Lage wohl stabiler, aber auch nicht wirklich gut. Der relative Niedergang der Bedeutung der Wirtschaftsgeschichte hat aber nicht allein mit den Konjunkturen von Expansion und Schrumpfung in den höheren Bildungsanstalten zu tun. Sie verlor im gleichen Zeitraum auch an konzeptioneller und pragmatischer Bedeutung im geschichtswissenschaftlich relevanten Argument. Das mag auch an der Praxis einer Strukturgeschichtsschreibung gelegen haben, die mehr oder weniger luzide Erläuterungen zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und zur Sozialstatistik für historisches Erklären hielt und insoweit das, was dann als kulturgeschichtliche Wende kam, geradezu provozierte.11 Dies hat aber (zweitens) vor allem mit einer Beobachtung zu tun, die jüngst in anderem Zusammenhang Wolfgang Streeck12 gemacht hat: Bis weit in die marxistische Gesellschaftskritik hinein – eigentlich ein Hort der Wirtschaftsgeschichte, was insbesondere Jürgen Kuczynski stets betont hat – wurde seit den 1970er Jahren das Problem des Kapitalismus nicht mehr in seiner Funktionsweise gesehen (die unterstellte etwa die Habermassche Tradition der Frankfurter Schule geradezu als gegeben), sondern in seiner Legitimation.13 Das Problem des Kapitalismus war insofern nicht mehr seine Krisenhaftigkeit, sondern seine Tendenz, sich alle anderen gesellschaftlichen Funktionsbereiche, ja schließlich auch die Alltagswelt der Menschen in einer Weise unterzuordnen, dass die Logik der sozialen Beziehungen durch die technokratische Systemlogik der Ökonomie kolonialisiert wurde, wie Habermas meinte.14 Das war, wie schon die Debatten 9

Plumpe, 2008: 12 f. Einige Beispiele: München hat von ehedem zwei Professuren de facto derzeit nur noch einen kläglichen Rest; in Berlin hat es die FU vollständig getroffen, wofür es an der HU allerdings einen Ausgleich gibt. In Münster, Frankfurt am Main und Bochum ist von zwei Professuren jeweils eine fortgefallen; andere Universitäten wie Hamburg oder Düsseldorf haben ihre Stellen ganz verloren. In Düsseldorf gibt es allerdings eine befristete Hochdeputatsstelle. Köln hat von zwei Professuren nur noch eine, die derzeit ums Überleben kämpft. In Siegen, Saarbrücken und Chemnitz, so gehen hartnäckige Gerüchte, sollen die Stellen umgewidmet werden. In Bielefeld, immerhin mal eine der Hochburgen der Modewelle der 1970er Jahre, hat man die Professur zurechtgestutzt. Allein die Universität Bayreuth, die jüngst eine entsprechende Professur eingerichtet hat, fällt aus dem Trend heraus. 11 Hierzu gibt es zahlreiche Beiträge, von denen im Folgenden nur einige zitiert seien: Schöttler, 1997; Daniel, 2001. Zur Kritik hieran wiederum Wehler, 1998. 12 Streeck, 2013. 13 Insbesondere hierzu Habermas, 1973. 14 Habermas, 1981. 10

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zwischen Habermas und Luhmann aus den 1970er Jahren zeigten,15 zwar weder originell noch überzeugend, aber eben hochwirksam, weil nun die Gesellschaft und ihre vermeintlichen Teilbereiche geradezu als Opfer einer zugleich imperialistischen wie letztlich trivialen Ökonomie begriffen wurden. Das historische Argument, namentlich in Anlehnung an Habermas und/oder Foucault stellte daher letztlich die Frage nach der Deformation der Gesellschaft durch eine als überlegen angesehene Ökonomie16 – und behauptete damit zugleich, Moment der Abwehr zu sein, was durch den Begriff der „Kritik“ indiziert wurde. Die Wirtschaft und ihr Wandel wurden in der Gesellschaftsanalyse jedenfalls an den Rand gedrängt – stattdessen interessierte man sich für die sich vollziehende technokratische und Machtstrukturierung aller Lebensbereiche. Seither gibt es eine Geschichtsschreibung der sukzessiven Durchmachtung der Gesellschaft, an der gemessen der ökonomische Strukturwandel, aber auch Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung an sich verblassen.17 Schließlich (drittens) bildete der ökonomische Aufschwung Westeuropas und seine Erforschung und Bestätigung in einer modernisierungstheoretisch inspirierten Wirtschaftsgeschichte auch den Kern des liberalen Masternarrativs von der Entzauberung oder Vollendung der Welt durch zivilisatorischen Fortschritt.18 Das Ende der „großen Erzählungen“19 bzw. vor allem deren Dekonstruktion waren daher, das sei hier nur am Rande bemerkt, ein weiteres Moment im Niedergang zumindest des herkömmlichen ökonomischen Arguments, das ja stets eng an einen in der Tat naiven Fortschrittsbegriff gekoppelt war.20 Insofern ist es auch wichtig zu sehen, dass die Kritik der Bedeutung der Ökonomie zumeist nicht mit einer Aufwertung der Wirtschaftsgeschichtsschreibung einherging, was auch vorstellbar gewesen wäre. Im Gegenteil erschien zumindest die vorherrschende Wirtschaftsgeschichte selbst als zu erklärender Fall, war sie doch Teil eines Verblendungszusammenhanges, den aufzuklären sie geradezu verhindern sollte. Die Missverständnisse zwischen allgemeiner und Wirtschaftsgeschichte, die bis in die Gegenwart eine Rolle spielen, haben nicht zuletzt hier ihre Wurzel, versteht sich doch die zeitgenössische Geschichtswissenschaft vorwiegend als „kritisch“, während der Wirtschaftsgeschichte zumeist der Geruch der Affirmation anhängt. Mit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise ist allerdings die Sicherheit, dass man Ökonomie einfach voraussetzen kann, dass sie schon irgendwie funktioniert, aber ansonsten zumindest in sich selbst kein Gegenstand „großer Erzählungen“ mehr sein kann, dieses „taken for granted“ plötzlich vorbei. Die Ökonomie ist als Problem zurück, und zwar als ein unberechenbarer, und gerade darum historisch überaus relevanter Faktor, den ihre eigene Wissenschaft, die Wirtschaftswissen15 Habermas/Luhmann, 1971. Zur Kritik an der Habermasschen Konzeption vgl. auch Luhmann, 1997. 16 Vgl. Veyne, 1992. 17 Typisch etwa Bröckling, 2000. 18 Klassisch hierfür Rostow, 1960. 19 Hierzu Konrad/Kessel, 1994. 20 Klassisch etwa bei Landes, 1999.

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schaft, gar nicht hinreichend beschreiben kann, die bei der Krisendiagnose und -therapie so sehr versagte, wie das Geschehen seinerzeit ihre prognostischen Fähigkeiten der Lächerlichkeit preisgab.21 Die Wirtschaftsgeschichte war wieder gefragt – und sie war für die nun anstehenden Aufgaben im Grunde denkbar schlecht vorbereitet, und das nicht nur, weil heute die Zahl ihrer Stellen nur noch gut die Hälfte des Jahres 1980 beträgt. Dieser „Rest“ hat sich in den mageren 1980er bis 2000er Jahren zwar einigermaßen mit einer durchaus erfolgreichen Nischenstrategie im Bereich der Unternehmensgeschichtsschreibung22 durchgeschlagen, die bis heute recht gut trägt, zumal mit ihr hin und wieder eine durchaus zahlungskräftige und zahlungsbereite außerakademische Nachfrage verbunden ist. Aber diese Teilkompensation half nicht, die eigentliche Krise des Faches Wirtschaftsgeschichte zu überwinden, die eben nicht allein ein Konjunkturphänomen war oder ohne die Stellenstreichungen ausgeblieben wäre. Wenn es danach ginge, müsste man halt eben stets die nächste Welle abwarten, was ohne Frage richtig, ja unvermeidlich ist. Es gibt aber ein grundsätzlicheres Problem, das einerseits mit dem Selbstverständnis dieser Teildisziplin, andererseits mit der Bedeutung der Ökonomie zusammenhängt, die ihr in der allgemeinen Geschichtswissenschaft zugewiesen oder eingeräumt wird. Das Problem ist auch keineswegs neu, sondern begleitet die Wirtschaftsgeschichte als Stachel in ihrem Selbstverständnis seit ihrer Entstehung und wird durch die vermeintlich einfach zu lösende Zuordnungsfrage: eher Teil der Ökonomie oder eher Teil der Geschichte zu sein, im Grunde nur verdeckt. Die Antwortversuche auf die obige Frage endeten jeweils relativ hilflos, weil die Frage so nicht zu beantworten ist.23 Vielmehr bedarf die Wirtschaftsgeschichte einer Klärung bestimmter Grundüberlegungen, die es dann auch ermöglichen, das jeweilige Verhältnis zur aktuellen Ökonomie bzw. zur gegenwärtigen Geschichtsschreibung zu klären. Dass sich dieses Problem auf den kommenden wenigen Seiten nicht umfassend lösen lässt, versteht sich von selbst. Aber es können zumindest einige Eckpunkte angesprochen werden, die dazu helfen, den Status der Wirtschaftsgeschichtsschreibung zu klären. II. Das Überlegen fängt mit der ganz einfachen Frage an, was die Wirtschaftsgeschichte eigentlich ist. Die Antwort scheint naheliegend und pragmatisch plausibel: Wirtschaftsgeschichte ist konzeptionell einerseits das, was Wirtschaftshistoriker tun bzw. was nach vernünftigem Verständnis als Wirtschaftsgeschichte gilt; sie umfasst andererseits in gegenständlicher Hinsicht den gesamten Bereich der Geschichte der menschlichen materiellen Daseinsvorsorge. Gerade weil letzteres offensichtlich eine substantielle Bedeutung besitzt, haben wirtschaftshistorische Gesichtspunkte in der 21

Zur Krise der Ökonomie zugespitzt Nienhaus, 2009. Überhaupt häufen sich derzeit die Dekonstruktionen der Ökonomie, zumeist freilich von Autoren, die von ihr selbst ein eher äußeres Bild besitzen; vgl. Vogl, 2010. 22 Vgl. Ziegler, 1997. 23 Vgl. zuletzt die Debatte in der Zeitschrift VSWG, die ohne sinnvolles Ende blieb.

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Geschichtsschreibung stets eine wichtige Rolle auch dann gespielt, wenn sie nicht programmatisch im Vordergrund standen. Dieses pragmatische Verfahren gibt es bis heute24 – und es sollte keineswegs gering geschätzt werden. In gewisser Hinsicht sind die nachfolgenden Überlegungen daher auch durchaus ironisch zu sehen, steht doch die pragmatische Bedeutung der Wirtschaftsgeschichte außer Frage. Sollen die Unterscheidungen und Bezeichnungen trennschärfer verwendet werden, ist es allerdings nicht mehr so einfach. Das kommt daher, dass offensichtlich zwei Gesichtspunkte (nämlich die Methodik und der Gegenstandsbereich der Wirtschaftsgeschichte) trotz aller Pragmatik eben nicht selbstverständlich sind. So ist etwa das, was die Bielefelder Schule lange Jahre tat, auch unter Wirtschaftsgeschichte (zumindest teilweise) subsumiert worden, obwohl weder konzeptionell noch gegenständlich klar war, ob es wirklich um Wirtschaftsgeschichte ging. Begründete Einwände lassen sich durchaus erheben. In Bielefeld hat man zwar die Wirtschaft zum Thema, ja zum prominenten Thema gemacht, ohne jedoch wirtschaftshistorisch (im strengen Sinne) zu argumentieren. Nicht jedes Reden über Ökonomie oder ökonomische Strukturen aber ist Wirtschaftsgeschichte. In der Bielefelder Variante spielte vielmehr eine Mischung aus unterschiedlichen marxistischen und modernisierungstheoretischen Annahmen25 eine Rolle, in denen der Wirtschaft eine zentrale historische Rolle zukam, ohne dass es wiederum ökonomische Fragen und Verfahrensweisen waren, die die Geschichtsschreibung dirigierten. Stattdessen folgte man den eigenen gesellschaftsgeschichtlichen Überlegungen namentlich im Bereich sozialer Ungleichheit und politischer Herrschaft, während eigentliche wirtschaftshistorische Überlegungen über wirtschaftliche Entwicklung und wirtschaftlichen Strukturwandel in Folge der Verschiebung der relativen Preise weitgehend vernachlässigt wurden. Andererseits ist die Grenzziehung auch durchaus nicht einfach. „Bielefeld“ teilte in gewisser Hinsicht das Schicksal der älteren historischen Schulen der Nationalökonomie und der Wirtschaftssoziologie, die ja bereits zeitgenössisch weder von der „reinen Ökonomie“, noch von der „reinen Geschichtswissenschaft“ wirklich ernst genommen wurden, wenn auch aus geradezu entgegengesetzten Gründen:26 Den Ökonomen galten sie als detailverliebte Empiristen, und den Historikern als theorieverliebte Spekulanten; man lese nur einmal die Aussagen von Georg von Below über Gustav Schmoller oder Werner Sombart nach, von Karl Lamprecht hier ganz zu schweigen.27 Insofern sich die Wirtschaftsgeschichte in die Tradition 24

Vgl. als zwei alternative Zugänge: Hesse, 2013; Spoerer/Streb, 2013. Die programmatischen Aussagen Wehlers zur Gesellschaftsgeschichte lassen sich im Kern nur als modernisierungstheoretisch bestimmte Argumente begreifen, wie ja auch die Struktur der Wehlerschen Gesellschaftsgeschichte sich weitgehend an das AGIL-Schema von Talcott Parsons anlehnt. In diesem Schema ist Wirtschaft wichtig, aber eben nicht an sich interessant; vgl. hierzu Wehler selbst, Wehler, 1975. In der Regel wird bei der „Bielefelder Schule“ auf den großen Einfluss von Max Weber verwiesen, doch scheint mir das modernisierungstheoretische Moment sehr viel stärker. Aber das bedarf noch der Debatte. 26 Vgl. den luziden Artikel von Schumpeter, 1954. 27 Etwa Below, 1920. 25

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der Historischen Schule, und damit auch in die Tradition von Max Weber und Werner Sombart gestellt hat, haftet ihr diese Zwiespältigkeit in gewisser Weise bis heute an. In den 1990er Jahren schien die Mode der Neuen Institutionenökonomik einen Ausweg zu bieten, die ein im Kern streng ökonomisches Argument historisch anschlussfähig zu machen schien, ja über die Untersuchung des institutionellen Wandels als wesentlicher Bestimmungsgröße der wirtschaftlichen Entwicklung wirtschaftssoziologisch erweiterte. Mit ihr im Gepäck, so hofften manche Wirtschaftshistoriker, könnte die Wirtschaftsgeschichte endlich legitimer Teil beider Großdisziplinen, der Ökonomie und der Geschichte werden.28 Die Neue Institutionenökonomik begreift ökonomischen Wandel in der Zeit als Ergebnis institutioneller Auseinandersetzungen, in denen unterschiedliche Akteure um für sie möglichst günstige institutionelle Arrangements miteinander konkurrieren. Im Modell verhalten sich diese Akteure budgetrational, sind also am eigenen Vorteil orientiert und setzen sich für institutionelle Arrangements ein, von denen sie profitieren. Damit lassen sich in der Tat zahlreiche historische Konflikte einigermaßen plausibilisieren, doch trifft dieser Utilitarismus der Akteure leider in den historisch entscheidenden Phasen kaum zu. Denn gerade historische Großereignisse wie Revolutionen lassen sich so nicht erklären. Es gibt keinen rationalen Grund, sich auf einer Barrikade erschießen zu lassen, wenn man in den Genuss der Ergebnisse einer erfolgreichen Revolution auch ohne dieses Risiko kommt.29 Die Neue Institutionenökonomie kann daher so offenkundig für den institutionellen Wandel entscheidende Phänomene wie Revolutionen eben gerade nicht mit der für die Ökonomie zentralen Grundannahme der ökonomischen Rationalität des Individuums und seiner strikten Budgetorientierung erklären.30 Sie muss überdies den Prozess der Institutionenbildung extrem vereinfachen, der sich eben historisch gerade nicht allein über das Verhalten vorteilssuchender Akteure erklären lässt. Wenn die Debatte um die Rolle der protestantischen Ethik für die Entstehung des Kapitalismus im Anschluss an Max Webers entscheidenden Aufsatz eines gezeigt hat, dann war es gerade dieser Punkt: Die Institutionenentstehung geht gerade nicht auf eine ohnehin erst später feststellbare Akteursrationalität zurück, sondern muss selbst als offener historischer Prozess begriffen werden, in dem religiöse Vorstellungen eine maßgebliche Rolle spielen, Vorstellungen also, die sich im modernen Sinne ökonomisch nicht leicht erklären lassen.31 Douglass North, der eigentliche Schöpfer der institutionellen Theorie des wirtschaftshistorischen Wandels, räumt das auch ein und plädiert letztlich für eine kulturgeschichtliche Erweiterung seines Ansatzes, gibt also den umfassenden Erklärungsanspruch der Öko28

Wischermann/Ellerbrock, 2004. Ein Blick in die ökonomische Literatur selbst zeigt, wie unwahrscheinlich derartige kollektive Aktionen aus Sicht eines budgetrational handelnden Akteurs sind; Olson, 1968. 30 Eine in diesem Geist angelegte Wirtschaftsgeschichtsschreibung landet dann auch schnell in einer Art Teleologie der modernen Institutionenwelt, die sich historisch durchsetzt, weil sie vorteilhaft ist, ohne das bereits von Schumpeter angesprochene Problem auch nur zu berühren, dass die Funktionalität einer Institution nicht der Grund ihrer Entstehung sein kann. Ein Beispiel dieser Problematik ist Wischermann/Nieberding, 2004. 31 Vgl. jetzt etwa Greenfeld, 2003. 29

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nomie im Grunde auf.32 In Fortentwicklung von Norths Überlegungen hat Avner Greif schließlich argumentiert, institutionelle Ordnungen seien dann wirtschaftlich erfolgreich, wenn sie über inklusive Regeln verfügten, also die Bereitschaft zur Regelbefolgung auch ohne großen Aufwand geradezu vorausgesetzt werden könne.33 Das Erklärungsproblem ist dann auf die Frage nach der historischen Entstehung inklusiver Institutionen gerichtet, wobei Greif wiederum auf Weber und dessen europäische Stadt rekurriert, also im Kern der ökonomischen Rationalität ein historisches Phänomen vermutet, das der ökonomischen Rationalität vorausliegt und gerade deshalb durch sie nicht erklärt werden kann. Das alte Dilemma ist also weiterhin da: Durch ihre Annahmen („bounded rationality“, „moral hazard“) ist die Neue Institutionenökonomik der neoklassischen Ökonomie verpflichtet; durch ihren institutionenzentrierten Zugriff aber ist sie zum historiographischen Argument verpflichtet, da sich Institutionen eben nicht nach diesen Annahmen ändern, wobei sich die Argumente jeweils wechselseitig ausschließen. Ein Rückgriff auf die lange Zeit dominante Art der Wirtschaftsgeschichtsschreibung, die sich im weitesten Sinne wirtschaftssoziologisch verankert hatte, hilft allein also nicht wirklich weiter, wenn man klären will, was Wirtschaftsgeschichte in einem mehr als pragmatischen Sinne eigentlich ist oder sein könnte. Denn North prätendiert letztlich, eine universelle Theorie des historischen Wandels durch den Konkurrenzkampf rationaler Akteure liefern zu können, ohne sich der Paradoxien auch nur annäherungsweise bewusst zu werden, die er sich mit diesem Anspruch einhandelt. III. Versuchen wir es also noch einmal: Definiert man Wirtschaftsgeschichte als eine Teildisziplin von Ökonomie und Geschichte, die Fragen der materiellen Reproduktion der Gesellschaft im historischen Wandel primär unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten (alle anderen sind selbstverständlich auch möglich und gegebenenfalls sinnvoll; nur dann handelt es sich dann eben nicht um Wirtschaftsgeschichte) behandelt, dann kann man den Kreis enger ziehen und die Wirtschaftsgeschichte genauer fassen. Dann geht es nur sehr bedingt um ökonomische Macht, politische Herrschaft und soziale Ungleichheit, sondern vor allem um eine Rekonstruktion ökonomischen Wandels im Lichte und vor dem Hintergrund der Verschiebung der relativen Preise. Im Zentrum stehen also zahlungsbewehrte bzw. über Zahlungsäquivalente strukturierte Austauschprozesse, deren Intensität, Struktur und Wandel eben vor allem über ihren Zahlungscharakter, damit über die relativen Preise und deren Wandel begriffen werden muss. Die Annahmen der gegenwärtigen Mainstream-Ökonomie über „bounded rationality“ und „moral hazard“ muss man dabei gar nicht teilen, obwohl sie – solange man sie nicht anthropologisch generalisiert – eine gewisse heuristische Nützlichkeit besitzen, nicht zuletzt auch für die ältere Wirtschaftsgeschichte. Aus der Tatsa32 33

Vgl. North, 1992. Greif, 2006. In ähnlicher Weise argumentieren Acemoglu/Robinson, 2013.

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che, dass die anthropologischen Annahmen der modernen Ökonomie nicht generalisierbar sind, folgt ja keineswegs für die ältere Welt deren Gegenteil, etwa in dem Sinne, dass seinerzeit Altruismus vorherrschte, heute hingegen die individuelle Vorteilssuche. Dieser Fehlschluss dirigierte zumindest bei Werner Sombart einen Teil der Argumentation auf eine schiefe Ebene, insofern er annahm, da in der älteren Welt der „Erwerbstrieb“ nicht dominant gewesen sei, müsse dort ein anderes Handlungsmodell, bei ihm: der „Nahrungsgedanke“, vorgeherrscht haben, den nachzuweisen er sich daher nach Kräften bemühte. Auf die Idee, dass die ältere Welt unter Umständen gar kein ökonomisches Handlungsmodell kannte, kommt Sombart in seiner theoretischen Konzeption der notwendigen Bestandteile eines Wirtschaftssystems gar nicht.34 Aber bevor ich auf die Programmatik einer derartige Anachronismen bzw. schiefe Generalisierungen vermeidenden Wirtschaftsgeschichtsschreibung eingehe, ist eine Grundvorbemerkung zu machen, denn mit ihrer zugleich historischen wie systematischen Verankerung hat sich die Wirtschaftsgeschichte eine Paradoxie eingehandelt, die sie akzeptieren, von der sie ausgehen muss. Diese Paradoxie betrifft, zumindest soweit es sich mir erschließt, die gesamte Geschichtswissenschaft, aber die Wirtschaftsgeschichte ganz besonders, nämlich Annahmen voraussetzen zu müssen, die selbst nur historisch zu begreifen sind. Das ist eine klassische Paradoxie. Man kann das mit Niklas Luhmann als Problem der Differenzierungsform der Gesellschaft, als spezifisches Phänomen moderner Gesellschaften aufklären.35 Denn unsere moderne Wissenschaft ist nicht nur selbst Ergebnis einer nur historisch zu begreifenden funktionalen Differenzierung; auch die Gegenstände der insofern modernen Geschichtswissenschaft, zumindest soweit sie solche Bereiche wie „Wirtschaft“ umfassen, sind ja erst historisch entstanden, sodass es so etwas wie eine allgemeine Wirtschaftsgeschichte im strengen Sinne gar nicht geben kann, da es eben keine in der Gesellschaft universal geltenden Regeln des ökonomischen Wandels gibt, ja nicht einmal einen fest stehenden Gegenstand Wirtschaft, die andererseits aber bei jeder wissenschaftlich rationalen Analyse als gegeben unterstellt werden müssen.36 Die Ökonomie hat hier kein Problem, da sie die moderne Wirtschaft als gegeben betrachtet und nicht weiter problematisiert, was ihr von Historikern und Soziologen zumeist als epistemische Naivität bzw. naturalistischer Fehlschluss vorgehalten wird.37 Sie beschreibt Wirtschaft als universales Knappheitsverhältnis, in dem die Güter und Dienstleistungen entsprechend ihrer relativen Preise von individuell rational handelnden Nutzenmaximierern hergestellt und entsprechend der Einkommensverhältnisse unter ihnen verteilt werden. Das sind überaus elegante Annahmen – nur historisch eben alles andere als generalisierbar. Ihre Generalisierung führt in die beschrie-

34

Hierzu ausführlich Plumpe, 2007. Luhmann, 1997. 36 Hierzu bis heute maßgeblich Brunner, 1956. 37 Jüngst Vogl, 2010. 35

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bene Paradoxie. Aber das muss die moderne Wirtschaftswissenschaft, die ja explizit keine historische Wissenschaft sein will, nicht weiter kümmern. Die Wirtschaftsgeschichte ist nun allerdings in dieser Hinsicht ein Bastard, jedenfalls das ungeliebte Kind einer Verbindung von Ökonomie und Geschichte, die ihr als Erbteil eine Basisparadoxie vererbt haben, die sie nicht lösen, sondern bestenfalls entschärfen kann. Denn sie setzt als Kind der Ökonomie die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, die Moderne, ebenso voraus, wie sie als Kind der Geschichte deren Genese als kontingenten Prozess zu betrachten hat, der eben keiner tieferen Zwangsläufigkeit folgt. Diese Paradoxie kennzeichnet auch die moderne Geschichtswissenschaft, aber eben nur in epistemischer, nicht auch in programmatischer und thematischer Hinsicht. Mit dem Historismus hat sie zudem auf die epistemische Paradoxie eine tragfähige Antwort gefunden.38 Der Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist eben die Geschichte selbst, und nicht eines ihrer späten Kinder, wie die Wirtschaft es nun einmal ist. Aus dieser Paradoxie kann sich die Wirtschaftsgeschichte letztlich nicht befreien; alle Versuche, zu einer paradoxiefreien Selbstbeschreibung zu gelangen, sind daher in den vergangenen Jahrzehnten auch erfolglos geblieben.39 Aber, ich deutete es an, man kann die Paradoxie entschärfen, erstens, indem man sie sich klarmacht, und zweitens, indem man die Reichweite der eigenen Aussagen beschränkt, wie es ja auch die allgemeine Geschichtswissenschaft mit dem Historismus zumindest in logischer Hinsicht getan hat. Wenn ein Kreter sagt, alle Kreter lügen, verstrickt er sich in eine unlösbare Paradoxie, was er nicht täte, sagte er, einige Kreter nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau. In der Auseinandersetzung um die epistemische und programmatische Bedeutung der Arbeiten Werner Sombarts, die ja sowohl bei Historikern wie bei Ökonomen auf massive Vorbehalte trafen, hat Otto Hintze bereits diesen bis heute geltenden Punkt betont: Als Wirtschaftshistoriker muss man mit theoretischen Setzungen arbeiten, die streng genommen aber nur – will man sich nicht gegen Grundannahmen historischen Denkens vergehen – begrenzte Reichweiten besitzen dürfen. Insofern ist es eben paradox, der Menschheit Budgetrationalität als conditio humana zu unterstellen, weil die Budgetrationalität ein überaus modernes Kennzeichen und Konzept ist; ebenso untauglich aber wäre es, den Gedanken der Budgetrationalität gänzlich zu verwerfen: Unter klar definierten Voraussetzungen ist er eben doch zur Klärung historischer Sachverhalte von erheblicher Bedeutung. Aufgeklärter Pragmatismus ist mithin das, was eine moderne Wirtschaftsgeschichte benötigt, und zwar sowohl in der Offenheit gegenüber theoretischen Konzepten wie gegenüber der „strukturellen Heterogenität“ des Historischen, das sich in einer Quellenhinterlassenschaft niedergeschlagen hat, die jeder Beschreibung spottet. Die Wirtschaftsgeschichte ist zumindest nach meiner Auffassung mithin eine historische Teildisziplin, die ihre empirischen Befunde vorrangig nach ökonomischen Annahmen sortiert, welche sie aber wiederum nicht generalisiert. Die hierfür gefundene rhetorische Figur ist das Reden von den „Theorien mitt38 39

Hierzu ausführlich Lübbe, 1977. Zusammenfassend Plumpe, 2008: 7 – 39.

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lerer Reichweite“, ebenfalls eine – von Otto Hintze stammende – hübsche Paradoxie.40 Doch darf es damit nicht sein Bewenden haben, denn so lässt sich bestenfalls ein Teil des wirtschaftlichen Lebens, nämlich das ökonomische Alltagsleben als der Vollzug von Austauschhandlungen, die über Preise gesteuert sind, aber unter jeweils historisch konkreten Bedingungen ablaufen, begreifen. Es ist offensichtlich, dass diese Sphäre nicht nur unvollständig ist, da zahlreiche Transaktionen gerade in der Vormoderne nicht monetär kodiert sind (was nicht heißt, dass nichtmonetäre Austauschverhältnisse nicht zahlungsrational waren!), sondern auch voraussetzungsund folgenreicher ist, als sich aus ihrer enggefassten Beschreibung über relative Preise ergibt. Um ökonomisches Alltagshandeln, um Preisbildungs- und Austauschprozesse sowohl individuell wie aggregiert begreifen zu können, müssen wiederum deren Voraussetzungen und Rahmenbedingungen einbezogen werden, neben der jeweiligen Technik, die hier außer Acht bleibt, namentlich die das Alltagshandeln regulierenden Institutionen, also etwa die Märkte und ihre Ordnungen, die den wirtschaftlichen Alltag zwar nicht determinieren (gegen Ordnungen kann man bekanntermaßen verstoßen), aber doch einen für das Handeln relevanten institutionellen Korridor schaffen, der nicht trivial ist, weil er die Struktur der Zahlungsprozesse und die Höhe und Art der Preise und den Modus ihrer Durchsetzung betrifft. Hier ist die Wirtschaftsgeschichte im Kern auf Kooperation angewiesen, namentlich zur Rechtsgeschichte. Drittens schließlich ist für die Wirtschaftsgeschichte neben den Alltagspraktiken und ihrer Institutionalisierung jener Komplex von zentraler Bedeutung, der ausgehend von der kritischen Reflexion des Alltagshandelns jene semantischen (insbesondere normativen) Bestände bereitstellt, die so etwas wie Institutionenbildungen überhaupt erst ermöglichen. Keine Institution ohne hinreichenden Grund, kein institutioneller Wandel ohne Zerstörung und Neufassung von Gründen. In dieser Triade von Semantiken, Institutionen und Praktiken, ihrer gegenseitigen Irritierung und der dadurch ausgelösten Wandlungsdynamik liegt mithin der Kern des wirtschaftshistorischen Arguments, das, um entfaltet zu werden, der Kooperation mit der Ideen- und Institutionen- oder Rechtsgeschichte ebenso bedarf wie der ökonomischen Theorie, die das Alltagshandeln häufig erst transparent macht. Dabei ist das Spannungsverhältnis wichtig. Semantiken, Institutionen und Praktiken müssen (und werden in der Regel) nicht aufeinander abgestimmt sein, im Gegenteil: Gerade in der laufenden, anhaltenden Irritierung liegt das historische Potential, was einige Beispiele verdeutlichen können. So ist etwa die „Idee des ganzen Hauses“ in einem Teil der Literatur missverstanden worden, die glaubte, dessen fehlende Stichhaltigkeit durch seine bestreitbare praktische Relevanz zeigen zu können.41 Doch verdunkelt dieser häufig erhobene Einwand nur. Es ist nicht der Sinn von historischen Semantiken, Alltagspraktiken abzubilden oder zwingend vorzuschreiben, sondern eben Semantik zu sein, die sich in Institutionenbildungen niederschlägt, die sich wie40

Vgl. Hintze, 1929. Brunner, 1956. Zur Debatte Oexle, 1984. Siehe aus der Fülle der Brunnerkritik auch Trossbach, 1993. 41

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derum praktisch bewähren können oder eben nicht. Wie diese Irritationen semantisch verarbeitet werden und welche Folgen das hat, das ist dann das eigentliche historische Problem. Oder ein modernes Beispiel, die Biotechnologie. Das ist ein im ökonomischen Alltagshandeln vielversprechendes Gebiet, das vorteilssuchende Akteure in großer Zahl anzieht, sodass eine Regulierung dieses Bereiches zwingend erscheint. Doch wie soll reguliert werden? Welche Institution ist die richtige? Das setzt einen gesellschaftlichen Suchprozess voraus, der sich irgendwann in einer Art Leitsemantik niederschlägt, die dann – in deutschem Fall – restriktive Institutionen begründet. Halten sich die Wirtschaftssubjekte im Alltag daran? Manche ja, andere nicht. Manche versuchen zu tricksen, andere wandern aus, manche geben diese Richtung der Biotechnologie auf. Das wirft wiederum Fragen der institutionellen Effizienz auf und zugleich die Frage, ob sich eine Institution, die auf wenig praktische Akzeptanz stößt, begründen, und wenn ja, auch durchsetzen lässt.42 Das sind offene Fragen, auf die eine Wirtschaftsgeschichte der Biotechnologie eine Antwort finden muss, ebenso wie sie früher eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Wandels zu suchen hatte, der in der berühmten Vorrede zum Oktoberedikt von 1807 zum Ausdruck kam: „Nach eingetretenem Frieden hat Uns die Vorsorge für den gesunkenen Wohlstand unserer getreuen Unterthanen, dessen baldigste Wiederherstellung und möglichste Erhöhung vor Allem beschäftigt. Wir haben hierbei erwogen, daß es, bei der allgemeinen Not, die Uns zu Gebote stehenden Mittel übersteige, jedem Einzelnen Hilfe zu verschaffen, ohne den Zweck erfüllen zu können, und daß es eben sowohl den unerläßlichen Forderungen der Gerechtigkeit, als den Grundsätzen einer wohlgeordneten Staatswirthschaft gemäß sey, Alles zu entfernen, was den Einzelnen bisher hinderte, den Wohlstand zu erlangen, den er nach dem Maaß seiner Kräfte zu erreichen fähig war; Wir haben ferner erwogen, daß die vorhandenen Beschränkungen theils in Besitz und Genuß des Grund-Eigenthums, theils in den persönlichen Verhältnissen des Land-Arbeiters Unserer wohlwollenden Absicht vorzüglich entgegen wirken, und der Wiederherstellung der Kultur eine große Kraft seiner Tätigkeit entziehen, jene, indem sie auf den Werth des Grund-Eigenthums und den Kredit des Grundbesitzers einen höchst schädlichen Einfluß haben, diese, indem sie den Werth der Arbeit verringern.“43

Was der gute König Friedrich Wilhelm III. hier zum Ausdruck brachte, war nichts anderes als der vollständige semantische Bruch mit einer Tradition, in der das Verfolgen des individuellen Vorteils als sündig, jedenfalls nicht als gemeinschaftsfähig galt. Das hatte sich lange abgezeichnet, aber das Entscheidende war jetzt, dass diese Umstellung institutionenbegründungsfähig wurde, wodurch die Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts einen wesentlichen Schub erhielt, weil das ökonomische Alltagshandeln sich nun entgrenzt sah.44 Genau diese Entgrenzungen sollten es 42 Die Liste der Kommissionen zu diesen Fragen, der Parlamentsdebatten und -beschlüsse, der internationalen Vereinbarungen und Deklarationen ist lang. Allein diese Vielfalt zeigt die Unabgeschlossenheit semantischer und institutioneller Prozesse, die derzeit noch von jeder technischen Neuerung erschüttert werden. 43 Abgedruckt bei Huber, 1978: 41. 44 Plumpe, 2007.

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dann auch sein, die nach einigen Jahrzehnten dann einen zunächst semantischen Gegenschlag auslösten, der wiederum in Bismarcks Sozialpolitik institutionenbegründungsfähig wurde. In gewisser Hinsicht kann der Aufstieg der Historischen Schule der Nationalökonomie in Deutschland zur ökonomischen Leitfigur zwischen den 1870er und 1890er Jahren zugleich als eine semantische Reaktion auf den britischen Liberalismus wie als Reflexion der sozialpolitischen Probleme der Hochindustrialisierung gesehen werden, die so etwas wie eine normative Begründung staatlicher Sozialpolitik erst ermöglichte, die ihrerseits wiederum neue Einrichtungen schuf und das industrielle Arbeitsverhältnis wesentlich beeinflusste – mit umfassenden Folgen für den praktischen Arbeitsalltag.45 IV. Doch genug der Beispiele. Wirtschaftsgeschichte hat es mit der alltäglichen menschlichen Daseinsvorsorge, ihren Strukturen und ihrem historischen Wandel in Abhängigkeit von den jeweiligen relativen Preisen der Güter und Dienstleistungen bzw. der verfügbaren Produktionsfaktoren zu tun. Ihr Kerngegenstand sind die alltäglichen ökonomischen Phänomene, die aber in ihrer Preis- und Zahlungsgestalt jeweils doppelt konditioniert sind, durch unsere Vorstellungen vom richtigen Handeln und die sich hieraus herleitenden Institutionen. Sie ist mithin auf intensive Kooperation angewiesen – sowohl zur Geschichte wie zur Ökonomie, ist aber mit keinem von beiden identisch. So kann sie relevante Aussagen treffen, die sich übrigens wohlgemerkt keinem simplen Fortschrittsparadigma mehr verpflichtet sehen, das historisch ohnehin einen kleinen Ausnahmezeitraum markiert. Die Geschichte des ökonomischen Strukturwandels kann genauso als Stagnation wie als Geschichte zyklischer Auf- und Abschwünge mit ungewissem Ausgang skizziert werden, die Gleichgewichtszustände oder gar andauernden Fortschritt, wie sie etwa die Mainstream-Ökonomie konzeptionell voraussetzt, gerade nicht kennt. Damit ist die Wirtschaftsgeschichte letztlich dem historistischen Programm sehr nahe, nur dass sie eben aus dem „wirklichen Leben mit seiner gemeinen Empirie“, um Friedrich Schiller zu zitieren,46 die zahlungsrelevanten Momente herausgreift und plausibilisiert. Und sie tut dies nicht mit der Gewissheit, es mit einer Art „Naturgeschichte der Ökonomie“ zu tun zu haben, in der wesentliche anthropologische Annahmen gesetzt sind, sondern ist sich ihrer grundlegenden Paradoxie bewusst, etwas als Analyserahmen voraussetzen zu müssen, das selbst nur historisch erklärt werden kann.

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Lindenlaub, 1967; Grimmer-Solem, 2003. Schiller, 1797/1990.

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Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft, Rechtspolitik – ein Essay1 Von Joachim Rückert Von Zeit zu Zeit erscheint die Vogelperspektive aufschlussreich. In vier Richtungen möchte ich sie hier durchführen: (I.) für einige Ambivalenzen und Prämissen des Themas, (II.) für den Verfassungsstaat als historische und normative Bedingung auch der Wissenschaften vom Recht, (III.) für die Beziehung von Geschichte und Recht im methodischen Konzept der Problemgeschichte und (IV.) für einige heutige Aussichten. I. Ambivalenzen und Prämissen Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft und Rechtspolitik bedeuten nicht allen und nicht überall das Gleiche. Ihre Relationen wechseln mit ihren Bedeutungen. Der unterschiedliche wissenschaftliche Gebrauch der Konzepte „Geschichte“, „Rechtswissenschaft“ und „Politik“ hängt von grundlegenden philosophischen und theoretischen Prämissen ab. Zunächst erscheint alles ja ganz einfach. Wir betreiben Geschichte, wenn wir zurückblicken. Blicken wir auf das Recht, wie es gilt, betreiben wir Rechtswissenschaft. Erwägen wir, wie Recht sein könnte und sollte, so betreiben wir politische Theorie. Die Frage ist nur, in welcher Weise wir unsere Blicke richten und was wir zu sehen versuchen. Immerhin dürften so ziemlich alle Möglichkeiten schon versucht worden sein. Das hat den Vorteil, dass viele Beispiele bereitliegen, aber auch den Nachteil, dass es zu viele sind. Für meine Vogelperspektive gehe ich aus von nur zwei, aber entscheidenden Positionen. Sie werden gut sichtbar in der Entstehung moderner Philosophie und Wissenschaft, Jurisprudenz und Politiktheorie in der Ära der Aufklärung, mit Montesquieu in Frankreich (1689 – 1755), Hume in England (1711 – 76) und Kant in Deutschland (1724 – 1804). Um die dabei entstandenen Prämissen und Denkpfade zu sehen, bedarf es einiger Wissenschaftstheorie.

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Der Beitrag baut auf einem Vortrag auf, der in englischer Sprache im Oktober 2012 in Florenz bei der internationalen Jubiläumskonferenz der „Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno“ gehalten wurde. Die Nachweise sind beschränkt auf Quellenbelege und einige Hinweise auf weiterführende Literatur. Für eine Reihe von Beispielen habe ich mir erlaubt, auf eigene Untersuchungen zu verweisen.

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1. Zwei Hauptpositionen Auf der einen Seite wurde wenigstens seit John Lockes „Essay Concerning Human Understanding“ von zuerst 1690 eine immer kritischere Konzeption des menschlichen Verstandes und Verstehens ausgearbeitet. In dieser Linie versuchte man immer weniger, umfassende Allerklärungen des Wahren und Richtigen zu geben. Konsequent wurde der Sinn von Geschichte und Recht und Politik nicht länger abgeleitet aus universalen Substanzen und Konzepten wie Gott, Natur, Vernunft, Idee, Geschichte als solche, sondern er wurde vorsichtiger und offener, freier und reichhaltiger konzipiert. Die moderne Autonomie der Wissenschaft und der Wissenschaften wurde zur führenden Perspektive. Es war eine Autonomie gegenüber jeder Metaphysik. Alle drei Aufgaben, die geschichtliche, die rechtswissenschaftliche und die politiktheoretische, lassen sich seitdem erkenntniskritisch oder erkenntnisoptimistisch verstehen. Erkenntniskritisch verstand man sie vor allem in der Linie Humes und Kants. Kants drei Kritiken, zur reinen und praktischen Vernunft und zur Urteilskraft, waren 1781, 1788 und 1790 erschienen; Humes „Treatise of Human Nature“, seine „Political Essays“ und seine „Enquiry Concerning Human Understanding“ bereits seit 1739/40, 1741/42 und 1748. Auch Montesquieus „De l‘esprit des lois“ von 1748 und Smiths „Wealth of Nations“ von 1776 haben diese Linie gefördert. Diese Texte wurden konstitutiv für den großen Umbau der philosophischen, politischen, sozialen und weiterer Grundbegriffe „um 1800“. In den Fächern Geschichte, Rechtswissenschaft und Politik, nahm diese Linie vor allem der so genannte Göttinger Pragmatismus und unter den Juristen besonders der Jurist und Rechtsphilosoph Gustav Hugo (1764 – 1844) seit 1789 auf. In den 1820er Jahren wurde Hugo unter Juristen als der Lehrer des 19. Jahrhunderts bezeichnet.2 Philosophisch hochinformiert als gründlicher Kantkenner und methodisch besonders entschieden und klar hat Hugo eine folgenreiche rechtswissenschaftliche Arbeitsteilung begründet. Seine methodische Trias Dogmatik, Philosophie, Geschichte innerhalb der Jurisprudenz bedeutete eine Revolution der juristischen Denkarten. Er hat dies immer neu ausgearbeitet seit 1792 in seinem Einführungslehrbuch „Juristische Enzyclopädie“3, dem ersten Band seines zuletzt siebenbändigen „Civilistischer Cursus“.4 Die drei Punkte seien „durch den Begriff des positiven Rechts gegeben“, nämlich, in der Fassung von 17995: 2 So der Juristenstern um 1840, Georg Friedrich Puchta, Encyclopaedie als Einleitung zu Institutionen-Vorlesungen, 1825, S. 65; generell zu Hugo nach wie vor allem Giuliano Marini, L‘opera di Gustav Hugo nella crisi del giusnaturalismo tedesco, 1969; ergänzend Joachim Rückert, „daß dies nicht das Feld war, auf dem er seine Rosen pflücken konnte“ … . Gustav Hugos Beitrag zur juristisch-philosophischen Grundlagendiskussion nach 1789, in: R. Dreier (Hg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts …, 1990, S. 94 – 128. 3 Gustav Hugo, Juristische Encyclopädie, 1. Aufl., 1798, 8. Aufl., 1832. 4 Nämlich Bd. I. Encyclopädie, 1. A. 1798, 8. A. 1835; Bd. II. Naturrecht, 1. A. 1798, 4. A. 1819; Bd. III. Geschichte des röm. Rechts, 1.A. 1790, 11. A. 1832; IV. Heutiges röm. Recht,

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„1. Was ist Rechtens – Die juristische Dogmatik? – Sie macht das Handwerksmäßige der Jurisprudenz aus, und könnte auch empirisch gelernt werden, selbst ohne alle gelehrte Kenntnisse. 2. Ist es vernünftig, daß es so sei? – Philosophie des Rechts, theils die Metaphysik über die bloße Möglichkeit (Zensur und Apologetik des positiven Rechts nach Prinzipien der reinen Vernunft), teils die Politik über die Ratsamkeit eines Rechtssatzes (Beurteilung der technischen und pragmatischen Zweckmäßigkeit nach empirischen Daten der juristischen Anthropologie). 3. Wie ist es rechtens geworden? Die Rechtsgeschichte, sowohl die gewöhnlich so genannte, die äußere, d. h. die Geschichte der Quellen und Studiums, – als die innere, die Geschichte der Lehren selbst, die Rechtsalterthümer …“.

Man hört Hume und den Kantianer und die grundlegende neue Wissenschaftstheorie: volle Empirie, begrenzte Metaphysik, Hinzunahme der Politik, empirische Geschichtswissenschaft. Rechtswissenschaft, oder vielmehr Jurisprudenz oder Dogmatik, wie es noch hieß, bedeutet dann die mehr handwerkliche Arbeit am geltenden Recht, die wissenschaftlich ausgeformte Erkenntnis dessen, was täglich gilt, also die Erkenntnis als ein „nach Prinzipien geordnetes Ganzes“.6 Rechtsgeschichte erforscht die historischen Gründe des geltenden Rechts, wie es war und entstand. Rechtsphilosophie untersucht die Sollensgründe, wie Recht gestaltet sein kann und soll. Für diese dritte Perspektive schwanken die Bezeichnungen signifikant zwischen alten und neuen Konzepten7: von Naturrecht und Philosophie des Rechts, philosophische Rechtslehre und Rechtsphilosophie zu „Philosophie des positiven Rechts“ (wie Hugos prägnanter Titel seit 1798 lautet in seinem „Lehrbuch des Naturrechts als Philosophie des positiven Rechts“) oder „Politik“ (des Rechts) und „Wissenschaft der Gesetzgebung“, auch Zweckmäßigkeitslehre,8 später politische Theorie und legislative Rechtswissenschaft.9 1819 registriert dies Hugo erneut und bemerkt:

1. A. 1789 (als „Institutionen“), 7. A. 1828; V. Chrestomathie von Beweisstellen, 1. A. 1790 (mit classischem Pandektenrecht), dann selbständig 1. A. 1802, 3. A. 1820; VI. Civilistische Literärgeschichte (seit Justinian), 1. A 1812, 3. A. 1830; VII. Lehrbuch der Digesten, 1. A. 1790 (als „classisches Pandektenrecht“ mit Chrestomathie), dann selbständig 1. A. 1821, 2. A. 1828 (alle Titel abgekürzt). 5 Hier S. 15/§ 16, ähnlich 8. A. 1835, S. 32 f./keine §§. 6 Mit Kants genereller, minimaler Wissenschaftsforderung, siehe: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften, 1786, Vorrede, S. A V f., auch Kritik der reinen Vernunft, 1781 u. 1787, S. A 301 und B 358 speziell für die Juristen. 7 Siehe dazu meine umfassende Bestandsaufnahme und Titelliste in: Kant-Rezeption in juristischer und politischer Theorie (Naturrecht, Rechtsphilosophie, Staatslehre, Politik) des 19. Jahrhunderts, in: John Locke und/and Immanuel Kant, hg. von M. P. Thompson, 1991, S. 144 – 205, hier 146 – 150. 8 Siehe für die drei letzten Bezeichnungen Gustav Hugo, Enzyclopädie, 2. A. 1799, p.15/ § 16; im Übrigen meine erwähnte Liste (wie Fn.7). 9 Siehe zu letzterem Konzept meine Studie: Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, 1988, S. 96 – 101.

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Joachim Rückert „Die Politik ist im wahren ursprünglichen Sinne des Wortes (Wissenschaft von der Polis, der civitas, also civilis scientia) gerade derselbe Theil der Philosophie, mit welchem wir uns beschäftigen, und es ist eine große Entstellung des Begriffs, wenn man ganz neuerlich in Deutschland bei der Bestreitung der Philosophie des positiven Rechts die Politik bloß für Klugheitslehre hat nehmen und dem Rechte ganz entgegensetzen wollen“.10

Hugo beruft sich dabei auch auf den Ausdruck „droit politique“ besonders bei Montesquieu und Rousseau. Diese dritte Perspektive war wissenschaftstheoretisch besonders stark von den allgemeinen Veränderungen betroffen, und wissenschaftspraktisch beanspruchten sie konsequent teils die Juristen, teils die Nichtjuristen, teils ein Hugo, teils ein Hegel – mit der entsprechenden bekannten Polemik.11 In allen drei Perspektiven hält man sich hier an die „facts“, die „Tatsachen“, mit dem neuen Wort des 18. Jahrhunderts seit Spalding 175612 und vermeidet bewusst jede Metaphysik des Rechts. Das war befreiend, umwälzend, revolutionär. Wegen der steten Bindung an zeitbedingte Empirie redet man hier nicht von überzeitlichen, ewigen Prinzipien. Alles Praktische, auch das Recht, ist „positiv“, d. h. aus menschlichem Handeln geworden. Geschichte, Philosophie und Jurisprudenz sind autonome Perspektiven, die säuberlich getrennt werden. Es gibt keine religiöse, historische oder philosophische Substanz, unter der alles vereinigt wäre. Damit ist jeder metaphysische Zugriff, sei es aus Gott, Offenbarung, Vernunft, Natur oder auch sog. Geschichtsgesetzen, verworfen, also eine ganze, sehr lange Tradition solch metaphysischen Denkens. Hugos philosophische Zeugen sind Hume und Kant. Und Kant wird dabei streng erkenntniskritisch gelesen, also normativ vorsichtiger als in der starken liberalen Linie der Kant-Rezeption13. In diesem Sinne wurde Kant zum Vater dieses empirischen und vorsichtig forschenden Erklärens, das weltweit Karriere machte. Noch Karl Popper rühmt daher vor allem Kant, als Aufklärer nicht als Idealisten.14 Für den Wissenschaftsbegriff der Jurisprudenz bedeutet diese kritische Haltung eine besondere Schwierigkeit. Sie hat nicht mehr Anteil am philosophischen Charakter der Metaphysik, da sie nicht mehr daraus abgeleitet wird. Ihr Gegenstand wird zum positiven Recht und scheint in willkürlich gestaltetes Chaos zu zerfallen – daher die immer wieder beschworene Kritik an der Unwissenschaftlichkeit der Jurisprudenz, von Kant 1797 bis Kirchmann 1848 usw. Ihre Maßstäbe verlieren den metaphysischen Halt und scheinen eine Frage politischer Ideen und Ideologien zu werden. Immerhin kann sie als Dogmatik des geltenden Rechts zur vernünftigen Ordnung der Empirie der Gegenwart werden und als Rechtsphilosophie zur (rechts-)politischen Theorie. Als Rechtsgeschichte wird sie zur Ordnung der Vergangenheit. 10

Hugo, Naturrecht, 4. A. 1819, S. 6/§ 5. Dazu, einmal nicht nur von Hegel her, Rückert (wie Fn. 2). 12 Siehe jetzt Thiago Reis, Savignys Theorie der juristischen Tatsachen, 2013 (= Savignyana; Bd. 12), S. 20 – 24 mit weiteren Nachweisen. 13 Dazu Rückert (wie Fn. 7). 14 Vor allem im Kant-Prolog zu: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, engl. 1945; dt. 1957/58 und öfter; gute weitere Hinweise dazu bei Hans-Joachim Niemann, Lexikon des kritischen Rationalismus, 2004, unter „Kant“. 11

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Die Autonomie der rechtlichen Perspektive musste erst mühsam erkämpft und gewonnen werden. Es entstand Rechtswissenschaft in den drei Perspektiven. Die Trennung der drei Perspektiven bedeutet aber keine absolute Trennung, sondern eine Arbeitsteilung, also nicht etwa eine Blindheit für die jeweils anderen Perspektiven. Man muß für eine volle Rechtswissenschaft die drei Perspektiven von Forschungsfrage zu Forschungsfrage jeweils konkret verbinden. Eigentum und Vertrag, Familie und Erbe, Staat und Gesellschaft, Strafe und Sanktion, Prozeß und Gericht, zeigen unterschiedliche historische und juristische Prägungen, zu denen wir aus der Geschichte keinen gemeinsamen, gewissermaßen ewigen und derart maßgeblichen Zusammenhang im Sinne von Savignys „innerer Notwendigkeit“ entnehmen können, auch nicht bloße Entwicklungsgesetze mit „offenem Ende“. Nur vorläufige Antworten für bestimmte Zusammenhänge an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten und gewisse Entwicklungspfade lassen sich ermitteln. Morgen kann alles anders ausfallen. Geschichte ist ganz grundsätzlich offen, obwohl man natürlich bestimmte Bedingungen und Faktoren und sogar Entwicklungspfade herausfinden kann. All diese Zusammenhänge sind aber nicht generell zwingend in der Art von Gesetzen. Hugo und Savigny stehen hier exemplarisch und werden kontrastiert, gewiß für viele paradox. „Von Savigny zu Hugo“ müsste die moderne Perspektive lauten. Denn so sehr Hugo und Savigny oft als gemeinsame Gründer einer historischen Schule genannt werden, so sehr Hugo in der Tat einer kritisch-historischen Rechtswissenschaft, konkret des damals geltenden rezipierten römischen Rechts, Bahn gebrochen hatte, und so sehr die beiden offenen Dissens vermeiden, im philosophischen Fundament und im letzten Arbeitsziel waren sie gerade nicht einig. Von Savigny haben wir dazu nur beredtes Schweigen, besonders 1838.15 Wenn man diese Differenz missachtet, gehen wesentliche Erklärungen in die Irre. 2. Einige Konsequenzen Diese kritische theoretische Haltung hat also erhebliche Konsequenzen für Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft und Politik und ihre Relationen. Sie gewinnen Schärfe bei einem genaueren Blick auf die zweite Hauptposition. Besonders eindrücklich ausgearbeitet hat diese zweite Position der berühmt-berüchtigte Juristenfürst des 19. Jahrhunderts, Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861). Seine knappste Formel setzte er 1815 in den Titel der von ihm maßgebend begründeten Programmzeitschrift „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ (1815 – 1861). Hugo hatte von Geschichte und Philosophie/Politik und Recht gesprochen und den Titel „geschichtliche Rechtswissenschaft“ missbilligt.16 15

Genauer meine Studie zu Hugo (wie Fn. 2), S. 115 f. Zur Konzeption und Wirkung dieser Zeitschrift meine Untersuchung: Geschichtlich, Praktisch, Deutsch. Die „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ (1815 – 1850), das „Archiv für die civilistische Praxis“ (1818 – 1867) und die „Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft“ (1839 – 1861), in: Michael Stolleis (Hg.), Juristische Zeit16

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Savigny verband nun gerade diese drei Perspektiven zu einer einzigen „geschichtlichen Rechtswissenschaft“. „Geschichtliche Rechtswissenschaft“ ist bekanntlich das neue Stichwort Savignys. Man muss es sehr ernst nehmen, denn er verbindet damit den geschichtlichen und den rechtlichen Zugriff grundsätzlich in dem neuen Konzept, das er Rechtswissenschaft nennt, dem er also ein bewusst neues Wort widmet. Es wurde um 1800 erfunden, zuerst im Strafrecht17. Savigny, der vor 1800 intensiv Strafrecht studiert hatte, benutzt es fast sofort in seiner Methodologievorlesung von 1802/03. Dort spricht er durchweg von Wissenschaft und wissenschaftlich18 und spätestens 1812 auch von „Rechtswissenschaft“ – was so noch nicht überprüft war.19 Er tut dies, um die Richtung auf „Mehr“ als Fakten und Relationen zu eröffnen, auf mehr als Handwerk und bloß formale Ordnung, auf inneres „System“ und „innere Notwendigkeit“ auch im Verständnis des Rechts, kurz auf Wissenschaft im höheren Sinne seiner Zeit. So hatte „Rechtswissenschaft“ auch Schelling 1802/03 in seinen berühmten „Vorlesungen über die Methode des academischen Studiums“ herausfordernd verwendet: Recht ist ihm ein „objektiver Organismus der Freiheit oder des Staats“. Und er statuiert: „Es gibt eine Wissenschaft desselben, so notwendig es eine Wissenschaft der Natur gibt.“ Er nennt sie „Rechtswissenschaft“ und sieht in ihr ein „historisches“ und ein „philosophisches Element“.20 Bei Savigny wie bei Schelling wurde nun das Recht als ein lebendiges Ganzes gesehen, zudem als ein solches, das sich „von selbst“ entwickle, ohne eigentlichen menschlichen Eingriff. Ganz anders sah Hugo darin ein „Aggregat“ der Rechte in ihrer jeweiligen Epoche, von Zeit schriften. Die neuen Medien des 18. – 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1999, S. 107 – 257, hier 119. 17 Siehe „Rechtswissenschaft“ im Strafrecht seit ca. 1797 bei Stephani und E. F. Klein, dazu Sten Gagnér, Orsteds Wissenschaft, die deutschen Kriminalisten und die Naturrechtslehre (dänisch 1980), dt. Übers. in: ders., Abhandlungen zur europäischen Rechtsgeschichte, 2004, S. 521 – 603, bes. S. 526 ff., 572 ff.; weiteres bei Rückert (wie Fn. 16) S. 118 mit Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „Praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, 1979, S. 36 – 46. 18 Siehe die jetzt maßgebende Ausgabe der sog. Methodenlehre seit 1802 in: Friedrich Carl von Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802 – 1842, hg. und eingeleitet von Aldo Mazzacane, 1.A. 1993, 2. erw. Aufl., 2004, für 1802/03 in der in beiden Auflagen vermerkten Originalpaginierung fol. 2r: wissenschaftliches Arbeiten, 2v: Gesetzgebungswissenschaft, historische Wissenschaft, 3r: auch philosophische Wissenschaft, 4r: neue Ansicht für die Wissenschaft: historische Behandlung im eigentlichen Sinn, das heißt Betrachtung der Gesetzgebung als sich fortbildend in einer gegebenen Zeitpunkt – Zusammenhang unserer Wissenschaft mit der Geschichte des Staats und des Volks …, 31r, 31v; ähnlich 1809, ebda. fol. 37r und v., 46r, 47v, 51r, 60r, 60v, 61r mehrfach, 61v. 19 Siehe Savigny bei Mazzacane (wie Fn. 18), 65r = Pandekten 1812: „Wie entsteht überhaupt Rechtswissenschaft?“, auch 66r: Entstehung der Rechtswissenschaft …; erneut 84r = 1824/25, 86v = 1825/26; 93r, 93v, 94r = 1827/28 ff. 20 Siehe die 10. Vorlesung: Über das Studium der Historie und der Jurisprudenz, in der Ausgabe Darmstadt 1968/Nachdruck aus Schelling, Sämmtliche Werke, 1. Abt., Bd. 4 – 6, 1859 f., S. 540 ff. bzw. 306 ff. des Nachdrucks, hier S. 546/312; s. auch 7.Vorlesung: S. 517/ 283: Wissenschaft des Rechts.

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zu Zeit, von Region zu Region und von Gemeinschaft zu Gemeinschaft. Morgen mochten andere Rechte gelten. Gewiss konnte man bestimmte Tendenzen, Entwicklungspfade, Legales und nicht Legales herausfinden, aber nicht das Recht als ein Ganzes. Savignys generelles Erkenntnismodell geht weiter. Er will mehr sehen und das fasziniert bis heute. Er verbindet Geschichte und Recht grundsätzlich und notwendig. Sein Erkenntnismodell stammt nicht von Kant wie bei Hugo, anders als wichtige Teile seiner Privatrechtstheorie, zum Beispiel das Konzept allgemeiner Rechtsfähigkeit und gleicher Freiheit.21 Wir dürfen die beiden Linien der kantischen Tradition und Wirkungen, die Erkenntnistheorie und die substantielle Theorie des Rechts in ihrer doppelten Rezeption nicht vermischen.22 Die Missachtung dieser Differenz ist ein steter Quell gründlicher Verwirrung, besonders auch im interdisziplinären Gespräch. Savignys Erkenntnismodell erwuchs vielmehr aus einem grundsätzlichen Optimismus. Er meint, wahre Geschichtsdeutung ermögliche wahre Erkenntnis, auch in der Jurisprudenz. Nicht umsonst lautet sein Stichwort „wahrhaft historisch“, ein Wort aus der Sprache der Erscheinung des Wahren im Seienden.23 Man muss seine Sprache immer sehr ernst nehmen. In diesem Sinne spricht Savigny etwa auch von „innerer Notwendigkeit“ in der Entwicklung von Rechtsinstituten.24 Damit bezeichnet er einen objektiven Gehalt, etwas, das über Menschenwerk hinausgeht. Philosophischer Zeuge ist hier nicht der erkenntniskritische Kant, der diese Zugriffe trennt und unterscheidet, z. B. Empirie und Philosophie, Sein und Sollen, Geltung und Sollen, positives Recht und Politik und Sitte und Religion, Geschichtserkenntnis und Allgemeinerkenntnis. Savignys Zeugen sind hier Kants sog. Überwinder. Das waren und sind sehr viele Stimmen, um und nach 1800 – und bis heute, da die Erkenntnistheorie die Philosophen lange nicht mehr recht interessierte.25 Nach Kant war bald Savignys Generation (1779; Kant 1724) führend mit Schelling 1775 und Hegel 1770, und bis heute mit allen Neo-Formationen und vielfältig gefüllten, gläubigen Objektivismen. Sie halten sich unter den verschiedensten Namen und Formeln, als Evolutionismus, Strukturalismus, Systemtheorie und der eine oder andere „turn“. In der Rechtsgeschichte entstand nach 1945 die berühmte Krisen-Antwort von Heinrich Mitteis, sein Vortrag und Buch „Vom Lebenswert

21 Dazu zuletzt vor allem Hannes Unberath, Der Nachhall der metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre im System des heutigen römischen Rechts, in: ZRG GA 127 (2010), S. 142 – 187. 22 Zur doppelten Rezeptionslinie Rückert (wie Fn. 7) S. 175 ff. 23 Siehe z. B. Savigny (wie Fn. 18): historisch im eigentlichen Sinn; zur Sache Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984, hier S. 331 f. mit S. 240 f. 24 Siehe ebda. S. 304 f. 25 Vgl. jüngst das Lexikon der Erkenntnistheorie, hg. von Thomas Bonk, 2013, hier S. 6.

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der Rechtsgeschichte“ (1947)26 und später eine „Neue historische Schule“ (Eduard Picker 1986, Reinhard Zimmermann 1995 ff.)27, auch ein Produkt eines neuen Krisengefühls. Sie alle nehmen so wie schon Savigny einen anderen Blick in Anspruch. Sie betrachten die Masse der Daten und Fakten durchaus optimistisch. Sie sehen nicht Chaos, sondern finden Harmonie, wenigstens in der Evolution, in ihren ewigen Gesetzen. Sie trennen die Verstehensperspektiven nicht. „Wahres“ historisches Verstehen ist hier zugleich „wahres“ rechtliches Verstehen. Rechtsgeschichte, Dogmatik, Politik und Philosophie wollen sie nicht trennen und erst rational kombinieren (genetisch, funktional, als Ursache und Wirkung usw.), sondern zusammenführen in ein fundamentales Verstehen – um das angenommene, ungeteilte Ganze zu finden. Auf diesem Wege ist das Verstehen nicht immer nur partiell und unvollkommen, sondern umfassend und vollständig. Die Trennung der Perspektiven und Methoden wird nicht als hilfreich angesehen, sondern als gefährlich, das heißt das Sollen und das Sein werden als Einheit konzipiert, Recht und Geschichte und Politik und Religion und Natur und Vernunft, usw., sind das Ziel. Entscheidend ist immer die Vorstellung, man könne im Sein, und besonders im historischen Sein, etwas „Objektives“ finden, Daten und Fakten seien also nur Manifestationen objektiver Zusammenhänge. Objektiv heißt hier, nicht von menschlichem Tun abhängig. Damit werden überzeitliche Werte, Gesetze, Entwicklungen, Strukturen usw. vorstellbar. Darauf kommt es an, nicht darauf, dass keinerlei Einigkeit über diese Objektivitäten herrscht. Gott, Vernunft, Natur, Klassenkämpfe und Produktionsverhältnisse, Geschichtsgesetze aller Art, durchgehende Naturen der Sache, spielen hier eine prägende, wechselvolle Rolle. Auch der juristische Stoff muss sich ihnen beugen. Er wird nicht als grundsätzlich autonom und positiv, nicht überpositiv, betrachtet, es sei denn gerade diese Autonomie gelte als objektiv. Geschichte und Recht, Recht und Sitte, Politik und Recht usw. sind hier eng verwoben. Politische „Winke“ fand nicht zufällig Hugo auch in Savig-

26 Siehe für die Lage nach 1945 die meisterhafte internationale Analyse von Sten Gagnér, Zur Methodik neuerer rechtsgeschichtlicher Untersuchungen I: Eine Bestandsaufnahme aus den sechziger Jahren, 1993, zu Mitteis das Kap. 1. 27 Siehe die wiederholten Apologien von Eduard Picker, bes.: Der Gegenwartswert des römischen Rechts, in: H. Bungert (Hg.), Das antike Rom in Europa, 1985, S. 289 – 316, 297, der „die wohl eindrucksvollsten rechtswissenschaftlichen Erfolge“ dieser Schule erneuern will, und damit „über die bloßen Fakten hinaus eine tiefere oder richtiger: die volle historische Wahrheit“ anstrebt, S. 303 f.; für Reinhard Zimmermann bes. die deutsche Version seines seit 1995 vielfach verwendeten Vortrages: Savignys Vermächtnis, in: P. Caroni/G. Dilcher (Hg.), Norm und Tradition. Welche Geschichtlichkeit für die Rechtsgeschichte?, 1998, S. 281 – 321, 315 für „erneuerte historische Schule“, S. 321 „wird hier das Programm einer erneuerten historischen Schule skizziert“. Freilich hat diese Erneuerung wenig zu tun mit Savignys originärer Schule. Denn gerade deren philosophische Prämissen will sie nicht wahrhaben. Das Ergebnis ist ein besonderer Savigny, eine auf unsere aktuellen Dispute abgestimmte Autorität. D.h. natürlich nicht, dass man nicht viel von Savigny lernen könnte.

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nys juristisch-dogmatischem Hauptwerk.28 Familienrecht z. B. ist nach Savigny nicht nur historisch mit Religion und Sitte verwoben, sondern grundsätzlich und eigentlich immer.29 Oder ein Beispiel aus dem an sich so vielfältigen Schuldrecht: Die Vorstellung, im Dienstvertrag trage die sog. Substratsgefahr stets der Dienstgläubiger oder Arbeitgeber, wird bisweilen als überzeitlich maßgebende Lösung wenigstens seit Rom bis zu § 615 BGB 1900 betrachtet.30 Entfällt also der Dienstgläubiger oder sein Objekt, für den oder an dem gearbeitet werden sollte, müsse dennoch stets die versprochene Dienstleistung bezahlt werden. Die Möglichkeit einer Risikoteilung kommt nicht in den Blick und ebenso wenig die Möglichkeit, es je nachdem, wie der Zufall fällt, beim Ergebnis zu belassen (in Analogie zu „casum sentit dominus“). Die Substanzbehauptung schaltet die Alternativen aus und gewährt die Zufriedenheit überzeitlicher normativer Sicherheit. Die unterschiedlichen Bedingungen römischer Dienstkontrakte, die meist über ein ganzes Jahr liefen, und moderner Verträge mit offenem Ende, werden nicht mitbedacht. Das Problem ist nicht erfunden oder obsolet, sondern spielt eine wesentliche Rolle auch in der heutigen Interpretation des BGB in § 615 und nicht nur hier. Man kann die andere, die kritische Haltung mit den Stichworten einer gewissen Polemik als empiristisch oder positivistisch oder gar naturalistisch verdammen. Aber Empirie, Positives oder Natur sind immer auch der von Menschen gestaltete Stoff, nichts Vorgegebenes, dem sie ausgeliefert wären, zumal in normativen Fragen. Und umgekehrt kann man die andere Haltung historistisch, metaphysisch o. ä. nennen und dabei manche konkret-historische oder dogmatische Leistung übergehen. Diese Einseitigkeiten führen nicht weit. Es dürfte jedenfalls klar geworden sein, dass die Folgen für das Verhältnis von Geschichte, Rechtswissenschaft und Politiktheorie erheblich sind. 3. Gefangen in großen Erzählungen? Am Ende kann man natürlich diese theoretischen und philosophischen Fragen beiseite lassen als gelöst oder unlösbar oder unwichtig und pragmatisch forschen. Wenn da nicht unsere großen Erzählungen wären, die eben von diesen Bedingungen abhängen, und unsere Bewunderung dafür. Wir bewundern und suchen ja gerade die großen Erzählungen, in der Rechtsgeschichte zum Beispiel die brillante Darstellung 28

In seiner späten Rezension zu Savignys „System“ Bd. 5, Göttingische Gelehrte Anzeigen 1842, S. 1; zur Methode im System meine Studie: Savignys Dogmatik im „System“, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, 2007, S. 1263 – 1297, 1282. 29 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 345 – 356/§ 54. Die Familie habe „drey unzertrennlich vereinigte Gestalten, die natürliche, sittliche und rechtliche. Hieraus folgt, daß die Familienverhältnisse nur zum Theil eine juristische Natur an sich tragen.“ 30 Siehe dazu eingehend jetzt meine Darstellung in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, hg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann, Bd. III 2013, zu § 615, S. 1061 – 1195, bes. 1114.

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von Franz Wieacker zur „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ von 1952 und 1967. Dieses Werk wird nach wie vor gerne genossen31, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen Übersetzungen.32 Meines Erachtens sollte es jedoch unsere vornehmste historische Aufgabe sein, diese große Erzählung zu dekonstruieren, sie hinein zu stellen in ihren spezifischen Kontext in Zeit und Raum, also in das Deutschland der 1940er und 1960er Jahre, und so sich kritisch zu lösen von seinen so groß-allgemeinen, aber in der Tat sehr spezifischen Perspektiven.33 Diese Frage mag man nun beantworten wie man will, jedenfalls bleibt für die Jurisprudenz von heute, unter modern-wissenschaftlichen Bedingungen, ein besonderes Problem. Das zeigt sich, wenn man die Frage Geschichte, Jurisprudenz und Politik nicht nur wissenschaftsgeschichtlich historisiert. II. Rechtswissenschaft im modernen Verfassungsstaat Rechtswissenschaft arbeitet nicht im freien historischen Raum. Sie beansprucht, als „positive“, Mitarbeit am geltenden Recht, Sätze mit verbindlicher Geltung zu geben, genauer gesagt sogar Lehrsätze, d. h. dogmatische Sätze. Und diese Geltung darf die positive Jurisprudenz im System des modernen Verfassungsstaates weder frei „subjektiv“ noch „objektiv“ aus dem Gesamtvorrat der Geschichte entnehmen, sondern lediglich aus den hier maßgebenden Rechtsquellen selbst, also im Weiteren aus der Verfassung, den verfassungsgemäßen Gesetzen, dem Gewohnheitsrecht und dem Richterrecht. Methodenfragen werden damit zu Verfassungsfragen. 1. Jus magister historiae? Was wird dabei aus der Geschichte? Das trifft nicht nur die Rechtsgeschichte. Geschichte kann eine eminente Erklärungshilfe sein, denn mit ihr und manchmal nur mit ihr, versteht man die Sätze des geltenden Rechts besser oder überhaupt erst. Wir kennen (noch) die historische Auslegung als Element der juristischen Methode. Aber der geschichtliche Blick hat dabei stets eine dienende Funktion im Rahmen der Interpretation des geltenden Rechts und seiner Dogmatik. Die Grenze zwischen Geltung und Nichtgeltung wird im Verfassungsstaat nämlich scharf gezogen. Normen treten pünktlich zu einem bestimmten Datum in Kraft und werden wiederum pünktlich erneuert und außer Kraft gesetzt. Das Recht fließt im Wesentlichen nicht mehr 31 Dazu jetzt wesentlich Viktor Winkler, Der Kampf gegen die Rechtswissenschaft. Franz Wieackers „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ und die deutsche Rechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts, 2014. 32 Siehe meine Zusammenstellung in: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit: Genese und Zukunft eines Faches?, in: Franz Wieacker. Historiker des modernen Privatrechts, hg. von Okko Behrends und Eva Schumann, 2010, S. 75 – 118, hier 76. 33 Umfassend nun Winkler (wie Fn. 31); daneben noch Joachim Rückert, Geschichte des Privatrechts als Apologie des Juristen – Franz Wieacker zum Gedächtnis, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 24 (1995), S. 531 – 562.

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behäbig gewohnheitsrechtlich dahin. Unter den Bedingungen des modernen Verfassungsstaates hat das seine Logik, aber zwingend ist es natürlich ebenso wenig wie alleinseligmachend. Unter den Verfassungsbedingungen des älteren Jus Commune war eine so grundsätzliche Trennung von geschichtlichem und positiv geltendem Recht nicht normiert. Die Übergänge zwischen altem Recht und neuem Recht waren fließend, gewissermaßen gab es diese Trennung gar nicht. Aber dann kam das Zeitalter der Kodifikationen. Man kann seitdem sagen: Je mehr Kodifikation, desto weniger Geschichte. 2. Kodifikation, Profession und Geschichte Mit den Kodifikationen, d. h. den exklusiv geltenden umfassenden Gesetzbüchern seit dem 18. Jahrhundert, wurde der Bruch zwischen Alt und Neu befohlen. Im Zivilrecht befahlen dies Bayern 1756, Preußen 1794, Frankreich 1804, Österreich 1811, im Prozeßrecht Bayern 1753, Österreich 1768, Preußen 1793, Frankreich 1808 (teils unterschiedlich für Gerichtsverfassung, Zivil- und Strafprozess), im Strafrecht Bayern 1751 und 1813, Österreich 1768, 1787 und 1803, Preußen 1794 und 1851, Frankreich 1810, und nach 1838 fast alle deutschen Staaten. Es kommt dabei nicht auf das viel genauer differenzierbare Detail an, sondern auf die überall herrschende Kodifikationsidee. So gesehen ist der moderne Verfassungsstaat der geschworene Feind jeder geschichtlichen Rechtswissenschaft und ebenso der modernen Rechtsgeschichte. Das hat Savigny 1814/15 legendär scharf erkannt und in seiner Programmschrift „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ wortgewaltig ausgesprochen.34 Ein Jahr später spitzte er den Gegensatz universal zu und schrieb in die Einleitung der neuen „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ höchst prägnant über den Gegensatz von geschichtlicher und ungeschichtlicher Juristenschule: „Allein der Gegensatz dieser Juristenschulen kann nicht gründlich verstanden werden, solange man den Blick auf diese unsre Wissenschaft beschränkt, da er vielmehr ganz allgemeiner Natur ist, und mehr oder weniger in allen menschlichen Dingen, am meisten aber in allem, was zur Verfassung und Regierung der Staaten gehört, sichtbar wird.“35

„am meisten“ – der Verfassungsstaat will in der Tat ganz bewusst Geschichte und Gegenwart trennen, also vor allem früheres Recht und heutiges Recht. Und damit trennt er auch Geschichte und Jurisprudenz, Geschichte und Dogmatik. Zur Geschichte gehört hier auch die (Rechts-)Politik bis zum Gesetz. Der Verfassungsstaat fordert daher eine Trennung von Politik und Recht an der Linie der „lex 34 Siehe jetzt die kritische Ausgabe bei Hidetake Akamatsu und Joachim Rückert, Friedrich Carl von Savigny, Politik und Neuere Legislationen. Aus dem Nachlaß hg., 2000 (= Savignyana; Bd. 5). 35 Savigny, Über den Zweck dieser Zeitschrift, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 1 (1815), S. 1 – 17, 2.

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lata“. Dies geschieht zugleich unter der Idee vom Rechtstaat. Die verfassungsmäßige Entstehung der Normen wird zu einer eigenen Aufgabe erklärt, die verfassungsmäßige Anwendung und richterliche Fortbildung zu einer zweiten Aufgabe. In ihrem Zusammenspiel bilden sie die moderne Arbeitsteilung von Politik und Recht, die beiden Bereichen möglichst viel Autonomie sichern soll und Pluralität rechtlich ermöglicht. Der Juristenstand ist freilich stets geneigt, diese Trennungen nicht so scharf zu ziehen. Das dient seiner Autonomie und vergrößert seine Kompetenz gegenüber dem Gesetzgeber. Sichtbar wird dies im modernen Richterrecht ebenso wie in den Ansprüchen der Wissenschaft auf autonome dogmatisch-wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts. Die Jurisprudenz wird dann zur autonomen Rechtswissenschaft, die freilich zugleich praktisch maßgebend sein will. 3. Autonome Rechtswissenschaft? Im modernen Verfassungsstaat muss jedoch autonome Rechtswissenschaft ganz anders vorgestellt und praktiziert werden. Ihre Autonomie wird akzeptiert, aber reduziert um die erklärende Rolle der Geschichte für die Dogmatik. Das sieht gefährlich aus für die Rechtsgeschichte. Aber selbst wenn die Geschichtsperspektive reduziert wird auf eine dienende Rolle, bleibt immer noch eine sehr breite, lohnende Aufgabe. Die fundamentale Trennung von geltendem Recht und vergangenem Recht, von Recht und Politik und Geschichte lässt Raum genug – aber wo genau? Zunächst erwächst dadurch ein riesiger Raum für wirklich autonomes wissenschaftliches Arbeiten – zum Beispiel für die Geschichte des Privatrechts nach 1900 unter dem BGB. Recht kann dabei als sozialer Faktor betrachtet werden oder selbst durch soziale Faktoren bedingt sein, usw. „Rechtswissenschaftlich“ meint dann nicht dogmatisch ordnende und rechtspraktische Arbeit. Wie in dem engeren englischen Sinn von „science“ wird der Erklärungsraum offen für jede Art von Erklärung und Erforschung des Rechts als Objekt. Vergleichende Rechtserklärung wird eine freie Wissenschaft statt eine dogmatische Belehrung über auswärtige Gesetze. Auch legislative Rechtswissenschaft über besseres und schlechteres Recht wird selbständiger möglich und fruchtbar. Diese Art von Verständnis strebt nicht unmittelbare juristische Geltung an und ist daher freier. Das Phänomen Recht kann umfassend erklärt werden auf allen Wegen, historischen, philosophischen, politischen, ökonomischen, sozialen, religiösen usw. Dieses moderne Konzept von Rechtswissenschaft schließt also Geschichte und Rechtsgeschichte als autonome Erklärungsangebote ein. Es hat keine normativen Implikationen, sondern nur das wissenschaftliche Ziel, zu verstehen, ohne Bedingungen, unabhängig von der positiven Geltung der Rechtssätze als aktuelles Recht. Rechtspraktiker und Rechtshistoriker arbeiten dann mit je autonomen Methoden. Was ist dann ihre Beziehung?

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III. Geschichte, Recht und Politik im modernen Verfassungsstaat Wie sieht im modernen Verfassungsstaat die Beziehung von Geschichte, Jurisprudenz und Politik aus? Es ist klar, dass diese Beziehung ebenfalls von nationalen Faktoren, Traditionen, kurz: von ganzen Rechtskulturen abhängt. Aber es gibt einige gemeinsame Faktoren von Interesse. Eine notwendige Erklärungsbeziehung zu suchen wäre nicht aussichtsreich, denn man muss nun geltendes Recht nicht unbedingt historisch erklären. Man muss es auch nicht unbedingt auf diese Weise „besser verstehen“ wollen. Wenn man das will, folgt man einer unabhängigen wissenschaftlichen Neugier. Art. 5 Grundgesetz gibt sie ebenso frei, wie das Rechtstaatsprinzip und die Richterbindung die juristische Erklärung binden (Artt. 20, 28, 97 GG). Der historische, der juristische und der politische Aspekt treten also auseinander und können doch verknüpft werden, je nach Erkenntnisinteresse. Rechtsgeschichte wird eine Frage der wissenschaftlichen Neugier, der Qualität und des Reichtums von Erklärungen. Es handelt sich nicht mehr um eine Frage von rechtlich richtig und wahr oder unrichtig und unwahr. Wir müssen uns entscheiden. Wenn wir unser Recht als entscheidendes Element unserer Kultur verstehen wollen, müssen unsere Forschungen viel weiter greifen als Rechtsdogmatik. Natürlich sollten wir dieses vertiefte Verständnis anstreben. In diesem Sinne sprechen wir in Deutschland heutzutage von Rechtsgeschichte als einem „Grundlagenfach“ im Studium. Zugunsten unserer Rechtskultur lernen und studieren wir jedenfalls nicht nur das geltende, positive Recht. So naheliegend und freundlich das klingt, so gefährdet ist es in der praktischen Umsetzung in den Universitäten. Grundlagenfächer wie die Geschichte, die Philosophie, die Theorie und erst recht die politische Theorie erscheinen angesichts der Massen an positivem Recht nicht ebenso wichtig wie dessen Erlernen durch Dogmatik und Handwerk. Aber wir können dieses kulturelle Grundlageninteresse ebenso wenig erzwingen wie die Liebe zur Geschichte oder Philosophie. Entscheidend sind unsere kulturellen Dispositionen. Ihnen entspringen die intellektuellen Ansprüche einer Kultur bis hinein in die Wissenschaften. Wenn wir zufrieden sind mit einem Recht und einer Kultur, die sich begnügen, die täglichen Interessen einigermaßen freundlich und friedlich regeln, dann wird dies auch genug sein für Juristen. „Social engineering“ war dafür das Stichwort seit den 1930er Jahren. Es ist nicht zufällig eine Erfindung des American New Deal. Wie es scheint, ist der enorme Wohlstand unserer westeuropäischen Verfassungsstaaten dem mühsamen Grundlageninteresse an den eigenen Voraussetzungen nicht besonders günstig. Wer ohnehin gut lebt, reflektiert vielleicht weniger gern – aber das ist natürlich eine sehr pauschale historische Vermutung. Sie müsste durchforscht werden. In Krisenzeiten kümmert man sich jedenfalls plötzlich heftig um die frühe-

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ren Staatsbankrotte und finanziellen Lösungen.36 Verlangt wird dann Geschichte. Und man will aus ihr lernen, wenn auch „zu spät“. Unter diesem Aspekt erscheint es stimmig, dass Savignys „geschichtliche Rechtswissenschaft“ nach 1800 und besonders in seiner „bayerischen Kur“ in Landshut 1808 – 181037 erfunden wurde. Die Krise seit 1789 saß tief, sie kulminierte 1806, nicht nur für die Juristen, mit dem Fall des Alten Reiches und erschien als wiederkehrend, zum Beispiel 1831, 1848, 1871, 1917/18, 1945 … . Mit dieser Historisierung habe ich natürlich keinen zwingenden Zusammenhang von Krisen und Grundlagenblüte behaupten wollen. Aber: Wie Savigny seinen Studenten Ende November 1808 einleitend erklärt hatte: „Jetzt ist alles anders geworden. Neue Gesetzbücher sind aller Orten entstanden, und was vordem allein für nöthig und brauchbar galt, wird jetzt von Vielen für unnütz oder verderblich gehalten.“ Dagegen habe eines „Zustandes ruhiger Sicherheit“ sich „unsere Wissenschaft noch vor wenig Jahren … zu erfreuen gehabt“.38 Im ähnlichen Gefühl einer Krise, hier der juristischen Romanistik, der Rechtsgeschichte und der Rechtswissenschaft, formierten sich z. B. die sog. Freirechtschule um 191039, die Naturrechtsrenaissance nach 194540, die erwähnte „Neue historische Schule“41, und nicht zuletzt die „Neue Rechtswissenschaft“ nach 193342 sowie etwa die kritische, materialistische Jurisprudenz nach 1968.43 Solche zentralen Programme und Erklärungsmodelle in dieser Weise zu historisieren, kann einiges erklären und aufklären an unserem eigenen Zustand. Die Beziehungen von Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft und Politik hängen offensichtlich von diesen Bedingungen ab.

36 Siehe bes. Werner Plumpe, Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, 2010, 4. Aufl., 2012. 37 Dazu Rückert, Savigny (wie Fn. 18), S. 72 – 117. 38 Savigny 1808, ediert in Rückert, Savigny (wie Fn. 18), S. 427. 39 Siehe zuletzt meinen Artikel Freirechtsbewegung, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2.A. 2008, Sp. 1772 – 1777. 40 Dazu jetzt vor allem Lena Foljanty, Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, 2013 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 73). 41 Siehe Fn. 27. 42 Siehe bes. Dieter Grimm, Die „Neue Rechtswissenschaft“ – über Funktion und Formation nationalsozialistischer Jurisprudenz (1985), erneut in ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987. 43 Siehe Joachim Rückert, Zur Erkenntnisproblematik materialistischer Positionen in der rechtshistorischen Methodendiskussion, in: Zeitschrift für historische Forschung 5 (1978), S. 257 – 292; Überblick bei Regina Ogorek, Rechtsgeschichte in der Bundesrepublik (1945 – 1990), in: Rechtswissenschaft in der Bonner Republik. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz, hg. von Dieter Simon, 1994, S. 12 – 99.

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IV. Aussichten Wie stehen dabei die Aussichten für Rechtsgeschichte heute? Welche Hauptwege erscheinen fruchtbar unter diesen modernen Bedingungen? 1. Rechtswissenschaft Das rechtliche Element muss zentral sein in unserer Arbeit, da wir Rechte und ihre Funktionen erklären wollen. Dieser Satz ist keine Tautologie. Rechtsgeschichte mag ihre Erfüllung oder ihr Ende finden in Sozial- oder Kulturgeschichte, aber das wäre nicht länger Rechtsgeschichte, sondern ein Teil der allgemeinen Geschichte. In den 1970er Jahren in Deutschland gab es Bemühungen um die Erneuerung der Rechtsgeschichte in den neuen Universitäten. Sie sollte zum Teil nicht länger von Juristen in Rechtsfakultäten, sondern von Historikern im juristischen Programm gelesen werden. Das hatte keinen Erfolg. Abgesehen von allen anderen Faktoren, erscheint es wichtig, dass das Recht in unserer Kultur nicht nur als abhängiges Element angesehen wird, sondern auch als eigenständiger Faktor. Gerade das könnte man zwar auch als Historiker zeigen, aber das ist nicht leicht das Erkenntnisinteresse von Historikern. Worin liegt die eigenständige Perspektive? Recht löst spezielle Probleme mit speziellen Instrumenten. Sie haben der Logik der Gerechtigkeit zu folgen, das heißt einer möglichst gleichen Behandlung in Zeit und Raum. Dies ist eine autonome Funktion des Rechts. Sie begründet eine eigene Methode und Geschichte. Natürlich kann man Recht auch in anderer Funktion sehen und erklären. Aber gerade seine moderne Funktion seit um 1800 liegt in seiner hart erkämpften autonomen Rolle im Verfassungsstaat. Unter dem Prinzip gleiche rechtliche Freiheit kam es ganz anders als „vor 1800“ in der ständisch gebundenen Welt auf gerechte Gleichbehandlung an, vom Vertrag bis zum Erbe, von der Familie bis zum Eigentum, vom Steuerpfennig bis zum Wahlrecht, usw. – so lange die Umsetzung auch lief und läuft. Jedenfalls hat also modernes Recht seine eigene Geschichte, mit Jhering 1852 und gegen Marx 1845/46.44 Das ist kein Widerspruch, denn das moderne Recht arbeitet unter Verfassungen und teilt ihre zumindest relative Autonomie. 2. Ein modernes Konzept für Rechtsgeschichte Rechtshistorische Forschungen müssen also eine gewisse Spezifität haben, sonst gehen sie in allgemeiner Geschichte auf. Die Erkenntnisinteressen unterscheiden sich aber. Die heftigen Forderungen der 1970er Jahre nach juristischer Sozialgeschichte, materialistischer Rechtsgeschichte, systemtheoretischer Rechtsgeschichte und ähnlichem, beruhten in Wahrheit auf eigenständigen Erkenntnisinteressen an bestimmten Faktoren der Geschichte und Gegenwart des Rechts. Wirklich durchgeführt 44

Siehe Rückert, Autonomie (wie Fn. 9), S. 10 – 12.

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wurden sie übrigens nie – auch nicht in Uwe Wesels „Geschichte des Rechts“, durch diesen besonders begabten und erfolgreichen Matador der „materialistischen“ Interessen.45 Gibt es für eine moderne und spezifische Rechtsgeschichte ein Modell? Ich denke ja, und erlaube mir daher, einige Bemerkungen anzuschließen über mein Konzept der „Problemgeschichte“. Problemgeschichte und Problemlösungsgeschichte sind ein Konzept, das zwei Schwierigkeiten vermeidet, allgemein gesagt: nackten Empirismus und zu allgemeine historische Metaphysik, konkreter rechtshistorisch gesagt: bloße Dogmengeschichte oder Quellennacherzählungen und allzu große Erzählungen.46 Zwei Situationen müssen dabei reflektiert werden. a) „Neue“ Probleme und obsolete Probleme Nicht nur die Technikgeschichte kennt neue Probleme. Auch normative Fragen können sich erstmals neu stellen. Umgekehrt können bestimmte normative Probleme auch verschwinden. In beiden Fällen ist es entscheidend, keine falschen Kontinuitäten zu konstruieren, also die Differenz der Bedingungen zu klären und die Lösungen damit zu verbinden unter dem Gesichtspunkt ceteris non paribus. So hat z. B. die große Umstellung um und nach 1800 vom grundsätzlich gebundenen Recht auf das Prinzip gleiche Freiheit zunächst im Privatrecht47 eine Fülle von neuen Fragen aufgeworfen, besonders im Dienst- und Arbeitsrecht.48 Die Verträge wurden z. B. in praxi zunehmend umgestellt von Zeitverträgen auf unbestimmte Zeit. Das Beendigungsproblem stellte sich nun anders, das Instrument Kündigung wurde auf ganz neue Weise wichtig.49 Gegen Ende des Jahrhunderts kam es immer häufiger zu den später so genannten Tarifverträgen über Löhne, Arbeitszeiten und damit zu einer tiefgreifenden Umstellung des Rechtsquellensystems. Vom autonomen Gewohnheitsrecht der Zünfte und Handwerker kämpfte man sich durch zu diesen nun als Vertragsrecht geduldeten, „autonomen“ Regeln im Gesetzesstaat,50 usw. Deren juristische Bestimmung und Wirkung wurde ein wesentliches neues Problem, obgleich es die gewohnheitsrechtlichen Allgemeinregeln bereits gegeben hatte, aber eben in einem völlig anderen rechtlichen und allgemeinen Kontext. 45

Uwe Wesel, Zur Methode der Rechtsgeschichte, in: Kritische Justiz 7 (1974), S. 337 – 368; vgl. Rückert (wie Fn. 27). 46 Zu Letzteren in der Rechtsgeschichte meine Studie: „Große“ Erzählungen, Theorien und Fesseln in der Rechtsgeschichte, in: Das Recht und seine historischen Grundlagen, Festschrift für Elmar Wadle, 2008, S. 963 – 986. 47 Siehe meinen Überblick: Das BGB und seine Prinzipien: Aufgabe, Lösung, Erfolg, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, 2003, zu vor § 1, S. 34 – 122, hier 76 – 86. 48 Siehe ebda. Bd. III 2013: Lösungen im Kontext eines tiefen Umbruchs, S. 728 – 732 mit 7 – 9 und 805 f. = zu vor § 611. 49 Näher dazu ebda., S. 761 f. 50 Näher dazu ebda., S. 764 f.

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Umgekehrt wurden Probleme obsolet. So gehörte es zu den wichtigsten Fragen in Rom, wie ein Sklave rechtswirksam zu emanzipieren sei, etwa mit dem Sondergut „peculium“ und mit speziellen Pflichten in seinem neuen Stand als Freigelassener. Dieses Problem ist jedenfalls in Europa verschwunden. Ein Beispiel bietet auch die Geschichte des heute zentralen Strafrechtsgrundsatzes „nulla poena sine lege“ – keine Strafe ohne Gesetz. Der Grundsatz konnte und mußte entstehen im Angesicht von Gesetzen. Er war ein Teil der Bändigung des modernen Leviathans. Ohne Gesetzgebungsstaat entsteht er nicht, so in England. Freilich existierte das Problem in einem weiteren Sinne, als Problem der Rechtssicherheit, und wurde seit der Magna Charta (1215) selbstständig gelöst. Ähnlich steht es mit der Frage rechtlichen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Die moderne Lösung setzt mindestens eine staatsähnliche Zentralgewalt mit dem Monopol legaler Gewalt voraus; so etwa der 1968 in das Grundgesetz eingefügte Art. 20 Abs. 4 mit den Worten: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Probleme und Lösungen unterscheiden sich also deutlich. Kontinuitäten sind fragwürdig. Die bloß verfassungsmäßige Gehorsamspflicht und das entsprechende Widerstandsrecht sind erst ein Produkt des 19. Jahrhunderts und des werdenden Verfassungsstaats. Diese und ähnliche Probleme stellten sich also ganz unterschiedlich und können nicht als historische Einheit dargestellt werden. Die Erklärungen müssen das berücksichtigen. Kontinuität passt hier nicht. b) Langzeitprobleme Auf der anderen Seite begegnen durchaus Langzeitprobleme von großer Kontinuität. Man denke an den sog. Vertragsbruch oder die Nichterfüllung. Verträge kommen schon auf mit der ersten Erfindung von Tauschbeziehungen und werden immer noch erfüllt oder nicht erfüllt. Deswegen kann man hier versuchen, die unterschiedlichen Lösungen über die Zeiten als bloße Lösungsvariationen zu einem einheitlichen Problem (ceteris paribus) unter spezifischen Bedingungen zu erklären. Zum Beispiel hängt viel davon ab, ob eine Rechtskultur erlaubt, Naturalerfüllung zu erzwingen oder nicht, also die Lieferung einer Kaufsache oder die Ausführung eines Dienstes oder Werkes. Wenn ja, so muss sie eine Lösung anbieten für Probleme der Unmöglichkeit der Leistung. Denn in diesem Fall hat Naturalerfüllung keinen Sinn. Es muss also eine Alternative geregelt werden. Kann die Naturalerfüllung ohnehin nicht erzwungen werden, so läuft alles auf Ersatz hinaus. Die Prozessregeln und Vollstreckungsbedingungen wirken dann entscheidend mit. Es hängt also keineswegs alles nur vom sog. substantiellen oder materiellen Recht wie dem BGB ab, wie

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wir es in der jüngeren kontinentalen Tradition, aber eben nicht schon in Rom, kennen. Die Lösungen unterscheiden sich daher entsprechend.51 Beide Perspektiven, Vertragsbruch und Prozesskontext, müssen in der historischen Erklärung kombiniert werden – und das war und ist nicht einfach und natürlich. Denn die Fächer Privatrechtsgeschichte und Prozessgeschichte werden üblicherweise getrennt. 3. Recht und Geschichte Recht und Geschichte, Sollen und Sein, werden vielfach säuberlich getrennt. Philosophisch geschieht das aus gutem Grund, aber historiografisch gilt dieser Grund nicht. Hier Dogmengeschichte, dort Sozialgeschichte, hier Rechtsgeschichte, dort allgemeine Geschichte, sind die Trennungsformeln, die jedes Geschichtsbild bis zur Verzerrung reduzieren. Nicht so bei der Problemgeschichte. Sie vermeidet diese Trennungen schon im Ansatz. Denn sie erlaubt, ja sie verlangt, die rechtlichen und die historischen Aspekte konkret und rational zu verknüpfen, ohne universelle Voraussetzungen und Narrative. Die Problemstellungen, Lösungsvarianten und -bedingungen können nur erfasst werden, wenn die juristische und die faktische Seite verbunden werden. Denn die Normen lösen gewisse reale Probleme und die realen Probleme lösen gewisse Normen aus. Meister dieser Betrachtungsweise waren bereits Ernst Rabel und Helmut Coing, nicht zufällig zwei Meister der Rechtsvergleichung. Sie hatten als Rechtsvergleicher gelernt, wie zu vergleichen und zu erklären war, sozusagen horizontal, und sie waren in der Lage, dieses Konzept aussichtsreich in die vertikale, historische Perspektive zu übertragen. In anderen Disziplinen war das Konzept ohnehin bekannt und geübt, zum Beispiel in der historischen Soziologie durch Max Weber (konkret 1889: „Zur Geschichte der Handelsgesellschaften“; allgemein 1922: „Wirtschaft und Gesellschaft“), oder in der Literaturgeschichte durch Rudolf Unger in Wien (1929, „Prinzipienlehre der Literaturgeschichte“) oder in der Philosophie durch Max Salomon (1922, „Rechtsphilosophie“) oder später in der Philosophie durch Karl Popper, in der Geschichte z. B. durch Otto Hintze und heutzutage besonders durch Otto-Gerhard Oexle.52 4. Ein aktuelles Beispiel Ein größeres Beispiel aus der Rechtsgeschichte ist seit einiger Zeit im Entstehen. Ich wage davon sprechen, obwohl ich selbst daran beteiligt bin, weil es das m.W. einzige rechtsgeschichtliche Beispiel mit einer gewissen Breite ist. Zugleich hat das den Vorteil, dass ich über eine Fülle von Diskussionserfahrungen zu dem durchaus nicht allgemein geteilten Konzept verfüge. Seit rund zehn Jahren arbeiten rund vierzig meist jüngere Rechtshistoriker in Deutschland zusammen an der großen Aufgabe 51

Siehe meine Untersuchung: Leistungsstörungen und Juristenideologien heute und gestern – ein problemgeschichtlicher Beitrag zum Privatrecht in Europa, in: Informatik-Wirtschaft-Recht, Festschrift für Wolfgang Kilian, 2004, S. 705 – 744. 52 Das Problem der Problemgeschichte 1880 – 1932, hg. von Otto-Gerhard Oexle, 2001.

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eines „Historisch-kritischen Kommentars“ zum BGB in fünf Bänden, also zu den fünf BGB-Büchern Allgemeiner Teil, Schuldrecht, Sachenrecht, Familienrecht und Erbrecht. Drei dicke Bände sind 2003, 2007 und 2013 erschienen. Die Absicht ist, die Privatrechtsgeschichte im Rückblick von der Problemsicht des BGB her zu erzählen. Das ist natürlich ein willkürlicher Ausgangspunkt, obgleich der rechtspraktisch derzeit interessanteste. Die Gefahr ist, dass Geschichte allzu applikativ in Bezug auf die rechtsdogmatische Gegenwart erzählt wird. Aber der Ausgangspunkt beim BGB gibt die Kontinuitäten und Diskontinuitäten noch keineswegs vor, sondern konkretisiert nur das Problem bzw. die Fragestellung. Und das ist unverzichtbar. Ja, es öffnet erst den Blick aus den traditionellen dogmatischen Vorgeschichten heraus, etwa der Prägung des BGB durch das sog. Pandektenrecht und das rezipierte römische Recht, für andere relevante Faktoren. Unter der großen Allgemeinheit so vieler privatrechtlicher Normen seit Rom verschwinden dann relevante Unterschiede in ihrer realen Funktion. So hat der Dienstvertrag als „locatio conductio“ in der ständischen römischen Gesellschaft eine völlig andere Funktion und Wirkung als unter dem BGB von 1900 und seiner industrialisierten Arbeitswelt. Das muss neben den dogmatischen Kontinuitäten erkennbar werden, wenn es sich um Rechtsgeschichte von allgemein historischer Bedeutung handeln soll. Und um was sonst sollte es der Rechtsgeschichte gehen, wenn sie freie Wissenschaft und nicht „Schreibersdienst bey dem Gerichtsgebrauch“ (Savigny 1814)53 sein will. Angestrebt sind also ein voller historischer und ein voller kritischer Blick. Der historische Blick muss die Randbedingungen, Faktoren und Lösungen einfangen und zu den dogmatischen Sätzen in Beziehung bringen. Der kritische Blick kann ein allgemeiner sein, als Blick auf die sozialen, ökonomischen und so vielen Bedingungen auch des Rechts und seiner Lösungen. Er kann auch ein dogmatischer sein, auf die Dogmatiken bis heute, ihre Kontinuitäten und Diskontinuitäten, ihre Stimmigkeit, ihre Bedingungen, ihre Wirkungen. Recht und Geschichte sollen in dieser Weise kombiniert werden, die realen historischen Probleme und die rechtlichen Antworten und Lösungen samt ihren Effekten. Dieser historisch-kritische Ansatz ist natürlich sehr umfassend und aufwendig. Aber als Ideal oder regulative wissenschaftliche Idee taugt er sehr wohl. Ein Beispiel kann das verdeutlichen.54 So kann die Risikotragung in gegenseitigen Verträgen, die oben erwähnt wurde, auch auf ganz andere Weise als durch konkrete Risikozuweisung gelöst werden, wenn man einfach eine Vertragsauflösung annimmt oder erlaubt. Denn dann bleibt einfach kein Anspruch aus dem Vertrag mehr übrig, das Risiko hat dann der zu tragen, den es gerade trifft. Wieder anders kann man annehmen, jeder Vertrag enthalte eine implizite auflösende Bedingung der Erfüllbarkeit (dann entfallen die Ansprüche bei Bedingungseintritt per se) oder ein spezielles 53

Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit, 1814, S. 79. Ich stütze mich hier auf meine eingehende Problemgeschichte im Historisch-kritischen Kommentar (wie Fn. 30); vgl. demgegenüber den selektiveren Zugriff bei Martin Schermaier, Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. II, 2007, zu §§ 323 und 326 als den allgemeineren Rechtssätzen zum Problem. 54

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Recht, in solchen Fällen den Vertrag aufzulösen. Solche parallelen Instrumente als Problemlösungen müssen beachtet werden, um die Effektivität der rechtlichen Lösungen zu überblicken. Von großer realer wie juristischer Bedeutung ist natürlich auch, ob ein Dienstleistender oder Arbeiter im Haus des Gutsherrn oder Meisters lebt und mitversorgt wird und „nur“ einiges Geld verliert, aber nicht seine gesamte Versorgung, wenn nicht gearbeitet werden kann. Das Geldrisiko wird dann eher dem Arbeitnehmer zugewiesen. Und in der neuzeitlichen Arbeitsmarktgesellschaft mit hoher Mobilität und vielen Großunternehmen wird relevant, ob man ohne Schwierigkeiten einen anderen Arbeitsplatz im Betrieb bekommen oder anderweit finden kann. Wenn Rechtsgeschichte alle diese Umstände und Randbedingungen beachtet und in der Lage ist, sie historisch erklärend zu verknüpfen, dann werden die Ergebnisse sehr interessant sein, für das Recht und die Geschichte und die Politik. V. Resümee Meine Vogelperspektive in Sachen Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft und Politik führte zu einer dezidierten Typisierung. Es handelt sich um eine Typisierung der historisch und philosophisch bisher entscheidenden Erkenntniswege, in Forschung und Darstellung. In diesem Sinne habe ich zwei Zugriffe unterschieden, nur zwei: das erkenntniskritisch vorsichtige Konzept seit Hume, Kant und ihrem juristischen Zeitgenossen Gustav Hugo und das optimistische Kontinuitätskonzept seit Herder, Schelling und Hegel und ihrem juristischen Zeitgenossen Savigny. Die philosophischen Prämissen sind entsprechend unterschiedlich. Die philosophisch und methodisch hochkompetenten Juristen Hugo und Savigny können sehr gut als pars pro toto und besonders folgenreich für Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft und politische Theorie stehen. Wir leben 200 Jahre später. Bei der wissenschaftlichen Betrachtung von Recht müssen nun die Bedingungen des ausgereiften Verfassungsstaates mitbedacht werden. Sie spielen für die Verbindung von praktischer Jurisprudenz und Dogmatik mit Geschichte, Philosophie und Politiktheorie eine entscheidende Rolle. Das ist noch keine Apologie für diesen Staat oder gar dessen bisweilen überaus scharf beklagten „juristischen Absolutismus“55, sondern zunächst eine Verstehens- und Erklärungsbedingung. Verstehen und Wertung sind auch hier zweierlei. Der moderne Verfassungsstaat hat die alte, offenere, professionelle Kombination von Recht, Geschichte, Philosophie und politischer Theorie reduziert und damit auch die Autonomie der Juristenprofession. Praktisches Recht wird heute möglichst frei von Geschichte, Philosophie und politischer Theorie angewendet. Der Verfassungsstaat 55 So das wiederholte, kritische Stichwort des rechtshistorischen Meisters Paolo Grossi etwa in seinem großen Überblick: Das Recht in der europäischen Geschichte (it. 2007), dt. Übs. 2010, S. 112: „der eiserne Panzer eines authentischen juristischen Absolutismus“; 238: „Die angebeteten Idole der alten Rechtsmythologie aus der Moderne – Rechtstaatlichkeit und Gesetz, strengste Legalität und Gewaltenteilung, schließlich die Hierarchie der Rechtsquellen“, sie hält Grossi für mit Recht „zum Großteil zerstört“.

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sucht diese schwer zu kontrollierenden, chamäleonartigen Perspektiven aus der Rechtsanwendung auszuschalten. Folgerichtig versuchen alle gegenwartskritischen juristischen Strömungen sie irgendwie doch einzubringen, als Freirecht, als („objektive“) Wertungsjurisprudenz, als kritische Jurisprudenz, als politische Jurisprudenz, als Abwägungsjurisprudenz, als Richterrecht, und wie die Stichworte sonst lauten.56 In diesem typisierenden Blick sehe ich eine wichtige Orientierungsmöglichkeit über unsere Aufgaben und Möglichkeiten. Solche Orientierung ist unverzichtbar, selbst wenn sie womöglich nur hilft, naive, offene oder subtile Großerzählungen über den Gang der Geschichte zu parieren. Solche Typologien sind weder wahr oder unwahr, richtig oder falsch. Sie dienen dazu, die Beziehungen und Tendenzen besser zu verstehen. Sie sind konstruiert, aber nicht freihändig. Sie blicken sorgfältig auf das Vetorecht der Quellen (Koselleck57). Das relative Chaos der Geschichte kann also im modernen Bewusstsein unserer unvermeidlichen Geschichtlichkeit vollständig anerkannt werden, ganz ohne Resignation oder Skeptizismus. Die immer wiederkehrende, frustrierende Entgegensetzung von Geschichtsmetaphysik und Faktenpositivismus ist jedenfalls weder philosophisch noch wissenschaftspraktisch überzeugend. Diese Verwirrungen des sog. Positivismusstreits liegen hinter uns. Im Konzept der Problemgeschichte können Rechtsgeschichte und Rechtsgegenwart rational, das heißt anhand der Quellen und ohne besondere Vorverständnisse, verknüpft werden. Auch das vielbeschworene Problem des hermeneutischen Zirkels liegt damit hinter uns. In der Tat sind unsere Blicke standpunktbedingt, aber das ändert nichts daran, dass wir bestimmte Probleme und Fragen und Lösungen anhand von Quellen erforschen können. Man muss nur nicht „alles verstehen“ wollen. Ich schließe daher mit den Worten des vielleicht bekanntesten deutschen „Wissenschaftlers“ über das Ziel seiner Arbeit: der Vorsatz, „daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält, schau alle Wirkenskraft und Samen, und tu nicht mehr in Worten kamen“ (Faust I v. 383 f.). Dieser Vorsatz hat den deutschen Faust erfolgreich verführt und erfolglos um die ganze Welt geführt. Dieser von Hybris nicht freien Idee sollten wir nicht folgen.

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Einen aktuellen Überblick dazu findet man in: Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, hg. von Joachim Rückert und Ralf Seinecke, 2.A. 2012, anhand von sechzehn prominenten Juristenbeispielen und einem historischem Überblick bis in die Gegenwart (p. 501 – 550). 57 Reinhart Koselleck, Standortbildung und Zeitlichkeit …, in: R. Koselleck, W. J. Mommsen, J. Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft …, 1977, S. 17 – 46, hier 45; umfassender dazu vor allem Karl Acham, Geschichte und Sozialtheorie. Zur Komplementarität kulturwissenschaftlicher Erkenntnisorientierungen, 1995, S. 231 ff., 235.

Fiktion und politisches Denken* Von Andreas Urs Sommer There is no idea, however ancient and absurd, that is not capable of improving our knowledge.1

Was sollte politisches Denken schon mit Fiktionen zu schaffen haben? Ist Denken denn nicht strenge Arbeit am Begriff, die die Einbildungskraft in Ketten legt, legen muss, um zum Begriff zu kommen und sich selbst auf den Begriff zu bringen? Nimmt man „Fiktion“ wörtlich, ist sie zunächst bildendes, entwerfendes, dichtendes Schaffen, dann aber auch das Erzeugnis dieses Schaffens, das Erdichtete, das Eingebildete. Gehört es nicht gerade zu den Kerngeschäften politischen Denkens, immer dort das Messer anzusetzen, wo die Einbildungskraft überschießt und zu einem Geschwür auswuchert? Sollte politisches Denken die Einbildungskraft nicht auf das Normalmaß der Vernunft zurückstutzen? Ist politisches Denken nicht das Skalpell, das von Zeit zu Zeit den Exzessen der politischen Phantasie Einhalt zu gebieten hat? Denn ist nicht die überschießende Einbildungskraft verantwortlich für eine unsägliche Fülle Leid, erstens hervorgerufen durch den Drang, die Wirklichkeit dem Erträumten und Eingebildeten anzupassen und dazu über Leichen zu gehen, und zweitens hervorgerufen durch das Ungenügen der Wirklichkeit, wenn man sie an der Idealität des Erträumten und Eingebildeten misst? Sowohl physisches als auch psychisches Leid kann also seine Ursache unmittelbar in der Macht der Einbildung haben. Fällt politischem Denken damit nicht die kurative Aufgabe zu, mittels Disziplinierung der Einbildungskraft menschliches Leiden zu verringern? I. Videtur So lässt sich leicht ein Arbeitsprogramm politischen Denkens entwerfen, insofern es retrospektiv ist: Das Arbeitsprogramm bestünde darin, die Geschichte des Denkens zu durchforsten und mit eisernem Besen all die Gespenster der Fiktion auszufegen. Seine herkulische Aufgabe begänne mit der offenen und verkappten Utopik von Morus über Marx bis Mao, deren Verführungskraft bei leichtgläubigen Subjekten auf der Hand liegt und deshalb mit Stumpf und Stiel ausgerottet zu werden verdient. Der politisch Denkende verliert sich vor einem Abgrund, müsste er sich ausmalen, wie hoch der Blutzoll derer gewesen ist, die unter das Joch utopisch inspirier* Meine Frau Annette Sommer hat wesentliche Überlegungen zu diesem Beitrag beigesteuert. Ich danke ihr sehr dafür. 1 Feyerabend, 1993: 33.

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ter Herrschaft gezwungen wurden, und der Leidenszoll derer, die vergeblich der Erfüllung des utopisch Versprochenen geharrt haben. Aber beim überdrehten utopischen Fiktionalismus dürfte die Säuberungsarbeit des retrospektiven politischen Denkens keineswegs enden. Wenn politisches Denken Wissenschaft ist, Wissenschaft aber der Fiktion feindlich gegenübersteht, dann sind die vergangenen Petrifikationen politischen Denkens vielfach fiktional verunreinigt: In den Werken Platons oder Rousseaus hätten wir dann also überwundene Stufen der politischen „Theoriebildung“ vor uns; die Altvorderen waren eben noch nicht so weit, dass sie dem reinen Begriff ohne fiktionale Krücken hätten vertrauen können. Hat der retrospektive politische Denker die Bühne der Vergangenheit erst einmal abgeräumt und von allen lästigen fiktionalen Requisiten befreit, kann er sich großzügig geben und intellektuell-politischen Kleinunternehmern zwei Schrebergärten für fiktionale Gewächshäuser zuweisen. Der eine Schrebergarten ist der pädagogisch-politischen Moralisierung gewidmet und zeitigt für die Praxis reiche Früchte. Hier gedeihen die großen, rührseligen Geschichten, mit denen man ganze Völker auf eine politisch-weltanschauliche Linie bringt. Wer im Reagenzglas der reinen Theorie eine politische Denkfigur gezeugt hat, bedarf zu ihrer flächendeckenden Verbreitung der Fiktionen gleich dem platonischen Sokrates, der der Mythen bedurfte. Ein Empörungsroman wie Harriet Beecher Stowes „Uncle Tom’s Cabin“ hat mutmaßlich mehr zur Abschaffung der Sklaverei und ein Moralisierungsepos wie Alessandro Manzonis „I promessi sposi“ mehr zur Einigung Italiens beigetragen als zahllose, rein vernünftige Traktate und jahrhundertelange Salondebatten. Für den antifiktionalistischen retrospektiven politischen Denker kann jedoch die Erzählprosa selbst kein Medium politischen Denkens sein, sondern bestenfalls dessen willkommenes Verbreitungsvehikel. Wildwuchs über den Schrebergartenzaun hinaus ist unzimperlich zu beschneiden. Im anderen der Fiktion zugebilligten Schrebergarten-Gewächshaus werden die Beispiele angepflanzt, die man im täglichen Theoriegeschäft benötigt, um große Scheine in kleine Münze umzutauschen. Denkfiguren brauchen Anschaulichkeit, und die wird flugs herbeigeschafft, indem man die Einbildungskraft explizierende „exempla“ erfinden lässt, die die Denkfiguren mit Blut und Leben füllen sollen, wenigstens für kurzzeitige Epiphanien. Zur Not geht es natürlich auch ohne die Beispiele – in der Hochgebirgsluft reiner Theorie. Der retrospektive politische Denker kann sich entspannt zurücklehnen. Hat er nicht mit eisernem Besen für Entspannung gesorgt und jenes Leiden im Keim erstickt, das die überbordende Einbildungskraft so gefährlich aufflackern ließ? Deshalb wird er nicht zögern, zwei prinzipiell getrennte Bereiche menschlicher Bewusstseinstätigkeit zu postulieren, nämlich einerseits den Bereich der Gedanken- und Begriffsbildung, kurz: der Vernunft, sowie andererseits den Bereich der schwelgenden Einbildungskraft, die statt Begriffe Bilder oder Geschichten hervorbringt. Auch die Hierarchie beider Bereiche ist ausgemacht: Die Vernunft hat zu regieren, die Einbildungskraft zu parieren. Für den retrospektiven politischen Denker hat beispielsweise

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Platon bei der Niederschrift seiner „Politeia“ einfach zwei ganz unterschiedliche Vermögen aktiviert, das Vermögen zu denken und das Vermögen zu erzählen. Dem politischen Denken komme nun die Aufgabe zu, das Narrative abzuschälen und den Gedankenkern unverfälscht herauszustellen. Mehr noch bei Autoren wie John Rawls, der sich in der „Theory of Justice“ mit dem Schleier des Nichtwissens für den hypothetischen Urzustand etwas zu sehr auf das Glatteis fiktionaler Sinnbildung begeben hat. Mehr Mut zur Abstraktion, wird der Antifiktionalist verlangen, und an Kants Satz aus der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ erinnern: „Viele Menschen sind unglücklich, weil sie nicht abstrahiren können.“2 Aber überlassen wir den retrospektiven politischen Denker seinem mitunter trostlosen Schicksal, die Vergangenheit aus den Klauen der Einbildungskraft zu befreien, und wenden wir uns dem prospektiven politischen Denker zu. Dessen Arbeitsprogramm ist ganz analog, indes gebärdet er sich noch rastloser als der retrospektive Kollege, denn während die Vergangenheit warten kann, tun ihm Gegenwart und Zukunft diesen Gefallen nicht. Seine Mission folgt dem Kanzlerwort „Wer eine Vision hat, der soll zum Arzt gehen“. Sie besteht darin, der Politik, der Selbstverständigung des Menschen über sich selbst in Gemeinschaft mit anderen Menschen, Fiktionen auszutreiben, sie ganz auf Alternativlosigkeit, das Hier und Jetzt einzuschwören. Auch der prospektive politische Antifiktionalist stellt sich in den Dienst der Leidensabwehr, denn wer leidet nicht, wenn er die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Fiktion empfindet – oder erst recht, wenn er Wirklichkeit und Fiktion nicht mehr unterscheiden kann? II. Sed contra Zaghaft wird man einwenden: Beseitigt der politische Antifiktionalismus tatsächlich eine Hauptquelle menschlichen Leidens? Was ergibt die Gegenrechnung, die in die andere Waagschale das ganze Gewicht des Trostes wirft, den Menschen ihren Fiktionen verdanken? Brauchen Menschen nicht Fiktionen – in der Religion genau so wie in der Kunst, im Beruf genau so wie in der Liebe –, um sich über die Jämmerlichkeit und die Profanität des Daseins hinwegzuhelfen? Überwiegt der kurative Nutzen der Fiktion ihr Schädigungspotential nicht bei Weitem? Kommt es einfach nur auf das Maß an, ob Fiktion als Gift oder als Heilmittel wirkt? III. Respondeo Es ist freilich offen, ob Leidensvermeidung „à tout prix“ überhaupt zu den vordringlichen Aufgaben politischen Denkens zählt, einerlei, ob es sich auf die Seite der Fiktionsverachtung oder auf die des Fiktionsenthusiasmus schlägt. (Ob es politischer Praxis vordringlich um Leidensvermeidung zu tun sein sollte, ist nochmals 2 Kant, 1907, VII: 131. Der Antifiktionalist vergisst freilich, die Fortsetzung von Kants Gedankengang zu zitieren: „Der Freier könnte eine gute Heurath machen, wenn er nur über eine Warze im Gesicht oder eine Zahnlücke seiner Geliebten wegsehen könnte.“ (Ebd., 131 f.)

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eine ganz andere Frage.) Leiden, ebenfalls in Maßen, ist offensichtlich nicht einfach nur ein Übel, erzwingt es doch Bewegung, Veränderung. Nicht dass Bewegung, Veränderung an sich gut wären, jedoch charakterisieren sie Leben überhaupt. Völlige Abwesenheit von Leiden wäre völlige Abwesenheit von Leben. Auch beim Leiden scheint es auf die Dosierung anzukommen. Fiktion wiederum wirkt als Vehikel der Veränderung. Als Einbildungskraft verstanden, ist Fiktion das Vermögen, sich andere Zustände vorzustellen als diejenigen, in denen sich der Vorstellende gerade befindet. Dieses Vermögen ist für Menschen – und vermutlich auch für eine große Anzahl anderer tierischer Lebewesen – von existenzerhaltender Bedeutung. Denn die Einbildungskraft kommt keineswegs nur beim Romanschreiben, Bildermalen, Kulthandeln oder Liebesschmachten zum Zug. Ich brauche sie schon, wenn ich mir vergegenwärtige, welche Straßenbahn ich in einer Stunde nehmen muss, um nach Hause zu kommen, oder mir überlege, welche Form der Altersvorsorge angemessen sein könnte. Daran zeigt sich zunächst, dass entgegen der strengen Sphärenscheidung eingefleischter Antifiktionalisten zwischen der mit Begriffsarbeit beauftragten Vernunft und der bildwütigen Einbildungskraft keine feste und eindeutige Grenzlinie verläuft. Erdachtes und Erfundenes sind bestenfalls graduell, aber nicht prinzipiell geschieden. Sicher, zwecks Rettung der Differenz kann man zu einer viel engeren Definition von Fiktion als Einbildungskraft seine Zuflucht nehmen und etwa nur jene Formen von Vorgestelltem als fiktional akzeptieren, die kontrafaktisch sind. Indessen: Sind vorgestellte Ereignisse in der Zukunft nicht auch kontrafaktisch, insofern sie der gegenwärtigen Faktenlage nicht entsprechen? Waren Fiktionen einer demokratisch-egalitären Zukunft zu Zeiten des Absolutismus nicht in gleicher Weise kontrafaktisch? Wie auch immer es darum bestellt sein mag – ein Vehikel der Veränderung bliebe die Fiktion als Einbildungskraft auch bei weitgehender Einschränkung ihrer Reichweite: Sie erweitert den Möglichkeitsspielraum des Menschen, sie reißt seinen Horizont auf. Als Produkte der Einbildungskraft verstanden, weichen Fiktionen als das Vorgestellte, das Erfundene vom bloß Vorgefundenen ab – falls man nicht als radikaler Fiktionalist jede Form der Wirklichkeitsperzeption als fiktionale Leistung abzubuchen geneigt ist.3 Soll politisches Denken sich nicht bloß als intellektuelle Verwaltung des Vorgefundenen verstehen, wird es sich über seine womöglich strukturnotwendigen fiktionalen Momente Rechenschaft abgeben müssen. Ist es denn als politisches Denken nicht gerade gerichtet gegen Veränderungsverweigerung oder gegen das politisch-pragmatische Postulat der Alternativlosigkeit, das Veränderung nur in eine, als zwangsläufig ausgegebene Richtung erlaubt und damit das Denken überflüssig macht? Fiktionalisieren wäre – und als Traditionsbeweis wird man fast sämtliche Klassiker anführen, für die politisches Denken noch Denken und keine Reißbrettübung war – dann kein Defizit, kein bedenklicher Mangel an begrifflicher Präzision, sondern eine Unerlässlichkeit, wenn Denken Denken bleiben soll. Zeigt Denken nicht, dass alles auch ganz anders sein könnte? Ist das grassierende Misstrauen 3

Diesen Weg beschreitet bekanntlich Vaihinger, 1911.

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der Fiktion gegenüber ein Indiz dafür, dass man keine Alternativen mehr wagt, sondern sich nur noch um Feinjustierung des Status quo kümmert? Politisches Denken, soweit es sich nicht mit der Aufbereitung des Gegebenen bescheidet, dient wesentlich der Artikulation von Wünschen. Wer in praktischer Absicht politisch denkt, will Veränderungen herbeiführen – wobei die Zielrichtung der Veränderung und damit die konkreten, zugrundeliegenden Wünsche vollkommen verschieden sein können. Politisch denken heißt, Wünschbarkeiten im menschlichen Zusammenleben zu eruieren und herauszufinden, wie diese Wünschbarkeiten sich verwirklichen ließen, beispielsweise mit Hilfe einer bestimmten staatlichen Organisation. Welcher Art diese Wünschbarkeiten sind, hängt vom jeweils politisch Denkenden ab: Während die eine die möglichst große Freiheit des Individuums als oberste Wünschbarkeit ansetzt, wird der andere der Solidarität in der Gemeinschaft den Vorzug geben. Jeder politisch Denkende wird sich allerdings zu beteuern beeilen, dass die Wünsche, die sein Denken motivieren, keineswegs seinen persönlichen Präferenzen entsprängen, sondern vielmehr allgemeine menschliche Bedürfnisse zum Ausdruck brächten. Wünschbarkeiten im politischen Denken wären damit die Übersetzungen solcher Bedürfnisse in die Sprache der Theorie – das intellektuelle Reaktionsprodukt der menschlichen Bedürfnisse. Mancher wird Bedürfnisse identifizieren wollen, die alle Menschen zu allen Zeiten hätten, ganz einfach weil sie Menschen sind (gehört Leidensvermeidung dazu?),4 während andere eher dazu neigen, die meisten dieser Bedürfnisse für historisch-kulturell kontingent zu halten. Aber auch ein historistischer Skeptiker wird in seinem politischen Denken auf menschliche Bedürfnisse reagieren, obwohl er diese Bedürfnisse nicht für unveränderlich hält. Orientiert sich politisches Denken an den Bedürfnissen der Menschen, insofern sie in Gesellschaft anderer Menschen leben, und bildet seine Motivationsgrundlage die aus diesen Bedürfnissen erschlossenen Wünsche, so ergibt sich daraus eine fiktionale Grundstruktur: Politisches Denken ist fiktional strukturiert, weil es sich von Wünschen leiten lässt, die noch nicht erfüllt sind, und deren Erfüllung als gegenwärtig kontrafaktischer, aber künftig hoffentlich faktischer Zustand vorgestellt wird. Intendiert ist Veränderung, die den Wunsch in Wirklichkeit transformiert – ganz gleichgültig, wie es inhaltlich um diesen Wunsch bestellt sein mag. Politisches Denken nimmt mögliche künftige Zustände vorweg und macht sie zur Norm einer Umgestaltung gegenwärtiger Zustände. Leitendes Vermögen politischen Denkens ist damit die Einbildungskraft, die einen möglichen Zustand menschlicher Gesellschaft visioniert, der ein wirklicher Zustand werden soll. Die Einbildungskraft ist im politischen Denken also nicht bloß damit beschäftigt, ein kontrafaktisches Ideal zu konstruieren – beispielsweise die größtmögliche Gerechtigkeit –, sondern auch die möglichen Übergänge vom idealfernen Ist-Zustand zum Soll-Zustand, zur Wunsch- und Bedürfnisbefriedigung. Die Fiktion nimmt im politischen Denken narrative Gestalt an, zumindest dann, wenn es nicht bloß den Soll-Zustand postuliert, sondern beschreibt,

4

So unter Berufung auf Aristoteles Nussbaum, 1999: 190 – 196.

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wie die Übergänge vom Ist- zum Soll-Zustand zu bewerkstelligen sind. Politisches Denken erzählt dann mögliche künftige Geschichten. Noch einmal: Nicht-Erlangtes, Nicht-Erreichtes fällt ins Reich der Fiktion, weil es bloße Vorstellung ist, erwartet, erhofft, vielleicht auch befürchtet. Selbst negativistisches politisches Denken, das sich statt von einem positiven Ideal von der Angst vor Verschlimmerung lenken lässt,5 bleibt im selben fiktionalen Modus, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Hier soll ein gegenwärtig noch kontrafaktischer Schreckenszustand verhindert werden; die Bemühung geht dahin, sein Eintreten zu vermeiden. Einzig ein radikaler Konservatismus, der keinen einzigen Schritt vor- oder zurückgehen will (dann würde er sich auch an einem von der Einbildungskraft erschaffenen, kontrafaktischen Zustand ausrichten), sondern allein den gegenwärtigen faktischen Zustand zu erhalten trachtet, könnte den Idealtypus eines gänzlich fiktionsabstinenten politischen Denkens verkörpern – soweit man die Erhaltung des Status quo in einer Welt, in der es Bewegung gibt, nicht für die waghalsigste aller denkbaren Fiktionen hält. Wahrscheinlicher ist – gegen Parmenides und Zenon von Elea –, dass es Bewegung gibt, die im Übrigen auch vor den Bedürfnissen nicht haltmachen dürfte. Mit der Befriedigung von Bedürfnissen treten neue Bedürfnisse auf. Begreift man politisches Denken als Reaktion auf Bedürfnisse, die in Gesellschaft lebende Menschen haben, dann wird auch politisches Denken steter Veränderung unterworfen sein, je nachdem, welche Bedürfnisse obenauf kommen – und diese Bedürfnisse wiederum stehen in Wechselwirkung zu den Wünschbarkeiten, die politisches Denken formuliert. Politisches Denken bildet nicht einfach Bedürfnisse von Menschen da draußen ab, sondern formt diese Bedürfnisse mit. In beständiger Veränderung begriffen, müsste im politischen Denken auch die Einbildungskraft, der Wille zur Fiktion ständig wach bleiben – es kommt, von immer neuen Wünschbarkeiten getrieben, nie zum Stillstand, wachsen die Wünschbarkeiten doch unerbittlich nach. An dieser Stelle beginnt man zu verstehen, woher die unerschütterliche Reserve so vieler politischer Denker gegenüber der Fiktion rührt: Sie ist Ausdruck des Bedenkens, dass sich politisches Denken zur Wunschmaschine ephemerer Bedürfnisse macht, die nach intellektueller Nobilitierung dürsten. Wie viele „Grund“- und „Menschenrechte“ sind nicht als Unabdingbarkeiten propagiert worden, die näheres Hinsehen umstandslos als Produkte einer ungezügelten Einbildungskraft entlarven wird? Gewiss, für den Menschen mag alles Mögliche wünschbar sein, aber aus diesen Wünschen Rechte abzuleiten, erscheint doch allzu häufig als ein kühnes Unterfangen. Wer der Fiktion im politischen Denken mit Misstrauen begegnet, tut dies oft genug, weil er um ihre Unersättlichkeit weiß. Das Bestreben, der Einbildungskraft im politischen Denken Zügel anzulegen, ist höchst achtbar. Weder sollte politisches Denken eine Wunschmaschine zur Artikulation (angeblicher) gesellschaftlicher oder staatlicher Bedürfnisse sein noch der Staat eine reine Bedürfnis(befriedigungs)anstalt. 5

Wie Jonas, 1979: 63 f. mit seiner „Heuristik der Furcht“.

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Die Reserve politischer Denker gegenüber der Fiktion gründet indes auch in einer gewissen Erschöpfung der politischen Einbildungskraft: Die vordringlichen, ja vielleicht die meisten Wünsche, die sie innerhalb der Grenzen der Vernunft zu ersinnen vermag, scheinen entweder längst in politische Wirklichkeit übersetzt oder wenigstens schon entschieden formuliert und eingefordert zu sein. Ist der Radius dessen, was die Einbildungskraft im Politischen auszuhecken vermag, schon vollständig abgeschritten, so dass jetzt nur noch die Wahl bleibt, die Produkte der Einbildungskraft der Altvorderen wiederzukäuen – und beispielsweise einmal mehr auf Gerechtigkeit, Gleichheit oder Freiheit zu dringen –, oder aber die Einbildungskraft an den Rändern der angeblichen gesellschaftlichen Bedürfnisse wildern zu lassen, sprich: in Extreme abzugleiten? Und genau hier ruft der heutige politische Denker zur Ordnung, denn läuft die Einbildungskraft nicht „faute de mieux“ ins Abwegige und Abseitige, weil es ihr anders nicht gelingt, politische Wünsche zu kultivieren, die nicht schon zu mindestens drei Vierteln realisiert sind? Der politischen Einbildungskraft blieben vor allem jene Wünsche, die dem politisch Erreichten und Verwirklichten diametral entgegenlaufen – beispielsweise der Wunsch, die Freiheit zugunsten verordneten Glücks einzuschränken, oder der Wunsch, statt der Gleichheit der Menschen deren Ungleichheit und damit die Ungleichverteilung von Rechten institutionell zu verankern. Das Misstrauen der politischen Denker gegenüber der Fiktion gründet wesentlich in der Furcht, dass diese Fiktion Veränderung um jeden Preis herbeiführen wolle, nur um der Veränderung willen – um in Bewegung zu bleiben. Moderates und moderierendes politisches Denken wird derlei Ausuferung abscheulich finden und jeden Hang zum Extremismus einzudämmen trachten. Und ist der Extremismus in der Fiktion nicht am ausgeprägtesten? Aber die Fiktion ganz aus dem politischen Denken auszustoßen, würde bedeuten, das Denken abzuschaffen. Als Platon die Dichter aus seinem idealen Staat vertrieb, war er längst selber Dichter geworden. Begriffsbildung fordert Einbildungskraft (heraus). Die einzige Form des nicht-fiktionalistischen politischen Denkens ist der Denkverzicht. Also wird der Misstrauische, der die Extremismen entfesselter Einbildungskraft scheut, zum einen auf Formen von Fiktion setzen, die sich statt zum Vehikel der Veränderung zum Vehikel des Verweilens, des Verharrens machen. Zum anderen wird er seine eigene Einbildungskraft mobilisieren, um den Wünschen entfesselter Einbildungskraft eigene Wünsche entgegenzusetzen. Wenn der politisch sich radikalisierende Denker nach neuen Autoritäten schreit, wird sich der Misstrauische auf eine Geheimwaffe besinnen, die ihm die Einbildungskraft an die Hand gibt, indem sie alles mit dem Index der Fiktionalität versieht: die Ironie. Ironie bringt so manchen zur Strecke, der seine Wünsche für die Wirklichkeit ausgibt. So lässt sich, unter Vorbehalt, der Radius der politischen Einbildungskraft doch noch weiter abschreiten. Vielleicht ist eine gedämpfte skeptische Bereitwilligkeit gegenüber der Fiktion ganz einfach ein Anzeichen intellektueller Redlichkeit: „In der Wissenschaft haben die Überzeugungen kein Bürgerrecht, so sagt man mit gutem Grunde: erst wenn sie sich entschließen, zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen, darf ihnen der Zu-

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tritt und sogar ein gewisser Wert innerhalb des Reichs der Erkenntnis zugestanden werden – immerhin mit der Beschränkung, unter polizeiliche Aufsicht gestellt zu bleiben, unter die Polizei des Mißtrauens.“6

Literatur Feyerabend, Paul (1993): Against Method. Third Edition, London/New York: Verso. Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kant, Immanuel (1907): Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 7: Der Streit der Fakultäten, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Berlin: Reimer. Nietzsche, Friedrich (1999): Morgenröthe. Die fröhliche Wissenschaft. (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden; Bd. 3). Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 3. Auflage, München/Berlin/New York: Deutscher Taschenbuchverlag/De Gruyter. Nussbaum, Martha C. (1999): Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Hrsg. von Herlinde PauerStuder. Aus dem Amerikanischen von Ilse Utz, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sommer, Andreas Urs (2012): Lexikon der imaginären philosophischen Werke, Berlin: Die Andere Bibliothek. Vaihinger, Hans (1911): Die Philosophie des Als ob: System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Berlin: Reuther & Reichard.

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Nietzsche, 1999, III: 574 f.

III. Aufsätze

Immanuel Kants Traktat „Zum Ewigen Frieden“ Eine Bilanz zur Anschlussfähigkeit der Friedensschrift an die aktuelle Forschung* Von Manuel Becker Abstract Das in der früheren Rezeptionsgeschichte oftmals gering geschätzte politiktheoretische Alterswerk von Immanuel Kant wird anhand der Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) einer ideengeschichtlichen Gesamtwürdigung aus heutiger Perspektive unterzogen. Dabei wird einerseits auf die klassischen Elemente wie die Theorie der friedliebenden Demokratien und die Idee eines Völkerbunds eingegangen. Anderseits soll aber auch die Anschlussfähigkeit von Kants Beobachtungen und Erwägungen anhand aktuell diskutierter politischer Fragen im Asylrecht, im Globalisierungsdiskurs, in der Kosmopolitismusdebatte und nicht zuletzt mit Blick auf die WikiLeaks-Affäre thematisiert werden.

I. Einleitung Im Jahr 2014 jährt sich zum 290. Mal der Geburtstag und zum 210. Mal der Todestag von Immanuel Kant. Das erkenntnistheoretische und moralphilosophische Werk des Königsberger Philosophen hebt ihn bis heute auf die Höhe eines der größten Philosophen der Menschheitsgeschichte. Gegenüber den großen „alles zermalmenden“1 (Moses Mendelssohn) Schriften der 1780er Jahre ist das Alterswerk Kants, das seine politische Philosophie umfasst, lange Zeit als gegenüber den Vorleistungen deutlich abfallend kritisiert worden. Kants außenpolitische Schlüsselschrift „Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ (1795) wurde früher nur vergleichsweise selten wissenschaftlich analysiert und rückt daher bis heute noch oft in den Schatten seiner Hauptwerke. Mehr noch: Die Friedensschrift wurde lange Zeit als Gelegenheitsschrift abgetan, die nur aus der Laune eines Augenblicks entstanden sei.2 Das Kant-Jubiläum in diesem Jahr gibt Anlass, die Friedensschrift einer bilanzierenden Würdigung aus politikwissenschaftlicher Perspektive zu unterziehen.

* Für wertvolle Hinweise und Anregungen danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Volker Kronenberg. 1 Mendelssohn, 1929: 3. 2 Schattenmann, 2006: 191.

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Herfried Münkler hat die Politische Theorie und Ideengeschichte mit einer gelungenen Metapher einmal als „Archiv und Laboratorium“ der Politikwissenschaft bezeichnet.3 Dem archivierenden Bewahren von Theorien, Deutungsmustern und Interpretamenten des politischen Denkens kommt ein gewisser Eigenwert zu, da viele der grundsätzlichen Fragen, die das politische Philosophieren aufwirft, bereits in der Antike formuliert worden sind und der heute politisch Nachdenkende gut daran tut, sich bei seinen Reflexionen an seinen geistigen Vorfahren zu orientieren. Die folgenden Überlegungen sollen sich jedoch eher auf den Laboratoriumscharakter der politischen Ideengeschichte konzentrieren. Es soll aufgezeigt werden, inwiefern die kantianischen Ideen und Gedanken zur Möglichkeit eines ewigen Friedens auf Erden sowohl in der politischen Praxis als auch bei verschiedenen späteren politischen Denkern zur Anwendung gebracht wurden und werden. Kant beginnt seinen Traktat mit dem Verweis auf einen Gasthof eines holländischen Wirts in Königsberg, der seiner Kneipe den Namen „Zum Ewigen Frieden“ gegeben hat, deren Eingangsschild das Bild eines Friedhofs ziert. Politiker, so Kant weiter, würden des ewigen Kriegführens nicht müde und machten sich daher über die Philosophen lustig, die dem angeblich realitätsfernen Traum des ewigen Friedens auf Erden unnützerweise nachhingen. Kant verwahrt sich gegen diese selbstgefällige Haltung und nimmt für sich in Anspruch, gleichsam bewusst utopisch aufzutreten, um eine politiktheoretische Lösung für das Problem des Krieges auf Erden formulieren zu können (AA VIII, 343).4 Die Friedensschrift soll demnach mehr sein als eine bloße Utopie oder eine simple Träumerei.5 Die Frage nach Krieg und Frieden gehört zu den zeitlosen anthropologischen Konstanten, denen sich die Menschen seit Anbeginn ihrer reflektierten Kulturtätigkeit stellen. Während und nach den kriegerischen Verwerfungen bis dato ungekannten Ausmaßes im 19. und 20. Jahrhundert ist dieses Thema immer wieder aufgegriffen worden.6 Dabei war Kants Schrift stets ein zentraler Referenzpunkt. Unter der Prämisse, dass philosophische Gedanken gerade in der Politischen Theorie unabhängig ihres abstrahierbaren und damit überzeitlichen und kontextunabhängigen Gehalts immer auch gleichsam „Kinder ihrer Zeit“ sind, wird die Friedensschrift in den folgenden Ausführungen zunächst in den zeithistorischen Kontext eingebettet, um besser verstehen zu können, was möglicherweise Anlass und Auslöser für Kant gewesen sein könnte, diese Gedanken zu verfassen (II.). Anschließend wird die wirkmächtige Idee des demokratischen Friedens, als deren Urahn Immanuel Kant gelten darf, thematisiert, wobei der Fokus auf den Herausforderungen für diese Idee im Gefolge der Transformation des Nationalstaats durch Globalisierungspro3

Vgl. Münkler, 2003: 103. Sämtliche Kant-Zitate werden im Folgenden in Kurzfassung nach der klassischen Akademieausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1900 ff.) von Immanuel Kants Gesammelten Werken zitiert. 5 Vgl. Jaschke, 2005: 90. 6 Vgl. Habermas, 1996: 192 – 236. 4

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zesse im 21. Jahrhundert liegt (III.). Sodann wird auf die Föderalismusforderung eingegangen, die auf einen internationalen Staatenbund hinausläuft und die nicht nur eine theoriegeschichtliche Reflexion, sondern auch verschiedene realhistorische Umsetzungsversuche zur Folge hatte (IV.). Schließlich bleibt noch die von Kant entwickelte Weltbürgerrechtskonzeption unter die Lupe zu nehmen und auf aktuelle Fragen der Flüchtlings- und Asylpolitik sowie auf kosmopolitische Diskurse zu beziehen (V.), bevor abschließend eine Gesamtwürdigung der Anschlussfähigkeit von Kants Gedanken für die internationale Forschung insgesamt erfolgen kann (VI.). II. Zeithistorische Einordnung Der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Friedensschrift im Jahr 1795 fiel in eine Zeit der tiefgreifenden Krise des Absolutismus und in eine Blütephase der Aufklärung. Vor allem die sechs Jahre zurückliegende Französische Revolution bewegte Europas Geistesgeschichte: „Sie bewirkte eine […] Polarisierung und Politisierung der öffentlichen Meinung sowie beinahe hysterische Reaktionen der konservativen Kräfte, die überall Jakobinerverschwörungen vermuteten.“7 Auch Kant verfolgte die Auswirkungen der Französischen Revolution von Beginn an mit großem Interesse.8 Die daraus hervorgegangene Republik kann in ihrer ersten Phase als Leitmotiv und Vorbild für die in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ anvisierte „Republik“ gesehen werden. Das zweite prägende historische Ereignis für den Traktat ist der Baseler Frieden von 1795, durch den die linksrheinischen Gebiete an Frankreich abgetreten werden mussten. In seinen Ausführungen gibt Kant kein konkretes Ereignis als Anlass zu seiner Friedensschrift an, weshalb der zeitgeschichtliche Bezug in der Wissenschaft bezweifelt wurde und umstritten ist.9 Kants zeitgenössischer Biograph Reinhold Bernhard Jachmann berichtet jedoch, dass sich Kant „innig“ über die Ereignisse des Baseler Friedens gefreut habe.10 Jachmann bezeichnet Kant als „wahre [n] Patriot[en]“11, der durch Anhänglichkeit an sein Vaterland und den eigenen Geburtsort geprägt gewesen sein soll und seinen sehnlichen Wunsch der Friedensschließung des Preußischen Staates sowie der Nichteinmischung in die Angelegenheiten fremder Nationen geäußert haben soll. Georg Cavallar beurteilt die Bezeichnung Kants als „wahren Patrioten“ demgegenüber als Wunschdenken und sieht Kants Freude über den Baseler Frieden mehr in seiner Sympathie gegenüber Frankreich sowie in seiner liberaltheoretischen politischen und rechtsphilosophischen Gesinnung begründet.12

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Cavallar, 1992: 3. Vgl. Patzig, 1996: 14. 9 Vgl. Saner, 2011: 29. 10 Zit. nach: Saner, 2011: 29. 11 Jachmann, 1994: 180. 12 Vgl. Cavallar, 1992: 6 – 7. 8

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Die Friedensschrift traf im Jahr ihres Erscheinens in jedem Fall einen Nerv bei den Zeitgenossen. Der Entwurf wurde zu einem großen verlegerischen Erfolg und nach der Erstveröffentlichung folgten mehrere Auflagen und Übersetzungen in andere Sprachen. Nicht zuletzt in Frankreich fanden Kants Friedensgedanken großen Anklang. Zur Rezeption dürfte auch die von Kant konzipierte ungewöhnliche literarische Form des Textes beigetragen haben. Er beginnt seinen Traktat mit sechs Präliminarartikeln, die in ihrer Summe den Präliminarvertrag ergeben. Es folgen in einem zweiten Teil drei Definitivartikel, die gemeinsam mit den Zusätzen und Anhängen den Definitivvertrag bilden. Mit diesem formalen Aufbau folgt Kant nicht nur dem „Geist der Zeit“, sondern betont darüber hinaus sein Verständnis, dass die Friedensschließung zwischen den Völkern nur auf einer vertraglichen Basis erfolgreich sein kann. III. Die Idee der „peace loving democracies“ Im ersten Defintivartikel fordert Kant, dass alle Staaten Republiken werden sollen (Republikanismusforderung). Kant entwickelt zwei Typologien von Staatsformen: Erstens die forma imperii, deren Kriterium die Anzahl der Personen ist, die die oberste Gewalt innehaben und bei der er zwischen Autokratie, Aristokratie und Demokratie unterscheidet; zweitens die forma regiminis, deren Kriterium die Art der Regierung ist und bei der er zwischen einer despotischen Regierungsform, in der der öffentliche Wille vom Regenten wie dessen Privatwille gehandhabt wird, und einer republikanischen Regierungsform, bei der Exekutive und Legislative voneinander getrennt sind, differenziert (AA VIII, 352). Kants Staatsformenlehre und die Republikanismusforderung als solche sind im Grunde lediglich aus historischer Sicht interessant. Aus politiktheoretischer Perspektive wesentlich maßgeblicher ist die Begründung, warum Kant glaubt, dass die Staatsform der Republik besser zum ewigen Frieden beitragen könne als die Staatsform der Despotie: Der Despot betrachte den Krieg als eine „Art von Lustpartie“, da er selbst kaum unter der Mühe und Trauer, die Kriege verursachen, zu leiden habe. Wenn die Staatsbürger selbst, die unmittelbar von diesen Konsequenzen militärischer Konflikte betroffen seien, über das Führen von Kriegen zu entscheiden hätten, so müssten sie sich diese Entscheidung deutlich schwerer abringen und würden im Zweifel eher für die Beibehaltung des Friedens optieren (AAVIII, 351). So antiquiert und schlicht diese Begründung für die Friedensneigung von Republiken im Vergleich zu Despotien auf den ersten Blick wirken mag, war es doch diese Stelle, die die Theoretiker des Liberalismus in den Internationalen Beziehungen zwei Jahrhunderte später inspirieren und aus der eine äußerst produktive, sowohl abstrakte als auch empirische, Forschungstätigkeit hervorgehen sollte. Die Grundidee der Friedensneigung von Republiken wurde zwar schon vor Kant diskutiert. Bereits Machiavelli und Montesquieu haben auf diesen Zusammenhang

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hingewiesen.13 Ernst-Otto Czempiel zufolge hat allerdings keiner dieser Vorläufer so wie Kant „die Interessenslage der bürgerlichen Gesellschaft als Friedensursache verortet und den demokratisch-republikanischen Entscheidungsprozeß als den Mechanismus genannt, die diese Grundlage in außenpolitische Entscheidungen übersetzt.“14 Der von Kant herausgearbeitete und festgestellte Zusammenhang zwischen Frieden und Republik entwickelte sich zum Leitmotiv der europäischen Einigungsbewegung im 19. Jahrhundert.15 Die Internationale Friedens- und Freiheitsliga formulierte 1885 in bewusster Abwandlung des aus der Antike tradierten Leitspruchs „Si vis pacem, para bellum“ im Geiste Kants „Si vis pacem, para libertatem et iustitiam.“16 Freiheit und Gerechtigkeit sollten als Bedingungen für den Frieden gelten. Im 20. Jahrhundert mit seinen beiden Weltkriegen dominierte lange Zeit vor allem das realistische Denken die Internationalen Beziehungen. Die Logik von wechselseitigem Misstrauen, reziproken Abschreckungsmechanismen und die Betonung des Faktors Macht standen im Vordergrund. Zu Beginn der 1980er Jahre war es Michael W. Doyle mit seinem Aufsatz „Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs“, der den Anschub zur Entwicklung der Theorie des „demokratischen Friedens“ geben sollte. Doyle stellt in seiner Analyse fest: „Even though liberal states have become involved in numerous wars with nonliberal states, constitutionally secure liberal states have yet to engage in war with one another. No one should argue that such wars are impossible; but preliminary evidence does appear to indicate that there exists a significant predisposition against warfare between liberals states.“17

Es handelt sich hierbei im Kern um eine wichtige qualitative Fortentwicklung von Kants Überlegung: Demokratische Staaten seien besonders untereinander auffallend friedfertig. Diese Beobachtung ließ sich durch empirische Daten unterfüttern.18 Es ist hier nicht der Ort, um den Gang der Forschung zum Thema „peace loving democracies“ nachzuzeichnen,19 zu dem die Literatur inzwischen kaum mehr zu überblicken ist.20 Anstelle dessen sollen zwei Anknüpfungspunkte genannt werden, die auf aktuelle politische Probleme und Tendenzen verweisen, im Rahmen derer Kants Theorem auch für das heutige politische Denken noch relevant ist. Einen ersten Anknüpfungspunkt stellt die im Kontext des Globalisierungsdiskurses diskutierte Transformation

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Vgl. Machiavelli, 1965: 19; Montesquieu, 1951: 182. Czempiel, 1996: 80. 15 Vgl. Czempiel, 1996: 81. 16 Vgl. Hanschmidt, 1977: 88. 17 Doyle, 1983: 213. 18 Singer/Small, 1972. 19 Hasenclever, 2006: 213 – 243. 20 Vgl. exemplarisch Russett, 1992; Risse-Kappen, 1995; Cederman, 2001; Rosato, 2003; Kadera et al., 2003; Hayes, 2012. 14

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klassischer Staatlichkeit dar.21 Im Zuge der Herausbildung supranationaler und intergouvernementaler Institutionen in den internationalen Beziehungen sieht sich der Staat des 21. Jahrhunderts mit der Herausforderung konfrontiert, durch die Übertragung klassischer Kompetenzen partielle Souveränitätsverluste in Kauf zu nehmen. Ulrich Teusch und Martin Kahl haben darauf hingewiesen, dass der Souveränitätsverzicht eines Staates sich nicht auf alle Staatskompetenzen gleichmäßig auswirken muss. So könne der Verlust an politischer Substanz, d. h. an interner und externer Autonomie, mit einer Zunahme an staatlicher Präsenz und einem Zuwachs an technischer Macht einhergehen. Dies bedeute, dass der Staat zwar in seiner politischen Funktion an Stärke verliere, seine technischen Management-Funktionen jedoch sogar ausbauen und stärken könne. Daraus könnte das Problem erwachsen, dass Demokratie im Schatten der Globalisierung „zu einem bloß formalen, praktisch weitgehend folgenlosen Verfahren“ verkümmert.22 Der durch Globalisierung entstehende Souveränitätsverlust sei gleichzeitig ein politischer Handlungsverlust für demokratisch gewählte Regierungen. Infolgedessen stehe eine Minderung der gesellschaftlichen Willensbildung zu erwarten, die sich aus der Zunahme zwischenstaatlicher Kooperation ergebe.23 Diese Überlegung berührt den Kern des Kantschen Arguments, dass Demokratien (in Kants Sprache Republiken) aufgrund der durch das Repräsentationsprinzip vermittelten Beteiligung der Bürger an grundlegenden Entscheidungen über Krieg und Frieden weniger dazu neigen, internationale Konflikte mit Waffengewalt auszutragen. Denn wenn diese Überlegung zutrifft, dann verlieren Demokratien ihre Friedensneigung, sobald die ihnen zu Grunde liegenden Prinzipien der Partizipation und der Repräsentation entkernt werden. Ob die aktuellen Entwicklungen in den Internationalen Beziehungen tatsächlich in diese Richtung laufen, lässt sich freilich mit guten Gründen bezweifeln. Immerhin bietet der Globalisierungsprozess auch zivilgesellschaftlichen Akteuren die Möglichkeit, sich global zu organisieren und auf ihre Weise Einfluss auf die politischen Entwicklungen zu nehmen. Insbesondere die neuen Formen der Telekommunikation erlauben es, die globale Öffentlichkeit auf diesem Wege auf politische Missstände hinzuweisen. Man denke in diesem Zusammenhang an die Rolle der Sozialen Medien und des so genannten „Web 2.0“24 im „Arabischen Frühling“.25 Vor diesem Hintergrund ließe sich auch argumentieren, dass die Transformation klassischer Staatlichkeit durchaus auch friedensfördernde Wirkungen entfalten kann. Ein zweiter Anknüpfungspunkt für die Anschlussfähigkeit des Königsberger Philosophen ergibt sich aus der kritischen Beobachtung der Erosion demokratischer 21 Vgl. hierfür statt vieler die Publikationen des Sonderforschungsbereichs 597 „Staatlichkeit im Wandel“ an der Universität Bremen, der Jacobs University Bremen und der Universität Oldenburg, unter http://www.sfb597.uni-bremen.de/pages/pubAp.php?SPRACHE=de (Stand: 01.06.14). 22 Teusch/Kahl, 2001: 300 – 301. 23 Vgl. Teusch/Kahl, 2001: 308. 24 Vgl. O’Reilly, 2008. 25 Vgl. Ghonim, 2012.

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Grundsätze in Demokratien. Julian Nida-Rümelin hat in einer ideengeschichtlichen Einordnung der Wiki-Leaks-Affäre vor einigen Jahren in einem Zeitungsartikel festgestellt, dass es für den „demokratischen Frieden“ zwischen demokratischen Staaten schwierig werden würde, weiterhin zu bestehen, wenn sich ihre außenpolitische Praxis nicht auffallend von jenen in Diktaturen unterscheide.26 Demokratien, so NidaRümelins folgerichtige Interpretation von Kants Gedanken, zeichneten sich gegenüber Autokratien durch eine Interessensidentität von Regierungen und Regierten aus. Aufgrund der Tatsache, dass die Würde des Individuums gewissermaßen zum Teil der Staatsraison geworden sei, bräuchte es keine Geheimabsprachen hinter internationalen Verträgen zu geben; alle politischen Entscheidungen seien jederzeit für die Staatsbürger transparent und kontrollierbar. Im Untertitel seines Beitrags wirft der Münchner Philosoph vor diesem Hintergrund die Frage auf, ob Immanuel Kant nicht von einer Plattform wie WikiLeaks geträumt haben könne, da diese doch den von Kant so hoch aufgehängten Transparenzanspruch bedient. Nida-Rümelin weist darauf hin, dass die WikiLeaks-Dokumente und die Empörung in politischen Kreisen über ihre Veröffentlichung erkennen lassen, dass sich das Publizitätskriterium, das Demokratien normalerweise kennzeichnen sollte, anscheinend nicht nur von autokratisch geführten Staaten, sondern auch von den USA und anderen westlichen Staaten verletzt werde. Als konkretes Beispiel für diese „Geheimpolitik“ zieht NidaRümelin den Irakkrieg heran, bei dem er davon ausgeht, dass die Öffentlichkeit in den USA in Bezug auf die Begründung des Krieges in die Irre geführt worden ist und sich wahrscheinlich deutlich gegen den Krieg ausgesprochen hätten, wenn sie umfassend informiert gewesen wäre. Die Enthüllungen des ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden und einiger anderer so genannter „Whistle-blower“ aus dem vergangenen Jahr und vor allem die Reaktionen der US-Regierung auf diesen „Geheimnisverrat“ haben die Relevanz der Beobachtung von Nida-Rümelin erneut deutlich werden lassen. Es stellt sich hier ein im Grunde zeitloses Problem für das Selbstverständnis der Staatsform einer liberalen Demokratie, das durch die technischen Möglichkeiten von heute noch zusätzlich verschärft worden ist: Welches Maß an Informationen, die zur Grundlage von sicherheitspolitischen Entscheidungen wie derjenigen über Krieg und Frieden vorliegen, ist den aufgeklärten Bürgern in einer Demokratie zuzumuten und zuzutrauen, damit eine solch grundlegende Entscheidung über die notwendige demokratische Legitimation verfügt? Welches Maß an Information darf und muss sogar vielleicht im Verborgenen bleiben und nur einem kleinen Kreis eingeweihter Geheimdienstrepräsentanten und Regierungsverantwortlichen offenbart werden, um staatspolitisch verantwortbare Entscheidungen zu treffen? Es sind dies Fragen, die den zentralen Zusammenhang zwischen Individuum und Staat berühren und der im Mittelpunkt fast aller liberalistischen Theoriebildung steht – gleich, ob in den Internationalen Beziehungen, in der Regierungslehre oder in der Politischen Ideengeschichte. 26

Vgl. Nida-Rümelin, 2010.

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Kants Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen der inneren politischen Verfassung eines Gemeinwesens und dem Verhalten dieses Gemeinwesens in den außenpolitischen Beziehungen sollten von der intellektuellen und wissenschaftlichen Begleitung einer globalisierter und transparenter werdenden Welt berücksichtigt werden, wenn sich mit der Entgrenzung des Raumes und der Zugänglichkeit von Informationen für breite Bevölkerungsteile die fromme Hoffnung verbinden soll, dass die Welt dadurch ein Stück friedfertiger wird. Die Einforderung von Transparenz und öffentlicher Kontrolle aus Kants Werk herauszulesen, setzt sich ein Stück weit dem Ananchronismusvorwurf aus, da zu Kants Zeiten eine intensive Zensurpraxis an der Tagesordnung war und er sich die medienpolitischen Bedingungen heutiger Demokratien sicher keinesfalls hat vorstellen können. Dennoch sind Transparenz und öffentliche Kontrolle natürlich zentrale Aspekte seines utopischen Entwurfs. Diesen demokratiepolitisch außerordentlich voraussetzungsreichen Anforderungen, die auch ein ausgeprägtes Rationalitätsverhalten bei den Bürgern unterstellen, ließe sich als Argument aus realistischer Perspektive entgegen halten, dass ein gewisses Maß an Geheimabsprachen immer unhintergehbarer Teil des vertrauensvollen Handelns zwischen Regierungen bleiben muss. In der Logik des „Unter-uns-Gesagten“ zwischen Regierungschefs und hohen diplomatischen Vertretern können im Zweifelsfall ganz andere, hilfreiche Lösungsansätze für politische Probleme gefunden werden, als sie im grellen Licht der Öffentlichkeit möglich sind. Insofern müssen Kants Erwägungen nicht unhinterfragt übernommen werden, sondern es gilt, diese als fruchtbare Diskussionsanregungen und Einladung zum konstruktiven Streit zu begreifen. IV. Die Idee eines Völkerbundes Im zweiten Definitivartikel fordert Kant, das Völkerrecht solle auf einen „Föderalism freier Staaten gegründet sein“ (Föderalismusforderung, AA VIII, 354). Kant referiert, dass sich der Naturzustand zwischen Individuen im innerstaatlichen Bereich auf der internationalen Ebene zwischen Staaten wiederhole (AA VIII, 354 – 355). Kant expliziert folgenden Widerspruch: Einerseits verdamme die menschliche Vernunftfähigkeit den Krieg und befehle die Beendung desselben, andererseits lasse sich das „exeundum e statu naturali“ auf zwischenstaatlicher Ebene nicht in gleicher Weise realisieren wie dies im innerstaatlichen Bereich zwischen Individuen möglich sei. Die von Kant vorgeschlagene Lösung dieses Dilemmas sieht vor, nicht einen einheitlichen Globalstaat anzustreben, sondern einen Friedensbund, einen „foedus pacificum“, der den Weg zum ewigen Frieden ebnet. Diese Option hält er für realisierbar und zugleich für kombinierbar mit der zuvor formulierten Republikanismusforderung, da ein republikanisch organisierter Staat wie ein Gravitationszentrum für einen sukzessive größer werdenden Völkerbund wirke. An die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik tritt das negative Surrogat eines sich nach und nach ausbreitenden Völkerbunds gewissermaßen als zweitbeste Lösung für das oben beschriebene Dilemma (AA VIII, 356 – 357).

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Der Gedanke der Errichtung einer internationalen Organisation zur dauerhaften Friedenssicherung ist keine originär kantianische Idee. Erste Überlegungen dazu gab es bereits im 15. Jahrhundert. Gerade im völkerrechtlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts war dies einer der prominentesten Aspekte. Bereits der Abbé de Saint-Pierre (1658 – 1743) entwickelte eine Völkerbundstheorie als Schutz vor dem Sicherheitsdilemma. Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) verbreitete den „Auszug aus dem Plan des Ewigen Friedens des Herrn Abbé de Saint-Pierre“27, den auch Immanuel Kant kannte, im Jahr 1761 in ganz Europa. Auch später haben sich viele Staatsdenker mit der Idee eines Friedensbundes beschäftigt. Insbesondere an Kant knüpfte dabei der Weimarer Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (1875 – 1921) an, wie Alfons Siegler herausgearbeitet hat.28 Das von Matthias Erzberger 1918 publizierte Buch zur Idee eines Völkerbundes29 zielte darauf ab, einen dauerhaften Weltfrieden zu etablieren. Konkret können folgende Aspekte herausgearbeitet werden, die Erzberger unter Bezugnahme auf Kant entwickelte: die Kritik an der Gleichgewichtsprogrammatik zwischen Nationalstaaten und der damit verbundenen Aufrüstungsrisiken sowie seine Ideen zur Rüstungsbegrenzung, der Verrechtlichung internationaler Beziehungen, der Beteiligung der Völker in republikanischen Rechtsstaaten sowie deren föderativer Zusammenschluss.30 Gerade nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und dem damit offensichtlichen Scheitern der Westfälischen Staatenordnung in Europa schien sich die internationale Politik und Öffentlichkeit für den Gedanken eines Völkerbunds im Sinne eines internationalen Friedensbundes immer mehr zu interessieren und zu öffnen. Bekanntlich war es US-Präsident Woodrow Wilson, der im Schatten des Ersten Weltkrieges an Überlegungen eines internationalen Bundes zur Sicherung des Friedens anknüpfte und mit dem Kriegseintritt der USA seinen berühmten 14-Punkte Plan formulierte, in dem unter anderem auch gefordert wurde: „XIV. A general association of nations must be formed under specific covenants for the purpose of affording mutual guarantees of political independence and territorial integrity to great and small states alike.“31 Viele Grundprinzipien des von Kant vorgestellten föderativen Friedensbundes wurden in der Struktur des nach dem Krieg gegründeten Völkerbundes übernommen. Man könnte sogar so weit gehen, die kantianische Friedensbundidee als „Leitmotiv“ für den Völkerbund zu bezeichnen. Sabine Jaberg hebt „frappierende Übereinstimmungen“32 zwischen Kants Idee des Friedensbundes und dem Konzept der kollektiven Sicherheit hervor, wie es dem Völkerbund zu Grunde lag. So stellt sie die Prinzipien Friede durch Sicherheit, Friede durch Recht, Binnenorientierung sowie die 27

Vgl. Rousseau, 1953: 243 ff. Vgl. Siegler, 2008: 337 – 361. 29 Erzberger, 1918. 30 Siegler, 2008: 339. 31 Wilson, 1918. 32 Jaberg, 2002: 33.

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zwischenstaatliche Orientierung als grundsätzliche Bestandteile in beiden Entwürfen heraus. Doch trotz der zahlreichen Übereinstimmungen sieht Jaberg auch beträchtliche Unterschiede: Kollektive Sicherheitssysteme folgten einem einfachen Rechtspragmatismus, dem Ursachen wie Motive für konformes Verhalten gleichgültig seien, während sich der kantianische Friedensbund auf eine idealistische Rechtsmetaphysik gründe.33 Übertragen auf die politikwissenschaftlichen Denkschulen bedeutet dies, dass Kants Friedensbundentwurf dem Idealismus entspricht, während das System der kollektiven Sicherheit eine Mischung aus idealistischen und realistischen Gedanken darstellt.34 Ein „Abbild“ oder gar eine vollständige „Verwirklichung“ der Friedensbundidee von 1795 ist der Völkerbund von 1920 freilich nicht geworden. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Entwürfen ist das partielle Kriegsverbot. Im Falle einer Streitfrage, die zum Krieg führen konnte, musste ein Schiedsgericht, der Ständige Internationale Gerichtshof oder der Rat über die Streitfrage debattieren und entscheiden. Diese Prüfungs- und Entscheidungsphase wurde als „cooling-off-Verfahren“ bezeichnet, in der es den streitenden Staaten nicht erlaubt war, Gewalt anzuwenden. Lediglich im Falle einer einstimmigen Empfehlung des Rates gegen einen Krieg konnte das Kriegsverbot endgültig greifen (Völkerbundssatzung, Art. 13, 14). Dieses partielle Kriegsverbot ist, da es kein allgemeingültiges Verbot darstellt, im Umkehrschluss als partielle Toleranz des Krieges zu deuten, die nicht im Sinne des kantianischen Friedensbundes war. Bekanntlich konnte sich der Völkerbund nicht dauerhaft etablieren und wurde am 18. April 1946 aufgelöst. Mit der Gründung der Vereinten Nationen gab es einen zweiten realgeschichtlichen Anwendungsversuch.35 Am 24. Oktober 1945 trat die UN-Charta in Kraft, die als Hauptziel die Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit definierte.36 In der Charta der Vereinten Nationen wird der Friedensbegriff insgesamt 52 Mal verwendet. Im Gegensatz zu den Statuten des Völkerbunds geht die Charta von einem positiven Friedensbegriff aus, der nicht mehr nur die Abwesenheit von Krieg bezeichnet, sondern auf die Schaffung eines dauerhaften Weltfriedens verweist. In der Praxis lässt sich dieses Streben in den vielen Spezialorganen und verschiedenen Programmen wiederfinden, die die strukturellen Ursachen von Krieg erkennen und somit verhindern sollen. Einen weiteren Fortschritt gegenüber der Konzeption des Völkerbundes stellt das allgemeine Gewaltverbot dar. Die einzige Ausnahme, die das allgemeine Gewaltverbot außer Kraft setzt, ist das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht sowie die Kompetenz des UN-Sicherheitsrates, militärische Maßnahmen bei der Bedrohung des Friedens oder bei einer Angriffshandlung verfügen zu können (Kapitel VII, Art. 39 – 51 UN-Charta). Dieses allgemeine Gewaltverbot mit nur zwei Einschränkungen ist als eine weitere Annähe33

Vgl. Jaberg, 2002: 33 – 36. Jaberg, 1999: 7 – 11. 35 Vgl. Höffe, 2011b: 175 – 194. 36 Vgl. Monazahian, 2009: 66 – 69. 34

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rung an den Friedensbund Kants zu interpretieren, der sich einem vollständigen Gewaltverzicht verschreibt. Auch das Prinzip der Nichteinmischung in die nationalen Angelegenheiten ist von Kant im fünften Präliminarartikel vorgedacht worden (AA VIII, 346). Weitere Kernziele der UNO sind die Abrüstung und die Rüstungskontrolle. In der Charta wird gefordert, möglichst wenige Mittel der menschlichen und wirtschaftlichen Hilfsgüter für den Zweck der Rüstung zu verwenden (Art. 11, 26, 47 UN-Charta). Diese Zielsetzung nähert sich der Forderung des dritten Präliminarartikels an, demzufolge stehende Heere („miles perpetuus“) aufgelöst werden sollen (AA VIII, 345). Damit schließt Kant die Aufrüstung des Militärs aus, gesteht den Staaten jedoch „freiwillige periodisch vorgenommene Übung[en] der Staatsbürger in Waffen“ (AA VIII, 345) zu, damit eine Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs möglich bleibt. Insofern konzediert Kant wie die UN-Charta einen Grundbestand an Rüstung und Wehrübungen, um gegebenenfalls erforderliche militärische Zwangsmaßnahmen durchsetzen zu können. Diese Betrachtung, die sich bisher auf rechtliche Kodifikationen in der UN-Charta beschränkt, darf die Frage nach der tatsächlichen Wirkmächtigkeit der Vereinten Nationen und ihrer Instrumente in der Realpolitik nicht außen vor lassen. Da die Folgen bei Regelverstößen gegen die UN-Charta sowie deren Grad an Verbindlichkeit nicht konkret definiert sind, lässt sich an dieser Stelle eine Schwäche im System der Vereinten Nationen feststellen, die dazu führen kann, dass beispielsweise die Zahlen für Rüstungsausgaben steigen, anstatt wie gefordert auf ein Minimum reduziert zu werden. Außerdem stellt die im Übrigen auch von Kant geforderte Souveränität der Staaten in einem föderativen Bund ein Problem dar, da sie ein Einfallstor zur Verhinderung von Reformansätzen bietet und somit die Friedenswirkung der Vereinten Nationen einschränkt. Die fruchtlose Debatte in den vergangenen Jahren über eine Reform der machtpolitisch anachronistischen Struktur des UN-Sicherheitsrates ist nur das prominenteste Beispiel für diesen Befund. Der Vergleich zwischen der kantianischen Friedensbundidee und den Vereinten Nationen fördert einerseits Übereinstimmungen in Bezug auf mancherlei Ziele und Bestimmungen zu Tage, zeigt andererseits jedoch ebenso zentrale Unterschiede auf. Doch nicht nur für die politische Praxis, auch für die moderne Friedensforschung wirkt Kant bis heute inspirierend. Der prominenteste Vertreter dieses Forschungszweiges ist Dieter Senghaas, der mit seiner 2004 veröffentlichten Monografie „Zum irdischen Frieden“37 bereits in der Titulatur auf Kant Bezug nimmt.38 Auch die Gliederung des Werks weist deutliche Parallelen zu Kants Friedensschrift auf. Senghaas erhebt den Anspruch, an Kants Entwurf anzuknüpfen und ihn als „weltkundige zeitgemäße Konkretion“ weiterzuentwickeln.39 Daraus ergibt sich auf der einen Seite die gemeinsame Überzeugung, dass zur Etablierung eines ewigen Friedens eine 37

Senghaas, 2004. Vgl. Siegler, 2008: 346 – 357. 39 Senghaas, 2004: Klappentext.

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grenzüberschreitende Vergemeinschaftung nötig ist. Auf der anderen Seite spricht sich Senghaas für wesentlich weiter gehende Formen bzw. Intensitäten der Integration aus, die über die Richtlinien einer bloßen Konföderation von Staaten deutlich hinausgehen und der Kant im Umkehrschluss nicht hätte zustimmen können. Senghaas betont, dass es nicht nur ein „zentraler“ Völkerbund sein muss, der eine alleinige Friedenswirkung in sich trägt. Vielmehr geht er davon aus, dass die politische Vergemeinschaftung im Allgemeinen und in verschiedenen Bereichen eine friedensetablierende Wirkung haben kann und betont, dass Vergemeinschaftung „gleichermaßen auf niedriger (Region), mittlerer (Staat/Nation) und höherer Ebene (Europa/andere Großregionen/Welt) von Relevanz“ sei.40 In diesem Zusammenhang sollten die realistischen Züge in Kants utopischem Entwurf nicht vergessen werden. Im fünften Präliminarartikel: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staates gewalttätig einmischen“ (AAVIII, 345) wird die Integrität des Staates gleichsam für sakrosankt erklärt. Außerdem glaubt Kant ja gerade nicht, dass eine Vergemeinschaftungsform oberhalb der Staatsebene denkbar ist. Aus diesem Eingeständnis leitet er schließlich die Idee eines Völkerbundes überhaupt erst ab. Und die politische Erfahrung gibt ihm dabei im Rückblick durchaus recht. Gerade nach den Erfahrungen der vergangenen Dekade des europäischen Integrationsprozesses, insbesondere mit Blick auf den ambitionierten Versuch, eine europäische Verfassung auf den Weg zu bringen, spricht viel für die These, dass der Nationalstaat die höchste Form der umfassenden politischen Vergemeinschaftung, darstellt. Insofern scheint gerade Kants Idee der abgestuften Vergemeinschaftungspraktiken wie im Falle des Völkerbunds als zweitbeste, aber dafür realisierbare Option ebenso intellektuell charmant wie praktisch sinnvoll zu sein. V. Kants Weltbürgerrecht Im dritten Definitivartikel fordert Kant ein Weltbürgerrecht, das auf die Bedingungen allgemeiner Hospitalität eingeschränkt sein soll (Weltbürgerrechtsforderung). So lange sich der Besucher eines fremden Herrschaftsbereichs auf dem Territorium eines anderen Staates friedlich verhalte, dürfe er nicht feindlich behandelt werden. Die als Besuchsrecht konzipierte Hospitalität, die für Kant explizit kein philanthropisches Zugeständnis darstellt, leitet sich aus dem Recht am gemeinschaftlichen Besitz der Erde ab, auf der man sich wegen ihrer Kugelform nicht bis ins Unendliche zerstreuen könne. Ein allgemein garantiertes Hospitalitätsrecht bringe die Menschheit der Idee einer weltbürgerlichen Verfassung näher (AA VIII, 358). Kant übt Kritik am inhospitalen Verhalten der Kolonialländer, deren Verhalten nicht nur moralisch verfehlt sei, sondern die auch keinen wirtschaftlichen Nutzen geltend machen könnten. Sie hielten sich für Auserwählte, in Wahrheit tränken sie das Unrecht wie Wasser. Die Welt habe mittlerweile einen Zustand erreicht, an dem das Unrecht an einem Platz der Erde überall auf der Welt gefühlt werden könne. Aus diesem 40

Senghaas, 2004: 143.

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Grund sei das Weltbürgerrecht eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex’ öffentlichen Menschenrechts (AA VIII, 359 – 360). Vergleicht man das Weltbürgerrecht im dritten Definitivartikel mit dem Völkerbundgedanken aus dem zweiten und dem Prinzip des demokratischen Friedens aus dem ersten Definitivartikel, so lässt sich feststellen, dass die Rezeption dieses Ansatzes bei den Interpreten keine herausragende Rolle eingenommen hat.41 Klaus Dicke beschreibt Kants Konzeption des Weltbürgerrechts als „Stiefkind“42 der Friedensschrift. In aktuellen Forschungen, die sich mit dem Flüchtlingsrecht und dem Flüchtlingsschutz auseinandersetzen, werden gelegentlich Parallelen zu Kants Bestimmungen zur „Hospitalität“ im Weltbürgerrecht gezogen. Dabei wird manchmal übersehen, dass, wenn man den oben zusammengefassten Text genau liest, Kants Forderung primär als Etablierung eines Rechts auf Abweisung konzipiert war. Eine Abweisung darf nur dann nicht vollzogen werden, wenn das Leben des Besuchers andernfalls gefährdet wäre. Einige Interpreten wie Pauline Kleingeld, Seyla Benhabib oder Sharon Anderson-Gold rücken jedoch genau diese Einschränkung des Rechts ins Zentrum der Analyse und proklamieren den Anspruch der Hospitalität in Notsituationen als eigentlichen Mittelpunkt dieses Definitivartikels.43 Wenn dem so wäre, so stellt sich die Frage, ob Kants Weltbürgerrecht als Grundstein für die heutige theoretische Fundierung und praktische Ausgestaltung von Flüchtlingsrechten und Asylpolitik überhaupt taugt. Anderson-Gold erklärt, das kosmopolitische Recht verlange es, Vertriebenen Asyl zu gewähren, bis sie gefahrlos in ihr Herkunftsland zurückreisen können.44 Oliver Eberl kritisiert an diesem Kant-Bezug jedoch: „Das Recht der Flüchtlinge, das Kant nicht formuliert, wird hier gegen das Prinzip der Freiwilligkeit, das Kant formuliert, ausgespielt.“45 Ein Blick auf den historischen Kontext, in dem Kant das Weltbürgerrecht in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ formulierte, lässt es in der Tat als eher unwahrscheinlich erscheinen, dass Kant die Flüchtlingsproblematik in den Vordergrund rücken wollte, da er in erster Linie Händler und Eroberer im Blick hatte. Mit dem Weltbürgerrecht wollte er Staaten vor kolonialen Übergriffen schützen, indem er ihnen das Recht der „Abweisung“ zusprach und dieses nur für Besucher in Notsituationen einschränkte. Daraus folgert Ebert: „Ob aus dieser einschränkenden Bestimmung ein ausreichend begründeter Anspruch auf Aufenthalt abgeleitet werden kann, erscheint fraglich.“46 Doch auch wenn ein Flüchtlingsrecht nicht der unmittelbare Mittelpunkt des dritten Definitivartikels ist, so ist es doch ein wesentliches Teilelement, das unter heutigen Gesichtspunkten an Relevanz gewinnt. Kants Bestimmung, die das Recht zur Abweisung durch ein „Notstandsprinzip“ einschränkt, erscheint revolutionär im Hin41

Vgl. Eberl, 2008: 147 – 182, 249 – 254. Dicke, 2004: 49. 43 Vgl. Kleingeld, 1997; Benhabib, 2005; Benhabib, 2008; Anderson-Gold, 2005. 44 Anderson-Gold, 2005: 106. 45 Eberl, 2008: 252. 46 Eberl, 2008: 252. 42

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blick auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, in der eine derartige „Schutzfunktion“ für Asylsuchende fehlt.47 In Artikel 14 der UNMenschenrechtscharta heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“ Dieses Recht beinhaltet also die Möglichkeit, Asyl zu „suchen“ und zu „genießen“, wenn es der Staat, in den eingereist werden soll, gewährt. Ein konkreter Rechtsanspruch auf Asyl ist in Artikel 14 nicht vorgesehen, um die Souveränität der Staaten nicht einzuschränken. Während die UN-Menschenrechtscharta den Staaten die Entscheidung zur Aufnahme von Flüchtlingen also grundsätzlich überlässt, definiert Kant in seinen Bestimmungen zum Weltbürgerrecht eine Notstandssituation, die die Staaten an eine Aufnahme bindet. Erst mit der Genfer Flüchtlingskonvention, die 1951 auf einer UN-Sonderkonferenz in Genf beschlossen wurde, etablierte sich mit dem „non-refoulement-Prinzip“ (Prinzip der Nichtrückschiebung) des Artikels 33 ein rechtlicher Flüchtlingsschutz, der es untersagt, Flüchtlinge auszuweisen, wenn dabei ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht wird. Diese Rechtsbestimmung kommt dem von Kant vorgestellten Weltbürgerrecht sehr nahe.48 Es zeigt sich, dass Kant zwar eine Regelung des Flüchtlingsschutzes in seine Weltbürgerrechtskonzeption einbaute, diese jedoch mit Blick auf den Schutz vor kolonialen Übergriffen eine Nebenrolle spielt. Die friedensförderliche Wirkung des Weltbürgerrechts erschöpft sich demnach nicht im individuellen Schutz in Notsituationen, sondern ergibt sich in erster Linie aus der Überlegung, naturrechtliche Gleichheitsprinzipien in einen rechtlich geregelten Bereich zwischen Staaten zu überführen.49 Die Prioritätensetzung, die Kant mit der Hervorhebung des rechtlichen Schutzes für Staaten gegenüber ihren „Besuchern“ in den Vordergrund rückt, ist unter anderem damit zu erklären, dass die Problematik der Flüchtlingsrechtslage ein Phänomen der modernen Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts darstellt und für Kant gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch keine konkrete Brisanz in sich tragen konnte. Heute haben sich die historischen Vorzeichen geändert, sodass der in der Friedensschrift so gering erscheinenden „Notstandsregelung“, die eine Abschiebung von Flüchtlingen verhindert, ein höherer Stellenwert beigemessen werden muss. Neben dem Interesse an Kants Kolonialkritik sowie der Debatte um einen Flüchtlingsrechtsschutz in Kants Weltbürgerrecht scheint der dritte Definitivartikel vor allem mit Blick auf den Globalisierungsprozess wieder an Aktualität zu gewinnen. In einer Welt, in der die Nationalstaaten durch Autonomieverluste vor neue Herausforderungen gestellt werden, wächst die Relevanz des Themas Weltbürgertum.50 Dabei wird der Globalisierungsprozess als Chance verstanden, durch die Etablierung einer gerechten bürgerlichen Verfassung dem kantianischen Frieden ein Stück näher 47

Vgl. Eberl, 2008: 253. Vgl. Dicke, 1994: 104 – 105. 49 Vgl. Birckenbach, 2000: 272. 50 Vgl. Höffe, 2011a. 48

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zu kommen, wie es der große Liberale Ralf Dahrendorf unter Rekurs auf Anthony Giddens und Ulrich Beck in einem der letzten Essays vor seinem Tod auf den Punkt gebracht hat.51 Aktuelle kosmopolitische Überlegungen greifen häufig auf das Kantsche Weltbürgerrecht zurück und gehen davon aus, dass Kant mit der Formulierung des Weltbürgerrechtes die Basis für eine kosmopolitische Ordnung legte, in deren Zentrum das Individuum als Rechtsträger steht. Eine vergleichende Betrachtung zwischen aktuellen kosmopolitischen Entwürfen und der Weltbürgerrechtskonzeption von Kant zeigt jedoch, dass der Kosmopolitismus der Aufklärung, den Kant seinem Weltbürgerrecht zugrunde legte, nicht in allen Punkten den supranationalen Entwürfen des neuen Kosmopolitismus entspricht.52 Ein markanter Unterschied liegt etwa darin, dass in Kants Weltbürgerrecht die Beziehung zwischen Staaten und (fremden) Bürgern im Zentrum der Rechtsbeziehung steht, während neuere kosmopolitische Entwürfen ihren Fokus auf rechtliche Beziehungen zwischen Individuen und ihrem Staat ausrichten.53 Der moderne Kosmopolitismus täte gut daran, einen eher selten rezipierten Gedanken im Werk der jüdischen Philosophin Hannah Arendt zu bedenken, die aus dezidiert republikanischer Perspektive aufgrund ihrer biographischen Lebenserfahrung dem humanistischen Ideal eines Weltbürgertums mit großer Skepsis begegnet und es sogar zurückweist.54 Im Gegensatz zu einem Weltbürgertum, dem Arendt unterstellt, eine Gewährleistung der Rechte aller Menschen nicht leisten zu können, spricht sie allein dem Staat eine grundrechtssichernde Qualität zu. Volker Kronenberg beschreibt diese Überzeugung wie folgt: „Die Kompetenz der Staaten gründet darin, weil sie in ihrem Bereich durch verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrechte den Menschenrechten Positivität, Identität und Durchsetzbarkeit in einem Grade vermitteln, wie es die auch heute schon partiell bestehenden internationalen Institutionen zum Schutz von Menschenrechten nicht erreichen können.“55

Um den Kosmopolitismus kantianischer Prägung für den heutigen Kosmopolitismusdiskurs anschlussfähig zu machen, muss darauf geachtet werden, dass Kant sein formuliertes Weltbürgerrecht als „Ergänzung“ zu souveränen Nationalstaaten und einem Völkerbund ansah und nicht als einen Gegensatz zu diesen Strukturen. Die Herausbildung eines Weltstaates lag, wie oben bereits erwähnt, nicht in seiner Absicht. Doch auch wenn Kant mit dem Weltbürgerrecht keinen Weltstaat forderte, so ist dennoch sicher, dass er mit seinen Festlegungen von Bedingungen zur Schaffung eines Friedens und dem damit verknüpften Gedanken der Verallgemeinerung der Grundrechte die „kosmopolitische Herausforderung nationalstaatlicher Demo-

51

Vgl. Dahrendorf, 2009: 84. Vgl. Eberl, 2008: 150. 53 Vgl. Eberl, 2008: 151. 54 Vgl. Arendt, 1973: 408; Thaa, 1999. 55 Kronenberg, 2012: 236. 52

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kratien [formulierte], die am Ende des 20. Jahrhunderts, 200 Jahre nach der Veröffentlichung von Kants Schrift, aktueller denn je ist.“56 VI. Fazit Die Analyse der Wirkmächtigkeit von Kants Friedensschrift hat gezeigt, dass sich die Beobachtungen, theoretischen Ansätze und Deutungsmuster des Königsberger Philosophen auch heute als anschlussfähig für aktuell diskutierte Probleme und Herausforderungen der Internationalen Politik erweisen. Dieser Befund gilt sowohl für die Theorie des demokratischen Friedens, die Idee eines Völkerbundes wie auch für die globalisierungskritischen und kosmopolitischen Gedankenelemente. Während der Grundansatz des demokratischen Friedens durch empirische Forschungen vielfache Umdeutungen und Weiterentwicklungen erfahren hat und während sich die Idee eines Völkerbundes in der politischen Realität bis heute nur in Teilen als probates Mittel zur Förderung des Friedens erwiesen hat, lesen sich insbesondere die seltener rezipierten Passagen des dritten Definitivartikels aus heutiger Sicht durchaus prophetisch. Die von Kant geäußerte Kolonialismus-Kritik, die zeitgenössisch noch gegen den Mainstream westlicher Politiker und Staatsdenker geschrieben wurde, wird man aus heutiger Sicht als konsensfähig bezeichnen müssen. Geradezu visionär klingt die Beobachtung, dass begangenes Unrecht auf einem Fleck der Erde an anderen Stellen gefühlt werden kann. Es gilt in Rechnung zu stellen, dass diese Zeilen zum Ende des 18. Jahrhunderts geschrieben wurden. Daher geht es sicher nicht zu weit, dies als Globalisierungskritik avant la lettre zu begreifen. Kants Verständnis und seine Weitsicht für die globale Entwicklung der Internationalen Beziehungen kann ohne Übertreibung als für die damalige Zeit ebenso visionär wie revolutionär bezeichnet werden. Günther Patzig betont zu Recht: „Natürlich können wir nicht erwarten, Kants Schriften Antworten auf unsere heutigen Fragen ohne weiteres entnehmen zu können.“57 Klarerweise sind es fundamental veränderte Rahmenbedingungen und historische Prägungen, die den heutigen außenpolitischen Diskurs bestimmen. Nichtsdestoweniger wird Kants Traktat dem Kriterium der Überzeitlichkeit gerecht, die immer ein klares Indiz für einen historisch besonders bedeutsamen Text ist. Die Friedensschrift wurde also zu Unrecht lange Zeit als Gelegenheitsschrift abgetan, die nur aus der Laune eines Augenblicks entstanden sei. Die über 200 Jahre alte Schrift stellt für die heutige Forschung eine unübersehbar wirkmächtige Grundlage dar. In diesem Sinne darf man nicht nur dem Moral- und Erkenntnistheoretiker, sondern auch dem politischen Philosophen Immanuel Kant in diesem Jahr herzlich zum Geburtstag gratulieren.

56 57

Dahrendorf, 2009: 84. Patzig, 1996: 12.

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Die Erfindung der Freiheit1 Ein Blick auf Athen und Rom Von Alexander Demandt Ernst Jünger schreibt in seinem Roman „Eumeswil“: „Worüber auch gedacht wird, man muß bei den Griechen anfangen. Die Polis in ihrer Vielfalt, ein System von Retorten, in denen jedes Experiment bereits gewagt wurde.“2 Jünger zielt ab auf das Politische, doch ist das nur ein Aspekt, unter dem die Frage nach den Anfängen zurück zu den Griechen führt. Sie selbst hatten ein ausgesprochenes Bewußtsein für Anfänge, so ausgeprägt und umfangreich, wie wir es in der Weltliteratur bei keinem anderen Volk finden. Zu den Schlüsselwörtern des griechischen Geistes gehört der Ausruf des Archimedes „Heureka“ – „Ich hab’s gefunden“, als er zu Syrakus, in der Badewanne sitzend, das hydrostatische Grundgesetz entdeckt hatte (Vitruv 216,2 f.). Archimedes war einer der großen Erfinder der Griechen, aber nicht ihr erster. Prometheus hat nach der Sage bei Hesiod den Menschen das Feuer gebracht, das zahllose Erfindungen ermöglichte. Sie sind aufgelistet in sogenannten Erfinderkatalogen, von denen die griechische Literatur weit über ein Dutzend überliefert. Man wußte, wer die Schrift, wer die Zahlen, wer die Musikinstrumente und Werkzeuge erfunden hat. Oftmals gab es einen Prioritätstreit zwischen Städten, die denselben Anspruch auf eine Errungenschaft erhoben. Denn „pro¯tos heure¯te¯s“, erster Erfinder, war ein Ruhmestitel. Man wußte sogar, wer die Götter erfunden hat.3 Man kann geradezu sagen: „Die Griechen haben die Erfindung erfunden.“ I. So haben die Griechen auch die Freiheit erfunden. Genauer: ihre Eigenschaft als Ideal und ihre Eignung als Ideologie. Das Ideal der Freiheit verbinden wir mit der Demokratie. Als deren Erfinder galt und gilt Athen.4 Unklar ist nur, ob sie mit Solon, mit Kleisthenes oder mit Perikles beginnt. Leitbegriffe Solons waren „eunomia“ und „dike¯“, die gute, rechtlich-gesetzliche Ordnung; Kleisthenes ging es um 1 Vortrag auf dem XIV. Ernst-Jünger-Symposion im Kloster Heiligkreuztal am 6. April 2013. 2 Jünger, 1977: 348. 3 Thraede, 1962; Demandt, 2011: 55 ff. 4 Rhodes, 1981.

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„ise¯goria“ und „parrhe¯sia“, um gleiches Rederecht und Redefreiheit sowie um „isonomia“, Gleichheit vor dem Gesetz. Unter Perikles begegnet uns dann das Wort „demokratia“ zum ersten Mal, es findet sich im Geschichtswerk Herodots (IV 43). Bei Thukydides (II 37) kennzeichnet Perikles die Demokratie Athens als ein Leben in Freiheit. Schon bei Solon (Elegie 24) spielte der Freiheitsgedanke eine zentrale Rolle. Denn Solon begann seine Verfassungsreform 594 v. Chr. mit dem Freikauf zahlreicher Bürger, die durch Schuldknechtschaft in die Sklaverei geraten waren. Freiheit ist das Korrelat zur Sklaverei und mit deren Erfindung relevant geworden. In diesem Zusammenhang ist von Freiheit, von „eleutheria“ schon bei Homer die Rede. Wenn Ernst Jünger meinte, man müsse bei den Griechen anfangen, dann heißt das in der Regel: bei Homer. Denn was beginnt nicht bei Homer? Seine Epen zeigen eine zweigeteilte Gesellschaft, eine reiche adlige Oberschicht von Kriegern und Priestern und eine frönende Unterschicht von Arbeitern und Bauern. Der Adlige war persönlich frei, doch war auch er nicht unabhängig. Ihn band ein Ehrenkodex, der ihm Pflichten auferlegte. Dies lehrt das erste Beispiel versuchter Wehrdienstverweigerung. Als König Agamemnon den Kriegszug gegen Troja beschloß und den griechischen Kriegeradel dazu aufbot, fürchtete Thetis, die Mutter Achills, um das Leben ihres Sohnes. Sie zog ihm Mädchenkleider an und steckte ihn unter die Mägde des Königs Lykomedes auf der Insel Skyros. Dies aber ahnte der listenreiche Odysseus. Ihn sandte Agamemnon nach Skyros. In einem unerwarteten Moment stieß Odysseus in die Kriegstrompete: da flohen die Mägde, aber Achill griff zu den Waffen. Damit verriet er sich und mußte in den Kampf (Apollodor III 174). Die Unterschicht bei Homer zerfiel wiederum in zwei Gruppen, in die Waffen tragenden Freien und die Sklaven, die in der Antike grundsätzlich keine Waffen führen durften. Um sie in kriegerischen Notzeiten rekrutieren zu können, mußte man sie zuvor freilassen. Das geschah mehrfach. Die Waffe war das Zeichen des freien Mannes. In Friedenszeiten spielte der Status „frei oder unfrei“ bei Homer keine nennenswerte Rolle. Die individuelle Abhängigkeit vom Hausherrn bestimmte die Stellung. Dies gilt noch bis in die Spätantike. Es gab Widerstand von Landsklaven gegen ihre Freilassung durch christliche Herren, weil das den Verlust ihres Arbeitsplatzes bedeutete (Palladius, Historia Lausiaca 61). Das griechische Wort für „frei“, „eleutheros“, wird ebenso wie lateinisch „liber“ von einem indogermanischen Wort abgeleitet, das den „Volksgenossen“ bezeichnet. Der Freie steht im Gegensatz zu jenen, die nicht dazugehören, den Sklaven, den Gefangenen. Dreimal spricht Homer vom „Tag der Freiheit“ vom „eleutheron e¯mar“, dessen Verlust den gefangenen Frauen der Trojaner drohte, wenn selbst die Fürstin Andromache für die Griechen weben und Wasser würde holen müssen (Ilias VI 455; XVI 831; XX 193). Der Gegensatz ist der „Tag der Knechtschaft“, „doulion e¯mar“ (Ilias VI 463). Wenn dieser Tag einen Mann ergriffen hat, d. h. wenn ein Mann seine Freiheit verloren hat, nimmt Zeus ihm die Hälfte seiner „arete¯“, seiner Leistungskraft (Od. XVII 323). Zeus ist zugleich Stifter der Freiheit. Als solcher erscheint er in den Worten Hektors zu Paris, mit denen er darauf hofft, daß Zeus dazu hilft, die Achäer

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aus Troja zu verjagen und den „Mischkrug der Freiheit“ in den Hallen aufzustellen (Ilias VI 528 f.). Hier ist an das Siegesfest gedacht, an die Befreiung von fremden Angreifern, an politische Freiheit. Freiheit ist, wie Schopenhauer (Paralipomena § 121) betonte, ein negativer Begriff, er bezeichnet Abwesenheit von Zwang. Freiheit setzt die Erfahrung der Unfreiheit, der Fremdbestimmung, der Freiheitsbeschränkung voraus, zumal die der Bewegungsfreiheit, soweit sie durch die Übermacht von Mitmenschen verursacht wird. Von Freiheit ist nur dann und dort die Rede, wo sie verloren geht oder aber erneuert wird, wo sie bedroht oder gefährdet ist, wo sie beschnitten oder geraubt wird. Wo sie hingegen selbstverständlich ist, wie bei den Tieren in freier Wildbahn oder den Göttern, da ist sie kein Thema. Die politische, genauer: die innenpolitische Freiheit trat ins Bewußtsein durch die Tyrannis. Als Solon Athen verlassen hatte, schwang sich um 560 Peisistratos zum Stadtherrn auf. Er stützte sich auf die Volkspartei, geriet später in Gegensatz zu seinen adligen Standesgenossen, zumal den Alkmeoniden, und sie stürzten 510 seinen Sohn und Nachfolger Hipparchos mit Hilfe der Spartaner. Als dann Kleisthenes die solonische Volksherrschaft in veränderter Form erneuert hatte, bedauerten die Athener, daß sie ihre Freiheit den Alkmeoniden und den Spartanern verdankten. Deswegen schufen sie den Freiheitsmythos der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton. Ihnen widmeten sie Statuen auf der Agora und erwiesen ihnen beinahe kultische Ehren. Die Heroisierung der Tyrannenmörder wurde von Herodot (V 55; 62 ff.; VI 123) und von Thukydides (I 20; VI 54 ff.) entlarvt. Sie berichten, daß dieses Attentat schon vier Jahre vor dem Tyrannensturz stattgefunden hat, daß es nicht den Tyrannen Hipparchos, sondern dessen Bruder Hippias traf und zudem eine rein persönliche Rache für gekränkte Familienehre war. Nach dem Sturz der Peisistratiden schuf Kleisthenes das Scherbengericht. Mit 6000 Stimmen konnte das Volk jeden verbannen, der im Verdacht stand, eine Tyrannis zu errichten. Das waren naturgemäß jeweils die erfolgreichsten Staatsmänner. Sie wurden Opfer der Freiheitshysterie, sofern sie nicht, wie Perikles, rechtzeitig starben. Typisch für die Mentalität der griechischen Demokraten ist das Wort, das Heraklit (VS 22 B 121) von seinen Mitbürgern in Ephesos überliefert, nachdem sie ihren besten Mann ins Exil geschickt hatten: „Bei uns soll keiner der Tüchtigste sein, höchstens wo anders und bei anderen.“ Die Strafe der Verbannung durch Volksbeschluß, gegen die der Betroffene keine Rechtsmittel besaß, und überhaupt das Fehlen von Grund- oder Menschenrechten zeigt, daß die Autonomie der Bürgerschaft insgesamt nicht die individuelle Freiheit des Bürgers gewährleistete. So konnte die Tyrannis als die Allmacht eines Einzelnen über die Gesamtheit umschlagen in die „Volkstyrannei“5 der Gesamtheit über den Einzelnen. Die Gesamtheit war dem Einfluß von Demagogen ausgesetzt, der Einzelne dem Spitzelwesen der Sykophanten. Bei Demosthenes (LIX 1374, zugeschrieben) 5

Boeckh, 1886: 268.

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lesen wir: „Das Volk der Athener hat die höchste Verfügung über alles in der Stadt und das Recht zu tun, was immer es will.“ Nicht zum Volk zählten die Frauen, die Fremden und die Sklaven. Das ist zu bedenken, wenn wir mit Schiller die Demokratie Athens als Hort der Freiheit feiern.6 Um die politische Freiheit ganz Griechenlands ging es in den Perserkriegen. Seit Kyros um 540 v. Chr. standen die Ostgriechen unter persischer Herrschaft. Sie mußten Kriegsfolge leisten und Steuern zahlen, was stets als Einbuße an Freiheit galt, aber sie genossen den Frieden im Großreich. Das wirtschaftliche und kulturelle Leben florierte. Verloren hatten diese Städte das Recht, auf eigene Faust Krieg zu führen und eben darin bestand der Verlust ihrer Freiheit (Herodot V 49; 109; 116; VI 11). Um sie wiederzugewinnen, entfachten sie 499 den ionischen Aufstand. An der Spitze stand Aristagoras, der Tyrann von Milet. Später kämpfte Dionysios, der Tyrann von Syrakus, für die Freiheit der sizilischen Griechen von den Karthagern. Ein Tyrann als Freiheitskämpfer zeigt, wie innere Unfreiheit und äußere Freiheit sich vertragen (Diodor XIV 46,5; 47,2; XV 15,4). Das gilt ebenso umgekehrt. Nachdem die Perser den Aufstand niedergeschlagen hatten, richteten sie in den von ihnen abhängigen griechischen Städten Demokratien ein (Herodot VI 43). Nun war äußere Unfreiheit mit innerer Freiheit gepaart. Da die Athener die Erhebung in Ionien unterstützt hatten, traf sie die Rache der Perser. Das führte zu den Siegen von Marathon 490 und Salamis 480 über die persische Invasionsarmee. Damit sicherten sich die Griechen in Hellas die äußere Freiheit von der Fremdherrschaft, wie Aischylos 472 in seinem Perserdrama (402 ff.) ausführt und wie Perikles 430 in seiner Gefallenenrede wiederholt (Thukydides II 36). Laut Platon (Tim. 25c) hat Athen damals die Griechen zum zweiten Mal die Freiheit gesichert, nachdem es vor neuntausend Jahren den Angriff der Leute von Atlantis abgewehrt hatte. Die Athener feierten ihren Sieg über die Perser, indem sie eine Stoa errichteten und sie nach Zeus Eleutherios, dem befreienden Zeus, benannten. Schon Hektor bei Homer hatte eine Befreiung durch Zeus erhofft. Als gottgegeben erscheint die Eleutheria bei Pindar (Pyth. I 61), als Tochter des Zeus bei Sophokles (Tragicorum Graecorum Fragmenta Nr. 226, Nauck), personifiziert zeigen sie Münzen von Aphrodisias als weibliche Statue in langem Gewand mit erhobener Rechten. 1886 stellte Frédéric Bartholdi die Dame an die Hafeneinfahrt von New York, allerdings etwas vergrößert. II. Die Zeit zwischen den Perserkriegen und Alexander gilt als die klassische Periode der griechischen Geschichte. Die Bedrohung der äußeren Freiheit durch den Feind im Osten war abgewendet, wie aber stand es mit der innergriechischen Freiheit? Zu ihrem Schutz schufen die Athener den Delisch-Attischen Seebund. Die zuletzt über 400 mit Athen verbündeten Städte stellten Schiffe oder zahlten Beiträge für die Kriegsflotte. Von den Überschüssen finanzierten die Athener die Diäten der Teil6

Schiller, 1790. Darauf verwies schon Benjamin Constant, 1819.

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nehmer an den Volksversammlungen und am Volksgericht. Demokratie war stets eine vergleichsweise teure Staatsform. Dem Unwillen der Bundesgenossen begegneten die Athener mit brutaler Gewalt. Städte, die austraten, wurden militärisch bezwungen, so daß Athen als „Polis Tyrannos“ bezeichnet wurde.7 Sie propagierte Freiheit und praktizierte Herrschaft. Und diese Tyrannei mußte sie ausüben, um ihre eigene Freiheit zu wahren, um nicht selbst bezwungen und versklavt zu werden. Die Freiheit Athens geht auf Kosten der Freiheit anderer, nicht nur der Verbündeten, sondern auch der Neutralen wie Melos (Thukydides II 63; V 112 ; VI 76). Als 431 der Peloponnesische Krieg ausbrach, führte Sparta ihn unter der Parole „Freiheit“ für die von Athen unterjochten Städte (Thukydides I 139,3). Den Sieg verdankte Sparta persischen Subsidien, weil die Perser in den Athenern ihre Feinde sahen. Darauf errichtete Sparta eine Hegemonie, die kaum weniger drückend war als die Athens, weil Sparta überall die von Athen unterstützten Demokratien durch Oligarchien ersetzte. So auch Athen. Die Stadt geriet unter die Herrschaft der „Dreißig Tyrannen“. Nachdem sie 403 gestürzt waren, befreiten sich auch die anderen Städte von den spartanischen Befreiern. Wirksame Unterstützung boten wiederum die Perser, nun gegen das übermächtig gewordene Sparta, da sie in der Autonomie der rivalisierenden Einzelstaaten Schutz gegen eine Machtbildung im Westen sahen. Die Freiheit der Griechen garantierte den Persern die Ohnmacht der Griechen. Zu den Dreißig Tyrannen zählte der Sophist Kritias, ein Onkel Platons. Die Sophisten predigten Befreiung von Konventionen, auch von moralischen und religiösen. Kritias erklärte die Götter für eine nützliche Erfindung im Interesse sozialer Disziplin, auch andere Sophisten bekannten sich zum Atheismus. Am weitesten ging später Theodoros von Kyrene mit seiner Schule. Sein Freiheitsverlangen respektierte keine Beschränkung. Diebstahl, Ehebruch, Sakrileg seien erlaubt, wenn sich eine Gelegenheit böte. Theodoros soll zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt worden sein (Diogenes Laertios II 97 ff.), so wie im Jahre 399 Sokrates. Erstaunlich ist, mit welchem Freimut die Komödie über die Politiker herziehen konnte, aber die Asebieprozesse bedeuteten Verbannung oder Tod für wirkliche oder angebliche Kritiker der Stadtgötter. Nach dem Tode des Sokrates wandte sich sein Schüler Platon von der Politik zur Philosophie (Platon, 7. Brief, 325 a ff.).8 Im Idealstaat seiner „Politeia“ haben die „Wächter“ die Freiheit der Polis nach außen zu sichern, setzen ihr im Inneren aber enge Schranken, um der Stabilität willen (Platon, Rep. III). Der Demokratie wirft Platon vor, daß ihr Freiheitsdrang in die Anarchie führe. Das Maximum an Freiheit des Volkes schlage um in ein Maximum an Zwang durch einen Tyrannen, der in seinem Sinne Ordnung schaffe. Dies lehrte der Verfassungswechsel in Syrakus. Das Dilemma der Freiheit in der Demokratie ist, den Punkt zwischen Zuwenig und Zuviel zu finden. 7 8

Schuller, 1978. Demandt, 1993: 87 ff.

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Platon vergleicht die Freiheit mit dem Alkohol. Beides vermittle zunächst Glücksgefühle, führe dann aber zur Maßlosigkeit und zum Ruin (Rep. 562 d). Die befreiende, enthemmende Wirkung des Weines hatte in Athen einen kultischen Aspekt. Schon aus der Peisistratidenzeit stammt die Halle des Dionysos Eleuthereus am Theater.9 Dionysos Eleuthereus oder auch Lyaios war der befreiende, erlösende Dionysos. Die Römer nannten ihren Bacchus auch „Liber Pater“, also Liberator. Für Platons Schüler Aristoteles ist Freiheit wiederum das Wesensmerkmal der Volksherrschaft.10 Deren positive Form, die er „Politie“ nennt, wird getragen von freien Bürgern, die wirtschaftlich unabhängig sind, und abwechselnd regieren und regiert werden. Die negative Variante, die „de¯mokratia“ heißt, ist die Herrschaft der Armen, deren Freiheitsbedarf grenzenlos ist (Pol. 1294 a; 1317 a-b). Zur Freiheit einer Polis gehört ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit, ihre Autarkie (Pol. 1291 a). Bemerkenswert ist das Menschenbild des Philosophen: die Asiaten seien kunstsinnig, aber schlapp und unfrei, die Europäer hingegen seien vital und freiheitsbewußt (Pol. 1327 b). Nachdem zunächst Athen, dann Sparta die Freiheit der griechischen Städte erst propagiert und protegiert, schließlich aber limitiert, ja konterkariert hatte, übernahm im Königsfrieden mit Sparta 386 der Perserkönig diese Doppelrolle. Während er die Griechen Kleinasiens durchaus schonend als Untertanen behandelte, garantierte er die Freiheit der Städte in Hellas (Diodor XIV 110), indem er dort wie gewohnt die jeweils zweitstärkste Macht gegen die stärkste unterstützte und den Zwist zwischen den Städten förderte. Dies erlaubte es Philipp von Makedonien und seinem Sohn Alexander, den Krieg für die Freiheit der Griechen in Persien zu schüren (Diodor XVI 91,2) und den Frieden in Hellas zu verkünden. Gegen den damit verbundenen Führungsanspruch Makedoniens versuchte Demosthenes vergebens, nun seinerseits mit persischem Geld (Plutarch, Demosthenes 20) die Freiheit der Hellenen in Hellas zu retten (Diodor XVI 84,5). Dazu hätten sie sich unter der Führung Athens zusammenschließen müssen, aber das verhinderte die traditionelle Eifersucht unter den Städten. So kam es zum Sieg der Makedonen bei Chaironeia 338 und zur Gründung des panhellenischen Korinthischen Bundes (Diodor XVI 85 – 91).11 Der Wunsch nach innergriechischem Frieden siegte über das Bedürfnis nach Freiheit. Die Autonomie blieb den Städten unangetastet, aber Kriegsherr des Bundesheeres war der König von Makedonien. Beim Einmarsch in Kleinasien wurde Alexander von den Griechenstädten als Befreier begrüßt. Die perserfreundlichen Stadtherren verschwanden, Alexander verordnete demokratische Verfassungen (Arrian I 17,10: 18,2). Die Freiheit der Städte, nach eigenem Ermessen Kriege zu führen, kam natürlich nicht mehr in Betracht. Zudem griff Alexander ein, wenn innerstädtischer Bürgerkrieg drohte. Es blieb 9

Judeich, 1931: 316 f. Demandt, 1993: 109 ff. 11 Demandt, 2011: 72. 10

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bei einer prekären Souveränität der nominell mit Alexander jetzt verbündeten Städte. Das war ein Bündnis mit dem Löwen.12 Längst hatte, wie wir sahen, die Freiheitsparole einen propagandistischen Effekt, und dieser wurde in der Zeit nach Alexander, dominant. Freiheit, „eleutheria“, war das Schlagwort, unter dem die am Rande der griechischen Welt neu entstandenen Diadochenreiche sich der Stadtstaaten in Hellas und in der Ägäis zu bemächtigen suchten. Parallel zur propagandistischen Verwendung von „eleutheria“ wurde jede Form der Abhängigkeit mit dem Gegenbegriff „douleia“, Sklaverei oder Knechtschaft, diskriminiert. So war stets jemand zu befreien und dann wieder vom Befreier zu befreien. Groteske Formen nahm das an, als Demetrios Poliorkretes Athen 307 aus der makedonischen Vorherrschaft löste und dafür als höchster Staatsgott verehrt wurde (Plutarch, Demetrios 23 ff.). Unter den ständig wechselnden Machtverhältnissen wurde die Freiheitsparole zum Kampfbegriff. Nach dem Hannibalkrieg mischten sich die Römer in die Wirren der griechischen Welt ein. Sie traten den Expansionsgelüsten der Diadochen entgegen, indem sie sich als die Schutzmacht der Schwachen empfahlen (AT 1. Makkabäer 8,1 f.). Deren Freiheit diente den Römern als Kordon gegen die östlichen Großmächte. Zu den eindrucksvollsten Szenen der Zeit gehört die Freiheitserklärung des Titus Quinctius Flamininus 196 v. Chr. bei den Isthmischen Spielen nach seinem Sieg über die Makedonen. Die Begeisterung unter den Tausenden von Zuschauern kannte keine Grenzen (Polybios XVIII 46). Daß der Befreite in die Abhängigkeit vom Befreier gerät (Aristoteles, Rhet. II 20), wird im Rausch der Befreiung verdrängt. Nur aus eigener Kraft errungene Freiheit verdient den Namen. Um die Freiheit der Griechen zu erneuern, d. h. die römische Hegemonie durch die eigene zu ersetzen, erschien 192 der Seleukide Antiochos III. aus Kleinasien (Polybios XX 8). Ihm traten die Römer ebenfalls als die Paladine der griechischen Freiheit entgegen, schlugen ihn und zogen sich wieder zurück, ehe sie 168 auch die Makedonen als Schutzmacht in Hellas ausschalteten (Cassius Dio XX 66; Zonaras IX 23 f.). Die letzte Freiheitserklärung in Griechenland war dann die des Kaisers Nero 67 wieder im Stadion auf dem Isthmos (Cassius Dio LXII 11,1).13 Das war nicht nur eine Farce, denn der philhellenische Kaiser gewährte der Provinz Achaia Steuerfreiheit, die immerhin drei Jahre anhielt. Mit der politischen Freiheit der Griechen indes war es unter der römischen Herrschaft vorbei. Aber ihre Selbstverwaltung, ihre Autonomie behielten sie außer der Kapitalgerichtsbarkeit. Plutarch (mor. 824 c) bemerkte, Rom habe den Hellenen so viele Freiheiten belassen, wie sie vertrugen, wie es gut für sie war. Den Verlust der politischen Freiheit kompensierten die Griechen durch die Erfindung der inneren Freiheit. Sie wurde zum Thema der hellenistischen Philosophie. Wenn der Mensch um so freier ist, je mehr er kann, erreicht er dasselbe, je weniger 12 13

Zur „societas leonina“: Phaedrus 11. Christ, 1988: 234.

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er will. Können wir die Umstände nicht ändern, die verhindern, daß wir alle unsere Wünsche erfüllen können, sollten wir unsere Wünsche ändern. Zu den zentralen Lehrsätzen der Stoa gehörte, uns mit allem abzufinden, was nicht in unserer Gewalt steht, und so das Gefühl der Abhängigkeit von äußeren Umständen zu überwinden. Sie seien als unerheblich zu betrachten („adiaphora“). Die höchste Tugend ist die Gleichmut („ataraxia“). Der Weise beherrscht seine Begierden, die auch den Mächtigsten und Reichsten zum Sklaven seines Verlangens machen und ihm den Schlaf rauben können. Diese Lehre vertrat noch in der römischen Kaiserzeit Epiktet (Gespräche IV 1), der selber Sklave war. Damit komme ich zu den Römern in Italien.

III. Bei Cicero (Brutus 71) heißt es: „Nihil est simul et inventum et perfectum“. Nichts ist schon bei der Erfindung perfekt. Diese von Cicero auf die Kunst bezogene Aussage kann man auch auf den Freiheitsbegriff anwenden. Blieb er bei den Griechen anthropologisch allgemein, so wurde er bei den Römern juristisch konkret gefaßt. In den Digesten des Corpus Iuris Civilis (I 5,4 pr.) lesen wir die Definition des Florentius aus der Zeit um 200 n. Chr.: „Libertas est naturalis facultas eius quod cuique facere libet, nisi si quid vi aut iure prohibetur“. „Freiheit ist die natürliche Fähigkeit eines Menschen, zu tun, was ihm beliebt, soweit nicht Gewalt oder Gesetz dagegenstehen.“ Es folgt die Definition der Sklaverei, die entgegen der Natur, aber gemäß der bei allen Völkern verbreiteten Rechtsvorstellung einen Menschen der Gewalt, dem „dominium“ eines anderen unterwirft. Der Sklave hatte nicht das „ius negandi“, das Recht, Nein zu sagen; er konnte keine gültige Ehe eingehen und besaß kein Eigentum: „Im Kern sind Freiheit und Eigentum identisch“, heißt es bei Ernst Jünger (19. Juli 1945). Das zeigt auch die Etymologie. „Frei“ heißt ursprünglich „zugehörig“. Das Verbum „freien“ für „heiraten“ heißt „zugehörig machen“. Ephoros schreibt: Freiheit ist der höchste politische Wert, denn er sichert das Eigentum, das in der Sklaverei dem Herrn gehört (Strabon C 480). Typisch römisch ist die Bindung der Freiheit an das Gesetz und damit an den Staat, genauer an die „res publica“, die als Mischverfassung verstanden wurde, bestehend aus Monarchie in Gestalt der Imperiumsträger, aus Aristokratie in Gestalt des Senates, und aus Demokratie in Gestalt der Volksversammlung (Polybios VI 11 ff.).14 Eine Demokratie, in der die Masse macht, was sie will, ist für Cicero (rep., III 45) keine „res publica“; ebensowenig wie die Monarchie. Sie war in römischen Augen ein „dominium“, die Herrschaft eines Mannes über ein im strengen Sinne unfreies Volk (Cicero, rep. I 47). Dementsprechend sahen die Römer den Beginn ihrer „res publica“ im Sturz des Königtums durch den älteren Brutus im Jahre 510. Unter den Königen, heißt es, habe das Volk jene Disziplin gelernt, die es für die Freiheit reif machte (Livius II 1,3 ff.). Der Staatsname lautete nie „Imperium Romanum“, sondern stets „Res publica Romana“, so noch unter Justinian. Wenn die kaiserlichen Ju14

Demandt, 1993: 211 ff.

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risten seit Gaius von der „res publica libera“ vor Augustus sprachen, war das subversiv. Frei im vollen Wortsinn war nur der „Civis Romanus“, „zugehörig“ durch sein Bürgerrecht. Dies gewährte ihm sogar Schutz vor den Magistraten. Gegen deren Zugriff konnte der Bürger an die Volksversammlung appellieren. Das „ius provocationis“ galt als Bastion der Bürgerfreiheit, als „praesidium libertatis“ (Livius III 55,4). Garanten waren die Volkstribune durch ihr „ius auxilii ferendi“.15 Die Tribune hatten Anwesenheitspflicht in Rom und durften nachts ihre Haustür nicht verriegeln. Die Freiheit der Bürger war wichtiger als die Nachtruhe der Staatsbeamten. Mit dem Vetorecht der Volkstribune erfanden die Römer den legalen Widerstand gegen die staatliche Exekutive. Das Volkstribunat war die gesetzmäßige Schutzwehr der Freiheit innerhalb des Staates (Diodor XII 25,2). So konnte Cicero (Pro Cluentio 146 f.) sagen: „Wir sind alle Sklaven des Gesetzes, um frei sein zu können.“ Das „fundamentum libertatis“ ist für Cicero die „res publica“, nicht der Naturzustand, nicht die göttliche Weltordnung. Die ungezügelte Freiheit, die man den Griechen vorwarf, war nicht „libertas“, sondern „licentia“, Beliebigkeit, Willkür, Zuchtlosigkeit. Cicero (Pro Flacco 16) erklärte gar, das einstmals blühende Griechenland sei zugrunde gegangen an der „libertas immoderata“, an der „licentia contionum“, kurz: an seinen chaotischen Volksversammlungen. Wir denken an die turbulenten Sitzungen im Reichstag am Ende der Weimarer Republik. Das Thema „Freiheit“ wurde in Rom aktuell, seitdem die Gracchen 133 v. Chr. als Volkstribune auf ungesetzliche Weise mit der Volksversammlung gegen den Senat operierten. In dem damals ausgebrochenen Konflikt zwischen Popularen und Optimaten kämpften beide Seiten für die „libertas“, die Volkspartei für die Freiheit des Volkes (Sallust, Jug. 42,1), die Senatspartei für die Freiheit der Republik (Cicero, Brutus 212). Diese kuriose Konstellation hielt an. Der Rebell Catilina stritt für die Freiheit des Volkes gegen die reichen Senatoren (Sallust, Cat. 20), die Senatoren Cato und Cicero bekämpften ihn im Namen der Freiheit der „res publica“ (Sallust, Cat. 52; Cicero, In Cat. IV 16). Da Cicero dabei zu ungesetzlichen Mitteln griff, trieb ihn der Volkstribun Clodius in die Verbannung, zerstörte sein Haus und errichtete auf dem Grundstück ein „Templum Libertatis“ (Plutarch, Cicero 33). Freiheit wurde zum Wechselbalg. Ein fatales Problem für die republikanische Freiheit ergab sich daraus, daß der mit ihr verbundene Gleichheitsgedanke konkurrierte mit dem Rangdenken der Römer. „Libertas“ kollidierte mit „dignitas“, mit der Würde des um den Staat verdienten Mannes. Anders als in Griechenland genoß der römische Amtsträger einen Ehrenschutz, er trug Amtstracht und schrieb seinen „cursus honorum“ auf seinen Grabstein. Er hatte einen Anspruch auf Respekt. Der römische Ehrenschutz lebt fort in unserem Persönlichkeitsschutz, der es verhindert, daß Paparazzi im Namen der Mei-

15

Mommsen, 1974: 132 ff.

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nungs- und Pressefreiheit die Prinzessin Caroline durchs Schlafzimmerfenster fotografieren.16 Das Ansehen des großen Staatsmannes hatte in Rom aber auch seine Schattenseite. Ähnlich den ostrakisierten Staatsmännern Athens mußte der ältere Scipio nach seinem Sieg über Hannibal Rom verlassen, denn seine Beliebtheit beim Volk stellte seine senatorischen Standesgenossen in den Schatten (Livius XXXVIII 52; Plutarch, Cato Maior 24). Weil die Menschen unterschiedlich befähigt, unterschiedlich erfolgreich sind, führt Freiheit zur Ungleichheit, Ungleichheit aber untergräbt die Freiheit. So dachten auch der jüngere Brutus und seine Mitverschwörer. Im Stolz auf seine „dignitas“, seinen Feldherrenruhm und seine Redegabe weigerte sich Caesar, sich vom Senat hinter Pompeius zurückstufen zu lassen und überschritt 49 den Rubikon. Vom Volk gegen die Verfassung zum Diktator auf Lebenszeit gewählt, realisierte er sein Reformwerk mit den Stimmen des Senats und der Volksversammlung. Der Senat erklärte Caesar zum „Liberator“, zum Freiheitshelden, und beschloß nach dem Sieg über seine Gegner den Bau eines Staatstempels für die Libertas, die Göttin der Freiheit (Dio XLIII 44,1). Caesars Gegner dagegen beklagten den Verlust der Freiheit, sie ermordeten Caesar als Tyrann. Brutus prägte Münzen mit dem „pileus Libertatis“, der Freiheitsmütze, die dem Sklaven bei der Freilassung aufgesetzt wurde. Aus ihr wurde 1792 der „bonnet phrygien“ der Französischen Revolution. Die Senatsherrschaft war nicht wiederherzustellen. „Wir handelten“, so Cicero (Att. XV 6(4), 2) „mit dem Mut von Männern und dem Verstand von Kindern“, denn Volk und Heer standen auf Caesars Seite. Im Krieg der Caesarerben gegen die Caesarmörder behaupteten wiederum beide Seiten, für die Freiheit des Volkes zu kämpfen. Deren Definition war eine Machtfrage. Nachdem sich Augustus als Sohn und Erbe Caesars militärisch durchgesetzt hatte, nannte er sich auf Münzen „libertatis populi Romani vindex“ und erklärte in seinem testamentarischen Tatenbericht: „Rem publicam dominatione factionis oppressam in libertatem vindicavi“: „Die Republik, die durch die Herrschaft einer Clique unterdrückt war, habe ich in die Freiheit zurückgeführt“ (Augustus, Res Gestae 1). Die Clique, das waren erst Brutus und Cassius, dann Marc Anton und Kleopatra. Seinen Anspruch, die Freiheit wiederhergestellt zu haben, unterstrich Augustus durch die Erneuerung des Tempels für Juppiter Libertas, der dem griechischen Zeus Eleutherios entsprach (Augustus, Res Gestae 19). Errichtet worden war er 238 v. Chr. aus Strafgeldern. Verstöße gegen das Gesetz galten als Anschläge auf die Freiheit (Livius XXIV 16,9). Augustus vollbrachte das Meisterstück, durch eine Kumulation und Modifikation republikanischer Amtsfunktionen und Ehrentitel den Eindruck zu erwecken, der Verfassung gemäß zu herrschen.17 Man verzieh ihm das, denn er sicherte den Bürgerfrieden, die „Pax Augusta“. Das macht eine weitere Schwachstelle im Freiheitsbegriff 16 17

Roellecke, 2004. Mommsen, 1974: 148 ff.

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deutlich: den Konflikt zwischen Freiheit und Frieden. Er wurde schon von Cicero (Phil. II 113) thematisiert. Gegen Marc Anton erklärte er, der Frieden, den Caesar gebracht habe, sei Sklaverei gewesen. Wahrer Friede sei ungestörte Freiheit, „pax est tranquilla libertas“, Sklaverei aber das ärgste Übel, lieber für die Freiheit kämpfen und sterben! Die Antike kennt viele Beispiele dafür, daß im Kampf Unterlegene den Tod der Unfreiheit vorgezogen haben. Sinnbild ist die Marmorgruppe der Sammlung Ludovisi in Rom mit dem Galater, der sein Weib und sich tötet, um der Gefangennahme durch den Pergamener Attalos I. zu entgehen.18 Das gemahnt an den Massenselbstmord bei der Eroberung von Xanthos 545 v. Chr. (Herodot I 176) und abermals 42 v. Chr. (Appian XVI 80), an den von Sagunt 218 v. Chr. (Livius XXI 14), Numantia 133 v. Chr. (Appian VI 96 f.) und von Masada 72 n. Chr. (Josephus, Bellum VII 9). Am 22. August 1945 verglich Ernst Jünger diese Haltung mit dem Kriegsende in Deutschland, als viele Nationalsozialisten sich das Leben nahmen. Aber Jünger bemerkte: „Die Konsequenz der Antike ist noch nicht überall erreicht.“ Bei den Römern fehlen Fälle eines solchen Heroismus. Sie waren Pragmatiker. So auch Tacitus (Hist. I 1). Realistisch konstatierte er: Die Übertragung der Macht auf einen Einzelnen, nämlich Augustus, erfolgte im Interesse des Friedens, „pacis interfuit“. Und Pseudo-Longinus (Über das Erhabene 44) ergänzt: „Wir sind so auf das Geld und das Vergnügen versessen, daß wir wie die Tiere übereinander herfielen und die Welt ruinierten, wenn wir frei wären. Daher ist es besser, regiert zu werden.“ Nur wenige Stimmen haben mit dem Übergang der Republik in das Prinzipat den Verlust der Freiheit beklagt, so die stoische Opposition um Thrasea Paetus unter Nero. Die Bewunderung für die Freiheitshelden Cato Uticensis, der den Tod einer Begnadigung durch Caesar vorgezogen hatte (Plutarch, Cato minor 66 ff.), sie galt mehr der aufrechten Haltung des Mannes als seinem politischen Traditionalismus. Gleichwohl ließ Nero Bücher über Cato und andere Schriften seiner eigenen Gegner auf dem Forum öffentlich verbrennen, wie Tacitus (Agr. 2; Ann. IV 35,4) berichtet. Unter ihm wurden der Geistesfreiheit Grenzen gesetzt. Neros Nachfolger prägten Münzen mit der Beischrift „libertas restituta“, wie schon Claudius nach dem Ende des brutalen Caligula. „Libertas publica“ erscheint in der Folgezeit oft auf Münzen. Wie unbefangen die „guten“ Kaiser die republikanische Freiheitsidee übernommen haben, zeigen die Kaiserrede des Plinius und die Brutusmünzen Trajans.19 Selbst der erzkonservative Tacitus (Agricola 3) schrieb: Einstmals unvereinbare Dinge, „principatus“ und „libertas“, hat Kaiser Nerva zu verbinden gewußt. Freiheit ist sohin auch unter den Kaisern möglich, wenn sie die Gesetze wahren. Politische Freiheit ist ambivalent, perspektivisch, standortgebunden. Das demonstriert wieder Tacitus. Obschon er die römische Herrschaft mit dem Freiheitsideal 18 19

Helbig, 1969: Nr. 2337. Demandt, 1993: 299.

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verknüpft, steht er nicht an, den Feinden Roms gleichfalls einen Kampf für ihre Freiheit zuzugestehen. Freiheit gegen Freiheit. Arminius ist bei ihm kein Verräter, kein Rebell, sondern der „liberator Germaniae“ (Annalen II 88). Auch anderen Widerstandskämpfern wird das Kriegsziel „Freiheit“ zugebilligt, so dem Albanerkönig Tullus Hostilius bei Livius (I 23,7 f.), den Rhodiern bei Cato (Gellius VII 3,16), dem Anführer der Italiker bei Velleius (II 27,2), den Numidiern Jugurtha bei Sallust (Jug. 81,1) und Tacfarinas bei Tacitus (Annalen IV 24,1), weiterhin dem Gallier Critognatus bei Caesar (BG VII 77), den Britanniern Boudicca bei Cassius Dio (LXII 2 ff.) und Calgacus wieder bei Tacitus (Agricola 30,2 ff.). Es gibt sehr viele Arten von Freiheit. Freiheit von Rom statt Freiheit durch Rom – was kann Freiheit nicht alles heißen? Sie ist ein wirksames Etikett für die je eigenen Ziele. In den spätantiken Bürgerkriegen um die Kaiserwürde wurde jeder siegreiche Imperator als Wiederhersteller der Freiheit idealisiert. Begriffe wie „liberator“ oder „restitutor libertatis“ erscheinen auf den Kaiserinschriften inflationär.20 Constantin hat seinen Gegner Maxentius 312 als „tyrannus“ diffamiert.21 Natürlich kämpfte auch ein Usurpator für die Freiheit.22 IV. Ein neuer Aspekt in der Spätantike ist die Glaubensfreiheit. In der vorchristlichen Welt des Polytheismus gab es Staatskulte, aber keinen Glaubenszwang. Die Asebieprozesse verteidigten den Gottesdienst, sie beschränkten sich auf Athen und einen Zeitraum von wenig mehr als hundert Jahren. In Rom wurden gelegentlich anstößige Kulte aus der Stadt verbannt; die Christenverfolgungen beruhten zunächst auf krimineller Verdächtigung und später auf verweigerter Staatsloyalität. Aus politischen Gründen war seit Diocletian der aus dem feindlichen Persien stammende Manichäismus verboten (FIRA II 580). Bemerkenswert ist, daß die Sklaven stets Glaubensfreiheit genossen, außer bei den Juden, wo sie beschnitten wurden. Der Glaubenszwang ist eine Erfindung des Judentums, die dann von den Christen übernommen wurde. Das begann im Jahre 312, als sich Constantin und dann seine Nachfolger zum Christentum bekannten. Sie sahen in ihm den einzig wahren Glauben und förderten ihn nach Kräften, verzichteten aber zunächst noch auf Glaubenszwang. Daß er dennoch im Raum stand, ersehen wir aus dem Erlaß des christlichen Kaisers Valentinian, der 364 Religionsfreiheit verkündete (Codex Theodosianus IX 16,9). Sie war wohl nicht mehr selbstverständlich. Im Jahre 379 jedoch verbot Theodosius alle heidnischen Religionen, nur die „oberservatio catholica“ blieb erlaubt (Codex Theodosianus XVI 5,5). 381 erklärte der Kaiser als „vicarius Dei“ die „Nicaena fides“ für allgemein verbindlich (Codex Theodosianus XVI 5,6). Der Katholizismus wurde Staatsreligion, nochmals wurden alle anderen christlichen und heidnischen Glau20

Dessau, 1892: 591; 674; 677; 687; 691; 737; 742; 750; 765 etc. Dessau, 1892: 694; 731; 1217. 22 So Domitius, Alexander 309; Dessau, 1892: 677. 21

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bensrichtungen außer dem Judentum verboten, und dabei blieb es. Die nicht kanonisierten und die nicht orthodoxen Schriften wurden systematisch vernichtet, die antichristlichen Bücher auf kaiserlichen Befehl verbrannt (Codex Justinianus I 1,3),23 so die des Kelsos, des Hierokles und des Porphyrios. Unter Justinian und Herakleios gab es Zwangstaufen im großen Stil. Wenn wir heute den Glaubenszwang als unvereinbar mit unserer Freiheitsvorstellung empfinden, so ist das Christentum seinerseits doch mit einer eigenen Freiheitsparole angetreten. Christus ist der Erlöser. Er erlöst, er befreit uns von der Sünde, die uns in die ewige Verdammnis führt (NT Röm. 6,18). Und diese Befreiung ist für den Gläubigen ein höheres Gut als alle irdischen Freiheitsrechte. Im Blick auf das Jenseits tröstet Paulus den Sklaven (NT An Philemon), Petrus den Leidenden (NT 1. Petr. 2,18 ff.), Jesus die Erniedrigten und Beleidigten. Denn die Letzten werden die Ersten sein (NT Lk. 13,30). „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, sagt Paulus (NT 2. Kor. 3,17). Nachdem Christus uns durch das Lösegeld seines Blutes „erkauft“ hat, gehören wir ihm wie der Sklave seinem Herrn und erwarten das Reich Gottes (NT 1. Kor. 7,22). Die Befreiung ist ein Wechsel der Herrschaft. V. „Freiheit“ gehört zu jenen Wörtern, bei denen laut Schopenhauer (Paralipomena § 120) „dem Deutschen ganz schwindelig“ wird. Er „gerät alsbald in eine Art Delirium und fängt an, sich in nichtssagenden, hochtrabenden Phrasen zu ergehen […] statt daß er die Realität ins Auge“ faßt. Dies aber erfordert ein Blick auf die Geschichte. Sie zeigt, wie die Erfindung der Freiheit in Stufen erfolgte. Die persönliche Freiheit setzt bei Homer die Sklaverei voraus, die politische Freiheit bei den Athenern die Erfahrung mit der Tyrannis, bei den Griechen insgesamt das Erlebnis der persischen Fremdherrschaft. Nachdem die Griechen in der körperschaftlichen Freiheit ein Wesenselement ihres Staatsideals gesehen und sie in ihr Demokratiekonzept eingebaut hatten, wurde sie in der Zeit der hellenistischen Großmächte stark eingeschränkt und daher ersetzt durch den Gedanken der inneren Freiheit, der Befreiung von Affekten. Die Römer haben dann die Freiheit des Bürgers im Staat durch die Appellation an die Volksversammlung und das Volkstribunat in rechtliche Kategorien gefaßt, die ein gedeihliches Zusammenleben ermöglichen sollten. Neben diesen positiven Aspekten zeigten sich schon früh und zunehmend häufig negative Momente. Freiheit wurde zum Euphemismus und diente der Beschönigung von Machtinteressen. Den Reizwert des Freiheitsbegriffs in der Politik begrenzen sechs versteckte Antinomien. 1. Die Antinomie zwischen Freiheit und Gesetz. Sie liegt in der stets erforderlichen Beschränkung der Freiheit, wenn eine Ordnung Bestand haben und nicht in Chaos, in Anarchie ausarten soll. Das kritisierten Platon und Cicero an der Demokra23

Speyer, 1981.

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tie. Wenn Freiheit nicht streng an Gesetze gebunden bleibt und sich daher ausleben, austoben kann, tritt der Naturzustand ein, das „bellum omnium contra omnes“ im Sinne von Hobbes (Leviathan I 14), der Kampf ums Dasein im Sinne von Darwin. Dabei setzt sich der Stärkste durch und bestimmt, was Freiheit noch bedeutet. Über das notwendige Maß an gesetzlicher Regelung, also an Unfreiheit, gingen und gehen die Ansichten weit auseinander. Freiheit ist quantifizierbar. Heute ist dies das Problem der Bürokratie. 2. Die Antinomie zwischen Freiheit und Gleichheit. Sie zeigte sich darin, daß der persönlichen Entfaltung, d. h. der Freiheit, Grenzen gezogen werden mußten, damit die jeweils Tüchtigsten nicht die Freiheit der anderen bedrohen und so das Prinzip Gleichberechtigung außer Kraft setzen. Vor diesem innenpolitischen Dilemma standen die Demokratie in Athen und die Republik in Rom. Heute ist dies das Problem des Liberalismus im Sozialstaat. 3. Die Antinomie zwischen Freiheit und Friede. Die Rivalität unter den souveränen griechischen Städten bewirkte einen permanenten, mal latenten, mal flagranten Kriegszustand. Das endete mit der Gründung des Korinthischen Bundes unter dem makedonischen Hegemon. Er sicherte den Frieden unter den Städten, die dafür einen Teil ihrer Freiheit an den Protektor abtreten und Gehorsam leisten mußten, „asphalo¯s douleuein“ „in sicherer Stellung Sklave sein“, sagt Demosthenes (XVIII 203). Freiheit ist schutzbedürftig und teilbar. Heute ist dies das Problem der nationalen Souveränität in der NATO und anderen grenzübergreifenden Vertragswerken. In der „res publica libera“ der Römer führten der Interessenkonflikt zwischen den Parteien und der Rangstreit unter den Prokonsuln in den ständigen Bürgerkrieg. Das rief nach dem Friedensstifter Augustus. Er versprach die Garantie der Freiheit, und dafür erfand man die „namentragende“ Freiheit, die „Libertas Augusta“, und den „namentragenden“ Frieden, die „Pax Augusta“ oder „Pax Romana“. Sie bekam in der „Pax Gothica“, der „Pax Britannica“, der „Pax Sovietica“ Nachfolger. Lateinisch „pax“ kommt von „pango“ – setzen; Friede ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hergestelltes. Der Friedensbringer bestimmt und begrenzt die Freiheit. Heute ist dies das Problem der „Pax Americana“. 4. Die Antinomie zwischen innerer und äußerer Freiheit, zwischen Autonomie und Eleutherie. Politisch relevant wurde das bei Aristagoras und Dionysios, die als Tyrannen für die Freiheit ihrer Stadt gegen die Fremdherrschaft der Perser beziehungsweise Karthager kämpften. Umgekehrt hat der Perserkönig in den abhängigen Griechenstädten die Tyrannis durch Demokratien ersetzt, ebenso die Athener im Seebund, Alexander wieder in Ionien und die Römer in ihrem Reich. Verordnete Freiheit diente als Herrschaftsinstrument des Protektors der Freiheit. Befrieden heißt Beherrschen. 5. Die Antinomie zwischen Freiheit des einen und der Freiheit des anderen. Die bekannte Formel „Die Freiheit des einen endet da, wo die Freiheit des anderen beginnt“, besagt nichts darüber, wo die Grenze zwischen den beiden Freiheiten liegt, macht aber darauf aufmerksam, daß sie existiert. Wird sie verändert, gibt es Gewin-

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ner und Verlierer. Wenn dann von Freiheit die Rede ist, muß dazu gesagt werden, um wessen Freiheit es sich handelt. Schon die antike Demokratiekritik der Aristokraten monierte, daß die demokratische Freiheit die Freiheit des gemeinen Volkes sei, das die altüberkommenen Vorrechte des Adels usurpiere. Immer wenn beide Gegner für die Freiheit zu kämpfen behaupteten, stritten sie für ihre eigene Freiheit auf Kosten der Freiheit der anderen. Als Brutus und Cassius die von Caesar „verratene“ Freiheit mit ihren Dolchen wiederherstellen wollten, da mochten sie wie später Stauffacher sagen: „Eine Grenze hat Tyrannenmacht.“ Doch Freiheit ist ein schillernder Begriff. Es ging den Caesarmördern nicht um die Rechte des römischen Volkes, sondern um die politischen Privilegien und die ökonomischen Interessen der traditionellen Senatsaristokratie, die Caesar durch die Öffnung des Senates für Nichtrömer bedrohte. Heute ist dies das Problem der politischen Rechte von Fremden. 6. Eine sechste Antinomie betrifft nur die moderne Gesellschaft: das umgekehrte Verhältnis von Freiheit in der Gestalt von Freizeit und Wohlstand. Denn Wohlstand verlangt Arbeit, und Arbeit kostet Zeit. Das hat zur Folge, daß durch Arbeit reich Gewordene immer reicher werden wollen, dann keine Zeit haben, ihren Wohlstand zu genießen, mithin ihre Freiheit dem Gewinn opfern, den sie dann nicht nutzen können. VI. Wir sahen: Freiheit ist erstens eine Frage des Könnens. Platon definiert „eleutheria“ mit den Begriffen „he¯gemonia“ (Herrschaft), „autokratia“ (Gewalt), „exousia“ (Macht) (Ps. Platon, Horoi 412 d). Je mehr man kann, desto freier ist man. Freiheit ist zweitens eine Frage des Bewußtseins. Je weniger man will, desto freier ist man. Ein kynischer Philosoph wie Diogenes fühlt sich frei in seiner Tonne, ein christlicher Asket wie Symeon Stylites fühlt sich frei auf seiner Säule, ein Ernst Jünger fühlt sich frei im Walde. Die Stoiker verstanden Freiheit als Unabhängigkeit von Affekten, auch von der Angst vor dem Tode – das ist Jüngers „Urfreiheit“. Freiheit ist drittens eine Frage der Sicht. Je nach Standort kann eine Herrschaft wie die Athens oder die Roms als Hort der Freiheit oder als Kerker der Knechtschaft empfunden werden. Die Perspektivität der Freiheit finden wir auch bei Ernst Jünger. Er nannte 1958 seine Tagebücher von 1945 bis 1948 „Jahre der Okkupation“. Das macht stutzig. War denn der 8. Mai 1945 nicht der Tag der Freiheit, der „eleutheron e¯mar“ Homers? Er wurde in der sowjetischen Machtsphäre zum Tag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus erklärt, war aber erheblich getrübt durch Deportationen und Demontagen, durch die Schändung deutscher Frauen und die Vertreibung von Millionen aus ihrer Heimat. Unter dem SED-Regime war von Freiheit viel die Rede, aber wenig zu finden. Es war Freiheit hinter Stacheldraht. Die Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin und Buchenwald bei Weimar wechselten 1945 die Insassen. In den Westzonen tat man sich schwerer mit der Freiheitsverheißung. Wo wurden denn die Alliierten mit Jubel als Befreier begrüßt? Hatten sie doch eben noch die letzten deutschen Städte zerstört und kontrollierten nun alle Lebensbereiche. An der

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Stelle von Konzentrationslagern wurden Internierungslager eingerichtet. Gewiß, die Okkupation durch die Alliierten bedeutete Freiheit für die überlebenden Häftlinge der Nationalsozialisten, aber für alle anderen bloß einen Wechsel der Herrschaft. Ernst Jünger, vor 1945 selbst Okkupant in Frankreich und Rußland, notierte 1958 den Verlust unserer nationalen Souveränität, das Verschwinden der politischen Freiheit, aber auch die seither längst erfüllte Hoffnung auf eine wiederhergestellte Freiheit in umfassenderen Einheiten „unter neuen Gesetzen“. Den Wechsel kennt er schon „in der Antike“. Sie ist eben eine Retorte auch bezüglich des Freiheitsbegriffs. Auf die Erfindung der Freiheit in der Antike folgte sehr bald die Erfindung ihrer vielseitigen Verwendbarkeit als Parole. Freiheit wurde zum Ideal, für das Menschen ihr Leben geopfert haben. Und Freiheit wurde zum Vorwand, unter dem Menschen andere totschlugen. Man benutzte reale Freiheit zu Gewaltaktionen und verbale Freiheit zu deren Rechtfertigung. Freiheitsparole und Befreiungsrhetorik zeigen im Laufe der Jahrhunderte keinerlei Abnutzungserscheinungen. Sie begegnen uns in immer neuen Formen. Denn Freiheit ist ein Zentralbegriff im zwischenmenschlichen Verhältnis, in abstracto ein hohes Ziel, in concreto eine immer wieder neu zu lösende Aufgabe. Freiheit muß immer wieder neu bestimmt, immer wieder neu erfunden werden. Literatur Baviera, Johannes (Ed.) (1968): Fontes Juris Antejustiniani: II Auctores. Florentiae: Barbe`ra. (= FIRA) Boeckh, August (1886): Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. 2. Aufl. Leipzig: Teubner. Christ, Karl (1988): Geschichte der ro¨ mischen Kaiserzeit: Von Augustus bis zu Konstantin. München: C.H. Beck. Constant, Benjamin (1819): De la liberté des anciens comparée à celle des modernes. Paris: Gallimard. Demandt, Alexander (1993): Der Idealstaat: Die politischen Theorien der Antike. Köln: Böhlau. – (2011): Philosophie der Geschichte: Von der Antike zur Gegenwart. Köln: Böhlau. Dessau, Hermann (1892 ff.): Inscriptiones Latinae Selectae. Berlin: Weidmann. Diels, Hermann/Kranz, Walther (Hrsg.) (1934): Die Fragmente der Vorsokratiker. 5. Aufl. Berlin: Weidmann. (= VS) Hamm, Berndt (2012): Freiheit. In: Kraus, Wolfgang/Schröder, Bernd (Hrsg.): Kulturelle Grundlagen Europas. Bd. I. Berlin: LIT, S. 193 ff. Helbig, Wolfgang (1969): Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer in Rom. Bd. III. Tu¨ bingen: Wasmuth. Judeich, Walther (1931): Topographie von Athen. München: Beck. Jünger, Ernst (1977): Eumeswil. Stuttgart: Klett-Cotta.

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– (1958): Jahre der Okkupation. Stuttgart: Ernst Klett. Klein, Richard (Hrsg.) (1969): Prinzipat und Freiheit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Mommsen, Theodor (1974): Abriss des römischen Staatsrechts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Nippel, Wilfried (2008): Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. Raaflaub, Kurt A. (1985): Die Entdeckung der Freiheit: Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffs der Griechen. Mu¨ nchen: Beck. Rhodes, Peter John (1981): A Commentary on the Aristotelian Athenaion Politeia. Oxford: Clarendon Press. Roellecke, Gerd (2004): Vorbild Caroline? Straßburg sei Dank: Politik und Unterhaltung gehören getrennt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 09. 2004, S. 35. Schiller, Friedrich (1790): Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon. In: Thalia, 11, 1790, S. 30 – 82. Schuller, Wolfgang (1978): Die Stadt als Tyrann: Athens Herrschaft über seine Bundesgenossen. Konstanz: Universita¨ tsverlag. Seager, Robin/Tuplin, Christopher (1980): The Freedom of the Greeks of Asia. In: Journal of Hellenic Studies, 141, 1980, S. 141 ff. Speyer, Wolfgang (1981): Bu¨ chervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen. Stuttgart: Anton Hiersemann. Thraede, Klaus (1962): Erfinder. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. V. Stuttgart: Anton Hiersemann, Sp. 1179 ff. Wirszubski, Ch. (1950): Libertas as a Political Idea at Rome During the Late Republic and Early Principate. Cambridge: University Press.

Wie neu sind die „Neuen Kriege“? Kriegsdenken im langen 20. Jahrhundert Von Harald Kleinschmidt I. Einleitung Die Frage, die ich im Titel dieses Beitrags gestellt habe, ist nicht neu1. Sie ist, genau genommen, nur wenig jünger als die Debatte über den Gegenstand, den sie thematisiert, einen Typ von Kriegen nämlich, der neu sein soll. Die Frage impliziert mithin, dass die These, es sei ein neuer Typ von Kriegen sei entstanden, keineswegs unumstritten ist. In seiner kürzlich in zweiter Auflage erschienenen Übersicht über Globalisierungserscheinungen hat Peter Nitschke die Debatte über die angeblich „neuen Kriege“ überzeugend zusammengefasst. Nitschke zufolge verweisen die Anhänger der These, dass es „neue Kriege“ gebe, auf die folgenden Aspekte der Kriegführung seit dem späten 20. Jahrhundert: – die Bestimmung des Überlebens und der Bereicherung von Kriegern als Hauptzweck der Kriegführung, der immer seltener in dem Verfolg machtpolitischer, sondern immer öfter ökonomischer, ideologischer und religiöser Ziele bestehe; – die Entgrenzung der im Krieg ausgeübten Gewalt dadurch, dass die Trennung zwischen Front und Hinterland aufgehoben sei, Krieg mithin nicht nur oder sogar in der Regel nicht auf einem Schlachtfeld ausgetragen werde, sondern mitten in Siedlungen; sowie auch dadurch, dass die Beschränkung kriegerischer Gewaltausübung nur auf Angehörige von Streitkräften weggefallen sei, mithin eine Brutalisierung des Kriegs insbesondere gegenüber unbewaffneten und nicht erkennbar feindlichen Zivilisten, insbesondere Frauen, stattgefunden habe; 1 Dieter Langewiesche, Wie neu sind die Neuen Kriege?, in: Ulrich Lappenküper und Reiner Marcowitz (Hrsg.), Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen (Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe. 13). Paderborn, München, Wien und Zürich 2010, S. 317 – 331, hier S. 320, 329; zuerst in: Georg Schild und Anton Schindling (Hrsg.), Kriegserfahrungen (Krieg in der Geschichte. 55). Paderborn, München, Wien und Zürich 2009), S. 289 – 302. Herfried Münkler, Was ist neu an den Neuen Kriegen?, in: Anna Geis (Hrsg.), Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. 6). Baden-Baden 2006, S. 133 – 150, hier S. 141 – 144 [Englische Fassung in: J. A. Olsen (Hrsg.), On New Wars (Oslo Files on Defence and Security. 4). Oslo 2007, S. 67 – 82]. Ders., Old and New Wars, in: Myriam Dunn Cavelty und Victor Mauer (Hrsg.), The Routledge Handbook of Security Studies. Abingdon und New York 2010, S. 190 – 199.

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– die Kommerzialisierung von Kriegen zum Zweck des organisierten Raubs natürlicher Ressourcen wie auch privaten Eigentums durch Angehörige von Kampfverbänden, die aus Söldnern bestehen; – die „Totalisierung der Kampfhandlungen“2 mit der Konstituierung von Massakern an der am Krieg unbeteiligten Zivilbevölkerung als strategisches Konzept; – die Vermeidung hoher Kriegskosten durch strategischen Verzicht auf komplexe Waffensysteme und große, bürokratisch strukturierte Kampfverbände im Verbund mit dem Einsatz dezentral organisierter kleiner, häufig autonomer Kampfverbände, Kindersoldaten und billigen Handfeuer- sowie anderen leichten, mobilen Waffen; – die sogenannte „Asymmetrie“ der Kriegführung, mithin die Praxis, dass reguläre, durch Regierungen souveräner Staaten kontrollierte Kampfverbände auf der einen Seite eingesetzt werden gegen vermeintlich irreguläre, die Gefechtsformen des regulären Kriegs angeblich missachtende Kampfverbände auf der anderen Seite. Gegen die Behauptung, dass diese Praktiken der Kriegführung Eigenschaften eines neuen Typs von Kriegen seien, wird angeführt, dass weder Gewaltexzesse gegen Zivilisten in Kriegsverläufen noch die Privatisierung von Kriegen noch die Sicherung des Überlebens von Kriegern durch den Krieg noch das Aufeinandertreffen unterschiedlich strukturierter Kampfverbände als solche neu, sondern zumal in der älteren Geschichte des Kriegs gut belegt seien. Hingegen seien diese Praktiken lediglich Abweichungen von den nach der Militärtheorie des 19. Jahrhunderts, insbesondere durch Carl von Clausewitz (1780 – 1831), beschriebenen oder erwarteten Grundsätzen der Kriegführung. Diese Militärtheorie aber stelle selbst eine Abweichung von den bis zur Wende zum 19. Jahrhundert üblich gewesenen Grundsätzen der Kriegführung dar. Die vermeintlich „neuen Kriege“ seien indes keineswegs bloße Rückkehr zu älteren Praktiken der Kriegführung, sondern insbesondere durch die in revolutionärem Wandel befindliche Waffentechnik3 eine Wiederaufnahme der älteren Praxis unter tiefgreifend geänderten Rahmenbedingungen4. 2 Peter Nitschke, Formate der Globalisierung. Über die Gleichzeitigkeit des Ungleichen, 2. Aufl. (Aktuelle Probleme moderner Gesellschaften. 9). Frankfurt 2013, S. 196. 3 Zum Postulat einer seit Ende des 20. Jahrhunderts stattfindenden „Revolution in Military Affairs“ siehe: Charles J., Dunlap, Jr, Preliminary Observations. Asymmetrical Warfare and the Western Mindset, in: Lloyd J. Matthews (Hrsg.), Challenging the United States. Symmetrically and Asymmetrically. Can America be Defeated?. Carlisle Barracks 1998, S. 1 – 17. David C. Gompert, Mind the Gap. Promoting a Transatlantic Revolution in Military Affairs. Washington, DC 1999. Colin S. Gray, Strategy for Chaos. Revolutions in Military Affairs and the Evidence of History. London 2002. Ders., War, Peace and International Relations. An Introduction to Strategic Studies. London und New York 2007. MacGregor Knox und Williamson Murray, Thinking about Revolutions in Warfare, in: dies. (Hrsg.), The Dynamics of Military Revolutions. Cambridge 2001, S. 1 – 14. Andrew F. Krepinevich, Cavalry to Computer. The Pattern of Military Revolutions, in: The National Interest 37 (1994), S. 30 – 42. Andrew N. Liaropoulos, Revolutions in Warfare. Theoretical Paradigms and Historical Evidence. The Napoleonic and First World War Revolutions in Military Affairs, in: Journal of

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Ich möchte auf die Debatte um die „Neuen Kriege“5 in der Hauptsache nicht weiter eingehen, sondern mich zwei Aspekten zuwenden, die, soweit ich sehe, in dieser Military History 70 (2006), S. 363 – 384. Martin Libicki und James Hazlett, The Revolution in Military Affairs (National Defense University, Fort McNair, Institute of National Strategic Studies. Strategic Forum. 11). Washington, DC 1994. Michael Mazarr, Jeffrey Shaffer und Benjamin Ederington, The Military Revolution. A Structural Framework. Washington, DC 1993. Richard O’Hundley, Past Revolutions, Future Transformations. What Can the History of Revolutions in Military Affairs Tell Us about Transforming the U.S. Military?. Santa Monica, CA 1999. Geoffrey Parker, From the House of Orange to the House of Bush. 400 Years of Revolutions in Military Affairs, in: John Albert Lynn (Hrsg.), Coming to the Americas. The Eurasian Military Impact on the Development of the Western Hemisphere (Congrès international d’histoire militaire, Norfolk, VA, 2002. Acta 28). Wheaton 2003, S. 40 – 71. Frank Tallett und David J. B. Trim, „Then was then and now is now“. An Overview of Change and Continuity in Late-Medieval and Early-Modern Warfare, in: dies. (Hrsg.), European Warfare. 1350 – 1750. Cambridge 2010, S. 1 – 26. 4 Nitschke, Formate (wie Anm. 2), S. 188 – 202. 5 Siehe dazu: Dario Azzellini und Boris Kanzleiter (Hrsg.), Das Unternehmen Krieg. Paramilitärs, Warlords und Privatarmeen der Neuen Kriegsordnung. Berlin 2003. Roger W. Barnett, Asymmetrical Warfare. Today’s Challenge to U. S. Military Power. Washington, DC 2003, S. 17. Simon Chesterman und Chia Lehnardt (Hrsg.), From Mercenaries to Market. The Rise and Regulation of Private Military Companies. Oxford 2007. Dirk Freudenberg, Theorie des Irregulären. Partisanen, Guerillas und Terrotisten im modernen Kleinkrieg. Wiesbaden 2008, S. 194 – 199, 279 – 313. Ders., Irreguläre Kräfte und der interessierte Dritte im modernen Kleinkrieg, in: Thomas Jäger (Hrsg.), Die Komplexität der Kriege. Wiesbaden 2010, S. 179 – 187. Michael W. Guillory, Civilianizing the Force. Is the United States Crossing the Rubicon?, in: Air Force Law Review 51 (2001), S. 111 – 142. Ricon J. Heaton, Civilians at War. Reexamining the Status of Civilians Accompanying the Armed Forces, in: Air Force Law Review 57 (2005), S. 155 – 209. Beatrice Heuser, Rebellen, Partisanen, Guerillas. Asymmetrische Kriege von der Antike bis heute. Paderborn, München, Wien und Zürich, 2013, S. 15 – 23. Friedrich August Freiherr von der Heydte, Der moderne Kleinkrieg als wehrpolitisches und militärisches Phänomen (Würzburger wehrwissenschaftliche Abhandlungen. 3). Würzburg 1972, S. 23, 28 – 32, 68 – 83. Langewiesche, Kriege (wie Anm. 1), S. 320, 329. Mary Kaldor, New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era. 3. Aufl. Chichester 2012 [Deutsche Fassung. Frankfurt 2000, S. 8, 110 – 138, 146 – 154]. Christopher Kinsey, A Typology of Private Military/Security Companies, in: ders., Corporate Soldiers and International Security. The Rise of Private Military Companies. London 2006, S. 8 – 33. Carsten Michels und Benjamin Teutweger, Private Militärfirmen in der internationalen Sicherheitspolitik, in: Thomas Jäger (Hrsg.), Die Komplexität der Kriege. Wiesbaden 2010, S. 97 – 125. Herfried Münkler, Die neuen Kriege. 6. Aufl. Hamburg 2003, S. 18, 28 – 32, 45, 57, 71 – 72, 85. Ders., Was ist neu (wie Anm. 1), S. 134. Ders., Reziprozität, Asymmetrie und die neuerliche Moralisierung des Krieges, in: Gerd Hankel (Hrsg.), Die Macht und das Recht. Beiträge zum Völkerrecht und Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts. Hamburg 2008, S. 300 – 322. Renée de Nevers, Looking Beyond Iraq. Contractors in US Global Activities’, in: Christopher Kinsey und Malcolm Hugh Patterson (Hrsg.), Contractors and War. The Transformation of US Expeditionary Operations. Stanford 2012, S. 60 – 82. Carlos Ortitz, The Private Military Company. An Entity at the Center of Overlapping Spheres of Commercial Activity and Responsibility, in: Thomas Jäger und Gerhard Kümmel (Hrsg.), Private Military and Security Companies. Chances, Problems, Pitfalls and Prospects. Wiesbaden 2007, S. 55 – 68. Thomas Rid und Marc Hecker, War 2.0. Irregular Warfare in the Information Age. Westport, CT 2009. Michael Scheimer, Separating Private Military Companies from Illegal Mercenaries in International Law, in: American University International Law Review 24 (2008/09),

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Debatte bisher nicht thematisiert wurden; zunächst dem Aspekt der Normativität von Kriegshandlungen, zweitens dem Aspekt der unterschiedlichen Wahrnehmungen von Kriegshandlungen unter kriegführenden Parteien. In ihrer Summe stellen beide Aspekte, so glaube ich, die Debatte um die „neuen Kriege“ in einen neuen, bedrückenden Zusammenhang. II. Die Normativität kriegerischen Handelns Normen sind Sätze, die geeignet sind, die Freiheit des Entscheidens über das Handeln einzuschränken. Sind Normen erzwingbar und bei Nichtbefolgung mit Strafsanktionen bewehrt, sind sie Rechtssätze. Die Unterwerfung kriegerischen Handelns unter Rechtssätze scheint folglich ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Denn im Krieg kommen die Streitparteien darin überein, dass sie Rechtssätze nicht beachten, sondern nur die Ausübung von Gewalt, einschließlich vorsätzlichen Tötens, anerkennen wollen. Es gibt folglich und trotz auch jüngerer Anrufungen des ungesetzten Naturrechts keine humane Kriegführung6, und auch wenn Clausewitz zugestand, dass während eines Kriegs keine Obergrenze der Intensität der Gewaltausübung bestehen könne, warnte er doch vor der Vorstellung, „selbst die Totalentscheidung eines ganzen Krieges […] immer für eine absolute anzusehen“, denn der „erliegende Staat“ sehe in einem verlorenen Krieg „oft nur ein vorübergehendes Übel“7. Gleichwohl verweisen diese Einsichten weder darauf, dass während eines Kriegs keine Rechts-

S. 609 – 646. Allison Stanger, Contractors’ Wars and the Commission on Wartime Contracting, in: Christopher Kinsey und Malcolm Hugh Patterson (Hrsg.), Contractors and War. The Transformation of US Expeditionary Operations. Stanford 2012, S. 184 – 204. Steven J. Zamparelli, Competitive Sourcing and Privatization. Contractors on the Battlefield, in: Air Force Journal of Logistics 23 (1999), S. 1 – 17. 6 So schon Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres. Paris 1625, Kap. I/3, III/4, § 9, III/ 4 § 10. Jüngere Anrufungen des Naturrechts liegen vor in der sogenannten Martens’schen Klausel im Vorspruch zur Haager Landkriegsordnung, wo es heißt: „En attendant qu’un code plus complet des lois de la guerre puisse être édicté, les Hautes Parties Contractantes jugent opportun de constater que, dans les cas non compris dans les dispositions réglementaires adoptées par elles, les populations et les belligérants restent sous la sauvegarde et sous l’empire des principes du droit des gens, tels qu’ils résultent des usages établis entre nations civilisées, des lois de l’humanité et des exigences de la conscience publique.“ Siehe: Internationale Konvention über die Gesetze und Gewohnheiten des Landkriegs [Belgien – Bulgarien – Dänemark – Deutsches Reich – Frankreich – Griechenland – Italien – Japan – Luxemburg – Mexiko – Montenegro – Königreich der Niederlande – Österreich-Ungarn –Portugal – Rumänien – Russland – Schweden-Norwegen – Serbien – Siam – Spanien – Türkei – Vereinigte Staaten von Amerika – Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland], Den Haag, 29. Juli 1899, in: CTS, Bd. 187, S. 430 – 442, hier S. 431. Die Orthodoxie von der angeblich humanen Kriegführung seit den Haager Konventionen kritisierte Geoffrey Francis Andrew Best, Humanity in Warfare. The Modern History of International Law of Armed Conflicts. London 1980, S. 128 – 215. 7 Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Frankfurt, Berlin und Wien 1980, Buch I, Kap. 1/9, S. 24.

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sätze bestehen, noch dass Krieg als solcher keinen Rechtssätzen unterworfen wäre8. Darüber, welche Rechtssätze bestehen, können unter Kriegsparteien unterschiedliche, ja unvereinbare, Wahrnehmungsgegensätze klaffen, aber dass im Krieg keine Rechtssätze gelten, ist damit nicht gesagt. Ein offenbar allgemein anerkannter, während des Kriegs als gültig angesehener Rechtssatz beispielsweise besagt, dass im Krieg das Töten bestimmter Personen an bestimmten Orten unter bestimmten Umständen legal ist, dass mithin die tötenden Personen keiner Strafverfolgung unterworfen werden dürfen, wenn sie die geltenden Bestimmungen einhalten. Hingegen gilt dieses Verbot der Strafverfolgung von tötenden Personen, abgesehen von Notwehrsituationen, außerhalb des Kriegs nicht. Die Bestimmung des Kriegs durch Rechtssätze ist also eine elementare Voraussetzung für das Führen von Kriegen allgemein. Das bedeutet jedoch nicht, dass die für den Krieg (ius ad bellum) und im Krieg (ius in bello) geltenden Rechtssätze stets immer und überall die gleichen sind. Im Gegenteil sind gerade diejenigen Rechtssätze, die den Krieg als solchen definieren, im Verlauf der letzten 200 Jahre, von Europa ausgehend, grundlegenden Veränderungen unterworfen worden9. Diese Veränderungen möchte ich im Folgenden kurz skizzieren. Noch Clausewitz verblieb in vieler Hinsicht im Rahmen der Tradition der Militärtheorie des 18. Jahrhunderts. Dies gilt insbesondere für seine allgemeine, umfassende Definition des Kriegs, der, Clausewitz zufolge, alle Arten autoritativ und legitim unternommener Gewaltanwendung zwischen Gruppen umfasste10. Mit dieser Verwendung eines allgemeinen Kriegsbegriffs verfuhr Clausewitz genauso wie zeitgenössische Theoretiker, beispielsweise der preußische Offizier Jakob Otto August Rühle von Lilienstern (1780 – 1847)11, oder der Schweizer General Henri Antoine Jomini (1779 – 1869)12. Während des oft so genannten Peninsular War (1808 – 1812), hatten jedoch Taktiken des allgemeinen Widerstands auch bewaffneter Zivilisten gegen die Besatzungsherrschaft Napoleons in Spanien Anwendung gefunden unter zeitgleicher Benutzung des seit dem 17. Jahrhundert gebräuchlichen spanischen Worts „guerilla“ als Bezeichnung für den kleinen Krieg13. Bei Theoretikern 8

Grotius, De jure (wie Anm. 6), Prolog, Nr. 17, 23; Kap. I/1, § 14. Dazu siehe im Überblick: Harald Kleinschmidt, Diskriminierung durch Vertrag und Krieg (Beihefte zur Historischen Zeitschrift, N. F. 59). München 2013, S. 113 – 169. Ders., Geschichte des Völkerrechts in Krieg und Frieden. Tübingen, 2013, S. 274 – 420. 10 Clausewitz, Vom Kriege (wie Anm. 7), Buch I, Kap. 1/2, S. 17, Teil II, Kap. I/1, S. 100. 11 Jakob Otto August Rühle von Lilienstern, Apologie des Krieges, hrsg. von Jean-Jacques Langendorf. Wien 1984, S. 68 – 69. 12 Antoine Henri de Jomini, Abriß der Kriegskunst, hrsg. von Albert von Boguslawski. Berlin 1881, S. 17. 13 Sebastián de Covarrubias y Orozco, Tesoro de la langua castellana o española. Madrid 1611 [Nachdruck. Barcelona 1943, S. 666]. Covarrubias definierte die „guerrila“ als illegale Konfliktform zwischen Gruppen von Untergebenen von Herrschern, wohl mit Blick auf die Aktivitäten der Comuñeros zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte das Wort diese Bedeutung abgestreift. Dazu siehe: Ludolf Pelizaeus, Die Radikalisierung des Krieges der „Guerilla“ auf der Iberischen Halbinsel und in Süditalien. 1808 – 1813, in: Sönke Neitzel und Daniel Hohrath (Hrsg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in 9

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des Kriegs riefen diese Taktiken das Bewusstsein dafür wieder wach, dass Krieg nicht allein durch reguläre Streitkräfte unter der Kontrolle der Regierungen von Staaten, sondern auch von anderen als unmittelbar staatlich kontrollierten Kampfverbänden geführt werden konnte. Clausewitz selbst widmete diesen Formen des Guerilla- oder des kleinen Kriegs eine ausführliche Abhandlung, die er als Vorlesung in der Berliner Kriegsakademie 1810/11 vortrug. Dabei verwarf Clausewitz den von ihm so genannten kleinen Krieg als nicht hinnehmbar grausame Form der Kriegführung14. Jomini folgte Clausewitz, indem er ausdrücklich die von ihm als „Nationalkriege“ bezeichneten kleinen Kriege als die am meisten zerstörerische und Schrecken verbreitende Kriegsform betrachtete15. Gleichwohl blieb der Kriegsbegriff als solcher umfassend, und die Bezeichnung kleiner Krieg deutete weiterhin, wie auch im 18. Jahrhundert, auf den Einsatz hauptsächlich leicht bewaffneter Kontingente für Nebenoperationen außerhalb der regulären Formationen und des Schlachtfelds, wie etwa taktische Scharmützel, um Formationen zu binden, Angriffe auf Marschformationen und Erkundungsmaßnahmen16. kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Krieg in der Geschichte. 40). Paderborn, München, Wien und Zürich 2008, S. 205 – 221. Ders., Die anti-napoleonischen Mobilisierungen in Spanien und Sizilien und deren Auswirkungen auf Lateinamerika. 1806 – 1830, in: Rüdiger Bergien and Ralf Pröve (Hrsg.), Spießer, Patrioten, Revolutionäre. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung. Göttingen 2010, S. 259 – 280. Ders., Von der staatlichen zur privaten Guerilla in Spanien und im südlichen Lateinamerika. 1808 – 1853, in: Stig Förster (Hrsg.), Rückkehr der Condottieri? Krieg und Militär zwischen staatlichem Monopol und Privatisierung (Krieg in der Geschichte. 57). Paderborn, München, Wien und Zürich 2010, S. 171 – 188. 14 Carl von Clausewitz, Meine Vorlesungen über den Kleinen Krieg 1810/11, in: ders., Schriften – Aufsätze – Studien – Briefe, hrsg. von Werner Hahlweg (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts. 45). Göttingen 1966, S. 208 – 599, hier S. 11 – 12, 21 – 23, 231 – 232. 15 Jomini, Abriß der Kriegskunst (wie Anm. 12), S. 34. Er verwies für dieses Urteil auf eigene Erfahrungen im Peninsular War (ebd., S. 37). 16 Georg Wilhelm von Bolstern, Der Kleine Krieg. Oder die Maximen der leichten Infanterie, Kavalerie, Scharschützen und Jäger. Magdeburg 1789. Armand Charles Augustin De la Croix, Abhandlung vom kleinen Krieg zum Gebrauch der Freycompanien. Paris 1752, in: Kriegsbibliothek. Oder gesammelte Beiträge zur Kriegswissenschaft, 1. Versuch. Breslau 1755, S. 105 – 132. Andrew Emmeric (Hrsg.), Der Partheygänger im Kriege. Oder der Nutzen eines Corps leichter Truppen für eine Armee. Berlin 1791. Johann von Ewald, Abhandlung über den kleinen Krieg. Basel 1785. Thomas Auguste LeRoy de Grandmaison, La petite guerre. Paris 1756. De Guy le Comte Philippe-Henri de Grimoard, Traité sur la constitution des troupes légères. Paris 1782. De Jeney, Le partisan. Ou l’art de faire de Petite-Guerre avec succès selon de génie de nos jours. Den Haag 1759. [Philipp Julius von Platen], Le Husard. Ou courtes maximes de la petite guerre. Berlin 1761. Georg Wilhelm von Valentini, Abhandlung über den kleinen Krieg und über den Gebrauch der leichten Truppen. Berlin 1799. De Vernier, Instructions militaires concernant la petite guerre. Basel 1773. Im 19. Jahrhundert schrieb Wilhelm Rüstow, Die Lehre vom kleinen Kriege. Zürich 1864, S. 3 – 9, noch fort, ohne auf die Kolonialkriege einzugehen. Dazu und zum Wandel des Begriffs des kleinen Kriegs um 1800 siehe: Heuser, Rebellen (wie Anm. 5), S. 16 – 20. Johannes Kunisch, Der Kleine Krieg. Studien zum Heereswesen des Absolutismus (Frankfurter Historische Abhandlungen. 4). Wiesbaden 1973. Philip Martin Rink, Vom „Partheygänger“ zum Partisan. Die Konzeption des

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Europäische reguläre Armeen trafen zuerst auf strategisch geplanten massenhaften Widerstand ganzer waffentragender wie unbewaffneter Bevölkerungsgruppen nach der französischen Besetzung von Algiers im Jahr 1830 und dem daraus folgenden, von Sidi d’Haddsch Abd el-Kadr Uled Mahiddin (um 1808 – 1883) geführten Widerstand. Französische Invasionstruppen antworteten auf den ihnen entgegen schlagenden Widerstand mit der Durchführung sogenannter Razzien, einer Bezeichnung, die in der Frühphase des Algerienkriegs aufkam17. Darunter waren Maßnahmen verstanden, die ohne für die Opfer erkennbare Zielrichtung unter Bruch des damals in Europa geltenden Rechts im Krieg gegen unbewaffnete Zivilisten gerichtet waren, gleichwohl das strategische Ziel verfolgten, die nicht waffentragende Bevölkerung durch die ihr mangelnde Einsicht in die Logik der Maßnahmen einzuschüchtern und von der Unterstützung der waffentragenden Widerständler abzuhalten. Dadurch wurde der Krieg zwischen der französischen Besatzungsarmee und den waffentragenden Widerständlern in die Siedlungen der unbewaffneten Zivilisten hineingetragen, das Gefechtsfeld mithin entgrenzt. In französischer Sicht war der Widerstand gegen die französische Kolonialherrschaft durchsetzenden Besatzungstruppen unrechtmäßig, und folglich waren die waffentragenden Widerständler illegale Kampfverbände, die es durch innerstaatliche Strafmaßnahmen auszuschalten zu gelten schien. Zur Rechtfertigung der vom Recht des Kriegs untersagten Gewaltmaßnahmen gegen die nicht waffentragende Zivilbevölkerung diente zudem das Argument, dass die von Abd-el Kadr geführten Kampfverbände die offene Feldschlacht zu vermeiden, statt deren Hit-and-Run-Taktiken zu bevorzugen und dadurch, in französischer Perspektive, die Regeln des (scheinbar regulären) Kriegs zu missachten schienen. Die französische Seite rückte in ihrer Propaganda daher von dem bis ins kleinen Krieges in Preußen. 1740 – 1813 (Europäische Hochschulschriften. Reihe III, Bd. 851). Frankfurt 1999. Ders., Vorbild für die Welt oder exakter Schlendrian? Die spätfriderizianischen Manöver, in: Militärgeschichte 4 (1998), S. 59 – 64. Ders., Der kleine Krieg. Entwicklungen und Trends asymmetrischer Gewalt. 1740 bis 1815, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 65 (2006), S. 355 – 388. Ders., Die Verwandlung. Die Figur des Partisanen vom freien Kriegsunternehmer zum Freiheitshelden, in: Stig Förster (Hrsg.), Rückkehr der Condottieri? Krieg und Militär zwischen staatlichem Monopol und Privatisierung (Krieg in der Geschichte. 57) Paderborn, München, Wien und Zürich 2010, S. 153 – 169. Ders., From Small Wars to Imperial War. Military and Tactical Transformations in the 18th and 19th Centuries, in: Thijs Brocades Zaalberg, Piet Kamphuis and Alan Lemmers (Hrsg.), Insurgency and Counterinsurgency: Irregular Warfare from 1800 to the Present. Amsterdam 2011, S. 171 – 184. Ders., Kleiner Krieg – Guerilla – Razzia. Die Kriege des „französischen Imperiums“. 1808 – 1848, in: Tanja Bührer, Christian Stachelbeck und Dierk Walter (Hrsg.), Imperialkriege von 1500 bis heute. Paderborn, München, Wien und Zürich 2011, S. 425 – 442. Ders., Vom kleinen Krieg zur Guerilla. Wandlungen militärischer und politischer Semantik im Zeitalter Napoleons, in: Rasmus Beckmann und Thomas Jäger (Hrsg.), Handbuch Kriegstheorien. Wiesbaden 2011, S. 359 – 370. Ders., Der kleine Krieg als Karrierefeld für „Ausländer“ in der preußischen Armee. Vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Christian Th. Müller und Matthias Rogg (Hrsg.), Das ist Militärgeschichte! Probleme – Projekte – Perspektiven. Paderborn, München, Wien und Zürich, 2013, S. 267 – 291. 17 Thomas Rid, Razzia. A Turning Point in Modern Strategy, in: Terrorism and Political Violence 21 (2009), S. 617 – 635.

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19. Jahrhundert allgemein anerkannten Grundsatz des Kriegstheorie ab, dass die Wahl der zum Einsatz kommenden taktischen Mittel jeder Streitpartei im Krieg freigestellt sei. Die französische Propaganda schob damit den Widerstandskämpfern die Schuld für den Bruch des Rechts des Kriegs durch französische Truppen zu18. Schon in den 1830er Jahren kam für die Art der Kriegführung auf der Basis der Razzien die Bezeichnung „Kleiner Krieg“ in Gebrauch. Diese Bezeichnung bezog sich, anders als im 18. Jahrhundert und noch bei Clausewitz, nicht mehr auf Nebenoperationen leicht bewaffneter Kampfverbände, sondern den vermeintlich irregulären Krieg, der den Regeln des Kriegs zwischen regulären Streitkräften sich wechselseitig als souveräne Staaten anerkennender Streitparteien nicht zu folgen schien. So jedenfalls beschrieb der preußische Offizier Carl von Decker (1784 – 1844) den Krieg in Algerien, den er selbst beobachtet hatte19. Der kleine Krieg in dieser neuen Bestimmung entwickelte sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Kategorie, schien nicht mehr an Sätze des Kriegsrechts gebunden, riss die Begriffsgrenze zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten ein und bezog gewöhnliche Siedlungen unbewaffneter Zivilisten in die Gefechtsfelder ein. Dagegen verengte sich im selben Zeitraum der Begriff des regulären Kriegs fortschreitend. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannten sich die meisten Theoretiker des Kriegs und des internationalen Rechts zu der Überzeugung, dass der Begriff des Kriegs als solcher reserviert sein sollte für den regularisierten Kampf zwischen Streitkräften unter der Kontrolle der Regierungen souveräner Staaten, und erkannten die Befugnis zum Führen dieser regulären Kriege lediglich Akteuren zu, denen sie Subjektivität nach internationalem Recht zuzuschreiben gewillt waren. Darunter verstand man das Recht, zwischenstaatliche Beziehungen in eigener Verantwortung gestalten und autoritativ über Krieg und Frieden entscheiden zu können20. Demnach konnte das Kriegsrecht als Teilbereich des internationalen Rechts nurmehr auf Kriege zwischen Staaten Anwendung finden, da nur Regierungen von Staaten in der Lage schienen, die Sätze des Kriegsrechts anzuwenden. Sogenannte Privatkriege galten als unrechtmäßig und sollten, in der Anschauung der Theoretiker des internationalen Rechts nur außerhalb Europas stattfinden, illegal sein sowie

18 Thomas-Robert Bugeaud de la Piconnerie, [Abschiedsrede an die Armee, 5. Juni 1847], in: ders., Le maréchal Bugeaud, hrsg. von Henry-Amédée Lelorgne d’Ideville, Bd. 3. Paris 1882, S. 164 – 166. Ders., Discours du 24 Janvier 1845, in: ders., Le peuplement français d’Algérie, hrsg. von Jean Saurin. Tunis 1934, S. 161 – 165. Ders., [Notiz an den Herzog von Aumale, 12. Mai 1846], in: ders., Le maréchal Bugeaud, hrsg. von Henry-Amédée Lelorgne d’Ideville, Bd. 3. Paris 1882, S. 113 – 114. Ders., Par l’épée et par la charrue, hrsg. von Paul Azan. Paris 1948. 19 Carl von Decker, Algerien und die dortige Kriegsführung, Bd. 2. Berlin 1844. Ders., Der Kleine Krieg im Geist der neueren Kriegsführung, 2. Aufl. Berlin 1844. 20 Johann Caspar Bluntschli, Das moderne Kriegsrecht der civilisirten Staten. Nördlingen 1866, S. 1. Felix Dahn, Das Kriegsrecht. Kurze, volksthümliche Darstellung für Jedermann, zumal für den deutschen Soldaten. Würzburg 1870, S. 1. John Westlake, International Law, Bd. 2. Cambridge 1907, S. 1.

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in Europa nur in früheren Epochen stattgefunden haben21. Aber auch militärische Konflikte zwischen staatlich kontrollierten regulären Armeen auf der einen, vermeintlich nicht-staatlichen Kampfverbänden auf der anderen Seite, sollten nicht dem Kriegsrecht unterworfen sein. Dies belegen nicht nur die beiden Haager Konventionen von 1899 und 1907 über die Regeln des Landkriegs, die ausdrücklich nur für reguläre Streitkräfte gültig gesetzt wurden, sondern ebenso auch der Kriegsächtungspakt vom Jahr 1928 sowie die diesen Pakt in sich aufnehmende UN-Charta (Art. II, 4) als Dokumente eines ius contra bellum. Diese Normsetzungen schienen seither förmliche Definitionen des Kriegsbegriffs zu erübrigen, der seither selbst in völkerrechtlichen Spezialdarstellungen als gegeben vorausgesetzt und als Staatenkrieg aufgefasst worden ist22. Die vom Kriegsrecht nicht betroffenen Formen des kleinen Kriegs konnten sich daher im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu totalen Kriegen auswachsen, waren also keine „low-intensity conflicts“, sondern stellten im genauen Gegenteil Formen der uneingeschränkten Gewaltausübung dar. Die kleinen Kriege konnten totale Kriege sein in dem Sinn, dass sie, in der Regel nur in Bezug auf eine Streitpartei, die Gesamtheit ganzer Bevölkerungsgruppen betrafen. In diesem Sinn fand das Attribut total bereits im frühen 19. Jahrhundert Anwendung23. 21

Travers Twiss, The Law of Nations Considered as Independent Political Communities, Bd. 2. Oxford 1863, S. 45 – 46. Neuerdings wieder bei: Robert Kolb und Richard Hyde, An Introduction to the International Law of Armed Conflict. Oxford 2008, S. 21 – 28. 22 Konvention (wie Anm. 8), S. 436 – 442; [Vertrag] Internationale Konvention über die Gesetze und Gewohnheiten des Landkriegs [Argentinien – Belgien – Bolivien – Brasilien – Bulgarien – Chile – Dänemark – Deutsches Reich– Dominikanische Republik – El Salvador – Equador – Frankreich – Griechenland – Guatemala – Haiti – Italien – Japan – Kolumbien – Kuba – Luxemburg – Mexiko – Montenegro – Königreich der Niederlande – Norwegen – Österreich-Ungarn – Panama – Paraguay – Persien – Peru – Portugal – Rumänien – Russland – Schweden – Schweiz – Serbien – Siam – Spanien – Türkei – Uruguay – Venezuela – Vereinigte Staaten von Amerika – Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland], Den Haag, 18. Oktober 1907, in: CTS, Bd. 205, S. 263 – 298, hier S. 289 – 297. Vertrag [General ˇ echoTreaty for the Renunciation of War as an Instrument of National Policy] Belgien – C slowakische Republik – Deutsches Reich – Frankreich – Italien – Japan – Polen – Vereinigte Staaten von Amerika – Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland, 27. August 1928, in: League of Nations Treaty Series 94 (1929), S. 57 – 64 [mit Abdruck von Noten, die als Bestandteile des Pakts angesehen werden]. Masaharu Yanagihara (Hrsg.), Documents of the Briand-Kellogg-Pact, 2 Bde. Tokyo 1997. Dazu siehe: Gudrun Leitolf, Das Problem des Freischärlerkrieges auf den Haager Friedenskonferenzen. Würzburg 1971. Zum Verzicht auf eine förmliche Kriegsdefinition siehe beispielsweise: Michael Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: Wolfgang Graf Vizthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. Berlin 2010, S. 639 – 740. 23 Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, hrsg. von Jakob Baxa. Wien und Leipzig 1922, S. 48. Die These, dass der Gebrauch des Begriffs des totalen Kriegs erst mit Erich Ludendorff in den 1930er Jahren einsetzte, ist unhaltbar. Die Formulierung „guerre totale“ ist zuerst während des ersten Weltkriegs belegt, der Begriff schien schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Dazu siehe: Léon Daudet, La guerre totale. Paris 1918, S. 8 – 9. Alphonse Séché, Les guerres d’enfer. Paris 1915, S. 124. Roger Chickering, Total War. Use and Abuse of a Concept, in: ders., Manfred Boemke und Stig Förster (Hrsg.), Anticipating Total War. The German and American Experiences. 1871 – 1914. Cambridge 1999, S. 13 – 28.

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Gegen Ende desselben Jahrhunderts gingen Militärtheoretiker dazu über, den Begriff des kleinen Kriegs als eines totalen Kriegs in den Kontext der kolonialen Kriegführung zu stellen. Der britische Nachrichtenoffizier Charles Edward Callwell (1859 – 1928), der in Südasien zum Einsatz gekommen war, gebrauchte zur Bezeichnung dieser Kriegsform die Formulierung „small wars“ und bezog sie auf alle militärischen Konflikte, die in den damals unter der Herrschaft europäischer und amerikanischer Kolonialregierungen stehenden Gebieten ausgetragen wurden. Auch nach Callwell waren diese „small wars“ nicht durch Sätze des Kriegsrechts eingehegt, da ihm das internationale Recht insgesamt auf die unter Kolonialherrschaft stehenden Teile der Welt nicht anwendbar schien. „Small wars“ fanden somit nach Callwell als Konflikte zwischen Kolonialregierungen und Widerstandsverbänden in den von Kolonialherrschaft abhängigen Gebieten statt24. Seither sind „small wars“ oder kleine Kriege in der Regel nicht zwischen Streitkräften europäischer und amerikanischer Staaten ausgetragen worden. Die Gegner der europäischen und amerikanischen regulären Streitkräfte galten in der Sicht Callwells als „unzivilisiert“, da ihre Kriegführung irregulär schien, der scheinbar regulierte große Krieg war hingegen sogar definitionsgemäß als „zivilisiert“25. Neben Callwell verorteten auch andere Theoretiker kleine Kriege oder „smalls wars“ in denjenigen Teilen der Welt, in denen sie keine Staaten unter Regierungen als internationalen Akteuren ausmachen wollten26. Auch konnten Ethnosoziologen an der Wende zum 20. Jahrhundert sämtliche militärischen Konflikte zwischen Gruppen, die unter europäischer oder amerikanischer Kolonialherrschaft standen, sowie auch die militärischen Konflikte zwischen diesen Gruppen und den Kolonialregierungen als kleine Kriege oder „small wars“ beschreiben mit Etiketten der vermeintlichen Primitivität und der angeblich mangelnden Zivilisiertheit. Damit setzten sie kleine Kriege mit scheinbar „primitiven“ Kriegen gleich. In der Anschauung dieser Ethnosoziologen waren die kleinen Kriege nunmehr diejenigen Kriege, die in der Menschheit seit Anbeginn ihrer Geschichte immer und außerhalb Europas und Amerikas an der Wende zum 20. Jahrhundert noch geführt zu werden schienen. Die kleinen Kriege als scheinbar „primitive“, vorgeblich inhumane Kriege schienen nur in Europa und Amerika der Vergangenheit anzugehören, dort durch den vermeintlichen Fortschritt zur angeblichen 24

Charles Edward Callwell, Small Wars, Nachdruck. Lincoln, NE 1996, S. 25 – 26. Martin A. Nettleship, Definitions, in: ders., R. Dale Givens und Anderson Nettleship (Hrsg.), War. Its Causes and Correlates. Den Haag 1975, S. 73 – 90, hier S. 86. Die Kategorisierung der Formen des Kleinen Kriegs als „unzivilisiert“ oder „wild“ war im ganzen 19. Jahrhundert vorgegeben, findet sich beispielsweise schon in der Begründung für das Urteil des US Supreme Court im Fall Johnson v. M’Intosh vom Jahr 1823 (Vereinigte Staaten von Amerika: Supreme Court. Johnson v. M’Intosh 21 U.S (8 Wheat) 543 (1823) [http://supreme. justitia.com/cases/federal/us/21/!]. „the tribes of Indians inhabiting this country were fierce savages whose occupation was war and whose subsistence was drawn chiefly from the forest. To leave them in possession of their country was to leave the country a wilderness; to govern them as a distinct people was impossible because they were as brave and as high spirited as they were fierce and were ready to repel by arms every attempt on their independence.“ 26 Lassa Francis Oppenheim, International Law, Bd1, 2. London und New York 1905 – 1906, Bd. 1, § 30, S. 34; Bd. 2 (1906), § 57, S. 59. 25

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„Humanisierung des Kriegs“ aber überwunden zu sein27. Nur unter den als „Wilde“ verunglimpften Opfern europäischer und amerikanischer Kolonialherrschaft schienen mithin kleine Kriege vorzukommen. Diese Anschauung diente nicht nur der Rechtfertigung europäischer und amerikanischer Kolonialherrschaft als Instrument der vermeintlichen „Befriedung“ angeblich „Wilder“, sondern konnte auch als Mittel zur Rechtfertigung von Genozid eingesetzt werden, beispielsweise in dem unter deutscher Kolonialherrschaft geführten Krieg gegen die Herero und Nama im heutigen Namibia28. Innerhalb dieses Rechtfertigungsparadigmas konstruierten Rechtstheoretiker einen mythischen Weg, den die Formen der Kriegführung von der scheinbaren „Primitivität“ zur angeblichen Moderne über zehn „Stufen“ zurückgelegt haben sollten: 27 Leonard Trelawny Hobhouse, Gerald Clair William Camden Wheeler und Morris Ginsberg, The Material Culture and Social Institutions of the Simpler Peoples (Monographs in Sociology. 3). London 1930, S. 228. Alfred Knabenhans, Der Krieg bei den Naturvölkern, in: XVI. Jahresbericht der Geographisch-Ethnologischen Gesellschaft Zürich 1915/16 (1917), S. 37 – 81. Josef Kohler, Fragebogen zur Erforschung der Rechtsverhältnisse der sogenannten Naturvölker, namentlich in den deutschen Kolonialländern, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 12 (1897), S. 427 – 440. Bronislaw Kaspar Malinowski, An Anthropological Analysis of War, in: American Journal of Sociology 46 (1941), S. 521 – 550. Margaret Mead, War is only an invention, not a biological necessity, in: ebd., S. 269 – 274. Wilhelm Emil Mühlmann, Krieg und Frieden. Ein Leitfaden der politischen Ethnologie mit Berücksichtigung völkerkundlichen und geschichtlichen Stoffes (Kulturgeschichtliche Bibliothek. Reihe 2, N. F. 2). Heidelberg 1940. Albert Hermann Post, Fragebogen der internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre zu Berlin über die Rechtsgewohnheiten der afrikanischen Naturvölker, in: Sebald Rudolf Steinmetz (Hrsg.), Rechtsverhältnisse von eingeborenen Völkern in Afrika und Ozeanien. Berlin 1903, S. 1 – 13. Erich Schultz-Ewert und Leonhard Adam (Hrsg.), Das Eingeborenenrecht. Sitten und Gewohnheitsrechte der Eingeborenen der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und der Südsee. Gesammelt im Auftrag der damaligen Kolonialverwaltung von Beamten und Missionaren der Kolonien, geordnet und kommentiert von früheren Kolonialbeamten, Ethnologen und Juristen [auf der Grundlage von Antworten auf eine Enquête des Reichstags vom Jahr 1907], 2 Bde. Stuttgart 1929 – 1930 [die Originale der Antworten auf die Enquête des Reichstags liegen in Berlin: Bundesarchiv, R 1001/4990]. Sebald Rudolf Steinmetz, Philosophie des Krieges. Leipzig 1907 [2. Aufl. u. d. T.: Soziologie des Krieges. Leipzig 1929, S. 18 – 62]. Ders. und Richard Thurnwald, Ethnographische Fragesammlung zur Erforschung des sozialen Lebens der Völker außerhalb des modernen europäisch-amerikanischen Kulturkreises. Berlin 1906. Richard Thurnwald, Angewandte Ethnologie in der Kolonialpolitik, in: Verhandlungen der Hauptversammlung der Internationalen Vereinigung für Vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre zu Berlin 1 (1911), S. 59 – 69. Ders., „Das Rechtsleben der Eingeborenen der deutschen Südseeinseln“, in: Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft 4 (1910), S. 3 – 46. Ders., Ermittlungen über Eingeborenenrechte der Südsee, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 23 (1910), S. 309 – 364. Karl Weule, Der Krieg in den Tiefen der Menschheit (Kosmos-Bändchen, 64/65). 16. Aufl. Stuttgart 1923. 28 Werner Freiherr Schenk von Stauffenberg, [Brief an seine Mutter, Oktober 1904, nach der Anordnung des Genozids an den Herero und Nama durch den Kommandeur Lothar von Trotha in dem damaligen Herschaftsgebiet Deutsch-Südwestafrika], Teildruck in: Gertrud Marchand-Volz, Leutnant Werner Schenk von Stauffenberg. Von München nach DeutschSüdwestafrika. Windhoek 1994, S. 136 – 137.

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Vom „Kannibalismus“ und Verteilungskämpfen über Nahrung über Sklavenjagden, über Propagandakriege und Interventionen zu „Nationalkriegen“ und schließlich zu Unabhängigkeits- und Sezessionskriegen, um nur einige dieser angenommenen „Stufen“ zu nennen. Dabei sollten alle „Stufen“ über die Sklavenjagden hinaus angeblich nur in Europa und Amerika und auch hier nur in Zeiten nach Beginn des 15. Jahrhunderts zustande gekommen, mithin Merkmale der vorgeblichen Moderne sein29. Dieser angebliche Weg der Evolution der Kriegführung hat die ethnosoziologische Kriegsbegriffs- und Theoriebildung bis heute beeinflusst. Noch immer wird Krieg als Gegenstand ethnologischer Forschung nach den Vorgaben der Theorie des kleinen Kriegs bestimmt30. Ethnosoziologen wandten auf ihre Untersuchungsgegenstände einen breiten, allgemeinen Kriegsbegriff an, während sie für Europa und Amerika nur den engen Begriff des Staatenkriegs gelten lassen wollten31. Sie fuhren daher fort, den von ihnen beobachteten Bevölkerungsgruppen die Fähigkeit zur Ausbildung und Verfolgung strategisch manifester, rationaler Kriegsziele zu bestreiten, und nahmen, statt Kriegszielanalysen zu betreiben, Zuflucht zu Konstrukten angeblicher psychologischer Motive für die von ihnen als „primitiv“ kategorisierten Kriege, wie zum Beispiel Streit über Waffen, Eigentum und gelegentlich Frauen32, Rache33 oder ein mysteriöses Motiv, das als „männliche Koalitionsreproduktionsstra-

29 Jean Lagorgette, Le rôle de la guerre. Paris 1906, S. 113 – 269. Charles Jean Marie Letourneau, La guerre dans les diverses races humaines (Bibliothèque anthropologique. 16). Paris 1895, S. 527 – 538. 30 Richard Brian Ferguson, Explaining War, in: Jonathan Haas (Hrsg.), The Anthropology of War. Cambridge 1990, S. 26 – 55, hier S. 26. Jürg Helbling, Etwas Kritik und noch eine Theorie des Kriegs, in: Zeitschrift für Ethnologie 121 (1996), S. 55 – 67, hier S. 58 – 59. Ders., Tribale Kriege. Konflikte zwischen Gesellschaften ohne Zentralgewalt. Frankfurt und New York 2006, S. 47 – 68. Rudolf Holsti, The Relation of War to the Origin of the State (Annales Academiae Scientiarum Fennicae. 13). Helsinki 1913, S. 13 – 14. Lagorgette, Rôle (wie Anm. 29), S. 10. Steven Le Blanc, Constant Battles. The Myth of the Peaceful Noble Savage. New York 2003, S. 67. Erwin Orywal, Krieg als Konfliktaustragungsstrategie. Zur Plausibilität von Kriegsursachentheorien aus kognitionsethnologischer Sicht, in: Zeitschrift für Ethnologie 121 (1996), S. 1 – 48. Steinmetz, Der Krieg (wie Anm. 27), S. 7. In der Geschichtswissenschaft ist diese Ansicht akzeptiert von: Matthias Häußler, Zur Asymmetrie tribaler und staatlicher Kriegführung in Imperialkriegen. Die Logik der Kriegführung der Herero in vorund frühkolonialer Zeit, in: Tanja Bührer, Christian Stachelbeck and Dierk Walter (Hrsg.): Imperialkriege von 1500 bis heute. Paderborn, München, Wien und Zürich, 2011, S. 177 – 195, hier S. 179 – 180. 31 Helbling, Kritik (wie Anm. 30), S. 65. Hobhouse, Material Culture (wie Anm. 27), S. 228. Peter Meyer, Human Nature and the Function of War in Social Evolution, in: Johan Matheus Gerardus van der Dennen und Vincent S. E. Falger (Hrsg.), Sociobiology and Conflict. Evolutionary Perspectives on Competition, Cooperation, Violence and Warfare. London 1990, S. 227 – 240. 32 Clayton A. Robarchek und Carole J. Robarchek, Cultures of War and Peace. A Comparative Study of Waorani [Amazonia] and Semai [Malaysia], in: James Silverberg (Hrsg.), Aggression and Peacefulness in Humans and Other Primates. New York 1992, S. 189 – 213, hier S. 197. 33 Holsti, Relation (wie Anm. 30), S. 23.

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tegie“ umschrieben sein konnte34. Aus diesen Konstrukten psychologischer Kriegsmotive leiteten Ethnosoziologen auch in neuerer Zeit die schon in der Kolonialzeit gängig gewesene Behauptung ab, angeblich „primitive Stämme“ seien nicht regierungsfähig35, kennten keine Institutionen der friedlichen Streitschlichtung36, und folglich seien militärische Konflikte in diesen Gruppen häufig. Dabei porträtierten Ethnosoziologen diese vermeintlich „primitive Stämme“ in der Regel als Wildbeutergruppen37. Diese Wildbeutergruppen sollten bestimmt sein durch eine Lebensform, die als „Nomadismus“ bezeichnet wird, wobei die beobachtete Mobilität der Wildbeutergruppen zu lockeren Formen sozialer Organisation geführt haben soll. Diese locker zusammengefügten Gruppen schienen nicht in der Lage zu sein, offene Feldschlachten zu führen, sondern wegen der Begrenzung ihres Waffenarsenals und ihrer Ressourcen auf die Anwendung Hit-and-Run-Taktiken festgelegt zu sein38. Diese ethnosoziologischen Konstrukte reproduzierten also mit Bezug auf militärische Konflikte zumeist in Afrika, Südostasien und dem Südpazifik noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts Versatzstücke der Theorie des kleinen Kriegs aus dem 19. Jahrhundert. Seit dem 19. Jahrhundert haben zudem Militärtheoretiker diese Elemente angeblich „primitiver“ Kriegführung nicht nur eingesetzt zur Rechtfertigung von Kriegführung gegen die Opfer europäischer und amerikanischer Kolonialherrschaft39, sondern

34 Johan Matheus Gerardus van der Dennen, The Origin of War. The Evolution of a Male Coalition Reproduction Strategy, 2 Bde. Diss. Masch., Universität Groningen 1995. Ders., Origin and Evolution of „Primitive“ Warfare, in: Ders. und Vincent S. E. Falger (Hrsg.), Sociobiology and Conflict. Evolutionary Perspectives on Competition, Cooperation, Violence and Warfare. London 1990, S. 149 – 189. 35 Helbling, Kritik (wie Anm. 30), S. 59. Vergleiche dazu: Franz von Holtzendorff, Staaten mit unvollkommener Souveränität, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des Völkerrechts auf Grundlage europäischer Staatenpraxis, Bd. 2. Hamburg 1887, S. 98 – 117, hier § 27, S. 115 – 116; Franz von Liszt, Das Völkerrecht systematisch dargestellt, 9. Aufl. Berlin 1913, § 10, S. 98. Karl Michael Joseph Leopold, Freiherr von Stengel, Die Deutschen Schutzgebiete, ihre rechtliche Stellung, Verfassung und Verwaltung, in: Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik (1889), S. 1 – 212, hier S. 14. 36 Richard D. Alexander, Darwinism and Human Affairs. Seattle 1979, S. 222. Keith F. Otterbein, The Anthropology of War, in: John Joseph Honigman (Hrsg.), Handbook of Social and Cultural Anthropology. Chicago 1973, S. 923 – 958. Ders., The Evolution of War. A Cross-Cultural Study. New Haven 1970. 37 Jonathan Haas, Warfare and the Evolution of Tribal Politics in the Prehistoric Southwest, in: ders. (Hrsg.), The Anthropology of War. Cambridge 1990, S. 171 – 189, hier S. 172 – 173. Helbling, Kritik (wie Anm. 30), S. 55 – 67. Holsti, Relation (wie Anm. 30), S. 23. 38 Richard Brian Ferguson und Neil L. Whitehead, The Violent Edge of Empire, in: dies. (Hrsg.), War in the Tribal Zone. Expanding States and Indigenous Warfare. Santa Fe 2000, S. 1 – 30, hier S. 21. Helbling, Kriege (wie Anm. 30), S. 56. Lagorgette, Rôle (wie Anm. 29), S. 125 – 141. Robarchek, Cultures (wie Anm. 32), S. 197. 39 Callwell, Wars (wie Anm. 24).

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auch gegen nicht-staatliche Kampfverbände in nachkolonialer Zeit40. Einige Ethnosoziologen griffen sogar zu pseudo-Hobbesianischen Mythen der angeblichen Allgegenwärtigkeit von Kriegen in einem von Hobbes angenommenen „State of Nature“ und behaupteten, dass ohne die vermeintlich ordnende Kraft der Regierungen von Staaten Krieg als endemisch zu betrachten sei und dass Interventionen zur Unterbindung kriegerischen Handelns außerhalb Europas und Amerikas als Pazifizierungsmissionen geboten seien41. Dagegen hat nur eine kleine Minderheit unter Rechtshistorikern und den empirisch arbeitenden Ethnologen darauf hingewiesen, dass die Häufigkeit militärischer Konflikte in Gebieten unter Kolonialherrschaft in der Regel erst aus den von den Kolonialherren erzwungenen, als „Tribalisierung“ bezeichneten Gruppenbildungsprozessen resultierten42. Ebenso haben nur wenige Theoretiker der kolonialen Ideologie widersprochen, der zufolge die Durchsetzung von Kolonialherrschaft als vermeintliche „Zivilisierungsmission“ der Pazifizierung haben dienen sollen43. Insgesamt verzeichnet somit die Begriffsgeschichte des Kriegs während des 19. und 20. Jahrhunderts eine bis in die Gegenwart weiter wirkende Dichotomisierung des Kriegsbegriffs in reguläre und irreguläre Formen, deren erstere auf den Staatenkrieg eingeengt und deren letztere mit den kleinen Kriegen assoziiert, als „primitiv“ kategorisiert und mit Kolonialkriegen identifiziert wurde. Alle diese scheinbar irregulären Kriegsformen sollen stattgefunden haben oder stattfinden entweder als militärische Konflikte zwischen Gruppen außerhalb Europas und Amerikas oder zwischen regulären europäischen und amerikanischen Armeen auf der einen, vermeintlich nicht-staatlichen Kampfverbänden auf der anderen Seite und sollen zudem von den Sätzen des Kriegsrechts nicht geregelt sein. Die Veränderungen der Rechtssätze, die den Krieg definierten, verweisen somit auf eine fortschreitende Diskriminierung derjenigen Kriegsparteien, die außerhalb Europas und Amerikas an militärischen Konflikten beteiligt waren. Auf diese Streitparteien sollten die Sätze des Kriegsrechts keine Anwendung finden, die die Regierungen europäischer und amerikanischer Staaten für sich als gültig setzten. Letztere Rechtssätze verengten fortschreitend den Kriegsbegriff durch begriffliche Ausgrenzung von Typen von Kriegsparteien, die Regierungen europäischer und amerikanischer Staaten nicht als Regierungen souveräner Staaten anerkannten. Ihren Höhepunkt erreichte die Verengung des Kriegsbegriffs auf den Staatenkrieg mit den 40 David Galula, Counterinsurgency Warfare. Theory and Practice. New York 1964. Heydte, Kleinkrieg (wie Anm. 5), S. 23. Andrew Mack, Why Big Nations Lose Small Wars, in: World Politics 27 (1975), S. 175 – 200. 41 Helbling, Kriege (wie Anm. 30), S. 294. Orywal, Krieg (wie Anm. 30), S. 97 – 103. 42 Felix Dahn, Gesellschaft und Stat in den germanischen Reichen der Völkerwanderung, in: ders., Bausteine, Bd. 1. Berlin 1879, S. 432 – 477, hier S. 426. Ferguson, Explaining (wie Anm. 30), S. 54. 43 Lagorgette, Rôle (wie Anm. 29), S. 200. Roland Paris, International Peacebuilding and the „Mission Civilisatrice“, in: Review of International Studies 28 (2002), S. 637 – 656, hier S. 638.

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Haager Konventionen zur Regelung des Landkriegs von 1899 und 1907, deren letztere neben dem in die UN-Charta eingebrachten Inhalt des Kriegsächtungspakts von 1928 noch heute gültig ist. Diese bestimmt den Staatenkrieg als alleinige Form des rechtmäßigen Kriegs. Das Kriegsrecht der Haager Konventionen wie auch das ius contra bellum fand folglich auf Kolonialkriege ebenso wenig Anwendung wie auf den Einsatz militärischer Gewalt innerhalb von Staaten. Nach dem ersten Weltkrieg scheiterten Versuche zur Kriegsprävention, beispielsweise durch das nicht in Kraft gesetzte Genfer Protokoll von 1924, am Insistieren europäischer Kolonialregierungen darauf, dass militärische Konflikte innerhalb der europäisch und amerikanisch beherrschten Kolonien als innerstaatlich zu gelten hätten und damit außerhalb der Gültigkeit des Kriegsrechts zu stellen wären44. Dieses Kriegsrecht war jedoch europäischen Ursprungs und umfasste Rechtssätze, die in europäischer Sicht formuliert worden waren. Die Gültigsetzung dieser Rechtssätze erfolgte in Gebieten außerhalb Europas und Amerikas nicht im Konsens mit denjenigen Staaten und Gruppen, die europäischer und amerikanischer Kolonialherrschaft unterstellt waren, sondern aus dem Oktroi europäischer und amerikanischer Kolonialregierungen. III. Unterschiedliche Wahrnehmungen von Handlungen nach internationalem Recht Die Bruchlinien zwischen Wahrnehmungen von Kriegshandlungen in Europa und Amerika einerseits, Gebieten unter europäischer und amerikanischer Kolonialherrschaft andererseits haben seit dem 19. Jahrhundert dort bestanden, wo die fortschreitend enger werdende europäische und amerikanische Definition des Kriegs zunehmend mehr Typen internationaler Akteure den Status legitimer Kriegsparteien bestritt und aus der Gültigkeit von Sätzen des Kriegsrechts ausgrenzte. Anders gesagt: die Verengung des Kriegsbegriffs auf den Staatenkrieg in Europa und Amerika fand unter den Opfern europäischer und amerikanischer Kolonialherrschaft keine Anerkennung, die sich als legitime Kriegsparteien wahrnahmen und nach den ihnen vertrauten Sätzen des Kriegsrechts zu handeln sich berechtigt sahen. Der Oktroi europäischer und amerikanischer Kriegsrechtssätze kam also als Unrechtsakt bei den Opfern europäischer und amerikanischer Kolonialherrschaft an45. Der Hauptgrund für 44 Hans Wehberg, Das Genfer Protokoll betr[effend] die friedliche Erledigung internationaler Streitigkeiten. Eine Vorlesung an der Haager Völkerrechtsakademie aus dem Sommer 1925. Berlin 1927. Ders., Le Protocole de Genève, in: Recueil des cours 7 (1925, Teil II), S. 1 – 150. Bernhard Roscher, Der Brian-Kellogg-Pakt von 1928. Baden-Baden 2004. 45 Ausführlich dargestellt durch den letzten Herrscher des Königreichs der Ashanti, Nana Agyeman Prempeh I., The History of Ashanti Kings and the Whole Country Itself. And Other Writings [geschrieben 1922], hrsg. von Albert Adu Boahen, Emmanuel Akyeampong, Nancy Lawler, T. C. McCaskie und Ivor Wilks (Sources of African History. 6). Oxford und New York 2003. Ebenso durch die Anführer des militärischen Widerstands gegen deutsche Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwest-Afrika: Samuel Maharero, [Schreiben an Theodor Leutwein, Gouverneur von Deutsch-Südwest-Afrika, 6. März 1904], in: Paul Rohrbach, Deutsche Kolonialwirtschaft. Berlin 1907, S. 333 – 334. Hendrik Witbooi, [Schreiben an Maharero Ty-

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diesen Gegensatz von Wahrnehmungen der Gültigkeit von Sätzen des Kriegsrechts liegt in dem begriffs- und institutionsgeschichtlichen Prozess, der zeitgleich zum Vorgang der Verengung der Kriegsdefinition verlief und nicht nur Sätze des europäischen und amerikanischen Kriegsrechts von der großen Tradition des Rechts des Kriegs und des Friedens abtrennte, sondern auch weiter reichende Sätze des Rechts der Beziehungen zwischen internationalen Akteuren. Diese große Tradition des Rechts des Kriegs und des Friedens bestand bis an die Wende zum 16. Jahrhundert und ist schon im 3. Jahrtausend vor Christus nachgewiesen. Innerhalb dieser Tradition galt neben manch anderen der Rechtssatz, dass als internationale Akteure nur diejenigen Herrschaft tragenden Personen oder Institutionen zugelassen sein sollten, die zum Handeln über Grenzen von Gruppen und Gebieten hinweg nach den in diesen Gruppen und Gebieten bestehenden Grundsätzen legitimiert waren. Soll heißen: Förmliche Beziehungen rechtlicher Art zwischen Gruppen über deren Siedlungsgrenzen hinweg sollten nur gestaltet werden können durch Personen und Institutionen, die dazu befugt waren46. Der Status des in diesem Sinn internationalen Akteurs ist also, solange Schriftquellen existieren, stets restriktiv gehandhabt worden. Im späten Mittelalter kamen in Europa zur Bezeichnung des Status als internationaler Akteur das Wort „souveraineté“ (Souveränität) sowie dessen Ableitungen und Übersetzungen, wie etwa frühneuhochdeutsch „Oberkayt“, in Gebrauch. Souveränität bezeichnete den ranghöchsten Akteur in einer Gruppe und wies diesem Akteur die Befugnis zum rechtsrelevanten Handeln über Grenzen von Gruppen und Gebieten zu47. In dieser grundsätzlichen Bedeutung war Souveränität als Begriff keineswegs ein Spezifikum einer sogenannten Moderne noch Europas, sondern ein allgemeiner Begriff, der Handlungsrechte in der Arena der Beziehungen zwischen Gruppen und Gebieten bestimmte48. Diese Rechte konnten je nach Epoche und Gebiet unterschiedlich speziamuaha, Hornkranz, 30. Mai 1890], in: ders., Afrika den Afrikanern! Aufzeichnungen eines Nama-Häuptlings aus der Zeit der deutschen Eroberung Südwestafrikas, 1884 – 1894, hrsg. von Wolfgang Reinhard. Berlin und Bonn 1982, S. 89 – 93. 46 Kleinschmidt, Geschichte (wie Anm. 9), S. 24 – 28. 47 Dazu siehe: Helmut Quaritsch, Souveränität (Schriften zur Verfassungsgeschichte. 38). Berlin 1986. 48 Nachgewiesen in altchinesischen Vertragsschlüssen: Ch’un Ch’iu [Chu¯n-Qiu¯, Chronik des Frühlings und des Herbsts], hrsg. von James Legge, Chinese Classics, Bd. 5. Hong Kong 1872, Buch I, Yin Jahr 1, Nr. 2, S. 3, Jahr 2, Nrn. 4,7, S. 8, Jahr 3, Nr. 6, S. 12, Jahr 6, Nr. 2, S. 21, Jahr 8, Nrn. 6, 8, S. 25; Buch II, Hwan Jahr 1, Nr. 4, S. 35, Jahr 2, Nr. 8, S. 39, Jahr 11, Nr. 1, S. 56, Jahr 12, Nrn. 2, 3, 7, S. 58, Jahr 14, Nr. 3, S. 62, Jahr 17, Nrn. 1, 2, S. 68; Buch III, Chwang Jahr 9, Nr. 2, S. 83, Jahr 13, Nr. 4, S. 90, Jahr 16, Nr. 4, S. 94, Jahr 19, Nr. 3, S. 98, Jahr 22, Nr. 5, S. 102, Jahr 23, Nr. 10, S. 105, Jahr 27, Nr. 2, S. 111; Buch II, Min Jahr 1, Nr. 4, S. 124, Jahr 2, Nr. 6, S. 128; Buch V, He Jahr 2, Nr. 4, S. 136, Jahr 3, Nr. 6, S. 137, Jahr 4, Nr. 3, S. 140, Jahr 5, Nr. 5, S. 144 [multilateral], Jahr 7, Nr. 4, S. 148, Jahr 8, Nrn. 1, 2, S. 150, Jahr 9, Nr. 4, S. 153, Jahr 15, Nr. 3, S. 166, Jahr 19, Nrn. 2, 3, 7, S. 176, Jahr 20, Nr. 5, S. 178, Jahr 21, Nrn. 2, 7, S. 179, 180, Jahr 25, Nr. 7, S. 195, Jahr 26, Nr. 1, S. 198, Jahr 27, Nr. 6, S. 201, Jahr 28, Nr. 8, S. 207, Jahr 29, Nr. 3, S. 213, Jahr 32, Nr. 4, S. 220; Buch VI, Wan Jahr 2, Nrn. 3, 4, S. 232, Jahr 3, Nr. 6, S. 236, Jahr 7, Nr. 8, S. 247, Jahr 8, Nrn. 4, 5, S. 251, Jahr 10,

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fiziert sein, wiesen aber, ohne dass sie irgendwie gesetzt worden wären, ein breites Spektrum an Übereinstimmungen auf. So galt als selbstverständlich, dass niemand einem Souverän eben diesen Rang aus Rechtsgründen streitig machen konnte. Die Rechte eines Souveräns erfassten, neben anderen, die Befugnis zum Führen von Kriegen, zum Schließen von Frieden, zur Regelung des Handels, zum Abschluss von Verträgen, die Gruppen als ganze zu binden in der Lage sein sollten, sowie zur Durchführung förmlicher Verhandlungen durch speziell legitimierte Emissäre. Über die Gültigkeit dieser Rechtssätze jenseits von Grenzen der Kultur oder der Religion bestand noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Regel kein Dissens, wie sich an den zahlreichen Verträgen ablesen lässt, die europäische Fernhandelsgesellschaften mit Regierungen in Afrika und Asien schlossen. Praktisch nie gab es während Verhandlungen über den Abschluss solcher Verträge Dissens über die Grundlagen der Rechtswirksamkeit vertraglicher Vereinbarungen, beispielsweise die Gültigkeit des Grundsatzes „Pacta sunt servanda“49. Die erste Besonderung, die zunächst nur in Europa diese große Tradition modifizierte, trat, sozusagen mit einem Paukenschlag, im Werk des französischen Kronjuristen Jean Bodin (1529/30 – 1596) zutage. Bodin spezifizierte den Souveränitätsbegriff dahingehend, dass er die rechtliche Gleichheit mehrerer zeitgleich existierender Souveräne postulierte. Für Bodin folgte dieses Postulat aus einfacher Logik. Wenn ein Souverän höchstrangiger Akteur in einer Gruppe war, mithin keinen anderen Akteur über sich duldete, dann musste rechtliche Gleichheit unter allen Souveränen bestehen50. Nach Bodin bildeten die Souveräne somit einen exklusiven Klub, der keine rechtlichen Rangunterschiede erlaubte. Bis zu Bodin hatte niemand eine Notwendigkeit gesehen, die Forderung nach Anerkennung des rechtlichen Gleichheit der Souveräne mit dem Souveränitätsbegriff zu verbinden. Im Gegenteil: Souveränität und Hierarchie galten als vereinbar, da die Zuerkennung des Status eines Souveräns in der Hauptsache gebunden war an die Erkennbarkeit nicht abgeleiteter

Nr. 5, S. 256, Jahr 13, Nr. 8, S. 263, Jahr 14, Nr. 8, S. 266 [multilateral], Jahr 15, Nrn. 2, 10, S. 270, Jahr 16, Nrn. 1, 3, S. 274, Jahr 17, Nr. 3, S. 277; Buch VII, Seuen Jahr 7, Nr. 1, S. 300, Jahr 11, Nr. 2, S. 309, Jahr 12, Nr. 6, S. 316; Buch VIII, Ch’ing Jahr 1, Nr. 5, S. 336, Jahr 2, Nrn. 4, 10, S. 343, 344, Jahr 3, Nr. 13 (zwei Abkommen), S. 352, Jahr 5, Nr. 7, S. 356 [multilateral], Jahr 7, Nr. 5, S. 363, Jahr 9, Nr. 2, S. 370 [multilateral], Jahr 11, Nr. 2, S. 375, Jahr 15, Nr. 3, S. 387, Jahr 16, Nr. 14, S. 395, Jahr 17, Nr. 3, S. 403, Jahr 18, Nr. 14, S. 409; Buch IX, Seang Jahr 3, Nrn. 3, 5 [multilateral], 7, S. 419, Jahr 7, Nr. 7, S. 431, Jahr 9, Nr. 5, S. 438 [multilateral], Jahr 11, Nr. 5, S. 451, Jahr 15, Nr. 1, S. 469, Jahr 16, Nr. 2, S. 472, Jahr 19, Nr. 1, S. 482, Jahr 20, Nrn. 1, 2 [multilateral], S. 485, Jahr 25, Nr. 5, S. 513, Jahr 27, Nr. 5, S. 532 [multilateral], Jahr 29, Nr. 7, S. 547; Buch X, Ch’aou Jahr 7, Nr. 3, S. 615, Jahr 11, Nr. 6, S. 633, Jahr 13, Nr. 5, S. 647, Jahr 26, Nr. 4, S. 715 [multilateral]; Buch XI, Ting Jahr 3, Nr. 5, S. 748, Jahr 4, Nr. 4, S. 752 [multilateral], Jahr 7, Nr. 5, S. 764, Jahr 8, Nr. 14, S. 768, Jahr 11, Nr. 4, S. 779, Jahr 12, Nr. 7, S. 781; Buch XII, Gae Jahr 2, Nr. 2, S. 798. 49 Kleinschmidt, Geschichte (wie Anm. 9), S. 156 – 159. 50 Jean Bodin, Les six livres de la République, Kap. I/7. Neudruck, hrsg. von Christiane Frémont, Marie-Dominique Couzinet und Alain Rochais. Paris 1986, S. 151 – 157.

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Gesetzgebungskompetenz51. Mit seiner Forderung rannte Bodin, der an Gesetzgebungskompetenz als Merkmal der Souveränität festhielt, offene Türen ein nicht nur in den unter zentraler Herrschaft stehenden monarchischen Staaten wie Frankreich und England, sondern auch in den autonomen Städten insbesondere in Italien, den Niederlanden und dem deutschen Sprachraum. Für das Heilige Römische Reich hingegen ergaben sich aus Bodins Forderung gravierende Schwierigkeiten bei der Bemessung von Kompetenzen des Kaisers gegenüber anderen Herrschaftsträgern, die als sogenannte Reichsstände Gesetzgebungskompetenz besaßen. Diese Schwierigkeiten gaben Anlass zu schweren Konflikten, blieben aber ungelöst, solange das Reich als politische Institution bestand. Außerhalb Europas erzielte Bodins Forderung vor dem 19. Jahrhundert keinerlei Resonanz; dort blieb Souveränität mit Hierarchie vereinbar wie seit eh und je52. Die weiteren Schritte der Herausbildung eines spezifisch europäischen und von Europa nach Amerika übertragenen internationalen Rechts, das außerhalb der großen Tradition des Rechts des Kriegs und des Friedens stand, geschahen sämtlich seit der Wende zum 19. Jahrhundert in schneller Folge. Schon seit den 1790er Jahren verlor eine zunehmende Zahl von Typen von Herrschaftsträgern in Europa ihren Status als legitime internationale Akteure. Denn Herrschaftsträger größerer Staaten, damals in sonst seltener Koordination mit Theoretikern der Politik53 und des Rechts54, schlossen sukzessive adlige Herrscher über kleinere Territorien, Erzbistümer und Bistümer, Klostergemeinschaften sowie die weitaus größte Mehrzahl der selbständigen Stadtregierungen aus dem Klub der Souveräne aus. Zudem verloren zur selben Zeit nichtstaatliche Fernhandelsgesellschaften ihren Status als internationale Akteure mit Kriegführungsbefugnis außerhalb Europas55 dadurch, dass sie unter die Kontrolle der Regierungen souveräner Staaten gestellt wurden, wenn sie nicht von selbst bankrottgingen. Hauptgrund für letzteren Wandel war der Widerstand, den Konsumenten 51 Francesco Calasso, I glossatori e la teoria della sovranità. Studio di diritto commune pubblico, 3. Aufl. Mailand 1957, Nr. 1043, S. 23 – 24. 52 Dazu siehe, z. B.: John King Fairbank und S. Y. Teng, On the Ch’ing Tributary System, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 6 (1941), S. 135 – 246. Fairbank, China’s Response to the West. A Documentary Survey. 1839 – 1923. Cambridge, MA 1954. Susanne WeigelinSchwiedrzik, Zentrum und Peripherie in China und Ostasien, in: dies. und Sepp Linhart (Hrsg.), Ostasien. 1600 – 1900 (Edition Weltregionen. 10). Wien 2004, S. 88 – 92. 53 Friedrich Carl von Moser, Von dem Deutschen National-Geist. Frankfurt 1765 [Nachdruck. Selb 1976]. Johann Gottlieb Fichte, Reden an die Deutsche Nation. Erste Rede [Berlin 1807], in: ders., Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 7. Berlin 1846, S. 264 – 279 [Nachdruck. Berlin 1971]. 54 Adam Christian Gaspari, Der Deputations-Receß mit historischen, geographischen und statistischen Erläuterungen und einer Vergleichstafel, 2 Bde. Hamburg 1803 [Nachdruck, hrsg. von Hans-Jürgen Becker. Hildesheim, Zürich und New York 2003]. 55 Karl Friedrich Pauli [praes.] und Johann Andreas Buchholtz [resp.], De iure belli societatis mercatoriae maioris privilegiatae. Jur. Diss. Universität Halle 1751. VOC, The Licence Granted by the States General of [sic] the Dutch East India Company on March 20, 1602, hrsg. von Ella Gepken-Jager, Gerard van Solinge und Levinus Timmermann, in: VOC 1602 – 2002. 400 Years of Company Law (Law of Business and Finance. 6). Deventer 2005, S. 1 – 38.

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seit den 1760er Jahren gegen die Privilegien der Fernhandelsgesellschaften zu leisten begannen. Einige Regierungen nutzten diesen Widerstand aus und propagierten den Grundsatz der Freiheit des Handels überall in der Welt. Diese Freiheit des Handels musste jedoch gegenüber Staaten, deren Regierungen an dem überkommenen Grundsatz der Reguliertheit des Handels festhielten, durchgesetzt werden. Die britische Regierung erwies sich am erfolgreichsten in der Verfolgung dieses Ziels. Sie nutzte dazu das Instrumentarium der Handels- und Friedensverträge, konnte aber auch mit dem Einsatz militärischer Mittel drohen56 und etablierte so Bedingungen für den Handel, die für europäische Kaufleute vorteilhaft, für deren Partner in anderen Staaten in der Regel nachteilig waren. In den 1860er und 1870er Jahren war der Pazifik handelspolitisch ein britisches Binnenmeer. Im Ergebnis dieser Wandlungen waren spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fast nur noch Regierungen größerer Flächenstaaten internationale Akteure, und nur ihnen sollten die Fähigkeit und die Befugnis zum Kriegführung zustehen57. Diese Entwicklung war die essentielle Voraussetzung für die Forderung, dass nur Kriege zwischen souveränen Staaten als Kriege im Rechtssinn zuzulassen seien. Zudem änderten schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Regierungen europäischer und amerikanischer Staaten ihre Einstellung zu der Frage, auf welcher Grundlage rechtlich bindende Verträge zwischen Staaten in verschiedenen Teilen der Welt zustandekommen könnten. Den zuvor anerkannten Grundsatz, dass das Recht der zwischenstaatlichen Verträge ungesetztes Naturrecht sei58, verwarfen Theoretiker des internationalen Rechts59, und Regierungen europäischer und amerikanischer Staaten zogen schnell nach mit der Schlussfolgerung, dass zwischenstaatliche Verträge erst dann gültig gesetzt werden könnten, wenn die Vertragsparteien sich auf die Aufnahme friedlicher Beziehungen eben durch Verträge geeinigt hätten60. Diese neue Einstellung konnte zu der Praxis führen, dass Friedensverträge geschlossen

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Dazu siehe: Harald Kleinschmidt, Legitimität, Frieden, Völkerrecht (Beiträge zur Politischen Wissenschaft. 157). Berlin 2010, S. 210 – 236. 57 Wilhelm Rüstow, Die Grenzen der Staaten. Zürich 1868, S. 3 – 5. 58 Gottfried Achenwall, Juris naturalis pars posterior. Göttingen 1763, S. 215 – 222; Christian August Beck, Versuch einer Staatspraxis oder Canzleiübung aus der Politik, dem Staats- und Völkerrechte. Wien 1754, S. 162 – 176; Georg Friedrich von Martens, Primae lineae iuris gentium Europaearum practice in usum auditorium adumbratae. Göttingen 1785, S. 34 – 42. 59 Friedrich Adolf Schilling, Lehrbuch des Naturrechts oder der philosophischen Rechtswissenschaft, § 117. Leipzig 1859, S. 177 – 180. 60 Als ein frühes Beispiel für solche Verträge siehe den Vertrag Cherokee – Vereinigte Staaten von Amerika, 14. September 1816, in: CTS, Bd. 66, S. 326 – 327, der einen Frieden setzte, obzwar dieser bereits seit 1785 bestand und nicht gebrochen worden war. Vertrag Cherokee – Vereinigte Staaten von Amerika, Hopewell, 28. November 1785, in: CTS, Bd. 49, S. 443 – 446.

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wurden, ohne dass jemals zwischen den Vertragsparteien Krieg geführt worden wäre61. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts gingen Theoretiker des internationalen Rechts und der Politik dazu über, die Zuerkennung von Souveränität nunmehr an die Feststellung der Staatlichkeit der Souveräne zu binden, und zwar nicht nur in Europa und Amerika, sondern überall in der Welt. Dabei formulierten sie zahlreiche Bedingungen für die Zuerkennung von Souveränität, unter denen die wichtigste die vollständige Okkupation des Siedlungsgebiets durch die Bevölkerung des Staats sein sollte62. Schien diese Bedingung in der Sicht europäischer und amerikanischer Theoretiker wie auch den nach deren Theorievorgaben handelnden Regierungen nicht gegeben, wurden die betroffenen Bevölkerungsgruppen als angeblich „nomadisch“ lebende „Wilde“ oder als „unzivilisiert“ diskriminiert63, und die Anerkennung von Souveränität und Subjektivität nach internationalem Recht wurde ihnen verwehrt64. Selbst wenn europäische und amerikanische Regierungen Staaten außerhalb Europas und Amerikas als Souveräne anerkannten, bedeutete diese Anerkennung nicht mehr automatisch auch die Anerkennung der Rechtsgleichheit, sondern Staaten außerhalb Europas und Amerikas mussten, in der Sicht europäischer und amerikanischer Theoretiker, sich einen vermeintlichen „Wert“ zumessen lassen. Erst wenn dieser angebliche „Wert“ dem europäischer und amerikanischer Staaten gleichzukommen schien, sollten die Anerkennung von Rechtsgleichheit in Erwägung gezogen werden können65. Mit der Reduktion der Zahl der Typen internationaler Akteure ging einher der noch tiefer greifende Vorgang der Reduktion der absoluten Zahl der internationalen Akteure in Amerika, Afrika, Asien und dem Südpazifik. Im Verlauf des 19. Jahrhun61 Beispielsweise der Vertrag Ashanti – Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland, Kumasi, 7. September 1817, in: CTS, Bd. 68, S. 5 – 7. 62 Robert Adam, Völkerrechtliche Okkupation und deutsches Kolonialstaatsrecht, in: Archiv für öffentliches Recht 6 (1901), S. 193 – 310. 63 August Michael von Bulmerincq, Das Völkerrecht oder das internationale Recht, 2. Aufl., §§ 24, 26. Freiburg 1889, S. 205 – 206. Oppenheim, Law (wie Anm. 26), Bd. 1, § 94, S. 140, § 226, S. 280 – 281. John Westlake, Chapters on the Principles of International Law. Cambridge 1894, S. 177 – 178. Ders., Law (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 59. Edouard Rolin, Report to the Conference from the Second Commission on the Laws and Customs of War on Land, in: James Brown Scott (Hrsg.), The Reports to the Hague Conferences of 1899 and 1907. Oxford und London 1917, S. 137 – 155, hier S. 141. 64 Holtzendorff, Staaten (wie Anm. 34), § 27, S. 115 – 116. Liszt, Völkerrecht (wie Anm. 35), S. 98 Ferdinand Lentner, Das internationale Colonialrecht im neunzehnten Jahrhundert. Wien 1886, S. 42 – 50. John Stuart Mill, A Few Words on Non-Intervention, in: ders., Dissertations and Discussions. Political, Philosophical and Historical, Bd. 3. London 1867, S. 153 – 178, hier S. 168. Stengel, Schutzgebiete (wie Anm. 35), S. 14. Woolsey, Theodore Dwight: Introduction to the Study of International Law, 3. Aufl., § 113. New York 1871, S. 190 – 191. 65 James Lorimer, The Institutes of the Law of Nations, Bd. 2. Edinburg und London 1884, S. 27. Ders., La doctrine de la reconnaisance, fondament du droit international, in: Revue de droit international et de législation comparée 16 (1884), S. 333 – 359, hier S. 335.

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derts schloss die US-Regierung Dutzende von Zessionsverträgen mit Gruppen von Native Americans nach internationalem Recht. Durch diese Verträge verloren die betroffenen Gruppen der Native Americans nicht nur ihren Status als internationale Akteure, sondern auch ihre Staatlichkeit sowie in der Regel ihre angestammten Siedlungsgebiete66. In Afrika bestanden noch in den 1860er Jahren hunderte souveräner Staaten, viele von ihnen durch Verträge mit europäischen Staaten verbunden und folglich als Souveräne anerkannt. Im Jahr 1902, das heißt nach Ende des Burenkriegs, gab es in Afrika nur noch zwei souveräne Staaten: Äthiopien und Liberia. Der britische Archivar Edward Hertslet brachte zuerst im Jahr 1895 ein Sammelwerk heraus, das er als „Map of Africa by Treaty“ betitelte. Darin listete er sämtliche ihm bekannt gewordenen Verträge zwischen afrikanischen und europäischen Regierungen auf. In der letzten Auflage von 1909 enthielt das keineswegs vollständige Werk Beschreibungen zu 382 Verträgen in drei Bänden mit zusammen 1354 Seiten67. Noch dramatischer war der Rückgang der Zahl der Staaten im Südpazifik. Die dortige Staatenwelt war nicht minder diversifiziert als die afrikanische. Im Südpazifik aber sank die Zahl der souveränen Staaten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf null. Nur wenig weniger dramatisch war der Rückgang der Zahl der Staaten in West-, Süd- und Südostasien. Bemerkenswert an diesen Vorgängen ist die Tatsache, dass nur in wenigen Fällen effektive Staatszerstörung stattfand, etwa die Beendigung staatlicher Herrschaft durch militärische Eroberung oder andere Formen der gewaltsamen Unterwerfung. Während derartige Fälle geschahen, kam es in der Mehrzahl der Fälle zur Reduktion der Zahl der Staaten als internationaler Akteure auf dem Rechtsweg, oder was Regierungen in Europa und Amerika als einen solchen ausgaben, nämlich durch Abschluss zwischenstaatlicher ungleicher Verträge. Diese Verträge unterwarfen die meisten Staaten in Afrika, West-, Süd- Südostasien und dem Südpazifik einem sogenannten „Protektorat“, unter dem die Regierungen der unterworfenen Staaten ihre Befugnis zur selbständigen Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen einbüßten68. Dabei blieben die Staaten im Regelfall als solche bestehen, wurden 66 Dazu siehe beispielsweise die Serie von Zessionsverträgen, die die US-Regierung im Jahr 1854 mit Gruppen von Native Americans schloss: Verträge Chasta/Chippewa/Choctaw and Chicksaw/Creek/Delaware/Iowa/Kaskasia/Kickapoo/Menominee/Miami/Nisqualli/Omaha/Oto and Missouri/Peoria/Puyallup/Rogue River/Sauk and Foxes/Shawnee/Umpqua and Kalapuya – Vereinigte Staaten von Amerika, 15./16. März, 6./10./12./17./18./30. Mai, 5./ 13. Juni, 30 September, 4./15./18./39. November, 9./26. Dezember 1854, in: CTS, Bd. 112, S. 318 – 374. Dazu siehe: David E. Stannard, American Holocaust. Columbus and the Conquest of the New World. New York und Oxford 1992. 67 Edward Hertslet, The Map of Africa by Treaty, 3. Aufl. London 1909. 68 Johann Caspar Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisierten Staten, § 78. Nördlingen 1868, S. 95. Milosˇ Bogizˇevicˇ [Boghitchévitch], Halbsouveränität. Administrative und politische Autonomie seit dem Pariser Vertrage (1856). Berlin 1903, S. 1 – 84. Frantz Clément René Despagnet, Essai sur les protectorates. Etude de droit international. Paris 1896, S. 62 – 216. Eduard Engelhardt, Les protectorats anciens et modernes. Etudes historiques et juridiques. Paris 1896, S. 31 – 180. Holtzendorff, Staaten (wie Anm. 64), §§ 26 – 27, S. 107 – 117. Liszt, Völkerrecht (wie Anm. 64), § 6, S. 52 – 62. Robert Phillimore, Commentaries upon International Law, 3. Aufl. London 1879, S. 100 – 155.

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aber in größere Zonen integriert, die als sogenannte „Protektorate“ unter der Herrschaft europäischer und amerikanischer Regierungen standen. Die Grenzen dieser Zonen zogen europäische und amerikanische Kolonialregierungen ohne Beteiligung der betroffenen Bevölkerungsgruppen. Theoretiker des internationalen Rechts brachten diese Praxis auf die Formel, dass zwischen Staatssouveränität und Subjektivität nach internationalem Recht zu unterscheiden sei und letztere die Anerkennung als internationaler Akteur voraussetze69. Dieser Unterscheidung zufolge konnten zwar Staaten bestehen, sogar durch Verträge als Souveräne anerkannt sein. Aber die Verträge allein sollten keine Grundlage der Zulassung als Subjekte nach internationalem Recht sein. Diese Zulassung sollte gebunden sein an den vermeintlichen „Wert“ souveräner Staaten in der Sicht europäischer und amerikanischer Theoretiker. Glaubten europäische und amerikanische Theoretiker, dass Bevölkerungen von Staaten die ihnen unterstellten Gebiete nicht vollständig „okkupiert“ hätten, schlossen sie, dass die Souveränität dieser Staaten „herrenlos“ sei und bestehende Verträge nicht auf die einheimische Bevölkerungen bezogen seien, sondern nur auf die dort für kürzere oder längere Zeit lebenden Europäer und Amerikaner70. Die Theorie des internationalen Rechts mutierte so zur Ideologie der Legitimation von Kolonialherrschaft, deren Opfer von der Gültigkeit des internationalen Rechts ausgenommen zu sein schienen. Diese Ausgrenzung aus dem Gültigkeitskreis des internationalen Rechts betraf die weitaus größte Zahl der Staaten außerhalb Europas und Amerikas mit Ausnahme Chinas71 und Japans, Siams (Thailands), Persiens, des Osmanischen Reichs, Äthiopiens, Liberias sowie, seit 1910, der Südafrikanischen Union als Staat der dortigen Minderheit von Migranten europäischer Abkunft. Diese formten zusammen mit den Staaten Europas und Amerikas einen exklusiven Klub, für den die Bezeichung „Familie der Nationen“ aufkam72. Die „Familie der Nationen“ sollte eine sogenannte „Rechtsgemeinschaft“ bilden, die internationales Recht zu setzen und durchzusetzen sowie über Kooptation weiterer Mitglieder zu befinden befugt sein

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Conrad Bornhak, Die Anfänge des deutschen Kolonialstaatsrechts, in: Archiv des öffentlichen Rechts 2 (1887), S. 3 – 53, hier S. 37. Peter Resch, Das Völkerrecht der heutigen Staatenwelt europäischer Gesittung, 2. Aufl. , § 24. Graz und Leipzig 1890, S. 34. Westlake, Chapters (wie Anm. 63), S. 205. 70 Karl Michael Joseph Leopold Freiherr von Stengel, Deutsches Kolonialstaatsrecht mit Berücksichtigung des internationalen Kolonialrechts und des Kolonialstaatsrechts, in: Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik (1887), S. 309 – 398, 865 – 957, hier S. 329 – 330. Ders., Die Deutschen Schutzgebiete, ihre rechtliche Stellung, Verfassung und Verwaltung, in: Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik (1889), S. 1 – 212, hier S. 25. 71 Die Zugehörigkeit Chinas zu den „zivilisierten“ Staaten wurde jedoch auch bestritten. Siehe dazu: Georg Jellinek, China und das Völkerrecht, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Berlin 1911, S. 487 – 495 [Nachdruck. Aalen 1970]. 72 Westlake, Chapters (wie Anm. 63), S. 82.

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sollte73. Die für sich selbst „Zivilisiertheit“ reklamierende „Familie der Nationen“ schloss die Mehrheit der Weltbevölkerung als angeblich „unzivilisiert“ aus. Es versteht sich von selbst, dass diese Wahrnehmungen ausschließlich europäischen und amerikanischen Ursprungs waren und in den betroffenen Bevölkerungen auf Unverständnis, Ablehnung und Widerstand stießen. Dafür nur ein Beispiel: Als die britische Regierung nach Ende des ersten Weltkriegs darüber nachsann, wie sie die Kosten der Kolonialherrschaft verringern könne, kam sie auf den Gedanken, die in Folge des Kriegs unter ausschließlich britischer Kontrolle stehenden Gebiete Ostafrikas, in erster Linie die Kenya Colony, das Uganda Protectorate und Tanganyika als Mandatsgebiet des Völkerbunds, unter eine einheitliche Gesamtverwaltung zu stellen74. Dem Plan widersprach zwar nicht der Völkerbund, der vorgegeben hatte, dass seine Mandate keinen Änderungen ihrer rechtlichen Konstitution unterworfen sollten. Wohl aber meldete Kabaka (König) Daudi Chwa von Buganda, einem Staat innerhalb des Uganda Protectorate, Widerstand an. Denn nach dem Uganda Agreement vom 1900, durch das Buganda britischer Protektoratsherrschaft unterworfen worden war75, durfte die Rechtsstellung Bugandas innerhalb des Protektorats nicht verändert werden. Daudi Chwa argumentierte, dass die Errichtung einer Dachverwaltung über dem Uganda Protectorate in seine Rechte als Staatsoberhaupt Bugandas eingreife, und beschwerte sich im Jahr 1927 darüber, dass er von dem Plan nicht direkt unterrichtet worden war76. Die britische Regierung legte den Plan auf Eis, nicht nur, aber auch wegen des Widerstands des Kabaka77. Der Vorgang zeigt, dass die von der Diskriminierung betroffenen Bevölkerungsgruppen, mindestens aber einige ihrer Repräsentanten, in der Lage waren, den Mangel an rechtlicher Fundierung der Kolonialherrschaft zu erkennen. Die europäische und amerikanische Theorie des internationalen Rechts lieferte also die Denkmuster zur ideologischen Begründung von Kolonialherrschaft und rechtfertigte den globalen Oktroi europäischer und amerikanischer Sätze des internationalen Rechts. So war es von dieser Theorie des internationalen Rechts ausgehend nur ein kleiner Schritt zur Theorie des kleinen Kriegs, die die Opfer von Kolonialherrschaft aus dem Bereich der Gültigkeit des Kriegsrechts ausgrenzte und ihren Widerstand gegen Kolonialherrschaft als Akt scheinbar illegalen Widerstands delegitimierte. Die Genozide, die zumal unter deutscher Kolonialherrschaft im heutigen 73

Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht. Leipzig 1899, S. 82 – 83. Edward Hilton Young, Report of the Commission of the Dependencies in Eastern and Central Africa (Cmd. 3234). London 1929. 75 Vertrag Buganda – Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland, 10. März 1900, in: CTS, Bd. 188, S. 314 – 327, hier Art. V, S. 316. 76 Daudi Chwa II., Kabaka von Buganda, [Brief vom 29. Oktober 1927 an William George Arthur Ormsby-Gore], in: Papers Relating to the Question of Closer Union of Kenya, Uganda and the Tanganyika Territory (Colonial. 57). London 1931, S. 78 – 79. 77 Samuel Wilson, Report of Sir Samuel Wilson on His Visit to East Africa, 1929 (Cmd, 3378). London 1929 [teilediert in: Donald Sylvester Rothchild (Hrsg.), Politics of Integration. An East African Documentary (EAPH Political Studies. 4). Nairobi 1968, S. 34 – 35]. 74

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Namibia und Tansania verübt wurden, seien als Beispiele genannt für die Folgen, die aus dem Gebrauch scheinbar arkaner Theorien für die Lebens- oder, in diesen Fällen, Todeswirklichkeit der betroffenen Bevölkerungen eintreten konnten. Die Theorie des kleinen Kriegs als Theorie des totalen Kriegs ist untrennbar mit der Erblast europäischer und amerikanischer Kolonialherrschaft verbunden. IV. Anwendung der Denkmuster der Ideologie der Kolonialherrschaft auf den Umgang mit den sogenannten Befreiungsbewegungen in postkolonialen Staaten Die diskriminierenden Wirkungen einiger Theorien des internationalen Rechts, insbesondere der Theorie des kleinen Kriegs, endeten jedoch weder mit der Etablierung von Kolonialherrschaft noch mit der formalrechtlichen Dekolonisation, obwohl im Zeitraum zwischen den 1920er und den 1960er Jahren nur wenige Autoren sich mit dem kleinen Krieg befassten78. Einige Versatzstücke der Theorie des kleinen Kriegs traten in der Endphase des Vietnamkriegs wieder zutage, gleichwohl mit einer signifikanten Abweichung. In den späten 1960er Jahren versuchten einige Theoretiker, diesen Konflikt als kleinen Krieg zu bestimmen, fassten nunmehr den kleinen Krieg nicht mehr als totalen Krieg, sondern als „low-intensity conflict“ auf79. Damit bezeichneten sie eine Kriegsform, die zwar lang andauern konnte, mindestens aber von einer der beteiligten Streitparteien keine großen finanziellen Anstrengungen einzufordern schien80. Der Begriff des kleinen, irregulären Kriegs ist seither oft aufgefasst worden als die scheinbar weniger kostenträchtige Variante des großen, regulären Kriegs81. Diese Variante des Begriffs des kleinen Kriegs 78 Zu ihnen gehörten: Elbridge Colby, How to Fight Savage Tribes, in: American Journal of International Law 21 (1927), S. 279 – 288. Thomas Edward Lawrence, Guerilla Warfare, in: Encyclopaedia Britannica, 19. Aufl. London 1929, S. 460 – 464. Schon zeitgenössisch notierte der Theoretiker Charles Gwynn, Imperial Policing. London 1934, S. 3 – 4, 16, die scheinbar geringer werdende Häufigkeit der kleinen Kriege in den unter Kolonialherrschaft stehenden Gebieten und begründete die Abnahme mit der sich seiner Meinung nach intensivierenden herrschaftlichen Durchdringung dieser Gebiete mit Kontrollmaßnahmen der Kolonialregierungen. Außer Betracht bleibt Mao Zedongs Strategieschrift zum Guerillakrieg aus dem Jahr 1937, da Mao in dieser Schrift den Guerillakrieg nicht als eigenständige Form des Kriegs, sondern als die Anfangsphase des mit zunehmender militärischer Stärke der Guerillakämpfer in einen regulären Krieg übergehenden „revolutionären Kriegs“ bestimmte. Siehe: Mao Zedong, On Guerilla Warfare [1937], in: ders., Selected Works of Ma Tse-tung, Bd. 9. Beijing 2000. 79 Maxwell Davenport Taylor, Testfall Vietnam. Amerikas Strategie in einer multipolaren Welt. Frauenfeld und Stuttgart 1967. Heydte, Kleinkrieg (wie Anm. 5), S. 24 – 25. Kolb, Introduction (wie Anm. 21), S. 29 – 36. 80 Manfried Rauchensteiner, An der Schwelle zum Krieg – historische Dimensionen des „Low Intensity Conflict“, in: ders. (Hrsg.), Formen des Krieges. Vom Mittelalter zum „low intensity conflict“ (Forschungen zur Militärgeschichte. 1). Graz 1991, S. 182 – 188. 81 Ivan Assequín-Toft, How the Weak Win Wars, in: International Security 26 (2001), S. 93 – 128. Sven Chojnacki, Auf der Suche nach des Pudels Kern. Alte und neue Typologien in der Kriegsforschung, in: Dietrich Beyrau, Michael Hochgeschwender and Dieter Lange-

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fand dann auch rückwirkend Anwendung auf Konflikte des 19. und früheren 20. Jahrhunderts82. Seit den 1980er Jahren griffen Theoretiker die Behauptung auf, der kleine Krieg sei „low-intensity conflict“, gaben ihn als Prototyp des irregulären Kriegs aus, und glaubten nunmehr gegen alle Evidenz, diese Kriegsform sei erst kürzlich entstanden. Da das Aufeinandertreffen staatlich kontrollierter regulärer Streitkräfte und nicht-staatlicher Kampfverbände häufig diese Kriegsform charakterisierte, erschien der kleine Krieg zudem als asymmetrischer Krieg. Die letztere Bezeichnung begann in den 1990er Jahren mit der des kleinen Kriegs zu konkurrieren und scheint letztere inzwischen verdrängt zu haben83. Nachdem einmal der kleine Krieg als asymmetrischer Krieg und als Neuerung des späten 20. Jahrhunderts Darstellung gefunden hatte, konnten asymmetrische Kriege auch als neue Kriege ausgegeben werden84. Gegenstände der Anwendung dieser Theorien der asymmetrischen oder neuen Kriege sind insbesondere seit den 1990er Jahren Bewegungen gewesen, die sich militärisch organisierten im Widerstand gegen bestehende Staaten und mit dem Ziel, bestehende Staaten aufzulösen oder von Herrschaft tragenden Regierungen das Zugeständnis der Unabhängigkeit zu ertrotzen. Diese Widerstandsbewegungen sind in der Regel als nicht-staatliche Akteure kategorisiert und somit außerhalb der Gültigkeit des Kriegsrechts gestellt worden. Denn zumeist sind die aus dem Widerstand erwachsenen bewaffneten Konflikte nicht als Staatenkriege, sondern als innerstaatliche Gewaltakte, oft als Bürgerkriege, bestimmt worden. Der US-Politikwissenschaftler Philip Roeder zählt zwischen 7000 und 8000 solcher Bewegungen, nicht alle militant, aber mit einem Potential für künftige Militanz85. Roeder geht von wiesche (Hrsg.), Formen des Krieges (Krieg in der Geschichte. 37). Paderborn, München, Wien und Zürich 2007, S. 479 – 502. Martin L. van Creveld, The Transformation of War. New York 1991, S. 94 – 281. Christoph Daase, Kleine Kriege – Große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegführung die internationale Politik verändert. Baden-Baden 1999. Heydte, Kleinkrieg (wie Anm. 5), S. 24 – 25. Kaldor, Wars (wie Anm. 5), S. 8. Langewiesche, Kriege (wie Anm. 1), S. 320, 329. Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten. 1750 – 1914 (Ideengeschichte der Neuzeit. 25). München 2008, S. 99. Münkler, Kriege (wie Anm. 5), S. 45. Erwin A. Schmidl, Kolonialkriege. Zwischen großem Krieg und kleinem Frieden, in: Manfried Rauchensteiner (Hrsg.), Formen des Krieges. Vom Mittelalter zum „low intensity conflict“ (Forschungen zur Militärgeschichte. 1). Graz 1991, S. 111 – 138. Freudenberg, Irreguläre Kräfte (wie Anm. 5), S. 180, subsummiert „Guerilla, kleinen Krieg, petite guerre, small war“ als „synonym“ unter denselben Begriff, den er als „Aufstand, Untergrund, Widerstands-, Partisanenkrieg, Krieg ohne Fronten, revolutionäre, irreguläre oder subversive Kriegführung, verdeckten Kampf, subkonventionellen Konflikt, unkonventionellen Krieg“, mithin als allgemeinen Gegenbegriff gegen den Staatenkrieg definiert. Ebenso: Freudenberg, Theorie (wie Anm. 5), S. 117 – 277. 82 Münkler, Kriege (wie Anm. 5), S. 70 – 72. 83 Barnett, Warfare (wie Anm. 5), S. 17. Bruce W. Bennett und Christopher P. Twoney, What Are Asymmetric Strategies? (Document Briefing Rand. 246). Santa Monica 1999. Franklin B. Miles, Asymmetric Warfare. An Historical Perspective. Carlisle Barracks 1999. 84 Kaldor, Wars (wie Anm. 5), S. 8. Münkler, Kriege (wie Anm. 5), S. 45. Ders., Was ist neu (wie Anm. 1), S. 133 – 150. Ders., Old and New Wars (wie Anm. 1), S. 190 – 199. 85 Philip G. Roeder, Where Nation-States Come From. Institutional Change in the Age of Nationalism. Princeton 2007.

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der optimistischen Erwartung aus, dass nur die wenigsten dieser Widerstandsbewegungen ihr Hauptziel, die Errichtung neuer Staaten, erreichen werden. Denn Roeder glaubt, dass diese Widerstandsbewegungen zwar asymmetrische Kriege führen, aber in der Regel aus Mangel an wirtschaftlichen Mitteln und politischer Unterstützung nicht für sich entscheiden können. Roeders Erwartung ist jedoch nicht über alle Zweifel erhaben. Denn er ignoriert die Eigenwahrnehmung vieler dieser Bewegungen. Diese Eigenwahrnehmung gründet oft nicht in der Erfahrung eines Mangels an Staatlichkeit, die es, wie Roeder unterstellt, erforderlichenfalls durch Einsatz militärischer Gewalt erst zu erlangen gelte, sondern im Gegenteil in der Behauptung zerstörter oder sonst wie unterdrückter Staatlichkeit, die zu restituieren sei. Zumal in Afrika, aber auch im Kaukasus und in Zentralasien sowie mancherorts im Südpazifik trifft diese Eigenwahrnehmung zwar nicht für alle Bewegungen zu, aber doch für viele, für die die Errichtung von Staaten nicht Mittel zur Befreiung ist, sondern umgekehrt die Befreiungsrhetorik beiträgt zur Restitution von Staaten, die als historisch belegte Tatsachen ausgegeben werden. Diese Widerstandsbewegungen werden von Gruppen getragen, die in vorkolonialer Zeit staatlich organisiert und als solche von europäischen und amerikanischen Regierungen als Bevölkerungen von Staaten anerkannt worden waren, ihre Staaten mitunter sogar während der Kolonialherrschaft erhielten, aber mit der formalrechtlichen Dekolonisation schließlich verloren. Mitunter schlossen europäische Kolonialregierungen noch in den 1930er Jahren zwischenstaatliche Verträge nach internationalem Recht mit Regierungen von Staaten, die unter Protektoratsherrschaft standen86. In diesen Fällen, für die Nigeria87 und Uganda88 als Beispiele stehen mögen, verband sich postkoloniale Staatsentstehung auf der Grundlage kolonialer Herrschaftsinstitutionen mit der Zerstörung präkolonialer Staaten. In den meisten Fällen, in denen Regierungen postkolonialer Staaten mit diesen Widerstandsbewegungen konfrontiert waren, antworteten sie mit militärischen Gewaltmaßnahmen, die dem kleinen Krieg als totalem Krieg während der Kolonialzeit glichen, wofür der Biafra-Krieg in Nigeria 1967 – 1970 als Beispiel stehen mag89. In Uganda führte die Verschmelzung von Staatsentstehung und Staatszerstörung zur Terrorherrschaft Idi Amins (1971 – 1979) und zu den Folgekriegen, die bis heute andauern90. Indem die Theoretiker der neuen oder asymmetrischen Kriege an der Wende zum 21. Jahrhundert diese Widerstandsbewegungen als nicht-staatliche Akteure einordnen, neh86

Vertrag Bunyoro – Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland, 23. Oktober 1933, in: Laws of the Uganda Protectorate, hrsg. von Neville Turton, John Bowes Griffin und Arthur W. Lewey, Bd. 6. London 1936, S. 1412 – 1418. 87 Adiele Eberechukwu Afigbo, Nigerian History, Politics and Affairs, hrsg. von Toyin Falola. Trenton und Asmara 2005. 88 Kleinschmidt, Legitimität (wie Anm. 56), S. 294 – 298. 89 Bamitale Omole, Diplomatic Relations with Two Enemies. An Analysis of Senegal’s Role in the Nigerian Civil War. 1967 – 1970, in: Odu 32 (1987), S. 187 – 196. 90 Harald Kleinschmidt, Amin. Bemerkungen eines Historikers zum Kulturenkonflikt, in: Nommo, Bd. 1 (1983), S. 20 – 33, Bd. 2 (1984), S. 2 – 8.

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men sie sie wie schon ihre Vorgänger an der Wende zum 20. Jahrhundert von der Gültigkeit des Kriegsrechts aus. Theoretiker des späten 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts folgen darin den Spuren der intellektuellen Konstrukteure der „Familie der Nationen“, wenn sie ein sogenannte „Weltgesellschaft“ konstruieren, die die Souveränität von Staaten legitimieren91, den Begriff von Staaten als vermeintliche Nationalstaaten überhaupt erst generieren92 oder gar als metaphysische „funktionale“ Einheit der globalen Systeme von Politik, Wirtschaft und Recht93 sein soll. Diese angebliche „Weltgesellschaft“, die nirgends in Institutionen manifest sein soll, soll gleichwohl wie die „Familie der Nationen“ Rechtssätze sowie politische und wirtschaftliche Verfahrensweisen globalisieren, die aus kulturspezifischen Ursprüngen resultieren. V. Kleine, asymmetrische und neue Kriege Als Ergebnis der Betrachtung der Begriffsgeschichte der neuen Kriege ergibt sich auf die Frage, wie neu diese „neuen Kriege“ sind, die Antwort, dass insbesondere die für diese Kriege als zentral gewerteten Eigenschaften des Aufeinandertreffens ungleich strukturierter Kampfverbände sowie der Abwesenheit von Beschränkungen des Einsatzes auch irregulärer taktischer Kampfmittel nicht nur die neuen Kriege94, sondern bereits die kleinen Kriege seit Beginn der europäischen und amerikanischen Kolonialherrschaft bestimmten. Zudem kann auch die mitunter angeführte weitere Eigenschaft der Kommerzialisierung der neuen Kriege durch Einsatz von Söldnern95 leicht als allgemein verbreitete Eigenschaft von Kriegen bis zu Beginn des 19. Jahr91

Ian Clark, International Legitimacy and World Society. Oxford 2007. John W. Meyer, The World Polity and the Authority of the Nation State, in: ders., George M. Thomas und Francisco O. Ramirez, John Boli (Hrsg.), Institutional Structure. Constituting State, Society and the Individual. Newbury Park 1987, S. 41 – 70. Ders., Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat, in: ders., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen. Frankfurt 2003, S. 85 – 132, hier S. 85 [zuerst in: American Journal of Sociology 103 (1997), S. 144 – 181]. George M. Thomas und John W. Meyer, Regime Changes and State Power in an Intensifying World-State-System, in: Albert Bergesen (Hrsg.), Studies in the Modern World System. New York 1980, S. 139 – 158, hier S. 140, 142. George M. Thomas, Differentiation, Rationalization and Actorhood in New Systems and World Culture Theories, in: Mathias Albert, Lars-Erik Cederman und Alexander Wendt (Hrsg.), New Systems Theories of World Politics. Basingstoke und New York 2010, S. 220 – 248. Alfred Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts. Freiburg 1973, S. 18 – 20. 93 Mathias Albert, Einleitung. Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Neubestimmung des Politischen in der Weltgesellschaft, in: ders. und Rudolf Stichweh (Hrsg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung. Wiesbaden 2007, S. 9 – 24. Ders., Modern Systems Theory and World Politics, in: ders., Lars-Erik Cederman, Alexander Wendt (Hrsg.), New Systems Theories of World Politics, Basingstoke, New York 2010, S. 43 – 68. 94 Barnett, Warfare (wie Anm. 5), S. 17. Heydte, Kleinkrieg (wie Anm. 5), S. 23, 68 – 83. Kaldor, Wars (wie Anm. 5), S. 146 – 154. Langewiesche, Kriege (wie Anm. 1), S. 320, 329. Münkler, Kriege (wie Anm. 5), S. 18, 28 – 32, 45, 57, 71 – 72. Ders., Was ist neu (wie Anm. 1), S. 134. 95 Siehe oben, Anm. 5. 92

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hunderts nachgewiesen werden96, auch wenn diese Eigenschaft den Kolonialkriegen nicht eignete. Die Argumente gegen die These, dass an der Wende zum 21. Jahrhundert ein neuer Kriegstyp entstand, wiegen also schwer. Herfried Münkler versucht, der Kritik97 zu begegnen. Er konzediert, dass nicht alle der angenommenen Eigenschaften der „neuen Kriege“ wirklich neu seien. Aber zugleich besteht er auf der Behauptung, die den „neuen Kriegen“ zugrunde liegenden „Modelle“ seien vollständig neu98. Die Irregularität und die Asymmetrie der Kriege seien diese neuen „Modelle“. Die kritische Betrachtung der „neuen Kriege“ im Licht der Tradition der kleinen Kriege als totale und Kolonialkriege zeigt jedoch, dass Münklers postulierte neue „Modelle“ identisch mit den Wahrnehmungen waren, die die europäischen und amerikanischen Kolonialregierungen und die ihnen dienstbaren Konstrukteure von Ideologien zur Legitimierung von Kolonialherrschaft und zur Delegitimierung von Widerstand gegen diese Kolonialherrschaft bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert eingesetzt hatten. Münkler sowie auch die ihm kritisch gegenüber stehenden Historiker99 unterschätzen jedoch das Gewicht der fortwirkenden Erblast der Kolonialherrschaft in der militärischen Theoriebildung. Einer dieser Historiker, Spezialist für das 19. Jahrhundert, verstieg sich sogar zu der These, die angebliche Einhegung des Kriegs, mithin die vermeintliche Mäßigung im Einsatz taktischer Kriegsmittel, sei Merkmal nur derjenigen Phase der Menschheitsgeschichte gewesen, in der europäische und amerikanische koloniale Unterdrückung stattfand100. So als hätte die große Tradition des Rechts des Kriegs und des Friedens nie bestanden.

96 Michael E. Mallett, Mercenaries and Their Masters. London, Sydney und Toronto 1974. Ders., Some Notes on a Fifteenth-Century Condottiere and His Library. Count Antonio da Marsciano, in: Cecil Holdsworth Clough (Hrsg.), Cultural Aspects of the Italian Renaissance. Essays in Honour of Paul Oskar Kristeller. Manchester 1976, S. 202 – 215. Ders., Mercenaries, in: Maurice Hugh Keen (Hrsg.), Medieval Warfare. Oxford 1999, S. 209 – 229. Ders., I condottieri nelle guerre d’Italia, in: Mario del Treppo (Hrsg.), Condottieri e uomini d’arme nell’Italia del Rinascimento. Neapel 2002, S. 347 – 360. Sarah Percy, Mercenaries. The History of a Norm in International Relations. Oxford 2007, S. 68 – 93. 97 Zusammenfassend zur Diskussion siehe: Klaus Schlichte, Neue Kriege oder alte Theorien?, in: Anna Geis (Hrsg.), Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. 6). Baden-Baden 2006, S. 111 – 132. 98 Münkler, Was ist neu (wie Anm. 1), S. 141 – 144. Ders., Old and New Wars (wie Anm. 1), S. 190 – 199. 99 Langewiesche, Kriege (wie Anm. 1), S. 332. Leonhard, Bellizismus (wie Anm. 81), S. 96 – 102. 100 Langewiesche, Kriege (wie Anm. 1), S. 332.

Kontinuität und Reform Zur Geschichte des politischen Denkens in Deutschland zwischen Spätaufklärung und Romantik Von Hans-Christof Kraus I. „Sie, und nicht wir“ – mit diesen Worten überschreibt Friedrich Gottlieb Klopstock eines seiner 1790 im Umfeld deutscher Revolutionsbegeisterung entstandenen politischen Gedichte. „Sie“, die Franzosen, „und nicht wir“, die Deutschen also, haben das neue große Werk politischer Umwälzung begonnen: „Ach du warest es nicht, mein Vaterland, das der Freiheit Gipfel erstieg, Beispiel strahlte den Völkern umher: Frankreich wars! du labtest dich nicht an der frohsten der Ehren, Brachest den heiligen Zweig dieser Unsterblichkeit nicht! O ich weiß es, du fühlest, was dir nicht wurde; die Palme Aber die du nicht trägst, grünet so schön, wie sie ist, Deinem kennenden Blick. Denn ihr gleicht, ihr gleichet die Palme, Welche du dir brachst, als du die Religion Reinigtest, sie, die entweiht Despoten hatten, von neuem Weihtest …“,

womit der Dichter an dieser Stelle die Reformation als erste, von Deutschland ausgegangene Befreiungstat der neueren Geschichte Europas anspricht; er fährt fort: „Könnt’ ein Trost mich trösten; er wäre, daß du vorangingst Auf der erhabenen Bahn! aber er tröstet mich nicht. Denn du warest es nicht, das auch von dem Staube des Bürgers Freiheit erhob, Beispiel strahlte den Völkern umher; Denen nicht nur die Europa gebar. An Amerikas Strömen Flammt schon eigenes Licht, leuchtet den Völkern umher“1.

Diese leidenschaftlichen Verse eines Bahnbrechers der deutschen Dichtkunst im achtzehnten Jahrhundert illustrieren sehr anschaulich die Gefühle der deutschen revolutionsbegeisterten Intelligenz am Beginn der Umwälzung in Frankreich. Verehrung für die Tat der Franzosen (und auch die vorangegangene der Nordamerikaner) korrespondiert hier mit tiefer Enttäuschung, ja Trauer über die Unfähigkeit der Deut1 Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1962, S. 142 f.

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schen, eine ähnlich umstürzende politische Erneuerung in ihrem eigenen Land ins Werk zu setzen. Liest man diese Verse aus der Distanz von inzwischen mehr als zwei Jahrhunderten und in Kenntnis der weiteren Ereignisse, dann tut man dies in Kenntnis dessen, dass des Dichters Empfindungen zwar um 1790 innerhalb der deutschen literarischen Intelligenz weit verbreitet waren – erwähnt seien nur Herder, Kant, Wieland und Schiller –, daß aber andererseits eben jene Begeisterung für die Französische Revolution schon wenige Jahre später zum großen Teil verflogen war. Die Ereignisse der Jahre 1793/94, schließlich der Verlauf der Deutschland unmittelbar betreffenden Revolutionskriege führten zu einer Desillusionierung, die bald in eine allgemeine skeptische bis ablehnende Haltung der Revolution gegenüber münden sollte2. Nur Immanuel Kant gehörte zu den wenigen, die an einer grundsätzlichen Bejahung des säkularen Ereignisses von 1789 – trotz aller Kritik im Detail und trotz Ablehnung der Revolution als politisches Prinzip – festhielten3. Dennoch erscheint es als äußerst problematisch, die Stellung zur Revolution im Allgemeinen und zur Französischen Revolution im Besonderen als zentralen Indikator für das Verständnis des deutschen politischen Denkens und seiner verschiedenen Strömungen und Richtungen in den Jahrzehnten vor und nach 1800 zu nehmen. Die scheinbar konsequente Dichotomie: „Revolution“ auf der einen Seite, „konservatives Beharren“ auf der anderen4, trifft den Kern der Sache eben nicht, sondern verdeckt im Grunde genau dasjenige, was sie eigentlich zu erklären beansprucht. Zwar gab es – modern gesprochen – durchaus bereits die Vertreter beider politischer Extreme in Deutschland, von denen die einen sich als glühende Revolutionsanhän-

2 Allgemein hierzu siehe neben den älteren, gut zusammenfassenden Darstellungen von George Peabody Gooch, Germany and the French Revolution, London 1920; Alfred Stern, Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, Stuttgart/Berlin 1928; Jacques Droz, L’Allemagne et la Révolution française, Paris 1949, auch Wolfgang von Hippel (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Die Französische Revolution im deutschen Urteil, München 1989; Arno Herzig/Inge Stephan/Hans G. Winter (Hrsg.), „Sie, und nicht Wir“. Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland, Bde. 1 – 2, Hamburg 1989; Roger Dufraisse/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Revolution und Gegenrevolution 1789 – 1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien, Bd. 19), München 1991. 3 Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. VII, Berlin 1907, S. 79 – 94 (Der Streit der Facultäten, 1798); siehe dazu auch Peter Burg, Kant und die Französische Revolution (Historische Forschungen; Bd. 7), Berlin 1974, bes. S. 110 ff. u. passim; Claudia Langer, Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants (Sprache und Geschichte; Bd. 11), Stuttgart 1986, S. 85 ff. u. passim. 4 Karl Otmar von Aretin/Karl Härter (Hrsg.), Revolution und konservatives Beharren. Das Alte Reich und die Französische Revolution (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Beiheft 32), Mainz 1990; darin siehe besonders den einleitenden Aufsatz von Karl Otmar von Aretin: Deutschland und die Französische Revolution, S. 9 – 20.

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ger, als „deutsche Jakobiner“ präsentierten5, und von denen die anderen sich als Anwälte eines starren Festhaltens am Status quo oder gar als Propheten einer Rückwendung zu längst vergangenen Zuständen verstanden6 – doch beide sollten sich schließlich als kleine Minoritäten herausstellen, die sich allenfalls an den äußeren Rändern des deutschen politischen Diskurses bewegten. Reform, statt starres Festhalten am Bestehenden, und Bewahrung von Kontinuität, statt Revolution und Umsturz, waren, sieht man genauer hin, die eigentlichen zentralen Motive, um die sich das politische Denken in Deutschland zwischen Aufklärung und Romantik bewegt hat. Das gilt nicht nur für einige wenige, in besonderer Weise herausragende Denker und politische Schriftsteller, sondern durchaus für ein breites politisches Spektrum, das sich von den Vertretern eines gemäßigten Frühkonservatismus bis hin zu den wichtigsten frühliberalen Autoren erstreckt7. Eine in allzu starkem Maße revolutionsfixierte Geschichtsschreibung neigte und neigt noch gegenwärtig dazu, lediglich die scheinbare Alternative: Revolution oder Gegenrevolution in den Blick zu bekommen und dafür den weiten Zwischenbereich aus dem Gesichtsfeld zu verlieren. Eine solche eingeschränkte Perspektive vergißt die Bedeutung historischer Kontinuität auch für das politische Denken, und sie vermag erst recht nicht wahrzunehmen, daß der Streit um Ausmaß und Inhalt politisch-sozialer Reformen sowie um den Grad der Bewahrung geschichtlicher Kontinuität und des Festhaltens an bestehenden Institutionen und Lebensformen in sehr viel höherem Maße die politische Diskussion in Deutschland – und zwar vor und nach 1789 – bestimmt hat als der Streit um Revolution oder Beharrung. II. Fragt man nach der Bedeutung von „Kontinuität“ in der Geschichte, dann wird man zuerst im lebensweltlichen Bereich fündig. Denn das Bemühen um Kontinuität kann man wohl, jedenfalls für die Zeit der Vormoderne, als anthropologische Konstante auffassen. Kontinuität bedeutet hier Abwehr des Kontingenten8, das in die Geschichte und damit eben auch in die Lebenswelt – im Extremfall sogar in katastrophischer Form – jederzeit einbrechen kann. „Die Bedrohung durch die verschiedengestaltigen Katastrophen“, hat Alfred Heuß in einer Studie über „Kontingenz in der 5

Zusammenfassend hierzu: Helmut Reinalter, Die Französische Revolution und Mitteleuropa. Erscheinungsformen und Wirkungen des Jakobinismus. Seine Gesellschaftstheorien und politischen Vorstellungen, Frankfurt am Main 1988. 6 Vgl. die einschlägigen Studien in: Christoph Weiß/Wolfgang Albrecht (Hrsg.), Von ,Obscuranten‘ und ,Eudämonisten‘. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997. 7 Weiterhin grundlegend: Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770 – 1815, 2. Aufl., Kronberg/Ts. 1978. 8 Vgl. dazu die wichtige, leider wenig bekannte Skizze von Alfred Heuß, Kontingenz in der Geschichte (zuerst 1985), in: derselbe, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Jochen Bleicken, Bd. III, Stuttgart 1995, S. 2128 – 2157.

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Geschichte“ einmal angemerkt, „gibt jeweils die Grenze an, bis zu der das Subjekt noch seine eigene Geschichte in der Hand zu halten glaubt … Das Kontingente verkörpert dann das Neue, wenn es als Fremdes ins Dasein hereinbricht und es zerstört“9. Diese – alle Formen historischer Kontinuität bedrohende und oft auch zerstörende – Kontingenz kann die verschiedensten Formen annehmen: politische Krisen, Umstürze, Kriege mit den üblichen Folgen, also Hungersnöten, Seuchen, Anomie und sozialem Zerfall. In diesem Sinne bedeutet Kontinuitätswahrung kein starres, geschichts- und veränderungsblindes Festhalten, an dem was ist, sondern lediglich den Versuch, den Einbruch von Kontingenz abzuwehren oder, in kritischer Lage, wenigstens so lange wie möglich hinauszuzögern. Das historische Gedächtnis – nicht nur das individuelle, sondern vor allem auch das kollektive – ist in diesen Fällen von besonders langer Dauer. Während des gesamten 18. Jahrhunderts etwa bleibt die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges als säkulare Katastrophe im kollektiven Gedächtnis der Deutschen stets präsent und hat nicht zuletzt im politischen Denken seine – wenn auch nicht immer an der Oberfläche sichtbaren – Spuren hinterlassen10. Daneben gibt es jedoch auch andere Aspekte, die Kontinuität als Grundmotiv des politischen Denkens wichtig gemacht haben: das lange Fortwirken einer bestimmten Rechtstradition, nämlich der des römischen Rechts, in großen Teilen Europas11, die damit in engem Zusammenhang stehende berühmte Lehre von der monarchischen Kontinuität in der (bekanntlich von Ernst Kantorowicz in eindrucksvoller Weise rekonstruierten und analysierten) Idee der „zwei Körper des Königs“12, und schließlich auch in jener berühmten Rechtsfiktion von der „translatio imperii“, der Übertragung der Herrschaft über das Römische Reich auf die Deutschen, und die Bezeichnung des alten „regnum teutonicum“ als nunmehr „Heiliges Römisches Reich“13. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an das Selbstverständnis der Träger der deutschen Reformation, die sich keineswegs als religiöse Revolutionäre empfanden, sondern, im Gegenteil, das Ziel ihres Handelns in der Wiederherstellung der – durch das Wir9

Ebenda, Bd. III, S. 2155. Dazu siehe den Hinweis bei Ernst Hinrichs, Fürsten und Mächte. Zum Problem des europäischen Absolutismus, Göttingen 2000, S. 144; ebenfalls Marc Raeff, The Well-Ordered Police State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia, 1600 – 1800, New Haven/London 1983, S. 70 f. u. a.; Hilmar Sack, Der Krieg in den Köpfen. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg in der deutschen Krisenerfahrung zwischen Julirevolution und deutschem Krieg (Historische Forschungen; Bd. 87), Berlin 2008, S. 22 ff. 11 Vgl. Paul Koschaker, Europa und das Römische Recht, 4. Aufl., München – Berlin 1966; Franz Wieacker, Europa und das Römische Recht – Verborgenheit und Fortdauer, in: derselbe, Vom Römischen Recht. Zehn Versuche, 2. Aufl., Stuttgart 1961, S. 288 – 304, 327 – 330. 12 Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters [zuerst 1957], München 1990. 13 Vgl. Notker Hammerstein, „Imperium Romanum cum omnibus suis qualitatibus ad Germanos est translatum“. Das vierte Weltreich in der Lehre der Reichsjuristen, in: derselbe, Geschichte als Arsenal. Ausgewählte Aufsätze zu Reich, Hof und Universitäten der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Maaser/Gerrit Walther (Schriften des Frankfurter Universitätsarchivs; Bd. 3), Göttingen 2010, S. 58 – 74. 10

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ken korrumpierter kirchlicher Institutionen – verlorenen Kontinuität des wahren christlichen Glaubens sahen14. Denkfiguren dieser Art – seien es nun politisch-historische, juristische oder theologische – sind ohne einen bestimmten Begriff, ohne ein (wie auch immer im einzelnen definiertes) Verständnis von „Kontinuität“ nicht denkbar. Sie dienen der Aufgabe, vermeintliche Brüche oder Risse in der Geschichte zu überdecken – Gräben und vielleicht Abgründe zu überbrücken und auf diese Weise zusammenzubringen, also in gewisser Weise auch dasjenige erneut zu vereinigen, was zusammen gehört. Und sie dienen im weiteren natürlich ebenfalls der Aufgabe, die zu allen Zeiten drohenden Einbrüche der Kontingenz abzuwehren. Die aus heutiger Sicht fast archaisch anmutende Fiktion von den zwei Körpern des Königs besaß – um nur ein einziges Beispiel hier auszuführen – eine sehr reale, zu bestimmten Zeiten unverzichtbare politische Funktion: Denn sie stellte das wohl wichtigste Instrument zur Durchführung einer reibungslosen Erbfolge beim Tode eines Monarchen dar; jede Anfechtung einer Thronfolge konnte im schlimmsten Fall einen Bürgerkrieg, vielleicht mit der Folge einer schweren internationalen Krise, nach sich ziehen, dafür gibt es genügend historische Beispiele. III. Während des gesamten 18. Jahrhunderts waren in besonders ausgeprägter Weise die Reichsjuristen15, und zwar nicht nur in ihren führenden Vertretern Johann Jacob Moser und Johann Stephan Pütter16, die Träger des politisch-historischen Kontinuitätsgedankens in Deutschland. Ihr zentrales Anliegen war die Bewahrung und die sorgfältige, an – wie es schien – bewährte geschichtliche Traditionen anknüpfende Weiterentwicklung der Idee und der Wirklichkeit des Alten Reiches. Auch die intensive und leidenschaftlich geführte, erst vor einiger Zeit wissenschaftlich umfassend aufgearbeitete und damit in ihrer Bedeutung erneut sichtbar gemachte Reichsreformdiskussion zwischen 1648 und 180617 bewegte sich, bei aller Kritik im Detail, im we-

14 Grundlegend zu dieser Frage immer noch: Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (Historische Zeitschrift, Beiheft 2), 5. Aufl., München – Berlin 1928, S. 24 ff. u. passim; ebenfalls: Horst Rabe, Deutsche Geschichte 1500 – 1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung, München 1991, S. 209 ff. 15 Eingehend hierzu: Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, München 1988, S. 126 – 267, 298 – 333. 16 Vgl. Reinhard Rürup, Johann Jacob Moser. Pietismus und Reform (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz; Bd. 35), Wiesbaden 1965; Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien; Bd. 95), Göttingen 1975. 17 Ausführlich und grundlegend hierzu: Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politi-

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sentlichen auf dieser Linie und sah einen realen Bruch mit den Kernelementen der alten deutschen Reichstradition überwiegend nicht vor. Darüber hinaus war Kontinuität auch ein allgemeines Thema politischer Reflexion, das immer wieder – keineswegs nur in Deutschland – von den wichtigsten politischen Denkern umkreist wurde. In seinen berühmten Betrachtungen über Größe und Niedergang Roms, die Montesquieu 1734 veröffentlichte, machte sich der französische Jurist und Staatsphilosoph ausdrücklich zum Anwalt verfassungspolitischer Kontinuität, indem er erklärte: „Hat eine Verfassung eine seit langem bestehende Form, und haben die Dinge sich in einem bestimmten Zustand eingespielt, so ist es fast immer klug, sie zu belassen, weil die oftmals verwickelten und verdeckten Ursachen, die einen Staat erhalten haben, auch bewirken, daß er noch in Zukunft fortdauern wird“.18 Besonders eine Republik dürfe, so Montesquieu an anderer Stelle seines Buches, „nichts wagen, was sie dem guten oder bösen Zufall aussetzt. Das einzige Gut, das sie erstreben muß, ist die Fortdauer ihres Bestandes“19. In Deutschland hat Leibniz bereits um 1700 in einer Nebenbemerkung seiner (allerdings erst 1765 veröffentlichten) „Nouveaux essais sur l’entendement humain“ ein politisches Handeln kritisiert, das sich ausschließlich auf Ehre und Ruhm richte und bereit sei, eben hierfür „Ströme von Blut“ zu vergießen – während andererseits diejenigen verspottet würden, denen es zuerst um das gemeine Wohl und um die Sorge für die Nachkommenschaft – damit also um Kontinuität des Gemeinwesens – gehe20. Und Christian August Beck schließlich, der Rechtslehrer des späteren Kaisers Joseph II., räumte in seinen staatsrechtlichen Vorträgen für den Sohn der Maria Theresia zwar ein, daß „ein Reich oder Staat … aus wichtigen Ursachen seine bisherige Regierungsform verändern“ könne, doch er warnte anschließend gerade hiervor besonders nachdrücklich mit der Bemerkung, es sei „besser, einige Beschwerlichkeiten zu ertragen, als sich einer gefährlichen Veränderung bloßzustellen“21. Richtet man den Blick auf das Preußen Friedrichs des Großen und auf einige politische Autoren im Umfeld dieses Königs, dann findet man Ähnliches, in diesem Fall nur bezogen auf die spezifischen Eigenschaften des jungen, territorial zersplitterten schen Schrifttum von 1648 bis 1806 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Bd. 173), Mainz 1998. 18 [Charles Louis de Secondat et de] Montesquieu, Größe und Niedergang Roms, übers. u. hrsg. v. Lothar Schuckert, Frankfurt a. M. 1980, S. 115 f.; frz. in: derselbe, Oeuvres complètes, hrsg. v. Roger Caillois, Bde. I-II, Paris 1949 – 51, hier Bd. II, S. 168. 19 Montesquieu, Größe und Niedergang Roms (wie Anm. 18), S. 57; frz. in: derselbe, Oeuvres complètes (wie Anm. 18), II, S. 117. 20 Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain, IV, 16, § 4 ; dt.: derselbe, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, hrsg. v. Ernst Cassirer, 3. Aufl., Leipzig 1926, S. 557 f. 21 Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- und Völkerrecht sowie im Deutschen Staats- und Lehnrecht [v. Christian August von Beck], hrsg. v. Hermann Conrad (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen; Bd. 28), Köln – Opladen 1964, S. 218 (Natur- und Völkerrecht II, Kap. 5, § 27).

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und deshalb in seiner dauerhaften Existenz noch durchaus gefährdeten preußischen Staates. Ewald Friedrich von Hertzberg hat als Friedrichs Staatsminister und als prominentes Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften in seinen bedeutenden staatsphilosophischen Akademievorträgen immer wieder die Beständigkeit als ein Hauptcharakteristikum des friderizianischen Staatswesens betont22, und er tat dies in einer Weise, die erkennen läßt, daß er eben dasjenige herbeizureden, ja zu beschwören versuchte, was in der Realität – noch – nicht bestand23. Auch der von Friedrich dem Großen geschätzte und geförderte Jakob Friedrich von Bielfeld betont in seinem 1761 zuerst erschienenen „Lehrbegriff der Staatskunst“, daß die „größeste Vollkommenheit“ einer Regierung „in der Dauer“ bestehe: „Ihre Einrichtung muß so beschaffen sein, daß sie nicht leicht ihre Gestalt ändern kann“24. Albrecht von Haller wiederum, um noch einen ganz anderen, außerhalb des im engeren Sinne staatsrechtlichen Diskurses seiner Zeit stehenden Autor zu nennen, hat in seinen in den 1770er Jahren erschienenen Staatsromanen „Alfred König der Angel-Sachsen“ und „Fabius und Cato“ die Bedeutung der Sicherung von Kontinuität für die Beständigkeit eines Staatswesens und für dessen Vorsorge gegen die Gefahren politischer Umstürze ebenfalls stark betont25. Bereits diese wenigen Beispiele erhellen und illustrieren die Bedeutung, die das Problem der Festigung historischer und institutioneller Kontinuität für das politische 22 [Ewald Friedrich von] Hertzberg, Œuvres Politiques, Bde. I-III, Berlin 1795, hier Bd. I, S. 106: „Si Frédéric II a rondu la monarchie Prussienne puissante, heureuse & célèbre par son gouvernement personnellement ferme, juste & solide, & par la forme de gouvernement qu’il y a établie, il nous en a encore assuré la durée la plus permanente pour tous les tems & pour tous les cas que la foiblesse humaine peut prévoir …“. 23 Vgl. zu Hertzbergs politischem Denken vor allem: Harm Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der „politischen Wissenschaft“ und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert (Historische Forschungen; Bd. 29), Berlin 1986, S. 236 – 272. 24 Jakob Friedrich von Bielfeld, Lehrbegriff der Staatskunst, Bd. I, Breßlau – Leipzig 1761, S. 47; weiter heißt es: „Im Gegentheile ist es einer der größten Fehler einer Regierung, wenn sie den Staat einer Veränderung bloß stellet. Denn sie kann z. E. aus einer Monarchie nicht zur Aristokratie werden, wofern nicht der Pöbel die eingeführte Ordnung umstürzet, und sich sogar seine Oberkeiten vom Halse schaffet. Wie nun dergleichen Umkehrungen nicht geschehen können; ohne den Staat den größten Gefahren bloß zu stellen; und ohne viele Bürger unglücklich zu machen: so ist es einer guten Regierung wesentlich, daß sie dauerhaft seyn muß“. Siehe auch Friedrich Meinecke, Bielfeld als Lehrer der Staatskunst, in: derselbe, Werke, Bd. IX: Brandenburg – Preußen – Deutschland. Kleine Schriften zur Geschichte und Politik, hrsg. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1979, S. 201 – 208. 25 Albrecht von Haller, Alfred König der Angel-Sachsen, Göttingen/Bern 1773, S. 205; derselbe, Fabius und Cato, ein Stück der Römischen Geschichte, Bern/Göttingen 1774, S. 207 u. a.; dazu auch die Bemerkungen bei Max Widmann, Albrecht von Hallers Staatsromane und Hallers Bedeutung als politischer Schriftsteller. Eine litterargeschichtliche Studie, Biel 1894, bes. S. 192 ff. u. passim; sowie Dietrich Naumann, Zwischen Reform und Bewahrung. Zum historischen Standort der Staatsromane Albrecht von Hallers, in: Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung, hrsg. v. Hans Joachim Piechotta, Frankfurt a. M. 1976, S. 222 – 282.

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Denken dieser Zeit besessen hat. Dabei war die „Revolution“ als Gegenbild durchaus auch vor 1789 oder 1776 im Bewußtsein der meisten deutschen Autoren präsent26. Als Paradigma einer Revolution galt bis in die 1770er Jahre übrigens noch immer die englische Parlamentsrevolution des 17. Jahrhunderts, die seinerzeit in Deutschland mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und (ganz überwiegend negativ) rezipiert worden war27. Freilich konzentrierten sich die Reflexionen in der Zeit des ausgehenden Ancien Régimes in erster Linie auf das Problem, eine bestehende institutionelle politische Ordnung auf Dauer zu stellen, und „Zufälle“ sowie unvorhersehbare negative Entwicklungen aller Art abzuwehren. Veränderungen und Reformen wurden nur dann als zulässig angesehen, wenn sie jene erwünschte Kontinuität nicht zu tangieren vermochten – oder wenn man sich von ihnen den Ausweg aus einer vollkommen verfahrenen oder gar gefährlichen politischen Lage versprach. IV. Aber nicht nur ein Umsturz kann bedenkliche Folgen nach sich ziehen, sondern eben auch Stagnation und Reformunfähigkeit – das ist die wohl wichtigste Lehre, die von der großen Mehrheit der deutschen politischen Autoren aus der Französischen Revolution gezogen wurde28. Auch diejenigen, die – nach anfänglicher Revolutionsbegeisterung – um 1793/94 ihre Sympathien für die Pariser Umstürzler nicht mehr aufrecht erhalten mochten29, haben doch die Notwendigkeit einer umfassenden politischen Erneuerung Frankreichs nach den erfolglosen Reformversuchen der Spätzeit des Ancien Régime niemals bestritten. Und wenn sie die Revolution verteidigten, dann doch im Grunde nur so lange, als man jene Pariser Ereignisse noch in einem sehr weiten Sinne als bloß umfassende und tiefgreifende „Reform“ von Staat und Gesellschaft, als vorgeblich kontinuierlichen Übergang von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie, interpretieren konnte.

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Vgl. Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Geschichte, hrsg. v. Ingeborg Horn-Staiger, Frankfurt am Main 1973, bes. S. 143 ff. u. passim; Reinhart Koselleck, Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs, in: derselbe, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 67 – 86. 27 Vgl. Karl Klaus Walther, Britannischer Glückswechsel. Deutschsprachige Flugschriften des 17. Jahrhunderts über England (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 32), Wiesbaden 1991. 28 Grundsätzlich hierzu Rudolf Vierhaus, Die Revolution als Gegenstand der geistigen Auseinandersetzung in Deutschland, 1789 – 1830, in: Dufraisse/Müller-Luckner (Hrsg.), Revolution und Gegenrevolution 1789 – 1830 (wie Anm. 2), S. 251 – 261. 29 Als berühmtes Beispiel kann Friedrich Schiller genannt werden, dessen 1795 vollendetes Gedicht „Der Spaziergang“ diesen Wandel im historisch-politischen und geschichtsphilosophischen Denken des Dichters sehr anschaulich spiegelt; dazu vgl. vor allem die berühmte Interpretation von Friedrich Meinecke, Schillers Spaziergang (1938), in: derselbe, Werke, Bd. IV: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, hrsg. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1965, S. 323 – 340.

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Kontinuität und Reform gehören in dieser Perspektive unbedingt zusammen: Kontinuität ohne periodische Reform erscheint als ebenso undenkbar wie eine Reform, die sich dem Anspruch, zugleich Kontinuität zu bewahren, entzieht. August Ludwig von Schlözer war einer der ersten, der in seinem „Allgemeine[n] StatsRecht“ von 1793 diese Zusammenhänge präzise auf den Begriff brachte: Jede „StatsErrichtung“ setze voraus, „daß der Staat fortdauern solle [,] … daß seine UrForm nicht durch Misbräuche unvermerkt, oder durch einzelne Parteien gewalttätig, umgeändert werde“30. Doch zugleich betonte der Göttinger Historiker und Staatswissenschaftler ausdrücklich: „… da Misbräuche in jede Regirung einschleichen, und eine auch anfangs heilsame Einrichtung, im Laufe der JarHunderte … gemeinschädlich werden kann: so muß immer eine Möglichkeit zum ruhigen Fortrücken bleiben; sonst steigt ein fürchterlicher Tyrann, Herkommen genannt, auf den Thron, der alle Misbräuche sanctionirt, und sich gegen jede Reform zur Wehre setzt“31. In diesem Sinne hat er – was im Jahre 1793 durchaus einen gewissen Mut erforderte – in eindringlicher Weise auch für Deutschland Reformen angemahnt32, freilich mit dem aufschlußreichen Zusatz: „In devotestem Vertrauen auf deutschen MenschenVerstand, auf immer steigende ware Aufklärung … läßt sich in Deutschland alles, was geschehen muß, blos von solchen Reformen, one Revolution, über kurz oder über lang, sicher erwarten“33. Reform ohne Revolution – das heißt hier auch: Revolutionsvermeidung durch Reformen auf der Grundlage „wahrer Aufklärung“34 und Anwendung des gesunden Menschenverstandes. Eine verdeckte Mahnung an die deutschen „Obrigkeiten“ also, die sich der mit dem Privileg der Selbstzensur ausgestattete Göttinger Professor freilich eher erlauben konnte als viele andere publizierende Zeitgenossen im damaligen Deutschland. Schon 1790 übrigens hatte Schlözers Göttinger Kollege Ludwig Timotheus Spittler in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“, fraglos unter dem Eindruck der gleichzeitigen Pariser Ereignisse, die These formuliert, es scheine „erstes Erforder30 August Ludwig Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, Göttingen 1793, S. 98 f. Dieser Autor pflegte in seinen Publikationen eine eigentümliche, hier natürlich unverändert zitierte Privatorthographie. 31 Ebenda, S. 99; zum politischen Denken Schlözers im Zeitalter der Revolution siehe auch Martin Peters, Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735 – 1809) (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit; Bd. 6), Münster 2003, S. 207 ff. (Kap. VII bis X). 32 Vgl. Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere (wie Anm. 30), S. 163 f.: „Es gibt keine RegirungsForm, die sich nicht im Lauf der Zeiten, beim ewigen Kampfe selbstsüchtiger SchlauKöpfe mit guten frommen SchwachKöpfen, verschlimmerte; wo nicht Misbräuche entstünden, die, wenn sie lange ungerügt bleiben, am Ende wolerworbene Rechte, gar BestandTeile der Constitution, hießen. Folglich sind auch in Deutschland Reformen nötig. Manche sind bereits geschehen, merere stehen noch bevor“. 33 Ebenda, S. 166; weiter heißt es, S. 166 ff.: „Wozu auch Revolutionen, deren Ausgang immer ungewiß ist, und die gewönlich ihren Unternemern verderblich sind? Sind wir doch der Gegenwart wenigstens eben so viel, als der Zukunft, schuldig!“. 34 Zu diesem Topos siehe Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung, Freiburg i. Br./München 1974.

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niß einer vollkommen guten Staats-Constitution zu seyn, daß Kräfte in ihr ruhen müssen, und Verhältnisse in derselben festgesetzt seyen, die ohne eine Revolution, gleichsam bloß durch ihr natürliches Erwachen und durch ihre freiwillige Entwickelung den Staat zu retten vermögen“35. Seine Stellungnahme verdient deshalb ein besonderes Interesse, weil Spittler einer der sehr wenigen Deutschen gewesen ist, bei denen sich die Rezeption der Revolution im westlichen Nachbarland gewissermaßen „gegen den Strich“ vollzogen hat: Aus dem anfänglichen starken Revolutionsskeptiker wurde später zwar kein Anhänger, jedoch ein differenzierter Beurteiler der Revolution, der ihr ein begrenztes historisches Recht weder absprechen konnte noch wollte36. In seiner Göttinger Politikvorlesung von 1796 (die erst posthum 1828 im Druck erschienen ist) hat er dies klar ausgesprochen: Obwohl er selbst ein ausdrückliches Recht des Volkes auf Revolution ablehnt37, warnt er doch vor fadenscheinigen Argumenten gegen den politischen Wandel an sich. Es sei nachgerade „lächerlich …, Aenderungen deshalb verbieten zu wollen, weil die Vorfahren die Einrichtungen getroffen und als unabänderlich und unverletzlich gesetzt hätten“38. Die Situation sei wenigstens denkbar, daß in einem Staat ein „gewaltiges Mißvergnügen“ entstehe – mit der fast notwendigen und an sich auch gerechtfertigten Folge einer Aufhebung dieses Staates und seiner faktischen Neuschöpfung durch die große Mehrheit der auf dem Staatsgebiet lebenden Menschen. Freilich hat Spittler (und hier kommt wiederum der Kontinuitätsgedanke ins Spiel) ebenfalls auf die Gefahren eines solchen Vorgehens, besonders auf die Gefährdung der staatlichen Existenz des Menschen, hingewiesen; es sei, fügt er diesen Ausführungen hinzu, „Pflicht für den Menschen, eher manches zu tragen, als sich vom Staate zu trennen, da er doch als Kulturmensch nur im Staate leben kann“39. Skepsis gegenüber der „Neuerungssucht“ seines Zeitalters kennzeichnet – um noch einen weiteren Autor des aufgeklärt-frühliberalen Lagers jener Ära zu zitieren – auch die Überlegungen des in dänischen Diensten stehenden liberalen Holsteiners Christian Ulrich Detlev von Eggers. Im 1803 in Kopenhagen erschienenen (aber wesentlich früher entstandenen) zweiten Band seiner „Skizzen und Fragmente einer Ge35 Ludwig Timotheus Spittler, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Wächter, Bd. XIV, Stuttgart – Tübingen 1837, S. 451 (Rezension von: Livingston, Examen du gouvernement d’Angleterre comparé aux Constitutions des Etats-unis). 36 Vgl. Joist Grolle, Landesgeschichte in der Zeit der deutschen Spätaufklärung. Ludwig Timotheus Spittler (1752 – 1810) (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft; Bd. 35), Göttingen – Berlin – Frankfurt a. M. 1963, S. 94 f. 37 Vgl. Ludwig Timotheus Spittler, Vorlesungen über Politik, hrsg. v. Karl Wächter, Stuttgart/Tübingen 1828, S. 34. 38 Ebenda, S. 36; vgl. ebenfalls Richard Nürnberger, Die Lehre von der Politik an der Universität Göttingen während der französischen Revolution (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse, Jhg. 1971, Nr. 2), Göttingen 1971, S. 18 ff. 39 Die Zitate: Spittler, Vorlesungen über Politik (wie Anm. 37), S. 35; siehe auch Spittlers Bemerkungen über „Periodische Revisionen der Constitutionen“, ebenda, S. 162 – 166.

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schichte der Menschheit in Rüksicht auf Aufklärung und Volksfreiheit“ bezeichnet er die „Neuerungssucht“ als die „wissenschaftliche Krankheit unseres Zeitalters“. Seine Warnung ist kaum mißzuverstehen: „Unbedachtsam reißen wir ein, ohne dafür gesorgt zu haben, ein besseres Gebäude aufzuführen. Wir brechen einen vielleicht schwachen Damm ab, und sezzen den Fluthen keine neue Schutzwehr entgegen“40. Und er schließt seine Betrachtungen mit den Worten: „Wir stehen auf einem sehr bedenklichen Punkt. Vor uns liegt die Scheide des allmähligen sanften Fortschreitens auf dem Wege der Aufklärung und des bügerlichen Wohls, von dem Wege zu ungestühmen Gährungen, deren Ende keine menschliche Weisheit abmessen kann. Alles ruft den Regierungen zu, daß sie … die größten Anstrengungen anwenden müßten, um die Menge auf jenen Pfad unvermerkt zu leiten. Nur dadurch wird sie vor den Wegen zum Abgrunde bewahrt“41. Diese Formulierungen sind nicht nur deshalb besonders bemerkenswert und aufschlußreich, weil Eggers hier mit großer Klarheit die großen Alternativen des Zeitalters aus liberal-aufgeklärter Sicht umreißt. Aufschlußreicher noch ist der an dieser Stelle zum Ausdruck kommende Bedeutungswandel der Kontinuitätsidee: „Kontinuität“ heißt jetzt nicht mehr, wie etwa noch bei Montesquieu, Bielfeld, Haller und anderen vorrevolutionären Autoren, Bewahrung einer guten und bewährten politischen Ordnung, sondern sie umschreibt nun das Konzept einer evolutionär-reformerischen im Gegensatz zur revolutionären Veränderung. Die Tatsache eines – nunmehr beschleunigten – historischen Wandels wird als solche nicht mehr in Frage gestellt; kontrovers bleiben in dieser Perspektive nur noch die Form und die Geschwindigkeit eben dieses Wandels. An diesem Punkt berührt sich die Argumentation der fortschrittsoptimistisch gesinnten aufgeklärt-liberalen Autoren überraschend eng mit derjenigen der gemäßigt konservativen Revolutionsgegner wie etwa der beiden Hannoveraner August Wilhelm Rehberg und Ernst Brandes, die mit einem gewissen Recht als „aufgeklärte“ oder „pragmatische“ Reformkonservative bezeichnet worden sind42. Freilich werden von ihnen die Akzente etwas anders gesetzt. Rehberg hat in seinen „Untersuchungen über die Französische Revolution“ von 1793, die seinerzeit den scharfen Widerspruch des jungen Fichte auf den Plan riefen, die geschichtliche Kontinuität in ge40 Christian Ulrich Detlev (von) Eggers, Skizze und Fragmente einer Geschichte der Menschheit in Rüksicht auf Aufklärung und Volksfreiheit, Bd. I, Flensburg – Leipzig 1786, Bde. II-III, Kopenhagen 1803 – 1804, hier Bd. II, S. 478 (der Abschnitt ist betitelt: „Betrachtungen über den Geist des Zeitalters beim Ausgang des Jahres 1785“). Vgl. auch Martin Babel, Christian Ulrich Detlev von Eggers (1758 – 1813), in: Aufklärung 5/2 (1990), S. 127 – 129. 41 Eggers, Skizze und Fragmente einer Geschichte der Menschheit (wie Anm. 40), Bd. II, S. 480. 42 Anke Bethmann, Pragmatischer Reformkonservativismus als Reaktion auf erste Vorboten des demokratischen Zeitalters. Ernst Brandes – ein Vertreter der hannoverschen Schule, in: Von ,Obscuranten‘ und ,Eudämonisten‘ – Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert (Literatur im historischen Kontext, 1), hrsg. v. Christoph Weiß/Wolfgang Albrecht , St. Ingbert 1997, S. 549 – 577; Gerhard Dongowski, „Bessert, damit nicht eingerissen werde“. Reformkonservativismus in der Zeit der Französischen Revolution: August Wilhelm Rehberg, in: ebenda, S. 521 – 547.

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wisser Weise zum fundamentalen Prinzip aller wahren Politik erklärt, um auf diese Weise die Revolution in Frankreich nur um so konsequenter verwerfen zu können: „Jede Staatsverfassung, auch die vollkommenste, beruhet … auf der allmählichen Entwicklung der zum Theile durch die Natur, und zum Theile durch menschlichen Verstand und Willkühr bestimmten Verhältnisse und Einrichtungen. Jede Generation legt den Grund zu dem, was die folgende thun wird, und die spätere kann nur auf das bauen, was die vorhergehenden gethan haben“43. Die Differenz zu Schlözer und Spittler liegt auf der Hand: Was bei den beiden Göttinger Professoren der „Tyrann Herkommen“44 gewesen war, erscheint bei Rehberg als konstitutive Voraussetzung einer vernünftigen, weil durch Tradition und Geschichte fest gegründeten, die Erfahrungsweisheit vorangegangener Generationen bewahrenden und damit in der Sache bewährten politischen Existenz. Rehbergs Freund, Amts- und Gesinnungsgenosse Brandes hat diesen Gedanken in seinen im Jahr 1808 (nach seiner politischen Kaltstellung durch die französische Besatzungsmacht) publizierten „Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts“ ebenfalls vertreten45, doch auch etwas variiert, indem er die in seiner Sicht hektische und letztlich übereilte Reformtätigkeit des aufgeklärten Absolutismus, besonders Josephs II., im Rückblick kritisch betrachtet: „Allein das hurtige gewaltsame Einreißen des Bestehenden erzeugte den Geist der Unruhe, wo er sich noch nicht fand; gab ihm da, wo man ihn schon traf, die reichste Nahrung … Die weisesten Einrichtungen der Gesetzgeber“, so Brandes weiter, „der klügsten Despoten, bedürfen das Ansehen einer gewissen ehrwürdigen Dauer, um tief einzugreifen in die zu einer rechten Wirksamkeit unentbehrlichen Gesinnungen der Menschen. Das dem Wechsel unterworfene Menschliche ändert sich theils von selbst, theils bedarf es Abänderungen nach den Zeiten, theils der herstellenden Hand, damit es nicht erschlaffe. Aber die Regeln der ewigen Gerechtigkeit sollen unabänderlich sein, ihre Anwendung mit der schonenden Billigkeit geschehen, deren unser schwaches Geschlecht so sehr bedarf“46. Aufschlußreich ist, daß Brandes das Faktum andauernder historischer Veränderung an sich ebensowenig ignoriert wie er ebenfalls die Notwendigkeit politischer Reformen betont. Ihm geht es vor allem um deren Geschwindigkeit, die er ausdrück43 August Wilhelm Rehberg, Untersuchungen über die Französische Revolution nebst kritischen Nachrichten von den merkwürdigsten Schriften welche darüber in Frankreich erschienen sind, Bde. I-II, Hannover – Osnabrück 1793, hier Bd. I, S. 53 f.; siehe auch Ursula Vogel, Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolution – August Wilhelm Rehberg (Politica; Bd. 35), Darmstadt/Neuwied 1972, S. 26 ff. u. passim. 44 Siehe oben, vor Anm. 31. 45 Vgl. Carl Haase, Ernst Brandes 1758 – 1810, Bde. I-II (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Bd. 32), Hildesheim 1973 – 1974, hier Bd. II, S. 218 ff. (Brandes verbrachte seine letzte Lebenszeit unter Hausarrest, den die französische Besatzungsmacht verhängt hatte). 46 Ernst Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts, Hannover 1808, S. 103 f.; vgl. auch S. 70.

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lich zu verlangsamen wünscht – und die er in dieser Form sogar als etwas spezifisch Deutsches deuten zu können meint, indem er feststellt: „Nur allmählige Veränderungen sagen im ganzen dem ungefälschten deutschen Charakter zu, und bringen durch die Zustimmung desselben wahre daurende Verbesserungen hervor“47. Rehberg und Brandes bewegen sich also, bei aller entschiedenen Revolutionskritik und bei aller Skepsis gegenüber zu rasch ins Werk gesetzten Reformen, durchaus nicht auf dem Boden einer klassischen politischen Reaktion, wie sie etwa in Frankreich in dieser Epoche durch Autoren wie de Maistre und de Bonald artikuliert worden ist48. Das Festhalten am politisch aufgefaßten und gedeuteten Konzept der historischen Kontinuität, das sorgfältig vorbereitete und ins Werk gesetzte sowie nach Maßgabe der Vernunft gestaltete Reformen und damit auch geschichtlichen Wandel mit einschließt, verbindet die beiden hannoveranischen Publizisten mit den führenden liberalen Autoren im Deutschland dieser Zeit. Und diese wiederum stehen – bei allen Unterschieden im Detail – jenen nahe, weil auch sie der Revolution als politisches Prinzip mit grundlegender Skepsis begegnen, und gerade aus dem Grund für entschiedene Reformen eintreten, weil sie einer drohenden Revolution vorzubeugen wünschen. V. Die nach 1806 in Deutschland einsetzende – wenngleich, wie man heute weiß, vielfach bereits früher geplante und vorbereitete49 – umfassende, gleichermaßen politische wie soziale und ökonomische Reformtätigkeit läßt sich in gewisser Weise auch als der Versuch einer praktischen Umsetzung der Hauptresultate des ebenso reformorientierten wie revolutionskritischen deutschen politischen Diskurses am Ende

47 Ebenda, S. 59; siehe auch die für Brandes charakteristische Feststellung ebenda, S. 226 f.: „Nicht Chinesische Anhänglichkeit am Alten soll fortdauern, von Gefühllosigkeit, Trägheit, Seelenschlaf erzeugt, sich selbst auf das schrecklichste strafend, im Nichtabstellen von Mißbräuchen, im Versäumen des Bessermachens zur rechten Zeit, da es allenthalben stets viel zu verbessern giebt. Aber noch gefährlicher bleibt es, eine vorgefaßte Meinung von der Vortrefflichkeit eines jeden Neuen als solchem in die Schaale des seiner Natur nach schon einer steten Wechselung und Veränderung unterworfenen Irdischen zu legen. Selbst in wissenschaftlicher Hinsicht, wo Neuerungen, Experimente nicht auf Kosten des Glücks von Millionen gemacht werden, mußte der Begriff von einem steten, … von einem sehr schnellen Fortschreiten, in elende Charlatanerie, zur Entwürdigung des Wesentlichen, ausarten“. 48 Vgl. Jean-Jacques Langendorf, Joseph de Maistre (1753 – 1821) und L. G. A. de Bonald (1754 – 1840) – zwei Vertreter der Gegenrevolution, in: Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, hrsg. v. Bernd Heidenreich, 2. völlig neu bearb. Aufl., Berlin 2002, S. 81 – 92. 49 Vgl. statt vieler Hans Hattenhauer/Götz Landwehr (Hrsg.), Das nachfriderizianische Preußen 1786 – 1806. Rechtshistorisches Kolloquium 11.–13. Juni 1987 Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel (Motive – Texte – Materialien; Bd. 46), Heidelberg 1988; Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, Bd. 2: Dynastie im säkularen Wandel. Von 1740 bis in das 20. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 78 ff.

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des 18. Jahrhunderts begreifen50. Hardenberg hat dies in seiner Rigaer Denkschrift von 1807 in geradezu klassischer Weise formuliert, wenn er feststellt: „Der Wahn, daß man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der durch solche geltend gemachten Grundsätze entgegen streben könne, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern, und derselben eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, daß der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergange oder der erzwungenen Annahme derselben entgegen sehen muß“51. Gleichwohl blieb auch jetzt in Deutschland die Auffassung vorherrschend, daß alle notwendigen Umbrüche und Veränderungen den Faden der historischen Kontinuität nicht abreißen durften. Eine neu zu findende politische Form sollte und mußte die Möglichkeit einer kontinuierlichen Fortentwicklung gewissermaßen institutionalisieren, um eben nicht in eines der beiden Extreme der Stagnation oder der Revolution zu verfallen: Barthold Georg Niebuhr hat dies 1813 einmal folgendermaßen ausgedrückt: „Nie hat es unveränderliche politische Gesetze gegeben; wo man sie unverändert hat erhalten wollen, hat man die Nation erstickt … Eine Konstitution, die auf die Extreme begründet ist, führt unfehlbar zum Despotismus. Diejenige ist der Dauer der Freiheit am meisten günstig, welche, indem sie eine lange Reihenfolge von Abstufungen bis zur Einführung der Demokratie oder der absoluten monarchischen Gewalt möglich macht, den künftigen Geschlechtern viele Schritte zu tun übrig läßt, bevor sie in einen der Abgründe stürzen“52. Revolutionsvermeidung bedeutete also nicht nur Kontinuitätssicherung durch Reform, sondern nicht zuletzt auch, wie man sagen könnte, eine verfassungspolitische Institutionalisierung der Möglichkeit von Kontinuität. Dieser Gedanke blieb ein Grundmotiv auch im späteren politischen Denken des gemäßigten deutschen Liberalismus. So hat Friedrich Christoph Dahlmann in seiner berühmten, erstmals 1835 erschienenen „Politik“ eben diesen Gedanken formuliert: Zwar pflege, so sagt er, „der Pfeiler der Gewohnheit … zu weichen, wo allzuviel und lang auf ihm allein gebaut ist“, dennoch lehre aber „die Erfahrung aller Zeiten …: Die Regierungsform eines großen Staates muß, um Dauer zu haben, nicht aus gleichar50 Vorzüglicher und gut zusammenfassender Überblick bei Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1984, S. 31 – 82. 51 Georg Winter (Hrsg.), Die Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. I: Vom Beginn des Kampfes gegen die Kabinettsregierung bis zum Wiedereintritt des Ministers vom Stein (Publikationen aus den Preussischen Staatsarchiven; Bd. 93), Leipzig 1931, S. 305; selbst „die Raub- und Ehr- und Herrschsucht Napoleons und seiner begünstigten Gehilfen“ sei, fügt Hardenberg hier an, „dieser Gewalt untergeordnet und wird es gegen ihren Willen bleiben“ (ebenda). 52 Barthold Georg Niebuhr, Verfassungsentwurf für die Niederlande, in: derselbe, Politische Schriften, hrsg. v. Georg Küntzel (Historisch-politische Bücherei; Bd. 2), Frankfurt a. M. 1923, S. 251 – 300, hier S. 259 f.; siehe auch Hans-Christof Kraus, Die verfassungspolitischen Ideen Barthold Georg Niebuhrs, in: Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, hrsg. v. Frank-Lothar Kroll, Paderborn/München/Wien/Zürich 1996, S. 285 – 314, bes. S. 310 ff.

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tigen, sondern aus verschiedenartigen, so wenig als möglich aus künstlich gebildeten, so viel als möglich aus real vorhandenen Bestandtheilen gebaut seyn“53 – und dies nicht zuletzt, um Revolutionen unbedingt zu vermeiden, denn „auch die aufs Beste ausgehende Revolution ist eine schwere Krise, die Gewissen verwirrend, die innere Sicherheit unterbrechend und nicht minder alle Staatsverträge gefährdend“54. Schon 1816 übrigens hatte der rheinische Liberale Johann Friedrich Benzenberg in seiner umfangreichen Schrift „Ueber Verfassung“, wohl auch als Reaktion auf die Umbrüche und fundamentalen Veränderungen des Revolutionszeitalters, seinen Zeitgenossen die langfristigen Dimensionen politisch-historischer Kontinuität erneut ins Gedächtnis gerufen: Man dürfe, sagt er, bei „allen gesellschaftlichen Einrichtungen unter den Menschen … nicht darauf sehen, was sie in einzelnen Tagen oder in einzelnen Jahren hervorbringen, sondern auf das, was sich aus ihnen in einem Jahrhunderte, oder wenn sie dauernd sind, in mehreren Jahrhunderten entwickelt“55. Und dies gelte, so Benzenberg weiter, auch für die politischen Institutionen, etwa für die Selbstverwaltung, die nicht etwa von oben aufoktroyiert werden dürften, sondern kontinuierlich von unten wachsen müßten: „Mir scheint es, daß dieses sich selbst Regieren, wenn es etwas werden soll, durchaus sich im Volke selbst entwickeln und mit der Zeit ausbilden muß, und ohne Nachhülfe von oben“56. Eben auf diese Weise, durch Akzeptanz einer kontinuierlich, gewissermaßen „naturwüchsig“ sich vollziehenden Eigenentwicklung, seien Revolutionen am ehesten zu vermeiden. Dieser Gedanke, der sich in mancher Hinsicht mit den entsprechenden, einen übermäßigen bürokratischen Reformeifer kritisierenden Reflexionen des alten Ernst Brandes aus dem Jahre 1808 berührt57, zeigt erneut die Bedeutung des Kontinuitätsaspektes auch für das nachrevolutionäre politische Denken in Deutschland, die im Übrigen auch in den zentralen Thesen der berühmtesten Programmschrift der zu jener Zeit begründeten Historischen Rechtsschule, Savignys „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“, anzutreffen ist58. Die alte – letzt53

Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik (1835), hrsg. v. Wilhelm Bleek (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens; Bd. 7), Frankfurt a. M. 1997, S. 69; vgl. auch Wilhelm Bleek, Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie, München 2010, S. 147 ff. 54 Dahlmann, Die Politik (wie Anm. 53), S. 140; vgl. zum Zusammenhang des Themas auch die Ausführungen ebenda, S. 139 ff. 55 Johann Friedrich Benzenberg, Ueber Verfassung, Dortmund 1816, S. 321; hierzu auch Dajana Baum, Johann Friedrich Benzenberg (1777 – 1846). „Doktor der Weltweisheit“ und „Professor der Konstitutionen“ – Verfassungskonzeptionen aus der Zeit des ersten preußischen Verfassungskampfes (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens; Bd. 79), Essen 2008, S. 99 – 111. 56 Benzenberg: Ueber Verfassung (wie Anm. 55), S. 329. 57 Siehe oben, vor Anm. 46. 58 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 13: Alles Recht entstehe „überall … durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkühr eines Gesetzgebers“; ebenda, S. 32: die Entwicklung des (für Savigny vorbildlichen) römischen Rechts der klassischen Zeit zeige „überall all-

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lich unhistorische – Bedeutung von Kontinuität im Sinne der möglichst vollständigen Bewahrung einer einmal erreichten „guten Verfassung“ ist jetzt unter dem Eindruck der säkularen Umwälzungen und der auch weiterhin sich vollziehenden Veränderungen einem anderen Verständnis gewichen, das Kontinuität in der – nunmehr grundsätzlich als notwendig erkannten – Veränderung festzumachen bestrebt ist. Seit dem beginnenden 19. Jahrhundert beginnt sich die „Überzeugung von der unvermeidbaren Alternative zwischen einer reformierenden, die ganze Gesellschaft umfassenden Politik einerseits und der gewaltsamen Veränderung andererseits“59 allgemein durchzusetzen. Dieser geistige Vorgang gehört in den Zusammenhang jener um 1800 vermehrt sichtbar werdenden und von vielen Zeitgenossen wahrgenommenen „Beschleunigung der Geschichte“60, die Goethe in seinem in der Zeit der Revolutionskriege spielenden Versepos „Hermann und Dorothea“ mit den Worten ausdrückte: „Wahrlich unsere Zeit vergleicht sich den seltensten Zeiten, Die die Geschichte bemerkt, die heilige wie die gemeine. Denn wer gestern und heut in diesen Tagen gelebt hat, Hat schon Jahre gelebt: so drängen sich alle Geschichten“.61

Das Prinzip der historischen Veränderung – sogar das einer zeitweilig beschleunigten – hat ebenfalls ein dem gemäßigt konservativen Lager zuzurechnender Autor wie der heute weitgehend vergessene, im frühen 19. Jahrhundert als politischer Schriftsteller sehr bekannte Johann Peter Friedrich Ancillon, Berliner Hugenottensprössling, Prinzenerzieher und in den 1830er Jahren kurzzeitiger preußischer Außenminister62, grundsätzlich akzeptiert, wenn er in einer 1828 veröffentlichten Abhandlung „Ueber den Begriff und die Beurtheilung der politischen Revolutionen“ eine „progressive Bewegung, eine langsame Entwickelung, eine stete Vervollkommnung aller Zweige des Staatsorganismus und des öffentlichen Lebens“ als Grundbedingung von Ruhe und Ordnung „so wie der … Wohlfahrt der Staaten“ bezeichnet. Die Regierungen müßten „durch zeit- und zweckgemäße Verbesserungen … Schritt [halten] mit dem Gange der Cultur und der Thätigkeit der Kräfte, die den gesell-

mähliche, völlig organische Entwicklung. Entsteht eine neue Rechtsform, so wird dieselbe unmittelbar an eine alte, bestehende angeknüpft“; sichtbar werde dabei das „richtige Ebenmaaß der beharrlichen und der fortbewegenden Kräfte“. 59 Gerhard Schulz, Europa und der Globus. Städte, Staaten und Imperien seit dem Altertum, Stuttgart/München 2001, S. 201. 60 Dazu Reinhart Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: derselbe, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 150 – 176; zum Zusammenhang ebenfalls die Darlegungen bei Schulz, Europa und der Globus (wie Anm. 59), S. 199 ff. 61 Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Artemis-Gedenkausgabe, Bd. 3, Zürich 1977, S. 206 (Hermann und Dorothea, V, 229 – 232). 62 Leben und Werk Ancillons sind bis heute kaum erforscht; siehe neuerdings jedoch die knappe Studie von Niels Hegewisch, Die Staatsphilosophie von Johann Peter Friedrich Ancillon, Marburg 2010.

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schaftlichen Mechanismus bilden und unterhalten“63, um auf diese Weise eine „Aufhebung der bestehenden souveränen Gewalt“ zu vermeiden, eines möglichen Vorgangs also, der von ihm übrigens bezeichnet wird als „ein Verbrechen“ und als „ein Selbstmord, den die Gesellschaft an sich ausübt“64. Neben die Revolutionskritik tritt bei einigen dieser Autoren also noch etwas anderes: das Bewußtsein einer schärferen inhaltlichen Konturierung und Bestimmung von politischen Reformen. An deren Notwendigkeit zweifelt an sich niemand – doch über ihr Ausmaß, ihre reale Umsetzung und ihre Inhalte besteht keinerlei Einigkeit. Das Spektrum reicht von Benzenberg, der auf das Prinzip des langsamen, möglichst unbehinderten Wachstums, auf die Idee einer quasi-organischen Entwicklung des Neuen setzt, bis hin zu Ancillon, der Reformen zwar ebenfalls als notwendig ansieht und bejaht, sie aber dennoch streng eingrenzen und ausschließlich von oben durchgeführt wissen möchte. Das beide Standpunkte miteinander verbindende Moment ist wiederum der Kontinuitätsgedanke: Denn jede Art von Veränderung im Sinne von Erneuerung und Reform dient, in dieser Perspektive gesehen, der Kontinuitätssicherung und damit zugleich der Revolutionsvermeidung. Hierin sind sich die meisten Konservativen und die gemäßigten Liberalen im Grundsatz einig. Einen etwas anderen, gleichfalls natürlich strikt antirevolutionären, aber in gewisser Weise defensiveren historisch-politischen Kontinuitätsbegriff entwickelten nach 1815 einige prominente Vertreter der politischen Romantik, insbesondere Friedrich Schlegel und Adam Müller. Für Schlegel bedeutete Kontinuität nicht zuletzt Anknüpfung an Früheres – oder wenigstens, wenn die Wiederherstellung eines vergangenen Zustandes nicht mehr möglich war, die Schaffung von Institutionen von wesentlich gleichartiger Funktion. Unter Bezugnahme auf die verschiedenen Formen einer ständischen Repräsentation, wie sie nach dem Wiener Kongreß in Deutschland entstanden waren oder noch errichtet werden sollten, stellte er in einem 1817 veröffentlichten Artikel fest: „Keine deutsche Regierung sollte … vergessen, daß der Deutsche an Fürstenwillkür nie gewöhnt gewesen ist und daß, wenn alte, Schutz gewährende Formen und Institute erloschen sind, das Wesen derselben in dieser unerläßlichen Hinsicht in irgendeiner Form von neuem gewährt werden muß“65. Der Romantiker, Publizist und Diplomat formulierte hier ein genuin konservatives Verständnis von Kontinuität66, wenn er diese in erster Linie als Wiederanknüp63 Die Zitate aus [Johann Peter] Friedrich Ancillon, Ueber den Begriff und die Beurtheilung der politischen Revolutionen, in: derselbe, Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen, Bd. I, Berlin 1828, S. 213 – 246, hier S. 243; vgl. auch Hegewisch, Die Staatsphilosophie von Johann Peter Friedrich Ancillon (wie Anm. 62), S. 62 ff. 64 Die Zitate: Ancillon, Ueber den Begriff und die Beurtheilung der politischen Revolutionen (wie Anm. 63), S. 246. 65 Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. VII, Studien zur Geschichte und Politik, hrsg. v. Ernst Behler, München/Paderborn/Wien 1966, S. 443. 66 Siehe hierzu auch die Bemerkungen bei Anette Kuhn, Die Staats- und Gesellschaftslehre Friedrich Schlegels, Diss. phil. München 1959, S. 46 ff., über Schlegels Bemühung um die

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fung, als Überbrückung, in gewisser Weise als Heilung eines durch Diskontinuität entstandenen abrupten Bruches mit der Vergangenheit interpretierte – und dies nicht nur im Hinblick auf die von ihm hier verwendete Denkfigur, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht: Die Kontinuität eines ständisch-monarchischen Dualismus wird hier gegen den – von ihm wie von anderen konservativen Autoren als „modern“ und damit als verderblich angesehenen – „Despotismus“ oder „Absolutismus“67 ins Spiel gebracht. Überwunden werden soll eben nicht nur das Zeitalter der Revolution, sondern auch das vorangegangene der monarchischen Autokratie, einer politischen Form also, die in der Optik konservativer Autoren dieser Zeit eine wesentliche Teilursache der Revolution von 1789 darstellt. Doch Friedrich Schlegel ist noch weiter gegangen und hat das Phänomen der Revolution selbst in den Zusammenhang einer gewissermaßen „höheren Kontinuität“ eingeordnet und ihm damit eine Art von geschichtsphilosophischer Legitimation verliehen, die sich die Revolutionäre von 1789 freilich nicht hätten träumen lassen. „Wie der einzelne Mensch“, schreibt er 1820 in seiner „Signatur des Zeitalters“, „im Leben größtenteils auch erst durch den Schmerz und durch vielfältige Leiden vollständig erzogen und von einer höhern Hand dem bessern Ziele seiner innern Vollendung entgegengeführt wird; ist es nicht denkbar, daß auch die Menschheit im Großen, daß Nationen und Staaten, sowie ganze Zeitalter nach derselben höheren Erziehungsmethode von der Vorsehung geleitet und durch eine lange Reihe peinlicher und drückender, aber fruchtbarer und heilsamer Zustände und Erfahrungen, zu der Erkenntnis des Rechten, sowie zum rechten Leben selbst hinaufgeführt werden sollen?“68 Der Autor bezeichnet dies – in indirekter Abgrenzung von eigenen früheren Aussagen aus der Zeit vor und um 180069 – als den „Standpunkt […] der Vorsehung“, dessen „höhere Ansicht“70 ihn offenbar befähigt, die Revolution als geschichtliches Phänomen gewissermaßen zu mediatisieren, einzuordnen in den allgemeinen, von der göttlichen Vorsehung gelenkten Gang der Geschichte, der letztendlich von einer höheren – menschlicher Einsicht nur begrenzt zugänglichen – Vernunft bestimmt wird. Die Revolution erweist sich in diesem Verständnis nun keineswegs als säkularer Umbruch, als Manifestation des geschichtlichen Fortschritts zum BesAufrechterhaltung der historischen Kontinuität des „sittlichen Bewußtseins“; außerdem: Harro Zimmermann, Friedrich Schlegel oder die Sehnsucht nach Deutschland, Paderborn/ München/Wien/Zürich 2009, S. 321 ff. 67 Vgl. Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 63 – 206; zum Zusammenhang der politischen Debatte im frühen 19. Jahrhundert ebenfalls wichtig: Reinhard Blänkner, „Absolutismus“. Eine begriffsgeschichtliche Studie zur politischen Theorie und zur Geschichtswissenschaft in Deutschland 1830 – 1870 (Zivilisation & Geschichte; Bd. 15), Frankfurt a. M. 2011. 68 Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. VII (wie Anm. 65), S. 486. 69 Vgl. die entsprechenden Hinweise bei Reinhart Koselleck, Revolution I., IV.-VI., in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 653 – 656, 689 – 788, hier S. 738; zum Zusammenhang auch ebenda, S. 739 ff. 70 Beide Zitate: Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. VII (wie Anm. 65), S. 486 f.

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seren, als Morgenröte eines neuen Zeitalters oder gar als Neubeginn der Menschheitsgeschichte, sondern sie erscheint in der von Schlegel eröffneten Perspektive ausschließlich als Mittel der Züchtigung einer vom guten Weg der göttlichen Ordnung abgewichenen Menschheit. Der Begriff der Reform spielt für Schlegel dagegen eine geringere Rolle. Nach den Umwälzungen der Revolutions- und Kriegsepoche zwischen 1789 und 1815 kommt es für ihn auf die Sicherung der nachrevolutionären Bestände, also des nach allen Umbrüchen noch Vorhandenen an, damit auf eine Verlangsamung und Verstetigung der geschichtlichen Bewegung sowie auf die Wiederanknüpfung möglichst vieler gerissener Fäden, durch welche die Gegenwart mit der vorrevolutionären Epoche verbunden werden kann. Doch Schlegel gab sich nicht der Illusion hin, daß die tiefen Gräben zwischen der Restaurationsperiode nach 1815 einerseits und dem Ancien Régime oder noch früherer Zeiträume andererseits jemals zugeschüttet werden könnten. Seine Versuche einer historisch-politischen Kontinuitätsbegründung auf der Grundlage eines christlichen Geschichtsverständnisses gleichen eher dem verzweifelten Versuch, die innere Sinnhaftigkeit einer von ihm als wesenhaft katastrophisch erfahrenen und erlebten Epoche erkennen zu können und sichtbar zu machen. Adam Müller schließlich hat in seinen späteren Jahren, und zwar in einem seiner nachgelassenen handschriftlichen Zusätze zu seinem Hauptwerk, den „Elementen der Staatskunst“71, anhand eines besonders charakteristischen Beispiels demonstriert, daß Kontinuitätswahrung auch als Reformverhinderung verstanden werden kann. Die nicht erst seit den 1820er Jahren auch auf dem Kontinent viel diskutierte Forderung nach einer Wahlreform zum britischen Unterhaus – zu dem noch immer jene (von der liberalen Opposition damals vehement bekämpften) als „rotten boroughs“ bekannten Wahlkreise mit äußerst geringer Wählerzahl gehörten – wurde von Müller strikt abgelehnt: Durch eben diese alten Wahlkreise werde, stellt er fest, „die Parthey der Abwesenden der Verstorbenen, welche ehemals diese Repraesentanten schickten im Parlament verstärkt, die Persöhnlichkeit der Sachen, alter sehr ehrwürdiger Sachen, welche die gegenwärtige Generation nur gar zu leicht zu übersehen, oder hintan zu setzen pflegt, wird representirt; kurz die Nationalrepraesentation wird gerade durch diese thätige, allen Generationen gegenwärtige Rücksicht auf jene alten rotten boroughs zu einer wahren Volksrepräsentation, d. h. zu einer Repraesentation der gesamten Rechtsverhältnisse aller Jahrhunderte, welches etwas mehr sagen will als eine Repraesentation der gegenwärtigen Köpfe“72. 71 Adam Müller, Handschriftliche Zusätze zu den „Elementen der Staatskunst“, hrsg. v. Jakob Baxa (Die Herdflamme; Bd. 18), Jena 1926; zu Müllers Revolutionskritik siehe zusammenfassend auch Jakob Baxa, Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und der deutschen Restauration, Jena 1930, S. 43 ff. u. passim. 72 Müller, Handschriftliche Zusätze (wie Anm. 71), S. 24 f.; im Weiteren spielt Müller hier die britische Kontinuität gegen französische (d. h. revolutionäre) Diskontinuität aus, indem er gleich anschließend feststellt: „Die zweyte Nationalversammlung von Frankreich die sogenannte Assemblée legislativ war bekantlich eine solche Repraesentation der Köpfe, alles wohl

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Was Müller hier ausführt – und zwar unter indirekter Bezugnahme auf eine berühmte Formulierung Edmund Burkes, der die Nation einmal als Gemeinschaft der Toten, Lebenden und Nachgeborenen bezeichnet hatte73 – ist nichts anderes als eine konservative Radikalisierung des Kontinuitätsbegriffs, der nun vollkommen im Lichte einer jeder wirklichen Reform abholden politischen Restauration gesehen und gedeutet wird. Schlözers Bemerkung über den „Tyrann Herkommen“ auf der einen Seite und Müllers Ablehnung der Reform des dreihundert Jahre alten Wahlrechts zum britischen Unterhaus auf der anderen bezeichnen damit in gewisser Weise die beiden Pole, zwischen denen sich die politische Diskussion um Kontinuität und Reform im Deutschland zwischen Spätaufklärung und Romantik bewegt hat. VI. Es läßt sich also die abschließende These formulieren, daß „Kontinuität“ und „Reform“ als Schlüsselbegriffe anzusehen sind, die erheblich zur Erschließung und zum Verständnis jedenfalls der Hauptlinien des deutschen politischen Denkens vor und nach 1800 beitragen können. Sowohl die Revolutionsvermeidung wie auch die politische Erneuerung durch Reformen sind zentrale gemeinsame Anliegen der wichtigsten konservativen wie auch der liberalen Autoren dieser Zeit. Man wird in der Tatsache, daß es nicht zuletzt aus diesem Grund im deutschsprachigen Bereich – ganz im Gegensatz zu Frankreich – keine herausragenden intellektuellen Vordenker einer Revolution in dieser Epoche gegeben hat, eine der wichtigeren Ursachen für das Ausbleiben eines den Ereignissen in Frankreich vergleichbaren revolutionären Umsturzes in Deutschland sehen können. Aber auch die deutlich zu rekonstruierenden, in manchen Aspekten sehr tiefgehenden Differenzen zwischen liberalen und konservativen Autoren in Deutschland lassen sich am ehesten durch eine genaue Bestimmung und Analyse ihres jeweiligen spezifischen Verständnisses von Kontinuität und Reform gewinnen. Die Konservativen verstehen „Kontinuität“ in erster Linie als Bewahrung vorhandener Institutionen und Lebensformen oder, in bestimmter geschichtlich-politischer Lage, als Wiederanknüpfung an (vermeintlich bessere) vormalige Zustände. Reformen werden dann bejaht, wenn sie unumgänglich sind, um etwa in kritischer Situation einen als positiv angesehenen Zustand in seinen wichtigsten Grundaspekten zu sichern, oder wenn es gilt, nach einer gescheiterten Revolution eine politische Restauration ins Werk zu setzten, die als solche allerdings niemals einer vollständigen Wiederherstellung des Status quo ante gleichkommen kann, sondern lediglich einen gezählt, und kein Stimmfähiger von der Wahl ausgeschlossen. Ihre Dauer kann bekanntlich nur nach Wochen gemessen werden, während für die National Repraesentation der Rechtsverhältnisse in England kein anderes Maß als das der Jahrhunderte gilt“ (ebenda, S. 25). 73 Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France and on the Proceeding in Certain Societies in London Relative to that Event, ed. by Conor Cruise O’Brien, Harmondsworth 1982, S. 194 f.: „Society … becomes a partnership not only between those who are living, but between those who are living, those who are dead, and those who are to be born“.

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Versuch darstellt, traditionelle mit neueren politisch-sozialen Formen zu kombinieren – natürlich mit dem konservativen Hauptanliegen, dabei möglichst vieles der Tradition Angehörige für die Zukunft zu retten. Für die Liberalen bedeutet „Kontinuität“ wiederum vor allem die kontinuierlich gedachte und gewollte ständige Fortentwicklung des Bestehenden – und zwar durch periodisch ins Werk gesetzte Reformen. Die Reform erscheint geradezu als Grundprinzip liberaler Politik, eben weil sie nicht nur als notwendige Reaktion auf bestimmte, mit der Zeit sichtbar werdende Probleme politischer Existenz, besonders auf das Veralten und die dementsprechende Verschlechterung der Funktionsfähigkeit politischer und sozialer Institutionen verstanden wird, sondern als beständiges Bestreben aller politischer Tätigkeit, die sich dem Sog geschichtlicher Veränderung nun einmal nicht entziehen kann. Auch die Konservativen haben das unhintergehbare Faktum historischer Bewegung und Veränderung natürlich als solches wahrgenommen und reflektiert. Ihr Streit mit den Liberalen beinhaltete also nicht etwa einen Konflikt zwischen Anhängern von grundlegender Veränderung einerseits und den Vertretern des Beharrens auf dem Status quo andererseits, sondern ihr zentraler Differenzpunkt drehte sich, in dieser Perspektive gesehen, vornehmlich um die Geschwindigkeit eben dieser Veränderung und zugleich um die Inhalte, den Umfang und die Art der politischen Umsetzung der durchzuführenden Reformen. Diese Differenzen eröffnen freilich ein überaus weites Feld der Detailanalyse und der inhaltlichen Erforschung des liberalen und des konservativen Denkens. Auch anhand solcher Untersuchungen ließe sich im Einzelnen erweisen, daß in der Zeit des Umbruchs vom Ancien Régime zur Welt der Moderne die Verbindung von Kontinuität und Reform das dominierende Leitmotiv des politischen Denkens in Deutschland gewesen ist – und nicht die Alternative zwischen Revolution und Beharrung.

Of Beasts and Men: Jonathan Swift’s Quarrel with the Ancients and the Moderns By Tom van Malssen Abstract The present essay argues that Jonathan Swift intervened in the quarrel between the Ancients and the Moderns because he had a quarrel with the Ancients and the Moderns. It claims that the intervention itself can only be properly understood if its moving cause is taken to have been the problem of religion. The article moreover claims that it is also the problem of religion which forms the nexus between Swift’s two masterpieces, A Tale of a Tub and Gulliver’s Travels – pieces a profound reading of which presupposes an understanding of the Swiftian art of writing. Having navigated its way through some of the more misty sections of this compound satire on the combined history of divine longing and human learning, the piece concludes with some critical reflections on whether or not Swift’s arrows of satire overshot the mark. Le plus grand default de la penetration n’est pas de n’aller point jusqu’au but, c’est de le passer. La Rochefoucauld

I. It is no longer a matter of dispute that Jonathan Swift was an ancient in moderns’ clothing. Time, author of authors, finally spoke its verdict. An early historian of the Querelle des Anciens et des Modernes may still have allowed himself the liberty to searchingly call the Irish author an “avenger of common sense;”1 it is modern historiography which confidently concludes that in the man who was “hostile to modernity” we find the “true culmination of the ancients’ defence of antiquity.”2 And a philosopher like Leo Strauss, who himself raised a prejudice in favor of antiquity, may indeed have taken the opportunity to shed corrective light on his project by ambiguously calling the dean from Dublin “the freest mind of recent times;”3 it is his most famous student Allan Bloom who apodictically states that Swift’s “standards of judgment are all classical.”4 Thus, mindful of the weight that is generally attributed to consent as the judgment of time, we may safely conclude that the book on Swift can finally be closed. But has its story really been told? 1

Rigault, 1856: 336. All translations in this article are mine. Levine, 1991: 3, 115. 3 Strauss, 2008: 657. Cf. Strauss, 1958: 78, 309 fn. 51. 4 Bloom, 1990: 37. 2

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A first indication that at least one chapter remains to be written emerges from a statement from the very historian who seems to have composed the authoritative version of the chapter’s subject matter. For it is this historian who tells us that the Quarrel between the Ancients and the Moderns was “always and everywhere about history, about the meaning and use of the past and about the method of apprehending it.”5 The pregnant character of this observation becomes somewhat more apparent on the basis of a comparison between two remarks made by the two men who arguably played the main part in the English version of the Quarrel: William Wotton and Sir William Temple. According to the latter, Swift’s patron and spokesman of the ancients, modern works are “at best but copies,” unless “upon subjects never touched” by the ancients, such as “Religion or True Divinity,” which came “by immediate Revelation or Instruction from God Himself.”6 Wotton, on the other hand, scholar by profession and champion of the moderns, confesses that one of the “more powerful” reasons for him to state the “several Boundaries” of ancient and modern learning was that such an argument “might be some way subservient to Religion.”7 The history of the confrontation between the two mastodons is well-known: in a joint enterprise Wotton and his partner in pedantry, the distinguished classical scholar Richard Bentley, all but destroyed their autodidactic counterpart before an unknown satirist lifted the whole debate to another level.8 What is not commonly known though, is that despite their irresolvable differences both Temple and Wotton seem to have been in essential agreement concerning one crucial point: that the principal historical fact which constitutes the hinge between the ancients and the moderns, and which causes a parting of the ways, is the emergence of revealed religion. Taking the previous observation as its starting point, the present essay will argue that Swift’s intervention in the Quarrel between the Ancients and the Moderns can only be properly understood if its moving cause is taken to have been the problem of religion. The article will claim, moreover, that it is also the problem of religion that forms the nexus between Swift’s two masterpieces, “ATale of a Tub” and “Gulliver’s Travels”. Having navigated its way through some of the more misty sections of this compound satire on the combined history of divine longing and human learning, the piece will conclude with some critical reflections on whether or not Swift’s arrows overshot the mark. II. First, however, a few words on how to read the man who, according to the harsh judgment of David Hume, had “more humour than knowledge, more taste than judgment, and more spleen, prejudice, and passion than any of these qualities.”9 Modern 5

Levine, 1981: 84. Temple, 1705: 2; Temple, 1701: 261. 7 Wotton, 1694: Preface. 8 For the history of the English chapter of the Quarrel see Levine, 1991: 1 – 120. 9 Hume, 1752: 81.

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literary criticism, a genre whose first products were so despised by Swift himself, went even further by taking the apparent absence of anything substantial in the works of the Irish satirist in justification of turning them into a playground for academics.10 But although it may be true, as an early critic like Jean le Clerc already observed, that “one often does not know whether or not [Swift] is making fun, nor of whom, nor what his intention is,”11 the possibility cannot be dismissed out of hand that there is such an intention, hidden beneath piles of dirt, to condescend to Swift’s own language. This possibility becomes a plausibility on the basis of a comparison between Swift’s own two statements on his reasons for employing the genre whose very principle is fun. For on the one hand we read that “Satyr being levelled at all, is never resented for an offence by any, since every individual Person makes bold to understand it of others, and very wisely removes his particular Part of the Burthen upon the shoulders of the World, which are broad enough, and able to bear it” (TT Pr.: 31).12 On the other hand, however, Swift points out that although satire is “reckoned the easiest of all Wit,” he takes it to be “otherwise in very bad Times: For it is as hard to satirize well a Man of distinguished Vices, as to praise well a Man of distinguished Virtues.”13 What the man who is best known as one of the severest critics of his times seems to convey by means of the previous statements is that although it is first and foremost in order to avoid being himself attacked by anyone that he aims his attacks at everyone, in actual fact he is targeting someone, someone highly specific. One can only reach the particular thought, by piercing through a veil of generalized satire. “If one wishes to get to the substance of a work by Swift, one must hear the voice through the mask,” as one scholar aptly puts it.14 The mask may turn out to be all but soundproof, however. For, as we learn from Swift himself, “[s]ome People take more Care to hide their Wisdom than their Folly.”15 In any case, laughter reveals itself as both the gateway towards and the exit away from the object that causes it. But does everybody laugh for the same reason?

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Having divided Swift’s œuvre into the “monological” and the “dialogical” works, the editor of a volume of critical essays concludes that whereas the former are “prime objects for a deconstructive tracing of their internal, suppressed fault lines,” the latter “exemplify the satiric clash between opposed orders and perspectives that, by leaving such oppositions unresolved, can clear a space for new paradigms of thought.” (Palmeri, 1993: 8). 11 Clerc, 1721: 443. 12 When referring to “A Tale of a Tub” (TT) and its accompanying works “The Battel of the Books” (BB) and “A Discourse concerning the Mechanical Operation of the Spirit” (MOS), I refer to the section and the page number in the Cambridge Edition of Swift’s Works (Swift, 2010). 13 “Thoughts on Various Subjects” (Swift, 1957: 243). Cf. “The Intelligencer” 3 (Swift, 1955: 34). 14 Ewald, 1954: 10. 15 “Thoughts on Various Subjects” (Swift, 1957: 244). “[I]f the wisest man would at any time utter his thoughts, in the crude indigested manner, as they come into his head, he would be looked upon as raving mad” (“Some Thoughts on Freethinking”, ibid.: 49).

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A first clue that there may be different levels of comedy in Swift’s works offers itself if we consider that whereas the protagonist in “A Tale of a Tub” concludes that the “supreme and refined Point of Felicity” consists in the “Serene Peaceful State of being a Fool among Knaves” (TT IX: 112), Swift himself elsewhere says that “His Vein, ironically grave, Expos’d the Fool, and lash’d the Knave.”16 We are thus led to suspect that there is a third addressee, to be located above and beyond both the fool and the knave. This suspicion gains more weight if we observe that the categories “Credulity” and “Curiosity” (TT IX: 111), which are introduced in the very same section of “A Tale of a Tub” in which the distinction is made between fool and knave, do not run parallel to this distinction. For neither the fool nor the knave “enters into the Depth of Things” (TT IX: 111). In the next section Swift himself removes all remaining doubt by having his protagonist divide readers into three classes, the “Superficial,” the “Ignorant,” and the “Learned” (TT X: 119). But although it may be true that both the superficial and the ignorant are credulous – the distinction between the two is “extreamly nice” (TT X: 119) –, only the former seems to be educable. For whereas the ignorant will “find himself disposed to Stare,” the superficial will be “strangely provoked to Laughter” (TT X: 119), and laughter has the capacity to liberate towards moral reform. After all, “‘[t]is plain, [Swift’s] Writings were design’d To please, and to reform Mankind.”17 The superficial thus reveals himself as the fool, who, contrary to the ignorant knave, has the “Possession of being well deceived” (TT IX: 112). The learned, on the other hand, will laugh at both the fool and the knave – if only out of curiosity, a “firm Hold” upon “gentle Readers” (TT XI: 131).18 III. Having allowed Swift to tighten his hold on us a little bit, let us now turn to the work whose external structure turns out to be the best gateway towards its substance. For although in the Apology to “A Tale of a Tub” we read that the “numerous and gross Corruptions in Religion and Learning” (TT Ap.: 5) constitute the satire’s subject matter, it is only if the piece’s respective sections, tale and digressions, are read in conjunction that the actual theme of the book comes to sight as a compound of the

16 “Verses on the Death of Dr. Swift” (Swift, 1958b: 565). The simultaneous presence of levity and gravity in the Irish author was taken notice of by Deane Swift, who concludes that his cousin’s “natural temper seemeth to have been a miraculous compound of the placid and the severe” (Swift, Deane, 1755: 359). 17 “Life and Character of Dr. Swift” (Swift, 1958b: 550). 18 In an otherwise thoughtful essay on Swift’s different audiences R. W. Burrow confuses the ignorant with the learned, as appears from his remark that the “difference between the ‘superficial’ and the ‘ignorant’ is not in the extent of their knowledge but of their desire to know” (Burrow, 1987: 495). For there is an important difference between learned ignorance and ignorance disguised as learning, as was famously pointed out by Blaise Pascal (“Pensées”; Pascal, 1897: B327).

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corruption of religion by learning and religion’s corruption of learning.19 The confusion itself is as it were demonstrated by the fact that from a certain point onwards the section headings no longer differentiate between tale and digressions (TT VIII: 99 ff.). The confusion’s corruptive character is indicated by the person responsible for the degeneration of religion happening to be the most learned of the three brothers who make up the tale (TT II: 54 – 5); it is illustrated by the fact that the learning following in the wake of degenerated religion is presented as essentially derivative: the modern scholar is first and foremost a “Discoverer and Collector of Writers Faults” (TT III: 62).20 And this brings us back to the theme of our essay. For what the previous observations above all other things seem to suggest is that Swift’s actual reason for intervening in the Quarrel between the Ancients and the Moderns was that he had a Quarrel with the Ancients and the Moderns, a quarrel “wherein the Celestial Interest was but too deeply concerned” (BB: 153): with the ancients for having enabled religion to instrumentalize learning, and with the moderns for not having been able to de-instrumentalize learning.21 But it was not just learning that suffered in the process. On his death-bed a man who had three sons provided each of them with a new coat, emphasizing that only with “good wearing” the coats would remain “fresh and sound.” The coats stand for the Christian religion, the father for its author. The father’s will, which allegorizes the New Testament (cf. TT II: 58), contained instructions “in every particular concerning the Wearing and Management” of the coats, wherein the sons had to be “very exact,” for their “future Fortunes” depended on it (TT II: 47). As soon, however, as they had arrived at the age of discernment, they became dependent on covetousness, ambition, and pride. In addition to this, they were exposed to a sect which presented the cosmos as a “Suit of Cloaths,” and the soul as an “outward Dress,” thereby indirectly confirming the brothers’ uniqueness on both philosophical and theological grounds. Since these opinions as well as their practice were “universal,” the brothers – under the supervision of the most learned one – decided to interpret the mysteries contained in their father’s will so as to make them suit their sanctioned desire for distinction, before locking up the will itself (TT II: 48 – 59).

19 In the “Battel of the Books” the learned theologians Duns Scotus, Thomas Aquinas, and Robert Bellarmine are described as a “confused Multitude” (BB: 153). 20 It is in the section immediately following the section in which the learned brother is presented as the “best Scholar” (TT II: 58) that Swift gives his definition of the modern critic. The central of three possible definitions describes critics as “Restorers of Antient Learning from the Worms, and Graves, and Dust of Manuscripts.” But this group has been “for some Ages utterly extinct” (TT III: 61). 21 It needs emphasizing that Swift was well aware of the fact that the very categories “Ancients” and “Moderns” imply gross simplifications. For although in the “Battel of the Books” the dean says that the ancients’ side of the hill Parnassus was an “entire Rock” (BB: 144), he also says that it was with the help of Aristotle that Duns Scotus turned Plato “out from his antient Station among the Divines” (BB: 146). And whereas Aristotle’s bow hit Descartes, it “went hizzing over [the] head” of Bacon (BB: 156).

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Swift draws our attention to the brothers’ religion’s dependence on ancient learning by having his protagonist say that the “Body of Philosophy and Divinity” which caused Peter – the learned brother who now reveals himself as the representative of Roman-Catholicism (TT III: 68) – to compose his own system of philosophy and theology, was “collected out of antient Authors” (TT II: 51); an observation, we notice in passing, which proves one scholar right in saying that “to make Swift an Ancient is to make him the butt of his own satire.”22 The Irish satirist elsewhere confirms this point in his own name by stating that there is no “better Comment” upon the “moral Part of the Gospel” than that which can be collected from the writings of “those excellent Men.”23 But although Christianity may have worked with the ancient authors, it was itself “composed by a Vein and Race of Thinking, very different from any other Systems, either Antient or Modern,” as Swift subtly makes clear by the example of the sect whose characteristics should put the reader in a position to “better comprehend those great Events which were the issue of them” (TT II: 51).24 As far as the ancients are concerned, the dean elaborates upon the previous observation in another work by saying that the “System of Morality” that can be gathered out of the ancient writings wants the “Divine Sanction which our Saviour gave to his.”25 Taken together, the preceding points thus imply not only that it cannot be true that the bee, who stands for the ancients in the “Battel of the Books”, “enriches” himself “without [doing] the least Injury” to the beauty, smell, or taste of “all the Flowers and Blossoms of the Field and the Garden,” but also that it cannot be the case that he furnishes mankind with the two “Noblest of Things, which are Sweetness and Light” (BB: 150, 152). The former deficiency is confirmed by Swift himself, who in his Ode to the Athenian Society tells us that “Philosophy, as it before us lyes, Seems to have borrow’d some ungrateful tast Of Doubts, Impertinence, and Niceties, From ev’re Age through which it pass’t, But always with a stronger relish of the Last.”26 The latter failure can to a certain extent be explained by the fact that the bee of the ancients lacks the quality of the bee of Bacon, who “changes and arranges” the material he gathers from the flowers of the field and the garden by a “power of his own,” as a result of which he is able to put

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Pinkus, 1959 – 60: 56. “A Letter to a Young Gentleman” (Swift, 1948: 73). In his “Remarks upon Tindall’s Rights of the Christian Church” (Swift, 1939: 97) Swift says that Aristotle’s “Poetry, Rhetorick, and Politicks are admirable.” The Ethics and the Metaphysics are conspicuously absent from this list. 24 Although the second section is the first part of the actual tale, it is the only section without a title. The heading “A Tale of a Tub” is used for the first time in the section in which the learned brother is identified as Peter (TT IV: 68). This section is thus, strictly speaking, the first “historical” section. 25 “A Letter to a Young Gentleman” (Swift, 1948: 73). 26 Significantly enough, Swift adds the following lines: “This beauteous Queen by Heaven design’d To be the great Original For Man to dress and polish his Uncourtly Mind, In what Mock-habits have they put her, since the Fall!” (“Ode to the Athenian Society”, Swift, 1958a: 22). 23

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philosophy in the service of the “reliefe of Mans estate.”27 Almost as if to concede these observations, the bee of the Battel flees “strait away to a bed of Roses, without looking for a Reply” to the first of his claims, and he has a prejudiced “Antient” make the second (BB: 151 – 2). And as we shall see, it was precisely the prejudicial nature of the ancients’ understanding of the meaning of nobility that caused Swift to observe that “Christianity itself hath very much suffered by being blended up with Gentile philosophy.”28 But what about the philosophy of the moderns? This brings us to the spider, who represents the moderns in the “Battel of the Books”. For although the arachnid himself claims that his materials, which are described as “Dirt and Poison,” are “extracted altogether out of [his] own person,” the bee tells him that he is obliged to “a little foreign Assistance,” and “does not fail of Acquisitions” (BB: 150; cf. 143 – 4). We have already seen that Swift presents modern learning as essentially derivative, thus agreeing with the bee at least in this respect. But this is not the place to discuss whether the dean’s criticism reaches the modern center.29 We therefore confine ourselves to observing that Swift indicates that there may actually be good reason to live parasitically, although he partly disagrees with the moderns as to who should function as a host. For he has, of all people, an ancient point out that apart from the spider’s web there is nothing else “of Genuine, that the Moderns may pretend to, […] unless it be a large Vein of Wrangling and Satyr, much of a Nature and Substance with the Spider’s Poison” (BB: 152). It thus seems to be primarily with a view to restoring dirt to its two components water and earth, with a view, in other words, to restoring both learning and religion to their original state, that Swift uses the moderns’ poison against themselves. After all, the ancients had already lost the battle against history, as appears most vividly from Gulliver’s observation in Glubbdubdrib, the island of sorcerers and magicians, that the commentators on the ancient authors “always kept in the most distant Quarters from their Principals,” because they had “so horribly misrepresented them” (GT III.VIII: 294 – 5).30 This may go some way towards explaining why the ancients would “not only give Licence, but also largely contribute” to the moderns’ raising “their own side of the Hill” (BB: 144 – 5). For it may have been only by way of in27

“Novum Organum”, I.XCV (Bacon, 1858: 201); “The Advancement of Learning” (Bacon, 2000: 31 f.). 28 “A Sermon upon the Excellency of Christianity” (Swift, 1948: 249). This conclusion may not be wholly unrelated to the fact that the ancients “could not agree about their chief good,” were “never able to give any satisfaction, to others and to themselves, in their Notions of a Deity,” and “trusted in themselves for all things” (ibid.: 243 f.). 29 A more elaborate treatment of this question can be found in my book on Francis Bacon (The Political Philosophy of Francis Bacon. On the Unity of Knowledge) – the only modern philosopher to survive the “Battel of the Books” (BB: 156). 30 Gulliver learns this from a “Ghost, who shall be nameless” (ibid.). We identify him as Jonathan Swift. In the lower world Gulliver spends exactly twice the amount of time with the ancients that he spends with the moderns (ibid., 294, 296 f.). When referring to “Gulliver’s Travels” (GT) I refer to the Part, the Chapter, and the page number in the Cambridge Edition of Swift’s Works (Swift, 2012).

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ternal hypertrophy of the moderns’ side of the hill that the hill itself could be reduced to its original proportions, after it had become overburdened with foreign materials. And this was an acute necessity, as Swift’s patron already knew, who tells us that it is the “Noise and Disorders” of “Ambition […] mingled with the Zeal, or covered with the Pretences of Religion” that constitute the “Capital Enemies of the Muses,” who are seated “upon the Top of Parnassus.”31 This fact, taken in conjunction with the derivative as well as parasitical character of the moderns’ response to it, seems to explain why the height of the ancients’ side of the hill both “shortned the Prospect of the Moderns” and provided them with “Shade and Shelter” (BB: 144).32 But however that may be, it remains the case that the two sides of the hill are two sides of one and the same mountain, although “[o]ne Top of Parnassus was sacred to Bacchus, [and] the other to Apollo” – a subtle allusion to the different starting points of the ancients and the moderns, and an almost prophetic announcement of Nietzsche.33 Our author’s distinctly modern approach may also account for the fact that he goes out of his way to emphasize that although he allows for a “Similitude of Style, or way of thinking,” he was not the author of Shaftesbury’s Letter of Enthusiasm (TT Ap.: 7).34 For although the Irish dean may have agreed with the Third Earl that “Wit can never have its Liberty, where the Freedom of Raillery is taken away,” he certainly disagreed with Shaftesbury that in imitation of the ancients the moderns should as it were canalize revelation through the “Muses Art,” so as to benefit from its political potential while at the same time preventing it from going its own way.35 For was it not precisely this policy that contributed to the host becoming the parasite? To return to the tale. Peter had grown distracted with “Pride, Projects, and Knavery,” and started to call himself “God Almighty” and “Monarch of the Universe” (TT IV: 73). In short, he grew “so scandalous” that people started to say that he was “no better than a Knave” – a subtle hint that Swift did not set high hopes on a religious reform which consciously founded itself on human learning.36 And when his brothers, having grown weary of his tyrannical tendencies, demanded a copy of their father’s will, he threw them out of the house (TT IV: 77 – 8). However, “after some Recollection” the two remaining brothers called to mind the copy of their father’s will, 31

Temple, 1705: 64. “[I]f we are Dwarfs, we are still so, though we stand upon a Gyant’s Shoulders; and even so placed, ye we see less than he, if we are naturally shorter sighted, or if we do not look as much about us, or if we are dazled with the height, which often happens from weakness either of Heart or Brain” (ibid.: 30 f., emphases mine). 33 “Thoughts on Various Subjects” (Swift, 1957: 252). Not distinguishing two sides of the hill, Lucan (“Pharsalia” V.72 f.) tells us that mount Parnassus “Phoebo Bromioque sacer”. 34 Cf. also Swift’s Letter to Ambrose Philips (14 September, 1708): “There has been an Essay of Enthusiasm lately published, that has run mightily, and is very well writ. All my friends will have me to be the author, sed ego non credulus illis” (Swift, 1910: 111). 35 Shaftesbury, 2001: 14, 19. 36 Cf. Thomas Aquinas’ “Summa Theologica”: Aquinas, 1934: Part I, Q. 1, A. 1. 32

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and decided to “alter whatever was already amiss, and reduce all their future Measures to the strictest Obedience prescribed therein.” Having compared the “Doctrine with the Practice,” they concluded that there was “never seen a wider Difference between the two Things” (TT VI: 87). They thus entered upon the “great Work” of pulling off all embellishments from their coats, looking “sometimes” on the coats, and “sometimes” on the will (TT VI: 89), the latter of which contained not only penalties for “every Transgression or Neglect” to comply with the instructions concerning the “Wearing and Management” of the coats, but also the command to “live together in one House like Brethren and Friends” (TT II: 47). Resolving that the “Substance of the Stuff” should in no case suffer injury, the second brother, Martin, decided that the “wisest Course” would be to let the embroidery remain where it was “workt so close, as not to be got away without damaging the Cloth, or where it served to hide or strengthen any Flaw in the Body of the Coat.” He thought this was the best method for serving the “true Intent and Meaning” of his father’s will. For although it was true that the testament was “very exact” in what related to the wearing of the coats, it was “no less penal and strict” in prescribing “Agreement, and Friendship, and Affection” between the brothers. And therefore, if “straining a Point were at all dispensable, it would certainly be so, rather to the Advantage of Unity, than Increase of Contradiction” (TT VI: 89, 93). These points, made by the central character in the central paragraphs of the central section of the Tale, explain why in the Apology to the Tale Swift said that the piece as a whole “Celebrates the Church of England as the most perfect of all others in Discipline and Doctrine” (TT Pr.: 6). For it is in the Sentiments of a Church-of-England Man that we read that in order to preserve both “Order and Purity” it is necessary not only to “believe a God, and his Providence, together with Revealed Religion, and the Divinity of Christ;” but also to have a “true Veneration for the Scheme […] of Ecclesiastical Government” established among members of the Church of England.37 To put it in terms of the Tale, if we take the will to represent both the substance and the rules of faith, and the coat to allegorize religion, it is the Church of England which harmonizes both by dividing the former into two, and dismissing the contradicted rules of faith while putting faith’s substance in the service of religion as it itself interprets it. It achieves this first of all by not “damaging the Cloth,” since it is obedience to a loving God that constitutes the foundation of charity towards man. And since the being of a providential God, his revelation, and the divinity of Christ can only be believed, the “Mystery” ought “not to be over-curiously pryed into, or nicely reasoned upon” (TT II: 57). In short, as Swift puts it in a letter to a young clergyman: “the two principal Branches of Preaching, are first to tell the People what is their Duty; and then to convince them that it is so.”38 In order to make all this effective, however, the “Flaw in the Body of the Coat” better known as pride must be both hidden and strengthened: hidden by not making it apparent that religion, while being 37 38

Swift, 1939: 4 f. “A Letter to a Young Gentleman Lately entered into Holy Orders” (Swift, 1948: 70).

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“the best Motive of all Actions,” is also “the highest Instance of Self-Love;”39 and strengthened by making the members of the Church of England wear their colors with pride; by making, in other words, “Piety and Virtue become the Fashion of the Age,” as Swift puts in in his “Project for the Advancement of Religion”, a text which should not be taken as a mere satire.40 For although “making Religion a necessary Step to Interest and Favour might increase Hypocrisy,” it is “often with Religion as it is with Love; which, by much Dissembling, at last grows real.”41 But although as far as this point is concerned Swift seems to have argued in the opposite direction of some of his philosophic peers, the Church-of-England Man does distinguish between an “unlimited Liberty of Conscience” and an “unlimited Freedom of Opinion.”42 With regard to the former he elsewhere says that it “may be prudent in me to act sometimes by other men’s reason, but I can think only by my own.”43 And concerning the latter he states that the “want of belief is a defect that ought to be concealed when it cannot be overcome.”44 But all this does not apply to Martin. For as one scholar aptly puts it, behind the “Tale” “stands not a list of philosophical propositions but the idea of a good man.”45 Swift’s reference to the “Weight” of Martin’s arguments (TT VI: 93) may upon first reading come as somewhat of a surprise, especially in light of the frivolous tone of the Tale as a whole. But it was “precisely Swift’s desire for simplicity in religious principles that produced his appearance of frivolity,” as the scholar quoted above succinctly formulates the solution to this paradox.46 The gravitating force of the argument of the “Tale” is illustrated by the downward movement from the beginning towards the center of the book, a movement which subtly depicts Swift as a modern, who has a “tendency towards his Center” (BB: 147; cf. TT EpD: 21). For in conscious opposition to those philosophers of whom a modern like Bacon said that their “discourses are as the Stars, which giue little light because they are so high,”47 the Irishman only exalts himself to a “certain Degree of Altitude” (TT I: 34) in order to be heard. This decision may not be wholly unconnected to the fact that although man’s mind’s “first Flight of Fancy” commonly transports him to “Idea’s of what is 39

“Thoughts on Various Subjects” (Swift, 1957: 243). Swift, 1939: 47. Richard Steele describes the author of the Project as a “man of wisdom as well as piety,” who must have “spent much time in the exercise of both” (Steele, 1808: 41). 41 Ibid., 56 f. Cf. “The Examiner” 30 (Swift, 1940: 92). 42 “Sentiments of a Church-of-England Man” (Swift, 1939: 3). 43 “Thoughts on Religion, in Prose Works” (Swift, 1948: 261). Cf. also 262: “I am not answerable for the doubts that arise in my own breast, since they are the consequence of that reason which he hath planted in me.” 44 Ibid. “Every man, as a member of the commonwealth, ought to be content with the possession of his own opinion in private, without perplexing his neighbor or disturbing the public.” Cf. also 263. 45 Ehrenpreis, 1962: 189. 46 Ehrenpreis, 1983: 70. 47 Bacon, 2000: 180. 40

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most Perfect, finished, and exalted,” it is “with the same Course and Wing” that he “falls down plum into the lowest Bottom of Things” (TT VIII: 103). And this was the situation Swift saw himself confronted with, religion having “grown an Infant with Age,” thus requiring “Miracles to nurse it, as it had in its Infancy.”48 The dean therefore cannot do without the imagination. After all, it is the imagination which can “build nobler Scenes, and produce more wonderful Revolutions than Fortune or Nature will be at Expence to furnish.” For it is in raising the imagination that one achieves what is “generally understood by Happiness”: a “perpetual Possession of being well Deceived” (TT IX: 110 – 11). But in working with the imagination Swift has to act differently from Jack, the third and final of the three brothers, whose “Levity” had increased his zeal, which in its turn had caused him to tear his coat apart before becoming the founder of the sect of the so-called “Aeolists,” who maintain that the original cause of all things is wind (TT VI: 93 – 4; VIII: 99). For contrary to what they who insist that faith is a gift from God (Eph. 2:8) would be willing to admit, our author treats “Religious Enthusiasm” as “wholly an Effect of Art”49 : an art which grows “into Nature” and has a “natural Foundation,” although its “Superstructure is entirely Artificial;” the art, more concretely, of working with the “Temper and Complexion of Individuals” (MOS, 173 – 4): the art, in short, of laughing man into religion.50 After all, “Humour, and Mirth, had Place in all [Swift] writ: He reconcil’d Divinity and Wit.”51 And as the dean points out in a private letter to Alexander Pope, the “levities” of authors like himself have “not the least tincture of impiety.”52 This is not the whole story, however, as it is not merely the fool who laughs. Significantly enough, it is a humorless “Knave” (TTAp.: 13 – 4; EpD: 21) who draws our attention to this point. For it is from William Wotton that we learn that “A Tale of a Tub” is “one of the Prophanest Banters upon the Religion of Jesus Christ, as such, as ever yet appeared.”53 A man with a stronger sense of wit like Voltaire puts it in somewhat less grave terms. For he says that although Swift “pretends to have respected the father while giving a hundred strokes of the birch to the three children, difficult people believed that the stick was so long that it reached as far as the father himself.”54 The conspicuous presence of Lucretius, whose “De Rerum Natura” Swift read no less 48

“Thoughts on Various Subjects” (Swift, 1957: 242). “Swift departs from the pulpit view of unredeemed humanity, because that prospect includes always the mysterious possibility of redemption; and the rhetoric of Swift’s satires does not” (Ehrenpreis, 1983: 451 f.). 50 It is in the sixth paragraph of the sixth section of “A Tale of a Tub” that Swift’s protagonist refers to the sixth and central of the eleven treatises of which he had said at the beginning of the edition which included the “Mechanical Operation of the Spirit” that they were written by the same author: “An Analytical Discourse upon Zeal, Histori-theo-physilogically considered” (TT: 4; VI, 92). 51 “The Author upon Himself” (Swift, 1958a: 193 f.). 52 Letter to Alexander Pope (30 March, 1733) (Swift, 1913a: 414). 53 “A Defense of the Reflections upon Ancient and Modern Learning” (Wotton, 1705: 534). 54 Letter XII to Pope (1734) (Voltaire, 1829: 257). 49

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than three times in the year in which he wrote “A Tale of a Tub”,55 leads us to suspect that there may be some truth to the observations of Wotton and Voltaire; a suspicion which gains more weight if we compare Swift’s statement that he considers it “one of the greatest, and best of humane Actions, to remove Prejudices, and place Things in their truest and fairest Light” (TT VIII: 104), with the original context of the motto of the work. For it is the very first substantial statement in “A Tale of a Tub” (TT: 4) which induces us to read in Lucretius that the philosopher-poet “proceeds to release the mind from the ties of religion.”56 And if we take a closer look at the title of the “Tale”, we find that the “Tub” stands not only for the externals of the tale, but also for the externals of religion. This becomes clear if we consider what Swift says about the genre of fables, a genre which he himself employs, as he subtly argues.57 For although “superficial” readers will “by no means be persuaded to inspect beyond the Surface and Rind of Things,” since it is the “beautiful Externals” that are made for their “Gratification,” wisdom is in fact a “Sack-Posset, wherein the deeper you go, you will find it the sweeter.”58 In consequence of these “momentous Truths,” Swift chose to shut up his “Precepts” and “Arts” within the “Vehicle” of a tale (TT I: 41 – 2). What the sweetness underneath the beautiful exterior consists in becomes apparent if we move to the section which distinguishes between the credulous and the curious. For in this section we learn that the reason why credulity is preferable to curiosity is that entering into the “Depth of Things” causes one to discover that “in the inside they are good for nothing” (TT IX: 111). Consequently, the credulous puts “Reason” aside and confines himself to “Sight” and “Touch,” to the external senses so to speak. Strangely enough though, Swift goes on to say that he is “truly wise” who can with Epicurus “content his Ideas with the Films and Images that fly off upon his Senses from the Superficies of Things,” leaving the “Sower and the Dregs, for Philosophy and Reason to lap up” (TT IX: 112). For one can hardly accuse either Epicurus or Lucretius of having shrunk back from reason and philosophy, although they did employ what one may call a dissecting approach to philosophical matters, a more philosophical version, one might say, of the method that we will encounter in a surgeon like Lemuel Gulliver. That what Swift is actually conveying to the learned reader is that only he is truly wise who knows how to play the fool while beholding the sweet view of the “Carcass of Humane Nature” (TT V: 81);59 who knows, in other words, to pretend to admire the beauty of man’s “outward Dress” while gaining insight into the “senseless unsavory Carcass” that is the human body or man’s “Natural Suit” (TT II: 50); who knows, in still other words, with such “Innovators in the Empire of Reason” like 55

This appears from Swift’s “Moor Park Reading List” (Swift, 2010: 273). Lucretius, “De Rerum Natura”, I.926 ff. In his “Remarks upon Tindall’s Rights of the Christian Church” Swift says that the intention of Lucretius is “to free Men’s Minds from the Bondage of Religion” (Swift, 1939: 70). 57 The dean explicitly says that he lists his treatise under the class of the works of the “Grubean Sages,” before saying that it is the Grubean Sages who write fables (TT I: 41 f.). 58 This is the third and central of five metaphors for wisdom. 59 This expression is preceded by the central quotation from Lucretius in “A Tale of a Tub”. 56

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Lucretius how to “strike gently” upon the “peculiar String in the Harmony of Human Understanding, which in several individuals is exactly of the same Tuning” (TT IX: 108); that Swift, to summarize the previous points, is conveying to us that he is imitating Lucretius in pretending to confine himself to criticizing superstition while in fact penetrating into religion itself,60 is proven if we read that the more man “shapes his Understanding by the Pattern of Human Learning,” the more he will “pass his Life in the common Forms” (TT IX: 110). But although the previous observations make clear that Swift was lying when he said that no opinion can be “fairly deduced” from his book which is “contrary to Religion or Morality” (TT Ap.: 6), Samuel Clarke was wrong in suggesting that Swift’s “Practise and Behaviour is exactly agreeable to that of the most openly professed Atheists.”61 This becomes apparent if we take a closer look at Swift’s “Abstract” of a treatise by one of these atheists: Anthony Collins’ “Discourse of Freethinking”; an abstract by means of which our author subtly transmits his problems with public atheism. For whereas Swift makes Collins say that freethinking consists not only in having free thoughts, but also in “telling those Thoughts to every Body, and endeavouring to convince the World of them,” Collins himself refrains from making this explicit addition.62 And whereas in response to the reproach that freethinking would “produce endless Divisions in Opinion, and by consequence Disorder in Society” Collins says that if anyone is able to lay down a rule to prevent such diversity which “will not be a Remedy worse than the Disease,” he will “yield up the Question,” Swift simply makes him state that “if all People were of the same Opinion, the Remedy would be worse than the Disease,” and that he will tell the reason of this “some other time”63 – thus suggesting that there may not be such a reason, or at least that the freethinkers did not put sufficient thought into the matter. Whereas, to give another example, Collins himself merely states that “Zeal for imposing Speculations does destroy the Practice of Morality,” and that “every Religious Sect gives us a proof of it,” Swift makes him say that “Zeal for imposing Speculations, whether

60 Swift gives two groups of three “Introducers of new Schemes in Philosophy.” The first group, consisting of three ancients, is guided by Epicurus. The second group, led by Lucretius, is completed by the modern authors Descartes and Paracelsus (TT IX: 107 f.). 61 Clarke, 1706: 28 f. 62 Cf. “Mr. Collins’s Discourse on Freethinking” (Swift, 1957: 30, 36, 38) with Collins, 1713: 5, 101. That Swift believed the freethinkers might have chosen an approach he could have partially agreed with appears from his statement that “although it may afford a large Field of Matter, yet, in my poor Opinion, [Free-Thinking] seems to contain very little, either of Wit or Humour; because, it hath not been antient enough among us, to furnish established authentick Expressions; I mean such as must receive a Sanction from the polite World, before their Authority can be allowed; neither, was the Art of Blasphemy or Free-Thinking invented by the Court, or by Persons of great Quality, who properly speaking, were Patrons rather than Inventors of it, but first brought in by the Fanatick Faction, towards the End of their power” (“A Complete Collection Of Genteel and Ingenious Conversation”, Swift, 1957: 108 f.). 63 Cf. Swift, 1957: 39 with Collins, 1713: 101.

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true or false […] has done more hurt than it is possible for Religion to do good.”64 Furthermore, whereas Collins confines himself to saying that the Roman writer Marcus Terentius Varro said that there were “many Things false in Religion, which it was not convenient for the Vulgar to know,” Swift makes him add that in this regard “I differ from him.”65 And finally, whereas Collins simply states that Socrates was a freethinker who was calumniated for an atheist, Swift makes him add that contrary to atheists, freethinkers “never trouble [themselves] to think whether there be a God or no, and forbid others to do it.”66 This brings us to our final point. For one of Swift’s more profound reasons for proposing in his “Argument against Abolishing Christianity” to retain a “nominal Religion” may have been that such a religion would provide “curious and inquisitive Men” with a concept of the “Being of a God, and His Providence” from which they could draw the “necessary consequences;” the immediate political occasion for the proposal was that it enabled the Irishman to provide the “Free-Thinkers” with a subject “whereon to display their Abilities,” so as to prevent them from abusing the government.67 In accordance with this point, we read at the beginning of “ATale of a Tub” that one of the main reasons why Swift wrote the piece was that he could thus divert those wits who would otherwise find the leisure to “pick Holes in the weak sides of Religion and Government.” The dean explains this by referring to the custom of seamen who upon encountering a whale throw the animal an empty tub in order to divert him from laying violent hands on the ship. Swift equates the whale with Hobbes’ “Leviathan”, which “tosses and plays with all other Schemes of Religion and Government,” and the ship in danger with its “old Anti-type the Commonwealth.” We should leave aside the question whether or not Hobbes himself ultimately played with religion and politics because he believed his “labour, as useless, as the commonwealth of Plato.”68 After all, “how to analyze the Tub, was a Matter of difficulty” (TT Pr.: 25). To confine ourselves, therefore, to the freethinkers, we find that the “literal Meaning” of the empty tub was preserved. It was therefore decreed by 64

Cf. Swift, 1957: 40 (emphasis mine) with Collins, 1713: 115. Cf. Swift, 1957: 43 with Collins, 1713: 134. 66 Cf. Swift, 1957: 42 with Collins, 1713: 123 – 6. 67 Swift, 1939: 29, 36 f. 68 “Leviathan” II.XXXI (Hobbes, 1839: 357). That Swift was aware that Hobbes’ thought cannot be reduced to the surface teaching of “Leviathan” appears from his remark that upon comparing “Enemies of Christianity” like Hobbes to the freethinkers, “the Church appeareth to [him] like the sick Lion in the Fable, who, after having his Person outraged by the Bull, the Elephant, the Horse, and the Bear, took nothing so much to Heart, as to find himself at last insulted by the Spurn of an Ass” (“Remarks upon Tindall’s Rights of the Christian Church”, Swift, 1939: 72). The dean elsewhere says that he grants that “those daring Spirits, who first adventured to write against the direct Rules of the Gospel, the Current of Antiquity, the Religion of the Magistrate, and the Laws of the Land, had some Measures to keep; and particularly when they railed at Religion, were in the right to use little artful Disguises, by which a Jury could only find them guilty of abusing Heathenism or Popery” (“Mr. Collins’s Discourse of Freethinking”, Swift, 1957: 27). 65

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Swift that in order to “prevent these Leviathans from tossing and sporting with the Commonwealth […] they should be diverted from that Game by a Tale of a Tub” (TT Pr.: 25). IV. It was, however, only in anticipation of “certain Projects for taking off the Force, and Edge” of the “Wits of the present Age” that the dean threw them an empty tub. He “at Length fixed upon one,” which found its way into the central chapters of “Gulliver’s Travels” (cf. TT Pr.: 25 with GT III.IV: 249 ff.). But when we set aside this playful cross-reference, we find that on a more substantial level “Gulliver’s Travels” complements “ATale of a Tub” in the sense that whereas the latter work attempted to laugh man into religion by the example of learning, the former tries to shame him into it by the example of politics. It does so by contrasting political history with basic human nature in Books I and II, and scientific politics with simple morality in Books III and IV. In order to materialize his intention most effectively Swift provides the protagonist of the piece, Lemuel Gulliver, whose last name implies a claim to veracity (“ver”) as well as a potential to be deceived (“gull”),69 and whose first name alludes to his future role as a moral teacher (Prov. 31), with the curiosity necessary to be set and kept in motion (GT I.VIII: 107; II.I: 122; II.V: 168 – 9; III.VII: 288), the tools needed to see (GT I.II: 55), the skills needed to dissect, but also the naïveté necessary to be fooled (GT I.I: 29). And fooled he will be – by the very same moralism which made him susceptible to deception in the first place. After all, it was first and foremost his “Conscience,” which would not “suffer [him] to imitate the bad practice of too many among” his fellow surgeons (GT I.I: 31), that made the veracious deceiver decide to turn to the sea. Before setting sail for Lilliput, Gulliver had only read “the best Authors, ancient and modern” (GT I.I: 31), and all his life he had been a “Stranger to Courts” (GT I.VII: 96). He soon turns out to be superior, however, to those who were familiar with political life. This superiority is illustrated most plastically by the size difference between our traveler and the Lilliputians, who represent his politically experienced contemporaries, but it is also alluded to by the many contemporary allusions in Book I in conjunction with the Lilliputians’ typically “modern” characteristic to “see with great Exactness, but at no great Distance” (GT I.VI: 82). Gulliver gradually loses the most conspicuous of his illusions though (GT I.V: 76 ff.), to the point of being “ashamed” at his contemporaries (GT I.VI: 84; cf. III.VIII: 298), a feeling he had not known before (GT I.II: 43 f.). Book I shows the “most scandalous Corruptions” into which the Lilliputians had fallen through the “degenerate Nature of Man” (GT I.VI: 87), although the pygmies themselves were unaware of this inherent natural tendency, as they were unaware of the power of time. After all, they believed the clock to be Gulliver’s God (GT I.II: 52). 69 See Swift, 2012: 452. The 1735-version of the frontispiece portrait of Gulliver is accompanied by the Horatian phrase “splendide mendax” (“Odes”, XI.35). Cf. ibid.: 4 (note).

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Their “original Institutions,” however, were good, as Swift makes Gulliver point out to the “curious Reader” (GT I.VI: 82, 87). They took a “Disbelief in Divine Providence” to render a man “uncapable of holding any publick Station.” In accordance with this foundational article, they used to have more regard for “good Morals” than for “great Abilities” when choosing their officials. For they thought that the practice of moral virtues, “assisted by Experience and a good Intention,” could never be supplied by “superior Endowments of the Mind,” since “Mistakes committed by Ignorance in a virtuous Disposition” would “never be of such fatal Consequence to the Publick Weal” as the “Practices of a Man, whose Inclinations led him to be corrupt, and had great Abilities to manage, to multiply, and defend his Corruptions” (GT I.VI: 86 – 7). But all this was no longer to be found in Lilliput. Gulliver’s “insatiable” – or rather unsatisfied – “Desire of seeing foreign Countries” (GT I.VIII: 112) therefore brought him to Brobdingnag, and as far as the first two books of “Gulliver’s Travels” are concerned, Dr. Johnson had a point when he said that “[w]hen once you have thought of big men and little men, it is very easy to do all the rest.”70 For, as Gulliver himself puts it, “nothing is Great of little otherwise than by Comparison” (GT II.I: 124). And compared to a people without the corruptive powers of history, science, and commerce with other peoples (GT II.IV: 157; II.VII: 191, 195), Gulliver, who by now has had the chance to behold himself in the mirror of his contemporaries, is small. Having returned from his second journey he even goes so far as to say that he began to “think [him]self in Lilliput” (GT II.VIII: 213). But contrary to Lilliput, in Brobdingnag Gulliver is ashamed not of others but of himself. However, in the country of giants it is also Gulliver who sees with greater exactness (GT II.V: 167), and after his eyes had grown accustomed to the size difference every object turned out to be of “proportionable Magnitude” (GT II.III: 151; II.V: 164). Moreover, “human Creatures are observed to be more Savage and cruel in Proportion to their Bulk,” as a “Person of Learning” in Lilliput had pointed out to Gulliver, and as Gulliver himself points out to the “gentle Reader” (GT II.I: 124, 131, 133; II.VI: 178). And indeed, Gulliver is treated in a savage and cruel way, and the only person who is ashamed at this, in fact, the only person who knows shame at all (GT II.V: 167), is a little girl (GT II.II: 137). But although the previous observations may have taught Gulliver the inherent potential of giants to turn into dwarfs, there is also something to be learned from the big men that our traveler could not have read in the ancient authors. For although the king of Brobdingnag was “curious and inquisitive upon every Particular” of Gulliver’s account of Europe, since he “should be glad to hear of any thing that might deserve Imitation” (GT II.VI: 179, 182; II.VII: 190), when Gulliver told him about the invention of gunpowder he was not only “struck with Horror,” but also “amazed” at such “inhuman Ideas,” ideas of which “some evil Genius, Enemy to Mankind, must have been the first Contriver.” Concluding that “few Things delighted him so much as new Discoveries in Art or in Nature,” 70

Boswell, 2008: 433 f.

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but that he would “rather lose Half his Kingdom than be privy to such a Secret,” he thus commanded Gulliver never to mention it again (GT II.VII: 192 – 3). But Gulliver had already mentioned it, despite the fact that he was about to read in the histories of Brobdingnag that the only “Disease” they knew as far as military matters are concerned was the one “to which the whole Race of Mankind is Subject”: the disease of civil war (GT II.VII: 200 – 1). Being ancients, they had no knowledge of the foreign wars that are allegorized by the invention of gunpowder, which in its turn allegorizes the wars of religion. Since, however, their king “knew no Reason, why those who entertain Opinions prejudicial to the Publick” should “not be obliged to conceal them” (GT II.VI: 187), they turned out to be the “least Corrupted” of the peoples Gulliver visited, whose “wise Maxims in Morality and Government, it would be our Happiness to observe” (GT IV.XII: 438) – if we had lived in unhistorical times, that is. In order to show the contrary danger of science without knowledge of politics Swift sends Gulliver, who still has a “Thirst” of “seeing the World” (GT III.I: 218), on his third journey, to an island whose inhabitants had one of their eyes “turned inward,” and the other “directly up to the Zenith” (GT III.II: 226), thus signifying that they were unaware of what was going on around them. They were not only “clumsy, awkward, and unhandy,” and complete strangers to “Imagination, Fancy, and Invention,” but also “very bad Reasoners,” who were “vehemently given to Opposition” though. But despite all these shortcomings, they constantly occupied themselves with politics, although they had “not the least Curiosity to enquire into the Laws, Government, History, Religion, or Manners” of the countries where Gulliver had been (GT III.II: 234 – 5, 238 – 9).71 Gulliver’s deception is now complete, which means that he is finally ready for the positive part of his education. The traveler’s disappointment is illustrated by the fact that contrary to Books II and III, it is money that causes him to embark on his final journey; the prospect of an alternative, on the other hand, is indicated by him traveling with the same ship that brought him to Brobdingnag (cf. GT IV.I: 330 with II.I: 117). But whereas the giants portrayed man looked at from an intra-human perspective, in the country of the Houyhnhnms man is considered from a sub-human viewpoint. For as appears from their wildness, nakedness, dark skins and hairy bodies, the Yahoos represent man in his passionate, shameless, and pre-moral state. Gulliver, by contrast, has grown dispassionate, wears clothes, has a white and smooth skin, and walks on his two “hinder Feet” (GT IV.I: 333 f.; IV.II: 343; IV.III: 348 ff.). In short, and to put it in terms of “A Tale of a Tub”, he is almost ready to put on his coat. But first man’s sub-humanity has to be viewed from a positive angle. Swift therefore makes Gulliver encounter the Houyhnhnms, a homophone for “unanimous.” 71 Swift’s knowledge of modern science is a matter of ongoing debate, especially since the dean himself confesses that he “too much neglected his Academical Studyes, for which he had no great relish by Nature, and turned himself to reading History and Poetry” (“Family of Swift”, Swift, 1962: 192). For purposes of the present essay, however, it suffices to quote Sir Walter Scott, who rightly observed that the satire of Laputa “rather aimed against the abuse of philosophical science than at its reality” (Scott, 1829: 222).

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These mild and tender horses, whose name means “Perfection of Nature” (GT IV.III: 350), have very few wants and passions (GT IV.IV: 356), no eros (GT IV.VIII: 404), no letters (GT IV.IX: 411), and “not the least Idea of Books or Literature” (GT IV.III: 348). They know no shame (GT IV.III: 351), they do not lie (GT IV.IV: 349), and they have no word in their language to express anything that is evil (GT IV.IX: 414). Thus, they remind one of man prior to the fall, an image which must have been particularly appealing to Gulliver after having heard the account of the Struldbruggs, people who never die but who do suffer from the infirmities of old age (GT III.X: 309 ff.). Contrary to initial appearances though, the horses are not simply to be imitated, as appears from an anecdote which should remind us of its parallel in Book II. For after telling one of the Houyhnhnms about the details of modern warfare Gulliver is commanded to be silent, since his account gave his animal interlocutor a “Disturbance of Mind, to which he was wholly a Stranger before.” The horse explained his apprehension by saying that if a “Creature pretending to Reason could be capable of such Enormities, he dreaded lest the Corruption of that Faculty might be worse than Brutality itself.” He “seemed therefore confident, that instead of Reason [men] were only possessed of some Quality fitted to increase [their] natural Vices” (GT IV.V: 366 – 7; cf. IV.IV: 358 – 9; IV.VII: 389 – 90). But the steed’s confidence was not justified, as becomes clear if we take a closer look at the Houyhnhnms’ conception of reason. For it is only because they are “endowed by Nature with a general Disposition to all Virtues, and have no Conception or Ideas of what is evil in a rational Creature,” that their “grand Maxim” is to “cultivate Reason, and to be governed by it.” Gulliver emphasizes that to the horses reason is thus not a “Point problematical” as it is with man, who can “argue with Plausibility on both Sides of a Question.”72 According to them, reason strikes one “with immediate Conviction; as it must needs do where it is not mingled, obscured, or discoloured by Passion and Interest” (GT IV.VIII: 401 – 3). But the “reason” of animals who use hoofs as the credulous in “A Tale of a Tub” used sight and touch, is not in truth reason. In fact, the Houyhnhnms do not even have speech. After all, their language did “not abound in Variety of Words,” and it “expressed the Passions very well” (GT IV.IV: 356). Moreover, they could only be addressed by way of similitudes (GT IV.IV: 358 – 9), and they were “astonished” at Gulliver’s “Capacity for Speech and Reason” (GT IV.I: 338; IV.III: 352). George Orwell went so far as to call them “backward.”73 72

Fittingly enough, the actual problematic potential of reason is illustrated by the Houyhnhnm who had been exposed to Gulliver. For although he had been “exhorted” either to employ Gulliver like the rest of his species, or to command him to “swim back to the Place from whence [he] came” – and man can only be “exhorted; because no Person can disobey Reason, without giving up his Claim to be a rational Creature” –, he says that “for his own Part he could have been content to keep [Gulliver] in his Service as long as [he] lived” (GT IV.X: 422 f.). 73 Orwell, 1968: 210. See also the judgment of John Boyle, Earl of Orrery: “We there view the pure instincts of brutes, unassisted by any knowledge of letters, acting within their own narrow sphere, merely for their immediate preservation. They are incapable of doing wrong, therefore they act right. It is surely a very low character given to creatures, in whom the author

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What, then, is Gulliver to learn from them? Not to rid himself of instrumental speech and reason, seeing that a “good and honest man cannot correct and amend those who are evil and wicked without first exploring all the hiding-places and depths of evil,” as we learn from Bacon.74 Neither to pull off his clothes, which signify the moral foundation of religion. Rather, in an effort to have passion and interest result in practical reason, Gulliver has to put on a coat of animals who have enough pride to feel “noble Resentment” (GT IV.IV: 356), but also enough simplicity for religion not to become a problem. In short, he has to wear the skin of horses whose image can shame man into being “content with those Vices and Follies only which Nature hath entitled them to” (GT IV.XII: 443) – an “Instance of the great Power of Habit and Prejudice” (GT II.VIII: 214; cf. IV.II: 345). If looked at from a nonmoral viewpoint, this teaching may shed some light on the question why Swift says that “the whole Building” of his Travels is erected upon a “great foundation of misanthropy.” For seeing that the dean’s “hatred of man” is “not in Timon’s manner,” who is said to have supported Alcibiades in his assault on the city of Athens,75 if man is considered not as “animal rationale” but only as “rationis capax,” the implication may be that Swift’s inversion of the commonplace that men may degenerate into beasts is itself in need of being inverted.76 After all, not just Yahoos are beasts. Having been exposed to the Houyhnhnms, Gulliver develops a “firm Resolution never to return to human Kind” (GT IV.VII: 388). But he does return, although he fails to bring with him the horses’ inability to say “the thing which was not” (GT IV.III: 349), as we are led to observe on the basis of the quotation from Virgil by means of which he supports his professed adherence to the truth: “If Fortune has made Sinon miserable, she will not […] make him false and lying” (GT IV.XII: 437). For the original context of this quotation presents a man attempting to persuade the Trojans to take a wooden horse within their walls, a horse which was to bring about the destruction of their city. Does Gulliver know though, what he is getting himself into by suggesting to “send a sufficient Number” of Houyhnhnms to his part of the world for purposes of “civilizing Europe” (GT IV.XII: 440)? That in fact he may not is suggested by his own statement, made a couple of chapters earlier, that in considering natural philosophy useless the horses “agreed entirely with the Sentiments of Socrates, as Plato delivers them.” Gulliver adds that he mentions this agreement “as would insinuate some 1degree of reason, that they act inoffensively, when they have neither the motive nor the power to act otherwise. Their virtuous qualities are only negative. Swift himself, amidst all his irony, must have confessed, that to moderate our passions, to extend our munificence to others, to enlarge our understanding, and to raise our idea of the Almighty by contemplating his works, is not only the business, but often the practice, and the study of the human mind” (Boyle, 1752: 120). 74 “De Augmentis Scientiarum” VII.2 (Bacon, 1858: 729). 75 Letter to Pope (29 September, 1725) (Swift, 1912: 277). In another letter to Pope (26 November, 1725, ibid.: 293), Swift emphasizes that he does “not hate mankind.” Cf. also Swift, 1913b: 419. See Shakespeare, “Timon of Athens”, Act IV, Scene III ff. 76 “Beasts may degen’rate into Men” (“The Beasts Confession to the Priest”, Swift, 1958b: 608). Cf. Swift, 1912: 367.

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the highest Honour” he could do to that “Prince of Philosophers” (GT IV.VIII: 401 – 3).77 An even higher honor is bestowed upon Plato by the dean himself, who elsewhere claims that “What is, is best, is the thought of Socrates in Plato, because it is permitted or done by God.”78 But contrary to what is permitted by God, inside the exterior of simple religion undisguised as learning we find Swift transporting learning disguised as simple religion. *** This changes nothing about the fact though, that the Houyhnhnms, who represent the ancients, are not prepared for war (GT IV.XII: 439) – which brings us to our final point. Did Swift possess the necessary equipment to wage war against the mutually corrupting entanglement of religion and learning? Our author himself says that the “chief end” he proposed to himself in all his “labours” was to “vex the world rather than to divert it.”79 But ridicule and shame may easily lead to a misanthropy that even more easily results in nihilism, especially if it is true that “Swift never troubled himself to assign any philosophical basis for his doctrines.”80 What is more, if one curbs man’s pride in a spirit of ridicule one runs the danger of throwing away the baby with the bathwater, to say nothing of the truth of Sir Walter Scott’s observation that the “indirect consequences of ridicule, when applied to subjects of sacred importance, are more extensive, and more prejudicial than can be calculated by the author.”81 That there are also other possibilities of restoring the relationship between science and morality in modern times is shown by a citizen from Geneva. Should we therefore disagree with Swift that “if he often miss’d his Aim, the World must own it, to their Shame;” and that “The Praise is His, and Theirs the Blame”82 ?

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Gulliver’s ability to read this agreement into Plato may explain why Swift elsewhere mentions the “defects” of “Epicurean” as compared to “Platonic” philosophy (“On the Death of Mrs Johnson”, Swift, 1962: 235). 78 Letter to Pope (1 May, 1733) (Swift, 1965: 153). 79 Letter to Pope (29 September, 1725) (Swift, 1912: 276). 80 Stephen, 1882: 45. An early critic of Swift says that “MISANTHROPY is so dangerous a thing, and goes so far in sapping the very foundations of MORALITY and RELIGION, that [he] esteem[s] the last part of Swift’s Gulliver […] to be a worse Book to peruse, than those which we forbid” (Harris, 1781: 537). 81 Scott, 1829: 59. 82 “Life and Character of Dr. Swift” (Swift, 1958b: 550).

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Europa in der Sackgasse Überlegungen zur Verfasstheit der Europäischen Union Von Klaus Weber Abstract Die Integration der Europäischen Union (EU) lässt sich nach Meinung mancher Experten nur dann realisieren, wenn Einschränkungen vor allem beim Parlamentarismus und bei den Prinzipien von Demokratie und Gewaltenteilung hingenommen werden. Der Autor möchte dem ein anderes Konzept entgegensetzen. Zunächst wird gefragt, welche Zwecke die EU erfüllen soll. Dann werden der Zustand der EU-Mitgliedstaaten, die unterschiedliche Staatlichkeit in der EU, Fragen der Souveränität und der Supranationalität, Implikationen der Europäisierung und die Problematik des Vorrangs des Unionsrechts vor dem nationalen Recht erörtert. Anschließend werden Bundesstaat, Bund, Konföderation, Imperium, Weltstaat und einige Gefährdungen der EU thematisiert. Schließlich folgen Abschlussbetrachtungen und Vorschläge für eine verbesserte Verfasstheit der EU. Es wird vorgeschlagen, die EU als Konföderation mit begrenzter Supranationalität zu konzipieren. Dadurch könnten die Zwecke der EU ohne die oben genannten Einschränkungen erfüllt werden.

I. Einleitung Die EU wird zunehmend skeptisch hinterfragt. Um die möglichen Gründe für die Skepsis zu erfassen, diskutiert der vorliegende Text Fragen der Verfasstheit der EU. Ausgangspunkt der Betrachtung ist dabei die Vorstellung, dass die EU drei Zwecken dienen soll, die vom einzelnen Nationalstaat nicht erfüllt werden können: Sicherung des Friedens in Europa,1 Schaffung von Wohlstand durch wirtschaftliche Integration2 und Ausgleich für die im globalen Maßstab geringe Größe ihrer Mitgliedstaaten.3 Über diese Zwecke hinausgehende Ziele wie die Sicherung von Freiheit, Sicherheit und Recht und die Befriedigung spezifischer Interessen einzelner Nationalstaaten durch die europäische Integration hätten auch (zum Teil) ohne Union erreicht werden können.4 1 Vgl. Huber, 2008: Rn 7; Langewiesche (2011: 32 ff.) zeigt auf, dass der Nationalstaat zur Kriegsführung neigt; aber auch andere Herrschaftsverbände wie die Polis haben oft Kriege geführt. 2 Blankart (2011: 693) spricht vom „größten Erfolg der EU“; siehe auch Majone, 2005: 42 – 43. 3 Münkler (2013: 245) spricht von der „imperialen Herausforderung Europas“. 4 Zu den Zielen der EU: Huber, 2008: 407 – 408 und Kirchhof, 2012: 307 ff.

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II. Rechtliche Gleichheit versus faktische Ungleichheit der EU-Mitgliedstaaten 1. Rechtliche Gleichheit der Mitgliedstaaten Die EU ist durch einen völkerrechtlichen Vertrag zu einer internationalen Organisation geworden. Dementsprechend ist in Art. 4 des Europäischen Unionsvertrags (EUV) bestimmt, dass die Union die „Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen“ achtet. Internationale Organisationen sind „auf Dauer berechnete Verbindungen zwischen souveränen Staaten“.5 Die völkerrechtliche Gleichheit souveräner Staaten muss zwar bei der Gründung der internationalen Organisation, aber „nicht wesensnotwendig in der Stimmengleichheit“ der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommen.6 Die auf einem völkerrechtlichen Vertrag basierende Gleichheit bedeutet, dass eine Einmischung in interne Angelegenheiten durch andere Akteure ausgeschlossen ist. Allerdings können Staaten Hoheitsrechte an eine internationale Organisation freiwillig abgeben. Dies ist in der EU der Fall. Trotz der Abgabe von Hoheitsrechten bleiben die EU-Mitgliedstaaten souverän, was an ihrem Recht zum Austritt aus der EU ersichtlich ist. 2. Faktische Ungleichheit der Mitgliedstaaten Rechtliche Gleichheit schließt faktische Heterogenität der Mitgliedstaaten jedoch nicht aus. Letztere kommt zum einen in den Unterschieden von Bevölkerungszahl, geographischer Lage, Wirtschaftskapazität und Ähnlichem zum Ausdruck. Größenmäßig kann man in der EU zwischen großen, mittleren, kleinen und sehr kleinen Staaten unterscheiden.7 Zum anderen unterscheiden sich die Mitgliedstaaten der EU faktisch auch hinsichtlich der Qualität ihrer Staatlichkeit. Beispiele für eine gelungene Staatlichkeit sind die recht früh entwickelte Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und die Herausbildung eines geordneten institutionellen Staatsgefüges in England vor allem seit der „Glorious Revolution“ von 1688. Die Rechtsstaatlichkeit verlangt die Bindung aller staatlichen Gewalt an das Recht und sichert die persönliche Freiheit.8 Acemoglu und Robinson halten politisch und ökonomisch inklusive Institutionen für entscheidend für das Wohlergehen eines Volkes.9 Die gute institutionelle Ordnung des modernen Staates hat seine Vorläufer in den Vorstellungen von den guten politischen Ordnungen der griechischen Polis.10 Nach Schneckener liegt konsolidierte Staatlichkeit vor, wenn die Sicherheit, Wohlfahrt und Legitimität bzw. Rechtsstaatlichkeit des Staates gewährleistet sind.11 Gleichwohl existieren Probleme 5

Seidl-Hohenveldern, 1994: 188; siehe auch V. Epping in: Ipsen, 1999: 71 ff. V. Epping in: Ipsen, 1999: 75 – 76. 7 Siehe dazu Einzelheiten in Kapitel VIII.1. 8 Vgl. Benz, 2008: 134 ff.; Pilz und Ortwein, 2008: 12 ff. 9 Vgl. Acemoglu/Robinson, 2012: 70 ff. 10 Vgl. Ottmann, 2001: 1 – 236. 11 Vgl. Schneckener, 2006: 21 ff.; zum Rechtsstaatsprinzip siehe Di Fabio, 1998: 50 ff. 6

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hinsichtlich der Staatlichkeit auch in gut aufgestellten Mitgliedstaaten. Beispiele hierfür sind der umstrittene Länderfinanzausgleich in der BRD12 und der übertriebene, wenn auch in letzter Zeit abgemilderte Etatismus in Frankreich.13 Zudem gibt es unterschiedliche Auffassungen über Rechtsstaatlichkeit zwischen Deutschland, Großbritannien und Skandinavien einerseits und Frankreich und Italien andererseits.14 Wie man in der griechischen Polis schlechte politische Ordnungen kannte, gibt es auch in der Neuzeit den schlecht verfassten Staat. Heute wird von fragiler oder gar fehlender Staatlichkeit gesprochen. Merkmale fragiler Staatlichkeit sind nach Schneckener ein mehr oder weniger großer Mangel an Sicherheit, Wohlfahrt und/oder Legitimität bzw. Rechtsstaatlichkeit.15 Bei Acemoglu und Robinson sind es räuberische („extractive“) Institutionen.16 Hat sich einmal in einem Staat ein räuberisches Regime etabliert, bleibt der räuberische Charakter des Staates nach einer Transformation, ja selbst nach einer Revolution oft unverändert.17 Diesbezüglich sind die ehemaligen Ostblockstaaten der EU gefährdet. Hinzu kommt bei einigen EU-Mitgliedstaaten wie Griechenland, Rumänien und Bulgarien die Tradition des orthodoxen Christentums, in dessen Bereich es keine Aufklärung und keine Trennung von Kirche und Staat gegeben hat.18 In diesen Staaten konnte sich die Tradition von Rechtsstaatlichkeit und Demokratieverständnis nicht so gut entwickeln wie im Bereich des westlichen Christentums.19 Darüber hinaus weisen Beobachtungen in einigen früheren Ostblockländern der EU auf starke Korruption und ein mangelndes Vertrauen der Bevölkerung in die eigene Demokratie hin.20 In mehreren neuen EU-Mitgliedstaaten ist man zum Teil bestrebt, die eigenen nationalen Probleme mit Hilfe der EU zu lösen. Daher ist dort die Akzeptanz der EU meistens besser als in den etablierten EU-Mitgliedstaaten.21 Bei der Beurteilung der EU sollte somit nicht übersehen werden, dass auf horizontaler Ebene die völkerrechtliche Gleichheit der EU-Mitgliedstaaten von der faktischen Heterogenität derselben überlagert wird. Bezogen auf die Qualität der Staatlichkeit gibt es darüber hinaus auf der vertikalen Ebene einen Unterschied zwischen der EU einerseits und ihren Mitgliedstaaten andererseits, wie in Kapitel III aufgezeigt wird. Das hier vorgestellte Mehrebenenkonzept unterscheidet sich damit zum Teil von der so genannten Governance im Mehrebenensystem („multilevel 12

Vgl. Pilz und Ortwein, 2008: 51 – 58; Blankart, 2011: 706 ff. Vgl. Uterwedde, 2006; ungebrochene etatistische Tradition bei Hillgruber, 2006: 264. 14 Vgl. Geppert, 2013: 91 – 92. 15 Vgl. Schneckener, 2006: 21 ff. 16 Vgl. Acemoglu/Robinson, 2012. 17 Vgl. Acemoglu/Robinson, 2012: 335 ff. 18 Vgl. Winkler, 2013: 20 und 1194 – 1195. 19 Vgl. Böckenförde,1997: 50; Winkler, 2013: 1194 – 1195; dazu auch Grimm, 1995: 40. 20 Vgl. Haller, 2009: 121 ff. und 272 ff. 21 Vgl. Haller, 2009: 292 ff. 13

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governance“), bei dem vor allem die Koordination verschiedener Ebenen angesprochen wird.22 III. Die unterschiedliche Qualität der Staatlichkeit von EU und Mitgliedstaaten 1. Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland (BRD) Im vorliegenden Text kann die Qualität der Staatlichkeit der EU nicht mit der Qualität der Staatlichkeit aller EU-Mitgliedstaaten verglichen werden.23 Daher möge vor allem die BRD als Beispiel für einen Mitgliedstaat dienen. Die BRD wird trotz ihrer „offenen Staatlichkeit“24 und trotz der „Öffnung des deutschen Souveränitätspanzers“25 als „souveräner Staat aus eigenem Recht“ und „letzte verbindliche Instanz“ verstanden.26 Die BRD zeichnet sich unter anderem nach Art. 20 Abs. 1 – 3 Grundgesetz (GG) als demokratischer und sozialer Bundesstaat durch Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität aus 27 und beachtet nach Art. 1 – 19 GG die Grundrechte, zu denen Menschenwürde und Menschenrechte gehören. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind in der BRD nicht nur verfassungsmäßig verbürgt, sondern sie werden auch im Prinzip real gelebt. Außerdem gehört die BRD wie die anderen Mitgliedstaaten der EU zu den „Herren der Verträge“.28 Man kann daher davon ausgehen, dass die BRD angesichts der Abgabe von Hoheitsrechten an die EU nach Art. 24 Abs. 1 GG derzeit nur noch eine potenziell erstklassige Staatlichkeit aufweist.29 Allerdings könnte die BRD erneut die uneingeschränkte Erstklassigkeit der Staatlichkeit durch Austritt aus der EU und dem damit verbundenen Zurückholen der Hoheitsrechte erlangen. Außerdem bedeutet die Abgabe von Hoheitsrechten lediglich den „Verzicht auf deren Ausübung“.30

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Vgl. Benz, 2009: 13 ff. Nach A. Benz (2008: 312) ist Staatlichkeit die „institutionelle Form des modernen Staates“. 24 Huber, 1996: 29 ff. und 2008: 403 – 458. 25 Huber, 1996: 31. 26 Bundesverfassungsgericht (BVerfGE) 89: 155 ff. 27 Die Volkssouveränität ergibt sich aus Art. 20 Abs. 2 GG. 28 BVerfGE 89: 155 ff. 29 Potenziell erstklassige Staatlichkeit beinhaltet demnach gelebte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Souveränität aus eigenem Recht und Einschränkung der Staatlichkeit durch Abgabe von Hoheitsrechten an die EU, schließt jedoch die Möglichkeit der Rückholung der Hoheitsrechte durch Austritt aus der EU ein; siehe dazu auch BVerfGE 89: 155 ff. und 123: 267 ff. 30 Vgl. Möllers, 2011: 394. 23

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2. „Staatlichkeit“ der EU Die EU ist ein Staatenverbund31 und kein Staat, schon gar nicht ein Bundesstaat32 und erst recht kein Einheitsstaat. Sie besitzt „Nicht-Staatlichkeit“33 oder „zusammengesetzte Staatlichkeit“34 oder befindet sich auf der „Schwelle zur Staatlichkeit“.35 Ein Staatenverbund weist eine engere Verbundenheit der Mitgliedstaaten untereinander auf als ein Staatenbund. Die Mitgliedstaaten der EU wollen keinen europäischen Staat und sie erfüllen nach Auffassung von Paul Kirchhof auch die Voraussetzungen hierfür nicht.36 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte sich vor Jahren diesbezüglich folgendermaßen geäußert: „Die Gemeinschaft ist selbst kein Staat, auch kein Bundesstaat. Sie ist eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art, eine ,zwischenstaatliche Einrichtung‘ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG“.37 Darüber hinaus fehlen der EU die klassischen drei Attribute der Staatlichkeit: Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet.38 Ein europäisches Staatsvolk oder Unionsvolk gibt es (noch) nicht. Die von der EU ausgeübte Gewalt stammt von den ihr übertragenen Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten ab und kann ihr jederzeit wieder durch Austritt der Mitgliedstaaten abhandenkommen; über Durchsetzungsmittel zur Ausübung der Staatgewalt verfügt die EU nicht. Der EUV enthält auch keine Festlegung des Gebietes der EU.39 Die EU hat die ihr von den Mitgliedstaaten geliehenen Hoheitsrechte zum Anlass genommen, eine staatsähnliche Organisation zu entwickeln. Man könnte sie daher auch als einen Quasi-Staat40 bezeichnen, dem Quasi-Staatlichkeit zukommt. Ob Nicht- oder Quasi-Staatlichkeit, entscheidend ist letztlich, dass die EU zugleich eine supranationale Organisation darstellt. Denn solange die der EU übertragenen Hoheitsrechte nicht wieder durch Austritt von Mitgliedstaaten aus der EU auf die betreffenden Mitgliedstaaten zurück übertragen werden, verleihen diese Hoheitsrechte der EU reale Macht. Und dies ist mit dem Staatsziel der Europäisierung beabsichtigt, das in den Verfassungen aller Mitgliedstaaten der EU verankert ist. Die EU hat mit dem Lissabon-Vertrag von 2008 den diesbezüglichen Bestrebungen ihrer Mitgliedstaaten Ausdruck verliehen. Im Lissabon-Urteil des BVerfGs vom 30. 6. 2009 heißt es dazu: „Der Umfang politischer Gestaltungsmacht der Union ist – 31

BVerfGE 89: 155 ff. und 123: 267 ff.; der Begriff Staatenverbund wurde von Paul Kirchhof geprägt: siehe Huber 1996: 72 – 73. 32 Vgl. Grimm, 1995: 11 und 25; BVerfGE 22: 293 ff. und 123: 267 ff. 33 Kirchhof, 2012: 303. 34 Hillgruber, 2006: 261; siehe auch Becker, 2006. 35 Isensee, 2010: Rn 109. 36 Vgl. Kirchhof, 2012: 300. 37 BVerfGE 22: 293 ff., zitiert bei Huber 1996: 68. 38 Vgl. Huber 1996: 71 – 72. 39 Vgl. Huber, 1996: 71 – 72. 40 Vgl. Breuer, 1998: 287; R.H. Jackson, zitiert in Schneckener, 2006: 9.

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nicht zuletzt durch den Vertrag von Lissabon – stetig und erheblich gewachsen, so dass inzwischen in einigen Politikbereichen die Europäische Union einem Bundesstaat entsprechend – staatsanalog – ausgestaltet ist.“41 Das BVerfG hat hiermit der EU zum einen eine gewisse Staatlichkeit zugesprochen. Zum anderen hat das BVerfG einen Bezug zum Bundesstaat hergestellt. Auch wenn das BVerfG seine Aussage nur auf einige Politikbereiche begrenzt wissen will, so wird hiermit ein zentraler Sachverhalt deutlich. Obwohl die EU kein Staat oder bestenfalls ein Quasi-Staat ist, erhebt sie zumindest in Teilbereichen Ansprüche, die sonst nur einem Bundesstaat zugeordnet werden können. Die Organe der EU gebärden sich dabei nicht selten bei ihrer Machtausübung wie Organe eines Bundesstaates.42 3. Fragen der Souveränität Für das bessere Verständnis der gegenwärtigen und zukünftigen Verfasstheit der EU seien noch einige Bemerkungen zur Souveränität angefügt. Nach Bodin ist „Souveränität […] die absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt einer Republik“.43 Innehabung und Ausübung der Souveränität lagen zunächst in der Hand des Monarchen. Souveränität war somit unteilbar. In Frankreich benutzten hugenottische Autoren scholastische Vorstellungen dazu, dem Volk die ursprüngliche Souveränität zuzuerkennen und dem Monarchen lediglich das Ausübungsrecht zuzugestehen. Auch für Rousseau war das Volk der Souverän. In den englischen Kolonien Nordamerikas war 1787 zunächst nicht klar, wie die Autonomie der Einzelstaaten im zukünftigen Bundesstaat gewahrt werden könne. Schließlich erfand James Madison die Volkssouveränität, die sich auf das gesamte amerikanische Volk bezieht. 44 Sieyes unterschied dann in Frankreich zwischen dem „pouvoir constituant“, dem souveränen Volk, und dem „pouvoir constitué“, der die politischen Entscheidungen fällt. Die Souveränität blieb unteilbar beim Volk, aber die Ausübung der Herrschaftsgewalt oblag den Organen des Staates. In Deutschland erkannte schon die Paulskirchen-Versammlung 1848 im deutschen Volk die Legitimationsgrundlage der Herrschaft. Im demokratischen Verfassungsstaat äußert sich die Volkssouveränität nur im Akt der Verfassungsgebung und zieht sich dann zurück, bleibt jedoch latent vorhanden.45 Die EU kennt (noch) kein europäisches Volk46 und ist als Nicht- oder Quasi-Staat auch nicht im Vollbesitz einer Verfassung.47 Die EU besitzt daher im Unterschied zu

41

BVerfGE 123: 267 ff. Siehe dazu Huber, 2001: 237 und 2008: Rn. 25. 43 Bodin, zitiert in Ottmann, 2006: 219. 44 Vgl. Grimm, 2009: 39 – 41. 45 Vgl. Grimm, 2009: 54 ff. 46 Vgl. BVerfGE 123: 267 ff.; dies entspricht nach Habermas (2011: 43) dem Denken des 19. Jahrhunderts, eine Meinung, die von anderen (siehe Kapitel IV. 2., zweiter Absatz) nicht geteilt wird. 47 Vgl. Grimm, 1995: 32. 42

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ihren Mitgliedstaaten auch keine Verfassungsautonomie.48 Nach Auffassung von Dieter Grimm teilt sich die EU jedoch die Souveränität mit ihren Mitgliedstaaten, weil der EU Hoheitsrechte ihrer Mitgliedstaaten zumindest bis auf Widerruf übertragen worden sind.49 Das von Jürgen Habermas und anderen ins Spiel gebrachte Konzept des im verfassungsgebenden Prozess aufgespaltenen Staats- und Unionsbürgers bei Gründung der EU50 geht ins Leere, weil die EU nur ein aus dem Nationalstaat abgeleiteter Herrschaftsverband ist und keine Verfassungsautonomie besitzt. Die Unionsbürgerschaft ist damit im Unterschied zur nationalstaatlichen Staatsbürgerschaft nicht autonom begründet. Allerdings kann ein Bewohner der EU zugleich Staatsbürger und Unionsbürger sein.51 4. Supranationalität in der EU Die EU ist einerseits nach vorherrschender Meinung eine supranationale Organisation. Supranational ist eine zwischenstaatliche Organisation, wenn sie Recht in ihren Mitgliedstaaten auch gegen deren Willen, zum Beispiel durch Mehrheitsentscheidungen, verpflichtend durchsetzen kann.52 Der supranationalen Organisiertheit der EU steht andererseits ihre Nicht- oder Quasi-Staatlichkeit und ihre mangelhafte institutionelle Verfasstheit gegenüber. 53 Damit ist die EU bestenfalls eine zweitklassige Organisation, wenn man sie mit potenziell erstklassigen Mitgliedstaaten wie der BRD oder Großbritannien mit der langen Tradition des Parlamentarismus und der „rule of law“ vergleicht.54 Wenn einer bestenfalls zweitklassigen und mit Defiziten behafteten Organisation Supranationalität zugebilligt wird, muss dies zwangsläufig zu Problemen führen. IV. Implikationen der Europäisierung 1. Europafreundlichkeit der Mitgliedstaaten Nahezu alle Mitgliedstaaten der EU haben europafreundliche Bestimmungen in ihre Verfassungen aufgenommen, die zur Mitwirkung in der EU verpflichten.55 Dies gilt auch für die BRD, die hier neben Großbritannien für die Debatte exemplarisch herangezogen wird. Das Staatsziel der Europafreundlichkeit wird durch die Präam-

48

Vgl. Huber, 1996: 48. Vgl. Grimm, 2009: 99 ff.; ähnliche Auffassung bei Huber, 2008: 415. 50 Vgl. Habermas, 2011: 69 ff.; abweichend Hillgruber, 2006: 275. 51 Vgl. Di Fabio, 1998: 133 – 135. 52 Vgl. Geiger, 2013: 21. 53 Siehe dazu die Erläuterungen in Kapitel IV und V. 54 Vgl. Münch, 2008: 193 ff. und 221 – 226; „rule of law“: Herrschaft des Rechts. 55 Vgl. Huber, 2008: 406 – 407. 49

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bel und Art. 23 GG vorgegeben.56 In der Präambel des Grundgesetzes ist davon die Rede, dass die BRD „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ beabsichtigt. Nach Art. 23 Abs. 1 soll die BRD „zur Verwirklichung eines vereinten Europas“ „bei der Entwicklung der EU, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist“, mitwirken. Nun ergibt sich aus den hier vorgelegten Thesen, dass die EU auf Grund ihrer gegenwärtigen Verfasstheit mit den ihr anhaftenden Defiziten gar nicht in der Lage ist, die in Art. 23 Abs. 1 angesprochene Verpflichtung der „Struktursicherungsklausel“57 zu erfüllen. Die Mitgliedstaaten sind aber durch ihre Verfassungen an die Europafreundlichkeit gebunden. Aber weder im Grundgesetz der BRD noch in den meisten anderen Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten ist festgelegt, wie die Europafreundlichkeit auszusehen hat. Es würde demnach falsch verstandener Europafreundlichkeit gleichkommen, würde man die gegenwärtige institutionelle Verfasstheit der EU mit ihren Unausgewogenheiten als endgültig gewollt ansehen. 2. Demokratieprinzip und Demokratiedefizit der EU Artikel 9 bis 12 des EUV beziehen sich auf die „Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“ der EU. Es ist dabei unter anderem die Rede von der Gleichheit ihrer Bürger, der repräsentativen Demokratie, dem offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog der Organe der EU mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft und von der Mitwirkung der nationalen Parlamente. Darüber hinaus gibt es im Lissabon-Vertrag noch weitere Regelungen, die das Demokratieprinzip stützen sollen. Peter M. Huber führt dazu aus, es gebe womöglich in der Mehrheit der Mitgliedstaaten gar kein „übergreifendes Prinzip der Demokratie“ in den Verfassungsordnungen.58Auch bestehe auf EU-Ebene keine „Wahlrechtsgleichheit“.59 Das Europäische Parlament sei nicht mit dem deutschen Bundestag, sondern eher mit dem Reichstag des Kaiserreichs zu vergleichen. Letzterer sei durch allgemeine, freie und gleiche Wahlen gewählt worden und sei nur eine zweite Kammer gewesen.60 Nationales Recht und Unionsrecht würden sich gegenseitig beeinflussen und eine wechselseitige Auffangordnung bilden. Das würde auch der Europäische Gerichtshof so sehen.61 Die EU sei eine „Kooperationsordnung“. Rechtsetzung und demokratische Legitimation würden durch eine Kooperation zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten erfolgen. Der Rat müsse von 56 Europafreundlichkeit drückt eine positive Hinwendung zur EU aus und schließt die Europarechtsfreundlichkeit ein. 57 Damit sind die oben zitierten Grundsätze des Art. 23 Abs. 1 GG gemeint. 58 Huber, 2011: 72. 59 Huber, 2011: 73; dies kommt einem Verstoß gegen Art. 9 EUV gleich; siehe dazu auch BVerfGE 123: 267 ff. 60 Vgl. Huber, 2011: 75. 61 Vgl. Huber, 2011: 77.

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den Parlamenten der Mitgliedstaaten kontrolliert werden. Das BVerfG habe festgestellt, dass die demokratische Legitimation der europäischen öffentlichen Gewalt nicht mehr allein durch den Deutschen Bundestag, sondern auch durch das Europäische Parlament gewährleistet sein müsse. Allerdings sei die Legitimationskraft des Europäischen Parlaments begrenzt.62 Diesen Vorstellungen soll eine etwas andere Sichtweise entgegengestellt werden. Nach wie vor gibt es kein europäisches Volk.63 Damit fehlt der EU der Souverän. Deshalb kommt der EU in ihrer Gesamtheit auch keine Volkssouveränität zu. Vielmehr sind es nach wie vor die Völker der Mitgliedstaaten, die die Volkssouveränität ihrer Staaten repräsentieren. Das auch von Peter M. Huber nicht bestrittene Demokratiedefizit der EU hängt unter anderem eng mit der mangelnden Volkssouveränität zusammen.64 Die Nicht-Existenz des europäischen Volkes und damit das Fehlen des Souveräns entzieht der EU die Legitimationsgrundlage.65 Dies betrifft in erster Linie das Europäische Parlament, dem die Legitimationsgrundlage deshalb fehlt.66 Der Rat als Vertretungsorgan der Mitgliedstaaten übt lediglich abgeleitete öffentliche Gewalt aus und ist kein Repräsentant eines Gesamt-Volkes.67 In modernen Demokratien ist politische Herrschaft „konsensual legitimiert“. Das Volk hat die Staatsgewalt inne, übt sie aber nicht aus. Die Staatsgewalt muss sich ihrerseits vor dem Volk rechtfertigen.68 Die von Peter M. Huber ins Spiel gebrachte demokratische Legitimation der „Kooperationsordnung“ der EU kann demnach die demokratische Legitimation eines Mitgliedstaates wie der BRD nicht ausreichend ersetzen. In Großbritannien wird die demokratische Legitimation der EU vielfach gänzlich bestritten.69 Darüber hinaus spielt die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft eine ganz wichtige Rolle. Diese Verfasstheit wird durch Parteien, Verbände, Medien, Bürgerbewegungen und Ähnlichem abgebildet.70 Zudem kommt der kulturellen und politischen Identität der europäischen Völker eine besondere Bedeutung zu.71 An den letztgenannten Charakteristika mangelt es aber der EU. Die demokratische Repräsentation in einem politischen Großraum ist aus mehreren Gründen problematisch. Es macht schon einen Unterschied aus, ob ein Abgeord62

Huber, 2011: 78 – 80. Vgl. Grimm, 1995: 31; Huber, 1996: 71; Bach, 2013: 113 und 122; BVerfGE 123: 267 ff. 64 Vgl. Huber, 2001: 238; Grimm, 1995: 14; Lübbe-Wolff, 2001: 246 – 289; Bach, 2013: 112 ff.; BVerfGE 123: 267 ff. 65 Vgl. Grimm, 1995: 36 ff.; Böckenförde, 1997: 37; Kirchhof, 2010: 304. 66 Vgl. Graf Kielmansegg: „das europäische Parlament kann nicht repräsentieren, was es nicht gibt: das europäische Volk; und es kann nicht abbilden, was (noch) nicht existiert: eine europäische politische Öffentlichkeit“ (zitiert in Böckenförde, 1997: 39); siehe auch BVerfGE 123: 267 ff. 67 Vgl. Kirchhof, 2010: 344. 68 Vgl. Grimm, 1995: 36. 69 Vgl. Hillgruber, 2006: 266 – 268; Münch, 2008: 186 – 228. 70 Vgl. Grimm, 1995: 38; Di Fabio, 2011. 71 Vgl. Böckenförde, 1997: 39 ff.; Münch, 2008: 203; Habermas, 2011: 72. 63

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neter etwa eine Million (wie in der EU) oder nur tausend Bürger zu repräsentieren hat. Die für die Willensbildung in der Demokratie erforderliche Homogenität der Bürgerschaft lässt zu wünschen übrig bei Verschiedenheiten der Sprache, Kultur und Weltanschauungen.72 Freilich beinhaltet Homogenität hierbei die Anerkennung einer gemeinsamen guten politischen Ordnung, wie sie sich in der BRD im Grundgesetz widerspiegelt, und grenzt niemanden aus, der sich an diese Ordnung hält.73 Hinzu kommt, dass das Demokratiedefizit auf EU-Ebene sich negativ auf das Demokratieverständnis in einigen Mitgliedstaaten auswirkt.74 3. Entparlamentarisierung der nationalen Parlamente Die Entparlamentarisierung der nationalen Parlamente ist eine bedenkliche Entwicklung in der EU. Für Peter M. Huber stellt sie das „eigentliche Demokratiedefizit der EU“ dar.75 Der Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht bedingt, dass sekundäres Unionsrecht in den Mitgliedstaaten der EU unmittelbar zur Geltung kommt.76 Das Parlament und die Verwaltung der Mitgliedstaaten werden bei den oft mit Mehrheit beschlossenen Entscheidungen übergangen. Selbst Großbritannien, das Land mit der längsten, bis zur Magna Charta 1215 zurückreichenden Tradition des Parlamentarismus, hat dieser Regelung zugestimmt. Die nationalen Parlamente haben sich gegen diese Entmündigung zu wehren versucht, sind dabei aber nicht sonderlich erfolgreich gewesen.77 4. Das Prinzip der Gewaltenteilung Das Prinzip der Gewaltenteilung ist ein wesentlicher Bestandteil des westlichen kulturellen Erbes zumindest seit den Zeiten von John Locke und Montesquieu.78 Eine ausgewogene Gewaltenteilung ist in mehreren Verfassungen westlicher Nationalstaaten wie denjenigen der USA und der BRD verwirklicht. Großbritannien hat eine lange Tradition der Gewaltenteilung.79 Dieses Prinzip ist in der EU derzeit nicht ausreichend umgesetzt. Die Gewaltenteilung ist aber unverzichtbar als Grundlage einer guten politischen Ordnung. Im Lissabon-Vertrag ist die institutionelle Grundstruktur der EU festgelegt. Die Organe der EU sind laut Art. 13 des EUV Europäisches Parlament, Europäischer Rat, Rat, Europäische Kommission, Gerichtshof der EU, Europäische Zentralbank und Rechnungshof. Anders als die Regierung eines 72

Vgl. Ottmann, 2012: 379 ff. Auf die einseitige, allerdings teilweise berechtigte Kritik am Homogenitätsbegriff von Hanschmann (2008) kann hier nicht näher eingegangen werden. 74 Vgl. Bach, 2013: 118. 75 Huber, 2008: 426. 76 Siehe dazu die Diskussion in Kapitel V. 77 Vgl. Huber 2008: 425 – 429. 78 Vgl. Ottmann, 2006: 343 – 384 und 432 – 461; Riklin, 2006: 358 – 367. 79 Vgl. Münch, 2008: 194. 73

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Bundesstaates besteht die Exekutive der EU mit dem Europäischen Rat, dem Rat und der Europäischen Kommission aus mehreren Organen. Darüber hinaus besitzt die Exekutive der EU mit ihren Ausschüssen, Agenturen usw. eine große bürokratische Macht, die sich unter anderem im Erlass von über 100 000 Seiten Gesetzestext ausdrückt. Dabei kommt dem so genannten „A-Punkte-Verfahren“ eine besondere Bedeutung zu.80 Paul Kirchhoff beklagt zudem, dass der ständig vorwärts drängenden Verrechtlichung in der EU die „Kultur des Maßes“ verloren gegangen sei.81 Die „Überproduktion von Recht“ werde vor allem vom Exekutivorgan des Rates fabriziert. Im Rat können Entscheidungen teilweise durch Mehrheitsentscheidungen gefällt werden, so dass auch große Mitgliedstaaten wie die BRD häufig überstimmt werden.82 Die Gesetzgebungsakte seien immer mehr Ergebnis exekutiver Regelungen und seien immer weniger durch Parlamentsentscheidungen untermauert.83 ErnstWolfgang Böckenförde spricht von der „Herrschaft der Experten“ und Dieter Grimm vom „Abstand zwischen Eliten und Basis“.84 Das Europäische Parlament weist eine undemokratische Sitzverteilung auf und wirkt bei der Gesetzgebung lediglich mit; dieser Sachverhalt steht im Widerspruch zum „Grundsatz der repräsentativen Demokratie“, wie er in Art. 10 Abs. 1 des EUV für die Arbeitsweise der Union behauptet wird.85 „Kooperative Entscheidungsverfahren“ ersetzen immer mehr die durch Kompetenz und Verantwortung geprägte politische Gewalt.86 Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Neigung, seine Kompetenzen zu überschreiten und sich als Ersatzgesetzgeber aufzuspielen.87 5. Implikationen eingeschränkter Staatlichkeit Der deutsche Gesetzgeber hat der EU bestimmte Hoheitsrechte auf Grund Art. 24 Abs.1 zugebilligt. Darüber hinaus haben Verantwortliche in Deutschland einer Einschränkung zentraler Prinzipien deutscher Staatlichkeit wie dem Parlamentarismus und dem Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip zugestimmt. Auch hat man sich nicht gescheut, dem Deutschen Bundestag die „Rolle eines Notars“ zuzuweisen.88 Es ist eine fragwürdige Strategie, wenn die im Grundgesetz verfassungsmäßig verankerte Europafreundlichkeit dahingehend interpretiert wird, dass die BRD einem „vereinten Europa“ verpflichtet ist, das sich in der geschilderten Weise defizitär präsen80

Vgl. Kirchhof, 2012: 323 ff. Kirchhof, 2012: 322. 82 Ausgerechnet die BRD hat sich besonders vehement für Mehrheitsentscheidungen im Rat stark gemacht (vgl. Huber, 2001: 237) und wird jetzt am häufigsten überstimmt (vgl. Huber, 2008: 426). 83 Vgl. Kirchhof, 2012: 323; siehe dazu auch Bach, 2013: 116 – 120. 84 Böckenförde, 1997: 38; Grimm, 1995: 40. 85 Ähnliche Kritik siehe BVerfGE 123: 267. 86 Di Fabio, 1998: 95 und 129. 87 Vgl. Münch, 2008: 211; Kirchhof, 2012: 327 ff. und 379; siehe dazu Kapitel V. 88 Huber, 1996: 116 und 2001: 201. 81

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tiert. Zwar erlaubt Art. 24 Abs.1 GG der BRD, „Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen“. Wenn aber klar ist, dass die zwischenstaatliche Einrichtung, also die EU, mit den erwähnten defizitären Merkmalen ausgestattet ist, so resultiert hier eine grundsätzliche Unverträglichkeit mit Art. 20 GG, der zusätzlich durch Art. 79 Abs. 3 geschützt ist.89 Darüber hinaus hat Art. 23 Abs. 1 GG mit der Struktursicherungsklausel Anforderungen an das „vereinte Europa“ gestellt, aber nicht direkt eine erstklassige Staatlichkeit der EU angemahnt. Man kann jedoch davon ausgehen, dass der deutsche Gesetzgeber bei seinen Bestrebungen zum „vereinten Europa“ nur ein Europa mit erstklassiger Staatlichkeit im Auge hatte. Andernfalls würde man dem deutschen Gesetzgeber Irrationalität unterstellen müssen. Nun könnte argumentiert werden, dass der deutsche Gesetzgeber und das BVerfG dem Lissabon-Vertrag zugestimmt haben und dass deshalb die oben vorgetragenen Bedenken hinfällig wären. Dieses Argument ist jedoch nicht stichhaltig. Denn der Lissabon-Vertrag kann dem defizitären Charakter der EU nicht abhelfen.90 Von den Verantwortlichen der BRD sind demnach zum Teil wesentliche Grundsätze deutscher Staatlichkeit zugunsten einer EU mit defizitärem Charakter aufgegeben worden.91 Auf diese Weise ist man in eine Sackgasse geraten:92 für Friedenssicherung, wirtschaftliche Integration und den Ausgleich für die im globalen Maßstab geringe Größe der BRD wurden Einschränkungen wesentlicher Grundsätze einer potentiell erstklassigen Staatlichkeit zugunsten der EU hingenommen.93 Falsch verstandene Europafreundlichkeit, Irrationalität oder gar Eigeninteressen könnten hierbei eine Rolle gespielt haben. Dominik Geppert macht „mehrere Generationen europäischer Idealisten“ für den Realitätsverlust in Bezug auf den Mythos „Europa“ verantwortlich.94 Aus Sicht mehrerer neuer EU-Mitgliedstaaten mögen die derzeitigen Defizite der EU allerdings als nicht so gravierend erscheinen. Zum einen mag in diesen Mitgliedstaaten Manchem die EU als rettender Anker in Bezug auf Demokratie- und Rechtsstaatsprinzipien erscheinen. Zum anderen hat die mangelnde Verwirklichung der erwähnten Prinzipien in diesen Mitgliedstaaten einen negativen Einfluss auf EUEbene.95

89 Die „Ewigkeitsgarantie“ nach Art. 79 Abs. 3 GG wurde 2009 vom BVerfG bestätigt (BVerfGE 123: 267). 90 Das BVerfG hat 2009 „demokratische Grundsätze“ in der EU verlangt, aber zugleich vom „nicht auflösbaren Demokratiedefizit“ der EU gesprochen (BVerfGE 123: 267). 91 Zum Bedeutungsverlust nationaler Verfassungsgrundsätze: siehe Huber, 2001: 201. 92 Auch Geppert spricht von einer Sackgasse (2013:14). 93 Dies gilt auch für andere EU-Mitgliedstaaten mit potentiell erstklassiger Staatlichkeit. 94 Geppert, 2013: 21. 95 Vgl. Haller, 2009: 268 ff.

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6. Die EU als Elitenprojekt Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass die europäische Integration ein Elitenprojekt darstellt.96 Es handelt sich dabei vorwiegend um politische, ökonomische und wissenschaftliche Eliten. Die politischen Eliten einiger Mitgliedstaaten hatten ursprünglich auf Grund der schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs den Weg zu einer europäischen Einigung beschritten. Die Friedenssicherung und der Aufbau von Machtstrukturen in Europa haben dabei eine wesentliche Rolle gespielt. Zunehmend kamen jedoch Eigeninteressen der politischen Akteure ins Spiel.97 Für die Wirtschaft war naturgemäß ein gemeinsamer europäischer Binnenmarkt von besonderem Interesse. Daher traten insbesondere die wettbewerbsstarken Unternehmen dafür ein, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Ein nicht unerheblicher Teil der Wissenschaft, vor allem der Rechtswissenschaft, profitiert von einer Förderung ihrer Forschung durch die EU.98 Im Zusammenhang mit dem Wirken der Eliten mag man sich die Kernthese von Arnold Toynbee in Erinnerung rufen. Toynbee sah Zivilisationen einerseits durch den maßgeblichen Einfluss einer kreativen Minorität entstehen. Andererseits zerbrachen Zivilisationen, wenn Eliten nicht mehr kreativ waren und nur noch ihre eigenen Interessen verfolgten.99 Aus dieser Sicht ist die Kreativität der Eliten heute mehr denn je gefragt, um die Probleme der EU anzugehen. Darüber hinaus lädt die Existenz der so genannten „Eurokratie“ zu Diskussionen ein. Bedingt durch das übermäßige Gewicht der Exekutive und das alleinige Initiativrecht der Europäischen Kommission hat sich über die Jahre eine schlagkräftige Bürokratie in der EU entwickelt. Gemäß Max Haller arbeiten die EU-Bürokraten mit wenig Risiko – im Vergleich zu den Politikern – und fördern das supranationale Interesse bei geringer öffentlicher und begrenzter demokratischer Kontrolle. Der Umfang der „Eurokratie“ sei nicht so groß wie vielfach gedacht, weil die Ausführung der verabschiedeten Rechtsakte von den Mitgliedstaaten übernommen werde. Dadurch müssten aber wiederum mehrere Zehntausend Bedienstete in den Mitgliedstaaten angestellt werden.100 V. Zum Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht 1. Zum Vorrang des Unionsrechts Im nicht ratifizierten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ von 2004 war das „Unionsrecht“ in Art. I-6 wie folgt geregelt: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte 96

Vgl. Münch, 2008: 213; Haller, 2009; Hartmann, 2007; Habermas, 2011: 78. Vgl. Haller, 2009: 126 ff. 98 Vgl. Haller, 2009: 419 ff. 99 Zivilisation nach nicht-deutschem Verständnis: siehe dazu S. Huntington, 1997: 50 ff. 100 Vgl. Haller, 2009: 221 ff. 97

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Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten“. Im seit 2008 gültigen Lissabon-Vertrag ist dieser Artikel nicht mehr enthalten. Allerdings regeln die Artikel 2 bis 6 des AEUV die Zuständigkeiten von Union und Mitgliedstaaten. Die Zustimmungsgesetze in den jeweiligen Mitgliedstaaten der EU haben dafür gesorgt, dass der so genannte „nationale Rechtsanwendungsbefehl“ die Grundlage für die Geltung des Unionsrechts im jeweiligen Mitgliedstaat darstellt.101 Für die BRD ist dabei die „verfassungsrechtliche Öffnungsklausel“ nach Art. 23 Abs. 1 GG maßgeblich. 102 Dennoch bleiben die Verfassungsautonomie und die Kompetenz-Kompetenz bei den EU-Mitgliedstaaten als den Herren der Verträge.103 In zahlreichen Bereichen hat jedoch sekundäres Unionsrecht Vorrang vor nationalem Recht. 104 Darauf bezieht sich der nationale Rechtsanwendungsbefehl. Letzterer besagt, dass Rechtssätze des Unionsrechts unmittelbar zur Anwendung gelangen, ohne dass ein Erlass von Durchführungsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten notwendig wäre.105 Der deutsche Gesetzgeber hat mit dem Zustimmungsgesetz dieser Regelung zugestimmt und das BVerfG hat diese Regelung anerkannt.106 Wichtig im Zusammenhang mit den hier vorgestellten Thesen ist die von allen Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten geteilte Sicht, dass der nationale Rechtsanwendungsbefehl auch wieder beseitigt werden kann.107 Es wurde allerdings bei der ganzen Problematik nicht berücksichtigt, dass hier ein Nicht- oder Quasi-Staat mit defizitären Merkmalen gegenüber einem potenziell erstklassigen Staat (im Fall der BRD) eine Vorrangigkeit für sein Recht reklamiert. Die Legitimierung dieser Regelung durch den deutschen Gesetzgeber und die Anerkennung durch das BVerfG erfolgten demnach auf Grund von fragwürdigen Voraussetzungen. In Großbritannien wird die supranationale Ordnung der EU von zahlreichen Autoren aus zum Teil ähnlichen Gründen in Frage gestellt. Die Regelungen in der EU würden „aus souveränen Nationalstaaten nachgeordnete Instanzen“ machen.108 Demokratie sei grundsätzlich nur im Nationalstaat möglich.109

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Das BVerfG (89: 155) spricht davon, dass „Geltung und Anwendung von Europarecht in Deutschland“ vom „Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes“ abhängen; siehe dazu auch Huber, 2001: 213 ff. 102 Huber, 2001: 214. 103 Vgl. Huber, 1996: 48 – 49. 104 Sekundäres Recht ist von den Organen der EU gesetztes Recht, u. a. Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen: siehe dazu Huber, 1996: 115 ff. 105 Vgl. Huber, 1996: 125; Geiger, 2013: 233. 106 BVerfGE 89: 155 (190); dazu Kirchhof, 2012: 368 ff. 107 Vgl. Huber, 2001: 215. 108 Lord N. Blackwell zitiert in: Münch, 2008: 223. 109 Vgl. Münch, 2008: 207 – 227.

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2. Supranationalität und der Vorrang des Unionsrechts Wenn in Verfolgung der eingangs erwähnten drei Zwecke gravierende Defizite bei der Verfasstheit der EU in Kauf genommen werden, stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Berechtigung von Supranationalität und des Vorrangs des Unionsrechts vor dem nationalen Recht. Zweifellos ist die Erfüllung der erwähnten Zwecke wichtig. Supranationalität und Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht sollten jedoch nicht verabsolutiert werden, um die „immer engere Union“ nach Art. 1 EUV zu erzwingen. Vielmehr erscheint es wichtig, einen Kompromiss anzustreben, der die besagten Defizite vermeidet und gleichzeitig das vereinte Europa ermöglicht. Die EU als supranationale Organisation ist somit immer noch auf den Nationalstaat angewiesen.110 Es kommt das Bestreben zur Vereinheitlichung des Rechts in der EU hinzu.111 Die Vereinheitlichung des Rechts ist nach meiner Auffassung vor allem bezüglich der Grundwerte und wesentlicher Grundsätze der EU erforderlich. Hinsichtlich des sekundären Unionsrechts ist die Vereinheitlichung des Rechts wünschenswert, aber nicht zwingend.112 Supranationalität erscheint auch mit einer teilweisen Vereinheitlichung des Rechts möglich. 3. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Ein besonderes Problem stellen das Anspruchsdenken und bestimmte Rechtsauffassungen des EuGHs dar. Der EuGH betrachtet sich als „Motor der Integration“.113 Der EuGH hat schon 1969 von der „eigenen“ (autonomen) Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft gesprochen. Später behauptete der EuGH, dass die „Nabelschnur“ zu den nationalen Verfassungen längst gekappt sei, sich die Mitgliedstaaten nicht auf die „internen“ Schwierigkeiten des nationalen Verfassungsrechts berufen dürften und die Rücksichtnahme auf das nationale Verfassungsrecht die Einheit der unionalen Rechtsordnung sprenge und den Zusammenhalt der EU gefährde.114 Diese Auffassung ist schon deshalb nicht stichhaltig, weil der EU keine Verfassungsautonomie zukommt, aus der heraus sie aus eigenem Recht schöpfen könnte. Dieses Recht kommt nur den Mitgliedstaaten der EU zu, die immer noch trotz Abgabe von Hoheitsrechten zumindest teilweise souverän geblieben sind. „Die europäische öffentliche Gewalt ist keine vom Volk abgeleitete, sondern eine staatenvermittelte“.115 Dem EuGH kommt nach Auffassung des BVerfGs keine Kompetenz bei der Beurtei-

110 111

91. 112

Vgl. Grimm, 2012: 86. Zu Fragen der Verrechtlichung im Prozess der Entstaatlichung: siehe Grimm, 2012: 78 –

Eine ähnliche Auffassung vertritt Scharpf, zitiert in: Münch, 2008: 325. Kirchhof, 2012: 322, 367 und 379. 114 EuGHE 1969: 1,14; 1978: 629 ff., Rz. 17; 1978: 879, 886; 1979: 3227, Rz. 14; 1980: 1473, 1487; siehe dazu auch Huber, 2001: 221 und Kirchhof, 2012: 322 ff. 115 Grimm, 1995: 32. 113

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lung nationalen Verfassungsrechts zu.116 Auch an der Unterscheidung des EUV von begrenzter Einzelermächtigung und Vertragsänderung wird die Brisanz der möglichen Kompetenzüberschreitung seitens des EuGHs sichtbar. Bewegt sich der EuGH bei einer Frage der begrenzten Einzelermächtigung innerhalb seiner Grenzen, verhält er sich vertragskonform. Nutzt er jedoch eine ihm zur Entscheidung vorgelegte Angelegenheit zur Vertragsänderung, so verstieße er hiermit gegen den EUV, hätte sich als Ersatzgesetzgeber aufgespielt und hätte das Prinzip der Gewaltenteilung verletzt. Denn nur die Mitgliedstaaten können eine Vertragsänderung vornehmen.117 Das BVerfG hat sich, ebenso wie andere Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten, vorbehalten, „ausbrechenden Rechtsakten“, also „ultra-vires“-Handeln118 der EU keine Folge zu leisten.119 Dies bezieht sich insbesondere auf den EuGH, falls dieser „ausbrechende Rechtsakte der EU billigt oder selbst ultra vires handelt“.120 Allerdings ist bisher von nationalen Gerichten nur einmal auf ein „ultravires“-Handeln des EuGH erkannt worden. Die Drohung allein hat hier offenbar ausgereicht, um den EuGH von einem „ultra-vires“-Handeln abzuhalten.121 Mit seinem Anspruchsdenken verhält sich der EuGH nicht selten so, als wenn er das oberste Gericht eines Bundesstaates wäre.

VI. Der europäische Bundesstaat als Argument Die Vereinten Staaten von Europa als europäischer Bundesstaat ließen sich mit einer erstklassigen Staatlichkeit ausstatten, wenn man den Vorstellungen des Nationalstaats-Prinzips folgt. Dazu könnten im Wesentlichen die Verfassungen westlicher Staaten mit erstklassiger Staatlichkeit wie diejenigen der USA oder der BRD als Vorbild herangezogen werden. Dieter Grimm schwebt in diesem Zusammenhang ein „Kernvertrag“ vor, der dem entspricht, was typischerweise in den nationalstaatlichen Verfassungen zu finden sei und vor allem die bestehenden Rechtsgrundlagen der EU umfassen würde. Institutionelle Reformen könnten durch eine Änderung der Verträge befriedigt werden.122 Wenn in der rechtswissenschaftlichen Literatur teilweise von einer bereits bestehenden europäischen Verfassung gesprochen wird, so erscheint dies fragwürdig. Denn die Verträge sind „keine Verfassung im Vollsinn des Begriffs“.123 Die EU ist kein Staat oder nur ein Quasi-Staat. Deshalb besitzt die EU auch keine Verfassungsautonomie. Verfassungen sind aber nach bisherigem Verständnis immer an die Exis116

BVerfGE 89: 155, 195, 210. Vgl. Kirchhof, 2012: 379. 118 „Ultra vires“ bedeutet jenseits der eigenen Zuständigkeit. 119 BVerfGE 126: 286; vgl. Huber, 2008: Rn 70 – 72 und Kirchhof, 2012: 380. 120 Huber, 2008: Rn 70. 121 Vgl. Huber, 2008: Rn 72. 122 Vgl. Grimm, 1995: 48 – 49. 123 Grimm, 1995: 32; siehe auch Schönberger, 2004: 109 ff. und Hillgruber, 2006: 274 ff.

117

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tenz eines Staates gebunden gewesen.124 Darüber hinaus haben die Franzosen und die Niederländer den Verfassungsvertrag von 2004 abgelehnt und damit ihren Willen bekundet, keine Verfassung für die EU haben zu wollen. Ein erstklassiger europäischer Bundesstaat könnte erst mittels Verfassung neu etabliert werden. Entscheidend wäre für die Etablierung eines derartigen europäischen Bundesstaates, dass er vom (noch zu bildenden) europäischen Volk legitimiert würde. Erst dadurch könnte dem Grundsatz der Volkssouveränität entsprochen werden.125 Ein europäisches Volk könnte sich im Laufe von Jahren oder eher Jahrzehnten entwickeln. Es sollte sich möglichst auf eine gemeinsame Sprache einigen, mit der die öffentlichen Belange diskutiert werden könnten. Hinzu kämen europäische Medien, europäische Parteien und Verbände. Die kulturelle Identität Europas sollte von allen Bürgern verinnerlicht und gelebt werden.126 Der Erfolg einer demokratischen Verfassung hängt „nicht allein von der Güte ihrer Regelungen“ ab.127 Der demokratische Gehalt eines politischen Systems basiert nicht nur auf der „Existenz gewählter Parlamente“, sondern auch auf Faktoren wie „Pluralität, innere Repräsentativität, Freiheitlichkeit […], Bürgerbewegungen und Kommunikationsmedien.“128 Die „Umwandlung der EU in einen Bundesstaat“ kann nach Dieter Grimm „kein erstrebenswertes Nahziel sein“.129 Die EU sollte zudem eine „föderale Struktur“ erhalten.130 Bei einer Entwicklung zum „Superstaat“ würde die EU vermutlich in gleicher Weise zum Konflikt neigen wie der Nationalstaat, den die EU abgelöst hätte.131 Nicht hilfreich wäre es, wenn sich die EU zu einem Imperium oder gar zu einem Universalreich entwickeln würde.132 Universalreiche vermögen zwar lange Frieden zu stiften, sind aber als letzte Stufe einer Zivilisationsentwicklung dem Verfall ausgesetzt. Derzeit fehlt der „Wille zur europäischen Staatlichkeit“. Überdies ermächtigen die Verfassungen der Mitgliedstaaten der EU nicht zur „Aufgabe ihres eigenen Staates“.133 In der BRD verhindert Art. 79 Abs. 3, dass der deutsche Staat in die „Vereinigten Staaten von Europa“ aufginge.134 Damit hat der deutsche Verfassungsgeber für ein wichtiges Element der Stabilität gesorgt. Peter M. Huber stellt sich eine eventuelle Änderung des deutschen Grundgesetzes in mehreren Schritten vor. Das deutsche 124

Vgl. Willoweit, 2009: 2; jedoch andere Auffassung bei Pernice, 2001: 148 ff. Vgl. Huber, 1996: 40 – 41; Grimm, 2009: 35 – 41; Kirchhof, 2012: 356 – 358; BVerfGE 123: 267. 126 Vgl. Grimm, 1995: 36 ff.; Böckenförde, 1997: 39 ff.; Di Fabio, 2011. 127 Grimm, 1995: 38. 128 Grimm, 1995: 38. 129 Grimm, 1995: 47. 130 Böckenförde, 1997: 41. 131 Weiler, 1999: 250. 132 Vgl. Toynbee, 1960: 360 – 633; Melko, 1969: 129 – 132. 133 Kirchhof, 2010: Rn 93. 134 Kirchhof, 2010: 321; vgl. Huber, 1996: 6 und 50 ff.; abweichend Möllers 2011: XXXVXXXVI. 125

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Volk müsste dann eventuell mittels Volksentscheid oder verfassungsgebender Versammlung über eine Änderung des EUV entscheiden.135 Auch die gegenwärtige Heterogenität zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten mit ihrer unterschiedlichen Staatlichkeit würde einem konfliktfreien Bundesstaat im Wege stehen. Kurzum, ein europäischer Bundesstaat existiert derzeit nicht. Er kann sich allerdings in Zukunft etablieren. Dann müsste er so gestaltet werden, dass ihm erstklassige Staatlichkeit zukommt. VII. Die EU als Bund, Konföderation, Imperium oder Teil eines Weltstaats 1. Die EU als Bund Auf der Suche nach weiteren Alternativen zur real existierenden EU ist eine „spezifische Ausprägung“ des Bundes ins Spiel gebracht worden.136 Christoph Schönberger geht davon aus, dass eine Theorie des Bundes den Problemen der EU gerecht werden könne. Der politikwissenschaftliche Begriff des Mehrebenensystems sei nicht tauglich. Die EU sei am ehesten ein Bund, aber eben kein Bundesstaat, auch kein Bundesstaat „im Werden“. Ein derartiger Bund stelle eine „Koordinationsordnung zwischen Mitgliedstaaten und Bundesebene“ dar und habe seine eigenen Strukturgesetzlichkeiten. Schönberger unterstellt eine verzerrte Wahrnehmung sowohl des Staatenbundes als auch des Bundesstaates. Die verzerrte Wahrnehmung würde auch die Vorstellung über die Verfasstheit der EU prägen. Föderale Ordnungen würden mittels Koordination gestaltet. Bünde seien auf Dauer angelegt und erlaubten keinen Austritt aus dem Bund. Es bestehe ein Befriedungsgebot, aber auch Interventionsrechte in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedstaaten. Zwischen Bund und Mitgliedstaaten gebe es keine Hierarchie, beide seien im Gleichgewicht.137 Bei der Zumessung der Europarechtswissenschaft zu den Verträgen als Verfassung werde wiederum deutlich, wie die „Legitimität des nationalstaatlich-demokratischen Verfassungsbegriffs einfach auf die Verträge“ projiziert werde. Allerdings könne man auch nicht die EU mit den Vorstellungen des Nationalstaats begreifen. Der Bundesvertrag sei zugleich Vertrag und Verfassung.138 Der von Schönberger vorgeschlagene Bund vermag die bestehenden Probleme nicht wirklich zu lösen. Das fehlende Austrittsrecht und das Interventionsrecht in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedstaaten gehen über die Bestimmungen des Lissabon-Vertrages hinaus, sofern man von den erschwerten Interventions-Bedingungen von Art. 7 EUVabsieht. Das Demokratieprinzip lässt sich in einem derartigen Bund wohl kaum verwirklichen.

135

Vgl. Huber, 1996: 54 – 55. Schönberger, 2004: 119. 137 Zu Fragen des Bundes siehe auch Koselleck, 1972. 138 Vgl. Schönberger, 2004: 110 ff.

136

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2. Die EU als Konföderation Giandomenico Majone stellt sich die EU als Konföderation vor. Die unabhängigen Mitgliedsstaaten einer Konföderation würden gemeinsame Zwecke verfolgen, gewissen Einschränkungen ihrer Aktionsfreiheit zustimmen und Maschinerien der Deliberation und Entscheidung etablieren.139 Im Gegensatz zu früheren Konföderationen wäre die EU mit ihrer wirtschaftlichen Integration erfolgreich gewesen.140 Auf dem Weg von der wirtschaftlichen Union zur politischen Union sei die EU jedoch gescheitert. Im Zusammenhang damit sei ein fundamentales Dilemma zu Tage getreten: bei der erfolgreichen wirtschaftliche Integration hätten die supranationalen Institutionen ihre Macht missbraucht.141 Die EU-Kommission und der EuGH seien keine gewählten Institutionen. Überhaupt läge in der EU ein grundsätzliches Dilemma vor: die europäische Integration sei unvermeidlich, aber in der EU gebe es ein Demokratiedefizit.142 Eine Konföderation entsprechend den Vorstellungen von Montesquieu wäre ein viel versprechendes Modell für die EU. Montesquieu habe nicht so sehr die strikte Gewaltenteilung, sondern die Mischverfassung („mixed government“) favorisiert. Es wäre ihm auf eine Trennung der Funktionen und nicht so sehr eine der Mächte angekommen. Gemäß Henning Ottmann stellt sich Montesquieu eine Kombination von Gewaltenteilung, Mischverfassung und Balance der Gewalten vor.143 Auch Alois Riklin bestätigt die Auffassung von Majone und erläutert Gründe, warum die Idee der Mischverfassung bei Montesquieu sich hinter der Lehre von der Gewaltenteilung verbirgt.144 Entscheidend ist jedoch in dem hier diskutierten Zusammenhang, dass Montesquieu eine über das rein Ständische hinausgehende, gewissermaßen moderne Auffassung von Mischverfassung entwickelt hat. Demnach kann man die Machtteilung nicht allein den Organen (früher: den Ständen) des Staates überlassen, sondern sollte sie auch funktional verschränkt sehen.145 Dies hat naturgemäß erhebliche Bedeutung für die Verfasstheit der EU. In diesem Sinne empfiehlt Majone, Rechtsetzung möglichst im homogenen Kleinraum, also in den Nationalstaaten, vorzunehmen. Denn in der Konföderation solle möglichst viel durch Vereinbarung geregelt werden. Für die EU komme eine „immer engere Union“ nicht in Betracht, weil die EU nicht auf dem Weg in einen Bundesstaat sei. Die supranationale Verfasstheit der EU habe Probleme der Legitimität aufgeworfen. Die historische Chance der EU sei eine post-moderne Konföderation, nicht eine armselige Kopie eines Bundesstaates.146 Die kenntnisrei139

Vgl. Majone, 2005: 209. Diese These wird auch von Blankart (2011: 653 ff.) unterstützt. 141 Vgl. Majone, 2005: 42 – 43. 142 Vgl. Majone, 2005: 209. 143 Vgl. Ottmann, 2006: 449. 144 Vgl. Riklin, 2006: 269 – 290. 145 Vgl. Riklin, 2006: 285 – 289. 146 Vgl. Majone, 2005: 209 – 221.

140

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chen Ausführungen von Majone leisten einen realistischen Beitrag zur Verfasstheit der EU. 3. Die EU als Imperium Eine ganz andere Sichtweise eröffnet sich, wenn man der Frage nachgeht, ob die EU ein Imperium ist oder sein soll. Nach Herfried Münkler leben Imperien „in ihrer eigenen Welt“, haben „weiche Grenzen“ und weisen ein Gefälle vom Zentrum zur Peripherie hin auf. Imperien würden dazu neigen, ihre peripheren Bereiche als Satelliten zu betrachten.147 Der Friede diene den Imperien als Rechtfertigung von Ordnung.148 Eine wichtige Rolle spiele die Rom-Analogie. Letztere besage, dass die römische Republik durch die Errichtung des Imperiums endgültig zugrunde gegangen sei. Die Rom-Analogie könnte ein Indiz dafür sein, dass sich auch in der EU eine demokratische Republik nicht verwirklichen lässt. Nach 1989 wäre der EU die Aufgabe der Stabilisierung der aus dem sowjetischen Imperium befreiten Staaten zugefallen. Münkler sieht die EU vor eine „imperiale Herausforderung“ gestellt. Einerseits müsse sich die EU als „Subzentrum des imperialen Raumes“ gegenüber den USA behaupten. Es reiche nicht, wenn Europa sich auf seine wirtschaftliche Macht allein stütze. Die EU könne sich auch nicht in der ewigen Suche nach ihrer Identität verlieren. Andererseits müsse sich die EU um ihre instabile postimperiale Peripherie im Osten und Südosten kümmern. Man müsse ein „imperiales Ordnungsmodell“ für die EU ins Auge fassen, das Grenzräume statt Grenzen im Osten und Süden vorsehe.149 Derartige machtpolitische Überlegungen eignen sich gut als Diskussionsgrundlage. Imperien fühlen sich allerdings der Demokratie und der Gewaltenteilung kaum verpflichtet. Nach dem Modell der Geschichtsphilosophen repräsentieren Imperien oder Universalreiche die Endphase einer Zivilisationsentwicklung. Imperien folgen auf Staaten. Oft sorgen Imperien in ihrem Zentrum für dauerhaften Frieden. In der Peripherie sind Kriege nicht selten. Aber zugleich sind Imperien dem Verfall preisgegeben.150 Der Grund hierfür ist nach den Vorstellungen von Arnold Toynbee das eigensüchtige, nicht mehr kreative Verhalten der dominanten Minorität.151 Oswald Spengler und Matthew Melko haben dargelegt, dass in Imperien die verschiedensten, sich oft widersprechende Thesen und Mythen, nicht selten auch kosmopolitische Vorstellungen diskutiert werden.152 Samuel Huntington hat auf die Bruchlinien an den Grenzen von Zivilisationen hingewiesen.153 Auch für die Verfasstheit der EU könnten Bruchlinien 147

Vgl. Münkler, 2013: 8 ff. und 16 ff. Vgl. Münkler, 2013: 128 ff. 149 Vgl. Münkler, 2013: 235 ff., 245 ff. und 253. 150 Vgl. Spengler, 1998: 51 – 54 und 1101 – 1107; Toynbee, 1960: 360 – 633; Melko, 1969: 129 – 132. 151 Vgl. Toynbee, 1960: 244 – 246 und 360 – 368. 152 Vgl. Spengler, 1998: 780 – 783; Melko, 1969: 126. 153 Vgl. Huntington, 1997: 331 ff. 148

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eine Rolle spielen, weil im Osten und Südosten Europas Trennlinien zwischen der westlich-christlichen und der orthodox-christlichen Zivilisation bestehen. Huntington sieht zudem in den Nationalstaaten nach wie vor die maßgeblichen Akteure des Weltgeschehens, auch wenn es Erosionen deren Staatlichkeit gebe.154 4. Die EU – Teil eines Weltstaats? Henning Ottmann hat vier Modelle der „Demokratie jenseits des Nationalstaats“ vorgestellt: den Weltstaat, die Weltrepublik, die globale oder „cosmopolitan democracy“ und die „Global Governance“.155 Man könnte sich fragen, ob sich eines dieser Modelle für die Verfasstheit der EU eignen könnte. Den heutigen Propagandisten der Globalmodelle fehle eine Universalgeschichte, die sich an Zivilisationen orientiere. In der geschichtsphilosophischen Sicht eines Oswald Spenglers oder Arnold Toynbees und anderer verlaufe die Geschichte zyklisch und nicht linear progressiv. Eine Weltordnung könne nicht ohne eine geistige Grundlage bestehen. Die Idee des Weltstaats könne man als Spätform der seit der Renaissance vorgelegten Friedensentwürfe ansehen. Schon Kant habe im „Ewigen Frieden“ die Gefahr gesehen, dass der Weltstaat zur Despotie entarten könne. Die Völker würden ohnehin auf Souveränität und Selbstbestimmung ihrer politischen Systeme beharren. Daraus ergebe sich das „erste Paradox globaler Ordnungsideen“: bleibt die Rechtssetzung in der Hand des einzelnen Staates, gibt es keinen Weltstaat und kommt der Weltstaat dennoch zustande, geht die Selbstbestimmung des Volkes verloren und die Weltgewalt könne übermächtig werden.156 Heute stelle man sich die Welt als apolitisches Gebilde vor. Man vergesse dabei, dass Supermächte kein Interesse am Weltstaat hätten. Den Weltfrieden könne der Weltstaat nicht garantieren. Denn ein Weltbürgerkrieg würde auf beiden Seiten im Namen der Menschheit geführt. Das „zweite Paradox der Visionen globaler Ordnung“ enthalte einen „Alleinvertretungsanspruch“: wer sich der Weltordnung nicht fügt, sei kein Mensch mehr, sondern ein Unmensch.157 In der Weltrepublik des Ottfried Höffe entwickele sich neben dem Nationalstaat durch Rechtsfortschritt sekundär ein „föderativer, subsidiärer Weltminimalstaat“. Die Macht der Weltrepublik müsste größer sein als diejenige der größten verbleibenden Supermacht, was kaum möglich sei (drittes Paradox). Im dritten Modell wird von kosmopolitischer Demokratie gesprochen. Es sei geradezu von der Religion des Kosmopolitismus und der Erfindung der Politik die Rede. Die „Global Governance“ schließlich lasse unklar, welcher Akteur eigentlich demokratisch legitimiert sei. Die Governance-Lehren seien mit ihrem Diskurs- und Verhandlungsoptimismus allesamt idealistisch, „macht- und konfliktvergessen“.158 Das Großraum-Modell sei demokratieverträglicher als die Globalmodelle. Dennoch sehe man in der EU ein 154

Vgl. Huntington, 1997: 17 – 48. Ottmann, 2012: 379 – 399. 156 Vgl. Ottmann, 2012: 381 ff. 157 Ottmann, 2012: 384. 158 Ottmann, 2012: 389. 155

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Überwiegen der Exekutiven und Verwaltungen und nicht der Parlamente. Statt Partizipation gebe es Deliberation. „Die heute diskutierten Modelle einer Demokratie im Großraum oder im Weltmaßstab ersetzen Machtanalyse durch Utopismus.“159 Die EU taugt demnach nicht als Teil auch nur eines dieser Modelle. VIII. Einige Gefährdungen der EU 1. Gefährdung durch Austritt großer Mitgliedstaaten Die Implikationen hinsichtlich der unterschiedlichen Größe der EU-Mitgliedstaaten werden trotz ihrer Bedeutung oft wenig beachtet. Kleine Mitgliedstaaten befürchten die Dominanz großer Mitgliedstaaten. Große Mitgliedstaaten befürchten, von den kleinen Mitgliedstaaten bei Mehrheitsentscheidungen majorisiert zu werden. In der EU gibt es sechs große Mitgliedstaaten mit einer Bevölkerung von insgesamt etwa 352 Millionen Staatsangehörigen (Schwankungsbreite 38 – 82 Millionen), 10 mittlere Mitgliedstaaten (etwa 116,3 Millionen; 7,6 – 21,5), sechs kleine Mitgliedstaaten (etwa 28,5 Millionen; 3,3 – 5,5) und sechs sehr kleine Mitgliedstaaten (7,2 Millionen; 0,4 – 2,2). Die nach Art. 4 EUV deklarierte Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen sorgt tatsächlich für ein Übergewicht kleiner Mitgliedstaaten der EU bei Mehrheitsentscheidungen, sofern jeder Mitgliedstaat über eine Stimme verfügt. In letzter Konsequenz bedeutet dieses Prinzip eine existentielle Gefährdung der EU. Denn große Mitgliedstaaten können sich unter Umständen nur durch Austritt aus der EU vor ständiger Benachteiligung wehren, sofern sie Mehrheitsentscheidungen nicht zustimmen wollen.160 Durch den Austritt eines großen Mitgliedstaates, zum Beispiel der BRD, wäre das Fortbestehen der EU gefährdet, wenn nicht gänzlich unmöglich. Ähnliches gilt vielleicht auch für Großbritannien, das derzeit stark am Sinn der EU zweifelt.161 2. Gefährdung durch Krieg Henning Ottmann vermutet, dass der Frieden in Europa schon allein durch das atomare Gleichgewicht und den Kalten Krieg bewahrt worden sei. Darüber hinaus würden demokratische Staaten ungern Kriege untereinander führen.162 Dennoch dürfte der europäische Einigungsprozess zum Frieden in Europa beigetragen haben. Ein Krieg in Europa würde den Bestand der EU naturgemäß gefährden. Die Sicherung des Friedens sollte daher ein wichtiges Ziel der EU darstellen, selbst 159 Ottmann, 2012: 390; dies gilt auch für die Weltgesellschaft von Habermas, 2011: 40 und 83 ff. 160 Ein eklatantes Beispiel ist die Stimmenverteilung in der Europäischen Zentralbank, die kleinsten Mitgliedstaaten wie Malta oder Zypern das gleiche Stimmengewicht zukommen lässt wie der BRD. 161 Vgl. Münch 2008: 186 – 308; siehe die sieben Thesen von Cameron vom 15. 3. 2014. 162 Vgl. Ottmann über Kants Publikation „Zum Ewigen Frieden“ (1795), 2008: 189 – 193.

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wenn der Frieden nicht allein durch den europäischen Einigungsprozess zustande kommt. 3. Gefährdung durch Überdehnung von Größe und Macht Nach Montesquieu entspricht das kleine Gebiet der Natur der Republik am ehesten. Der großen Republik hingegen fehle die Mäßigung. Allerdings sei die kleine Republik nach außen schwach, während die große Republik zur Korruption in ihrem Inneren neige. In einer föderativen Republik verbänden sich die Vorzüge des Kleinstaats mit der äußeren Macht des Großstaats.163 Diese Überlegungen könnten auch bedeutsam für die EU sein. Befürworter des Bestrebens nach Ausgleich allzu geringer Größe der EU-Mitgliedstaaten neigen dazu, sich einerseits die EU als „größten Binnenmarkt der Welt“ und als „Großstaat“ vorzustellen und andererseits unter „Angst vor einem globalen Bedeutungsverlust“ zu leiden.164 Bei diesen Vorstellungen wird jedoch nicht selten die defizitäre Verfasstheit der EU außer Acht gelassen. Dies betrifft auch die ständigen Erweiterungsbestrebungen der EU. Durch diese vor allem unter reinen Machtgesichtspunkten erfolgten Bestrebungen könnte die EU in ihrem Bestand auf Grund von „Überdehnung“ von Größe und Macht gefährdet sein.165 IX. Abschlussbetrachtungen und Vorschläge Die vorliegenden Ausführungen haben deutlich werden lassen, dass die real existierende EU in eine Sackgasse geraten ist. Der Erfüllung der eingangs geschilderten Zwecke stehen gravierende Defizite vor allem beim Parlamentarismus und bei den Prinzipien von Demokratie und Gewaltenteilung gegenüber. Auch bei der Rechtsstaatlichkeit und der Volkssouveränität gibt es Probleme. Eine gut verfasste EU sollte ihre Zwecke und Ziele jedoch ohne die besagten Defizite erreichen. Dazu ist eine Reform der EU notwendig. Mehrere Aspekte sind dabei zu berücksichtigen. 1. Die EU als Konföderation mit begrenzter Supranationalität Die EU ist nach den hier vorgelegten Ausführungen weder Nationalstaat noch Bundesstaat, Bund, Imperium oder Teil eines Weltstaates. Vielmehr sollte die EU nach meiner Auffassung als eine Konföderation mit begrenzter Supranationalität konzipiert werden. Es wäre anachronistisch, zu einem Zusammenschluss von Nationalstaaten ohne Supranationalität zurückzukehren. Die drei eingangs genannten Zwecke können ohne ein gewisses Ausmaß an Supranationalität nicht erfüllt werden.

163

Vgl. Ottmann, 2006: 446 und Riklin, 2006: 284. Di Fabio 1998: 97 und 131. 165 Münkler, 2013: 172 ff.; beim Niedergang von großen Mächten und Imperien spielt „overextension“ nach Kennedy (1987: XV-XXV und 11) eine erhebliche Rolle. 164

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Zusätzlich bedarf es der Inkorporation der positiven Errungenschaften des westlichen Nationalstaats in die Konföderation. 166 Freilich ist ein Stück Supranationalität im Begriff Konföderation bereits enthalten. Aber worauf es bei der von mir vorgestellten, besser verfassten EU ankommt, ist die Begrenzung der Supranationalität auf das Wesentliche. Die Vorstellung von der „immer engeren Union“ nach Art. 1 EUV führt letztlich ins Uferlose und könnte die EU auf Grund von Überdehnung zerstören.167 Daher sollte das rechte Maß in diesem zentralen Punkt angestrebt werden.168 Das rechte Maß kann durch die Begrenzung der Supranationalität erreicht werden. Nach meinen Vorstellungen kann besagte Begrenzung durch zweierlei erreicht werden. Zum einen könnte Supranationalität auf die in Punkt 2 meiner Vorschläge vorgelegten Prinzipien beschränkt werden. 169 In dieser Hinsicht sollte die Supranationalität zwingend für alle EU-Mitgliedstaaten sein. Ein Nicht-Befolgen dieser Grundsätze sollte zum Ausschluss des betreffenden EU-Mitgliedstaates aus der Konföderation führen können. Zum anderen könnten weitere freiwillige Vereinbarungen, insbesondere sofern sie der wirtschaftlichen Integration dienen, durch einstimmige Beschlüsse der EU-Mitgliedstaaten hinzukommen. Mehrheitsentscheidungen werden ausgeschlossen, solange die EU-Mitgliedstaaten nicht im konkreten Einzelfall mit einer Mehrheitsentscheidung einverstanden sind.170 Beschlüsse mit unmittelbarer Wirkung in den Mitgliedstaaten können EUOrgane nur im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten fassen. Den Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht kann es somit nur dann geben, wenn alle Mitgliedstaaten zustimmen oder im Verfahren der begrenzten Einzelermächtigung ihre Zustimmung ausdrücklich erteilen beziehungsweise eine Mehrheitsentscheidung billigen. Der EU übertragene Hoheitsrechte können durch einstimmigen Beschluss der Mitgliedstaaten wieder zurückgenommen werden. Eine Rücknahme von Hoheitsrechten durch einzelne Mitgliedstaaten sollte einem besonderen Verfahren unterliegen, ist aber grundsätzlich mit Ausnahme der unten in Punkt 2 genannten Grundsätze möglich. Der grundsätzliche Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht wird ausgeschlossen. Supranationalität ist demnach nur in beschränktem Umfang notwendig. Zum einen soll Supranationalität die unerlässlichen rechtlichen Grundsätze und die wirtschaftliche Integration sichern helfen. Dadurch könnte zugleich der Frieden in Europa gesichert und ein Ausgleich für die global zu geringe Größe der EU-Mitgliedstaaten geschaffen werden. Zum anderen sollte die Supranationalität derart begrenzt werden, dass die oben genannten Defizite vermieden werden können. 166

Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel IX.3. Die Überdehnung wurde in Kapitel VIII.3 thematisiert. 168 Das rechte Maß ist seit Platon und Aristoteles ein wesentlicher Grundsatz des Denkens in der westlichen Kultur: siehe dazu Ottmann, 2001: 1 – 224. 169 Wie Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, usw.: siehe dazu IX. 4., Punkt 2. 170 Das BVerfG bestätigte 2009 das „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ (BVerfGE 123: 267). 167

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2. Relativierung wichtiger Begriffe Die Begriffe Demokratie, Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit bedürfen einer Erläuterung.171 Nach Alois Riklin hat die westliche Zivilisation die kombinierten Ideale von „Machtbändigung, Machtteilung, Machtbeschränkung und Machtbeteiligung“ erfunden, wobei die ersteren drei Begriffe den Rechtsstaat ausmachen würden.172 Vom Volk gehe nicht wirklich alle Staatsgewalt aus. Hinter dem Begriff der rechtsstaatlichen Demokratie stecke die Vorstellung von der Mischverfassung.173 Eine ungemischte Demokratie gebe es kaum. Vielmehr würden sich in der Demokratie „oligokratische“ und sogar „monokratische“ Elemente finden.174 Die Monokraten seien die gewählten Könige der Demokratie. Das oligokratische Element würde durch die politische Klasse vertreten, die das Volk zwischen den Wahlen vertrete. Aufschlussreich sind auch Riklins Ausführungen zu den Defiziten der Gewaltenteilungstheorien. Die Aufteilung der Gewalten in Legislative, Exekutive und Judikative würde zu strikt gesehen. Als funktionelles Defizit in allzu striktem Sinne könne man einstufen, dass die Regierung Vorschläge vor der Gesetzgebung unterbreite und die Außenpolitik oft ohne Parlament bestimme. Strukturell gebe es neben Parlament, Regierung und Gerichten noch die Staatsverwaltung, die Bürgerschaft, Medien, Parteien und Verbände. Schon Donato Giannotti habe den politischen Prozess in Vorberatung, Entscheidung und Ausführung unterteilt und damit klargestellt, dass außer dem Parlament andere Akteure bei der Gesetzgebung beteiligt sind. 175 Außerdem gebe es noch terminologische Defizite. So würde der Begriff Gewalt bzw. „pouvoir“ oder „power“ für Funktionen und Organe verwendet. In keiner rechtsstaatlichen Demokratie würde die „Gewaltentrennung“ jedoch strikt befolgt. Vielmehr weise die Gewaltenteilung „immer Mischungen auf“.176 Die Erörterungen von Alois Riklin sollten auch im Zusammenhang mit einer EU-Reform berücksichtigt werden, vermitteln sie doch ein realistisches Bild des politischen Prozesses in rechtsstaatlichen Demokratien. Allerdings sollte die Relativierung der Begriffe nicht überstrapaziert werden. 3. Positive Errungenschaften des Nationalstaats Trotz der unter Punkt IX. 2. erfolgten Relativierungen muss von einer gesicherten politischen Basis ausgegangen werden. Diese Basis findet sich in den positiven Errungenschaften des Nationalstaats wie Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Mischverfassung, Parlamentarismus und Volkssouveränität. 171

Diese Ausführungen lehnen sich eng an Riklin (2006) an. Riklin, 2006: 399. 173 In Bezug auf die EU könnte man eher von einer gemischten Verfasstheit sprechen. 174 Riklin, 2006: 405 und 407. 175 Giannottis 1530 geschriebene und erst viel später veröffentlichte „Republica fiorentina“ ist ein sehr beachtenswertes Werk über die Mischverfassung: siehe Riklin, 2006: 141 – 181. 176 Riklin, 2006: 423. 172

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Im westlichen Nationalstaat sind somit viele Prinzipien und Erkenntnisse entwickelt worden, die von zentraler Bedeutung für eine gute politische Ordnung sind. Zu Recht lässt sich der Nationalstaat jedoch wegen seiner Neigung zum Krieg kritisieren.177 Eine lohnenswerte Aufgabe der EU wäre es, die positiven Errungenschaften des Nationalstaats zu inkorporieren und gleichzeitig dessen Nachteile zu vermeiden. 4. Vorschläge für eine besser verfasste EU. Die folgenden Vorschläge könnten bei der Suche nach einer besser verfassten EU hilfreich sein.178 1.

Die EU wird als Konföderation mit begrenzter Supranationalität verfasst. Die EU erhält von ihren Mitgliedstaaten Hoheitsrechte lediglich in einem Ausmaß verliehen, wie dies plausibel und für die in Punkt 2 genannten Prinzipien dienlich ist.

2.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind folgenden Prinzipien vorrangig verpflichtet: Friedenssicherung, Grundrechte wie Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Volkssouveränität.

3.

Beschlüsse der EU sollten möglichst einstimmig gefasst werden, da der Legitimität der gleiche Rang wie der Effizienz zukommen sollte.179 Bei Mehrheitsbeschlüssen sind die Interessen der großen Mitgliedstaaten vorrangig zu beachten. Die Stimmenverteilung im Europäischen Parlament kann nach proportionalen Gesichtspunkten gestaltet werden. Die Zahl der Abgeordneten wird der der Staatsangehörigen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten im Verhältnis 1/1 Million angepasst. Beispielsweise kämen derzeit der BRD 82 und Polen 38 Abgeordnete zu. Mitgliedstaaten unter einer Million Staatangehörige könnten einen Abgeordneten stellen. Das Europäische Parlament würde dann über etwa 500 Abgeordnete verfügen. Für andere Organe der EU wie die Europäische Zentralbank könnte die Stimmenverteilung folgendermaßen aussehen: die sechs großen Mitgliedstaaten erhalten je eine Stimme und vier Stimmen kommen dadurch hinzu, dass jeweils vier bis sechs westliche, nördliche, östliche und südöstliche Mitgliedstaaten jeweils eine Stimme bekommen, so dass ein Gremium mit 10 Stimmen entsteht.

4.

Die Rechtssetzung rein nationaler Rechtsakte erfolgt durch die nationalen Parlamente. Auch für die Rechtssetzung von Rechtsakten mit europaweitem Belang sind vorrangig die nationalen Parlamente zuständig. Dem Europäischen Parlament kommt wegen fehlender Legitimation lediglich beratende Funktion zu. 177

Vgl. Langewiesche, 2011: 32 ff.; dazu auch Kennedy, 1987 und Winkler, 2013. Meine Vorschläge decken sich zum Teil mit den Vorschlägen von Grimm, 1995: 48 – 49; Böckenförde, 1997: 41; Herzog, 2014: 143 – 144 und Cameron, 2014. 179 Zu Fragen von Legitimität und Effizienz in der EU siehe Blankart, 2011: 653 – 696. 178

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Beide Organe können einen Gesetzgebungsverbund bilden. Die beratende Funktion des Europäischen Parlaments ist bedeutsam, da es unter Umständen über mehr Erfahrung in europäischen Angelegenheiten verfügt als die nationalen Parlamente. Rechtsaktsinitiativen europaweiter Bedeutung können von den nationalen Parlamenten, dem Europäischen Parlament und den Exekutivorganen der EU-Mitgliedstaaten und der EU eingebracht werden. Die nationalen Parlamente bleiben der Dreh- und Angelpunkt der Gesetzgebung in der EU. Die Parlamente aller 28 Mitgliedstaaten müssen der jeweiligen Rechtssetzung von europaweiter Bedeutung zustimmen. Vom Prinzip der Einstimmigkeit kann in begründeten Einzelfällen abgewichen werden. EU-Mitgliedstaaten, für die die jeweilige Rechtssetzung ohne Belang ist, können aus dem jeweiligen Verfahren ausscheiden, so dass die Rechtssetzung nur für einen Teil der Mitgliedstaaten gilt. Zusätzlich könnte bei fehlender Einstimmigkeit ein Verfahren eingeführt werden, bei dem lediglich eine Rechtsanwendungsempfehlung statt eines Rechtsanwendungsbefehls ausgesprochen wird. 180 Dabei wird auf die Vereinheitlichung von Recht in der EU bewusst verzichtet. In der Praxis dürften die meisten Mitgliedstaaten jedoch der Empfehlung folgen. Der Grund hierfür dürfte in der viel sorgfältigeren Ausarbeitung der zahlenmäßig geringeren Rechtsakte im Vergleich zur derzeitigen Praxis zu suchen sein. Auf diese Weise wird dann doch ein Beitrag zur prinzipiell wünschenswerten Vereinheitlichung von Recht in der EU geleistet. 5.

Die Exekutive der EU besteht aus dem Europäischen Rat und dem Rat. Die Exekutive der EU ist keine Regierung, da die EU kein Bundesstaat ist. Die Exekutive der EU behandelt Probleme von gemeinsamem europäischem Belang und kann Verwaltungsakte erlassen, die in den Mitgliedstaaten wirksam sind.

6.

Der Europäische Rat ist das oberste Exekutivorgan der EU. Der Europäische Rat wählt eine(n) Vorsitzende(n), der bzw. die die EU nach innen und außen repräsentiert.181

7.

Die EU-Kommission ist die Verwaltungsbehörde der EU entsprechend der Ministerialbürokratie der Regierungen der Mitgliedstaaten. Die Kommissare der EU-Kommission und ihr Präsident werden vom Europäischen Rat ernannt. Die EU-Kommission arbeitet der Exekutive der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu.

8.

Der EuGH kann nicht als oberstes Gericht der EU gelten, da die EU kein Bundesstaat ist. Der EuGH entscheidet über Probleme von europäischem Belang, jedoch nicht über Verfassungsfragen der EU-Mitgliedstaaten. Dem EuGH wird ein Gericht übergeordnet. Dieses Gericht könnte aus zehn Verfassungsrichtern der EU-Mitgliedstaaten bestehen, die im gleichen Stimmenverhältnis wie

180 Madison (1994: 84) spricht sich 1787 gegen bloße Empfehlungen im neuen Bundesstaat aus, aber die EU ist eben kein Bundesstaat. 181 Auch für Wessels (2011: 102) ist der Europäische Rat der zentrale Akteur.

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die Mitglieder der Europäischen Zentralbank von den nationalen Parlamenten der betreffenden Mitgliedstaaten gewählt würden. Dieses Gericht könnte über Urteile des EuGH letztinstanzlich entscheiden. Urteile des EuGH können darüber hinaus von den nationalen obersten Gerichten für den Bereich ihrer Mitgliedstaaten bestätigt oder abgelehnt werden. Unabhängig davon können nationale oberste Gerichte und der EuGH einen europäischen Gerichtsverbund bilden und somit schon im Vorfeld vor wichtigen Entscheidungen zu einer ausgewogenen Urteilsfindung beitragen. 9.

Zur Konsolidierung der EU erfolgt bis auf weiteres ein Stopp für weitere Neuaufnahmen.182 Die derzeitigen Beitrittskandidaten können nach Zustimmung aller Mitgliedstaaten assoziiert werden. Für die Mitgliedschaft in der EU sind strenge Aufnahmekriterien dauerhaft zu erfüllen, die sich an den in Punkt 2 aufgeführten Prinzipien orientieren.

10. Es wird ein Ausschlussverfahren für Mitgliedstaaten vereinbart, die sich nicht an die in Punkt 2 aufgeführten Prinzipien der EU halten. Das Ausschlussverfahren könnte in zwei Phasen ablaufen. In der ersten Phase wird nach wiederholten Ermahnungen der aktive in einen passiven Mitgliedstatus verwandelt. In der zweiten Phase kann dann der endgültige Ausschluss durch den Europäischen Rat zum Beispiel mit vier Fünfteln Mehrheit der Stimmen mit Zustimmung durch die nationalen Parlamente erfolgen. 11. Die EU ist auf den militärischen Schutz durch die USA angewiesen. Daher ist ein Bündnis mit den USA notwendig. Allerdings sollten die Mitgliedstaaten der EU genügend eigene Streitkräfte aufbauen, um einen wirkungsvollen militärischen Schutz der EU zu gewährleisten. 12. In finanziellen Angelegenheiten trägt jeder Mitgliedstaat die volle Verantwortung und haftet für eigene Versäumnisse. Das Budgetrecht verbleibt uneingeschränkt bei den nationalen Parlamenten.183 13. Angesichts ihres Bestrebens, einen Ausgleich für die im globalen Maßstab geringe Größe ihrer Mitgliedstaaten zu schaffen und zugleich über eine nur beschränkte Supranationalität zu verfügen, sollte sich die EU vor einer Überdehnung ihrer Macht hüten. 14. Die EU sollte sich der Gefährdung ihres Fortbestands durch den Austritt wichtiger, besonders ihrer großen Mitgliedstaaten bewusst sein. Die hier vorgelegten Vorschläge gehen im Wesentlichen vom bisherigen institutionellen Gefüge der EU aus. Sie verändern jedoch die Gewichte innerhalb des institutionellen Gefüges. Vorrangiges Ziel meiner Vorschläge ist die besser verfasste

182

ken. 183

Auch Herzog (2014: 144) fordert, die Aufnahme neuer Staaten prinzipiell zu überdenAuf fiskal- und geldpolitische Probleme konnte hier nicht näher eingegangen werden.

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Union jenseits von Irrationalität, nicht die immer engere Union.184 Es sollte eine Union angestrebt werden, die die positiven Errungenschaften des Nationalstaates westlicher Prägung inkorporiert, aber über den Nationalstaat mittels begrenzter Supranationalität hinausgeht. Literatur Acemoglu, Daron/Robinson, James A. (2012): Why Nations Fail: the Origins of Power, Prosperity, and Poverty. New York: Crown Business. Bach, Maurizio (2013): Jenseits der Souveränitätsfiktion: Der Nationalstaat in der Europäischen Union. In: Bach, Maurizio (Hrsg.), Der entmachtete Leviathan: Löst sich der souveräne Staat auf? Baden-Baden: Nomos, S. 105 – 124. Becker, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2006): Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte. Berlin: Duncker & Humblot. Benz, Arthur (2008): Der moderne Staat. 2. Auflage. München: Oldenbourg. – (2009): Politik in Mehrebenensystemen. Wiesbaden: VS Sozialwissenschaften. Blankart, Charles B. (2011): Öffentliche Finanzen in der Demokratie. 8. Auflage. München: Vahlen. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1997): Welchen Weg geht Europa? München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Breuer, Stefan (1998): Der Staat: Entstehung, Typen, Organisationsstadien. Reinbek: rororo. Cameron, David (2014): My seven targets for a new EU. „The Telegraph“ vom 15. 3. 2014. Di Fabio, Udo (1998): Das Recht offener Staaten: Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie. Tübingen: Mohr Siebeck. – (2011): Öffentliche Meinung im System polyzentrischer Herrschaft. In: Dreier, H./Graf, F.W./Hesse J.J.(Hrsg.), Staatswissenschaften und Staatspraxis. Baden-Baden: Nomos, S. 366 – 381. Geiger, Rudolf (2013): Grundgesetz und Völkerrecht mit Europarecht. 6. Auflage. München: Beck. Geppert, Dominik (2013): Ein Europa, das es nicht gibt. Berlin: Europa Verlag. Grimm, Dieter (1995): Braucht Europa eine Verfassung? München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung. – (2009): Souveränität: Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs. Berlin University Press. – (2012): Die Zukunft der Verfassung II: Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung. Berlin: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (2011): Zur Verfassung Europas: Ein Essay. Berlin: Suhrkamp. Haller, Max (2009): Die Europäische Integration als Elitenprozess: Das Ende eines Traums? Wiesbaden: VS Sozialwissenschaften. 184 Die immer engere Union wird auch von Majone (2005: 209 – 221) und vom britischen Premierminister Cameron (2014) abgelehnt.

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IV. Rezensionen

Rezensionen

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Exil im Denken: Andreas Hess’ Einführung in Leben und Werk Judith Shklars Andreas Hess: The Political Theory of Judith N. Shklar: Exile from Exile. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2014, 256 S. Bis vor kurzem war die amerikanische Philosophiehistorikerin und politische Theoretikerin des Liberalismus Judith Nisse Shklar (1928 – 1992) in Deutschland, wo überhaupt, vor allem für zwei Dinge bekannt: für ihre durch die mantrahafte Wiederholung von Richard Rorty in „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ popularisierte Definition der Liberalen als einer Person, für die Grausamkeit das größte Übel ist; und für das mehr als zwanzig Jahre einzige auf deutsch vorliegende Buch „Über Ungerechtigkeit“ (1990, dt. 1992), in dem sie eine negativistische Gerechtigkeitstheorie entwickelt, die der Ungerechtigkeit eine eigene moralische Phänomenalität zuspricht.1 War erstere bereits Auswuchs der im angloamerikanischen Raum lange Zeit allein auf das Schlagwort des von ihr formulierten „liberalism of fear“ verengten Rezeption ihrer Schriften, blieb letzteres ohne die Kenntnis ihres weiteren Werkes ein isolierter Debattenbeitrag, dessen Grundaussage in der Folge zumeist allein darin gesehen wurde, die historische Kontingenz der Unterscheidung von Unglück und Ungerechtigkeit bewusst zu machen. Dagegen fanden weder ihre philosophiehistorischen noch ihre systematischen Arbeiten zu Rechtstheorie, Utopie und Staatsbürgerschaft hierzulande nennenswerte Aufnahme. International dagegen sieht es seit einiger Zeit sehr viel differenzierter aus: Ging es in einer ersten Rezeptionsphase nach der postumen Veröffentlichung zweier wichtiger Essaybände 1998 vor allem um eine umsichtige Kanonisierung,2 stellt sich das seit etwa fünf Jahren wieder sprunghaft angestiegene Interesse sachbezogen in den Kontext gegenwärtiger Debatten. Dabei dominieren drei Stränge neuerer Rezeption: Erstens wird Shklar als paradigmatische Vertreterin eines (rückwirkend konstruierten) liberalen politischen Realismus angeführt. Dies vor allem als Reaktion auf „realistische“ und dissenstheoretische Einwände gegen den Liberalismus in der Folge John Rawls’, wie sie etwa von Raymond Geuss oder Chantal Mouffe vorgetragen wurden. Shklar erscheint hier als seltene Vertreterin eines Liberalismus, der sich nicht in harmonisierenden normativen Konstruktionen und Abstraktionen ergeht, sondern das Primat körperlicher Verletzlichkeit, eine vor allen positiven Ansprüchen negativ zu sichernde Einhegung des Staates und die von unauflöslichen Konflikten getragene Grunddisposition liberaler Gemeinwesen betont.3 Zweitens gilt das Interesse Shklars als einer Rechts- und Gerechtigkeitstheoretikerin. Dabei wird die bestehende Rezeption, die sich auf ihre Überlegungen zu staatsbürgerlicher Teilhabe über ein Recht auf Erwerbstätigkeit in „American Citizenship“ (1991) und ihre negativistische Gerechtigkeitsmeditation in „Über Ungerechtigkeit“ stützt, von einer neueren überlagert, die sich ihre Studie zur Rechtsphilosophie und den Nürnberger Prozessen zum Ausgangspunkt wählt. „Legalism“ (1964), das gegen naturrechtliche sowie positivistische Modelle des Rechts als von Politik und Moral gelöster Regelbefolgung zu Felde zieht, ist in allerjüngster Zeit von einem ewigen Geheimtipp der Rechtsphilosophie zum vielfach nutzbaren Kerntext avanciert.4 1

Rorty, 1989; Shklar, 1992. Shklar, 1998a; Shklar, 1998b. 3 Vgl. Sleat, 2013; Forrester, 2012; Sabl, 2011. Für dissenstheoretische Überlegungen vgl. die Essays im Shklar-Schwerpunkt der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, 62 (4), 2014. 4 Vgl. Misra, 2015; Moyn, 2014; Stullerova, 2013. 2

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Drittens wird Shklar neuerdings für die ideengeschichtliche Aufarbeitung einer äußerst lebhaften Epoche der politischen Ideengeschichte herangezogen, die vom „end of ideology“ (Daniel Bell) der späten Fünfziger- bis zur Revitalisierung der Politiktheorie durch Rawls und der Kommunitarismusdiskussion der Achtzigerjahre reicht. Über Shklars intellektuell-historische Verortung gibt es bislang noch keinen Konsens; so stellt Jan-Werner Müller Shklar in die Umgebung des „cold war liberalism“ eines Karl Popper oder Raymond Aron, während Katrina Forrester gerade auf Shklars Distanz zu diesem Feld besteht.5 Angesichts dieser Entwicklung, zu der sich nun mit der Publikation von „Der Liberalismus der Furcht“ (1989, dt. 2013) und „Ganz normale Laster“ (1984, dt. 2014) auch die fortschreitende Entdeckung Judith Shklars in Deutschland gesellt,6 ist man fast geneigt, von einem „Shklarian moment“ zu sprechen, der eine systematische Aufarbeitung ihres Œuvres umso dringlicher erscheinen lässt. Der in Dublin lehrende Politikwissenschaftler Andreas Hess hat nun – nach Paul Magnettes etwas allzu komprimiertem „Le libéralisme des opprimés“7 – die erste ausführliche Gesamtdarstellung von Shklars Leben und Werk vorgelegt. Der Untertitel „Exile from Exile“ weist bereits auf den Anspruch hin, dass hier Ideengeschichte nicht losgelöst von persönlichen Umständen geschrieben werden soll, womit Hess umsetzt, was er in Shklars eigenem Zugang zur politischen Theorie als historisch kontextualisierender in einem noch über die „Cambridge School of Political Theory“ hinausgehenden Sinn erkennt (12). Anders als Magnette, der leicht reduktionistisch das Thema der Unterdrückung wählte, führt Hess ein Leitmotiv ein, das weniger auf der Hand liegt, aber Leben und Werk bestechend verbinden kann: das des Exils. Damit spielt er einerseits auf Shklars eigenen Lebensweg als Emigrantin an und findet andererseits einen roten Faden, der sich von ihren frühesten Schriften bis zu ihrem letzten, unvollendet gebliebenen Projekt zieht, einer Theorie des politischen Exils. Im Anspruch, „the making of Judith Shklar’s thought“ (4) zu zeigen, will Hess nun diese sich aus der Biografie entwickelnde und auf das Werk wirkende „optimal marginality“ (13) wiederfinden. Shklar erscheint bei ihm als eine bewusst randständige Philosophin, die ihre Außenseiterposition in eine ethische Haltung der Theorieproduktion transformierte und sich so in eine überraschende Reihe anderer Exildenker wie Alexander Herzen, Robert Musil und Hans Sahl einreiht. Exil erscheint hier als eine Lebensform der dauerhaften Einübung des Skeptizismus. Diese Perspektive ist es, die dem Buch seine Qualität verleiht und einen genuin neuen Blick auf Shklar erlaubt; sie bedeutet aber auch, wie sich zeigen wird, das größte Hindernis für den Versuch der Popularisierung und Fruchtbarmachung ihres Denkens. Hess geht in den fünf Kapiteln seines Buches chronologisch vor, referiert biografische Stationen im Zusammenhang mit Shklars Veröffentlichungen. Weil er den Kindheitserfahrungen eine theoretisch formative Kraft zuspricht, ist das faszinierende erste Kapitel allein Shklars Jugend in Riga und der riskanten Flucht ihrer Familie nach Kanada gewidmet. Es basiert auf den wenigen biografischen Äußerungen und einem bislang unveröffentlichten Oral-History-Interview von 1981, und es zeichnet ein detailliertes Bild einer jüdisch-großbürgerlichen Außenseiterexistenz in den „bloodlands“ der Zwischenkriegszeit. Tagtägliche Gewalt, Antisemitismus und innergesellschaftliche Dissoziation bilden den frühesten Erfahrungshorizont der 1928 5 Müller, 2008; Forrester, 2011. Forresters anstehende Veröffentlichung ihrer Dissertation dürfte in diesen Zusammenhang aufschlussreich werden: Forrester, 2015. 6 Im Interesse des „full disclosure“ sei gesagt, dass der Rezensent Übersetzer und Herausgeber beider kürzlich auf Deutsch erschienenen Bücher Shklars ist: Shklar, 2013 und Shklar, 2014. Ebenso ist er zusammen mit Burkhard Liebsch Mitherausgeber des Shklar gewidmeten Schwerpunkts der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, 62 (4), 2014. 7 Magnette, 2006.

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als Judita Nisse geborenen Judith Shklar. Kurz nach Deutschlands Einmarsch in Polen tritt die Familie eine halsbrecherische Flucht über die Sowjetunion und Japan in die USA an, wo die Nisses zunächst interniert werden, bevor sie sich endlich in Montreal niederlassen. Shklars Hochbegabung und frühe Belesenheit geben ihr einen Vorsprung an der als anspruchslos erfahrenen McGill University, wo Shklar beim Rousseau-Forscher Frederick Watkins Politikwissenschaften studiert, bevor sie 1950 nach Harvard kommt, um sich bei dem deutschen Emigranten Carl J. Friedrich promovieren zu lassen. Die politische Theorie erscheint hier nach der Fluchterfahrung als geradezu biografisch determinierte Studienwahl. In den restlichen Kapiteln rücken Shklars Veröffentlichungen in den Vordergrund: Im zweiten geht es um ihr erstes Buch „After Utopia“ (1957), die aus der Dissertation erwachsenen Auseinandersetzung mit den großen politischen Entwürfen des neunzehnten Jahrhunderts und ihrem Verfall im zwanzigsten. Obwohl Shklar allzu schnell in den Chor derer einstimmt, die das Ende der Ideologien verkünden, gelingt es Hess, Shklars originären Beitrag zu destillieren, den er in einer eher implizit gestalteten Theorie politischer Skepsis und der Kritik an den Totalitarismuskonzeptionen Hannah Arendts und ihres Doktorvaters Carl J. Friedrich erkennt. Auch das zweite Buch „Legalism“ wird hier behandelt, und wieder gehört die geistesgeschichtliche Kontextualisierung zu den Stärken von Hess’ Darstellung, der es in Beziehung zur wirkmächtigen Debatte zwischen Lon L. Fuller und H. L. A. Hart um den Zusammenhang von Recht und Moral einerseits und der Kontroverse um den Eichmann-Prozess andererseits einordnet (es gehört zu den großen Enttäuschungen der politischen Philosophie, dass „Legalism“ zu früh erschien, um noch auf Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ eingehen zu können; zumindest wissen wir, dass es in Arendts Arbeitsbibliothek stand). Das dritte Kapitel widmet Hess den beiden großen philosophiehistorischen Schriften Shklars, der einflussreichen Rousseau-Studie „Men and Citizens“ (1969) und der heute beinahe vergessenen Exegese der „Phänomenologie des Geistes“ mit dem Titel „Freedom and Independence“ (1974). Hess stellt sie als eine Form unausgesprochener Selbstkorrektur dar, die politische Theorie nicht mehr für tot, sondern zumindest im Modus der Geistesgeschichte noch für praktizierbar hält. Nach Hess sind die beiden Bücher vor allem Sondierungen ihrer „weichen“ Faktoren, den moralpsychologischen Voraussetzungen und Folgen politischer Philosophie. Dass der Einfluss der Bücher so unterschiedlich war, hängt dabei durchaus auch von Sympathien ab: Über Rousseau wird Shklar bis an ihr Lebensende noch mehr als zwei Dutzend weitere Essays und Rezensionen schreiben, während Hess für die andere Seite konstatiert: „There appeared to be very little or no love lost for Hegel.“ (94) Nach dieser europäisch dominierten Phase beschreibt Hess im vierten Kapitel Shklars Wende zum Studium amerikanischer politischer Theorie. Deutlicher noch als zuvor wird hier die ambivalente Beziehung zu Hannah Arendt.8 Trotz der geteilten Bewunderung für die Amerikanische Revolution hält Shklar Arendts absolute Trennung sozialer Gleichheit und politischer Freiheit als den jeweiligen Hauptanliegen der Französischen und der Amerikanischen Revolution für zu reduktionistisch. Sklaverei und ihre späte Überwindung im Amerikanischen Bürgerkrieg etwa relativieren bereits den absoluten Neuanfang, den Arendt in Philadelphia gesehen hatte. Vor allem aber nimmt sie an der Verherrlichung des Republikanismus und jener hochpersonalisierten Idee von Politik Anstoß, die keine Verfahren, sondern nur Rhetoren auf der Agora zu kennen scheint. Diese Differenz wird in Shklars Hauptwerk deutlich: In „Ganz normale Laster“ entwirft sie eine Moralpsychologie, die aristotelische Tugendethik zugunsten der Minimalvorstellung schlimmster Übel ablehnt, und einer so hoch pluralistischen 8

Zum Verhältnis zwischen Shklar und Arendt ausführlich: Honneth, 2014.

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und ethnisch diversen Gesellschaft wie den USA ein System verschreibt, das einen Locke’schen Liberalismus der Rechte mit dem Credo der Grausamkeitsvermeidung verbindet. In ihrer kurzen Studie „Montesquieu“ (1987) – nach dem Rousseau- und dem Hegel-Buch letzter Teil der heimlichen Trilogie der Ursprünge des Liberalismus – wird dieser „Liberalismus der Furcht“ noch einmal historisch rückversichert und findet schließlich im gleichnamigen Essay von 1989 seine berühmteste, oft universalistisch gelesene Formulierung. Hess betont aber gerade seinen amerikanischen Hintergrund und zweifelt, „whether the liberalism of fear thus conceived can easily be transplanted or even turned into a universal model“ (159). Aus derselben Perspektive liest er auch das bereits genannte „Über Ungerechtigkeit“ und ihr letztes Buch, „American Citizenship“, das eine erneute Abrechnung mit der Herospolitik Arendts darstellt und ihrem „Glück des öffentlichen Handelns“ als dem Recht auf politische Beteiligung das Recht auf eine die gesellschaftliche Stellung sichernde Erwerbstätigkeit gleichwertig zur Seite stellt. Während Hess das Werk referiert, schreibt er Shklars Biografie weiter, die nun vor allem ihre marginaliserende Behandlung an der wenig marginalen Institution Harvard in den Blick nimmt: Sie ist, vom ersten Dreijahresvertrag 1956 über die hinausgezögerte unbefristete Anstellung, die in das Interim einer Lecturer-Position übergeht und der erst 1971, mit 43 Jahren, die volle Professur folgt, ein Lehrstück in institutionellem Sexismus, aber paradoxerweise auch in jener Reaktion der „optimal marginality“, die Shklar in ihrer offensichtlich an den Rand gedrängten Position doch ihre Würde und Unabhängigkeit bewahren lässt. Im fünften und letzten Kapitel schlägt Hess, auch vor dem Hintergrund dieser biografischen Ausgrenzung, dann den Bogen zu Judith Shklars unvollendetem Projekt einer Theorie des Exils. Erschienen sind davon lediglich zwei Essays, aber im Nachlass finden sich noch Vorarbeiten aus einer Vorlesung über politische Loyalität (deren Edition zu wünschen ist), die an die Charakterstudien aus „Ganz normale Laster“ anschließen. Politische Theorie unter dem Blickwinkel des Exils zu schreiben ist für Hess ein epistemologisch aufschlussreicher Ansatz, der es möglich gemacht hätte „to write an entire alternative history of political thought“ (182), weil sich in ihm ihre Grundfragen paradigmatisch verdichten. Dazu kam es nicht mehr. Shklar starb 1992 an einem Herzinfarkt. Judith Shklar erscheint in Hess’ Buch als die untypischste Vertreterin jener Gruppe europäischer Emigranten des zweiten Weltkriegs, die auf die amerikanische Universitätslandschaft einen unvergleichlichen Einfluss hatten. Die Stärken seiner Darstellung liegen in der Kontextualisierung dieses spezifischen Moments der amerikanischen Nachkriegspolitikwissenschaft einerseits und andererseits im Konzept der „optimal marginality“ als plausibler Erklärung für die theoretische Verarbeitung biografischer Erfahrungen. Aber genau sie ist auch die Crux seiner Studie: So sehr die biografische Perspektive verlockend und sicherlich auch für das Werk erhellend ist, so sehr ist fraglich, ob sie nicht gleichzeitig den Blick gerade für das verstellt, was eine systematische Einführung an theoretischer Explikation zu leisten hätte. Es besteht die Gefahr, eine Teleologie des Werks aus den Fügungen der Biografie zu konstruieren oder in epistemisch fragwürdiges Psychologisieren zu verfallen. Mehr noch: Weil Hess die Kanonisierung Shklars vor allem über den historischen Kontext zu erreichen versucht, begibt er sich in die Gefahr zu musealisieren, Shklar eher taxidermisch auszustellen, statt sie als lebendige Gesprächspartnerin in den Diskurs der gegenwärtigen politischen Theorie einzuholen. Gerade dies aber wird in den eingangs genannten Debatten wieder und fruchtbar getan; auf sie geht Hess nur im Vorwort kursorisch ein. Indem er Leben und Werk Shklars aufeinander abbildet, setzt er durch die Kontingenz der Erfahrung die Relevanz ihrer Theorien für die Gegenwart aufs Spiel. Und neben dem Relevanzverlust läuft das im schlimmsten Fall auf eine intellektuelle Ent-

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mündigung hinaus, die in etwa Michael Walzers skandalös reduktionistischem Satz entspricht: „Sie entkam der Gestapo, und so sollen wir alle ihr entkommen.“9 Problematisch ist auch, dass Hess vor allem im Modus des affirmativen Referats schreibt; das ist zwar einer Überblicksdarstellung angemessen, allerdings hinterlässt das volle Einverständnis, das der Autor Shklar entgegenbringt, einerseits den Nachgeschmack der werbenden Parteinahme, die in ihrer Offensichtlichkeit gerade das Gegenteil des gewollten Popularisierungseffekts zeitigen mag, andererseits verhindert diese Nachsicht eine wirklich produktive Auseinandersetzung mit den Aspekten ihrer Schriften, die gerade in ihren Aporien einer konstruktiven Aufarbeitung bedürftig wären. War etwa Shklar, indem sie Rechte- vor Chancengleichheit stellte, blind für identitätspolitische Fragen? Ist ihre Interpretation, man könne den Legalismus umstandshalber ein- und wieder aussetzen, nicht eine Neuauflage der platonischen „edlen Lüge“ und ein schlechtes Rezept politischen Handelns?10 Ist die Diskrepanz zwischen der postulierten „Leere“ des Liberalismus der Furcht und ihren positiveren letzten Arbeiten wirklich nur vor dem amerikanischen Hintergrund aufzulösen? Hat er dann keine Relevanz für andere, europäische Kontexte? Auf diese Fragen geht Hess nicht oder nur kursorisch ein. Freilich ist der Anspruch des Buches der einer „intellectual biography“, in der es primär um die Rekonstruktion der zeitgeschichtlichen Umstände gehen muss. Daher sind diese Lacunae höchstens als Zukunftsdesiderata auszusprechen. Anderes zu tun hieße, in den Worten Shklars, „die häufigste und zugleich größte Sünde eines Rezensenten zu begehen: dem Autor vorzuwerfen, nicht ein ganz anderes Buch geschrieben zu haben.“11 Es bleibt uneingeschränkt die Leistung zu loben, dass Hess die erste geschlossene, alle Schriften berücksichtigende Einführung in Shklars Werk vorgelegt hat. Bis zur großen Shklar-Monografie, die vielleicht den umgekehrten Weg gehen wird und die Lebensgeschichte zugunsten der theoretischen Evaluation zurückstellt, wird Hess’ Buch Grundlage einer jeden Annäherung an das Werk Shklars sein – unterlegen allein seinem Gegenstand, Shklars Texten selbst. Hannes Bajohr, New York Literatur Forrester, Katrina (2011): Hope and Memory in the Thought of Judith Shklar, in: Modern Intellectual History, 8 (3), 2011, S. 591 – 620. – (2012): Judith Shklar, Bernard Williams and Political Realism, in: European Journal of Political Theory, 11 (3), 2012, S. 247 – 272. – (2015, angek.): Morality and Political Action: A History of Anglo-American Political Thought since 1945. Princeton: Princeton University Press. Honneth, Axel (2014): Die Historizität von Furcht und Verletzung: Sozialdemokratische Züge im Denken von Judith Shklar, in: ders.: Vivisektionen eines Zeitalters. Berlin: Suhrkamp, S. 248 – 262. Magnette, Paul (2006): Le libéralisme des opprimés. Paris: Michalon. Misra, Shefali (2015): Doubt and Commitment: Justice and Skepticism in Judith Shklar’s Thought, in: European Journal of Political Theory, 14 (1), 2015, i.E., online bereits abrufbar. 9

Walzer, 2013: 87. Vgl. Moyn, 2014: 691, 704 f. 11 Shklar, 2008: 981.

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Moyn, Samuel (2014): Judith Shklar über die Philosophie des Völkerstrafrechts, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 62 (4), 2014, S. 683 – 707. Müller, Jan-Werner (2008): Fear and Freedom: On ‘Cold War Liberalism’, in: European Journal of Polititical Theory, 7 (1), 2008, S. 45 – 64. Rorty, Richard (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Sabl, Andrew (2011): History and Reality: Idealist Pathologies and ,Harvard School‘ Remedies, in: Floyd, Jonathan/Stears, Marc (Hrsg.): Political Philosophy Versus History? Contextualism and Real Politics in Contemporary Political Thought. Cambridge: Cambridge University Press, S. 151 – 176. Shklar, Judith N. (1992): Über Ungerechtigkeit: Erkundungen zu einem moralischen Gefühl. Berlin: Rotbuch. – (1998a): Political Thought and Political Thinkers. Chicago: University of Chicago Press. – (1998b): Redeeming American Political Thought. Chicago: University of Chicago Press. – (2008): Antike und Moderne, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 6 (56), 2008, S. 976 – 981. – (2013): Der Liberalismus der Furcht. Berlin: Matthes & Seitz. – (2014): Ganz normale Laster. Berlin: Matthes & Seitz. Sleat, Matt (2013): Liberal Realism: A Realist Theory of Liberal Politics. Manchester: Manchester University Press. Stullerova, Kamila (2013): Rethinking Human Rights, in: International Politics, 50 (5), 2013, S. 686 – 705. Walzer, Michael (2013): Über negative Politik, in: Shklar, Judith N.: Der Liberalismus der Furcht. Berlin: Matthes & Seitz, S. 87 – 105.

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Norbert Kersken/Grischa Vercamer (Hrsg.): Macht und Spiegel der Macht: Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik (Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien; Bd. 27), Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2013, 491 S. Die konkrete Herrschaftsausübung während des 12. und 13. Jahrhunderts einerseits und ihre Spiegelung in den Quellen, die legitimierende oder delegitimierende Darstellung von Macht und ihren Trägern andererseits sind Untersuchungsgegenstand der anzuzeigenden Publikation, wobei, wie in dem einleitenden Beitrag von Grischa Vercamer (Macht und Spiegel der Macht: Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik, 9 – 20) erläutert wird, besonders der einem Herrscher nahestehende und die Herrschaft durch seine Darstellung legitimierende und auf diese Weise verfestigende Historiograph sowie dessen Arbeitsweise und Darstellungsmittel in den Blick genommen werden sollen. Diesem Konzept entsprechend wird zunächst in drei Beiträgen die Historiographie selbst ins Zentrum der Betrachtung gerückt (Joachim Ehlers: Machtfragen: Aspekte der historiographischen Literatur im lateinischen Europa des Hochmittelalters, 23 – 40; Norbert Kersken: Geschichtsschreibung und Macht: Beobachtungen zu Texten des 7.–11. Jahrhunderts, 41 – 63; Hans-Werner Goetz: Herrschaft und Geschichte: Legitimation und Delegitimation von Herrschaft mittels historischer Argumentation in der Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts, 65 – 83), bevor ein Rundgang durch Europa von Dänemark über England, Frankreich, Süditalien, das Reich, Polen, Böhmen, Ungarn und Byzanz bis hin zum europäischen Außenposten des Königreichs Jerusalem angetreten wird. Diese Wanderung geschieht – außer in Italien – paarweise, insofern immer ein Beitrag mit historiographischem Aspekt neben einen Beitrag, der die tatsächlichen Machtverhältnisse thematisiert, gestellt wird. Ehlers, der zunächst einen souveränen Überblick über die geistigen Grundlagen des Hochmittelalters bietet, stellt dabei zwei gegensätzliche Autorentypen vor: den durch eine affirmative Nähe zur Macht ausgezeichneten Abt Suger von St-Denis, für den der französische König schlichtweg gut ist und handelt, und den Freisinger Bischof Otto, der über Macht grundsätzlich reflektiert und zu ihr eher kritisch-negativ eingestellt ist, den Herrscher Friedrich Barbarossa aber doch positiv darstellt, wie auch Goetz zeigt, der die Frage nach bewußter Legitimierung von Macht durch mittelalterliche Autoren in das Zentrum seiner Ausführungen rückt und unter anderem zeigt, wie Otto die von Friedrich Barbarossa an ihn herangetragene Bitte erfüllt und die Herrschaft des Staufer darstellt und dabei durch verschiedene Hinweise legitimiert, nicht zuletzt durch die Betonung der Herkunft aus einer glänzenden Fürstenfamilie und des Erfolgs bei der Überwindung der Zeitmisere. Daß sich auch bei anderen Historiographen wie etwa bei Helmold von Bosau das Bemühen um Legitimierung durch historische Argumente findet, überrascht natürlich wenig, zeigt aber die Vielfalt des Einsatzes dieses Mittels, wobei der Feststellung (83) uneingeschränkt beizupflichten ist, nach der Geschichtsschreibung auf eine komplexe und nicht immer eindeutige Weise historisch legitimiert. Der Beitrag von Kersken hingegen fällt etwas aus dem Rahmen des Publikationsprogramms, insofern er die Zeit vor dem 12. Jahrhundert, näherhin den Zeitraum vom 7. bis zum 11. Jahrhundert im Überblick betrachtet, damit aber immerhin so etwas wie die Vorgeschichte zum eigentlichen Untersuchungsthema liefert und dabei zu dem kaum unerwarteten Ergebnis gelangt (57), „dass die Autoren der großen Werke der frühund hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung in den meisten Fällen eine engagierte, kommentierend-wertende Einstellung zu den Vertretern der politischen Macht hatten“. Der sich an diese grundsätzlichen Ausführungen anschließende Spaziergang durch Europa, der einer großen, gegen den Uhrzeigersinn gerichteten S-Linie folgt, ohne daß klar würde, ob dabei ein Prinzip verfolgt wird oder der pure Zufall waltet, beginnt in Dänemark. Mia Münster-

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Swendson („Auf das Gesetz sei das Land gebaut“: Zum Zusammenhang rechtlicher und historischer Diskurse im hochmittelalterlichen Dänemark, 85 – 102) bietet dabei einen Abriß der historischen Entwicklung bis in das 12. Jahrhundert hinein und erörtert anhand der „Lex castrensis sive curiae“, einer gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstandenen, angeblichen Rekonstruktion eines vergessenen Gesetzestextes aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, die Bedeutung bewußten Konstruierens historischen und juristischen Wissens für Verständnis und Praxis der dänischen Königsherrschaft im adligen Umfeld der Zeit sowie für die zentrale Rolle des Königs als Gesetzgebers, die Thomas Foerster („… um in der Gerechtigkeit nicht weniger stark wie in der Schlacht zu erscheinen“: Königtum und Recht in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, 103 – 118) auch als wichtiges Thema für den Saxo Grammaticus erweist, machen nach dessen (aber wohl keinesfalls nur nach dessen) Ansicht doch nicht bloß militärischer Erfolg und kriegerische Tapferkeit den idealen Herrscher aus, sondern vor allem Gerechtigkeit und (nicht allein vom König erwartete) gute Rechtsprechung. Gleichzeitig zeigt sich an den „Gesta Danorum“ die ohnehin allgemein bekannte Bedeutung von Konsens und Partizipation der Großen für die mittelalterliche Königsherrschaft und eine Etappe auf dem Weg zu konsensualer Herrschaft. In England hingegen präsentiert sich ein völlig anderer Entwicklungstand der Monarchie. Aus keinem europäischen Land der Zeit dürfte mehr Verwaltungsschriftgut überliefert sein als aus dem anglonormannischen Königreich, wie Björn Weiler (Machtstrukturen und Machtvorstellungen in England, 119 – 144) zu Recht hervorhebt. In keinem anderen Land gab es zudem so früh einen vergleichbar ausdifferenzierten Verwaltungsapparat und damit ein wichtiges Herrschafts- und Machtinstrument für das Königtum. Daher kann es auch kaum überraschen, wenn in hofnah entstandenen Abhandlungen über verschiedene „Verwaltungsbereiche“ („Dialogus de Scaccario“, „Tractatus de Legibus“ und „Constitutio domus regis“) neben dem idealtypisch geschilderten Verlauf von Verwaltungshandlungen auch ein machtvolles Bild von einem weitgehend unumschränkten und allein von Gott richtbaren Herrscher vermittelt wird, das der gesellschaftlichen Realität freilich nicht völlig entsprach. Außerdem klang auch an, daß der herausragenden Stellung Pflichten entsprachen (und solche Gedankengänge, wenn auch noch so zart angedeutet, dürften auf die spätere Einfriedung der monarchischen Stellung des englischen Königs eingewirkt haben). Im 12. Jahrhundert jedoch wurde in den Geschichtswerken des Wilhelm von Malmesbury und des Heinrich von Huntingdon, gleichsam in Ergänzung zu den aus der Herrschaftspraxis erwachsenen Traktaten, der Idealkönig als Friedensherrscher gezeichnet, dessen Wirken in heilsgeschichtlichem Kontext stand und der Vervollkommnung der Untertanen dienen sollte, wie Alheydis Plassmann (Bedingungen und Strukturen von Machtausübung bei Wilhelm von Malmesbury und Heinrich von Huntingdon, 145 – 171) darlegt. Den allmählichen Prozeß der Ausdehnung der königlichen Herrschaft und der monarchischen Konzentration in Frankreich beschreibt Georg Jostkleigrewe (Gewalt – Konsens – Recht: Grundstrukturen politischer Kommunikation im französischen Königreich des 12. und 13. Jahrhunderts, 173 – 198) unter dem Aspekt der politischen Kommunikation, wobei er für seine Analyse von drei verschiedenen Arten dieser Kommunikation ausgeht: von der gewaltbasiert-militärischen, der administrativ-juristischen und der konsensualen. Administrativ-juristische Herrschaft gab es nach seiner Ansicht am ehesten im engeren Raum der Krondomäne des Pariser Beckens, während außerhalb derselben das königliche Eingreifen stärker gewaltbasiert war – und dies soll auch noch, wobei die Gewalt nun hauptsächlich durch königliche Amtsträger und nicht mehr durch den Herrscher selbst ausgeübt wurde, um 1300 so gewesen sein, obwohl sich der Bereich des administrativen Zugriffs ausdehnte. Konsensuale Herrschaft hingegen habe in Frankreich weniger eine Rolle gespielt als in England oder im Reich, ständisch-parlamentarische Institutionen seien daher bezeichnenderweise kaum ausgebildet worden. Trotzdem stellt sich, so darf wohl angemerkt werden, die Frage, ob das hoch- und

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spätmittelalterliche Königtum nicht doch von einer breiten Zustimmung getragen worden ist, also von Konsens. Dabei wurde für die Entwicklung, daß Frankreich eine „Königsnation“ werden konnte, der Umstand bedeutsam, daß die französischen Könige nicht unbedingt eigene Legitimationsstrategien entwickeln mußten, sondern sich auf von außen kommende Legitimationsangebote stützen konnten, wie sich dies etwa an der königsorientierten, die Herrscher grundsätzlich positiv darstellenden Geschichtsschreibung des Königsklosters St-Denis zeigen läßt (Julian Führer: Französisches Königreich und französisches Königtum in der Wahrnehmung der zeitgenössischen Historiographie: Suger von Saint-Denis und Guillaume de Nangis, 199 – 218). Mit dem ohne Parallelerörterung gebliebenen Beitrag von Julia Becker (Strenuitas et rex consultus: Herrscherattribute und Darstellung von Herrschaft bei Gaufredus Malaterra und ,Hugo Falocandus‘, 219 – 234) gelangen Italien und das abendländische Imperium in das Blickfeld der Betrachtung, wobei für die auf Sizilien konzentrierten Darlegungen zu beachten ist, daß nun erstmals auch ein nichtköniglicher Herrscher, nämlich Roger I., verstärkt berücksichtigt wird. Er schuf die normannische Machtstellung auf der Insel durch Eroberung, wie in der Historiographie betont wird, um die Unabhängigkeit vom Papsttum, die ansonsten aber seit 1059 gegeben war, herauszustellen. Doch wird auch deutlich, daß nach dem Verständnis der Geschichtsschreiber Macht erst dann zur dauerhaften legitimen Herrschaft wird, wenn sie durch herrscherliche Tugend ergänzt wird, der König als wohlberaten gilt und die adelige Teilhabe an der Herrschaft akzeptiert ist. Das Verhältnis von Königsmacht und fürstlicher Herrschaftsteilhabe spielt auch eine Rolle in den Untersuchungen über die Herrschaft im Reich, die sich beide vor allem auf die Zeit Friedrich Barbarossas konzentrieren. Claudia Garnier (Die Macht des Machbaren: Staufische Politik im Spannungsfeld königlicher Herrschaft und fürstlicher Partizipation, 235 – 253) beschreibt dabei vornehmlich an dem Verfahren gegen Heinrich den Löwen das Spannungsverhältnis zwischen auf Strafe und Belohnung beruhender instrumenteller Macht des Königs und adliger Aktionsmacht, die beide in Einklang gebracht werden mußten und den in Theorie und idealisierenden Darstellungen als unerschütterlicher Wahrer von Frieden und Recht geltenden Herrscher bei der Verwirklichung dieser Aufgabe stark beeinflußen konnten, wobei es Barbarossa, der, wie besonders betont wird, vielleicht im rheinfränkischen Landfrieden aus dem Februar 1179 ein Handlungsmuster für das Vorgehen gegen Heinrich den Löwen entwickelt hatte, vor allem um die Legitimierung seines politischen Handelns ging. Trotz dieses Bemühens um die Fürsten bleibt aber in der zweiten Hälfte von Barbarossas Regierungszeit eine Distanz erkennbar zu den weltlichen Fürsten, ja, Heinz Krieg (Zur Spiegelung Friedrich Barbarossas in der stauferzeitlichen Historiographie, 255 – 272) verspürt sogar in der als hofnah geltenden Historiographie kritische Untertöne, obwohl ansonsten die übergeordnete, mittlerweile auch durch Hinweise auf das römische Recht untermauerte Stellung des Herrschers und dessen Gottunmittelbarkeit betont werden. Die Betrachtung der Herrschaftsverhältnisse und Machtvorstellungen in den Gebieten östlich des Reichs führt nicht nur in eine Region, in der sich mancherorts ähnlich wie im normannischen Süditalien die Formierung der Königsherrschaft erst während des Hochmittelalters vollzog, sondern auch, um eine neuere Begrifflichkeit aufzugreifen, in das „jüngere Europa“, wo sich nicht zuletzt im 12. Jahrhundert spürbar Veränderungen vollzogen und sich ein aggiornamento an die herrscherlichen Standards des „älteren Europa“ vollzog. Für Polen beschreibt diesen Prozeß Sławomir Gawlas (Das Problem der Fürstenmacht zur Zeit von Vincentius Kadłubek, 273 – 308), wobei er sich hauptsächlich auf die bis 1202 reichende Chronik des Magisters Vincentius, des späteren Bischofs von Krakau, stützt, der die, die monarchische Gewalt betonenden, Neuerungen keineswegs unkritisch betrachtete, aber in dem Fürsten Kasimir II.

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(1177 – 1194) einen idealen Herrscher porträtiert, wie Grischa Vercamer (Vorstellung von Herrschaft bei Magister Vincentius von Krakau [um 1150 – 1223], 309 – 339) hervorhebt, der die in der Chronik gebotenen Herrscherschilderungen nach einem von ihm aufgestellten Kriterienkatalog vergleicht. Martin Wihoda (Macht und Struktur der Herrschaft im Herzogtum Böhmen: Grundlagen, Legitimierung und zeitgenössische Vorstellungen, 341 – 358) beschäftigt sich unter weitem Rückgriff bis in das 9. Jahrhundert mit der vorköniglichen Geschichte Böhmens, in der er den Herzogshof und die Versammlung der Böhmen als zuständig für die Angelegenheit des Landes aufweist, während Marie Bláhová (Macht und Machtausübung im Licht der böhmischen Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts, 359 – 381) anhand der unterschiedlichen Aspekte und Möglichkeiten der Machtausübung, die sie betrachtet, die Landesverteidigung und die Zumessung möglicher Beute als wesentliche Aufgabe des böhmischen Herrschers ausmacht, dessen Stellung durch die Gesetze begrenzt gewesen sei. Bei der Weiterreise nach Süden gerät mit Ungarn nicht nur wieder eine Königsherrschaft in den Blick, sondern werden erstmals in einem Beitrag ausschließlich Verhältnisse des 13. Jahrhundert betrachtet, denn László Veszprémy (Umwälzungen im Ungarn des 13. Jahrhunderts: Vom „Blutvertrag“ zu den ersten Ständeversammlungen, 383 – 402) beschäftigt sich mit den nicht zuletzt vom Königshof angestoßenen Veränderungen in Politik und Gesellschaft, in deren Verlauf es während des 13. Jahrhunderts zu einer Einflußsteigerung des schließlich auch das Königswahlrecht beanspruchenden Adels kam und die Integration der Kumanen zu leisten war. Dániel Bagi (Herrscherporträts in der ungarischen Hagiographie, 403 – 417) wendet sich dann aber wieder den früheren Jahrhunderten zu, indem er die zwischen dem 11. und dem beginnenden 13. Jahrhundert entstandenen Darstellungen der beiden heiligen Könige Ungarns aus dem 11. Jahrhundert, Stefan und Ladislaus, sowie des früh verstorbenen Emmerichs, des Sohnes von Stefan dem Heiligen, mit dem wenig überraschenden Ergebnis untersucht, daß sie Tendenzen ihrer Entstehungszeit widerspiegeln (was jedoch bei der aufgeworfenen Machtfrage wenig weiterhilft). Mit dem Überschreiten der Grenze nach Byzanz ändert sich erneut der Bezugsrahmen von Herrschaftsvorstellung und Machtausübung, stand der Basileus doch in der langen Tradition imperial-antiken Herrschertums, doch befassen sich die beiden Aufsätze über die byzantinischen Verhältnisse hauptsächlich mit den drei wichtigsten erzählenden Quellen des 12. Jahrhunderts. Małgorzata Da˛browska (Die Herrschaft des Kaisers Manuel I. Kommenos in den Augen von Johannes Kinnamos, 419 – 431) stellt ausschließlich den Bericht des Johannes Kinnamos über Manuel I. Komnenos in das Zentrum ihrer Darlegungen und deutet ihn aus, während sich Ralph-Johannes Lilie (Byzantinische Geschichtsschreibung im 12. Jahrhundert. Anna Komnene und Niketas Choniates, 433 – 446) mit den beiden übrigen Werken auseinandersetzt, mit Niketas Choniates und Anna Komnene, dabei aber wenigstens einen knappen Überblick über die Verhältnisse im 11. und 12. Jahrhundert bietet. Die Sphäre der Historiographie wird auch in den beiden letzten Beiträgen, die dem Heiligen Land gewidmet sind, nicht mehr verlassen. Die Reise endet dabei im Königreich Jerusalem, über dessen Macht- und Herrschaftsstrukturen – eingestandenermaßen – die überlieferten Urkunden einiges verraten können, der große Chronist Wilhelm von Tyrus jedoch nur wenig, der in seinem Werk zudem auch nicht grundsätzlich über die Macht räsoniert, dessen Herrscherschilderungen aber immerhin Individualitäten erkennen lassen. Grundsätzlich gilt aber der Befund, „dass die Chronik Wilhelms von Tyrus nichts weiter ist als ein in Teilen blinder und auch sonst die Realität nur partiell abbildender Spiegel“ (461), wie Marie-Luise Favreau-Lilie (Machtstrukturen und Historiographie im Königreich Jerusalem: Die Chronik Wilhelms von Tyrus, 447 – 462) mit aller wünschenswerten Klarheit erklärt. Da hilft auch ein Blick von außen nichts. Denn das islamische Aperçu von Kay Peter Jankrift (Hinter dem Spiegel der Macht: Das Bild des Herrschers im Kita¯b al-I’tiba¯r des Usa¯ma ibn Munqid [1095 – 1188], 463 – 473) über das Werk einer bemerkenswerten Persönlich¯

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keit, über die man in den Ausführungen einiges erfährt und die immerhin aus eigener Kenntnis äußerst herrschererfahren war, weist als Zweck des literarischen Bemühens von Usa¯ma ibn Munqid das aus, was christliche Geschichtsschreiber ebenfalls anstreben: für Gläubige ein Bei¯ spiel angemessener Lebensgestaltung zu liefern. Abgeschlossen wird das Werk, das sich entgegen seines Titels überwiegend mit der Zeit vor 1200 befaßt, durch ein Register, nicht jedoch durch einen auch nur ansatzweisen Versuch der Auswertung mit Blick auf die im einleitenden Beitrag umrissene Fragestellung und ihre Facetten. Insofern fühlt sich der Leser am Ende allein gelassen und fragt sich, was es angesichts der kaleidoskopartigen Aussagen denn mit der Macht und ihrem Spiegel im europäischen Hochmittelalter tatsächlich auf sich hat(te). Unbelehrt bleibt er angesichts des beachtlichen Niveaus der meisten Aufsätze trotzdem nicht, die zudem auf vielen Einzelgebieten (hinsichtlich der Gesamtthematik allerdings unverbundene) Einsichten zu Tage fördern – doch liegt darin oft das Verdienst einer Buchbindersynthese: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“ Franz-Reiner Erkens, Passau

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Heinrich de Wall (Hrsg.): Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit, Duncker & Humblot (Historische Forschungen; 102), Berlin 2014, 276 S. Vor dem Hintergrund der religiösen Bürgerkriege im Westen und der religiösen Aufladung der Verfassungskonflikte im Reich ergoss sich im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert eine wahre Flut politischer Traktatliteratur über Europa. Meist handelte es sich um juristische Erörterungen gelehrter Räte, Professoren und Syndici, die überwiegend dem lutherischen oder reformierten Glauben anhingen. Hauptforen der Diskussion bildeten die hohen Schulen und Universitäten sowie die Magistrate und fürstlichen Kanzleien, Foren auf denen das epochenspezifische Problem von Politik und Religion besonders intensiv diskutiert wurde. In Zentrum der Debatten stand vor allem das Nebeneinander und Gegeneinander verschiedener Konfessionen sowie das Problem der politisch-religiösen Legitimation von Herrschaft. Um letztere Frage kreisten auch die Gedanken des ausgebildeten Juristen Jean Calvin (1509 – 1564). Nach Abschluss seiner religiösen Umorientierungsphase legte Calvin im Jahr 1535 mit der „Institutio Christianae religionis“ ein System von Glaubenssätzen vor, das in den Ausgaben von 1539 und 1559 beträchtlich erweitert wurde. Anknüpfend an den Katechismus Martin Luthers zeichnet das Werk die Gründzüge eines christlich-reformatorischen Gemeinwesens nach, das allein und ausschließlich auf dem in der Bibel fixierten göttlichen Willen basieren sollte. Das moralische Gesetz schlechthin bildet der Dekalog, an dem sich auch Calvins erster Versuch einer Neuorganisation des Genfer Kirchenwesens in den Jahren 1536 bis 1538 orientierte. Das Experiment scheiterte, erst beim zweiten Versuch 1541 gelang ihm die Einführung einer reformierten Kirchenordnung sowie die Durchsetzung der „Ordonannces ecclésiastiques“. So stand die Genfer Reformation im Zeichen der Gleichsetzung von kirchlicher und politischer Gemeinde, einem Ordnungsgefüge, das den kirchlichen und sittlichen Alltag bis ins kleinste Detail reglementierte. Von der „Institutio Christianae religionis“ entfalten sich auch die 11 Beiträge des Sammelbandes zur „Reformierten Staatslehre in der frühen Neuzeit“. Hervorgegangen aus einer Erlanger Tagung von 2010 und redigiert von dem Erlanger Kirchenrechtler Heinrich de Wall, rückt neben dem Werk Calvins das Oeuvre des reformierten Juristen Johannes Althusius (1563 – 1638) in den Mittelpunkt. Allein fünf Aufsätze setzen sich mit der Staatslehre von Althusius auseinander, allen voran dem erstmals 1603 im Druck erschienenen Hauptwerk „Politica Methodice Digesta“. Es handelt sich um die erste systematische Theorie der ständischen Monarchie der frühen Neuzeit, die in der dritten Auflage von 1614 auch die späteren Erfahrungen von Althusius als Stadtphysikus von Emden berücksichtigt. Althusius war also wie Calvin sehr gut mit der administrativen Praxis der reformierten Stadtrepublik vertraut. Gleichwohl tritt dieser Aspekt in dem überwiegend auf geistige Traditionslinien und Diskurse fixierten Sammelband etwas zurück. Dafür werden unter anderem die föderalen und bündischen Elemente reformierten Denkens vertieft. Am Anfang steht das biblische Vorbild des Bundes Gottes mit dem auserwählten Volk, ein Vorbild, an dem sich bereits die Gründerväter der reformierten Theologie orientierten. Ins Zentrum rückt die Lehre vom doppelten Bund, vom Bund der Auserwählten mit Gott und der Vereinigung der Auserwählten zu einem politischen Gemeinwesen. Dafür stehen die Schlüsselbegriffe „foedus“ und „convenant“, Schlüsselbegriffe mit denen sich gerade Johannes Althusius eingehend auseinandersetzte. Althusius entwickelte diese Termini weiter und verdichtete sie zur Lehre vom „pactum religiosum“ und vom „pactum civile“ sowie der Theorie von der „consociatio symbiotica“, einer allgemeinen Theorie menschlicher Zusammenschlüsse. Dass es sich noch keineswegs um Zusammenschlüsse von Individuen nach dem Modell späterer, naturrechtlicher Vertragstheorien handelte, liegt angesichts der ständisch-monarchischen Realität des „Sacrum Imperium“ nahe.

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Deshalb wird das Volk hier durch die Stände repräsentiert, die wiederum dem Fürsten gegenübertreten und zum Vollstrecker der gemeinsam beschlossenen Gesetze einsetzen. Damit trat Althusius in scharfen Gegensatz zur absolutistischen Theorie vom „princeps legibus solutus“ und ihrem führenden Vordenker Jean Bodin (1529/30 – 1596). Immer wieder akzentuieren die einzelnen Beiträge den antiabsolutistischen Charakter reformierten politischen Denkens, eine Feststellung, die im Übrigen ebenso wenig neu ist wie das hartnäckige Narrativ von den Wurzeln des modernen Verfassungsstaates im Calvinismus. Nicht von ungefähr setzt der Komplex von „Calvinismus und Verfassungsstaat“ den ersten von insgesamt vier Schwerpunkten des Sammelbandes. So unterstreicht der Beitrag von Mathias Schmoekel das besondere Verdienst Calvins um die Ausbildung des Rechtsstaatsgedankens, obschon gerade neuere Studien davor warnen, direkte Linien von Calvin zu modernen Vorstellungen vom Verfassungsstaat zu ziehen. Sehr viel stärker an der zeitgenössischen Lesart der Worte orientieren sich da schon die Aufsätze zur reformierten „Föderaltheologie und Vertragstheorie“. Hervorzuheben ist der Schlüsselbeitrag von Corrado Malandrino, der die bündisch-föderalen Wurzeln der althusianischen Staatslehre freilegt. Da die reformierte Lesart der „Res Republica Christiana“ vom moralischen Gesetz der 10 Gebote ausgeht, beschäftigt sich die folgende Sektion mit „Begriff, Funktion und Grundlage des Gesetzes“ in einer Zeit tiefgreifender politisch-religiöser Umwälzungen und Kriege. Schließlich wird das wechselseitige „Verhältnis von Weltlicher Obrigkeit, Religion und Kirche“ erörtert und zugleich betont, wie weit die zeitgenössischen reformierten Ordnungsentwürfe von modernen, säkularen Vorstellungen entfernt waren. Genau dieser Aspekt schimmert auch aus der Analyse verschiedener reformierter Kirchenordnungen Mittel- und Westeuropas von Judith Becker hervor. Hervorstechend sei das Bestreben nach obrigkeitlichen Garantien religiösen Lebens gewesen, ein Bestreben, das sich jedoch zugleich gegen willkürliche Eingriffe des weltlichen Regiments in innerkirchliche Angelegenheiten wandte. Sieht man von diesem Beitrag einmal ab, treten die konkreten historischen Umstände reformierter Politikentwürfe in den übrigen Referaten erkennbar zurück. Auch die zentrale Bedeutung der göttlichen Prädestination schimmert aus den Aufsätzen eher als Subtext, denn als allumfassende Sinnformation hervor. Des Weiteren wird nicht weiter nach den tieferen Ursachen des ausgeprägten Bedürfnisses nach politisch-religiöser Selbstlegitimation gefragt. Nur hier und da werden vorsichtige Erklärungen angedeutet wie etwa im Beitrag von Merio Scattola, der auf die sehr bedrängte Lage der frühen englischen Puritaner inmitten einer feindlichen Umwelt hinweist. Dafür wird umso nachdrücklicher auf das geistige Gemeingut der Reformierten schlechthin verwiesen: Die Forderung nach individueller Gewissensfreiheit, die auch Reflexionen über die Toleranzfrage mit einschließt. Nach Althusius soll der Irrende nicht verfolgt, aber die missbilligte Religion auch nicht erlaubt werden, ein Grundsatz der jedoch nur für Christen, nicht jedoch für Atheisten und Ungläubige gelte. Alles in Allem stellt der Sammelband wichtige Schwerpunkte und Querverbindungen der reformierten Staatslehre des 16. und 17. Jahrhunderts heraus, ohne ein Gesamtbild zu zeichnen. Als Adressat kommt weniger der wissenschaftlich interessierte Leser in Frage als der einschlägig bewanderte Fachmann, der überdies die Grundzüge frühneuzeitlichen politischen Denkens kennt. So schöpft in erster Linie der Experte seinen Nutzen aus den Beiträgen, die im Übrigen so manche informative Details enthalten. Ansonsten hätte dem Ganzen ein abschließender Diskussionsbericht keineswegs geschadet. So dagegen treten die Hauptkontroversen und Resultate der Erlanger Tagung nicht so recht hervor, geschweige denn, dass weitere Anregungen für künftige Forschungsdesiderate gegeben werden. Martin Hille, Passau

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Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Carl Hanser Verlag, München 2013, 315 S. Ausgehend von der durchaus zutreffenden Diagnose, nach wie vor scheine „im Lande Meineckes eine gewisse Fremdheit gegenüber den eigenen geistesgeschichtlichen Traditionen zu bestehen“ (13), beabsichtigt das Buch jedoch nicht, einen Gesamtüberblick über das politische Denken deutscher Philosophen zwischen Bismarck und Hitler zu geben, wie der Titel vielleicht suggerieren könnte, sondern es enthält eine – als solche durchaus gelungene – Zusammenfügung mit „Zufallscharakter“, wie der Verfasser selbst ausdrücklich sagt, denn behandelt werden vornehmlich „Ereignisse, Personen oder Konstellationen, zu denen ich in den letzten Jahren besonders eindrucksvolle Dokumente gefunden habe“ (14). Ebenfalls werden aus diesem Grund, um nur die wichtigsten Namen zu nennen, Eduard von Hartmann und Friedrich Paulsen gar nicht erwähnt, Wilhelm Dilthey taucht lediglich am Rande auf. Gerade die Tatsache, dass die vornehmlich rein wissenschafts- oder theoriegeschichtlich orientierte akademische deutsche Philosophiehistorie externen Faktoren augenscheinlich nur geringe Bedeutung für ideenhistorische Zusammenhänge beimisst, stellt nach Erfahrung des Verfassers tatsächlich eine der Ursachen dafür dar, dass gerade „die Philosophiegeschichte immer noch ungewöhnlich viele frische Quellen für den Neugierigen bereithält“ (14). Einige dieser Quellen hat der vor allem durch seine Biographie über Paul de Lagarde hervorgetretene Marburger Ideenhistoriker Ulrich Sieg in seinem neuen Buch ausschöpfen können, gemäß seiner zu Beginn formulierten Erkenntnis, dass den Raum für neue Entdeckungen „am ehesten jene historischen Kontexte“ zu bieten haben, „die aufgrund akademischer Konventionen als uninteressant oder irrelevant gelten“ (18). In der ersten Studie des Bandes über „Wertphilosophie und Terroristenfurcht“ beschreibt der Autor anschaulich die Rückwirkungen, die von der – maßgeblich durch die beiden Attentate auf Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1878 verursachten – terroristischen Bedrohung der bestehenden Ordnung des noch jungen Kaiserreichs auf das zeitgenössische philosophische Denken ausgingen. Am Beispiel des durchaus unerwarteten Erfolgs der Wertphilosophie Wilhelm Windelbands zeigt sich, so Sieg, wie eine ethische Weltsicht mit „szientifischem Theoriedesign“ unter den Bedingungen eines kollektiven Bedrohungsgefühls großen Anklang finden konnte, denn „indem Windelband historisch, sozial oder konfessionell geprägten Wertungen Allgemeingültigkeit zusprach, wurden sie der Kritik entzogen“ (51). Ähnlich argumentiert die folgende Studie über den heute fast vergessenen Nobelpreisträger unter den deutschen Philosophen des Kaiserreichs, den Jenenser Professor Rudolf Eucken, der die begehrte Auszeichnung, wie Sieg anhand der Akten nachweisen kann, eher als Kompromisskandidat, aufgrund eines für Außenstehende damals undurchschaubaren „Kuhhandels“ erhielt als für wirklich exzeptionelle Leistungen. Der Neoidealist Eucken, der sich zum denkerischen Außenseiter und Kämpfer gegen den vermeintlichen zeitgenössischen Materialismus zu stilisieren versuchte und damit auch national wie international große Erfolge verbuchen konnte, blieb als öffentliche Person wie als Autor jedoch ein bald vergessenes Zeitphänomen, dessen Wirkungen – ähnlich wie diejenigen der deutschen Neukantianer um und nach 1900 – nach dem Ersten Weltkrieg und den mit diesem verbundenen grundstürzenden Erfahrungen rasch verpuffen sollten. Die akademische und außerakademische „Radikalisierung der Diskurse“ am Beispiel der Philosophie beschreibt der Autor sodann in einer weiteren Studie, die allerdings weniger unmittelbar Neues bringt als die anderen Beiträge des Bandes. Immerhin kann er noch einmal deutlich machen, in welch starkem Maße bestimmte ideengeschichtliche Versatzstücke der Konservativen Revolution in der Weimarer Republik und auch noch im Nationalsozialismus den intellektuellen und gelehrten Propagandaschlachten des Großen Krieges entstammten – etwa die aus durchsichtigen politischen Gründen vorgenommene Glorifizierung der Idee

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einer „Volksgemeinschaft“ (123); die unheilvollen Wirkungen reichten – etwa via Bruno Bauch und Max Wundt – bis in die Endzeit des Zweiten Weltkriegs. Die Debatte um Helmuth Plessners durchaus hellsichtige Schrift „Grenzen der Gemeinschaft“ aus dem Jahr 1924, die eine Kritik an bestimmten irrationalistischen und extrem nationalistischen Tendenzen im damaligen Denken und ebenfalls am Gemeinschaftskult der deutschen Jugendbewegung sowie an zeitgenössischen sozialistischen Gemeinschaftsverklärungsideologien übte, wird in einem weiteren Beitrag eingehend rekonstruiert und in den Kontext der deutschen intellektuellen Debatten der 1920er Jahre gestellt – auch mit Bezug auf die oft übersehene Rivalität zwischen Plessner und seinem einstigen Kölner Fakultätskollegen Max Scheler. Den „nationalen Extremismus“ (193) der sich ab 1933 offen zum Nationalsozialismus bekennenden Philosophen bekommt Sieg allerdings nur auszugsweise in den Blick, indem er sich auf wenige Vertreter dieser Spezies – neben einem kurzen Seitenblick, natürlich, auf Martin Heidegger – beschränkt und dabei ebenfalls die vergessene, im Grunde fast absurde Episode der Bemühungen um eine akademische Festschrift zu Hitlers 50. Geburtstag im Jahr 1939 rekonstruiert (220 ff.). In den Blick kommen in diesem letzten Kapitel u. a. Alfred Baeumler und Ernst Krieck, dazu Max Wundt, Hermann Schwarz und Erich Rudolf Jaensch. Leider fehlt in diesem Kreis Hans Heyse, der als Göttinger Ordinarius und Herausgeber der angesehenen „Kant-Studien“, aber auch im Umfeld des Weimarer Nietzsche-Archivs damals eine keineswegs unbedeutende Rolle spielte. Auch er konnte natürlich das grandiose Scheitern einer im eigentlichen Sinne „nationalsozialistischen Philosophie“ nicht verhindern; verbaler Radikalismus konnte substanzielles Argumentieren nicht ersetzen. In seiner Schlussbetrachtung betont der Verfasser, es bestehe, auch im Rückblick auf eineinhalb Jahrhunderte überaus wechselvoller deutscher Philosophiegeschichte, fraglos „kein Anlaß zur Furcht vor nationalen Mythen. In einem Zeitalter beschleunigter Globalisierung scheint vielmehr ein gelassener Umgang mit historischen Meistererzählungen angemessen. Schließlich enthalten sie symbolische Ressourcen für die kollektive Selbstvergewisserung, die kaum zu ersetzen sind und achtsame Behandlung verdienen“ (248). Hans-Christof Kraus, Passau

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Klaus-Michael Kodalle: Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse. Fink Verlag, München 2013, 487 S. Es ist nicht so, dass die „verkannte Grundlage humaner Verhältnisse“, von der Klaus-Michael Kodalle in seinem umfangreichen Werk über das Verzeihen spricht, deshalb verkannt worden wäre, weil sie bisher kaum thematisiert wurde. Ganz im Gegenteil hat die philosophische Befassung mit dem Thema „Verzeihung“ gerade im angelsächsischen Raum durchaus Konjunktur. Doch die analytische Art, den Begriff zu sezieren und ihn „quasi idealtypisch“ (22) zu (re-)konstruieren, ist nicht die Art des Umgangs, die der Autor für die dem Sachverhalt angemessene hält. Ihm geht es vielmehr um einen „Geist der Verzeihung“ (10), dem er durch einen weit ausholenden, von der Gegenwart bis in die Antike zurückschreitenden und von dort aus über Christentum, Psychologie und Recht wieder ins Heute zurückkehrenden Gang auf die Spur kommen möchte. Die politische Dimension des Themas liegt auf der Hand. Angestoßen wurde Kodalles Interesse an dem Thema durch die Debatten um die deutsche Wiedervereinigung, als die Frage von Schuld und Vergebung schon deshalb zum Politikum wurde, weil durch ein Zusammenfinden der beiden deutschen Staaten, das auf die Auseinandersetzung mit dem geschehenen Unrecht verzichtet hätte, der gesellschaftliche Frieden nachhaltig gestört worden wäre. Doch als viel tiefergehend und letztlich dominanter erwies sich jene andere Schuld, die mit der deutschen Geschichte verbunden ist und das Nachdenken über die Möglichkeit des Verzeihens immer wieder angeregt hat: der Judenmord, den einige, nicht zuletzt auch jüdische, Denker als schlechthin monströs und somit jenseits der Möglichkeit des Verzeihens angesiedelt betrachteten. Vielen der im ersten Kapitel des Buches dargestellten Positionen liegt, meist unausgesprochen, die Singularitätsthese in Bezug auf den Holocaust zugrunde – was es verhindert, auch die Verbrechen der kommunistischen Systeme adäquat wahrzunehmen und zum Gegenstand einer Reflexion über Schuld und Vergebung zu machen. Dass Letztere ausgespart bleiben, ist nicht dem Autor anzulasten. Es spiegelt eine gesellschaftliche Wirklichkeit wider, die mit zweierlei Maß zu messen bereit ist und dem Klassenmord offenbar eine geringere Schwere der Schuld zuzurechnen gewillt ist als dem „Rassen“-mord. Wenn Kodalle in seiner Einleitung vom „Geist der Verzeihung“ spricht, dem er im Folgenden nachspüren möchte, signalisiert er damit, dass ihm eine Theorie der Verzeihung nicht genügen würde. Es geht ihm vielmehr um eine Lebenswirklichkeit, einen Untergrund des Denkens und Handelns von „schwacher metaphysischer Kraft“ (10), der sich vor allem situativ äußert. Die Fähigkeit des Verzeihens wird hier zu einer Gegenkraft zu der im menschlichen Dasein als solchem liegenden Schuld, sein Leben nicht zuletzt auf Kosten anderer zu leben. Das lässt das Dasein selbst verzeihungsbedürftig werden, und ebenso wie der Autor die Schuldhaftigkeit als Teil der conditio humana sieht, sieht er auch die Möglichkeit des Verzeihens als etwas im Dasein als solchem Verwurzeltes und Wirkendes. Wie verhält sich das Verzeihen nun zu Recht und Moral? Verzeihen besteht gerade im Verzicht auf Reziprozität, welche Grundlage des Rechts ist. Dass das Recht auch die Billigkeit, die Amnestie und die individuelle Begnadigung kennt (vgl. Kap. VI), bedeutet nur, dass das Recht um Ausnahmetatbestände weiß, die seinen normalen Gang durchbrechen. Das Verzeihen bezeichnet nach Ansicht des Autors jedoch nicht nur ein Jenseits des Rechts, sondern in gewisser Weise ebenfalls ein Jenseits der Moral. Dies hängt damit zusammen, dass Kodalle sich auf die deontische Ethik konzentriert. Eine Pflicht zum Verzeihen kann es in der Tat kaum geben, wenn denn Verzeihen als ein „extraordinärer kontingenter Akt“ (14) zu fassen ist, den zu vollziehen vollständig in der Entscheidung des Individuums liegt.

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Kritisch einzuwenden wäre hier, dass Verzeihen bei Zugrundelegung eines anderen ethischen Modells, nämlich das des sokratischen Eudaimonismus, keineswegs als sozusagen außer- oder übermoralisch betrachtet werden müsste. Denn wenn das für den anderen Gute auch das für einen selbst Gute ist, ist die Verzeihung schlicht ein Gebot der objektiv verstandenen Selbstsorge. Kodalles Lösung, nicht den konkreten Akt, sondern eine „Haltung der prinzipiellen Verzeihensbereitschaft“ (14) als schwache Form der Pflicht wieder in die Moral zu integrieren, verschiebt das Problem nur. Denn wenn es keine Pflicht zu der je konkreten Verzeihung gibt, warum sollte es dann eine zur prinzipiellen Bereitschaft zu verzeihen geben? Wenn das Verzeihen selbst etwas ethisch Gutes ist, müsste es in jedem Fall gut sein. Wenn es aber auch verfehlte Formen des Verzeihens gibt – was Kodalle konzediert –, dann ist doch wieder ein objektiver Maßstab oder Grund gefordert, der über das Gebotensein des aktuell zu gewährenden Verzeihens urteilen lässt. Sobald etwas Allgemeines im Spiel ist, und das ist der Fall bei der Reintegration des Verzeihens, und sei es in schwacher Form, in das System der Moral, wird die Rückführung des Phänomens auf einen rein subjektiven Willensakt schwierig. Für Kodalle aber hat man es bei der Verzeihung insofern mit einer oder sogar der Fundamentalkategorie zu tun, als sie „der einzige Handlungsvollzug“ im menschlichen Dasein ist, in dem die „reine Vernunft als kausal wirkende Freiheit […] zur Erscheinung kommt“ (11). Gemeint ist damit nicht zuletzt die Selbstbefreiung von einer Reziprozitätserwartung, die alles nach Kosten und Nutzen bemisst. Stattdessen propagiert der Autor ein „vorlaufendes“ Verzeihen (16), das nicht mit der Reue dessen, dem verziehen wird, rechnet, aber auf sie hofft. Nur wenn das Verzeihen eben nicht „rechnet“, ist es „souveräne Daseinsäußerung, die jetzt und hier aus der ,Überfülle’ schöpft“ (16). Dennoch vollendet sich der Akt des Verzeihens erst dann, wenn der Täter tatsächlich bereut. Hier wird also die Sinnebene des Verzeihens im Hinblick auf den Täter angesprochen: Er soll die Chance zu einer Selbstveränderung bekommen. Aber ganz offensichtlich muss auch der Verzeihende sich wandeln, um eben nicht auf Rache oder wenigstens Wiedervergeltung zu sinnen. Beides aber verschärft die Frage nach dem rechten Maßstab des Verzeihens – zumal dann, wenn das Verzeihen ein Fehler war oder aufgrund des Außer-Kraft-Setzens geltender moralischer Regeln bestehende Verhaltenskodizes in Frage stellt. Doch die Frage nach dem objektiven Maßstab weist Kodalle zurück. Verzeihen ist ein performativer, nicht einmal notwendig versprachlichter Akt. Verzeihen „passiert“, Begründungen könnten die „Überzeugungskraft des Vorgangs“ mindern (19). Die individuelle Beschaffenheit des Verzeihenden, die konkreten Umstände etc. lassen keine Verallgemeinerbarkeit zu. Ist die je eigene Entscheidung also, um mit Carl Schmitt zu sprechen, „normativ aus dem Nichts geboren“? Das ist kaum denkbar, ist mit dem Verzeihen doch auf jeden Fall Gutes intendiert: eine Selbstüberwindung des Opfers, eine „Reintegration des Täters in das kommunikative und gesellschaftliche Leben“ (26), ein gesellschaftliches Klima der Nachsicht, Versöhnungsbereitschaft und Verständigung. Letztlich, so scheint es, führt die Frage des Verzeihens doch wieder auf die Frage nach dem Guten zurück – das bloß subjektiv auszufüllen nicht genügt, wenn man objektiv etwas erreichen will. Insofern stellt sich die Frage, ob die „Fundamentalkategorie“ Verzeihen, in der sich für Kodalle ein umfassender Sinnhorizont des menschlichen Daseins aufschließt, nicht ihrerseits eines über sie hinausgehenden Fundaments bedürfte. In der dargelegten Position des Autors verdichtet sich, was dieser nun in einem beeindruckend weit ausholenden, eine kaum übersehbare Fülle von Autoren einbeziehenden Gang durch die Geistesgeschichte entfaltet. Der Grund, die Chronologie umzukehren und mit dem 20. Jahrhundert beginnend in der Geschichte zurückzuschreiten, liegt darin, dass Kodalle in der Moderne eine Befassung mit dem Thema und ein Problembewusstsein vorfindet, welche die Spurensuche in der Geschichte erleichtern. Die Entscheidung, in der Moderne nur die Groß-

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denker und nicht die gesamten Verästelungen sprachanalytischer Differenzierungsdiskurse zu untersuchen, kann man nur begrüßen. An den grundlegenden Positionen zeigen sich auch die Grundprobleme, und um diese muss es schließlich gehen. Das erste Kapitel widmet sich also dem 20. Jahrhundert, und nicht zufällig steht Hannah Arendt am Beginn. Ihre, natürlich auch lebensgeschichtlich bedingte, Auseinandersetzung mit dem Thema „Verzeihen“ wertet Kodalle als einen Wendepunkt; Verzeihen wird zu einem Grundbegriff der Ethik, und andere jüdische Autoren wie Jankélévitch, Levinas und Derrida greifen den Faden auf – mit unterschiedlichen Konsequenzen, wie Kodalle zeigt. Denn Jankélévitch beispielsweise will seine „Theorie des Pardon“ keinesfalls auf den Holocaust angewandt wissen. Der Judenmord bleibt sozusagen der Prüfstein, wie weit das Verzeihen trägt. Viele weitere Autoren kommen im Verlauf des Kapitels zu Wort, z. B. Phänomenologen, Lebensphilosophen und Diskurstheoretiker – unter ihnen aber auch zwei Philosophen, die das Verzeihen gerade nicht in ihre Theorien integrieren konnten, nämlich Martin Heidegger und Jürgen Habermas. Mit diesem geschickten Kunstgriff, auch Theorien einzubeziehen, denen das Verzeihen sozusagen mangelt, gelingt Kodalle zweierlei: die Schärfung des Blicks für den zentralen, hier eben fehlenden Gegenstand und eine Aufschließung der jeweiligen Ansätze von der Frage her, wieso bei ihnen eine wichtige menschliche Wirklichkeit keinen Raum findet. Das zweite Kapitel befasst sich mit den Philosophen der Neuzeit, die Kodalle von der englischen Moralphilosophie bis zu Kierkegaard und Nietzsche ansetzt – die frühe Neuzeit wird, mit einigen Anmerkungen zu Hobbes, nur gestreift. Der am stärksten gewichtete Autor dieses Kapitels ist Immanuel Kant, ein Philosoph, bei dem Kodalle seine neu eingeführte Kategorie des „gnadenlosen Denkers“ mit einem Fragezeichen versieht. Kant bildet für Kodalle eine „Scharnierstelle“ (160): sowohl Befürworter wie Kritiker einer Philosophie des Verzeihens haben sich auf Kant berufen. Die Ambivalenz in seinem Denken, nämlich die rigorose Behauptung menschlicher Autonomie und damit auch Verantwortlichkeit auf der einen Seite, eine gewisse Nachsicht im Hinblick auf die menschliche Schwäche, die Forderung nach Amnestie beim Friedensschluss etc. auf der anderen Seite lieferte, so Kodalle, die Basis für zwei gegensätzliche Denkrichtungen: eine, für die das Verzeihen von großer Bedeutung war (Baader – Hegel – Kierkegaard), und eine, die Kodalle umstandslos der Kategorie der „gnadenlosen Denker“ zurechnet (Fichte – Schelling – Schopenhauer) (181). Jenseits dessen steht Nietzsche – als Apologet eines Verzichts auf die Vergeltung aus (hybridem?) Stolz. Kapitel drei befasst sich mit „Nachsicht und Schuldentlastung in der Antike“ (237). Wer über diesen zeitlichen Sprung irritiert ist, sieht ihn beim zweiten Blick in einer sachlichen Systematik begründet: Das vierte Kapitel ist nämlich dem christlichen Verzeihen und seinem Schicksal in der Geschichte gewidmet, so dass patristische und mittelalterliche Positionen hier ihren Ort finden. In der Antike berücksichtigt Kodalle, was für das Thema in der Tat unverzichtbar ist, zunächst die Tragödie, dann folgen Platon, Xenophon, Aristoteles und die Stoa. Der antike Teil fällt im Vergleich zum Übrigen recht kurz aus, vielleicht, weil der Autor die eigentliche Verzeihensperspektive, welche über die Suche nach Schuld-entlastenden Gründen hinausgeht, dort kaum zu finden vermag. Den entscheidenden geschichtlichen Einschnitt sieht er hingegen in der Gestalt Jesu, der schlechthinnigen Verkörperung des Geistes der Verzeihung. Allerdings entdeckt Kodalle auch schon im Alten Testament Spuren eines nicht nur rächenden, sondern auch verzeihenden Gottes, dessen Ratschluss aber unergründlich, dessen Verhalten daher auch unberechenbar blieb (275). Dem jesuanischen Verständnis des Verzeihens hätte man, wenn es denn historisch so außerordentlich ist, mehr Buchseiten gegönnt, als der Autor ihm zugesteht. Doch mit einer gewissen eigenen Gnadenlosigkeit konzentriert sich das vierte Kapitel auf die Verkehrungen und Ver-

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dunkelungen, die nach Ansicht Kodalles kirchliche Dogmatik und kirchliche Praxis an der christlichen Lehre vorgenommen haben. Sollte man, da man es bei der Kirche nicht mit einer göttlichen, sondern mit einer menschlichen Einrichtung zu tun hat, hier nicht seinerseits den Geist der Milde, Nachsicht und der Bereitschaft zum Verständnis walten lassen? Die letzten beiden Kapitel des in jeder Hinsicht gewichtigen Buches lösen sich aus der philosophiegeschichtlichen Betrachtung und wenden sich zwei Institutionen der Gegenwart zu, die sich aus je unterschiedlicher Perspektive mit der Frage von Schuld und Vergebung befassen: zum einen die Psychologie, die es mit der individuellen Schuldverarbeitung zu tun hat, und zum anderen der Rechtsstaat, der Schuld und Gnade nicht zuletzt im Hinblick auf die gesellschaftlichen Folgen beurteilen muss. Dass der moderne Rechtsstaat sich dabei nicht mehr auf naturrechtliche Vorstellungen stützen kann, steht für den Autor außer Frage, der damit einmal mehr kirchliche Ansprüche zurückweist (389). Ist mit diesem so facettenreich nachgezeichneten Gang durch die Geistesgeschichte und die Reflexion auf die modernen, in dieser Form erst durch die Geschichte möglich gewordenen Instanzen Psychologie und Rechtsstaat das Buch an sein Ende gelangt? Noch nicht ganz, denn auch wenn sein Titel „Verzeihung denken“ lautet, muss Verzeihung doch ebenfalls gelebt werden. Deshalb hat der Autor im Anhang „individuelle Zeugnisse und Selbstprüfungen“ (405) versammelt, in denen er die Reaktionen von Opfern des Holocaust, aber auch von zwei in das NSSystem Verstrickten, nämlich Albert Speer und Carl Schmitt, zusammengetragen hat. Damit wird die existentielle Dimension des Verzeihens noch einmal sehr greifbar. So ist das Buch von Klaus-Michael Kodalle Philosophiegeschichte und reflektierte Lebenswirklichkeit in einem. Mit diesem umfassenden Zugriff auf eine grundlegende Dimension des MenschSeins hat der Autor einen Zugang zu dem Phänomen „Verzeihen“ geschaffen, den es bisher so noch nicht gegeben hat und den sich niemand, der sich mit dem Thema beschäftigen möchte, entgehen lassen sollte. Barbara Zehnpfennig, Passau

Autorenverzeichnis Hannes Bajohr, Graduate Student an der Columbia University New York, USA. Dr. Manuel Becker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Prof. Dr. Alexander Demandt, emeritierter ordentlicher Professor für Alte Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin. Prof. Dr. Franz-Reiner Erkens, Universitätsprofessor für Mittelalterliche Geschichte, Universität Passau. Prof. Dr. Volker Gerhardt, Seniorprofessor für praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie, Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. Norbert Herold, akademischer Oberrat i.R. am Philosophischen Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Prof. Dr. Martin Hille, außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau. Prof. Dr. Harald Kleinschmidt, Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen, Universität Tsukuba, Japan. Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Universitätsprofessor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau. Dr. Tom van Malssen, Postdoctoral Fellow an der University of Texas at Austin, USA. Prof. Dr. Herfried Münkler, Universitätsprofessor für Theorie der Politik, Humboldt-Universität zu Berlin. Prof. Dr. Dr. h.c. Julian Nida-Rümelin, Universitätsprofessor für Philosophie und politische Theorie, Staatsminister a.D., Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Peter Nitschke, Professor für die Wissenschaft von der Politik, Universität Vechta. Prof. Dr. Werner Plumpe, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Goethe-Universität Frankfurt am Main. Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Rückert, emeritierter Professor für Neuere Rechtsgeschichte, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Juristische Zeitgeschichte, Zivilrecht und Rechtsphilosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main. Prof. Dr. Andreas Urs Sommer, außerplanmäßiger Professor für Philosophie, Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Dr. Klaus Weber, Arzt i.R., Feldafing, http://www.klaus-weber-info.de/ Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig, Professorin für Politikwissenschaft, Universität Passau.